GA 152

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Vorstufen
zum Mysterium von Golgatha

Zehn Vorträge, gehalten 1913 bis 1914
in verschiedenen Städten

GA 152

1964

Inhaltsverzeichnis

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OKKULTE WISSENSCHAFT UND OKKULTE ENTWICKELUNG EINWEIHUNG London, 1. Mai 1913

Es ist mir eine große Befriedigung, heute zum ersten Mal hier in die­sem Lande unsere Freunde zu begrüßen. Ich bedauere, daß ich nicht in Ihrer eigenen Sprache zu Ihnen sprechen kann, aber um diese Schwierigkeit zu überwinden, wird unser Freund Baron Walleen heute Satz für Satz, den ich sprechen werde, übersetzen, und morgen werde ich den Vortrag ohne Unterbrechung halten, und Baron Walleen wird die Güte haben, eine Zusammenfassung auf Englisch zu geben.

Unsere lieben Freunde in diesem Lande, die uns öfters besucht haben auf dem Kontinent, haben in der schönsten Weise ein inneres Band geknüpft zwischen unseren Freunden hier und denjenigen auf jener Seite. Das schöne Heim, in welchem wir heute versammelt sind, ist ein Beweis dafür, mit welchem tief innerlichen Empfinden unsere Freunde in diesem Lande sich mit uns vereinen, um für die Verbreitung der Anthroposophie zu arbeiten. Und diejenigen, welche vom Kontinent herübergekommen sind, um unsere englischen Freunde zu be­suchen, werden sich wahrhaft freuen, in diesem Zweige einen so schö­nen Rahmen für dasjenige zu finden, was uns so sehr am Herzen liegt, was in unseren Seelen so tief wurzelt.

Mit jenem tiefen inneren Gefühl der Einheit, welches zur Anthro­posophie gehört und in welchem alle menschlichen Wesen auf der Erde sich vereinigen sollten ohne Unterschied der Rasse, Farbe oder dergleichen, mit diesem Gefühl erlauben Sie mir, heute zum ersten Mal zu Ihnen zu sprechen und Sie aufs herzlichste zu begrüßen. Und es sollte eine gute Gewähr sein für unsere Arbeit in der Zukunft, daß wir Freunde gefunden haben, die mit so großem innerlichen Entliusiasmus die Arbeit hier in diesem Lande übernommen haben.

Das Thema, welches wir heute besprechen wollen, führt uns sogleich in ein Gebiet, welches der ganzen Menschheit angehört, abgesehen Von allen Unterschieden.

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Zunächst haben wir von dem Gebiet des menschlichen Strebens zu sprechen, welches in seiner wahren Gestalt in keiner menschlichen Sprache beschrieben werden kann, sondern in seiner ursprünglichen Form nur in der Sprache des Gedankens: das ist das Gebiet der okkul­ten Wissenschaft.

Durch seine menschlichen Fähigkeiten strebt der Mensch nach okkulter Erkenntnis und kann sie auch erlangen. Aber okkulte Er­kenntnis hat eine größere Bedeutung für die Welt als die, welche sie nur innerhalb der menschlichen Seele hat. In der Welt, die uns umgibt, können wir verschiedene Substanzen und Stoffe unterscheiden, durch die ihre verschiedenen Phänomene und Offenbarungen ausgedrückt werden. In jenem Urprinzip, welches kaum ausgedrückt werden kann in menschlicher Sprache, wurzeln alle Kreaturen und alle Dinge der Erde und alle Welten. Aber in der physischen Welt drücken sich die einzelnen Differenzierungen dieses ersten Prinzips aus in den Substan­zen der Erde, des Wassers, der Luft, des Feuers, des Äthers und so weiter.

Eine der subtilsten Substanzen, die dem menschlichen Streben noch zugänglich ist, wird Akasha genannt. Und die Offenbarungen von Wesenheiten und Phänomenen in der Akasha-Substanz sind die sub­tilsten von allen, die dem Menschen zugänglich sind. Das, was der Mensch sich erwirbt in okkulter Erkenntnis, wohnt nicht nur in seiner Seele, sondern es wird auch eingeprägt in die Akasha-Substanz der Welt. Wenn wir einen Gedanken der okkulten Wissenschaft lebendig in unserer Seele machen, wird er sofort in die Akasha-Substanz ein-geschrieben, und es ist von Bedeutung für die allgemeine Entwicke­lung der Welt, daß solche Einprägungen in die Akasha-Substanz ge­macht werden, denn diese Einprägungen, die gemacht werden können von der Menschheit und welche wir beschreiben als okkulte Wissen­schaft, können von keiner anderen Wesenheit in der ganzen Welt in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden als nur vom Menschen.

Es ist wichtig für uns, daß wir ein Charakteristikum der Akasha-Substanz beachten, nämlich, daß der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt in der Akasha-Substanz lebt, genauso, wie wir zum Beispiel hier auf der Erde innerhalb der Atmosphäre leben.

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Wenn ein Seher mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, in Beziehung treten sollte mit menschlichen Seelen, die zwischen Tod und neuer Geburt leben, so würde er folgendes bemerken können. Ein Mensch, der in dem gegenwärtigen Entwickelungszyklus hier auf Erden - früher war dies anders - nie in der Lage ist, geisteswissen­schaftliche Gedanken und Ideen in sich rege zu machen, ein solcher kann nicht beobachtet oder gesehen werden, wenn er auch zugegen ist, von einer menschlichen Seele, die zwischen Tod und neuer Geburt lebt. Wenn ein Mensch, der hier auf der Erde lebt, einen geisteswissen­schaftlichen Gedanken, eine Idee in sich rege macht, so daß sie in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden können, dann wird er sicht­bar den anderen Seelen, die zwischen Tod und neuer Geburt leben. Ein Seher, der sich in Geduld vorbereitet hat für die Gabe des Seher­tums, kann, wenn er in Beziehung tritt zu Seelen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, tief erschütternde Eindrücke bekommen. Ich will Ihnen ein genaues Beispiel geben von einem solchen Fall.

Ein Seher fand einen Mann, der durch die Pforte des Todes ge­gangen war und der seine Frau, die er sehr liebte, und seine Kinder, die er nicht minder liebte, zurückgelassen hatte. Dieser Mann und seine Familie waren liebe, gute Leute, aber sie hatten keine Neigung, geistige Erkenntnisse in ihre Seele aufzunehmen, und sie waren nicht über die religiösen Überlieferungen hinausgewachsen, durch welche gewisse Seelen sich heute noch verbunden fühlen mit der geistigen Welt.

Und einige Zeit, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen war, sagte dieser Mann zu sich: Ich habe meine liebe Frau und Kinder auf der Erde zurückgelassen, die der Sonnenschein meines Lebens waren; mit meinem geistigen Schauen kann ich sie aber nicht erreichen. Ich habe nur die Erinnerung an die Zeit, die ich mit ihnen zusammen verbracht habe auf Erden.

Ein ganz anderes Bild kann gesehen werden, wenn eine Seele, die noch auf Erden ist, sich klare, starke geistige Gedanken und Ideen bil­det. Wenn eine andere Seele, die zwischen Tod und neuer Geburt lebt, hinunterschaut auf diese Seele, die sie zurückgelassen hat, kann sie deren Seelenleben verfolgen in der gegenwärtigen Zeit, weil dieses Seelenleben sich in die Akasha-Substanz einschreibt.

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Hier berühren wir einen Punkt, der uns zeigt, wie die anthroposo­phische Lehre die Kluft abschaffen wird zwischen den sogenannten Lebenden und den sogenannten Toten. Und schon in der gegenwär­tigen Zeit können wir sehen, wie Menschen, die ein Verständnis haben für das Geistige, von großem Segen sein können für die sogenannten Toten dadurch, daß sie ihnen in Gedanken die Wahrheiten der Geisteswissenschaft vorlesen. Wenn wir folgen in Gedanken, entweder laut oder uns selbst vorlesend, den Ideen und Begriffen der Geistes­wissenschaft und zu gleicher Zeit empfinden, daß einer oder mehrere, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, vor uns sitzen, während wir lesen, dann wird dieses Lesen - weil solche Gedanken in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden - etwas sehr Reales für sie werden. Und dieses Lesen kann nicht nur denjenigen jenseits des Todes von größtem Nutzen sein, die, während sie auf Erden waren, sich mit dem Studium der Geisteswissenschaft beschäftigten, sondern auch denjenigen, die, während sie hier waren, nichts damit zu tun haben wollten.

Nun könnte die Frage gestellt werden: Da doch die Toten fortleben in der geistigen Welt, brauchen sie denn ein solches Vorlesen? Es gibt viele, die glauben, daß man nur durch die Pforte des Todes zu gehen braucht, um alles das zu erfahren, was auf der Erde nur mit großer Mühe durch Geisteswissenschaft erreicht werden kann. Solche Men­schen glauben auch, daß jemand nur zu sterben braucht, um sich nach dem Tode das ganze okkulte Wissen erwerben zu können, weil er dann in der geistigen Welt sein wird. Aber dies ist nicht der Fall.

Genauso, wie es hier auf der Erde andere Wesenheiten als die Menschen gibt, wie es zum Beispiel bei den Tieren der Fall ist, die alles sehen, was der Mensch durch seine Sinne sehen kann, während es ihnen nicht möglich ist, sich darüber Ideen und Begriffe zu bilden, so ist es mit den Seelen, die in den übersinnlichen Welten leben, die, obgleich sie die Wesenheiten und Tatsachen der höheren geistigen Welt sehen, sich keine Begriffe und Ideen darüber bilden können, wenn die Menschen hier auf Erden nicht solche Begriffe und Ideen in die Akasha-Chronik einschreiben.

Die Mission des menschlichen Lebens auf der Erde ist nicht ohne

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Bedeutung, sondern sie ist im Gegenteil von großer Bedeutung. Wenn menschliche Seelen nie auf der Erde gewohnt hätten, so würden doch die geistigen Welten da sein, aber es würde kein okkultes Wissen von diesen geistigen Welten geben. Die Erde hat im Laufe der Evolution der Welt einen Punkt erreicht, wo Geisteswissenschaft entwickelt werden kann durch geistige Wesenheiten, die so organisiert und kon­stituiert sind wie die Menschen auf der Erde. Und das, was durch Geisteswissenschaft eingetragen worden ist in die Akasha-Substanz, wäre nie darin gewesen, wenn es nicht Geisteswissenschaft auf der Erde gegeben hätte.

Wenn jemand versucht, sein Seelenleben auf der Erde zu prüfen, so wird er zunächst entdecken, daß er während unseres jetzigen Zeitalters seine Tätigkeiten für das Erwerben von Erkenntnis für andere Zwecke verwendet hat als für das Erwerben von Geisteswissenschaft. Diese menschlichen Fähigkeiten des Lernens sind dazu verwendet worden, um Erkenntnisse zu erwerben, die ins Leben gerufen worden sind durch die Sinne und durch den Verstand, der an das menschliche Gehirn gebunden ist. So haben wir menschliche Erkenntnis von zweierlei Art: die eine Art gehört nur zu der Erfahrung, die durch die Sinne erworben wird, die das Organ des Verstandes braucht, um sie in Erkenntnis umzuwandeln, die andere Art ist die Geisteswissenschaft. Die Erkenntnis, die der Sinnenwelt allein angehört, bildet die eine Strömung, die andere besteht aus dem, was die Menschen durch die Geisteswissenschaft in die Akasha-Chronik einschreiben. Denn die Geisteswissenschaft bildet Ideen und Begriffe aus, die dann ewig in der Akasha-Chronik eingeschrieben bleiben.

Alles Wissen, alle Erkenntnis, die zu den Erfahrungen durch die Sinne gehören, zu den technischen Dingen, zu dem geschäftlichen und industriellen Leben der Menschheit, wirkt so, wenn es in die Akasha­Substanz eingeschrieben wird, daß die Akasha-Substanz dieses Kon­glomerat von Ideen und Begriffen wieder ausstößt, mit anderen Wor­ten, sie werden ausgelöscht. Wenn man die eben erwähnten Tatsachen mit den Augen eines Sehers betrachtet, so kann man beobachten, daß ein Streit stattfindet in der Akasha-Substanz zwischen den Eindrücken, die durch menschliche okkulte Wissenschaft da hinein gemacht werden

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und die ewig sind, und zwischen denjenigen, die auf Sinnesergeb­nissen beruhen, die nur vorübergehend sind. Dieser Streit entsteht aus dem Umstand, daß der Mensch, als er zuerst anfing die Erde zu be-wohnen als Mensch - das heißt in der uralten lemurischen Epoche -, schon damals durch hohe geistige Wesenheiten dazu bestimmt war, Geisteswissenschaft zu erwerben.

Aber durch das, was wir den luziferischen Einfluß nennen, durch das Eingreifen von luziferischen Wesenheiten, lenkte der Mensch seine Gedankenkraft und andere Seelenkräfte, die er sonst nur auf das Er­werben von okkulten Ideen und Begriffen verwendet haben würde, ab auf das Studium solcher Dinge, die nur der physischen Welt angehören.

Es gibt jetzt viele Menschen, die sagen, während die gewöhnliche Wissenschaft allen offen sei, so könne doch Geisteswissenschaft nur denen nahegebracht werden, die in die geistigen Welten schauen können.

Darin liegt ein Grundirrtum, denn innerhalb der Tiefen seiner eige­nen Seele besitzt jeder Mensch die Fähigkeit und die Kraft, sogar ehe er ein Seher wird, die Wahrheiten der Geisteswissenschaft zu erkennen. Es ist wahr, daß okkulte Wahrheiten nur von dem Seher entdeckt wer­den können; aber wenn sie einmal entdeckt und in der gewöhnlichen normalen Sprache der menschlichen Vernunft ausgedrückt worden sind, so können sie von jeder menschlichen Seele verstanden werden, welche die Hindernisse für ein solches Verständnis aus ihrem Innern wegräumen will.

Als Resultat der luziferischen Impulse wurde es später in der Ent­wickelung der Erde einer anderen Wesenheit, die wir Ahriman nennen, möglich, Einflüsse über die Seelen der Menschen zu gewinnen. Und nur dann, wenn die Möglichkeit des Verständnisses für die Geistes­wissenschaft durch ahrimanische Einflüsse in der Seele zurückgehalten wird, bleibt dieses Verständnis für die Geisteswissenschaft unerreich­bar. Wenn die Wesenheit, die wir Ahriman nennen, nicht in jeder menschlichen Seele arbeitete, wenn unsere Seelen ohne seinen Einfluß wären, dann brauchte eine Idee oder ein Gedanke der Geisteswissen­schaft nur ausgesprochen zu werden und eine menschliche Seele würde

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durch ihr unterbewußtes Verhältnis zu dieser Wahrheit in ihrem inner­sten Wesen folgendes fühlen: Diese Idee, die Behauptung der Geistes­wissenschaft ist wahr. - In jeder menschlichen Seele gibt es ein Leben, welches das alltägliche Bewußtsein versteht und worüber es sich Rechenschaft geben kann, und ein unterbewußtes Seelenleben, das begraben liegt wie in den Tiefen des Ozeans und das nur von Zeit zu Zeit ans Licht gebracht wird. Zu den Tiefen der Seele gehört zum Bei­spiel jene Furcht, die in jedem Menschen vorhanden ist: die Furcht vor dem rein Geistigen. Diese Furcht ist das Resultat von Ahrimans Einfluß und würde nicht existieren, hätte Ahriman nicht Macht erlangt über die Seelen der Menschheit. Der Grund, warum der Mensch sich einer solchen Furcht meist nicht bewußt ist, liegt darin, daß diese in den tiefsten Untergründen der Seele arbeitet und keine Rolle spielt in dem, worüber er sich mit seinem alltäglichen Bewußtsein Rechenschaft geben kann.

Zuweilen klopft diese Furcht an die Tür des gewöhnlichen Bewußt­seins eines Menschen, ohne daß er weiß, was es ist, das ihn aus der Tiefe seiner Seele heraus beunruhigt, und dann sucht er etwas, das betäubend wirkt, das sein Gefühl der Furcht, von dem er nichts wissen will, abstumpfen soll. Dieses Betäubungsmittel findet er in den mate­rialistischen Gedanken, Theorien und Ideen. Materialistische Theorien werden nicht aus logischen Gründen erfunden, obgleich man glauben könnte, daß das der Fall wäre, sondern sie werden ausgedacht aus einer Furcht vor dem Geistigen, die das Resultat von Ahrimans Ein­fluß auf die Seele ist. Deshalb ist die vorbereitende Bedingung für das unmittelbare Verständnis der spirituellen Wahrheiten viel weniger eine Kenntnis der physischen Wissenschaft als eine Erziehung der Seele in der Tugend des moralischen Mutes, des innerlichen geistigen Mutes. Und deshalb können wir sagen, daß das okkulte Wissen von dem Seher erforscht werden muß, aber es kann dann von jeder mensch­lichen Seele verstanden werden, wenn diese Seele nur den ganzen moralischen Mut, den sie besitzt, in sich frei machen will, so daß sie die Hindernisse, die von Ahriman herrühren, beseitigen kann.

Sollte jemand den Wunsch haben, die okkulten Wahrheiten durch die ursprünglichen moralischen Kräfte seiner Seele zu verstehen, so

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kann er den folgenden Versuch machen. Er kann Geisteswissenschaft auf sein Gemüt wirken lassen, ohne daß er sich vorher sagt: Ich stimme hiermit überein oder ich stimme nicht damit überein. - Er kann die geisteswissenschaftlichen Ideen und Begriffe, die von dem Seher ge­geben worden sind, aufnehmen und sie auf sein Gemüt wirken lassen Und wenn er dann das okkulte Wissen mit innerem Enthusiasmus und nicht aus bloßer Neugierde aufgenommen hat, so wird er etwas erfah­ren, was mit einem physischen Schweben ohne Boden unter den Füßen verglichen werden kann, mit einem Gefühl, als schwebte er in der Luft.

Dieser Versuch wird eine völlig verschiedene Wirkung hervorrufen, je nachdem er von jemand mit religiösen, ehrfurchtsvollen Neigungen gegenüber dem geistigen Leben gemacht wird oder von jemand, der gewohnt ist, materialistisch zu denken. Jemand, der kein okkultes Wissen besitzt, dessen Neigungen und Gefühle jedoch der geistigen Welt gegenüber von religiöser Art sind, kann sich etwas unsicher füh­len als Resultat dieses Versuches, aber viel weniger als ein Materialist, der kein Gefühl der Anziehung zur geistigen Welt hat. Der letztere wird ein starkes Gefühl von Furcht, von unsicherem Schweben er­leben. Der Materialist kann sich durch dieses Erlebnis überzeugen, daß okkulte Ideen und Begriffe ihn auf eine solche Weise berühren, daß sie Furcht und Schrecken hervorrufen. Und durch ein solches Erlebnis kann der Materialist erkennen, wie voll von Furcht er noch steckt, und kann zu sich sagen: Dieses beweist mir nicht nur, daß ich erfüllt bin von Furcht vor diesem Gebiet, sondern daß das Fürchten eine meiner Grundneigungen ist.

Hätten zum Beispiel Ernst Haeckel oder Herbert Spencer diesen Versuch gemacht, so hätten sie sich nicht allein davon überzeugt, daß okkultes Wissen nicht widerspruchsvoll sei und unmöglich geglaubt werden könne, sondern daß sie in den innersten Tiefen ihrer Seelen von Furcht erfüllt seien. Und sie würden gewissermaßen bald allen Zweifel und Unglauben gegenüber dem, was sie als Phantasien der geistigen Lehren zu betrachten pflegten, vergessen haben, und hätten sich eingestanden, daß es von großer Bedeutung sei, diese Furcht zu überwinden. Und hätten sie sich einmal dieses Bekenntnis gemacht, so hätten sie bald ihren Widerstand gegen die Phantasien der geistigen

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Lehren aufgegeben. Sie würden sich gesagt haben: Ich muß versuchen, den moralischen Mut in mir zu stärken. - Und dann hätten sie vielleicht ihre Selbsterziehung in die Hand genommen. Und wäre es ihnen gelungen, diese Furcht zu überwinden, so hätten sie gesagt: Jetzt, da wir stärkere Seelen geworden sind, haben wir keine Zweifel mehr an der Wahrheit der Geisteswissenschaft. - Dieses Erlebnis durch die Verstärkung des moralischen Mutes in der Seele ist ein Sieg über Ahriman, dessen Einfluß in der Wissenschaft Ernst Haeckels und in der Philo­sophie Herbert Spencers gesehen werden kann. Ahriman ist derjenige, der die Seelen inspiriert hat, eine materialistische Richtung einzu­schlagen.

Wenn nur ein kleiner Teil der Menschheit - als Resultat ihrer wah­ren Erkenntnis - in der Weise arbeiten wird, die eben angedeutet wor­den ist, um ihren moralischen Mut zu kräftigen, so werden alle diese materialistischen Theorien allmählich aus der Welt verschwinden.

Wie wir gesehen haben, ist okkultes Wissen nötig für den ganzen Werdegang der Evolution, weil es in die Akasha-Substanz ein­geschrieben werden muß. Von welcher Bedeutung dies für uns sein mag, kann durch eine kurze Skizze der Entwickelung der Menschheit auf Erden gezeigt werden.

Die Entwickelung des Menschen auf der Erde schreitet stufenweise von einer Kulturperiode zu der anderen fort. Während dieser auf­einanderfolgenden Perioden bewohnen die menschlichen Seelen als Individualitäten Körper, die diesen aufeinanderfolgenden Kulturen der Erde angehören. Alle die Seelen, die heute abend hier versammelt sind, waren in Körpern inkarniert, die früheren Kulturen angehörten. Jede einzelne Seele schreitet fort, je nach dem Karma, das sie für sich aufgebaut hat.

Außer dieser Entwickelung der individuellen Seelen, die von ihrem Karma abhängt, müssen wir die Entwickelung der Menschheit als ein Ganzes anerkennen, die in menschlichen Körpern von Epoche zu Epoche fortschreitet. Ein griechischer Körper, ein ägyptischer, chal­däischer, urpersischer oder atlantischer Körper war in den feineren Teilen seines Baues ganz verschieden von einem menschlichen Körper des gegenwärtigen Zeitalters.

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Wir müssen unterscheiden zwischen dem inneren Fortschritt des Ich und des Astralkörpers von Inkarnation zu Inkarnation und dem äußerlichen Fortschritt und der Veränderung in den physischen und ätherischen Körpern von einer Rasse zu der anderen, von einer Nation zu der anderen, von einem Zeitalter zu dem anderen.

Dieser Fortschritt der äußeren Körper, der physischen und äthe­rischen, von einem Zeitalter zum anderen, würde denen, die Anatomie und Physiologie studieren, nicht bemerkbar sein, aber er ist trotzdem vorhanden und kann durch die okkulte Wissenschaft erkannt werden. Und so wird der menschliche physische Körper wieder ganz verschie­den sein im Laufe der normalen Entwickelung der Menschheit, wenn nach unserem jetzigen Leben unsere Seelen in einer zukünftigen Ver­körperung wieder auf der Erde erscheinen werden.

In der jetzigen Menschheitsperiode wird ein zartes Organ vorberei­tet, das für den äußeren Anatomen und Physiologen nicht bemerkbar ist. Und doch existiert es anatomisch. Dieses Organ liegt im menschlichen Gehirn, in der Nähe des Sprachorgans.

Die Entwickelung dieses Organs in den Gehirnwindungen ist nicht das Ergebnis des Karma individueller Seelen, sondern sie ist ein Er­gebnis der menschlichen Evolution als eines Ganzen auf der Erde, und in der Zukunft werden alle Menschen dieses Organ besitzen, ganz gleich was die Entwickelung der Seelen sein mag, die sich in diesem Körper inkarnieren werden, und ganz unabhängig von dem Karma, das mit diesen Seelen verbunden ist.

Dieses Organ wird in einer zukünftigen Inkarnation von Menschen besessen werden, die gegenwärtig vielleicht der Anthroposophie feind­lich sind, wie von denjenigen, die ihr jetzt sympathisch gegenüber­stehen. Dieses Organ wird in der Zukunft das physische Instrument für gewisse Seelenkräfte sein, genauso wie zum Beispiel Brocas Organ in der dritten Gehirnwindung das Organ für die menschliche Fähig­keit der Sprache ist.

Wenn dieses Organ entwickelt ist, kann es von der Menschheit ent­weder richtig angewendet werden oder auch nicht. Diejenigen werden es richtig anwenden können, die jetzt die Möglichkeit vorbereiten, die jetzige Inkarnation wahrheitsgemäß in der Erinnerung zu haben, wenn

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sie in der nächsten sein werden. Denn dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Ent­wickelung.

Gegenwärtig kann für die weitaus größte Zahl von Menschen die Erinnerung an frühere Inkarnationen nur erlangt werden durch höhere geistige Entwickelung, durch Initiation. Aber das, was in jetzigen Zeiten nur durch Initiation erlangt werden kann, wird später gewis­sermaßen Gemeingut der Menschheit. Unser heutiges Wissen war früher das besondere Wissen der atlantischen Eingeweihten allein, jetzt kann es jeder besitzen. In derselben Weise ist die Erinnerung an frühere Erdenleben gegenwärtig nur den Eingeweihten möglich, aber in der Zukunft wird jede menschliche Seele im Besitz derselben sein.

Dem Eingeweihten ist es möglich, gewisse Kenntnisse ohne den Gebrauch eines physischen Organes zu erlangen, aber dieses Wissen kann nur dann das Gemeingut der Menschheit werden, wenn die Menschheit als Ganzes im Laufe der Evolution ein äußeres physisches Organ entwickelt, wodurch es erlangt werden kann. Die reinkarnier­ten Seelen müssen jedoch dieses Organ richtig gebrauchen können, mit dessen Hilfe man sich später an seine früheren Inkarnationen er­innern wird. Nur diejenigen, die in der jetzigen Inkamation okkulte Gedanken und Ideen deutlich in die Akasha-Substanz eingeschrieben haben, werden dieses Organ auf die richtige Weise gebrauchen können.

Man hört oft sagen: Was nützt es, an frühere Leben zu glauben, wenn die Menschheit im allgemeinen sich an nichts davon erinnern kann? - Man sollte lieber denken, wie viel erstaunlicher es wäre, wenn nach dem, was man vom Leben weiß, die Menschheit im allgemeinen schon jetzt sich ihrer früheren Leben erinnern könnte. Wenn wir uns fragen, was nötig ist, damit wir uns überhaupt an etwas erinnern kön­nen, so müßten wir antworten: Wir können uns nur dessen erinnern, was wir vorher gedacht haben.

Das alltägliche Leben kann uns dies lehren. Denken Sie sich, daß jemand seine Manschettenknöpfe nicht finden kann, wenn er des Morgens aufsteht. Er sucht sie überall, kann sie aber nicht finden. Warum kann er sie nicht finden? Weil er, während er sie weglegte,

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nicht an das gedacht hat, was er tat. Lassen Sie ihn das gegenteilige Experiment machen, lassen Sie ihn jeden Abend, während er seine Manschettenknöpfe weglegt, versuchen, sich klar bewußt zu sein: Ich lege meine Manschettenknöpfe an diesen Platz, - er wird sich dann nie irren, sondern wird gerade dahin gehen, wo er sie hingelegt hat. Der Gedanke ruft den Vorgang in seine Erinnerung zurück.

Wenn wir in einer zukünftigen Inkarnation leben, so werden wir uns nur dann an die vergangenen erinnern, wenn wir uns an die wahre Natur der Seele erinnern können, die fortdauert von einer Inkarnation zu der anderen. Derjenige, der im jetzigen Leben nicht okkulte Wissen-schaft studiert, kann keine Erkenntnisse von der Beschaffenheit und Wesenheit der Seele erlangen, und wenn er diese Kenntnisse nicht hat, wie sollte er, wenn er wieder inkarniert ist, sich an das erinnern, woran er nie gedacht hat in der früheren Inkarnation?

Durch das Studium der Geisteswissenschaft, welches unter anderen Dingen das Studium der Wesenheit der Seele einschließt, bereiten wir in unserem Inneren dasjenige vor, was uns ermöglichen wird, in einer künftigen Inkarnation uns an das zu erinnern, was in dieser jetzigen geschehen ist. Es gibt jedoch gegenwärtig viele Menschen, die sich noch nicht dem Studium dieses Wissens widrnen wollen. Diese werden wiedergeboren, vielleicht in der nächsten Inkarnation mit dem vorher erwähnten Organ für die Erinnerung an frühere Leben physisch aus­gebildet, aber sie haben sich nicht so vorbereitet, daß sie sich an die Vergangenheit erinnern könnten.

Was für eine Bedeutung hat dann die Geisteswissenschaft noch im heutigen Leben zu all dem hinzu, was wir bereits gesagt haben? Durch sie erlangen wir die Möglichkeit, in der richtigen Weise das Organ zu gebrauchen, welches in den Menschen der Zukunft entwickelt wird, nämlich das Organ für die Erinnerung an frühere Erdenleben. In unserer jetzigen Inkarnation müssen wir die Erkenntnisse unserer Seele in die Akasha-Substanz einschreiben, um in unserer nächsten In­karnation das Organ für die Erinnerung an die Vergangenheit in der richtigen Weise gebrauchen zu können, das Organ, welches sich im Menschen entwickelt, ob er will oder nicht. Also in der Zukunft wird es Menschen geben, die das erwähnte Organ für die Erinnerung an

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frühere Erdenleben werden gebrauchen können, und andere, die es nicht werden gebrauchen können. In diesen letzteren werden gewisse Krankheiten sich zeigen, weil sie in ihrem physischen Leib ein Organ haben werden, welches sie nicht gebrauchen können. Ein Organ zu besitzen und unfähig sein, es zu gebrauchen, ruft nervöse Krankheiten von einer ganz bestimmten Art hervor, und diese Nervenerkran­kungen, die dadurch entstehen werden, daß man dieses besondere Organ besitzt und es nicht gebrauchen kann, werden viel schlimmere sein als alle diejenigen, die der Mensch bis jetzt gekannt hat.

Wenn man auf diese Weise den Zusammenhang der Tatsachen be­trachtet, fängt man an, eine Idee zu bekommen von der Mission der Geisteswissenschaft und von der wahren Bedeutung eines Verständ­nisses des Lebens und der Menschheit durch das Studium dieser Erkenntnis. Aber für den Fall, daß der Eindruck, den diese Betrach­tung auf Sie gemacht hat, zu Mißverständnissen führen sollte, will ich noch eine andere Tatsache erwähnen, welche das mildern kann, was peinlich an diesem Eindrucke war. Obgleich der wahre Okkultist sehen kann, daß die Geisteswissenschaft in das spirituelle Leben unserer gegenwärtigen Zeit eintreten muß, damit der Mensch der Zukunft das Organ für die Erinnerung gebrauchen könne und physisch in guter Gesundheit bleibe, so kann doch zu gleicher Zeit durchaus nicht behauptet werden, daß ein Mensch, der in der jetzigen Zeit nicht bereit ist, Geisteswissenschaft aufzunehmen, für seine folgende In­karnation auf die vorher beschriebene Weise verloren sein wird. Es wird für lange Zeit in der Zukunft einem Menschen immer noch mög­lich sein, wenn er auch das Angedeutete vernachlässigt hat, nämlich in diesem Leben sich den Gebrauch des Organs für die Erinnerung anzueignen, dies im nächsten Leben gutzumachen, denn er wird noch einige Gelegenheiten haben, seine Gesundheit wiederherzustellen und geisteswissenschaftliche Wahrheiten zu erlangen. Aber die Zeit wird kommen, wo diese Möglichkeit aufhören wird.

Wenn wir auch noch nicht den bestimmten Augenblick erreicht haben, so leben wir doch in der Epoche der Menschheit, wo die Gei­steswissenschaft aus dem schon erwähnten Grunde in das geistige Leben der Menschheit eingegliedert werden muß, so daß sie eine notwendige

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Entwickelung im allgemeinen Fortschritt der Menschheit ist und nicht von den privaten Meinungen der einen oder der anderen Individualität herstammt.

Und auf diese Weise wird, besonders in unserer Zeit, die Möglich­keit für die subjektive Entwickelung der Menschenseele gegeben sein, die sie zu einem persönlichen Schauen der geistigen Welten, zu einer okkulten Entwickelung führen wird. Und wir können sagen, daß jeder Mensch, der die ursprünglichen Kräfte innerhalb seiner Seele anwenden wird, ungestört von ahrimanischen Einflüssen alles ver­stehen kann, was uns aus den spirituellen Welten geoffenbart wird, und es ist deshalb in einem gewissen Sinn jedem Menschen möglich, sich in die geistigen Welten hinaufzuheben dadurch, daß er eine okkulte Entwickelung durchmacht. In der Gegenwart können ins­besondere drei Kräfte unserer Seele gut entwickelt werden, so daß eine okkulte Verbindung mit den übersinnlichen Welten stattfinden kann.

Die erste Kraft, die in der Menschenseele gut entwickelt werden kann, ist die Kraft des Denkens. Wir leben im Zusammenhang mit der Welt, die uns umgibt, dadurch, daß wir uns Gedanken über un­sere Umwelt bilden. Im gewöhnlichen alltäglichen Leben denkt der Mensch Gedanken, die durch Sinneseindrücke oder durch den Intel­lekt, der an das Gehirn gebunden ist, verursacht werden. In meinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» werden Sie finden, wie ein Mensch durch Meditation, Konzentration und Kontemplation, durch die Erkraftung seines seelischen Lebens diese Kraft des Gedankens unabhängig vom äußeren Leben machen kann. Ich möchte Sie gerade hier darauf aufmerksam machen, wie man das, was innerhalb unserer Seele die Kraft des Gedankens ist, die sonst nur entwickelt wird dadurch, daß man sich Gedanken bildet über die äußere Welt, wie man das im wesentlichen frei und unabhängig machen kann von all dem, was dem Körper angehört. Das heißt, durch eine solche Entwickelung erlangt die Seele die Möglichkeit zu denken, Gedanken in sich selbst zu bilden, ohne vom Körper Ge­brauch zu machen, ohne das Gehirn als Instrument zu benützen. Dies können wir gut verstehen, wenn wir betrachten, was das hauptsächlich

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Charakteristische des gewöhnlichen, alltäglichen Denkens ist, welches von den Eindrücken abhängig ist, die durch die Sinne ge­wonnen werden.

Das hauptsächliche Charakteristikum des gewöhnlichen Denkens ist, daß jede einzelne Betätigung des Denkens das Nervensystem be­einträchtigt, besonders das Gehirn; es zerstört etwas im Gehirn. Jeder alltägliche Gedanke bedeutet einen Zerstörungsprozeß im klei­nen, in den Zellen des Gehirns. Aus diesem Grunde ist der Schlaf nötig für uns, so daß dieser Zerstörungsprozeß wieder gutgemacht werden kann. Während des Schlafes ersetzen wir das, was in unserem Nervensystem während des Tages durch das Denken zerstört wurde. Das, was wir bewußt wahrnehmen in einem gewöhnlichen Gedanken, ist in Wirklichkeit der Zerstörungsprozeß, der in unserem Nerven­system stattfindet.

Nun bemühen wir uns, die Meditation dadurch zu entwickeln, daß wir uns zum Beispiel der Betrachtung des Folgenden hingeben:

Die Weisheit lebt im Licht.

Diese Idee kann nicht von Sinneseindrücken herrühren, weil es den äußeren Sinnen nach nicht der Fall ist, daß die Weisheit im Licht lebt. In einem solchen Fall halten wir durch die Meditation den Ge­danken so weit zurück, daß er sich nicht mit dem Gehirn verbindet. Wenn wir auf diese Weise eine innere Denktätigkeit entwickeln, die nicht mit dem Gehirn verbunden ist, werden wir durch die Wir­kungen einer solchen Meditation auf unsere Seele fühlen, daß wir auf dem rechten Wege sind. Da wir bei dem meditativen Denken keinen Zerstörungsprozeß in unserem Nervensystem hervorrufen, macht uns ein solches meditatives Denken nie schläfrig, wenn es auch noch so lange fortgesetzt wird, was unser gewöhnliches Denken leicht tun kann.

Es ist wahr, daß oft gerade das Gegenteil eintritt, wenn man medi­tiert, denn die Menschen beklagen sich oft, daß sie, wenn sie sich der Meditation hingeben, sofort einschlafen. Aber das kommt daher, daß die Meditation noch nicht vollkommen ist. Es ist ganz natürlich, daß wir in der Meditation zunächst die Art des Denkens benutzen, an die wir sonst immer gewöhnt waren. Nur nach und nach gewöhnen wir

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uns daran, mit dem äußeren Denken aufzuhören. Wenn wir dieser Punkt erreicht haben, dann wird das meditative Denken uns nicht mehr schläfrig machen, und so werden wir wissen, daß wir auf dem rechten Wege sind.

Wenn die innere Kraft des Denkens so entwickelt wird, ohne daß die Denkkraft den äußeren Körper benutzt, dann werden wir eine Kenntnis des inneren Lebens erlangen, werden unser wahres Selbst erkennen, unser höheres Ich.

Den Weg zu der wahren Kenntnis des menschlichen Selbst findet man in der Art von Meditation, die eben beschrieben worden ist, die zu der Befreiung der inneren Denkkraft führt. Nur durch solche Er­kenntnis gelangt man dahin, zu sehen, daß dieses menschliche Selbst nicht innerhalb der Grenzen des physischen Körpers gebunden ist. Man lernt im Gegenteil einsehen, daß dieses Selbst mit den Erschei­nungen der Welt um uns her verbunden ist. Während wir im gewöhn-lichen Leben die Sonne hier sehen und dort den Mond, dort die Berge, Hügel, Pflanzen und Tiere, fühlen wir uns jetzt mit allem, was wir sehen und hören, verbunden, wir sind ein Teil davon, und für uns gibt es dann nur eine äußerliche Welt, und das ist unser eigener Kör­per. Während wir im gewöhnlichen Leben hier sind und die äußere Welt um uns herum, sind wir nach der Entwickelung der unabhängigen Denkkraft außerhalb unseres Körpers eins mit dem, was wir sonst sehen, und unser Körper, in dem wir sonst darinnen sind, ist außerhalb unser selbst. Wir schauen darauf zurück, er ist jetzt die einzige Welt geworden, auf die von außen wir blicken können.

Auf diese Weise kann man durch die Befreiung der Denkkraft wirk­lich aus seinem physischen Leibe herauskommen und denselben als etwas Äußerliches betrachten. Man kann sogar noch mehr tun. Man kann zum Beispiel auf eine positive Weise die Frage beantworten:

Warum wachen wir jeden Morgen auf? Während des Schlafes liegt unser physischer Leib im Bette, und wir sind tatsächlich außerhalb desselben, genauso, wie es der Fall ist während des meditativen Den­kens. Beim Erwachen kehren wir zu unserem physischen Körper zu­rück, weil wir zu demselben durch Hunderte und Tausende von Kräf­ten zurückgezogen werden wie von einem Magnet. Hiervon weiß der

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Mensch gewöhnlich nichts. Aber wenn er sich befreit hat durch die Meditation, dann wird er bewußt zurückgezogen durch dieselbe Kraft, die im vorigen Fall seine Seele beim Erwachen unbewußt in seinen physischen Körper zurückzieht.

Wir lernen auch durch eine solche Meditation, wie der Mensch her­untersteigt aus den höheren Welten, worin er zwischen Tod und neuer Geburt gelebt hat, und wie er sich mit den Kräften und Substanzen verbindet, die ihm gegeben werden durch Eltern und Großeltern und so weiter. Kurz, wir lernen die Kräfte kennen, die die Menschen zwi­schen Tod und neuer Geburt in eine neue Inkarnation zurückziehen.

Als eln Ergebnis einer solchen Meditation kann man zurückschauen auf einen großen Teil des Lebens, welches vor der Geburt, vor der Empfängnis, zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt zugebracht wurde. Aber durch die Meditation, die eben beschrieben worden ist, kann man meistens nur bis zu einem gewissen Punkt zu­rückschauen, der vor der letzten Inkarnation liegt; man könnte durch diese Meditation nicht weiter zurückschauen bis in frühere Inkar­nationen.

Um in der Gegenwart auf frühere Inkarnationen zurückzuschauen, solange das vorher erwähnte Organ noch nicht im menschlichen Gehirn gebildet worden ist, ist eine andere Art von Meditation nötig als die Meditation im Denken, die wir eben beschrieben haben. Diese andere Meditation kann nur zustandekommen, wenn das Gefühl in den Gegenstand der Meditation gebracht wird. Alles, was eben be­schrieben worden ist als Meditation, kann von dem, der meditiert, auch mit dem Gefühl durchdrungen werden.

Wir wollen jetzt diesen Inhalt der Meditation betrachten, der in der Meditation selbst von Gefühl und Empfindung durchdrungen werden muß. Wenn wir zum Beispiel als Inhalt nehmen:

Die Weisheit erstrahlt in dem Licht

und wir fühlen uns inspiriert durch das Erstrahlen der Weisheit, wenn wir uns erhoben fühlen, wenn wir innerlich durchglüht sind von die­sem Inhalt, wenn wir mit enthusiastischen Gefühlen darin leben und darüber meditieren können, dann haben wir etwas mehr vor unseren

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Seelen als Meditation in Gedanken. Die Kraft, die wir dann in der Seele benützen als Kraft der Empfindung, ist diejenige, die wir sonst in der Sprache benützen. Sprache wird hervorgebracht, wenn wir unsere Gedanken mit innerlichem Gefühl, mit innerlicher Empfindung gründlich durchdringen. Dies ist der Ursprung der Sprache, und Brocas Organ im Gehirn wird auf diese Weise hervorgebracht: die Gedanken des inneren Lebens, die von innerlicher Empfindung durch­drungen sind, werden tätig im Gehirn und bilden auf diese Weise das Organ, welches das physische Instrument der Sprache ist.

Wenn wir so meditieren, wenn unsere Meditation wirklich von solchen Gefühlen durchdrungen ist> dann halten wir in unseren Seelen jene Kraft zurück, die wir im täglichen Leben im Sprechen benützen. Wir können sagen, daß die Sprache die Verkörperung der inneren Seelenkraft ist, welche diese von Gefühl durchdrungenen Gedanken ausdrückt. Wenn wir nun, statt daß wir der Seelenkraft erlauben, in der Sprache hervorzutreten, Meditation aus diesen von Gefühl durchdrungenen Gedanken entwickein, wenn wir immer weiter und weiter mit dieser Meditation fortfahren, dann gewinnen wir allmählich die Fähigkeit - sogar jetzt ohne das physische Organ -, durch Initia­tion zurückzuschauen in frühere Erdenleben und auch die Zeit zwischen den Erdenleben zu erforschen, die Zeit, welche immer zwischen Tod und neuer Geburt liegt.

Durch solche Ausbildung des Zurückhaltens der Sprache innerhalb der Seele, oder wie der Okkultist sagt, durch das Zurückhalten des «Wortes» innerhalb der Seele, können wir zurückschauen zum Ur­beginn unserer Erde, zurück zu dem, was die Bibel den Schöpfungs­akt der Elohim nennt. Wir können zurückschauen bis in die Zeit, wo die wiederholten Erdenleben für die Menschheit anfingen. Denn die okkulte Entwickelung, die wir dadurch erreichen, daß wir das Wort zurückhalten oder die Sprache zurückhalten, befähigt uns, in die sich folgenden Zeitperioden hineinzuschauen, insofern sie mit unserer Erde, mit dem spirituellen Leben unseres Erdenplaneten verbunden sind. Wir werden fähig, die Wesenheiten der höheren Hierarchien zu schauen, insofern sie mit dem spirituellen Leben der Erde ver­bunden sind.

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Aber diese beiden Kräfte des Hellsehens, die in der Meditation durch Gedanken und durch vom Gefühl durchdrungene Gedanken entwickelt werden, können uns nicht zu Erlebnissen führen, welche vor der Zeit der jetzigen Erde liegen, zu Erlebnissen, welche mit früheren planetarischen Inkarnationen unserer Erde verknüpft sind. Hierfür ist die dritte meditative Kraft nötig, von welcher wir jetzt kurz sprechen wollen.

Wir können weiterhin den Inhalt unserer Meditation mit den Im­pulsen des Willens auf eine solche Weise durchdringen, daß, wenn wir meditieren zum Beispiel über

Die Weisheit der Welt erstrahlet im Lichte,

wir jetzt wirklich fühlen können, ohne es äußerlich zu wollen, den Impuls unseres Willens verbunden mit jener Tätigkeit. Wir können unser eigenes Wesen mit der ausstrahlenden Kraft des Lichtes ver­bunden fühlen und können dieses Licht strahlen und vibrieren lassen durch die Welt. Wir müssen den Impuls unseres Willens mit dieser Meditation verbunden fühlen.

Wenn wir auf eine solche Weise meditieren, daß unsere Meditation mit Impulsen des Willens erfüllt wird, so halten wir elne Kraft zu­rück, die sonst in die Pulsation des Blutes übergehen würde. Sie kön­nen leicht beobachten, daß das Leben unseres inneren Ich in das Pulsieren des Blutes übergehen kann, wenn Sie sich daran erinnern, daß wir blaß werden, wenn wir uns fürchten, und erröten, wenn wir uns schämen. Das ist der Übergang der Seelenkraft in das Pulsieren des Blutes. Wenn diese selbe Kraft, die das Blut beeinflußt, so in Tätigkeit tritt, daß sie nicht in das Physische binuntersteigt, sondern nur in der Seele bleibt, dann fängt diese dritte Meditation an, die wir durch Willensimpulse beeinflussen können.

Derjenige, der diese drei Formen der okkulten Entwickelung durch-macht, fühlt, wenn er nur Denkkraft freimacht, als ob er ein Organ an der Nasenwurzel hätte. Dieses Organ wird als Lotusblume be­schrieben, durch welches er dieses Ich oder Selbst bemerken kann, das weit in den Raum ausgedehnt ist.

Derjenige, welcher durch Meditation Gedanken, durchdrungen von

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Gefühlen, entwickelt hat, wird sich allmählich durch diese entwickelte Kraft, die sonst Sprache geworden wäre, der sogenannten sechzehn­blättrigen Lotusblume in der Gegend des Kehikopfes bewußt. Mit Hilfe dieser sogenannten Lotusblume kann er das begreifen, was mit zeitlichen Dingen vom Anfang der Erde bis ans Ende derselben verbunden ist. Durch dieses Organ lernt man auch in Wirklichkeit die okkulte Bedeutung des Mysteriums von Golgatha erkennen, von welcher wir in unserem nächsten Vortrag sprechen werden.

Durch die zurückgehaltene Seelenkraft, die im normalen alltäg­lichen Leben sich bis in das Blut und seine Pulsation ausdehnen würde, wird ein Organ in der Gegend des Herzens entwickelt, das in meinem Buch «Die Geheimwissenschaft im Umriß» beschrieben wird und durch welches man die Evolution verstehen kann, die man im Okkul­tismus als Saturn, Sonne und Mond bezeichnet, die früheren Inkarna­tionen unserer Erde.

Sie sehen also, daß nicht behauptet wird, okkulte Entwickelung werde gewonnen durch eine Unmöglichkeit oder durch das, was nicht existiert, sondern durch das, was wirklich vorhanden ist innerhalb der menschlichen Seele.

Die erste okkulte Kraft, die erwähnt worden ist, stammt aus einer höheren Entwickelung der Denkkraft, jener Kraft, die sonst nur an­gewendet wird für Gedanken, die mit der äußeren Welt verknüpft sind.

Die zweite Kraft, von der wir gesprochen haben, ist nur eine höhere Entwickelung dessen, was im alltäglichen Leben von jedem mensch­lichen Wesen durch den Körper in der Sprache äußerlich angewandt wird in der Entwickelung des Organes für das Wort.

Die dritte Kraft ist eine höhere Ausbildung dessen, was sonst in der menschlichen Seele vorhanden ist, um zu veranlassen, daß das Blut schneller oder langsamer pulsiert, um eine größere oder kleinere Blutmenge zum einen oder anderen Organ des Leibes hinzuleiten, mehr nach der Mitte, wenn wir blaß werden, mehr nach der Ober­fläche, wenn wir erröten, mehr oder weniger nach dem Gehirn und so weiter.

Wenn der Mensch diese Kräfte ausbildet, die in ihm vorhanden

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sind, die aber im gewöhnlichen Leben nur für sein äußerliches kör­perliches Dasein gebraucht werden, dann beginnt die okkulte Ent­wickelung. Und das, was durch okkulte Entwickelung erkannt werden kann, kann heute von jedem Menschen verstanden und erfaßt werden, der die Hindernisse zum Verständnis wegräumen will. Das, was durch okkulte Entwickelung gelernt werden kann, ist okkulte Wissen­schaft, und in unserem jetzigen Menschheitszyklus muß okkulte Wissenschaft in die menschliche Seele hineinfließen, so daß diese menschliche Seele ihr eigenes Wesen kennenlernen möge, welches un­abhängig ist von dem Körper. Die Formen all der Substanzen, die in der äußeren Welt sind, wie Erde, Wasser, Luft und so weiter, ver­gehen, die Formen der Akasha-Substanz dauern fort. Unsere Seele muß sich durch ihr inneres Leben mit der Akasha-Substanz ver­bunden fühlen, und in zukünftigen Zeiten wird sie den Wunsch haben, sich an das zu erinnern, was sie in der Gegenwart erlebt. Die Mög­Ichkeit, Ideen und Begriffe zu erlangen, die zu solcher Erinnerung führen können, ergibt sich aus dem Studium der okkulten Wissen­schaft, das nur möglich ist, wenn die Erkenntnis, die durch die okkulte Entwickelung erlangt wird, verbreitet und angenommen wird.

Deshalb habe ich in diesem ersten Vortrag versucht, Ihnen klar-zumachen, wie durchaus nötig die Verbreitung der okkulten Er­kenntnis ist, und den Hinweis auf den Weg zu der okkulten Ent­wickelung hinzugefügt den Impulsen, die der Entwickelung der Menschheit zugrunde liegen. Nicht durch Worte, gegründet auf ge­wöhnliche menschliche Betrachtungen, habe ich versucht, die Mission der Geisteswissenschaft klarzulegen, sondern durch die Betrachtung der Tatsachen, die selbst das Ergebnis okkulter Forschung sind. Wer diese Tatsachen auf seine Seele wirken läßt, wird begreifen, daß für denjenigen, der die volle Bedeutung dieser Tatsachen versteht, es unmöglich ist, die Notwendigkeit der Verbreitung der geisteswissen­schaftlichen Erkenntnisse in der jetzigen Zeit zu leugnen. Man braucht durchaus nicht fanatisch zu werden, um die Notwendigkeit der ent­sprechenden Ausbildung anzuerkennen, man braucht nur die Tat­sachen zu verstehen, die dem okkulten Leben des Menschen zu­grunde liegen.

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Und wir können sagen, daß es eigentlich nur Unkenntnis dieser Tatsachen sein kann, die die Menschheit noch von dem anthropo­sophischen Leben fernhält. Deshalb wird unter den geistigen Be­wegungen unserer Zeit die Geisteswissenschaft, wie sie hier verstanden wird, die am wenigsten fanatische und diejenige sein, die am meisten von objektiven Betrachtungen ausgeht. Es ist besonders nötig, immer wieder zu erwähnen, daß alle solchen Theorien, alle solchen Lehren sich schließlich vereinigen müssen innerhalb der anthroposophischen Kreise in einem fundamentalen lebendigen Gefühl.

Es gibt ein objektives gelstiges Leben, dessen Spiegelung in der Welt der Maja das Leben ist, von welchem wir umgeben sind. Okkulte Entwickelung ist das Heraustreten aus der Welt der Maja und das Eintreten mit den besten Kräften unseres Ich in die Welt der geistigen Wirklichkeit. Jeder Schritt den wir in okkulter Erkenntnis und okkulter Entwickelung machen, ist ein Schritt vom Schein zu der Wirklichkeit. Und weil ein echtes Verständnis dieser Tatsache zu nichts anderem führen kann als zu dem Impulse, diese Schritte wirk­lich zu machen, wird das Schicksal der Geisteswissenschaft gesichert sein, weil immer mehr und mehr Seelen den Wunsch haben werden, die Wahrheit über den Weltengeist objektiv zu erkennen.

Das anthroposophische Feuer, welches in uns entfacht werden kann, ist nur ein Ergebnis des universellen kosmischen Feuers, welches geistig vom Anfang bis zum Ende ausströmt.

Dies ist es, was ich Ihnen gerne sagen wollte in diesem ersten Vor-trage über die Mission der anthroposophischen Bewegung im geisti­gen Leben der Gegenwart.

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CHRISTUS ZUR ZEIT DES MYSTERIUMS VON GOLGATHA UND CHRISTUS IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT London, 2. Mai 1913

Von allen Mysterien ist das Mysterium von Golgatha am schwersten zu verstehen, sogar für diejenigen, die in okkulten Erkenntnissen schon vorgeschritten sind, und von allen Wahrheiten, mit welchen die Menschheit in Beziehung kommen kann, ist es diejenige, die am leichtesten mißverstanden werden kann. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß das Mysterium von Golgatha ein einzigartiges Er­eignis in der ganzen Evolution der Erde war, daß es in der Entwicke­lung der Menschheit auf Erden ein mächtiger Impuls war, der sich nie vorher in derselben Art ereignet hatte und der sich nie in gleicher Weise wiederholen wird. Der menschliche Verstand jedoch sucht immer nach einem Maßstab, nach einem Vergleich, nach welchem die Dinge verstanden werden können. Aber etwas, was unvergleich­bar ist, kann nicht verglichen werden, und weil es einzigartig ist, wird es schwer verstanden.

Nun haben wir uns bemüht, in der geisteswissenschaftlichen Be­wegung, in der wir arbeiten, dieses Mysterium von Golgatha von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu charakterisieren. Aber neue Gesichtspunkte können fortwährend gewählt, neue Charakteristiken beständig hervorgeholt werden, um dieses mächtige Ereignis in der Evolution der Menschheit auf Erden zu beschreiben.

Ein solcher Gesichtspunkt, ein solcher Aspekt soll heute hier ge­geben werden, und insbesondere soll die Aufmerksamkeit auf das gerichtet werden, was in einem gewissen Sinne die Erneuerung des Mysteriums von Golgatha in unserer Zeit, in unserem gegenwärtigen Menschheitszyklus genannt werden kann.

Wenn man das Mysterium von Golgatha gründlich verstehen will, sollte man es nicht als etwas von der Menschheitsevolution ganz Getrenntes betrachten, was nur während seiner Dauer von drei oder dreiunddreißig Jahren in Betracht zu ziehen wäre, sondern man sollte betrachten, wie es sich gerade in der vierten nachatlantischen Zeitperiode,

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in der sogenannten griechisch-lateinischen Kulturepoche ereignete, und man sollte auch in Betracht ziehen, daß dieses Mysterium von Golgatha während der ganzen Entwickelung des alten hebrä­ischen Volkes vorbereitet wurde. Nicht nur das ist äußerst wichtig für das Mysterium von Golgatha, was sich in der Menschheit zutrug während des vierten nachatlantischen Zeitalters, sondern auch das ist von bedeutender Wichtigkeit, was sich während der ganzen alten hebräischen Kultur vorbereitete, nämlich die Verehrung Jehovas. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, wer die Wesenheit war, die sich in den alten hebräischen Zeiten unter dem Namen Jahve oder Jehova offenbarte.

Nun, der Mensch von heutzutage ist ein Wesen, welches vor allem in dem, was seine Vernunft und sein Verständnisvermögen anbetrifft, seinen Intellekt entwickelt, die Dinge vom intellektuellen Standpunkt aus zu verstehen liebt.

In dem Augenblick jedoch, wo man die Schwelle von der Sinnes­welt in die übersinnlichen Welten überschreitet, hört die Möglichkeit auf die Wirklichkeit nur mit den Mitteln des Verstandes zu erfassen. Der menschliche Verstand kann auf Erden gute Dienste leisten, aber in dem Augenblick, wo man in die übersinnlichen Welten eintritt, genügt er - obgleich man ihn da noch als ein nützliches Instrument betrachten kann - nicht mehr als Mittel, um Erkenntnis zu erlangen.

Dieser Verstand liebt vor allem Unterscheidungen zu machen, und um eine Sache zu verstehen, hat er eine Definition nötig. Diejenigen unter Ihnen, die meinen Vorträgen öfter gefolgt sind, werden das Fehlen von beinahe jeglichen Definitionen bemerkt haben. Man kann die Dinge der Wirklichkeit nicht durch Definitionen erfassen. Es gibt gewiß gute und schlechte Definitionen, Definitionen, die umfassend sind, und andere, die weniger befriedigend sind. Um die Angelegen­heiten der Erde zu verstehen, sind Definitionen nötig, aber wenn man Dinge, die der Wirklichkeit angehören, verstehen will, nament­lich Dinge, die der übersinnlichen Wirklichkeit angehören, dann kann man nicht definieren. Da muß man charakterisieren, denn dann ist es notwendig, die Tatsachen und die Wesenheiten von allen Ge­sichtspunkten aus zu betrachten.

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Definitionen sind immer einseitig und erinnern denjenigen, der Logik studiert hat, an die alte griechische Schule der Philosophie, die einstmals zu definieren suchte, was ein Mensch ist. Um also eine Idee von dem Menschen zu geben, wurde die folgende Definition aufgestellt: Ein Mensch ist ein zweibeiniges Wesen ohne Federn. - Am folgenden Tage brachte jemand ein gerupftes Huhn herein und sagte: Dieses ist ein zweibeiniges Wesen und hat keine Federn, folg­lich ist es ein Mensch. - Man kann oft hieran erinnert werden, wenn Definitionen verlangt werden für etwas, was so vielseitig und viel­deutig ist, daß Definitionen ungenügend sind und man nur charak­terisieren kann. Aber vor allem, um die verschiedenen Wesenheiten in den übersinnlichen Welten unterscheiden zu können, möchten die Menschen eine Definition haben. Sie fragen: Was ist genau genom­men eine solche Wesenheit? - Je weiter man nun aber in die übersinn­lichen Welten eindringt, desto mehr durchdringen sich die Wesen­heiten dort, sie sind nicht mehr voneinander abgegrenzt, so daß es schwer ist, sie voneinander zu unterscheiden.

Vor allem darf man die Evolution nicht außer acht lassen, wenn man den Namen Jahve oder Jehova in Betracht zieht, namentlich wenn man ihn mit dem Namen des Christus in Verbindung bringt. Sogar im Neuen Testament werden Sie finden - und in meinen Büchern habe ich oft darauf hingewiesen -, daß Christus sich durch Jehova offenbarte, soweit er das konnte vor dem Mysterium von Golgatha.

Wenn man einen Vergleich zwischen Jehova und Christus ziehen will, so ist es gut, das Sonnenlicht und das Mondenlicht als Bild zu gebrauchen. Was ist Sonnenlicht, was ist Mondenlicht? Sie sind ein und dasselbe und doch sehr verschieden. Das Sonnenlicht strömt von der Sonne aus, aber im Mondenlicht wird das Sonnenlicht vom Monde zurückgeworfen. In der gleichen Weise sind Christus und Jehova ein und dasselbe. Christus ist dem Sonnenlicht gleich, Jehova ist wie das reflektierte Christus-Licht, insofern es sich der Erde offenbaren konnte unter dem Namen des Jehova, ehe das My­sterium von Golgatha eintrat. Und wiederum, wenn eine so hehre Wesenheit wie Jehova-Christus in Frage kommt, müssen wir in den

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erhabenen Höhen der übersinnlichen Welten nach seiner wahren Be­deutung suchen. In Wirklichkeit ist es eine Vermessenheit, sich einer solchen Wesenheit wie Jehova-Christus mit alltäglichen Begriffen zu nähern.

Nun bemühten sich die alten Hebräer, einen Weg aus dieser Schwierigkeit zu finden. Die menschliche Denkkraft ist schwach, aber sie versucht, sich eine Idee von dieser erhabenen Wesenheit zu machen. Die Aufmerksamkeit wurde nicht direkt auf Jehova ge­richtet - ein Name, der an und für sich als unaussprechbar betrachtet wurde -, sondern auf die Wesenheit, welche in unserer westlichen Literatur als Michael beschrieben wird. Es kann natürlich manches Mißverständnis aus dieser Behauptung entstehen, aber das ist nicht zu vermeiden. Der eine könnte vielleicht sagen, dies wird die Vor­urteile der Christen wieder erwecken, der andere will nichts mit solchen Dingen zu tun haben. Aber die Wesenheit, die wir Michael nennen dürfen und die der Hierarchie der Archangeloi angehört -ganz gleich wie wir diese Wesenheit auch nennen mögen -, sie existiert doch. Und es gibt viele solcher Wesenheiten, welche dem gleichen Range angehören. Aber diese besondere Wesenheit, die esoterisch unter dem Namen Michael bekannt ist, ist so erhaben über ihre Ge­fährten, wie die Sonne erhaben ist über die Planeten, über Venus, Merkur, Jupiter, Saturn und so weiter.

Er, Michael, ist die hervorragendste und die bedeutendste Wesen­heit in der Hierarchie der Erzengel. Die Alten nannten Michael «Das Antlitz Gottes». Wie ein Mensch sich durch seine Gesten und durch den Ausdruck seines Antlitzes offenbart, so wurde in der Mythologie der Alten Jehova durch Michael verstanden. Jehova machte sich dem Eingeweihten auf solche Weise kenntlich, daß der Eingeweihte etwas erfassen konnte, was er mit seinem gewöhnlichen Fassungsvermögen niemals vorher hätte begreifen können, nämlich, daß Mi­chael das Antlitz des Jehova sei. So sprachen die alten Hebräer von Jehova- Michael: Jehova, der Unnahbare, zu dem man nicht gelangen konnte, wie man nicht zu eines Menschen Gedanken, zu seinen Leiden und Sorgen, die hinter seinem äußeren Ausdruck liegen, gelangen kann. Michael ist die äußere Offenbarung des Jahve oder Jehova, wie

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man beim Menschen die Offenbarung seines Ich auf seiner Stirn und seinem Antlitz erkennt.

Und so können wir sagen, daß Jehova sich durch Michael, einen der Erzengel, offenbarte. Die Erkenntnis dessen, den wir als Jahve beschrieben haben, war nicht bloß auf die alten Hebräer beschränkt, sie war viel weiter verbreitet. Und wenn man die letzten fünf Jahrhunderte vor der christlichen Ära untersucht, so findet man, daß während dieser ganzen Zeit eine Offenbarung durch Michael stattfand.

Wir können diese Offenbarung in einer anderen Form in Plato, Sokrates, Aristoteles entdecken, in der griechischen Philosophie, so­gar in den alten griechischen Tragödien während der fünf Jahr­hunderte vor dem Ereignis von Golgatha.

Wenn wir uns mit Hilfe der okkulten Erkenntnisse bemühen, hin­einzuleuchten in dasjenige, was tatsächlich sich ereignete, so können wir sagen, daß Christus-Jehova die Wesenheit ist, welche die Mensch­heit durch ihre ganze Evolution hindurch begleitet hat. Aber während der Epochen, die einander folgen, offenbart sich Christus-Jehova immer durch verschiedene Wesenheiten desselben Ranges wie Michael. Er wählt sozusagen immer ein anderes Antlitz, mit welchem er sich der Menschheit zuwendet. Und je nachdem der eine oder der andere aus der Hierarchie der Erzengel gewählt wird, um der Vermittler zu sein zwischen Christus-Jehova und der Menschheit, werden den Men­schen sehr verschiedene Ideen und Auffassungen, Impulse des Füh­lens, Impulse des Wollens und so weiter offenbart. Wir können die ganze Zeit, welche sozusagen das Mysterium von Golgatha umgibt, als die Zeit des Michael beschreiben, und wir können Michael als den Sendboten des Jehova betrachten.

In jener Zeit, welche dem Mysterium von Golgatha ungefähr um fünfhundert Jahre vorausging und sich mehrere Jahrzehnte nach die­sem fortsetzte, trug die führende Kultur der Menschheit sozusagen den Stempel des Michael. Durch seine Eigenschaften, seine Kraft, goß er in die Menschheit dasjenige, was ihr in jenem Zeitpunkte gegeben werden sollte. Und dann kamen andere Wesenheiten, die gleichfalls von den spirituellen Welten aus die Inspiratoren der Menschheit waren, andere Wesenheiten vom Range der Erzengel.

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Wie schon erwähnt wurde, war Michael der Größte, der Mäch­tigste, der Bedeutendste, so daß eine solche Epoche, wie die des Michael, stets die bedeutungsvollste oder eine der bedeutungsvollsten ist, die in der Evolution der Menschheit vorkommen kann. Denn die Epochen der verschiedenen Erzengel wiederholen sich. Und die Tat­sache ist von größter Wichtigkeit, daß jede solche Wesenheit von der Hierarchie der Erzengel dem Zeitalter den Grundcharakter gibt. Sie sind hauptsächlich die Führer der verschiedenen Nationen, aber weil sie die Führer bestimmter Epochen werden und weil sie die Führer verflossener Zeitalter waren, so sind sie in gewissem Sinne auch die Führer der ganzen Menschheit geworden.

Was Michael anbetrifft, so hat bis zu unserem jetzigen Zyklus der Evolution eine Veränderung stattgefunden, denn Michael selbst ist durch eine Entwickelung hindurchgegangen. Und das ist von großer Wichtigkeit, denn nach der okkulten Erkenntnis sind wir seit den paar letzten Jahrzehnten wieder in eine Epoche eingetreten, die durch dieselbe Wesenheit inspiriert wird, die das Zeitalter inspirierte, in welchem sich das Mysterium von Golgatha ereignete. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dürfen wir Michael wieder als Führer ansehen.

Wenn wir dies verstehen wollen, müssen wir das Mysterium von Golgatha von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten und müssen uns fragen: Was ist in diesem Mysterium von hauptsächlich­ster Bedeutung? Daß die Wesenheit, welche mit dem Namen Christus ausgezeichnet wird, zu jener Zeit durch das Mysterium von Golgatha und durch die Pforte des Todes ging, das ist von der größten Be­deutung! Niemals in der ganzen Evolution der Erde könnte man von dem Mysterium von Golgatha sprechen, ohne die Tatsache, daß Christus durch den Tod gegangen ist, als das Wesentlichste dieses Mysteriums anzusehen.

Betrachten Sie die Naturgesetze. Viel kann verstanden werden durch das Studium derselben, und in der künftigen Evolution der Erde wird noch viel mehr dadurch gelernt werden, aber wir müssen schon bloße Träumer sein, wenn wir nicht erkennen, daß das Ver­ständnis für das Leben als solches ein Ideal ist, welches nur durch

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Entwickelung zu begreifen ist und niemals durch das Studium der Naturgesetze. Gewiß gibt es Träumer in unseren Tagen, welche glau­ben, daß durch die Erkenntnis der Wissenschaft wahres Verständnis für das Prinzip des Lebens mit der Zeit erlangt werde; aber dies wird niemals der Fall sein. Während der Evolution der Erde werden noch viele Gesetze durch die Sinne entdeckt werden, aber das Prinzip des Lebens als solches kann sich auf diese Weise niemals der Welt enthüllen, das kann nur mit den Mitteln der okkulten Erkenntnis geschehen.

Deshalb erscheint uns das Leben als etwas, was hier auf Erden der Wissenschaft unzugänglich ist. Und ebenso wie das Leben dem mensch­lichen Wissen unzugänglich ist, so ist dies der Fall mit dem Tod dem wahren Wissen gegenüber, welches in den übersinnlichen Welten er­langt wird. In dem ganzen Gebiet der übersinnlichen Welten gibt es keinen Tod. Man kann nur auf Erden sterben, in der physischen Welt oder in den Welten, welche in der Entwickelung unserer Erde gleichen, und alle die Wesenheiten, die hierarchisch höher stehen als der Mensch, haben keine Kenntnis vom Tode, sie kennen nur verschiedene Be­wußtseinszustände. Ihr Bewußtsein kann zeitweise so herabgesetzt sein, daß es unserem irdischen Schlafzustand ähnlich ist, aber es kann aus diesem Schlaf wieder aufwachen. Es gibt keinen Tod in der geistigen Welt, es gibt dort nur Bewußtseinsänderung, und die größte Furcht, die der Mensch hat, die Todesfurcht, kann von einem, der nach dem Tode zu den übersinnlichen Welten aufgestiegen ist, nicht empfunden werden. In dem Augenblick, wo er durch die Pforte des Todes geht, ist sein Zustand ein solcher intensiver Sensibilität, aber er kann nur entweder in einem klaren oder in einem verdunkelten Bewußtseinszustand existieren, und es wäre äußerst sonderbar, wenn man sich vorstellen wollte, daß ein Mensch in der übersinnlichen Welt tot sein könnte.

Es gibt daher keinen Tod für die Wesen, die zu den höheren Hier­archien gehören, mit nur einer einzigen Ausnahme, der des Christus. Aber damit eine übersinnliche Wesenheit wie der Christus durch den Tod gehen konnte, mußte er erst auf die Erde herabsteigen. Und dies ist es, was von so unermeßlicher Wichtigkeit in dem Mysterium

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von Golgatha ist, daß eine Wesenheit, die in ihrem eigenen Reiche in der Sphäre ihres Willens niemals den Tod hätte erfahren können, hat hinuntersteigen müssen auf die Erde, um eine Erfahrung durch­zumachen, die dem Menschen eigen ist, nämlich um den Tod zu er­fahren. Dadurch wurde jenes innere Band, jenes tiefe innere Band zwischen der Menschheit auf Erden und Christus geknüpft, indem diese Wesenheit durch den Tod ging, um dieses Schicksal mit der Menschheit zu teilen. Dieser Tod, wie ich schon betonte, ist von der größten Bedeutung hauptsächlich für unsere jetzige Erdenevolution. Das, was sich damals wirklich ereignet hat für unsere Erdenevolu­tion, ist schon oft besprochen worden. Vor allem vereinigte sich ein Wesen, einzig in seiner Art, welches bis dahin nur kosmisch war, durch das Mysterium von Golgatha, durch den Tod des Christus, mit der Erdenevolution. Es trat ein in die Evolution der Erde zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Es war vorher nicht da. Es gehörte nur dem Kosmos an, aber durch das Mysterium von Golgatha stieg es herunter aus dem Kosmos und verkörperte sich auf Erden. Seitdem lebt es auf eine solche Weise auf Erden, ist so an die Erde gebunden, daß es in den Seelen der Menschen auf Erden lebt und mit ihnen das Leben auf Erden erfährt. Daher war die ganze Zeit vor dem Mysterium von Golgatha nur eine Zeit der Vorbereitung in der Evolution der Erde. Das Mysterium von Golgatha gab der Erde ihren Sinn.

Als das Mysterium von Golgatha stattfand, wurde der irdische Körper des Jesus von Nazareth - wie wir ja aus den verschiedenen Berichten wissen, die wir besitzen - den Elementen der Erde über­geben, und von der Zeit an war der Christus verbunden mit der geistigen Sphäre der Erde und lebt darin. Es ist, wie wir schon sagten, außerordentlich schwierig, das Mysterium von Golgatha zu beschrei­ben, da wir keinen Maßstab haben, womit wir es vergleichen können, aber wir wollen trotzdem versuchen, uns noch von einem anderen Gesichtspunkt aus ihm zu nähern.

Christus lebte, wie wir wissen, drei Jahre nach der Taufe im Jordan in dem Leibe des Jesus von Nazareth wie ein menschliches Wesen unter den Menschen der Erde. Wir können dies die irdische Offenbarung

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des Christus in einem physischen menschlichen Leibe nennen. Wie offenbart sich dann der Christus seit der Zeit, da er in dem Mysterium von Golgatha seinen physischen Körper ablegte?

Wir müssen uns natürlich das Christus-Wesen als ein überwälti­gend hohes Wesen vorstellen, aber obgleich es so hoch erhaben ist, war es ihm trotzdem möglich, sich während der drei Jahre nach der Johannestaufe im Jordan in einem menschlichen Leib zum Ausdruck zu bringen. Aber wie offenbart es sich seit jener Zeit? Nicht mehr im physischen menschlichen Leib, denn dieser wurde der physischen Erde übergeben und bildet jetzt einen Teil derselben. Denjenigen nun, welche durch das Studium der okkulten Wissenschaft in sich selbst die Möglichkeit entwickelt haben, in diese Verhältnisse hineinzuschauen, wird es sich offenbaren, daß dieses Wesen wiedererkannt werden kann in einem der Hierarchie der Engel angehörenden Wesen. Ebenso wie sich der Erlöser der Welt während der drei Jahre nach der Jordantaufe in einem menschlichen Leibe offenbarte, obgleich dieses Christus -Wesen von so außerordentlicher Hoheit war, so offen­bart es sich seit jener Zeit in direkter Weise als ein Engelwesen, ein geistiges Wesen, welches eine Stufe höher steht als die Menschenwesen. Als ein solches konnte er stets gefunden werden von denen, die hellsichtig waren; als ein solches war er stets mit der Evolution verbunden. So wahr als der Christus, als er im Leibe des Jesus von Nazareth inkarniert war, mehr als Mensch war, so ist das Christus-Wesen mehr als Engel. Das ist nur seine äußere Gestalt. Aber in der Tatsache, daß so, wie wir es beschrieben haben, ein mächtiges, er­habenes Wesen herunterstieg von den spirituellen Welten und drei Jahre in einem menschlichen Leibe wohnte, ist auch die weitere Tat­sache zum Ausdruck gebracht, daß dieses Wesen während dieser Zeit selbst in seiner Entwickelung um eine Stufe weitergeschritten ist.

Wenn solch ein Wesen solch eine Tat vollbringt, indem es eine menschliche oder eine Engelform annimmt, so schreitet es selbst wei­ter fort. Und das ist es, was wir in der Entwickelung des Christus­-Jehova angedeutet haben, daß der Christus zu dem Zustand gelangt ist, in dem er von jetzt ab sich selbst offenbart, nicht als ein mensch­liches Wesen, nicht nur durch seine Spiegelung, durch sein zurückgeworfenes

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Licht, nicht nur durch den Namen des Jehova, sondern unmittelbar. Und das ist der große Unterschied in all den Lehren und all der Weisheit, welche seit dem Mysterium von Golgatha in die Evolution der Erde gekommen sind, daß durch das Kommen des Michael-Geistes auf die Erde, durch seine Inspiration die Menschheit allmählich anfangen konnte, alles das zu verstehen, was der Christus-­Impuls, was das Mysterium von Golgatha bedeutet. Aber zu jener Zeit war Michael zunächst der Sendbote des Jehova, der die Spiegelung des Christus-Glanzes ist, er war noch nicht der Sendbote des Christus selbst.

Michael inspirierte die Menschheit mehrere Jahrhunderte hindurch, ungefähr fünfhundert Jahre lang vor dem Mysterium von Golgatha, wie schon in den alten Mysterien, von Plato und so weiter angegeben wurde. Bald jedoch, nachdem das Mysterium von Golgatha statt­gefunden und Christus sich mit der Evolution der Erde vereinigt hatte, hörte der unmittelbare Einfluß des Michael auf. Zu der Zeit, als jene alten Dokumente, welche wir in der Form der Evangelien be­sitzen, geschrieben wurden - wie ich es beschrieben habe in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» -, konnte Michael selbst die Menschheit nicht mehr inspirieren, aber durch seine Ge­fährten unter den Erzengeln wurde sie so inspiriert, daß viel Seelenkraft unbewußt durch Inspiration aufgenommen wurde.

Die Schreiber selbst hatten keine deutliche okkulte Erkenntnis, denn die Inspiration des Michael ging zu Ende kurz nach dem Er­eignis des Mysteriums von Golgatha. Die anderen Erzengel, die Gefährten des Michael, konnten die Menschheit nicht in der Weise in­spirieren, um das Mysterium von Golgatha verständlich zu machen. Dies erklärt die abweichenden Interpretationen der verschiedenen christlichen Lehren. In diesen Lehren wurde viel durch die Gefährten des Michael inspiriert. Diese Lehren wurden nicht von Michael selbst inspiriert, sondern stehen in demselben Verhältnis zu seinen Inspi­rationen wie die Planeten zu der mächtigen Sonne.

Jetzt erst in unserer Zeit ist wieder ein solcher Einfluß da, eine direkte Inspiration von Michael. Diese direkte Inspiration von Mi­chael wurde seit dem 16. Jahrhundert vorbereitet. In jener Zeit war es der Erzengel, der Michael am nächsten stand, welcher der Menschheit

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die Inspiration gab, die zu der Vervollkommnung der Naturwissen­schaft in unserer modernen Zeit führte. Die Naturwissenschaft der heutigen Zeit rührt nicht von der Inspiration des Michael her, sondern von einem seiner Gefährten, Gabriel. Diese wissenschaftliche Inspira­tion neigt dazu, eine Wissenschaft, eine Anschauung zu schaffen, die nur für die materielle Welt Verständnis gibt und mit dem physischen Gehirn zusammenhängt.

Innerhalb der letzten paar Jahrzehnte hat Michael den Platz dieses Inspirators der Wissenschaft wieder eingenommen, und in den näch­sten paar Jahrhunderten wird Michael der Welt etwas geben, was in einem spirituellen Sinne ebenso wichtig - ja noch wichtiger, weil noch spiritueller -, unermeßlich viel wichtiger ist als die materielle Wissenschaft, die von Stufe zu Stufe fortgeschritten ist seit dem 16. Jahrhundert. Geradeso wie sein Erzengelgefährte ehemals der Welt die Wissenschaft schenkte, so wird Michael uns in der Zukunft spirituelle Erkenntnis geben, an deren erstem Anfang wir uns jetzt befinden. Genauso wie Michael geschickt wurde als der Sendbote des Jehova, der Spiegelung des Christus, fünfhundert Jahre vor dem Mysterium von Golgatha, um jener Ära ihren Stempel zu geben, genauso wie er damals noch der Sendbote Jehovas war, so ist jetzt für unsere Zeit Michael der Sendbote des Christus selbst geworden. Genauso wie in den alten hebräischen Zeiten, welche eine unmittel­bare Vorbereitung für das Mysterium von Golgatha waren, die alten hebräischen Eingeweihten sich an Michael wenden konnten als an die äußere Offenbarung des Jahve oder Jehova, so sind wir jetzt in der Lage, uns an Michael zu wenden, der vom Sendboten des Jehova nun zum Sendboten des Christus geworden ist, um von ihm während der nächsten paar Jahrhunderte zunehmende spirituelle Offenbarung zu empfangen, welche uns immer mehr und mehr das Mysterium von Golgatha enthüllen wird. Das, was vor zweitausend Jahren stattfand, aber was der Welt nur durch die verschiedenen christlichen Sekten bekanntgemacht werden konnte, und dessen Tiefen erst im 20. Jahr­hundert enthüllt werden können, wenn statt der Wissenschaft spiri­tuelle Erkenntnis, die Gabe von Michael, sich geltend machen wird, das ist es, was unsere Herzen mit unermeßlich tiefen Gefühlen erfüllen

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sollte gegenüber dem Spirituellen in unserer Zeit. Wir werden er­fahren können, daß in den letzten paar Jahrzehnten ein Tor sich geöffnet hat, durch welches uns Verständnis kommen kann.

Michael kann uns neues spirituelles Licht geben, das wir als eine Umgestaltung jenes Lichtes betrachten können, das durch ihn zur Zeit des Mysteriums von Golgatha gegeben wurde, und die Menschen unserer Zeit dürfen sich in dieses Licht stellen. Wenn wir dies emp­finden können, so können wir die ganze Bedeutung des neuen Zeit­alters begreifen, welches gerade jetzt aus dem unsrigen hervorgeht. Wir können das Aufdämmern einer spirituellen Offenbarung be­merken, die in den nächsten paar Jahrhunderten in das Leben der Menschheit auf Erden kommen soll. In der Tat, da die Menschheit freier geworden ist als sie früher war, werden wir durch unseren eigenen Willen fähig sein, so fortzuschreiten, um diese Offenbarung empfangen zu können.

Wir wollen jetzt auf das Ereignis in den höheren Welten hinweisen, welches zu diesem veränderten Zustand geführt hat, zu dieser Zeit der Erneuerung des Mysteriums von Golgatha. Wenn wir auf jene Zeit zurückschauen, so erinnern wir uns an das, was oft durch unsere Seele geströmt sein mag, durch dasjenige, was sich damals bei der Johannestaufe im Jordan ereignete, als Christus sich in einer mensch­lichen Form offenbarte, die sichtbar war auf Erden unter den Men­schen. Und weiter wollen wir unsere Seele mit dem Gedanken er­füllen, wie Christus dann, was seine äußere Form anbetrifft, sich mit der Hierarchie der Engel vereinigte und seit jener Zeit unsichtbar in der Erde gelebt hat.

Erinnern wir uns an das, was gesagt worden ist, nämlich, daß es in den unsichtbaren Welten keinen Tod gibt. Christus selbst, dadurch, daß er auf unsere Welt herunterstieg, ging durch einen Tod ähnlich dem der Menschen. Als er wieder eine rein geistige Wesenheit wurde, behielt er noch immer die Erinnerung an seinen Tod bei. Aber als eine Wesenheit vom Range der Engel, in welcher er sich weiterhin äußerlich offenbarte, konnte er nur eine Herabminderung des Bewußt­seins erfahren.

Durch das, was seit dem 16. Jahrhundert notwendig geworden war

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für die Evolution der Erde, nämlich der Triumph der Wissenschaft, welche höher und höher steigt, trat in die ganze Evolution der Menschheit etwas ein, was auch für die unsichtbaren Welten von Bedeutung ist. Mit dem Triumph der Wissenschaft kamen in die Menschheit materialistische und agnostische Gefühle von größerer Intensität, als es bis dahin der Fall gewesen war. Auch früher gab es materialistische Tendenzen, aber es gab nicht diese Intensität des Ma­terialismus, wie sie seit dem 16. Jahrhundert vorherrschend geworden war. Immer mehr und mehr nahmen die Menschen, wenn sie durch die Pforte des Todes in die geistigen Welten eingingen, das Resultat ihrer materialistischen Ideen auf Erden mit sich, so daß nach dem 16. Jahrhundert immer mehr und mehr Samen von irdischem Mate­rialismus hinübergetragen wurden. Diese Samen entwickelten sich in einer bestimmten Art und Weise.

Obwohl Christus in die alte hebräische Rasse kam und dort zu seinem Tode geführt wurde, erlitt dennoch das Engelwesen, welches seitdem die äußere Form des Christus ist, im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Auslöschen des Bewußtseins als das Resultat der ent­gegengesetzten materialistischen Kräfte, die in die geistigen Welten heraufgekommen waren, als das Ergebnis der materialistischen Men­schenseelen, die durch die Pforte des Todes gingen. Und das Eintreten von Bewußtlosigkeit in den geistigen Welten in der eben beschriebe­nen Weise wird die Auferstehung des Christus-Bewußtseins in den Seelen der Menschen auf Erden zwischen Geburt und Tod im 20. Jahr­hundert werden. In gewissem Sinne kann man daher voraussagen, daß vom 20. Jahrhundert an das, was der Menschheit verlorengegangen ist an Bewußtsein, sicherlich wieder heraufsteigen wird für das hell­seherische Schauen. Anfangs nur wenige, dann eine immer wachsende Anzahl von Wesen wird im 20. Jahrhundert fähig sein, die Erscheinung des ätherischen Christus, das heißt Christus in der Gestalt eines Engels, wahrzunehmen. Um der Menschheit willen geschah das, was man eine Zerstörung von Bewußtsein nennen kann, in den Welten, die un­mittelbar über unserer irdischen Welt liegen, und in welchen der Christus sichtbar gewesen ist in der Zeit zwischen dem Mysterium von Golgatha und dem heutigen Tage.

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Man kann sagen, daß zur Zeit des Mysteriums von Golgatha sich in einem wenig bekannten Winkel von Palästina etwas ereignete, was tatsächlich das größte Ereignis war, welches jemals in der ganzen Menschheit eintrat, aber von dem wenig Notiz genommen wurde von den damaligen Menschen. Wenn so etwas stattfinden konnte, können wir da erstaunt sein, wenn wir hören, was sich während des 19. Jahrhunderts zutrug, als diejenigen, die seit dem 16. Jahrhundert durch die Pforte des Todes gegangen sind, sich dem Christus entgegenstellten?

So kann das Christus-Bewußtsein mit dem irdischen Bewußtsein der Menschheit vom 20.Jahrhundert an vereinigt werden, denn das Ersterben des Christus-Bewußtseins in der Engelsphäre im 19. Jahr­hundert bedeutet das Auferstehen des unmittelbaren Christus-Bewußt­seins in der Erdensphäre, das heißt, das Leben des Christus wird vom 20. Jahrhundert an immer mehr und mehr in den Seelen der Menschen gefühlt werden als ein direktes persönliches Erlebnis.

Genauso wie die wenigen Menschen, die in jenen Tagen die Zeichen der Zeit lesen konnten, in der Lage waren, das Mysterium von Gol­gatha so zu betrachten, daß sie erfassen konnten, wie diese große, mächtige Wesenheit aus den geistigen Welten herniederstieg, um auf Erden zu leben und durch den Tod zu gehen, damit durch seinen Tod die Substanzen seines Wesens der Erde einverleibt werden konnten, so können wir wahrnehmen, daß in gewissen Welten, die unmittelbar hinter der unsrigen liegen, eine Art geistiger Tod, eine Aufhebung des Bewußtseins stattfand und hiermit eine Wiederholung des Myste­riums von Golgatha, damit ein Wiederaufleben des früher verborge­nen Christus-Bewußtseins in den Seelen der Menschen auf Erden statt­finden kann.

Seit dem Mysterium von Golgatha konnten viele Menschen den Namen des Christus verkünden, und von diesem 20. Jahrhundert an wird es eine stetig wachsende Anzahl von solchen geben, die das Wis­sen von der Christus-Wesenheit mitteilen können, welches in der Geisteswissenschaft gegeben wird. Sie werden ihn aus ihrer eigenen Erfahrung heraus lehren, verkünden können. Zweimal schon ist der Christus gekreuzigt worden: das eine Mal physisch in der physischen Welt im Anfang unseres Zeitalters und ein zweites Mal im 19. Jahrhundert

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spirituell in der beschriebenen Weise. Man könnte sagen, die Menschheit erlebte die Auferstehung seines Leibes in der damaligen Zeit; sie wird die Auferstehung seines Bewußtseins vom 20. Jahr­hundert an erleben.

Das, was ich nur in einigen Worten habe andeuten können, wird allmählich in die Menschenseelen eindringen, und der Vermittler, der Sendbote wird Michael sein, der jetzt der Abgesandte des Christus ist. So wie er früher die Seelen der Menschen leitete, damit sie das Hinlenken seines Lebens vom Himmel zur Erde verstehen konnten, so bereitet er jetzt die Menschheit vor, damit sie fähig werde, das Hinlenken des Christus-Bewußtseins aus dem Zustand des Unbewußten in den Zustand des Bewußten zu erleben. Und genauso wie zur Zeit des Erdenlebens des Christus die größere Anzahl seiner Zeitgenossen unfähig war zu glauben, welch mächtiges Ereignis sich in der Erdenevolution zugetragen hatte, so strebt in unserer Zeit die Außenwelt danach, die Macht des Materialismus zu vergrößern, und wird auf lange Zeit hinaus fortfahren, das, was wir heute besprochen haben, als Phantasie, Träumerei, vielleicht auch als Torheit anzusehen. Und so wird sie auch diese Wahrheit über Michael ansehen, der in der jetzigen Zeit anfängt, den Christus von neuem zu offenbaren. Trotz­dem werden viele Menschen das erkennen, was jetzt beginnt wie eine Morgenröte aufzugehen und was sich während der kommenden Jahr­hunderte in die menschlichen Seelen wie eine Sonne ergießen wird, denn Michael kann stets mit einer Sonne verglichen werden. Und wenn auch viele Menschen diese neue Michael-Offenbarung nicht anerkennen werden, so wird sie sich trotzdem über die Menschheit ausbreiten.

Das ist es, was heute gesagt werden kann über die Beziehung des Mysteriums von Golgatha, welches sich im Anfang unserer Zeit­rechnung ereignete, zu dem Mysterium von Golgatha, wie es heute verstanden werden kann. Machen wir uns diese Gefühle zu eigen, indem wir erkennen, daß wir nur so wahre Geisteswissenschafter werden können. Von Zeit zu Zeit werden andere Offenbarungen kommen, für die wir unseren Sinn offenhalten müssen. Sollten wir nicht empfinden, daß es ganz besonders egoistisch sein würde, diese

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Gefühle ausschließlich zu unserer eigenen Genugtuung zu haben? Fühlen wir doch lieber, daß es unsere ernste Pflicht ist, wie wir sie durch die Geisteswissenschaft erkannt haben, uns zu bereitwilligen Werkzeugen für solche Offenbarung zu machen. Und obgleich wir nur eine kleine Gesellschaft sind in der ganzen Menschheit, die sich bemüht, diese neue Wahrheit vom Mysterium von Golgatha zu ver­stehen, diese neue Offenbarung des Michael zu erfassen, so bauen wir trotzdem eine neue Kraft auf, die nicht im geringsten von unserem Glauben an diese Offenbarung abhängt, sondern die einzig und allein von dieser Offenbarung selbst, von der Wahrheit selbst abhängt.

Dann werden wir ganz ruhig erkennen, daß nur einzelne von uns dazu vorbereitet sind, der Welt folgendes zu erklären, soweit sie es hören will: Von jetzt ab gibt es eine neue Offenbarung des Christus. Wir wollen bereit sein, sie anzuerkennen, wir wollen zu jenem kleinen Kreis gehören, der dazu helfen will, damit sie größer, dauernd werde, wir wollen auf die innere Kraft einer solchen Offenbarung bauen, so daß sie sich unter der übrigen Menschheit ausbreiten möge, denn diese Erkenntnis wird allmählich allen zuteil werden.

Dies ist es, was wir Weisheit nennen, was manche Torheit nennen mögen. Um fest dazustehen, brauchen wir uns nur heute daran zu erinnern, daß diese jetzige Zeit diejenige der zweiten Michael-Offen­barung ist, und auch daran, was von einem der alten Eingeweihten gesagt wurde zur Zeit der ersten Michael-Offenbarung: Was den Menschen oft als Torheit erscheint, ist vor Gott Weisheit.

Versuchen wir heute, Kraft für uns selbst aus solchen Gefühlen, aus solcher geistigen Erkenntnis zu ziehen, die in vieler Beziehung der äußeren Welt als Torheit erscheinen muß. Fassen wir den Mut, anzuerkennen, daß dasjenige, was für die, die sich nur auf die Sinne verlassen, als Torheit erscheint, für uns Weisheit und Licht sein kann und ein klareres Verständnis der übersinnlichen, geistigen Welten, zu denen wir mit der ganzen Kraft unserer Seelen und unserer Überzeugung streben wollen.

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DER MICHAEL-IMPULS UND DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA Stuttgart, 18. Mai 1913 Erster Vortrag

Bei meiner letzten Anwesenheit hier unter Ihnen konnte ich Ihnen in zwei Betrachtungen einiges darlegen über das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Dazumal war also der Gesichtspunkt gewählt worden, die ganze Wichtigkeit und Bedeutung einer Erkenntnis des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt ins Auge zu fassen, weil die Kräfte und Wesenheiten, mit denen der Mensch da zusammenkommt, hineinragen in unser Leben, das verläuft zwischen Geburt und Tod.

Heute soll zunächst von allerlei die Rede sein, welches uns die große Mission anthroposophischer Weltanschauung aus dem ganzen Charak­ter unserer gegenwärtigen Kulturepoche herausholen kann. Wir ste­hen in der Tat - ich habe das öfter betont und davon eingehender ge­sprochen - in einem wichtigen Abschnitt der menschlichen Erdenentwickelung, und ich habe öfters betont, daß, wenn man ja bei ober­flächlicher Betrachtung der Menschheitsevolution der Erde gar oft­mals jedes Zeitalter ein Übergangszeitalter nannte, so muß man unser Zeitalter vielleicht nicht gerade ein Übergangszeitalter, aber ein be­deutungsvolles Zeitalter für die ganze Entwickelung der Menschheit nennen.

Ein erster Gesichtspunkt, den ich heute vor Sie hinstellen will, ist der, den ich oft schon erwähnt habe, daß Anthroposophie, von der wir wissen, daß sie heute in das menschliche Kulturleben durch Not­wendigkeiten der Erdenentwickelung sich hineinleben muß, daß Anthroposophie, wenn auch ihre Ergebnisse nur erforscht werden können von der geschulten Seele des Geistesforschers, doch von jeder Menschenseele, die nur will, die nur Unbefangenheit genug der Sache entgegenbringt, verstanden werden, begriffen werden kann.

Da kann natürlich gleich eingewendet werden: Ja, aber es gibt doch nur wenige Menschen, die das Bewußtsein haben, daß ihnen wahr zu sein scheint das, wovon die Anthroposophie spricht. Und die Mehrzahl

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der Menschen betrachtet das, was von der Geisteswissenschaft, der Geistesforschung kommt, als Phantasterei, als Träumerei, wenn nicht gar noch - nun wir haben ja gestern gehört - als eine der sieben Sekten des Verderbens.

Was liegt da eigentlich zugrunde? Kann gegenüber der Tatsache, daß noch eine Menge Menschen der Gegenwart sich findet, die sagen:

Ja, wir können Anthroposophie nicht verstehen, sie erscheint uns eben als Phantasterei, - kann demgegenüber aufrechterhalten werden die Tatsache, daß diese Wahrheit, die von wenigen verstanden wird, doch für den unbefangenen Menschensinn erkennbar ist?

Ich habe in dem gestrigen öffentlichen Vortrage auseinandergesetzt, wodurch man zu übersinnlichen Erkenntnissen kommen kann, daß man gewisse Kräfte der Seele frei machen kann von ihrem Eingreifen in das Leibliche, wie die erwähnten Denk-, Sprach- und Willenskräfte frei werden können, sich emanzipieren können vom Körperlichen, so daß sie rein im Seelischen, im Geist-Seelischen wirken können, und daß sie dann die Kräfte sind, welche sich eben ausbilden durch Medi­tation, Konzentration und Kontemplation, die dann eindringen in die übersinnlichen Welten. Alle die Kräfte, die befähigen, einzudringen in die übersinnlichen Welten, kommen davon, daß der Mensch seine Seele loslösen kann von alledem, womit der Mensch im Leiblichen verbunden ist. Also in den Erkenntniskräften, mit denen die über­sinnlichen Welten erforscht werden können, haben wir es mit leibfreien Kräften zu tun.

Nun gibt es aber im ganz alltäglichen Leben eine Seelenkraft, welche in einer gewissen Weise schon in sich hat, was mit den anderen Seelenkräften angestrebt wird bei der Geistesforschung, und diese Seelenkraft ist die Denkkraft, wie sie sich äußert im gewöhnlichen, unbefangenen, gesunden Menschenverstand. Diese gewöhnliche Denkkraft nämlich, sie kann unter gewissen Voraussetzungen, ohne daß sie weiter entwickelt wird, selber schon als etwas Leibfreies sich darstellen.

Mit diesem Denken hat es nämlich folgende Bewandtnis. Dieses Denken, das also jede Seele heute in sich als eine Kraft haben kann, hat gewissermaßen zwei Gesichter, ist ein Januskopf. Dieses Denken

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ist entweder vom Gehirn abhängig, bringt nur dasjenige als Gedanken zum Bewußtsein, was sich im Gehirn, im Nervensystem spiegelt. Dann ist dieses Denken mehr passiv, ist ein solches Denken, das sich an­lehnen will an das Instrument des Gehirns. Oder aber dieses Denken kann sich schon einfach - ohne irgendwelche Meditation - durch inneres Aufrufen, dadurch daß es seiner selbst in seiner wahren Wesen­heit sich bewußt wird, daß es sich losreißen will von der Anlehnung an das Gehirn, freimachen: dann ist es ein mehr aktives Denken.

Beides sind Seiten des gesunden, gewöhnlichen Denkens, wie es heute jede Seele haben kann. Denken ist in jeder Seele, aber es kann in zweierlei Weise benutzt werden. Der Mensch kann es in sich selber erschaffen, kann in sich selber Gedanken prägen. Dann ist dieses Den­ken in seiner Aktivität, so daß es voll entgegenkommt allem, selbst den scheinbar gewagtesten Behauptungen der Geistesforschung. Wenn aber dieses Denken sich nicht erkraften will, nicht in seiner Aktivität sich erfassen will, dann muß es sich anlehnen an das Instrument des Denkens, das Gehirn, dann bringt es überhaupt nur Gedanken hervor, die mit dem Instrument des Gehirns erfaßt werden, dann denkt der Mensch nicht aktiv, dann denkt er passiv.

Richtiger erfaßt als jede andere - allerdings nicht für die unmittel­bare Gegenwart, sondern für die Zukunft - ist die Einteilung in aktive Denker und passive Denker. Diejenigen, die etwas von selbständigem, innerlich freiem Denken in sich erkraften, die aktiv denken können, werden schon durch den Trieb dieses Denkens herzugedrängt zu der geisteswissenschaftlichen Forschung. Diejenigen, die nicht tätig den­ken wollen, sondern nur in Abhängigkeit vom Gehirn, werden sagen, die anthroposophische Forschung ist Phantasterei, weil sie keinen Be­griff haben von dem, was in einem freien Denken erfaßt werden kann, weil sie hingegeben sein wollen an das Instrument des Gehirns. So daß man sagen kann, daß sie nicht in sich selbst denken wollen, nur in sich für sich selber denken lassen.

Gerade unter diesem Gesichtspunkte ist die Anhängerschaft, das Verhalten gegenüber der anthroposophischen Weltanschauung heute im Grunde genommen eine Sache der inneren Emsigkeit, des inneren Erkraftens oder der inneren Bequemlichkeit, der inneren Faulheit. Das

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Denken, das emsig sein will, sich erkraften will, das begreift die Ergeb­nisse der Geisteswissenschaft; das Denken, das sich der Krücke be­dienen will, des Instruments, das bloß im Spiegelbild des Gehirns sich die Gedanken zum Bewußtsein bringen will, das ist bequem, das will in sich nur denken lassen, das wird die anthroposophische Forschung aus Bequemlichkeit ablehnen müssen. Und alle Philosophien und alle Schreibereien, welche in die Welt hinauslaufen und scheinbar wissen­schaftlichen und geistvollen Charakter annehmen und sagen, daß man nicht begreifen könne, was anthroposophische Forschung zustande bringen kann, das beruht auf einer zunächst unbewußten, aber tief innerlichen Bequemlichkeit des menschlichen Denkens, das nicht aktiv werden, sondern passiv bleiben will. Bequem ist die Anhängerschaft zur anthroposophischen Weltanschauung nicht.

Das ist im Grunde genommen die Wahrheit über die Sache. Und wenn Sie in Versammlungen kommen, die sich ja heute nicht mehr materialistisch nennen, die sich monistisch vielleicht nennen und die sich auslassen über die «Phantastereien» der Geisteswissenschaft, so liegt da manches andere zugrunde, als was in diesen Versammlungen gesprochen wird. Da liegt zugrunde das Unvermögen, zum aktiven Denken fortzuschreiten, da liegt ferner die Anmaßung zugrunde -weil man selber sich nicht zum aktiven Denken aufraffen will -, die Bequemlichkeit des passiven Denkens zum obersten Grundsatz der menschlichen Forschung zu machen.

Bequemlichkeit von Seelenkräften führt ja schon im gewöhnlichen Leben zuweilen zu etwas, was öfter zu beobachten ist. Wenn jemand sich eine öffentliche Rede anhören will und zu bequem ist, mit den Ausführungen mitzugehen, schläfr er nach und nach ein und verschläft dasjenige, was eigentlich in seiner Absicht war zu erfahren, vielleicht auch nicht in seiner Absicht war zu erfahren. Mit einem solchen Ver­schlafen eines notwendigen Entwickelungsimpulses der Menschheit wird man es zu tun haben bei allen denjenigen, die sich nicht aufraffen können zu einem aktiven Denken in der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Verschlafen wird man ein Allerwichtigstes. Denn, wenn auch diese oder jene Menschen nichts davon wissen wollen, hinter dem, was sich abspielt in unserer Sinnenwelt, liegen die übersinnlichen

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Wesenskräfte, auch durchaus die übersinnlichen Vorgänge. Deshalb, weil ein Teil der Menschheit verschlafen will, was eigentlich geschieht, werden sich doch die übersinnlichen Vorgänge abspielen. Mit einem wichtigen Vorgange haben wir es in unserer gegenwärtigen Epoche zu tun! Und alle sinnlichen Vorgänge sind die äußeren Ausgestaltun-gen von übersinnlichen Vorgängen. Wenn wir sozusagen das Netz durchhauen, welches sich als sinnliche Vorgänge der Entwickelung unserer Epoche darbietet, dann kommen wir hinter diesen Schleier zu den übersinnlichen Vorgängen. Und um sie, die übersinnlichen Vor­gänge, zu charakterisieren, die jetzt gerade wichtig sind, wollen wir uns daran erinnern, daß alles Leben im Weltenall auf einer sich stei­gernden Entwickelung beruht.

Verfolgen wir den Entwickelungsweg des Menschen, so finden wir ihn zunächst, seiner ersten Anlage nach, in der alten Saturnzeit. Wir finden ihn dann mit einem neuen Element durchsetzt in der alten Sonnenzeit, noch weiter ausgebildet in der alten Mondenzeit und mit dem vierten Element, dem Ich, in der Erdenzeit. Und wir wissen ja, daß seine Seelenkräfte in der Jupiterzeit eine solche Gestaltung annehmen werden, daß er sich mit den Wesenheiten der Hierarchie der Angeloi vergleichen läßt.

So wie nun der Mensch in seiner Entwickelung fortschreitet und hinaufsteigt, so schreiten aber auch die anderen Wesenheiten der ein­zelnen Hierarchien von niederen Stufen zu höheren Stufen. Nicht nur die menschliche Hierarchie unterliegt einer solchen sich noch steigernden Entwickelung, sondern auch die über den Menschen stehenden Hierarchien.

Nehmen wir unter diesen Hierarchien die eine, zwei Stufen höher-stehende als der Mensch, die Hierarchie der Archangeloi, der Erzengel. Nun habe ich schon gestern gesagt, man nimmt es heute im allgemei­nen von mancher verständigen Seite nicht übel, wenn man vom Geist im allgemeinen redet. Wenn man aber eingeht auf Klassen, Ordnungen, Individuen, wie man es doch bei Pflanzen, Tieren und anderen Be­reichen in der Naturwissenschaft tut, dann nimmt es der heutige Kul­turmensch sehr übel. Dennoch muß man es, wenn man es im Kon­kreten mit der geistigen Welt zu tun haben will.

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Wenn Sie jenen Vortragszyklus, den ich in Kristiania gehalten habe über die Entwickelung von Volksstämmen, in die Hand nehmen, so sehen Sie, daß die Entwickelung von Volksstämmen mit der Hier­archie der Erzengel zusammenhängt. Die aufeinanderfolgenden Epo­chen unterstehen den Urkräften, den Archai, den Geistern der Per­sönlichkeit.

Wenn wir nun die wichtigsten Wesenheiten aus der Reihe der Arch­angeloi nehmen, so haben wir Namen, die uns auch sonst begegnen, die wir auch gebrauchen können wie andere Namen: Raphael, Gabriel, Michael und so weiter.

Diese Wesenheiten können wir mit solchen Namen benennen, denn der Name ist ja gar nicht das Wesentliche. Wir benennen sie, wie wir eben andere Dinge auch mit Namen nennen. Das spielt eine gewisse Rolle in dem, was wir als Tatsachen der übersinnlichen Entwickelung finden. Von dieser übersinnlichen Entwickelung ist aber unsere sinn­liche Entwickelung abhängig.

Wir können tatsächlich ganz gut wissenschaftlich unterscheiden zwischen den einzelnen Wesenheiten aus der Hierarchie der Archan­geloi. Nicht abstrakt durch bloßes Namen-Hinpfahlen, sondern wir können unterscheiden so, daß wir die hauptsächlichsten Kulturimpulse, die sich äußerlich in der sinnlichen Welt auf einem Fleck der Erde zum Beispiel in den ersten christlichen Jahrhunderten ergeben, von einer anderen Wesenheit beherrscht sehen als die, welche die hauptsächlichsten Kulturimpulse bei den leitenden Völkern, sagen wir im 12. und 13.Jahrhundert, beherrschte, und die, welche unsere Kulturentwickelung beherrscht.

Bleiben wir zunächst bei dem, was für unsere Kulturentwickelung in Betracht kommt. Da haben wir deutlich zu unterscheiden zwischen dem Charakter desjenigen Zeitalters, das etwa im 15., 16.Jahrhundert begonnen hat, das seine hauptsächliche Signatur hat von dem Auf­kommen der neuen Naturwissenschaften, das die Naturwissenschaften bis zu jener Größe gebracht hat, die uns im 19. Jahrhundert entgegen­tritt und die nicht genug bewundert werden kann.

Wenn man diese Jahrhunderte der naturwissenschaftlichen Arbeit der gesamten Menschheit ins Auge faßt, dann muß man sagen, sie ist

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geführt worden von gewissen Völkerschaften, die gelenkt wurden aus der übersinnlichen Welt heraus von einem garn: bestimmten Wesen aus der Hierarchie der Archangeloi, und dieses Wesen unterscheidet sich ganz genau von dem Wesen, das jetzt unsere beginnende geistige Kulturepoche von der übersinnlichen Welt aus leitet. Wenn man Namen, die im Abendland gebräuchlich geworden sind, für diese lei­tenden Wesenheiten aus der Hierarchie der Archangeloi geben will, kann man sagen: Seit der Christus-Zeit her waren verschiedene Wesen­heiten leitend für die fortschreitende Kultur. Ohne auf diese Namen pochen zu wollen, will ich eben die Namen einer Reihe von Wesen­heiten aus der Hierarchie der Erzengel aufzählen, wie man Namen von Menschen nennt, die an irgend etwas teilhaben auf dem physischen Plan, einer Reihe von Wesenheiten aus der Hierarchie der Archangeloi, die beherrscht haben die fortschreitende Kultur: Oriphiel, Anael, Za­chariel, Raphael, Samael, Gabriel, Michael.

Gabriel war der leitende Geist in derjenigen Kulturperiode, die eben abgelaufen ist für die geistige Welt mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Denn in der Tat beginnt mit diesem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts - und dies wird immer mehr hervortreten - eine Epoche, in welcher ganz andere Einflüsse und Impulse aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche hineinströmen. Während in der ver­flossenen Epoche die Menschenseelen gebunden waren an das, was die Sinne schauen, der Verstand begreifen kann, werden die Menschen der kommenden Zeit, welche die fortschreitende Entwickelung nicht verschlafen wollen, vorzugsweise zu beachten haben, wie immer mehr übersinnliche Weisheit und Erkenntnisse hereindringen werden aus den übersinnlichen Welten in die irdische sinnliche Entwickelung.

Äußerlich gesprochen könnte man etwa so charakterisieren: In der abgelaufenen Entwickelung hatten die übersinnlichen Wesen genug damit zu tun, die Kräfte, die hereinfließen können aus den übersinn­lichen Welten, möglichst hinzulenken auf den irdisch-physischen Leib. Es hatten die Hierarchien damit zu tun, daß die Kräfte nicht hineinfließen in die Seelen.

Von jetzt an werden die übersinnlichen Kräfte so gelenkt und ge­leitet von der übersinnlichen Welt aus, daß möglichst viel hineinfließen

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kann in die Menschenseele, so daß ein Wissen von Imagination, In­spiration, Intuition die Menschenseele wird ergreifen können. So bar allen inspirierten Wesens, aller Erkenntnisse des Geistigen das ab­gelaufene Zeitalter war, so erfüllt von inspiriertem, von intuitivem Wesen werden die wirklich lebendigen Kulturimpulse der folgenden Zeit sein.

Unmöglich wäre es gewesen, vor fünfzig Jahren dasjenige zu Men­schen zu sprechen, was durch den notwendigen Gang der Weltenentwickelung heute zu Ihnen gesprochen werden kann, weil es damals unmöglich gewesen wäre, unmittelbar aus den geistigen Welten diese Dinge herunter zu bekommen. Das Tor ist erst jetzt geöffnet worden. Und wie die verflossenen Zeiten am günstigsten für die Verstandesentwickelung waren, so wird die nächste Zeit am günstigsten sein für die Entwickelung der Inspiration und Intuition.

Hart aneinander stoßen zwei Zeitalter: Eines, das abgeneigt war aller Inspiration, und eines, in dem zwar mächtige Kräfte mit allen Mitteln ankämpfen werden gegen alle Inspiration, in dem aber die Möglichkeit sein wird, die Inspiration aufzunehmen, sie zum Ton­angebenden zu machen in den Menschenseelen.

Und wenn wir in die Sache weiter hineinschauen, so entdecken wir, daß die übersinnlichen Kräfte, die nicht unmittelbar hineingeflossen sind in die Menschenseelen im abgelaufenen Zeitalter, nicht etwa un­tätig waten. Das, was eine äußere Physiologie nicht konstatieren kann, ist doch Wahrheit: Im Zeitalter des Gabriel ist auch gearbeitet worden von der übersinnlichen Welt aus in die sinnliche hinein. Diese Arbeit ist geleistet worden am physischen Leib des Menschen. Innerhalb des Vorderhirns entstanden in dieser Zeit feine Strukturen, die nach und nach in das Fortpflanzungssystem eingepflanzt sind, wodurch die Menschen zum großen Teil mit solchem Gehirn geboren werden, welches andere, feinere Strukturen hier am Vorderhirn hat, als es in den andern Zeitaltern, im 12. und 13. Jahrhundert noch der Fall war.

Das war die Aufgabe des Zeitalters, in dem die Menschen den Sinn lenkten auf das Physisch-Sinnliche, abgeschlossen waren gegen das Inspirierte, daß in die Leiblichkeit hinein sich die Impulse der übersinnlichen

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Welt ergossen und diese feine Struktur im Gehirn aus­bildeten.

Und immer mehr und mehr wird diese Struktur da sein bei denen, die jetzt sich fähig fühlen werden, zum aktiven Denken und zum Ver­stehen der Geisteswissenschaft fortzuschreiten. Und dann werden in unserer Epoche, in derjenigen Epoche, an deren Anfang wir eigentlich erst stehen, die übersinnlichen Kräfte nicht verbraucht, um Strukturen im Gehirn zu bilden, sondern um unmittelbar in die Seelen einzu­fließen, durch Imagination und Inspiration zu wirken, einzufließen in die menschlichen Seelen. Das ist das Michael-Regiment.

Es unterscheiden sich zwei Wesenheiten der Archangeloi so, daß derjenige, der geleitet hat den Menschen unmittelbar vor unserem Zeitalter, gearbeitet hat an dem Bau des Gehirns, und daß derjenige, der nun arbeitet an dem Menschen, hineinzuströmen hat die mensch­liche Seelenempfänguis für spirituelle Weisheit. So grenzen wir von­einander ab die Wesenheiten, welche der Hierarchie der Archangeloi angehören.

An diesen zwei Beispielen versuchte ich, Ihnen gleichsam konkrete Eigenschaften, Charaktereigenschaften dieser Wesenheiten hinzustel­len. Nicht mit Namen wollen wir uns begnügen; denn, wie wir nichts wissen von einem Menschen, wenn wir nur wissen, daß er Müller heißt, so wissen wir auch nicht viel von Gabriel, wenn wir nur seinen Namen wissen. Aber dann wissen wir etwas von einem Menschen, wenn wir sagen können, er ist ein mitleidsvoller Mensch, er hat das oder das getan. So auch, wenn wir von einer übersinnlichen Wesen­heit sagen können, daß sie die Kräfte einfließen läßt in den physischen Menschenleib, Kräfte, die gewisse Strukturen in die menschliche Fort­pflanzungskraft ausgießen können, und wir sagen von einer anderen Wesenheit, daß sie einen gewissen Anteil hat an dem Anregen für in­tuitive Wahrheit. Nicht so sehr für den Geistesforscher, den Initlierten selbst, sondern für diejenigen, die verstehen wollen die Geistes-forschung, die zu aktivem Denken übergehen wollen, wirkt Michael, wenn diese Kräfte immer mehr in der Menschheit sich ansammeln in den folgenden Jahrhunderten.

Dieser Übergang ist noch in anderer Beziehung ein wichtiger. Durch

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dasjenige, was da geschehen ist, bildet sich inuner mehr eine Mensch­heit heran, die durch ihre Organisation in der Lage ist, in zukünftigen Inkarnationen wirklich zurückzuschauen auf frühere Inkarnationen. Aber die Menschheit muß sich in diese Lage versetzen.

Man kann sich nicht an etwas erinnern, an das man niemals gedacht hat. Wenn man abends gedankenlos seine Manschetten ausgezogen hat und gedankenlos die Knöpfe hinlegt, so kann man sie am andern Morgen nicht finden, weil man nicht daran gedacht hat. Wenn man den Gedanken gefaßt hat, sich das Bild der Umgebung von den Knöpfen, die man abgelegt hat, einzuprägen, wird man am nächsten Morgen schnurstracks zu dem Platze hingehen, wo man sie hingelegt hat.

So wie das für das gewöhnliche Leben gilt, für das Erinnerungs-leben, so sollte es auch begriffen werden für den großen Horizont der verschiedenen Erdenleben. An das innerste Wesen der Seele müssen wir uns zuerst erinnern, an das, was wirklich hinübergeht in das Wesen der Seele. Aber dazu müssen wir das Seelenieben zuerst erfaßt haben. Das können wir nur durch okkulte Schulung. Wenn man sich nicht bemüht hat, den Gedanken des Wesens der Seele zu haben in der früheren Inkarnation, so kann man sich auch nicht daran zurück-erinnern. Organisiert zur Erinnerung werden die Menschen sein, aber sie werden diese Organisation zunächst als Krankheit empfinden, als Nervosität, als einen furchtbaren Zustand. Denn sie werden organi­siert sein, um sich zurückzuerinnern, aber sie haben nichts, woran sie sich erinnern können. Wenn der Mensch Eindrücke hat, die er nicht verwerten, Organe in sich hat, die er nicht gebrauchen kann, dann er­krankt er.

Dem gehen wir entgegen, daß die Menschheit organisiert sein wird zum Erinnern, daß aber nur diejenigen sich erinnern können, die etwas zum Erinnern haben, die also das Menschenseelenwesen in seiner Eigenart als Glied der geistigen Welt durch okkulte Schulung erkannt haben. In jedem Leben, das auf ein solches folgt, in dem man die Seele als Geistwesen erkannt hat, kommt die Rückerinnerung an vorher­gehende Erdenleben.

So stehen wir an einem wichtigen Wendepunkt. Geisteswissenschaft

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verstehen, heißt im Grunde nichts anderes, als ein Gefühl haben für diesen Wendepunkt in unserer Zeit.

Nun sind nicht alle Wesenheiten, die der Hierarchie der Archangeloi angehören, gleich geartet, gleich im Rang. Wenn wir von der Hier­archie der Archangeloi sprechen, kann man sagen, die lösen sich so ab, wie ich gesagt habe. Aber der höchste im Range, gleichsam der Oberste ist derjenige, der in unserem Zeitalter die Herrschaft zu führen beginnt, ist Michael. Er ist einer aus der Reihe der Archangeloi, aber er ist gewissermaßen der Fortgeschrittenste. Nun gibt es eine Ent­wickelung, und die Entwickelung umfaßt alle Wesen. Die Wesen sind in steigender Entwickelung, und wir leben in dem Zeitalter, wo Michael, der Oberste von der Natur der Archangeloi, übergeht in die Natur der Archai. Er wird allmählich übergehen in ein leitendes We­sen, in eine leitende Wesenheit, wird Zeitgeist, leitende Wesenheit für die ganze Menschheit.

Das ist das Bedeutsame, das ist das ungeheuer Wichtige unseres Zeitalters, daß wir begreifen, daß das, was in allen vorhergehenden Epochen noch nicht da war, für die ganze Menschheit nicht da war, nun sein kann, werden muß ein Gut für die ganze Menschheit. Was bisher bei einzelnen Völkern auftrat - spirituelle Vertiefung -, kann nun etwas sein für die gesamte Menschheit.

Und wenn wir so hinweisen auf dasjenige, was hinter der Sinnenwelt geschieht, so können wir auch hinweisen auf das, was sich in der Sinnenwelt abspielt als Abdruck dessen, was eben geschildert worden ist: daß gleichsam eine Erhöhung dieses Erzengels sich abspielt hinter der sinnlichen Welt.

Bisher hat der Mensch eine Persönlichkeit sein können; in Zukunft wird er auch eine Persönlichkeit sein, aber in einer anderen Weise, als er es bis in unser Zeitalter gewesen ist. Der Mensch hat gewisser­maßen immer teilgenommen an den übersinnlichen Welten, hat es wenigstens können mit seinem Seelenleben. Aber die persönliche Note, die persönliche Färbung, die der Mensch dargelebt hat in dieser Sinnenwelt, kam nicht von oben herunter, kam von unten herauf, sie kam von Luzifer. Luzifer hat die Persönlichkeit gemacht. Daher konnte man sagen: Der Mensch kann mit seiner Persönlichkeit nicht

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hinein in die übersinnliche Welt, kann seine Persönlichkeit nicht hin­einbringen in die geistige Welt, er muß seine Persönlichkeit auslöschen, sonst verunreinigt er die geistige Welt.

In Zukunft obliegt dem Menschen, daß er die Persönlichkeit in­spiriert werden läßt von oben, auf daß sie aufnehmen könne, was da ausfließen soll aus der geistigen Welt. Ihre Note bekommt die Persön­lichkeit durch das, was sie an spirituellen Erkenntnissen aufzunehmen vermag, die Persönlichkeit wird etwas ganz anderes werden. Gewisser­maßen durch das, wodurch er abgerissen ist vom Geistigen, was ihm von dem Leibe aufgedrückt wird, war der Mensch früher eine Persön­lichkeit, in Zukunft wird er eine Persönlichkeit sein müssen durch das­jenige, was er aus der spirituellen Welt in sich zu verarbeiten, in sich aufzunehmen vermag.

Durch ihr Blut, durch ihr Temperament waren in der Vergangen­heit Persönlichkeiten bestimmt, und in diese Persönlichkeiten strahlten unpersönliche Elemente aus dem Übersinnlichen hinein. Durch Tem­perament, durch Blut wird man immer weniger und weniger Per­sönlichkeit sein können. Persönlichkeit wird man in Zukunft sein können durch den Charakter, den man durch seine Teilnahme an der übersinnlichen Welt erhält. Das wird bewirken der Impuls des Michael, der eben in die menschliche Seele hineinleitet das Ver­ständnis für das spirituelle Leben. Die Menschen mit ausgesproche­nem Persönlichkeitscharakter werden diesen Persönlichkeitscharakter davon haben in Zukunft, daß sie dieses oder jenes ausdrücken wer­den durch Verständnis der übersinnlichen Welten. Die Alexanders, Cäsars, Napoleons gehören der Vergangenheit an. In sie floß gewiß das übersinnliche Element hinein, doch die hohe persönliche Färbung haben sie durch das, was sie erhalten haben von unten herauf. Die Menschen, die Persönlichkeiten sind durch die Art, wie sie die geistige Welt in die sinnliche hineintragen, die Menschen, die von der Seele aus Persönlichkeit in die Menschheit tragen, das werden die Persön­lichkeiten sein, welche die Alexanders, Cäsars, Napoleons ablösen werden. Die Stärke der Menschentaten in der Zukunft wird sich ergeben aus der Stärke des geistigen Einschlags, der in diese Men­schentaten hineinfließen wird.

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Dieses alles gehört zu dem, was das Bedeutsame des Übergangs von einer Epoche zur anderen ist. Aber was eben den bedeutungsvollsten Übergang charakterisiert, ist der Übergang von der Epoche des Gabriel zu der Epoche des Michael in unserer Übergangsepoche.

Wir können auch mit dem gesunden Menschenverstand uns da­durch ein Verständnis aneignen dessen, was heute gesagt ist, wenn wir nur vorurteilsfrei genug sind, in unsere Zeit hineinzuschauen und zu sehen, wie aneinanderstoßen die zwei Möglichkeiten noch bis ins letzte Drittel des 19.Jahrhunderts.

Die erste Möglichkeit ist, aus der Naturwissenschaft heraus Welt­anschauung zu bauen. Heute ist das veraltet, etwas Antiquiertes, liegt nicht mehr im Charakter des Zeitalters. Die Menschen machen es noch, weil sie eben noch das forttragen, was aus dem Alten kommt. Im Charakter des Zeitalters liegt es, aus den Inspirationen der geistigen Welt und aus deren Verständnis heraus Weltanschauung zu zimmern. Das müssen wir als ein Gefühl, als eine Empfindung in unserer Seele aufnehmen, dann lernen wir wissen, was anthroposophische Welt­anschauung für die einzelnen Seelen bedeutet, lernen empfinden, was Entwickelung für die Menschheit ist. Teilnehmer dürfen wir sein an Bedeutungsvollem.

Und nun erinnere ich Sie an etwas, was ich eingeflochten habe in die Vorträge, die ich das letzte Mal hier gehalten habe, in die Vorträge von der Veränderung der Funktion des Buddha. Hier ist auch der Punkt, wo in der nächsten Betrachtung an die heutige angeknüpft werden soll.

Gewissermaßen mit einer Frage können ja die heutigen Betrach­tungen abschließen, mit der Frage, die sich in jeder Seele ergeben kann, und die uns von Wichtigem, das heute betrachtet wurde, zu noch Wichtigerem führen wird.

Wenn eine Erhöhung des Michael stattgefunden hat, wenn er zum leitenden Geist der abendländischen Kultur geworden ist, wer tritt an seine Stelle? Der Platz muß ausgefüllt werden. Jede Seele muß sich sagen: also muß auch ein Engel eine Erhöhung, ein Aufrücken er­fahren haben, muß eintreten in die Reihe der Archangeloi. Wer ist das?

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Mit dieser Frage will ich abschließen, um hineinzuleiten in noch wichtigere Betrachtungen, die uns übermorgen beschäftigen sollen.

Heute wollte ich vor Ihre Seele stellen den wichtigen Charakter des Übergangs: die Tatsache, daß die Seelen, die sich aufraffen können, Verständnis finden können für inspirierte Wahrheit. Denn so wollen es die hinter der Menschheit stehenden, die Menschheitsevolutjon leitenden Weltenmächte. Und das Abbild für die Sinnenwelt ist dieses:

Während die Persönlichkeit einen anderen Charakter annimmt, wäh­rend im verflossenen Zeitalter der Persönlichkeit die Färbung gegeben haben Temperament und Blut, wird in Zukunft tonangebend werden für die Persönlichkeit des neuen Zeitalters das Element des spirituellen Verständnisses. Das wird das tonangebende Element sein.

Wichtig ist, dies zu verstehen, noch wichtiger ist, dies zu erfüllen. Von diesem Punkt werden wir übermorgen zu einer bedeutsamen Betrachtung, die in jede einzelne unserer Seelen eindringen kann, über­gehen.

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DER MICHAEL-IMPULS UND DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA Stuttgart, 20. Mai 1913 Zweiter Vertrag

Wir haben uns bemüht, das ein wenig zu beleuchten, was aus der Welt-gesetzmäßigkeit heraus der Charakter unseres gegenwärtigen Zeit­alters ist, und wir sollten nicht vorübergehen an einer solchen Charak­teristik unseres Zeitalters. Denn wenn wir reden von den geistigen Kräften, von den geistigen Impulsen eines Zeitalters, so sind das die­jenigen Kräfte, diejenigen Impulse, welche in jeder einzelnen unserer Seelen drinnen wirken. Und wir können nicht mit unseren Seelen zu­rechtkommen, wenn wir uns nicht zu stellen vermögen zu diesen Kräften, zu diesen Impulsen unseres Zeitalters, die nun einmal zugleich die geistigen Kräfte und Impulse unserer eigenen Seele sind.

Es ist durchaus wahr, daß - wie sich auch der einzelne unter Ihnen zurechtlegt, warum er dieses oder jenes in der Geisteswissenschaft glaubt - in den Seelen derjenigen, welche aufrichtig und ehrlich zur Geisteswissenschaft kommen, vielleicht unbewußt das Gefühl, der Trieb lebt, der da kommt von den echten, wahren spirltuellen Im­pulsen unserer Zeit.

Ich habe Ihnen vorgestern zu charakterisieren versucht, daß wir gegenwärtig leben in dem, was man das Michael-Zeitalter nennen kann. Das Verständnis für spirituelle Dinge wird immer mehr und mehr Seelen möglich werden. Während die letzten Jahrhunderte so abliefen, daß vor allen Dingen Verständnis möglich wurde für Dinge des äußeren Naturwissens, für physikalische, chemische, physiolo­gische Gesetze, für alles, was sich auf den äußeren Raum und die Zeit bezieht, während in dem Gabriel-Zeitalter in den Seelen Verständnis erweckt wurde für das, was in den Naturwissenschaften von Triumph zu Triumph zog und die Seele hinneigte zum naturwissenschaftlichen Verständnis der Welt, gehen wir einem Zeitalter entgegen, wo es ebenso möglich sein wird, das Spirituelle zu verstehen.

Noch niemals eigentlich in der Entwickelung der Menschheit waren zwei aufeinanderfolgende Zeitalter so radikal verschieden, wie das

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eben abgelaufene und das, in das wir hineingehen. Und fremder sein als jemals werden die Seelen, die zum Spirituellen neigen, den Seelen, die noch festhalten an dem, was die vergangenen Jahrhunderte brach­ten. Und nicht lange wird es dauern, daß diejenigen, welche auf dem Boden des materialistischen Monismus zu stehen glauben, vollständig unzeitgemäß sein werden gegenüber jenen Seelen, die mit Sehnsucht suchen werden nach einem Verständnis der übersinnlichen Welten. Denn seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hat sich eine geistige Flutwelle aus den höheren Welten in unsere Welt hinein er­öffnet, und deshalb ist es möglich geworden, Verständnis zu erhalten für das, was spirituell die menschliche und Weltenevolution leitet.

Vor nahezu zwei Jahrtausenden geschah ja das Ereignis, das Ihnen allen bekannt ist unter dem Namen des Mysteriums von Golgatha, und oftmals ist auch hier darüber gesprochen und von den verschiedensten Seiten her beleuchtet worden dieses Mysterium von Golgatha als der große Schwerpunkt der Menschheitsentwickelung. Und klar hat es wohl werden können, daß ohne Berührung irgendeines konfessionel­len Standpunktes, sondern rein aus der Geisteswissenschaft heraus, das Verständnis für dieses Ereignis möglich ist, so daß man Verständnis erwarten kann von jeder konfessionellen Strömung der Gegenwart. Auch über die Gründe, warum die einen oder anderen das Christus-Ereignis nicht als den großen Schwerpunkt der Menschheitsevolution annehmen wollen, ist ausführlich gesprochen worden. Aber wir sollen auch so etwas wohl mit der Seele betrachten, wovon ja auch gestern im öffentlichen Vortrag hat gesprochen werden können. Es könnte sein, daß irgend jemand aus einem Vorurteil heraus nichts wissen wollte von dem, was in einem kleinen Lande zu Beginn unseres Zeit­alters sich abgespielt hat, es könnte das ja sein, daß irgend jemand sich nicht kümmern wollte um dasjenige, was wir das Mysterium von Golgatha nennen. Gut, wir wollen sogar annehmen, es wurde einer Seele natürlich sein, auch den geschichtlichen Verlauf so zu denken, daß auszustreichen wäre, was geschehen ist auf Golgatha. Nehmen wir das hypothetisch an. Wenn diese Seele die Menschheitsentwicke­lung betrachtet, so würde sie doch etwas finden, was dieses Zeitalter besonders charakterisiert. Davon wurde gestern gesprochen. Es ist in

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jener Epoche vor dem Mysterium von Golgatha der Übergang von einer Stellung der Menschenseele zur Umwelt in äußerlicher Weise, und der nachherigen Stellung der Seele zu ihrer eigenen Innerlichkeit vorhanden, ganz abgesehen von dem Mysterium von Golgatha. In dem Zeitpunkt, in den das Mysterium von Golgatha hineingestellt ist, fand dieser große Übergang der Menschheit statt von einem Leben in der äußeren Umgebung zu der Verinnerlichung. Und jeder kann das fühlen, auch wenn er absieht von dem Mysterium von Golgatha.

Die Menschheit ist in diesem Zeitpunkt an einem Wendepunkt. Man braucht gar nicht einmal von dem Mysterium von Golgatha zu sprechen, sondern man kann die anderen Ereignisse nehmen, und sie werden zeigen, daß vorher die Menschheit in Veräußerlichung gelebt hat, daß aber nachher in einer Verinnerlichung zu leben beginnen die Menschen, die von dem Impuls der Zeit, von ihrem Genius durch­zogen werden.

Aber wenn so etwas geschieht, geschieht es in der Weise, daß es vor­her vorbereitet wird. Ich will den trivialen Ausspruch nicht gebrau­chen: Die Natur oder die Geschichte macht keinen Sprung. - Der Aus­druck hat nur in gewissen Grenzen Berechtigung, denn vorbereitet

- ist es nicht dennoch sprunghafte Entwickelung? - wird ja auch die Blüte in den grünen Blättern schon. So wurde auch vorbereitet das­jenige, was wie ein Einschnitt in der Menschheitsentwickelung sich ausnimmt zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Und wir können nicht nur finden, wenn wir uns vertiefen in dasjenige, was uns als Lehre, als Anschauung entgegentritt in den letzten Jahrhunderten des althebräischen Altertums, wir können nicht nur einen Geist dort fin­den - allerdings einen eigenen Geist - der Vorbereitung für das Myste­rium von Golgatha, sondern wir können einen solchen Geist der Vor­bereitung auch in anderen Gegenden der Erde finden.

Für den Geist des Hebräertums war es ja so, daß er Einschläge ganz anderer Art zeigt, als früher da waren. Eine ganz andere Art der Welt­betrachtung setzt ein im 6. Jahrhundert vor dem Mysterium von Gol­gatha, eine ganz neue Epoche gegenüber dem, was im hebräischen Geistesleben früher da war. Das enthüllt sich dem genau betrachtenden Blicke sehr klar. Und wenn es hier auch in anderer Art hervortritt, weil

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das althebräische Volk allerdings ja anders geartet war, so ist es doch derselbe Geist, der nur einen anderen Ausdruck bekommt; es ist der Geist, der in der griechischen Philosophie, ja selbst in der griechischen Dichtkunst herrscht in den letzten Jahrhunderten vor dem Mysterium von Golgatha. Überall finden wir das. Man braucht nur ernsthaft Geister wie Plato und Aristoteles, ja sogar Sokrates zu betrachten, um zu sehen, daß dieser Wendepunkt überall vorbereitet wird.

Nun werden solche Ereignisse, die hier auf Erden geschehen, ge­lenkt und geleitet von der übersinnlichen Welt aus. Bevor dieser Ein­schlag geschah in das physische Erdenleben, den wir als das Ereignis von Golgatha bezeichnen, schickt die frühere Leitung der Evolution einen Sendboten aus - dazumal noch einen Sendboten Jahves -, um diesen Einschlag zu leiten. Es war derjenige Geist, der die Kultur­epoche vorbereitet hat bis zum Mysterium von Golgatha hin, derselbe Geist, der der Leitet unserer eben anbrechenden Kulturepoche ist, der Geist, den wir Michael genannt haben. Wie Michael den Charakter gibt unserer Zeit, so gab er den Charakter der ganzen Kultur, die das Mysterium von Golgatha vorbereitete. Nur war die Macht, die aus höheren Welten diesen Michael sandte, in jener Zeit Jahve oder Je­hova.

In jener Zeit war es nicht so wie in unserer Zeit, wo so leicht einem eingewendet wird, wenn man von geistigen Dingen spricht: Du sprichst viel von Volksgeist oder Zeitgeist oder sonst von geistigen Tatsachen, aber du redest so wenig von Gott. - Die Leute merken nicht, warum man nicht von Gott redet: weil kein menschlicher Be­griff wirklich umfassen kann dasjenige, in dem wir leben, weben und sind. Auch hierin existieren Anschauungen, die zum Teil sehr interes­sant sind. Als ich in einer Stadt jüngst einen öffentlichen Vortrag hielt und, wie das so üblich geworden ist, Fragen zum Beantworten auf­gegeben wurden, stellte ein Mensch eine sehr kluge Frage. Er fragte nämlich: Ja, wenn man doch logischerweise einen Gegenstand dadurch erkennt, daß man ihn als Objekt anschaut, dadurch, daß man ihm gegenübertreten kann - wenn wir ein objektives Bild von einem Ge­genstand, den wir in uns haben, wie den Augapfel, nicht haben können aus dem Grunde, weil wir ihn nicht anschauen können -, wie verhält

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es sich dann mit der Behauptung mancher Mystiker, daß man von Gott abrücken müsse, um ihn betrachten zu können?

Gewiß haben manche Mystiker die Behauptung aufgestellt, man müsse von Gott abrücken, um sich ihm gegenüberzustellen. Die Frage war klug, aber sie muß nur so beantwortet werden, daß man sagt: Du magst von Gott abrücken soviel du willst, aber du bleibst doch in dem Gott drinnen, du kannst nicht aus dem Gott heraus. - Manche Logik ist recht logisch, aber sie ist auch nur kurzlogisch.

In den Zeiten, wo die Menschen dem Geistigen noch näher standen, da hatte man noch ein Gefühl der Ehrerbietung für das Göttliche, in dem wir leben und weben und sind, das nicht immer mit Namen be­nannt werden soll, und deshalb bediente sich das althebräische Alter­tum, um den Namen nicht auszusprechen, des Ausdrucks: «Das An­gesicht Jahves». Angesicht ist beim Menschen dasjenige, was er nach außen wendet, wodurch er sich offenbart. Es ist nicht das Ganze des Menschen. Man erkennt ihn nach seiner Innerlichkeit an den Zügen des Antlitzes, aber man vermißt sich doch deshalb nicht, von dem ganzen Menschen zu sprechen, wenn man sein Angesicht meint.

Deshalb nannte man damals Michael « das Angesicht Jahves », nannte viel lieber den Stellvertreter, durch den sich, wie in einem dem Menschen zugewendeten Antlitz, Jahve oder Jehova der Menschheit kundgab. Man nannte auch in vertrauten Kreisen viel lieber den Stell­vertreter, als daß man von Jahve selbst sprach. Michael wurde eben damals als der geistige Regent des Zeitalters betrachtet, als der Send­bote Jahves, als derjenige Hierarch, von dem ausstrahlte in der da­maligen Zeit, was als Impuls kommen sollte, um das Ereignis von Golgatha zu verstehen.

Nun, in der Zwischenzeit haben andere Wesenheiten aus der Reihe der Archangeloi die Führung der geistigen Menschheitsevolution ge­habt. Und das Wesen, das die Führung hatte, als vorbereitet werden sollte das Mysterium von Golgatha, ist dasselbe Wesen, das jetzt wie­derum die Fluten des übersinnlichen Lebens in die sinnliche Welt hin­einsendet. Ein Michael-Zeitalter war dazumal, ein Michael-Zeitalter ist dasjenige, was gerade jetzt beginnt. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied

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zwischen dem damallgen Michael-Zeitalter und dem unseren, das jetzt beginnt.

Es würde heute zu weit führen, zu charakterisieren, welches Ver­ständnis dem Mysterium von Golgatha die Zeit entgegenbringen konnte, die seit jenem Michael-Zeitalter bis zu dem unsrigen verflossen ist. Es hat tief innige Seelen gegeben, die aus einem mehr oder weniger gesteigerten Glaubensbedürfnisse heraus ihr Verhältnis gewonnen haben zu dem Mysterium von Golgatha und seinem Träger, es hat tief religiöse Naturen gegeben seit dem Mysterium von Golgatha bis zu unseren Zeiten. Aber das Mysterium von Golgatha ist ein solches, welches zwar als eine reale Tatsache am Ausgangspunkt der neueren Zeit steht, dem gegenüber aber die menschliche Seele sich nicht ohne weiteres vermessen darf, es voll zu durchschauen, es voll zu verstehen. Immer neue Epochen werden kommen, die die Menschenseelen immer mehr vertiefen werden, und die immer besser und besser verstehen werden, was geschehen ist im Mysterium von Golgatha. Das Ereignis selber steht da wie der Wendepunkt in der menschlichen Entwicke­lung, das Verständnis dieses Ereignisses wird immer mehr wachsen und reifen in der geistigen Erdenentwickelung.

Wir können uns nicht tief genug diese Sache in die Seele schreiben. Fassen wir einmal in einer gewissen metaphysischen Abstraktion ins Auge, was eigentlich dazumal geschehen ist. Wir haben es von ver­schiedenen Standpunkten charakterisiert. Wir wollen einmal einen mehr abstrakten Standpunkt wählen, der aber, wenn wir ihn wirken lassen auf die Seele, eine tiefe Empfindung auszulösen vermag in un­serer Seele.

Wenn die gewöhnliche Weltbetrachtung oder auch die gewöhnliche Wissenschaft die Dinge um uns studiert - ich habe auf diese Sache schon gestern im öffentlichen Vortrage aufmerksam gemacht, aber wir wollen das noch einmal ins Auge fassen -, wenn die Dinge um uns herum studiert werden, dann lernt der Mensch durch das gewöhnliche Denken und die gewöhnliche Wissenschaft die Gesetze des Daseins im Mineral-, Pflanzen-, Tier- und menschlichen Reich erkennen. Diese Gesetze, sie gipfeln alle in einem Ideale: das Leben zu verstehen. Aber das Leben selber wird hier auf Erden nicht verstanden. Erkenntnis

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des Lebens kann nur der Okkultismus geben. Die äußere Wissenschaft kann niemals das Leben durchschauen. Und es wäre die ärgste Phan­tastik zu glauben, daß man jemals, so wie man physikalische oder che­mische Gesetze durchschauen kann, auch die Gesetze des Lebens durchschauen könnte. Ein Ideal bleibt es, aber es kann nicht erreicht werden. Für den physischen Plan ist es eine Unmöglichkeit, Erkennt­nis des Lebens zu geben. Diese Erkenntnis des Lebens muß der über­sinnlichen Erkenntnis aufgespart bleiben.

So unmöglich wie die sinnliche Erkenntnis des Lebens, so unmög­lich ist die übersinnliche Erkenntnis des Todes. Es gibt Zustände der grauenvollen Vereinsamung des Bewußtseins in der geistigen Welt, es gibt ein zeitweiliges Untertauchen wie in einen Schlaf, aber es gibt keinen Tod in den höheren Welten. Der Tod ist unmöglich in den höheren Welten.

Alle die Wesen, die wir als die Wesen der höheren Hierarchien kennengelernt haben, sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Tod nicht kennen, daß sie durch den Tod nicht durchgehen. Geradeso wie in der Bibel richtig gesagt ist, daß die Engel ihr Antlitz verhüllten vor dem Geheimnis der Geburt, der Menschwerdung, geradeso müssen sie und alle übrigen höheren Wesen ihr Antlitz verhüllen vor dem Tode. Denn der Tod ist ein Ereignis, das nur für die sinnliche Welt möglich ist, nicht aber für die übersinnliche.

Unter den gesamten Wesen der höheren Welten gab es nur eines, das durch den Tod gehen mußte, wir können auch sagen wollte> das ist der Christus. Dazu mußte er auf die Erde herabsteigen.

Damit ein Wesen der höheren Welten das hat bewirken können, was nötig war für die Erdenentwickelung, mußte der Christus herunter-steigen aus einer Welt, in der es keinen Tod gibt, in die Welt, in der es einen Tod gibt.

Solche Vorstellungen, wenn sie auch zunächst abstrakt sind, müssen wir in ein Gefühl, in eine Empfindung verwandeln. Das volle Ver­ständnis dessen, was ich jetzt abstrakt charakterisiert habe, wird ein Gegenstand der Evolution der Menschheit werden. Mit einer ge­wissen Ehrerbietung, Demut und Zartheit zugleich, nähern wir uns heute dem Geheimnis des Mysteriums von Golgatha.

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Was war denn eigentlich geschehen? Es ist oft charakterisiert wor­den. Der Christus stieg herab aus den übersinnlichen Welten in die Welt, in der er seitdem lebt, zwar als eine geheime Kraft, die sich aber offenbaren wird von unserm Jahrhundert an. Er stieg herab aus der Welt, in der es keinen Tod gibt, in die Welt des Todes. Und er - diese Kraft - hat sich vereinigt mit der Erde. Er ist aus einer kosmischen Kraft zu einer Kraft der Erde geworden. Er ist durch den Tod ge­gangen, um innerhalb des Erdendaseins aufzuleben, um innerhalb der Erdenwelt zu sein. Und die Menschheit hat sich bemüht in diesen oder jenen Seelen, die sich mit diesem Impuls erfüllten, ihn zu verstehen durch die Jahrhunderte. Aber je weiter die Entwickelung heranrückte an das abgelaufene Gabriel-Zeitalter, ist es geschehen, daß das Ver­ständnis immer mehr zurückging. Und heute ist es gerade bei den­jenigen, die Verständnis haben sollten, recht schlecht bestellt mit die­sem Verständnis, und der Materialismus macht sich nicht nur geltend in der heutigen materialistischen Wissenschaft, sondern macht sich im Verfolg auch geltend in der Theologie. Abgenommen hat das wirk­liche Verständnis für den Christus-Impuls. Materialismus hat die Seelen ergriffen, er hat sich tief eingenistet in die Seelen. Der Materia­lismus ist in vieler Beziehung der Grundimpuls der letzten, der ab­gelaufenen Epoche geworden. Zahlreiche Seelen sind gestorben, die durch die Pforte des Todes gegangen sind mit materialistischer Ge­sinnung. In einem solchen Maße mit materialistischer Gesinnung durch die Pforte des Todes zu gehen, wie in der abgelaufenen Epoche Seelen hindurchgegangen sind, das konnte in früheren Zeitaltern gar nicht stattfinden.

Dann lebten diese Seelen in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt in der spirituellen Welt so, daß sie nichts wußten von der Welt, in der sie lebten. Da trat ihnen ein Wesen entgegen. Das erblickten sie in dieser Welt. Sie mußten es erblicken, weil dieses Wesen sich vereinigt hatte mit dem Erdendasein, wenn es auch unsichtbar waltet vorläufig im sinnlichen Erdendasein. Und den Anstrengungen dieser durch die Pforte des Todes gegangenen Seelen ist es gelungen, den Christus, wir können nicht anders sagen als: zu vertreiben aus der spirituellen Welt. Und der Christus mußte erleben eine Erneuerung

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des Mysteriums von Golgatha, wenn auch nicht in derselben Größe wie das vorhergehende. Damals ging er durch den Tod, jetzt war es ein Hinausgestoßenwerden aus seinem Sein in der spirituellen Welt. Und dadurch erfüllte sich an ihm das ewige Gesetz der spirituellen Welt. Was in der höheren, spirituellen Welt verschwindet, das ersteht aufs neue in der niederen Welt.

Wenn es im 20. Jahrhundert möglich ist, daß die Seelen sich heran-entwickeln zum Verständnis des Mysteriums von Golgatha, so rührt es von diesem Ereignis her, daß der Christus durch eine Verschwö­rung der materialistischen Seelen herausgetrieben ist aus den spirituel­len Welten, versetzt worden ist in die sinnliche Welt, in die Menschen-welt, so daß auch in dieser sinnlichen Welt ein neues Verständnis beginnen kann für den Christus. Daher ist auch der Christus in noch innigerer Weise vereinigt mit allem, was die Schicksale der Menschen auf Erden sind. Und wie man einstmals hinaufsehen konnte zu dem Jahve oder Jehova und wissen konnte, daß er dasjenige Wesen war, das den Michael vorausgesendet hat, um vorzubereiten, was da her-überführen sollte aus dem Jahve-Zeitalter zum Christus-Zeitalter, während es früher Jahve war, der den Michael sandte, ist es jetzt der Christus, der uns den Michael sendet.

Das ist das Neue, das Große, was wir für uns in ein Gefühl ver­wandeln sollen. Wie man früher sprechen konnte von Jahve- Michael, dem Leiter des Zeitalters, können wir jetzt sprechen von dem Christus­Michael. Michael hat eine Erhebung in eine höhere Stufe, vom Volksgeist zum Zeitgeist durchgemacht dadurch, daß er vom Send­boten Jahves zum Sendboten des Christus geworden ist.

Und so reden wir von einem richtigen Verständnis des Christus-Impulses, wenn wir von einem richtigen Verständnis des Michael­Impulses in unserer Zeit sprechen.

Abstraktes Verständnis geht auf Namen, immer wieder auf Namen, und glaubt etwas zu haben, wenn es so vorgeht, daß es frägt: Was ist Michael für ein Wesen? - und wissen will: er ist aus dieser oder jener Hierarchie hervorgegangen, er ist ein Erzengelwesen, Erzengelwesen haben diese oder jene Eigenschaften. Dann definiert man das und glaubt nun zu wissen, was ein solches Wesen ist. Es ist nicht damit

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getan, daß man von Michael spricht, weil man, gerade wenn man die Menschheitsevolution verstehen will, den Michael in seiner Evolution verstehen muß, daß er dasselbe Wesen ist, das den Ton angegeben hat zur Vorbereitung des Mysterinms von Golgatha, und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt für das Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Dazumal aber war er ein Volksgeist, und jetzt ist er ein Zeitgeist. Dazumal war er der Sendbote des Jahve, jetzt ist er der Sendbote des Christus. Und wir sprechen so recht von dem Christus, wenn wir sprechen von Michael und seiner Sendung und wissen, daß das, was dazumal Michael war, der Träger der Jahve-Mission, jetzt der Träger der Christus-Mission ist.

Wir haben Michael verfolgen können, einen Geist, der sozusagen aufgestiegen ist, der, um der Menschheit einen neuen Impuls zu ver­mitteln, aufgestiegen ist oder aufsteigt aus dem Range der Archangeloi zum Range der Archai.

Der Platz wird ausgefüllt durch eine andere Wesenheit, die nach-kommt Ich habe hier verschiedene Male gesprochen von der Evolu­tion, die Buddha durchgemacht hat. Jene knabenhaften Einwendungen, die uns jetzt gemacht werden, machen sich in ihrer Dreistigkeit auch heran an unsere Auffassung des Christus-Impulses in der Welt, als ob wir mit unserer Darlegung des Christus-Impulses jemals einseitig ge­wesen wären. Wir lenken die Blicke auf die Gesamtevolution, und wir charakterisieren dasjenige, was der Evolution unterliegt, aus den ver­schiedenen Impulsen heraus und geben jedem sein Recht. Wie oft ist es betont worden, daß für uns Wahrheit ist, daß der Bodhisattva, der als der Gautama Buddha geboren ist, eben ganz Buddha geworden ist. Wir haben seine Evolution verfolgt bis zu dem Zeitpunkt, wo er seine Mission auf dem Mars bekommen hat. Davon ist hier schon gesprochen worden.

Solange der Mensch auf Erden weilt, wie hoch er auch stehen mag, kann man immer bei jedem Menschen von jener Individualität sprechen, die ihn leitet von Inkarnation zu Inkarnation. Die indivi­duelle Führung der Menschen unterliegt den Angeloi, den Engel-wesen. Wenn ein Mensch vom Bodhisattva zum Buddha wird, dann wird sozusagen sein Engel frei. Solche Engelwesen sind es dann, die

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nach Erfullung ihrer Mission aufsteigen in die Reiche der Erz­engelwesen.

So ergreifen wir an einem Punkte wirklich das Aufsteigen des Erz­engels zum Wesen der Archai und das Aufsteigen eines Engelwesens zum Erzengelwesen, wenn wir wirklich verstehen, tiefer und tiefer hineinzuschauen in dasjenige, was hinter unserer sinnlichen Evolution als die übersinnliche Evolution steht.

Nun, dasjenige, was ich also zu Ihnen gesprochen habe über den spirituellen Hintergrund der Welt, in der wir drinnenstehen, und in die wir uns als Anthroposophen hineinstellen wollen, ich habe es nicht deshalb gesprochen, damit die Seelen bloß theoretisieren über diese Dinge, sondern damit die Seelen das, was in Worten und Be­griffen ausgedrückt ist, in Gefühle und Empfindungen verwandeln. Ja, Anthroposoph sein in unserer Gegenwart heißt wissen, wie es beschaffen ist in der übersinnlichen Welt, die zugrunde liegt der sinn­lichen Welt der Menschheitsevolution, sich zu fühlen in der geistigen Welt, wie sich der physische Mensch in der Atmosphäre physisch fühlt. Sich so zu fühlen in der geistigen Welt! Aber man fühlt sich nicht in der geistigen Welt, wenn man bloß betont: Geist und Geist und Geist ist in uns! So wie man die Erdenatmosphäre nach Wolken-bildungen, Feuchtigkeits- und anderen Erscheinungen konkret zu be­urteilen hat, so müssen wir auch die geistige Welt, in die wir jede Nacht mit dem Einschlafen untertauchen, im Konkreten erfühlen; empfinden, erkennen, daß da lebt in dieser geistigen Welt dasjenige, was in der Gegenwart geschieht durch die Sendung, die an Michael übertragen ist von dem Christus aus, die ergangen ist an denselben Geist aus der Hierarchie der Archangeloi, dessen sich bedient hat zur Vorbereitung des Mysteriums von Golgatha einstmals der Impuls von Jahve.

Das ist es, was hinter unserer physisch-sinnlichen Evolution sich abspielt. Und drinnen sich zu fühlen in solchem Geschehen in der geistigen Welt, wie wir uns physisch fühlen in der Atmosphäre, die wir ein- und ausatmen, das heißt in der Gegenwart gegenüber der geistigen Welt im konkreten Sinne das richtige Bewußtsein haben.

Versuchen Sie es, in eine Gesamtempfindung Ihrer Seele zu verwandeln

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solche Ergebnisse des Okkultismus, wie ich sie jetzt ver­suchte an Ihre Seelen zu legen. Versuchen Sie, einen empfindenden Begriff davon zu gewinnen, zu beachten, was es heißt, gerade heute in diesem Zeitalter wissend drinnen zu leben in dem, was geistig um uns geschieht, in dem, wohin unsere Seele geht jeden Abend, wenn wir einschlafen, und woher wir kommen jeden Morgen, wenn wir aufwachen. Versuchen Sie, die Seele hinaufzulenken in dieses Kon­krete, was oftmals ganz abstrakt genannt wird die göttliche Vor-sehung. Das ist im Charakter unserer Zeit gelegen. Versuchen Sie das, was der Mensch im verflossenen Zeitalter unbestimmt nur fühlen durfte als die durch die Welt flutende Vorsehung, das in der Gegen­wart als einzelne Wesen zu erkennen, zu empfinden. Lassen Sie es als ein Bild vor Ihrer Seele stehen, daß das verflossene Zeitalter die Naturwissenschaft finden mußte. Damals waren die Naturgesetze gut, wenn sie richtig gebraucht wurden in der Menschenseele, um die äußeren Weltanschauungen aufzubauen. Aber es gibt nichts absolut Gutes oder Böses in dieser äußeren Welt der Maja. Schlecht und böse würden die Naturgesetze in unserem Zeitalter, wenn sie weiter ge­braucht würden zum Aufbau einer Weltanschauung in der Zeit, wo das spirituelle Leben hereinfließt in die sinnliche Welt. Nicht das­jenige, was die verflossenen Zeitalter getan haben, wird getroffen mit diesen Worten, sondern das, was bleiben will, wie es in früheren Zeit-altern war, was sich nicht in den Dienst stellen will der neuen Offen­barung.

Michael hat nicht jenen Drachen bekämpft in dem Zeitalter, das abgelaufen ist, denn da war der Drache, der jetzt gemeint ist, noch nicht ein Drache. Ein Drache wird er werden, wenn diejenigen Be­griffe und Ideen, die nur naturwissenschaftliche sind, zur Welt­anschauung des nächsten Zeitalters aufgebaut werden sollten. Und das, was sich da auf bäumen will, das ist wiederum, richtig aufgefaßt, in dem Bilde als der Drache, der besiegt werden muß von Michael, dessen Zeitalter in unseren Jahren beginnt.

Das ist eine wichtige Imagination: Michael besiegend den Drachen. Spirituelles, flutendes Leben hinein zu empfangen in die Sinnesweit:

Michael-Dienst ist es von jetzt ab. Ihm dienen wir in der Besiegung

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des Drachens, der sich auswachsen will in Ideen, die während des verflossenen Zeitalters den Materialismus gebracht haben, die sich hinüberwachsen wollen in die Zukunft. Das zu überwinden, heißt im Dienst des Michael stehen. Das ist der Sieg des Michael über den Drachen.

Es ist wieder das alte Bild, das für frühere Zeiten eine andere Be­deutung hatte, das aber jetzt die rechte Bedeutung für unser Zeitalter bekommen soll. Erstehen kann uns unsere Aufgabe in dem Bilde «Michael besiegt den Drachen», wenn wir fühlen, woran wir teil­nehmen sollen als Menschen eines neuen Zeitalters.

Nun wohl, versuchen wir dieses Bild zu unserer Imagination zu machen, versuchen wir unsere Zeit zu verstehen dadurch, daß wir uns wissen konkret in der Geistesführung drinnen, die die Geistesführung unseres Zeitalters ist, die die Geistesführung jeder Menschenseele sein kann, jeder solchen Menschenseele, die da aufrichtig und ehrlich eine Entwickelung sucht, einen Aufstieg zu immer höheren Stufen des geistigen Lebens.

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DER WEG DES CHRISTUS DURCH DIE JAHRHUNDERTE Kopenhagen, 14. Oktober 1913

Den Vortrag des heutigen Abends möchte ich in einer aphoristischen Weise halten. Ich möchte etwas vorbringen, was ruir gerade in der Gegenwart vor unseren Freunden zu besprechen wichtig scheint.

Wir haben ja oftmals die geisteswissenschaftlichen Betrachtungen an den Christus-Impuls angeknüpft, an denjenigen Impuls, der durch die Menschheitsevolution geht, seitdem das Mysterium von Golgatha stattgefunden hat. Und an den Christus4mpuls und seine Bedeutung für die Menschheitsentwickelung möchte ich heute abend die Be­trachtung für Sie anknüpfen. Dabei wollen wir sogleich das eine betonen, daß eine Schwierigkeit ja vorliegen muß, auch bis in die Gegenwart herein, diesen Christus-Impuls in der richtigen Weise zu betrachten, und zwar aus dem Grunde, weil man den Christus-Impuls eigentlich nur dann einigermaßen betrachten kann, wenn man von den verschiedenen, bis in unsere Zeit herein sich entwickelnden christ­lichen Konfessionen, von den Lehren über den Christus absieht, auf diese möglichst wenig Rücksicht nimmt. Vielleicht werden Sie sagen:

Ja, wie kann man denn überhaupt den Christus-Impuls betrachten, wenn man die Lehren über den Christus ganz außer acht lassen will? Lernen wir denn die Wirkungen des Christus4mpulses durch irgend etwas anderes kennen als durch die Bekenntnisse der Jahrhunderte? -Da muß man antworten: Ein jeder wird zugeben, daß es mißlich sein würde, wenn man warten müßte auf die Wirkungen der Sonne auf die einzelnen Menschen auf Erden, bis eine allgemein anerkannte Lehre über die Sonne sich verbreitet hat. Die Sonne wirkt, gleich­gültig welche Hypothesen die Menschen auf Erden über die Sonne aufstellen. Auch betont die Wissenschaft immer, daß sie noch nicht wisse, was Elektrizität eigentlich sei; trotzdem wenden die Menschen die Elektrizität an. So kann man ganz gewiß von einer Wirkung des Christus-Impulses sprechen, ohne zu glauben, daß irgend etwas in der Betrachtung des Christus-Impulses davon abhänge, was man in den

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verschiedenen Jahrhunderten über den Christus gedacht hat. Das hängt wieder mit etwas anderem zusammen.

Das Mysterium von Golgatha, das Eintreten des Christus-Impulses in unsere Erdensphäre, hat sich ja zu einer bestimmten Zeit vollzogen und der Zeitpunkt ist wenigstens annähernd genau bestimmt, denn wir rechnen im Abendiande unsere Zeitrechnung danach. Durch das Mysterium von Golgatha ist, wie wir wissen, der Christus-Impuls in die Menschheitsevolution der Erde eingezogen. Was war das für eine Zeit? Nun, wir wissen ja, daß verschiedene Zeitalter in der Mensch­heitsentwickelung abgelaufen sind. Wenn wir nur die nachatlantische Zeit betrachten, so wissen wir, daß davon abgelaufen sind der ur­indische, der urpersische, der ägyptisch-chaldäische, der griechisch­lateinische Zeitraum - und der unsere, in dem wir selber noch drinnen­stehen. Diese verschiedenen Zeitalter sind unter anderem dadurch charakterisiert, daß sie auch eine verschiedene Art des menschlichen Verständnisses, der menschlichen Weisheit gehabt haben, und in ge­wisser Weise war ein hohes, intensives menschliches Verständnis und eine hohe menschliche Einsicht in gewisse Weltengeheimnisse in dem urindischen Zeitraum vorhanden. Da hat in der Menschennatur vor­zugsweise das gewirkt, was wir den Ätherleib des Menschen nennen. Dann trat im Laufe der Evolution der Ätherleib mehr zurück und im urpersischen Zeitraum wirkte vorzugsweise der Empfindungsleib, der Astralleib; in dem ägyptisch-chaldäischen Zeitraum die Emp­findungsseele, in dem griechisch-lateinischen die Verstandesseele oder Gemütsseele, in unserer Zeit die Bewußtseinsseele, und in der Zu­kunft wird kommen das Zeitalter des Geistselbstes. Dadurch, daß in den verschiedenen Zeitepochen so verschiedene Glieder der Menschen-natur im Menschen walten, bringt auch der Mensch ein immer ver­schiedenes Verständnis der Welt entgegen. Anders war das Verhältnis in der griechisch-lateinischen, anders in der ägyptisch-chaldäischen, anders in der persischen Zeit und so weiter.

Nun kann man eine eigentümliche Tatsache erkennen, und diese Tatsache, so frappierend sie ist, ist ungeheuer lichtverbreitend. Wir können den griechisch-lateinischen Zeitraum, den Zeitraum der Ver­standes- oder Gemütsseele, von etwa dem 8. vorchristlichen Jahrhundert,

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ungefähr von der Zeit der Gründung Roms ab bis in das 14., 15.Jahrhundert herein rechnen. Da entwickelt sich die Ver­standes- oder Gemütsseele, da kommen insbesondere diejenigen Kräfte in der Menschennatur zur Geltung, die an diese am meisten seelischen Kräfte der Menschennatur gebunden sind. Wir haben also etwas über zwei Jahrtausende, die dieses Gebiet der menschlichen Seele besonders entwickeln. Seit dem 15.Jahrhundert stehen wir in der Entwickelung der Bewußtseinsseele darinnen. Wir sind noch nicht sehr weit darinnen, denn erst wenn unser Jahrhundert und noch zwei weitere Jahrhunderte abgelaufen sein werden, wird ein Drittel ver­laufen sein von der Zeit, die dazu bestimmt ist, die Bewußtseinsseele zu entwickeln. Dann werden andere Zeitalter folgen, die ganz andere Fähigkeiten in der Seele erwecken werden. Sieben solche Zeitalter gibt es für die nachatlantische Zeit.

Fragen wir uns nun: Welche von diesen Zeitepochen war am wenig­sten geeignet, die Wesenheit des Christus zu begreifen? Verschieden­artig war ja das Verständnis der Menschennatur in diesen verschiede­nen Zeitaltern. Welches war nun am wenigsten geeignet, sich ordent­liche Begriffe von der Christus-Natur zu verschaffen? - Das war das Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele vom 8. vorchristlichen bis ins 15. nachchristliche Jahrhundert. Und gerade in dieses Zeitalter hinein fiel das Mysterium von Golgatha! So merkwürdig vollzog sich diese Tatsache der Menschheitsevolution.

Wäre - hypothetisch einmal angenommen - der Christus wirklich auf Erden erschienen, zum Beispiel unter den heiligen Rishis des alten Indien, es wäre ein weitgehendes Verständnis für die Natur der Christus -Wesenheit dagewesen, ebenso noch im alten Persien, wo von dem Sonnengeiste gelehrt wurde. Da hätte man, wenn der Christus damals in einen Menschenleib herabgestiegen wäre, gesehen: dieser Geist, der in einem Menschenieibe auf der Erde geht, ist der Sonnen-geist, der auf die Erde herabgestiegen ist. Auch noch in der Zeit der ägyptischen Tempelweisheit hätte etwas Ähnliches geschehen können. Diejenige Zeit aber, in der die Menschheit am meisten von einem Ver­ständnis der Christus-Natur entfernt war, sie sah den Christus unter sich erscheinen.

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Es ist eigentlich nicht leicht, zu dieser eigentümlichen Tatsache etwas hinzuzufügen, das sie illustrieren soll, denn man kann aus dieser Tatsache den wichtigen Schluß ziehen, daß ja dann selbstverständlich über die Natur und die Wesenheit des Christus kaum etwas zu finden ist in den Lehren, die man über den Christus bildete in jener Zeit, und man wird verstehen, daß erst kommende Jahrhunderte mehr Ver­ständnis haben werden für dasjenige, was der Christus ist.

Es könnten nun die Menschen unserer Zeit, die Menschen seit dem 15. Jahrhundert, anfangen, stolz zu sein auf unsere Geisteskraft, und glauben, daß jetzt vielleicht die besseren Zeiten des Christus -Ver­ständnisses gekommen seien. Solche Zeiten sind ja mit unserem fünften nachatiantischen Zeitraum in einer gewissen Weise gekommen und in einer gewissen Weise doch nicht gekommen.

Wie steht es nun mit den Geisteskräften der Menschen der Gegen­wart, das heißt seit dem 15.Jahrhundert? Im allgemeinen sind diese Geisteskräfte keineswegs höhere geworden, als sie in den voran­gegangenen Zeiträumen waren. In gewissem Sinne hat der Mensch sich mit seinem Seelischen noch mehr in die Materie hineinversenkt, und das mußte er auch tun, um zu der Bewußtseinsseele zu gelangen. So sehen wir, wie die Geisteswissenschaft, die noch vor dem 15., 16. Jahrhundert in der Erinnerung bewahrt geblieben war, verschwand und wie der Materialismus immer mehr zunahm. Die Geisteswissen­schaft, die wir in einer gewissen Weise blühend finden bei einzelnen Geistern des Mittelalters, die gleichsam wie aus dem Elementarischen heraus durch einzelne Mystiker noch eine gewisse Höhe erreichte, sehen wir zurückgehen. Dagegen sehen wir vom 11., 12.Jahrhundert an etwas anderes sich vorbereiten. Ein Symptom dafür ist, daß man beginnt, das Dasein Gottes zu beweisen. Nun müßte man wirklich sehr sonderbare Auffassungen haben über die Welt, wenn man nicht bald klar einsehen würde, was das bedeutet. Was beweist man denn? Für gewöhnlich doch dasjenige, was man nicht weiß, was man nicht kennt! Daß einer gestohlen hat, versucht man zu beweisen, wenn man ihn nicht gesehen hat bei dem Diebstahl. Man hatte das innere Er­lebnis Gottes verloren, man wußte nicht mehr, auf welchem Seelen-wege man Gott zu suchen habe, da begann man Gott zu beweisen.

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Das ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß man die Erkenntnis von dem Gotte anfing zu verlieren. Das fünfte Zeitalter muß das materialistische Zeitalter sein, denn nur dadurch, daß der Mensch seit der Zeit gezwungen ist, sich die Natur so anzuschauen, wie sie sich den Sinnen und dem Verstande darbietet, um durch die Sinne über­wunden zu werden, kann das Ich in all seiner Kraft sich zum Bewußt­sein kommen.

Wenn wir uns verständigen wollen über dasjenige, was ich eigentlich meine, dann wollen wir noch einmal zurückweisen auf den urpersi­schen Zeitraum. In dem urindischen Zeitraum würde es sich noch deutlicher zeigen, auch in dem ägyptischen Zeitraum war es noch in einer gewissen Weise da. Sehr sonderbar wäre es einem Menschen der persischen Kultur erschienen, die Planetenbewegungen zu be­trachten und daraus ein Weltsystem abzuleiten, wie es Kopernikus tat. Und nun muß ich etwas sehr Paradoxes aussprechen. Ein Mensch der alten persischen Kultur hätte wahrscheinlich große Augen gemacht, wenn man ihn in der heutigen Art die Astronomie hätte lehren wollen. Er hätte gesagt: Sollte ich denn so töricht sein, daß, wenn ich gehen will, jemand mir zeigen muß, wie ich gehe? Wenn die Sonne ihren Weg durch den Weltenraum geht, geht dort meine Seele. Das muß ich doch bemerken. - Er wußte das, so wie ein Mensch heute weiß, welchen Weg er geht, wenn sein Körper geht. Aus diesem alten Erkennen heraus haben die Urperser eine Spirale aufgezeichnet, die wirklich der Sonnenbahn durch den Himmelsraum entspricht. Diese Sonnenbahn ist durch ein inneres Wahrnehmen gefunden. Die Menschenseele fühlte sich in Verbindung mit der Erdenseele und zeichnete durch den Caduceus-Merkurstab den Weg der Erde auf. Daß der Mensch aus seiner spirituellen Umgebung so geworfen wurde, daß er ausspintisieren und berechnen mußte den Weg der Erde als den Weg seines Planeten, das entstand erst später.

Wäre aber andererseits der Mensch so geblieben in bezug auf die äußere Welt, so hätte er niemals zum vollen Selbstbewußtsein kom­men können. Er wäre durch die griechisch-lateinische Kulturperiode gegangen, es würden Verstand und Gemüt auf sich selbst angewiesen sein, gleichsam in sich selbst wühlend, es wäre ein Zustand eingetreten,

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wo die Seele nicht mehr unmittelbar weiß, wie sie zur Welt steht, sondern nur in sich selber Fortschritte macht. Auch darüber mußte die Menschenseele hinauskommen und in das Zeitalter der Bewußtseinsseele eintreten. Da soll der Mensch lernen, in seinem Ich, und nur in seinem Ich zu leben. Er soll alles Äußere abgesondert von seinem Ich darstellen und es soll alles nur durch die Logik erkannt werden. So wird der Mensch aus dem geistigen Inhalt der Welt herausgeworfen.

In dem griechisch-lateinischen Zeitalter hatte die Seele in sich noch das unmittelbare tätige Verstandesprinzip, und das erlebte zwar die Vorgänge nicht mehr unmittelbar in der Außenwelt, hatte aber den Gott in sich. Im neuen Zeitalter verlor der Mensch den Gott auch in sich selbst. Aristoteles würde gar nicht daran gedacht haben, den Gott zu beweisen, denn die Verstandes- oder Gemütsseele erlebte noch den Gott in sich. Den Christus konnte sie nicht beweisen, aber den Gott hatte sie noch in sich. Dann ging vom 15., 16.Jahrhundert ab auch das verloren. Wenn auch dieses vorbei ist, wird der Mensch unmittelbar zu einer Gottesidee durch eigene Kraft kommen können.

So haben wir also vom 15.Jahrhundert ab durch vierhundert Jahre den auf sich selbst gestellten Menschenverstand, der unmöglich in die Gottesidee eindringen kann. Da ist etwas sehr Eigentümliches passiert, was uns sehr übelgenommen worden ist, daß wir es bemerkt haben. Da lebte in der Morgenröte dieses Zeitraumes, im 18. Jahr­hundert, der Philosoph Immanuel Kant. Kant passierte nichts Geringe­res, als daß er die Eigenart der menschlichen Seele seit dem 15. Jahr-hundert verwechselte mit der Natur der menschlichen Seele über­haupt. Und daher kam er zu der sonderbaren Schlußfolgerung, daß der Mensch unmöglich aus sich heraus zu einer Gotteserkenntnis kommen könne, - während er doch nur hätte sagen dürfen, daß dieses erst seit dem Anfange des 15.Jahrhunderts unmöglich ist. Aber da Luzifer ihn besonders am Kragen hatte und ihn zu einem hochmütigen Menschen machte, glaubte er, daß das für das ganze Menschen­geschlecht überhaupt so sei.

Nun könnte man sagen, dann müßten die Aussichten für das Er­kennen der Christus -Wesenheit noch schlimmer sein als in den vorangegangenen

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Jahrhunderten. Das ist aber doch nicht der Fall. Denn die Menschheit hat noch andere Erkenntnisfähigkeiten als damals in der vierten nachatlantischen Kulturperiode und als diejenigen, die jetzt einzig und allein dazu gebraucht werden, um das Ich voll zu ver­stehen. Diese anderen Erkenntniskräfte liegen mehr auf dem Unter-grunde der menschlichen Seele, sie müssen erst heraufgeholt werden. Aber das tut det heutige Mensch erst, wenn er dazu gezwungen wird. Solange noch die menschliche Natur an der Oberfläche die Möglich­keit hatte, zu der Erkenntnis des Gottes zu kommen, bemühte der Mensch sich nicht weiter, zu seinen tieferen Kräften durchzudringen. Nun aber, in unserem Zeitalter, da der Mensch nicht an den Gott heran kann, wird er gezwungen durch die Reaktion, tiefer in sich selber zu graben und andere Kräfte aus sich herauszuheben, als die­jenigen sind, welche an der Oberfläche der menschlichen Natur liegen. Damit hängt es zusammen, daß wir einer Zeit entgegengehen, in der eine auf tiefere Kräfte der Menschennatur gebaute Erkenntnis der Christus -Wesenheit beginnt Platz zu greifen.

Ich durfte vor einigen Tagen in Kristiania von einem Fünften Evangelium sprechen. Da handelt es sich um Mitteilungen über die Christus -Wesenheit, die nicht in den anderen Evangelien vorhanden sind. Durch das Fünfte Evangelium lernt man noch anderes von der Christus -Wesenheit erkennen als durch das, was in den vier anderen Evangelien steht. Dieses führt uns noch mehr in die Natur der Christus -Wesenheit hinein. Indem man solche gewissermaßen neuen Dinge über die Natur der Christus -Wesenheit spricht, kann im Grunde von einem Begehen einer Unbescheidenheit keine Rede sein, denn solche Dinge teilt man nur mit, wenn die Zeit es verlangt. Aber auch das, was zum Beispiel hier in Kopenhagen über die Christus­Wesenheit gesagt worden ist, was ja gedruckt vorliegt in der Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», und in verschiedenen Zyklen, gehört schon in gewisser Weise zu diesem Fünften Evangelium. Solche Dinge werden eben gesagt, wenn die Zeit dazu drängt, daß die Menschheit sie erfahre. Wenn Sie nur dieses eine nehmen, was in der «Geistigen Führung des Menschen und der Menschheit» besprochen ist von den zwei Jesusknaben, so werden Sie

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ja zugeben, daß all das, was Verständnis ist in unserer Gegenwart -was die an der Oberfläche befindlichen Kräfte der Menschenseele sind -, nicht nur diese Dinge nicht versteht, sondern recht sehr da­gegen wütet, wenn sie gesagt werden.

Vor einer neuen Art der Christus-Auffassung stehen wir also, die eben eine nicht verstandesmäßige sein wird. Sie wird zwar verstanden werden können, aber gefunden wird sie durch tiefergelegene Seelen-kräfte. Wenn man mit dem Blick der hellseherischen Forschung eine Art Vorschau sich verschaffen will von der Zukunft der Menschheit in den nächsten Jahrhunderten, auch in den nächsten Reinkarnationen der jetzt lebenden Menschen, dann muß gesagt werden, daß die an der Oberfläche liegenden Seelenkräfte wirklich immer geringer und ge­ringer werden. Die Menschheit wird sich immer mehr angewiesen fühlen auf die Offenbarungen der tiefergelegenen Seelenkräfte.

Von dem griechisch-lateinischen Zeitraum wird mit Recht gerühmt, daß die Menschen, die recht in ihm lebten, eine gewisse innere Ge­schlossenheit ihres Wesens hatten. Das kann im Grunde genommen bei gesunden Seelennaturen schon heute nicht mehr der Fall sein und wird in der Zukunft immer weniger der Fall sein. Würde man die Menschheit in der Zukunft nur allein dasjenige lehren wollen, was mit den an der Oberfläche liegenden Kräften erforscht werden kann, dann würden die Menschen in ihren Seelen immer mehr veröden, in einer merkwürdigen Weise veröden.

Heute sind wir noch nicht so weit, daß in der Schule keine reli­giösen Überlieferungen mehr gelehrt werden, aber wie viele ver­langen nicht schon, daß nur dasjenige gelehrt wird, was die Natur-wissenschaft bringt. Für das äußere Leben werden ja die Forderungen dieser Menschen so mächtig werden, daß in sehr kurzer Zeit die Menschheit ungeheuer veräußerlicht sein wird. Heute lernt der Mensch noch schreiben. In einer nicht sehr fernen Zukunft wird man sich nur noch daran erinnern, daß die Menschen in früheren Jahr­hunderten geschrieben haben. Es wird eine Art der mechanischen Stenographie geben, die dazu noch auf der Maschine geschrieben werden wird. Mechanisierung des Lebens! Ich will sie nur andeuten durch das eine Symptom: Denken Sie sich die Höhe einer Kultur, in

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der man ausgraben wird die historische Wahrheit, daß einmal Men­schen waren, die Handschriften gehabt haben, so wie wir ausgraben, was in den ägyptischen Tempeln getunden wird. Handschriften wird man ausgraben wie wir die Denkmäler der Ägypter. Aber auch die Reaktion des seelischen Lebens dagegen wird eintreten. Und so wahr es ist, daß unsere Handschrift für die Zukunft so etwas sein wird wie für uns die Hieroglyphen der Ägypter, etwas, das man anstaunen wird, so wahr ist es, daß daneben die Menschenseelen drängen werden, die unmittelbaren Offenbarungen des Geistes wieder zu erhalten. Das äußere Leben wird veräußerlicht werden, aber das innere Leben wird sein Recht fordern.

Dasjenige, was wir heute als Geisteswissenschaft treiben, mögen die Leute jetzt verspotten, aber vor dem Sehnsuchtsschrei der Men­schen nach der geistigen Welt werden sich die Materialisten zurück­ziehen müssen. Und so wird man anfangen, den Christus zu erkennen in denjenigen Zeitepochen, die einen offenen Sinn für die Spiritualität haben werden, dann allerdings durch die Reaktion gegen das äußere Leben.

Sehen wir, um uns darüber noch mehr zu verständigen, die Sache noch von einer anderen Seite an. Vielleicht werden Ihre Seelen mit­schwingen, wenn ich versuche, das Folgende vor Ihre Seelen hin­zustellen. Wir können auf das Bild der Frauen blicken, die - nach dem Evangelium hingehen, um den Leichnam Christi zu suchen, das geöffnete Grab finden, den Leichnam nicht finden, aber den Engel finden, der da sagt: Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hie, er ist auferstanden! - Er lebt im Geiste. Denn derjenige, den sie gesucht haben in der Materie, der erscheint nachher den Aposteln und unter­richtet sie während einiger Zeit, als Ausnahmemenschen, die für ihn eine Empfänglichkeit und Verständnis erlangt hatten. So erschien Christus in geistiger Gestalt. Und er zog im Geiste durch Griechen­land, Rom, bis zu den Germanen herauf, von Osten nach Westen und von da nach Norden. Ein Verständnis, ideelles, begriffliches, wissen­schaftliches Verständnis werden wir für die Christus -Wesenheit nicht suchen bei den großen römischen Philosophen, die wahrhaftig von dem Christus als von etwas sprechen, was sie nicht verstehen. Aber

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auch nicht bei den gleichsam stammelnden germanischen Völkern werden wir ein Verständnis für den Christus finden, der zwar die Seelen hinreißt, aber wahrhaftig nicht verstanden wird, der nur in den Herzen wohnt.

Und kommen wir in das 11., 12., 13.Jahrhundert hinein, da sind es nicht die Frauen, die zum Grabe gehen, um den Leichnam des Christus zu suchen, und ihn nicht finden - den Leichnam, der physisch zu begreifen wäre -, da sind es ganze Scharen europäischer Völker, die zum Grabe Christi ziehen. Wir kommen in die Zeit der Kreuzzüge, die vom Westen nach Osten hin sich begeben nach dem Grabe, wohin einstmals die Frauen gegangen sind. Und was vernehmen diese Scharen, die zum Grabe willen?: Was ihr suchet, ist nicht hie! -Wahrhaftig, was sie suchten entsprang ihrem Gemüt, dem, was in ihrer Seele lebte, aber sie verstanden es so wenig, daß sie nach dem Osten zogen, das physische Grab zu suchen, und erst nach langen Enttäuschungen, nach vielen Leiden erfuhren: Der, den ihr suchet, ist nicht hie! - Was war es denn, was sie suchten?

Wir sehen auf der einen Seite die Züge nach dem Osten und sehen auf der anderen Seite die europäische Mystik sich vorbereiten in Tauler, Meister Eckliart, und später in Jakob Böhme einen Höhe-punkt erreichen. Da war derjenige, den sie im Osten suchten und nicht fanden! Da war er hingegangen. Aber in einer eigenartigen Weise lebte er dort. Wenn wir auf diese mittelalterliche Mystik ein-gehen, was ist denn ihr bedeutsamster Zug?

Diese Geister: Eckhart, Tauler und die anderen, machen nicht Anspruch darauf, den Gott, den Christus zu verstehen, aber sie wollen, wie sie sagen, ein sehr «gelassenes» Leben führen, um den Christus in ihrer Seele zu erleben. Und je mehr sie den Christus in sich erlebten, desto mehr wußten sie, daß sie sich mit dem Göttlichen, mit dem Christus im Sinne ihrer Zeit durchdringen lassen wollten. Die Kreuz­fahrer hatten nur die Auskunft erhalten: Der, den ihr suchet, ist nicht hie! - Das, was sie gesucht hatten, lebte wiederum auf in der Form der europäischen Mystik.

Wir leben wieder in einem eigentümlichen Zeitalter. An dem, was wir erleben, sind nicht nur die europäischen Völker, sondern auch die

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Völker Amerikas beteiligt. Das merkwürdige Schauspiel, das wir er­leben können, kann einem wirklich an Tausenden und Abertausenden Symptomen entgegentreten. Lassen Sie mich nur eines davon - aus Berlin-charakterisieren. Ein berühmter Theologe der Gegenwart hat am 1. Februar 1910 folgenden «genialen» Satz ausgesprochen: Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, bringen Sie mir einen einzigen Satz, der von dem Christus Jesus berichtet wird, von dem ich Ihnen nicht nachweisen kann, daß er nicht schon im vorchristlichen Geistesleben lebendig war. - Das ist so recht die heutige Art. Man beweist, daß dasjenige, was in unserem Christentum enthalten ist, schon früher da war, sogar das ganze Vaterunser. Dieser Theologe spricht also etwas aus, was ganz im Sinne unserer Zeit ist, und man wird Ähnliches immer mehr und mehr hören. Was kann man für einen Eindruck haben, wenn man solch einen Herrn behaupten hört, daß alle Aus­sprüche des Christus schon früher da waren? Ich hörte einmal einen seht belesenen Menschen eine Rede halten und ein Kind stand dabei. Das Kind wurde gefragt: Was hast du denn gehört? Da sagte es: Der gibt mir nichts Neues, ich kannte schon alle Worte! - So vernimmt auch der Theologe alle Sätze und hört gar nichts Neues, das durch die Sätze hindurchklingen würde.

Diese Dinge sollten eigentlich selbstverständlich sein, dennoch wer­den sie in der Gegenwart nur mit Widerspruch aufgenommen. Denn in unserer Gegenwart ist von der Gesinnung, daß ein studierter Mensch noch etwas lernen könne, wenig vorhanden, wohl aber ist die Gesinnung verbreitet, daß man alles aus sich beurteilen könne. Mit solcher Gesinnung haben wir eben ein merkwürdiges Schauspiel erlebt. Als der Materialismus in den letzten Jahrhunderten heraufkam, gefiel es den Menschen nicht, von dem Christus Jesus zu sprechen, und da entstand eine Theologie, die nach und nach alles Göttliche aus dem Christus Jesus berauswarf und nur von dem Menschen, wenn auch von einem hochstehenden Menschen Jesus sprach. Das ist im 19.Jahthundert besonders weit gekommen und hat dann einen grotes­ken Ausdruck in dem berühmten Werke von Ernest Renan: «Das Leben Jesu», erhalten, das 1863 erschienen ist. Er hat wunderbar Schönes und in schöner Sprache über Jesus gesagt. Aber schon das

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Lazarus-Wunder beschreibt er so, als habe Jesus in Wirklichkeit keinen Toten auferweckt, sondern als habe er zugelassen, daß seine Anhänger das so berichtet und verbreitet hatten. Es wäre also eine Konzession an seine Anhänger gewesen, eine Art von Hokuspokus oder Schwindel, so daß sich hier in ein im übrigen wirklich schönes Werk hineinmischt etwas Hintertreppenromanhaftes. Man findet eigentlich keinen bestimmten Grund, warum Renan solche verehren-den Worte gebraucht, denn denjenigen, den er beschreibt, könnte man wahrhaftig nicht so besonders verehren. Aber ein halbes Jahrhundert hat das gedankenlos so hingenommen. Das ist nur ein Beispiel aus der Literatur, die den Christus Jesus nur als einen Menschen gelten lassen will.

Nun hat man aber die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß doch vieles, was von diesem Christus Jesus berichtet wird, unmöglich wäre, wenn der Christus Jesus ein einfacher Mensch gewesen wäre, be­sonders das Wort, daß Jesus sich selbst für den Christus gehalten hat, also für etwas, was nicht nur ein bloßer Mensch ist. Da ist man auf manches gestoßen, was nun doch nicht stimmt. Da fanden dann die Menschen in der letzten Zeit die Auskunft, an die Stelle des Menschen nun wieder den Gott zu setzen, aber den bloß gedachten Gott. Da erscheint der Christus Jesus nur wie ein Schatten, ein Schemen, ein Fetisch, aber wie ein geistiger Fetisch. Ein merkwürdiges Schauspiel! Jahrhundertelang hatten die Menschen aus dem Christus Jesus den Gott verdrängt und einen Menschen aus ihm gemacht, und jetzt er-leben wir, daß der Gott wieder den Menschen unmöglich macht. So wird es immer weiter- und weitergehen, und dies zeigt hinlänglich, daß wir auf einer Bahn sind, auf der den an der Oberfläche gelegenen Kräften ein Verständnis unmöglich ist. Das will sagen, daß die Men­schen im 20. Jahrhundert eine Art Kreuzzug versucht haben nach dem historischen Christus Jesus. Und wiederum wird die Antwort kom­men: Den, den ihr suchet, findet ihr nicht hier. - Denn diejenigen, die den historischen Menschen Jesus in dieser Weise suchen, werden ihn ebensowenig finden können wie die Frauen am Grabe oder wie die Kreuzfahrer, die zum Grabe wallten. Aber ebenso, wie die Kreuzfahrer den Christus nicht finden konnten, weil sie ihn nicht in ihrem Innern

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suchten, ebenso können die heutigen Kreuzfahrer den Christus Jesus nicht finden, weil sie ihn nicht suchen mit den Kräften, die im Inneren der Menschenseele gelegen sind, weil sie sich nicht an diejenigen Geisteskräfte wenden, die allein den Christus finden können.

Es bereitet sich im Schoße der spirituellen Geistesströmung eine Vertiefung der geistig-seelischen Kräfte vor. Und während immer mehr und mehr den Christus leugnen werden die an der Oberfläche gelegenen Geisteskräfte, werden tiefere Seelenkräfte auftreten, die den Christus immer mehr suchen werden. Es werden die Menschen sich mehren, die schauen werden den Christus, der die Äthersphäre be­leben wird, den diejenigen finden werden, die dafür empfänglich sind. Darum sprechen wir von einem ätherischen Dasein des Christus im 20. Jahrhundert. Dann werden wir aus eigener Erfahrung wissen, daß bei dem Mysterium von Golgatha wirklich in die Erdensphäre ein­getreten ist diejenige Wesenheit, die der Christus genannt wird, und immer mehr Menschen werden wissen, wer der Christus ist, da sie ihn schauen werden.

Die Bekanntschaft mit der Geisteswissenschaft wird die Seelen so vertiefen, daß dadurch der Blick der Menschen erwachen wird für den Christus. Eine wunderbare Perspektive tut sich für den hellseherisch­prophetischen Blick auf! Die äußeren, an der Oberfläche liegenden Seelenkräfte werden immer unzulänglicher und unzulänglicher, und die Menschen werden nach und nach so geboren werden, daß sie mit diesen an der Oberfläche liegenden Seelenkräften in ihrem Seelen-leben verhältnismäßig bald fertig werden. Aber ein Zeitalter steht bald vor der Tür, das in einer merkwürdigen Weise an das Christus-Ereignis erinnern wird.

Im dreißigsten Jahre seines Lebens sah der Jesus von Nazareth in sich den Christus einziehen. Ein neues Seelenleben begann in dem Leibe des Jesus von Nazareth, da der Christus in ihn eingezogen war an die Stelle des Zarathustra-Ich, das ihn verlassen hatte. Das war am Beginn unserer Zeitrechnung. Eine Zeit steht jetzt vor der Tür, in welcher die Menschen immer zahlreicher werden, bei denen vom dreißigsten Jahre ihres Lebens an, zwar nicht der Christus in seiner Fülle, aber die Christus-Erkenntnis wie durch eine Erleuchtung einziehen

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wird. Im dreißigsten Lebensjahre wird bei diesen Menschen ein neues, umfassendes Seelenieben beginnen dadurch, daß sie den Christus in seiner ätherischen Wesenheit schauen werden.

Man versteht im Sinne der Geisteswissenschaft unsere Zeit, wenn man sich Verständnis erwirbt für diese Perspektive. Wenn die Seelen, die jetzt leben, wieder verkörpert sein werden - von denen viele früher wiedergeboren werden als nach der normalen, durchschnitt­lichen Regel -, für manche aber wird es sich auch schon früher voll­ziehen, daß von einem bestimmten Lebensalter an die Menschen in sich einziehen fühlen werden durch ihr Erleben, wovon sie früher nur durch Unterweisung wissen konnten. Sie werden sagen können: Es tritt in mein Leben die Schauung ein, und ich weiß jetzt selber, wer der Christus ist, ich habe ein Verständnis durch Schauen erlangt. - Dann wird man den Christus nicht mehr beweisen wollen, denn die Anzahl derer wird immer größer werden, die darüber berichten können, daß sie den Christus als Geistwesen auf der Erde herumwandelnd finden. Man wird nicht mehr bloß den historischen Christus suchen.

Das sind die beiden Seiten des Zukunftsbildes: Auf der einen Seite wird immer mehr eine Verödung eintreten durch die an der Ober­fläche befindlichen Seelenkräfte, andererseits durch Reaktion eben gegen die Verödung, ein Hervorrufen der in den Tiefen liegenden Seelenkräfte. Um dieses zu erkennen, dazu verbreiten wir die Anthro­posophie.

Die Menschen dürfen die Eindrücke, die sie empfangen werden, die meistens nur leise auftreten, nicht achtlos an sich vorübergehen lassen, denn nur selten finden vehemente Eindrücke statt. Durch die Verbreitung wahrer Anthroposophie werden die Menschenseelen so werden, daß sie nicht achtlos an sich werden vorübergehen lassen die Erleuchtung, wenn sie kommt, denn sonst würde man sie während mehrerer Inkarnationen nicht bekommen können. Die anderen aber, die von den oberflächlichen Seelenkräften ausgehen, werden gerade diese, die die Erleuchtung bekommen haben, als Narren, als Wahn­sinnige verschreien. Ein Anfang dazu ist ja schon in einer fürchter­lichen Weise gemacht worden. Psychiater haben sich schon auf die Christus Jesus-Forschung geworfen. Man studiert die Evangelien auf

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Symptome des Wahnsinns hin. An solchen Erscheinungen sollte man nicht achtlos vorbeigehen, sondern man sollte dadurch zur Einsicht kommen, daß die andere Seite sehr einer Pflege bedarf; jene andere Seite, die darstellt ein Verständnis für den Christus, der in die Mensch­heit eingetreten ist in einer Zeit, in der er am wenigsten verstanden werden konnte und der fortwirkt, um vorzubereiten das Verständnis, das in Zukunftszeiten kommen wird.

Der Mensch, der in die Zukunft blickt, sollte nicht mit einer abstrakten, allgemeinen Phrase dasjenige abtun, was sich in der Zu­kunft zeigt. Die Zukunft zeigt sich von zwei Seiten, von der Seite der Verödung, des Aufgehens im Materialismus, aber auch von dem Geborenwerden einer neuen geistigen Welt, nicht nur in den Gedan­ken, oder, sagen wir, in der Anschauung, sondern für das Dasein. Denn der Christus wird dem Menschen an die Seite treten und sein Rater werden. Nicht als Bild allein ist das gemeint, sondern in Wirk­lichkeit werden die Menschen die Ratschläge, die sie brauchen, von dem lebenden Christus empfangen, der ihnen Berater und Freund sein wird, der zu den Menschenseelen sprechen wird so wie ein Mensch, der physisch neben uns geht. Hat die Menschheit eine pro­phetische Vorverkündigung gebraucht damals, als der Christus phy­sisch in einem Menschenleibe erscheinen sollte, noch viel mehr braucht sie diese jetzt, da er in einer ätherischen Erscheinung für die Menschen kommen wird. Betrachten Sie das Gesagte daher als eine vorberei­tende Verkündigung dessen, was da kommen wird und kommen muß.

Machen Sie sich über die Zukunft keine Illusion. Aber wir geben uns über die Zukunft keiner Illusion hin, wenn wir uns vorhalten, wie es ausschaut im äußeren materiellen Leben, wenn wir ausgehen von der Betrachtung, daß man in der Zukunft so von der Handschrift sprechen wird, wie wir von den Hieroglyphen der Ägypter sprechen. Es sind die letzten Reste einer geistigen Kultur noch vorhanden, noch erscheint in der Schrift eine Physiognomie der Seele, aber bald wird die Spur des Seelischen aus der äußeren Kultur so verschwunden sein wie für uns die ägyptische Kultur. Von manchem, was für uns noch Seelisches ist, wird man als von einem lang Vergangenen spre­chen. Derselbe Mund aber, der verkündigen wird, es war einmal so

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etwas wie eine menschliche Handschrift, wird verkünden aus dem Spirituellen, aus dem Geistigen heraus, daß der Christus im Geiste lebendig wieder unter den Menschen herumgeht. Den Geist des bloß Gedachten werden die Menschen eintauschen müssen für den Geist der unmittelbaren Anschauung, des unmittelbaren Miffühlens und Miterlebens von dem an der Seite aller Menschenseelen geistig leben­dig schreitenden Christus.

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DIE DREI GEISTIGEN VORSTUFEN DES MYSTERIUMS VON GOLGATHA Stuttgart, 5. März 1914

Anknüpfend an die Betrachtungen des Fünften Evangeliums wollen wir uns heute vor die Seele führen die Wirksamkeit des Christus-Geistes auf die Menschenentwickelung, wie sie sich in den geistigen Welten vollzog vor dem Mysterium von Golgatha.

Wir müssen uns dabei erinhern an die Tatsache der zwei Jesus-knaben: den salomonischen, in dem das Zarathustra-Ich lebte, und den nathanischen Jesusknaben. Wir müssen hinschauen auf den nathanischen Jesusknaben und uns jetzt fragen: Was für eine Wesenheit war dieser Knabe, in den später das Ich des Zarathustra einzog?

Um diese Wesenheit zu verstehen, müssen wir weit zurückgehen in der Entwickelung der Erde und der Menschen. Diese Wesenheit, die in dem nathanischen Jesusknaben wirkte, war zum ersten Male in eine physische Verkörperung getreten in dem Jesus von Bethlehem. Vorher hatte sie von der geistigen Welt aus Anteil genommen an der Menscbheitsentwickelung, nie aber in einem physischen Menschenleib gelebt. Sie hatte mitgelebt die Zeiten, als die Menschenhüllen ge­schaffen wurden, mitgelebt die Saturnzeit, in der der Keim zum phy­sischen Leib veranlagt wurde, die Sonnen- und Mondenzeit, wo Äther- und Astralleib sich bildeten, mitgelebt auch die die großen Zeitperioden wiederholenden kleineren Etappen. Als aber das Men­schen-Ich in der lemurischen Zeit herabstieg in die drei Hüllen, da war dieses Wesen gleichsam als ein Teil des göttlichen Menschenseins zurückgeblieben in den geistigen Welten und hatte nicht mitgemacht die Entwickelung des Ich in den drei Hüllen und seine Verführung durch den luziferisch-ahrimanischen Einschlag. Dieser sich in den gei­stigen Welten zurückhaltende Teil des göttlichen Menschenwesens, dieses Geisteswesen ist zum ersten Male in einen physischen Leib herabgestiegen als nathanischer Jesusknabe, um als solcher sich von dem Christus durchleuchten zu lassen. Die Johannestaufe stellt dar die Durchdringung des Jesus von dem Christus-Geist.

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Da war es aber nicht das erste Mal, daß es sich von dem Christus hat durchdringen lassen dürfen. Während es als Geistwesen in den geistigen Welten lebte, hatte es schon vermocht, sich wiederholt von dem Sonnengeist durchdringen zu lassen. Vorbereitend das Christus­Ereignis im physischen Leib, hatte sich vorher Ähnliches vollzogen in geistigen Welten und hereingewirkt auf die Menschenentwickelung.

Blicken wir auf die lemurische Zeit zurück, als der Mensch sich mit seinen Hüllen verband, und schauen wir, wie damals das Menschen-wesen sich gestaltet hätte, hätten allein die Kräfte aus dem Kosmos auf den Menschen gewirkt, nät denen er damals in Verbindung stand. Es drohte in jener Zeit, daß die zwölf kosrnischen Kräfte, die auf den Menschen wirken, durch dämonische Wesen in Unordnung gerieten. Dadurch hätte sich der Mensch ganz anders entwickeln müssen, als er heute geworden ist. Die Sinne des Menschen, die sich damals heraus-bildeten, sie wären unter der Wirkung der in Unordnung geraten-wollenden Kräfte überempfindlich geworden. Die Lichtempfindung, alle Wahrnehmung vermag heute der Mensch in Gelassenheit auf-zunehmen. Unter der Wirkung des luzifensch-ahrimanischen Ein­schlags hätte das Sinnesleben die stärksten Begierden und Impulse auslösen müssen. Hätte der Mensch zum Beispiel eine rote Farbe gesehen- und so hätten vor allem die Sonnenstrahlen wirken müssen-, so hätte in brennendem Schmerz die begehrende Seele fliehen müssen, und bei der Wahrnehmung von Blau hätte sie sich, in sich verzehrend, in Qual überwinden müssen. Die Seele hätte furchtbar leiden müssen bei jeder Sinnesempfindung, gejagt von tierischer Wollust und Be­gehren zu versengendem Schmerz und Qual.

Da drang der Schmerzensschrei der gequälten Menschheit hinauf zu jenem Geisteswesen. Er trieb es hin zu dem Sonnengeist, so daß es sich von dem Christus durchdringen lassen durfte. Dadurch wurde abgemildert die innerliche Stärke der Sinneswahrnehmung, dadurch schlug das Wesen die stärkste Versuchung des Luzifer und Ahriman ab. Indem es die zu starke Wirkung der Kräfte auf die Sinne milderte, gestaltete es das Wahrnehmungsleben in ein maßvolles passives um.

Und gehen wir weiter in die atlantische Zeit herein. Eine neue Gefahr schwebte da über den Menschen: Durch den luziferischalrltnanischen

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Einfluß waren bedroht die Lebensverrichtungen, die Lebensorgane des Menschen. Hätte zum Beispiel eine Speise vor dem Menschen gestanden, wäre tierische Gier, sie zu verschlingen, erwacht. Seine Seele wäre ganz Gier gewesen. Besonders empfindsam wäre das Atmen gewesen, das Ein- und Ausatmen. Schlechte Luft hätte den Menschen mit schauderndem Ekel erfüllt. Alles, was mit den Er-nährungs- und Lebensfunktionen zusammenhing, löste eine ungeheure Aufstachelung von Sympathie und Antipathie aus, trieb die Seele von verschlingender Gier zu abstoßendem Ekel.

Und wiederum war es jenes Geistwesen, das diese Gefahr für den Menschen abwandte. Ein zweites Mal ließ es sich mit dem Christus-Geist durchdringen und rettete dadurch die sonst in Unordnung ge­ratenden Lebenskräfte des Menschen.

Und am Ende der atlantischen Zeit erstand eine dritte Gefahr für den Menschen durch den luziferisch-ahrimanischen Einfluß. Es drohte, daß die menschlichen Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen, in Unordnung, in Disharmonie zueinander gerieten, daß die drei Kräfte nicht mehr recht zusammenklingen konnten in der menschlichen Seele. In Leidenschaft erglüht wäre der Mensch jedem Impulse gefolgt, oder von Furcht und Haß erfüllt geflohen, ohne daß Vernunft die Kräfte hätte regeln können. Wie brachte da das Geisteswesen Hilfe? Das Geisteswesen mußte untertauchen in die von Leidenschaft erfüllte menschliche Seele, mußte selbst die Leidenschaft werden, mußte zum Drachen werden, um umzuwandeln die Seelenkräfte, und ein drittes Mal von dem Christus-Geist sich durchleuchten lassen.

Widergespiegelt finden wir dieses geistige Geschehnis in den Mythen aller Völker, in dem Mythos von Sankt Georg, dem Erzengel Michael, den Drachen besiegend. In den nachatlantischen Kulturen sehen wir ein Bewußtsein lebendig von den in geistigen Welten sich vollziehen­den Einwirkungen des Christus auf das Menschenwerden durch jenes Geisteswesen. In dem Zarathustra-Kult tritt uns das hohe Sonnen-wesen entgegen, und wie ein Abbild davon zeigt sich im griechischen Bewußtsein der Apollo-Dienst. Am kastalischen Quell ist der Tempel des Apollo, wohin wohlvorbereitet die Griechen ziehen, um sich bei Apollo Rat zu holen. Python, der über den Dämpfen ruht, die aus dem

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Spalt aufsteigen und den Berg Parnaß umwinden wie eine Schlange, er wird durch Apollo besiegt, und an seine Stelle tritt die Priesterin Pythia, durch deren Mund Apollo seine Weisheit den Griechen offen-bart. Von Frühling bis Herbst weilt Apollo in seiner Stätte, dann zieht er nach Norden in das Land der Hyperboräer. Nach Norden muß Apollo ziehen als der Geist der Sonne, während die physische Sonne nach Süden zieht. Und verbunden finden wir mit Apollo die Musik, das Saitenspiel. Es stellt dar den Ausdruck des Zusammenstimmens der drei menschlichen Seelenkräfte. Und von einem berühmten Manne mit zu großen Ohren, dem König Midas, wird gesagt, daß Apollo ihm die Eselsohren wachsen ließ als Strafe dafür, daß Midas beim musi­schen Wettkampf zwischen Apollo und Marsyas gegen Apollo ent­schied, weil er Marsyas Flöte dem Saitenspiel Apollos vorzog.

Dreimal also, ehe das Mysterium von Golgatha eintrat, hatte von den geistigen Welten aus der Christus sich mit der Menschheit ver­bunden, durch dreimaliges Durchdringen jenes Geistwesens, das spä­ter der nathanische Jesusknabe war: Erstens maßvoll die Sinneserfah­rung zu regeln in der lemurischen Zeit, zweitens die Lebenskräfte zu regeln im Anfang der atlantischen Zeit, drittens zu regeln die Seelen-kräfte am Ende der atlantischen Zeit. Dann erst vollzog sich als viertes das Mysterium von Golgatha, um zu regeln das Ich in seinem Verhältnis zur Welt.

Vorgefühlt wurde die Gefahr für das menschliche Ich, in die es durch die Versuchungen Luzifers und Ahrimans geführt wurde, in den ägyptischen Priesterstätten in der gnechisch-lateinischen Zeit. Man fühlte das Ich herannahen, und man suchte mit den Kräften, die es in Unordnung bringen wollten, zu ringen. Da sah man in den Tem­peln an vielen Orten etwa folgende Zeremonien und oft sich wieder­holend: Der Priester formte ein scheußliches, unförmliches Gebilde, ein Krokodil, spuckte es an, warf es zur Erde und verbrannte es. Andere Priester erzählten dem Volk: Re, die Sonnengortheit, zieht ihre Bahn am Himmelsraum von Ost nach West. Im Westen wird sie fahl, stürzt hinab, weil sie gegen dämonische Wesenheiten zu kämpfen hat.

Man fühlte die Kräfte des Ich herausdrängen. In zweifacher Form tritt es uns entgegen. Wir sehen im 7. bis 8. Jahrhundert vor Christus

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auftreten und durch alle südlichen europäischen Länder hindurch­ziehend das Sibyllentum. In ihm lebte das, was zeigte, daß das Ich sich herausbilden kann. Aber das Sibyllenwesen hing mit den elementa­rischen Kräften der Erde zusammen, die im Unterbewußten der Seele wirken und in leidenschaftlicher Art sich herausdrängen. Diesem Sibyllenwesen steht gegenüber die Prophetie des jüdischen Volkes. Die Propheten wollen in ihrer Seele alles Sibyllenwesen zurückdrängen und nur lauschen auf die Offenbarung, die sich den Kräften des Ich eröffnet, die bewußt sind. In sinnender Versunkenheit stellt Michel­angelo die Propheten dar und ihnen gegenüber die Sibyllen mit ele­mentarischen Kräften der Erde, mit Wind, Feuer, Luft verbunden.

Ohne das Mysterium von Golgatha hätte das Sibyllenelement über die bewußten Ich-Kräfte gesiegt, hätte die Ich-Kräfte zurückgedrängt. Das Ich wäre der Menschheitsentwickelung verlorengegangen. Als Kraft sehen wir den Christusimpuls in dem Menschheitsgang wirken, auch ohne daß das menschliche Bewußtsein ihn aufgenommen hat, als Kraft, die die Kulturen gestaltet, die die Geschichte der euro­päischen Völker gestaltet, die die Gestaltung Europas bestimmt. Am 28. Oktober des Jahres 312 ist die Besiegung des Maxentius durch Konstantin. Maxentius befrägt die Sibyllen und ihm wird die Ant­wort: Ziehst du mit deinem Heere hinaus vor die Tore Roms, wirst du Roms größten Feind besiegen. - Maxentius hat darauffolgend einen Traum, und dem Sibyllenspruch und Traum folgt er. Er zieht vor Rom hinaus, entgegen aller Vernunft, dem Rat und aller Pläne seiner Feld­herren. Auch Konstantin träumt: Er sieht, wie er, das Banner Christi vor sich tragend, über den viermal stärkeren Gegner siegt. Entgegen aller menschlichen Vernunft kommt es zum Kampf, und Konstantin siegt, das Kreuz vor seinem Heere tragend.

Wir können den geschichtlichen Gang der Menschheit vor uns stellen von 800 vor Christi bis in unsere Zeit herein. In den Jahr­hunderten vor Christi sehen wir die tiefe griechische Weisheit bis zu ihrem höchsten Punkte emporkommen. In ihr zehrt die Menschheit die letzten vererbten Götterkräfte auf. Da tritt im Punkt Null das Mysterium von Golgatha ein und es wirkt in die Menschheit herein. Die anregenden Kräfte des Christus-Impulses wirkten in der Zeit

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nach dem Mysterium von Golgatha in verschiedener Art ein, gingen von verschiedenen Planen der geistigen Welten aus.

Schema aus GA 152, S. 95 (Ausgabe 1964)
Schema aus GA 152, S. 95 (Ausgabe 1964)

Einteilend können wir zuerst die Zeit der ersten acht Jahrhunderte nach Christus erfassen. Wir sahen, wie da die menschliche Vernunft gegenüber dem Christus-Impuls versagt (Gnosis), wie dieser aber als Tatsache wirksam ist im Menschengeschehen (Maxentius und Kon­stantin). In den ersten acht Jahrhunderten wirkte die Kraft aus den höchsten geistigen Welten herein, aus dem oberen Devachan. Einen Übergang, Ausklang dieser Periode sehen wir in dem Werk des Scotus Erigena um 850. In seinem Gedankensystem wirkt noch der Christus-Impuls wie eine Kraftwelle aus der höchsten geistigen Welt in die physische herein.

Dann, von 800 bis 1600, wirkt der Impuls vom niederen Devachan aus in die physische Welt. Die Menschen suchen in Vorstellungen, in vielerlei Formen ihren Seelen den Christus-Impuls nahezubringen. Aber der Gedanke erweist sich als ungeschickt, die Bemühungen als unfruchtbar. Weder die Kreuzzüge noch die Versuche der Gottes­beweise können eine innerlich lebendige Verbindung herstellen.

Am Übergang zur nächsten Epoche steht die Jungfrau von Orleans. Ihrem seelischen Erleben wurden aus geistigen Welten die Impulse des Christus geoffenbart, in deren Namen sie in die Gestaltung der Menschheitsgeschichte eingreift.

Die unmittelbar aus hohen Geistesreichen sich im Menschen geltend machende Kraft geht immer mehr verloren. Die Kräfte werden immer schwächer, der Impuls wirkt von 1600 an bis in unsere Zeit herein nur mehr noch aus der Astralwelt, der Seelenwelt. Daher wird die Theologie immer gelehrter, immer abstrakter. An Stelle des kosmi­schen Gotteswesens, des Christus, setzt sie den «schlichten Mann aus Nazareth». Doch wäre unsere Zeit noch viel weiter im Materialismus

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vorgeschritten, noch viel stärker vom antichristlichen Moment durch­drungen, hätten sich nicht die aus der Astralwelt hereinwirkenden Kräfte des Christus in besonderer Weise noch geltend gemacht: Im 15. und 16. Jahrhundert tauchten überall merkwürdige Erzählungen auf, die sich durch das ganze europäische Abendland verbreiteten. Es traten an den verschiedensten Orten, in allen Ländern Europas Männer auf, die Füße voller Schwielen, in armseliger Kleidung, langwallenden Haaren, und erzählten, daß sie dabeigewesen waren bei dem Myste­rium von Golgatha, den Christus auf der Erde hatten wandeln sehen, aber als er an ihrem Hause vorüberging, hatten sie ihm nicht Ehr­furcht erwiesen, hatten ihn beleidigt. Daher müssen sie seit jener Zeit unaufhörlich umherziehen, ohne Rast und Ruhe, und erzählen, als Buße, was sie einst erlebt. (Ewiger Jude.) Sie erzählten das alles wie aus der Erinnerung. Sie wurden überall aufgenommen, von Bischöfen und Prälaten empfangen. In ihnen lebte sich ein Einblick in die Akasha-Chronik aus, und diese Menschen konnten nicht anders, als durch ihr ganzes Leben so auftreten und für das Christus-Ereignis zeugen. Ihr übriges Bewußtsein war getrübt, aber durch die Impulse aus der astralen Welt konnten sie zu dieser Schau gelangen. Dadurch wurden die Menschen gerettet vor dem Umsichgreifen des Anti-christentums, gerettet vor dem ärgsten Materialismus.

Dann wird von 2400 ab die Epoche kommen, wo die Kräfte zum Christus -Verständnis von der Erde allein ausgehen, wo der Christus vom physischen Plane aus auf die Menschen wirkt. In unsere Zeit aber greifen die Vorboten dessen herein, was nach 2400 wesentlich sein wird: Der Christus wird sich auf dem physischen Plane in äthe­rischer Gestalt offenbaren. So sehen wir von achthundert zu acht­hundert Jahren Geschichte sich abwickeln im Zusammenhang mit Impulsen aus den geistigen Welten. In meinem Buche «Welt- und Lebensanschauungen des 19. Jahrhunderts», so wie es in der Neu-ausarbeitung erweitert ist als «Die Rätsel der Philosophie», wird man die Entwickelung des menschlichen Bewußtseins in demselben perio­dischen Schreiten verfolgen können.

Die Geschichte des menschlichen Gedankenlebens zeigt uns, wenn die zum künftigen Christus-Verständnis notwendigen Kräfte da sein

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sollen, daß der Gedanke selbst eine andere Form annehmen muß, die Denktätigkeit eine Umwandlung erfahren muß. Heute sehen wir das Gedankenieben zwischen zwei Anschauungen hineingestellt, und der Mensch leidet unter diesem «Dazwischengequetschtsein» und kann den Übergang von einer zur anderen Ansicht nicht finden. Auf der einen Seite steht Haecke4 der allein die äußere Wahrnehmung gelten lassend, ein Wirklichkeits -Weltenbild erstellt hat, das aber die Wirk­lichkeit des Gedankens nicht anerkennen kann. Und auf der andern Seite steht Hege4 der, ausgehend von dem Gedanken als geistige Realität - das Weben und Leben des Gedankens in der Wahrheit ist der wirkende Geist -, ein Gedanken-Weltenbild aufbaut, das aber seine Zeit nicht als Wirklichkeit anerkennen kann. Was der Gedanke nötig hat, ist, ihn lebendige Wirklichkeit werden zu lassen.

Es gilt, die Gedanken lebendig zu gestalten, gleich einem Pflanzen­samen. Samenkörner können ausgesät, geerntet und dann zur Nah­rung verwendet werden. Dadurch kommen sie von ihrem eigentlichen Wege ab, der aus dem Samenkorn neue Pflanzen sprießen ließe. So hat der Mensch die Gedankensamen gesammelt in die Scheunen der Naturwissenschaft und Philosophie, sie angehäuft und sie vertrocknen lassen. Der Pflanzensamen muß, seinem Wesen nach, in die ihn be­lebende Umwelt versenkt werden, soll er zu neuem Sprießen kommen. So gilt es, die Gedankensamen Hegels hineinzuversenken in den Boden der Geisteswissenschaft, dort können sie zu fruchttragendem Leben emporwachsen, zu den Geistfähigkeiten der Imagination, Inspiration und Intuition. An Stelle des kategorischen Imperativs wird das Ich aus der Kraft des erwachten Denkens die « moralische Phahtasie» betätigen. Dann aber wird auch möglich Sein, aus den Erdenkräften heraus den kommenden Christus4mpuls zu verstehen. Das ist der Zusammenhang zwischen der Welt des Gedankens in der «Philosophie der Freiheit» und den in unserer Seele aufgehenden höheren Erkenntniskräften, durch die Wege, die die Geisteswissen­schaft weist.

Im Zusammenklang mit dem kommenden Christus-Ereignis mußte ich so heute zu Ihnen von der Verlebendigung des Denkens zu künftiger Geist-Erkenntnis sprechen.

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DER CHRISTUS-IMPULS IM ZEITENWESEN UND SEIN WALTEN IM MENSCHEN DIE DREI GEISTIGEN VORSTUFEN DES MYSTERIUMS VON GOLGATHA Pforzheim, 7. März 1914

In unserer Zeit ist es den Seelen, die durch ihr Karma zur Geistes­wissenschaft geführt werden, immer wichtiger und wichtiger, einen tiefen Eindruck zu bekommen über das, was wir nennen können:

Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Die Freunde, die bei unseren letzten Zweigversammlungen anwesend waren, haben ja schon manches gehört darüber, daß dieses Mysterium von Golgatha eine geistige Vorgeschichte hat, daß ihm etwas vorangegangen ist, daß es gleichsam der Abschluß ist einer Reihe von Ereignissen. Gehört haben unsere lieben Freunde auch, daß da in unserer Erdenentwicke­lung stattgefunden hat die Vereinigung der Christus -Wesenheit mit dem Leibe des Jesus von Nazareth, und daß dadurch ein Wesen über die Gefilde unserer Erde hingegangen ist, von dem wir sagen können: Es hat sich durch dieses Wesen auf dem physischen Plan abgespielt die Gegenwart des kosmischen Christus -Wesens innerhalb unseres Erdendaseins.

Es ist bedeutsam für die ganze Zukunft der Menschheitsentwicke­lung, daß diese Menschheit immer mehr und mehr Verständnis ge­winne für das Mysterium von Golgatha, und daß immer mehr und mehr aus diesem Verständnis fließen Verehrung und liebevolle, tief herzliche Hingabe an dasjenige, was im Mysterium von Golgatha für die Entwickelung der Menschheit vorging. Wir wissen - auch das wurde wiederholentlich gesagt und ist ja bekannt -, daß zur Vor­bereitung des Mysteriums von Golgatha zwei Jesusknaben geboren worden sind. Der eine war der Jesus mit dem Zarathustra-Ich, der andere - aus der nathanischen Linie des Hauses David - war ein ganz besonderes Wesen. Wir wissen, daß im zwölften Jahre des natham­schen Jesusknaben hinübergezogen ist aus dem anderen, dem salomonischen

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Jesusknaben, das Ich des Zarathustra, und daß zwischen dem zwölften und dreißigsten Jahre sich dieser nathanische Jesus mit dem Ich des Zarathustra vorbereitet hat, um durch das Ereignis, das an­gedeutet wird durch die Taufe im Jordan, die Christus -Wesenheit dann zu empfangen, von der dieser Jesus von Nazareth nun durch­zogen ist, und die mit dem Tode sich ausgegossen hat in die geistige Erdensphäre, so daß die Menschheit immer mehr teilhaftig werden kann desjenigen, was, ausgehend von dem Mysterium von Golgatha an geistigen Kräften, alle Seelen und alle Herzen durchströmen kann.

Nun habe ich bereits gesagt, daß dieses Mysterium von Golgatha in einer gewissen Weise vorbereitend sich schon dreimal vorher zum Heile der Menschheit vollzogen hat: einmal in der alten lemurischen Zeit, dann in der atlantischen Zeit, dann noch einmal gegen Ende der atlantischen Zeit - das waren drei Male -, dann eben das vierte Mal so, wie wir es kennen im Beginne unserer Zeitrechnung in der nach-atlantischen Zeit. Was wir das Mysterium von Golgatha nennen, hat sich aber einzig und allein auf dem physischen Plan zugetragen, die anderen Ereignisse, welche die vorbereitenden waren, haben sich ganz in der geistigen Welt zugetragen. Aber die Kräfte, die sich dabei aus­gebildet haben, dasjenige, was geschehen ist, das ist zum Heile der Menschheit heruntergeflossen in die irdischen Seelen und Leiber. Und bei all diesen vorbereitenden Ereignissen zu dem Mysterium von Golgatha war es wiederum dieselbe Wesenheit, die dann als natha­nischer Jesusknabe geboren worden ist, die durchdrungen worden ist von der Christus -Wesenheit. Das ist ja das Wesentliche an dem Myste­rium von Golgatha, daß diese Jesuswesenheit, die herangewachsen ist als der nathanische Knabe, durchdrungen worden ist von der Christus­Wesenheit. Aber auch bei den drei früheren Ereignissen war diese spätere nathanische Jesuswesenheit da, nur war sie nicht als physischer Mensch inkarniert. Sie lebte als geistige, als erzengelartige Wesenheit in den geistigen Welten. Und in den geistigen Welten ist sie als in Vorstufen des Mysteriums von Golgatha während der lemurischen Zeit und zweimal während der atlantischen Zeit durchzogen worden von der Christus -Wesenheit.

So daß man sagen kann: Es gab gleichsam drei Engelleben in der

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geistigen Welt. Die Wesenheit, die dieses Engel- und Erzengelleben geführt hat, war im Grunde dieselbe, die später als Mensch geboren worden ist und als Jesusknabe im Lukas-Evangelium geschildert wor­den ist. Dreimal brachte sich diese Engeiwesenheit, die später als Mensch sich zum Opfer brachte, für das Eindringen des Christus­Impulses zum Opfer. Wie wir in dem Christus Jesus einen vom Christus-Impuls durchzogenen Menschen haben, so können wir sagen, wir haben dreimal vorher einen von dem Christus4mpuls durchzogenen Engel. Und so, wie dasjenige, was durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, ausgeströmt ist in die geistige Erden-atmosphäre, so strömte ein, allerdings aus dem Kosmos herein, das, was durch die drei ersten Ereignisse geschehen ist. Wenn wir auf den Gang unserer Menschheitsentwickelung blicken, wie im Mittelpunkte dieser Menschheitsentwickelung das Mysterium von Golgatha drin­nensteht, so können wir eigentlich uns sagen: Mit diesem Mysterium von Golgatha ist eben ein solcher Mittelpunkt der irdischen Ent­wickelung gegeben. Alles, was vorher geschieht, weist hin wie vor­bereitend auf dieses Mysterium von Golgatha. Und alles, was nachher geschehen ist, ist ein nach und nach fortschreitendes Einströmen der Kräfte des Mysteriums von Golgatha in die menschlichen Seelen und in die menschlichen Herzen.

Wenn wir genauer prüfen, welchem Wesensglied im Menschen ge­geben wurde dasjenige, was von der Kraft des Mysteriums von Gol­gatha ausströmt, so können wir sagen: Dem menschlichen Wesens-glied strömt zu, wenn es sich öffnet, die Kraft des Mysteriums von Golgatha, dem menschlichen Wesensglied, das in der Welt des physi­schen Planes sein Bewußtsein entwickeln kann. Ist es denn nicht so? Zu dem Kinde, das eben geboren worden ist, können wir noch nicht sprechen von dem Christus Jesus. Es gibt keinen Weg, wie wir dem Kinde verständlich machen können, was der Christus Jesus ist. Und wenn wir die Augen des Kindes verweilen lassen würden auf irgend­einem Bildnis, sei es ein Bildnis wie die Sixtinische Madonna mit dem Jesusknaben oder sei es der Kruzifixus, wir würden bemerken, wenn wir hineinsehen könnten in die Seele des Kindes, daß wir in den allerersten Zeiten des kindlichen Lebens noch nicht an sie herankommen

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können mit unseren äußeren Erziehungsmitteln des physischen Planes. Wir können zwar schon von der Zeit an, wo das Kind ge­wissermaßen zu lallen beginnt, es gewöhnen, den Christus-Namen auszusprechen, wir können ihm Vorstellungen beibringen, die auf den Christus hinweisen. Aber das tiefere Herzensverständnis werden wir in den ersten Zeiten des menschlichen Kindeslebens sich noch nicht bereiten fühlen. Und eines ist für jeden klar, der mit den Mitteln der Geisteswissenschaft hineinzuleuchten vermag in das klndliche Gemüt:

die schwächste Art, wie wir durch äußere Erziehungsmittel das Christus-Empfinden zu einem Aufdämmern bringen können, die schwächste Art tritt wirklich auch erst ein von dem Zeitpunkte an, wo das Kind an den Punkt seines Lebens herantritt, bis zu welchem es sich später zurückerinnert: an dem sein Ich-Bewußtsein erwacht. Es wird gewiß auch in den ersten Jahren, nachdem das Ich-Bewußtsein erwacht ist, kein großes Verständnis da sein. Aber alles, was wir da übermitteln an Christus-Vorstellungen, ohne daß wir es in die Dog­matik hineinführen, was wir so vermitteln, daß in den Worten und Vorstellungen etwas von dem Leben des Christus4mpulses ist, das kommt dem Menschen, der aus diesem Kinde wird, in dem ganzen späteren Leben zugute. Nach dem Erwachen des Ich-Bewußtseins können wir schon einzelnes tun, wenn auch nur ein dämmerndes Bewußtsein vorhanden ist. Nach dem Erwachen des Ich-Bewußtseins sieht zum Beispiel das Kind, wenn wir auch noch nicht beginnen können mit physischen Mitteln auf es einzuwirken, zu der Sixtinischen Madonna und zu dem Kreuze mit dem Christus daran ganz anders auf als vorher. Denn so, wie das Mysterium von Golgatha hereingetreten ist in die irdische Menschheitsentwickelung, so ist es dazu bestimmt, in den Fortschritt des Geisteslebens auf dem physischen Plane zu wirken. Und eigentlich betritt der Mensch bewußt den physischen Plan erst, wenn sein Ich erwacht. Was ist nun vorher?

Drei Dinge gehen dem Ich-Erwachen beim Kinde voran, drei Dinge, auf die ich auch schon hingewiesen habe in früheren Vorträgen, drei Dinge, die von ungeheurer Wichtigkeit sind. Das Kind lernt gehen, das heißt, es lernt sich erheben aus der Lage, in der es noch unfähig ist, seine Leibesrichtung von der Erde ab in die Himmelshöhen

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des Kosmos hinauf zu richten. Es lernt aus der einen Lage in jene andere sich bringen, durch die sich der Mensch in erster Linie vom Tier unterscheidet. Es lernt durch eigene innere Kraft sich die aufrechte Stellung zu geben, den Blick abzuwenden vom Irdischen, zu dem ihn das Tier durch seine ganze Bestimmung und Gestalt dennoch gerichtet haben muß, denn die Ausnahmen sind nur scheinbar. Die aufrechte Stellung ist es, die das Kind lernt, bevor das Ich-Bewußtsein erwacht. Wir wiederholen wirklich in unserem jetzigen nachatianti­schen Leben die Dinge, die wir als Mensch überhaupt uns erst an­geeignet haben im Laufe der Zeit. Was wir uns während der alten lemurischen Zeit erst nach und nach angeeignet haben, das Aufrecht-gehen-Lernen, das Aufrechtstehen-Lernen, das wiederholen wir, bevor unser Ich bewußt erwacht, jetzt im kindlichen Alter. Das ist hinein-gedrängt in die Zeit, wo es noch nicht von unserem Bewußtsein ab­hängt, wo es noch als unbewußte Aufrichtekraft wirkt. Jene Tiere, welche einen annähernd vertikalen, annähernd nach oben gerichteten Gang haben, haben den ganzen Organismus so eingerichtet, daß sie von Natur in diese doch im Grunde nicht ganz aufrechte Lage kom­men. Wie so mancher Vergleich, würde aber auch dieser irren. Der Mensch ist dazu berufen, in der ersten Zeit seines Lebens, bevor sein Ich-Bewußtsein erwacht, aus der Veranlagung dieses Ich heraus sich in die aufrechte, die vertikale Stellung zu bringen, sich herauszuheben aus der Lage, in der er noch in der alten Mondenzeit war. Da war die Richtungslinle seines Rückgrates parallel der Oberfläche des Mondes gerichtet, war in der Hauptlinie horizontal. In der alten lemurischen Zeit lernte der Mensch die Mondrichtung in die Erdrichtung ver­wandeln. Das kam davon, weil während der Erdenentwickelung erst die Geister der Form dem Menschen aus eigener Substanz heraus sein Ich einflößten. Und die erste Manifestation dieser Ich-Einflößung ist jene innere Kraft, durch welche der Mensch sich aufrichtet. So ist der Mensch durch seine Lage der Erde entrissen. Die Erde selber hat in sich geistige Kräfte, welche durchströmen können das Rückgrat, wenn es im natürlichen Wachstum, wie beim Tierleib, horizontal bleibt. Aber die Erde hat keine Kräfte, um von sich aus unmittelbar zu dienen dem Menschenwesen, das durch sein Ich, dessen Bewußtsein später erwacht,

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vertikal gerichtet sein kann. Damit der Mensch sich harmo­nisch entwickeln kann bei aufrechtem, vertikalem Gang, müssen Kräfte aus dem Kosmos, aus dem Außerirdischen hereinströmen. Luzifer und Ahriman hätten alle menschliche Entwickelung in Un­ordnung bringen können dadurch, daß der Mensch durch seine auf­rechte Stellung von den geistigen Kräften des Irdischen herausgerissen ist, wenn nicht in der alten lemurischen Zeit das erste Christus-Ereignis eingetreten wäre.

In dieser alten lemurischen Zeit hat stattgefunden in demjenigen Reiche, das als geistiges Reich das nächste ist unserem Erdenreiche, die Durchdringung jenes Wesens, aber als einer Art von Engeiwesen, das später der nathanische Jesus geworden ist, mit dem Christus-Wesen. Das war eine Vorstufe des Mysteriums von Golgatha. Die Folge davon war, daß in dieser alten lemurischen Zeit - aber in äthe­rischen, geistigen Höhen - der spätere nathanische Jesus, der sonst die Gestalt des Engels gehabt haben würde, natürlich nicht fleischliche, sondern ätherische Menschengestait annahm. In der überirdischen Region - aber in der nächst überirdischen Region - als ätherische Engelsgestalt ist der Jesus von Nazareth zu finden. Durch das Durch­ziehen mit dem Christus hat er ätherische Menschengestait angenom­men. Damit ist ein Neues in den Kosmos hineingedrungen, das jetzt ausstrahlt auf die Erde und dem Menschen, der physischen Erden­Menschenform, in die hineinströmte die Kraft der ätherischen über­irdischen Christus-Wesenheit, möglich macht, sich zu schützen vor jener Zerstörung, die hätte eindringen müssen, wenn nicht aus dem Kosmos hätte hereinstrahlen und den Menschen durchdringen können, so daß sie in ihm lebt, die Gestaltungskraft, die ihn ein aufrechtes, ordent­liches Wesen werden läßt. Unordnung hätte kommen müssen, wenn nicht hereingeströmt wäre mit der physischen Sonnenkraft die Kraft jener Formung, jener Gestaltung, die dadurch hereinstrahlen kann, daß das erste Christus-Ereignis stattgefunden hat. Das, was der Mensch dadurch in sich hereinbekam, das lebte seit der alten lemuri­schen Zeit in der Entwickelung der Menschheit. Und wir schauen recht hin auf ein sich entwickelndes Menschenkind, wenn wir in dem Moment, wo das Kind aus dem kriechenden, rutschenden, unbehllflichen

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Zustande sich aufrichtet und zum ersten Mal steht oder geht, wenn wir in diesem Augenblick sagen: Recht und zum Heil der Menschheit kann das doch nur aus dem Grunde geschehen, weil in der alten lemurischen Zeit das erste Christus-Ereignis stattgefunden hat, weil derjenige, der als nathanischer Jesus sich durchdrungen hat mit dem Christus, damals in der lemurischen Zeit als geistig-äthe­risches Wesen durch die Durchdringung mit dem Christus menschlich­ätherische Form angenommen hat.

Ja, daß wir unsere Empfindungen bereichern, dazu ist Geistes­wissenschaft da. Solch eine Empfindung, die in unserer Seele leben kann, wenn wir ein Kind aufrechtstehen und gehen lernen sehen, solch eine Empfindung hat ganz gewiß tiefe religiöse Hintergründe. Wir sollen uns später öfter erinnern, warum das Kind geht, und dann denken, wie das dem Christus-Impuls zu verdanken ist. Dann haben wir durch Geisteswissenschaft unsere Weltanschauung bereichert, haben uns eine Empfindung angeeignet für das, was unsere Umgebung ist, die wir sonst nicht haben könnten. Wir merken gleichsam durch Geisteswissenschaft die Schützer, die Hüter kindlichen Wachstums und kindlichen Werdens. Wir merken, wie die Christus-Kraft dieses kindliche Wesen und kindliche Werden umstrahlt.

Aus meiner Darstellung aus der Akasha-Chronik für die lemurische Zeit, wo von den lemurischen Vorfahren die Rede ist, werden Sie gesehen haben, daß diese Vorfahren stumm waren. Der atlantische Mensch hat eigentlich erst sprechen gelernt. Es ist in jenen Aufsätzen über die Akasha-Chronik ausgeführt, wie das gekommen ist. Das ist die zweite der Fähigkeiten, die sich das Kind aneignet, bevor das eigentliche Ich-Bewußtsein aufwacht: das Sprechenlernen. Das Er-wachen des Ich-Bewußtseins folgt erst auf das Sprechenlernen. Das Sprechenlernen beruht durchaus bloß auf einer Art Nachahmung, zu der allerdings die Anlagen tief in der menschlichen Natur ruhen. Dieses Sprechen ist wiederum eine menschliche Fählgkeit, die in den Erdenmenschen hineingekommen ist dadurch, daß er sich vorwärts-entwickelt hat. Dadurch, daß die Geister der Form ihn durchgossen, durchdrungen haben, ist er imstande, eine Sprache zu sprechen, sein Erdenleben auf dem physischen Plan zu leben. Damit entreißt er sich

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durch zwei Elemente denjenigen geistigen Kräften, die auf der Erde wirksam sind. Die Tiere lernen nicht in Wirklichkeit sprechen, sie sind von diesen geistigen Kräften der Erde durchdrungen. Selbst das Sprechen durch Gebärden ist bei den Tieren nicht das Sprechen des Menschen. Und würde man durch Dressur oder andere Mittel dem Tiere ein ähnliches Sprechen beibringen, so würden außerhalb seines Leibes Verhältnisse eintreten, die von der Geisteswissenschaft erst besprochen werden müßten, was heute außerhalb unseres Themas bleibt. Wir wollen bei der normalen Entwickelung des Menschen stehenbleiben und sagen, daß dieses menschliche Sprechen schon ver­anlagt war im Menschen aus göttlichen Höhen herunter durch das, was die Geister der Form eingegossen haben. Wir wollen bei diesem stehenbleiben und ausschauen, wie der Mensch sich aus der Stumm­heit zum sprechenden Wesen verwandelt hat. Unabhängig hat er sich dadurch von den Kräften gemacht, die die Erde geistig durchspülen, wie er durch das aufrechte Verhalten sich unabhängig von der ersten Strömung gemacht hat. Durch den luziferischen und ahrimanischen Einfluß hätte im Sprechen alles unedel werden müssen, wenn der Mensch nur der Erde überlassen worden wäre, wenn nicht kosmisch­geistige Einflüsse, die zur Erde herunterkamen, in den Menschen sich hereinergossen hätten. Der Mensch würde seine ganze Lebenskultur so entwickelt haben, alle seine Leibesorgane, Kehlkopf, Zunge, Rachen und so weiter, ja auch die tieferliegenden Organe wie Herz und so weiter, insofern sie damit zusammenhängen, der Mensch würde sie so entwickelt haben in der atlantischen Zeit, wenn nichts ge­schehen wäre durch den Christus, daß der Mensch nur fähig gewesen sein würde, in ärnllichem Lallen auszusprechen - etwa nach Sibyllen­oder Medienart - dasjenige, was ihm egoistisch Schmerz, Freude, Lust, Wollust bereitet. Der Mensch würde zwar viel künstlichere Laute als das Tier hervorbringen können, aber in seinen Lauten würde er nur Ausdrücke gefunden haben für das, was ihm im Innern lebt. Für das, was im Organismus als leibliche Vorgänge vorgeht, würde er die lebendigen Empfindungsworte gefunden haben. Die ganze Sprache wäre eine Summe von Interjektionen geworden. Während wir jetzt unsere Empfindungsworte auf ein kleines Maß zusammendrängen,

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wäre die menschliche Sprachkunst mit aller Kompliziertheit nur zu Interjektionen hinaufentwickelt worden. Das wurde abgewendet von der menschlichen Entwickelung. Die Unordnung in dieser Sprach-kraft - soweit diese Unordnung das Innere des Menschen zum Aus­druck hat - wurde abgewendet durch das zweite Christus-Ereignis, dadurch, daß sich diese Wesenheit in Ätherhöhe, die später der natha-nische Jesusknabe wurde, das zweite Mal durchdrang mit der Christus­Wesenheit, und daß sie eine solche Wesenheit annahm, die nunmehr die Leibesorgane des Menschen so durchdrang, daß der Mensch jetzt fähig wurde, etwas anderes als bloße Empfindungsworte auszustoßen. Daß er fähig wurde, das Objektive zu ergreifen, das ist durch das zweite Christus-Ereignis ermöglicht worden.

Und noch immer stand die Sprache, die Sprachkraft, die menschliche Fähigkeit, Gemütsbewegungen in Worte umzuprägen, vor einer Ge­fahr. Durch das zweite Christus-Ereignis hätte es wohl geschehen können, daß der Mensch nicht nur Töne, Interjektionen, Empfin­dungsworte gefunden hätte für sein Inneres, sondern daß er in ge­wisser Weise hätte loslösen können das, was er als innere Sprach-bewegung hervorgerufrn hat. Aber die äußeren Dinge durch Worte zu bezeichnen, so daß die Worte richtige Zeichen sein können für die äußeren Dinge, das war immer noch gefährdet durch die luziferischen und ahrimanischen Einflüsse bis in die atlantische Zeit hinein. Da ge­schah das dritte Christus-Ereignis. Zum dritten Mal verband sich die Wesenheit in den geistigen Höhen, welche später als nathanischer Jesus geboren wurde, mit der Christus -Wesenheit, und ergoß sich wiederum mit den Kräften, die sie jetzt angenommen hatte, in die menschliche Sprachfähigkeit. Die Kraft dieser Christus Jesus-Wesen­heit durchdrang jetzt neuerdings ein zweites Mal im menschlichen Leibe Organe, insofern diese Organe in der Sprachkraft zum Aus­druck kommen. Damit war der Sprachkraft die Möglichkeit gegeben, mit den Worten wirkliche Zeichen zu schaffen für das, was äußere Umgebung ist, und dadurch über die einzelnen Gebiete der Mensch­heit die Sprache als Verständigungsmittel zu schaffen. Das Kind könnte nimmermehr sprechen lernen, wenn nicht in der atlantischen Zeit diese beiden Christus-Ereignisse eingetreten wären. Und wir

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bereichern wiederum durch die Geisteswissenschaft unser Empfinden, wenn wir, wenn das Kind anfängt zu sprechen und immer mehr sich vervollkommnet im Sprechen, wenn wir da bedenken, wie im Un­bewußten drinnen walten die Christus-Impulse, wie da beschützend und fördernd die Christus-Kraft in der Sprachkraft lebt.

Dann kam die nachatlantische Zeit, nachdem die drei Christus-Ereignisse stattgefunden hatten, die ich von einem gewissen Stand­punkte auch heute wiederum geschildert habe in ihrem Einfluß auf die menschliche Entwickelung.

In der nachatlantischen Entwickelung haben zunächst die Völker, die vorzugsweise jenem menschlichen Entwickelungszustande an­gehörten, den wir die ägyptisch-chaldäische Kultur nennen, die Auf­gabe, zu wiederholen, was in der alten lemurischen Zeit für die Menschheit geschehen ist, aber das mit Bewußtsein zu durchdringen. Ganz unbewußt lernt der Mensch ein aufrechtes Wesen zu sein in der lemurischen Zeit, lernt er ein sprechendes Wesen zu sein in der atlan­tischen Zeit. Ganz unbewußt nimmt er, weil seine Denkkraft noch nicht erwacht war in dieser Zeit, den Christus-Impuls auf. Langsam sollte er hingeführt werden in der nachatlantischen Zeit, zu verstehen, was er in der Vorzeit unbewußt aufgenommen hatte. Was ihn aufrecht hinausschauen ließ in kosmische Höhen, das war der Christus-Impuls. Er erlebte dies unbewußt, wie er es erleben mußte in der lemurischen Zeit. Dann sollten, noch nicht vollbewußt, aber doch wie in einer Vorbereitung zum vollen Bewußtsein, die Völker Ägyptens hingeführt werden, zu verehren dasjenige, was in der Aufrichtekraft des Men­schen lebt. Daß sie es verehren lernten, dafür sorgten die Eingeweihten, welche die ägyptische Kultur zu beeinflussen hatten, dadurch, daß sie die Menschen aufrichten ließen die Pyramiden, die von der Erde in den Kosmos hinausragen. Jetzt noch haben wir zu bewundern, wie durch das Hereinwirken der kosmischen Kräfte in die ganze Form und Lage des Baues der Pyramiden diese Aufrichtekraft zum Ausdruck gebracht wurde. Die Obelisken sollten hingestellt werden, damit der Mensch anfängt einzudringen in dasjenige, was Aufrichtekraft ist. Die wunderbaren Hieroglyphen in den Pyramiden und an den Obelisken, die auf den Christus hindeuten sollten, erweckten die überirdischen

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Kräfte aus der lemurischen Zeit. Aber selbst zu einem solchen dunkeln Verständnis, wie die Ägypter kommen konnten bezüglich der Auf­richtekraft, konnten sie nicht kommen bezüglich der Sprachkraft. Da sollte erst ihr Gemüt die richtige Schulung für die Empfindung er­langen, damit in späteren Zeiten man einsehen könne das Rätsel, wie der Christus lebt in der Wortbegabung des Menschen. Das sollte auf­genommen werden mit der heiligsten Scheu in der reifenden Men­schenseele. Dafür sorgten in wunderbarer Art die Hierophanten, die Eingeweihten der ägyptischen Kultur, indem sie hinstellten die rätsel­hafte Sphinx mit ihrer stummen, höchstens für die damalige mensch­liche Erhebung unter dem Binflusse des Kosmos tönenden, ehernen Gestalt. Im Anblicke der stummen, nur vom Kosmos herein unter gewissen Voraussetzungen und Beziehungen durch die aufgehende Sonne tönend werdenden Sphinx, bildete sich heraus jene heilige Scheu der Seele, durch welche die Seele vorbereitet wurde zu ver­stehen die Sprache, die gesprochen werden mußte in der Zeit, als zu höherem Bewußtsein gebracht werden sollte, wie der Christus-Impuls nach und nach in die irdische Menschheitsentwickelung hereinkommt. Was die Sphinxe noch nicht sagen konnten, wozu sie aber vor­bereiteten, das sollte der Menschheit gesagt werden. In der Bildung der Wortbewegung liegt der Christus-Impuls. Dies wurde der Mensch­heit gesagt in den Worten:

Im Urbeginne war das Wort,
Und das Wort war bei Gott,
Und ein Gott war das Wort.
Dieses war im Urbeginne bei Gott.
Dort war es, wo alles entstanden ist,
Und nichts ist entstanden
Außer durch das Wort.
Im Worte war das Leben,
Und das Leben war
Das Licht der Menschen.

«Im Worte war das Leben, und das Leben war das Licht der Men­schen» - dieses Wort steht an der Stelle, wo das Evangelium herausgeboren

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ist aus der vierten nachatlantischen Periode, wo vorbereitet durch die griechisch-lateinische Kultur die Menschen dahin gekom­men waren, zu wiederholen in der vierten nachatlantischen Kultur-periode, was sich in der atlantischen Zeit zugetragen hat. Wie in der ägyptischen Zeit wiederholt wurde die Verehrung des Sich-Aufrich­tens, so wurde jetzt wiederholt die Verehrung des Wortes. So wirken in die Menschheitsentwickelung hinein die übermenschlichen spiri­tuellen Kräfte.

Ein Drittes, was das Kind lernen muß, bevor es eigentlich zum Ich­Bewußtsein erwacht, ist das Vorstellen, das Denken. Dieses Denken war erst aufgespart für die Menschheit der nachatlantischen Zeit, ja sogar im Grunde genommen erst für die Menschheit der vierten nach-atlantischen Periode. Vorher dachte man in Bildern. Das werde ich gerade wiederum darstellen in dem Buche, das demnächst erscheint:

«Die Rätsel der Philosophle.» Das Kind denkt ja auch in Bildern. Den Gedanken zu denken ist der Menschheit erst gegeben, das Gedanken-Denken ist erst erwacht im 6. und 7. Jahrhundert vor Christus. Dann hat sich das Gedanken-Denken immer weiter ausgebildet. Jetzt stehen wir mittendrin. So ist die Entwickelung des Gedanken-Denkens, daß von diesem Gedanken-Denken unser Ich ergriffen wird. Daß auch das Denken verbunden sein kann mit dem Christus-Impuls, daß das Denken als solches nicht in Unordnung gekommen ist in seiner Wirk­samkeit auf das Ich, dazu war das vierte Christus-Ereignis, das Myste­rium von Golgatha, da. Und wenn unser Denken immer mehr in Ordnung kommen soll, wenn es sich immer mehr so entwickeln soll, daß unsere Gedanken nicht chaotisch durcheinander gehen, sondern von innerem Gefühl, innerer Empfindung durchdrungen, durchsetzt sind, wenn gesundes Wahrheitsdenken immer mehr und mehr ent­wickelt werden soll, so geschieht dies deshalb, weil durch das Myste­rium von Golgatha, das vierte Christus-Ereignis, dieses Denken den Impuls dazu erlangt hat, dadurch erlangen konnte, daß der Christus-Impuls sich in die geistige Erdenatmosphäre ausgegossen hat.

Zum ersten Mal geschah dies in der lemurischen Zeit, da von Luzifer der aufrechten Wesenheit des Menschen Gefahr drohte.

Zum zweiten Mal geschah es in der atlantischen Zeit. Da wurde der

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Mensch der Gefahr entrissen, die seiner Sprache drohte in bezug darauf, daß die Sprache Ausdruck von innen heraus ist. Die Gefahr bestand, daß die Sprache in Unordnung kommt.

Zum dritten Mal geschah es gegen Ende der atlantischen Zeit. Da-durch, daß der Christus die geistige Wesenheit des späteren Jesus von Nazareth durchdrang, wurde die Sprachbegabung, insoferne sie zum Zeichen wird für die Außendinge, durch den Christus vor einer Gefahr gerettet.

Die vierte Gefahr war für das Denken, das innerliche Vorstellen der Gedanken da. Der Mensch wird vor dieser Gefahr gerettet durch das Eindringen mit den Gedanken auf solche Formen, die in seinem Innern leben - wie das jetzt sein kann, wenn er es haben will und sich dazu vorbereitet in der Geisteswissenschaft -, auf solche Formen wie das, was ausgefiossen ist durch das Mysterium von Golgatha in die geistige Erdensphäre.

Wir sind jetzt so weit in der Menschheitsentwickelung, daß auch noch in einer anderen Form die ersten Worte des Johannes-Evange­liums ausgesprochen werden dürfen; daß sie ausgesprochen werden dürfen in der Form:

Im Urbeginne ist der Gedanke,
Und der Gedanke ist bei Gott,
Und ein Göttliches ist der Gedanke.
In ihm ist Leben,
Und das Leben soll werden das Licht meines Ich.
Und scheinen möge der göttliche Gedanke in mein Ich,
Daß die Finsternis meines Ich ergreife
Den göttlichen Gedanken.

Es wurde nicht ganz klar ausgesprochen, aber es wurde so gestrebt in der Menschheitsentwickelung.

Im 8. Jahrhundert der vorchristlichen Zeit begann die vierte nachatlantische Kultur. Etwa dreieinhalb Jahrhunderte danach war der Gedanke so weit reif, daß er in den griechischen Philosophen mit jener Klarheit ausgesprochen werden konnte, die dann zur platonischen Philosophie führte. Dann wurde das Leben der Menschen durchdrungen

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mit dem Christus-Impuls. Als das 15. nachchristliche Jahr­hundert begann, da begann die fünfte nachatlantische Periode. Genau­so lange, wie es dauerte vom Beginn der vierten nachatlantischen Pe­riode bis zu einem Verständnis des Gedankens, so lange dauerte es vom Beginn der fünften nachatlantischen Periode bis zu einer bewußten Aussprache von der Natur des Gedankens, das heißt bis zu HegeL Der menschliche Gedanke erlebte seinen Höhepunkt in Hegel mit dem Satze: Das Leben und Weben des Gedankens in der Wahrheit ist der wirkende Geist. - Das, was Hegel in so scheinbar ganz unverständ­licher Weise sagt, man kann es aussprechen wirklich mit den Worten:

Im Urbeginne ist der Gedanke,
Und ein Unendliches ist der Gedanke,
Und das Leben des Gedankens ist das Licht des Ich.
Erfüllen möge der leuchtende Gedanke
Die Finsternis meines Ich,
Daß ihn die Finsternis meines Ich ergreife,
Den lebendigen Gedanken,
Und lebe und webe in seinem göttlichen Urbeginn.

So geht regelmäßig die Entwickelung der Menschheit. Noch nicht sehr weit ist die Menschheit gekommen, denn gerade Hegel wurde sehr viel verleumdet. Man kann wohl sagen: Und der leuchtende Gedanke schlen zwar in die Finsternis, aber die Finsternis wollte nichts davon wissen. - Wenn man sein Leben begreifen lernt, das Leben des Gedankens, dann wird man verstehen, was der Menschheit obliegt in ihrem ferneren Dasein.

Aber zugleich haben wir, indem wir auf dem Boden der Geistes­wissenschaft stehen, noch ein Weiteres. Spätere Epochen bereiten sich immer schon in den früheren Epochen vor. Und indem wir mittendrin stehen in der fünften nachatlantischen Periode, indem wir Geistes­wissenschaft pflegen und immer mehr und mehr zum Verständnis des lebendigen Gedankens, des hellseherisch werdenden Denkens bei­zutragen haben, haben wir zugleich die sechste nachatlantische Periode vorzubereiten.

Wie in die Gedanken das Leben hereinströmt durch den Christus-Impuls,

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so wird er noch in etwas hereinströmen, was zur menschlichen Seelenfähigkeit gehört und was nicht verwechselt werden darf mit dem bloßen Gedanken. Aus dem Unbewußten heraus entwickelt das Kind seine Fähigkeiten. Indem es zum Ich-Bewußtsein kommt, tritt es in die Sphäre ein, wo es sich aneignen kann, wo es entwickeln muß dasjenige, was von außen hereinkommen kann durch den Christus-Impuls. Wir können, wenn das Kind gehen gelernt hat, wenn es sprechen gelernt hat, und wenn es beginnt mit dem Denkenlernen sich durchzuarbeiten zu dem Ich, wir können es allmählich schon sehen, wie der bewußte Christus-Impuls, der durch das Mysterium von Gol­gatha hereingekommen ist, auf das Kind wirkt. Die Menschheit kann heute in etwas anderes, was in ihrem Seelenvermögen liegt, den Christus-Impuls noch nicht hineinnehmen. Hineinzuleiten diesen Christus-Impuls in das aufrechte Gehen, in Sprechen und Denken, das ist durch dasjenige möglich, was seit Jahrtausenden für die Men­schen da ist mit der Menschheitskultur. In ein viertes Element hinein­zuleiten den Christus-Impuls, vorzubereiten dieses Hineinleiten in ein viertes menschliches Vermögen, daran müssen wir auch denken, wenn wir uns im rechten Sinn auf den Boden der Geisteswissenschaft stellen. Daran müssen wir auch denken! Wo hinein der Christus-Impuls noch nicht geleitet werden kann, wo hineingeleitet zu werden er sich aber vorbereitet, das ist die menschliche Erinnerung, das Er­innern des Menschen. Denn außer dem Aufrechtgehen und -stehen, dem Reden oder Sprechen, dem Denken, tritt jetzt die Christus-Kraft in das Erinnern ein. Wir können verstehen den Christus, wenn er durch die Evangelien zu uns spricht. Aber wir werden als Menschen erst dazu vorbereitet, daß der Christus auch eintritt in die Gedanken, die dann als erinnerte Gedanken und Vorstellungen in uns leben und sind und so weiter in uns leben. Und eine Zeit wird herankommen für die Menschheit, die allerdings erst vollständig werden wird in der sechsten größeren Periode der Menschheitsentwickelung, aber jetzt sich vorbereitet, wo die Menschen hinsehen werden auf das, was sie erlebt und erfahren haben und was als Erinnerung in ihnen lebt, und werden sehen können, daß in der Kraft des Erinnerns der Christus mit-lebt. Durch jede Vorstellung wird der Christus sprechen können. Und

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auch wenn wir unsere Vorstellungen in der Erinnerung wiederbeleben, so wird in der Erinnerung, in dem, was so eng, sointim mit uns verbun­den ist wie unsere Erinnerung, der Christus mit verbunden sein. Zu­rückblicken wird der Mensch können auf sein Leben und sagen wird er sich: So wie ich mich erinnere, so wie die Kraft des Gedächtnisses in mir lebt, so lebt in diesem Gedächtnis der hineingegossene Christus-Impuls. Der Weg, der den Menschen geboten wird, immer mehr und mehr wahr zu machen die Worte: Nicht ich, der Christus in mir, - der Weg wird dadurch geebnet, daß in die Erinnerungskraft allmählich der Christus-Impuls einziehen wird. Er ist jetzt noch nicht darinnen. Wenn er darinnen sein wird, wenn nicht nur im Verständnis des Men­schen der Christus-Impuls lebt, sondern wenn der Christus-Impuls sich über den ganzen Saum, über den ganzen Streifen von Erinne­rungen ausgießen wird, dann wird der Mensch zum Beispiel nicht nur angewiesen sein darauf, aus äußeren Dokumenten Geschichte zu ler­nen, denn dann wird sich seine Erinnerungskraft erweitern. Der Christus wird in dieser Erinnerung leben. Und der Mensch wird dadurch, daß der Christus in seine Erinnerungskraft eingezogen ist, dadurch, daß der Christus in der Erinnerungskraft lebt, der Mensch wird dadurch wissen, wie bis zum Mysterium von Golgatha hin der Christus außerirdisch gewirkt hat, wie er es vorbereitet hat und durch­gegangen ist durch dieses Mysterium von Golgatha, und wie er als Impuls weiterwirkt in der Geschichte. So wahr und wirklich wird der Mensch das überschauen, wie jetzt im gewöhnlichen Leben die Er­innerung da ist. Man wird die irdische Entwickelung der Menschheit nicht anders überschauen können innerlich als so, daß man dann den Christus-Impuls im Mittelpunkt erblickt. Alle Erinnerungskraft wird durchsetzt und zugleich verstärkt werden durch das Eindringen des Christus-Impulses in die Gedächmiskraft, in die Erinnerungskraft. In der Zukunft kann für uns, die wir das Christentum lebendig erfassen sollen, auch das noch Geltung haben:

Im Urbeginne ist die Erinnerung,
Und die Erinnerung lebt weiter,
Und göttlich ist die Erinnerung.

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Und die Erinnerung ist Leben,
Und dieses Leben ist das Ich des Menschen,
Das im Menschen selber strömt.
Nicht er allein, der Christus in ihm.
Wenn er sich an das göttliche Leben erinnert,
Ist in seiner Erinnerung der Christus,
Und als strahlendes Erinnerungsleben
Wird der Christus leuchten
In jede unmittelbar gegenwärtige Finsternis.

Wir werden sagen können: Der Christus ist in unserem inneren Seelenleben. Das wird mancher von uns empfinden dadurch, daß wir lernen, uns mit dem Christus-Impuls zu verbinden durch die Erinne­rung, wie der Mensch als Kind gelernt hat sich aufzurichten, zu sprechen, indem er sich mit dem Christus-Impuls verbunden hat. Mancher von uns empfindet auch dadurch, daß wir unser Erinne­rungsvermögen in dem Zustand, wie wir es jetzt haben, wie eine Vor­bereitung betrachten, etwas, das in Unordnung kommen würde in Zukunft, wenn es nicht den Willen hätte, sich von dem Christus-Impuls durchdringen zu lassen. Würde es einen Materialismus auf der Erde geben, der den Christus ableugnet, dann würde die Erinnerung in Unordnung kommen. Dann würden immer mehr und mehr Men­schen auftreten, deren Erinnerung chaotisch würde, die dumpfer und dumpfer sein würden in ihrem finsteren Ich-Bewußtsein, wenn nicht Erinnerung in dieses finstere Ich-Bewußtsein hereinleuchten würde. Unser Erinnerungsvermögen kann nur dann sich richtig entwickeln, wenn der Christus-Impuls richtig geschaut wird. Dann wird Ge­schichte wie eine lebendige Erinnerung so leben, daß in die Erinnerung das Verständnis für die wahren Geschehnisse dringt. Dann wird die menschliche Erinnerung den Mittelpunkt des Weltgeschehens ver­stehen. Dann macht sich für den Menschen das Schauen geltend. Die gewöhnliche Erinnerung, die auf ein Leben sich nur richtet, die wird sich ausdehnen auf die vorhergehenden Inkarnationen. Erinnerung ist jetzt eine Vorbereitung, aber ausgestaltet wird sie durch den Christus. Ob wir nach außen blicken, wie wir uns als Kind heraufentwickelt

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haben noch unbewußt, ob wir dann nach innen blicken, ob wir durch weitergehende Vertiefung unseres Innern bis zu dem, was als unser Inneres in der Erinnerung bleibt, hineinblicken, überall sehen wir die lebendige Kraft und Wirksamkeit des Christus-Impulses.

In dem neuen Christus-Ereignis, das jetzt nicht physisch, aber äthe­risch herankommt, das zusammenhängt mit der ersten Entfachung der Erinnerungsfählgkeit, mit der ersten Enifachung des Durchchristet­werdens der Erinnerung, wird dieses Christus-Ereignis so sein, daß der Christus als engelartiges Wesen an den Menschen herantreten wird. Darauf müssen wir uns vorbereiten.

So soll uns Geisteswissenschaft nicht etwa bloß mit Theorien be­reichern, sondern sie soll in uns etwas ergießen, was uns fähig macht, dasjenige, was in der Welt herantritt an uns, und das, was wir selber sind, mit anderen Empfindungen und Gefühlen aufzunehmen. Unser Gefühls- und Empfindungsleben kann bereichert werden, wenn wir in richtigem Sinne durch Geisteswissenschaft eindringen in das Wesen des Christus-Impulses und sein Walten im Menschen und in der geistigen Wesenheit des Menschen. Gut ist es, wenn wir oft daran denken:

Im Urbeginne war die Kraft der Erinnerung.
Die Kraft der Erinnerung soll werden göttlich,
Und ein Göttliches soll werden die Kraft der Erinnerung.
Alles, was im Ich entsteht,
Soll werden so,
Daß es ein Entstandenes ist

Aus der durchchristlichten, durchgöttlichten Erinnerung.

In ihr soll sein das Leben,
Und in ihr soll sein das strahlende Licht,
Das aus dem sich erinnernden Denken
In die Finsternis der Gegenwart hereinstrahlt.
Und die Finsternis so, wie sie gegenwartig ist,
Möge begreifen das Licht der göttlich gewordenen Erinnerung.

Wenn wir den Sinn solcher Worte in uns aufnehmen, dann nehmen wir etwas auf, was sich für uns Menschen geziemt aufzunehmen. Wie

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die Pflanze den Keim für das nächste Pflanzenleben bildet, so lernen wir in uns empfinden nicht nur mit den Früchten, die uns aus früheren Inkarnationen kommen, sondern so zu empfinden, daß wir verstehen, herüberzugehen in die folgenden Inkarnationen. In den folgenden In­karnationen würde es um unser Erinnerungsvermögen schlecht stehen, wenn wir uns nicht mit dem Christus-Impuls durchdringen würden. Noch ist das Denken im spärlichsten Maße durchdrungen von dem Christus-Impuls und schon tritt er heran an die Erinnerung. Lernen wir aus der Geisteswissenschaft heraus nicht nur für den zeit­lichen Menschen zu leben, der zwischen Geburt und Tod lebt, sondern lernen wir für jenen Menschen zu leben, der durch immer wieder­kehrende Inkarnationen geht. Und lernen wir durch Geisteswissen­schaft, was uns sein kann für das volle Ausleben der eigenen mensch­lichen Seele das richtige Verstehen und Verständnis, das richtige Emp­finden, das richtige Fühlen des stärksten Impulses in der ganzen Menschheitsentwickelung: des Christus-Impulses.

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DER CHRISTUS-GEIST UND SEINE BEZIEHUNGEN ZUR BEWUSSTSEINSENTWICKELUNG DIE DREI GEISTIGEN VORSTUFEN DES MYSTERIUMS VON GOLGATHA München, 30. März 1914

Alles, was in unsere Arbeiten hereintritt, kristallisiert sich schließlich um den einen Punkt: den Zusammenschluß zu finden mit den geistigen Mächten, welche die Menschheit vorwärtsbringen. Von diesem Ge­sichtspunkte aus wurde hier immer wieder gesprochen von der Bedeu­tung der Christus -Wesenheit in der Welt. Heute möchte ich einige Worte zu Ihnen sprechen, welche geeignet sein sollen, unsere Vor­stellungen über diesen Christus-Impuls und seine Beziehungen zu uns Menschen immer wichtiger zu gestalten. Wir müssen uns, wenn wir diesen Christus-Impuls in seiner Wahrheit erfassen wollen, schon dazu bequemen, über mancherlei nachzudenken. Man hört in unserer Zeit wohl nichts mehr, als da und dort den Gedanken äußern, man solle alles Schulmeisterliche, Pedantische, alles Lehrhafte zurückdrängen und das lebendige Leben ergreifen in Kunst und Weltanschauung. Es äußern so viele Geister der Gegenwart ihre Ermüdung gegenüber allem Lehrhaften. Merkwürdig ist nur, daß, sowie Angelegenheiten der Weltanschauung zur Sprache kommen, man immer wieder in die Sehnsucht nach dem Lehrhaften zurückfällt.

Wir haben hören müssen, wie gesprochen wird von Christus wie von einem Weltenlehrer; ich habe einmal den Ausdruck gebraucht: «übermenschlicher Weltenschulmeister». Viele fühlen sich wohl, wenn sie so denken können, mit Christus sei jemand, der etwas gelehrt hatte, in die Welt gekommen. Demgegenüber haben wir immer wieder den Lebenscharakter, den Kraftcharakter des Christus-Impulses be­tont. Durch das, was bei der Jordantaufe geschah, hat eine Wesenheit in das irdische Leben den Weg gefunden, dadurch, daß sie das Schick­sal der Menschheit drei Jahre lang teilte. Dann strömte sie aus in die Erdenaura und wirkt da seitdem fort.

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Wenn man auf dieses Christus-Ereignis hinblickt, muß man sagen, dieses Ereignis von Golgatha ist ein einmallges Erlebnis in der Erden-entwickelung. Gegenüber der Erdenentwickelung hat sich dies einmal vollzogen, aber das Christus-Ereignis hat sich vorbereitet in der geistigen Welt.

Obwohl es durch und durch falsch ist, wenn man in einem anderen Leib die Christus -Wesenheit anwesend denkt, muß man doch hin­weisen auf ein vorbereitendes Ereignis in der Entwickelung der Welt, namentlich auf drei vorbereitende Ereignisse, Vorstufen des Ereig­nisses von Golgatha. Sie haben sich in überirdischen, rein geistigen Welten abgespielt.

Ich sprach von den beiden Jesusknaben, dem salomonischen und dem nathanischen Jesusknaben. Der salomonische trug das Ich des Zarathustra in sich. Es ging in den anderen Knaben über und lebte da vom zwölften bis zum dreißigsten Jahre. Dann wurde die Hülle erfüllt von der Christus -Wesenheit. Dieser nathanische Jesus, auch er ist, das muß ausdrücklich erwähnt werden, so wie er geboren wird am Beginn unserer Zeitrechnung, in einem Menschenleibe zum ersten Mal richtig verkörpert in der Welt. Denn die Vorstufen seines Daseins verlebte er in geistigen Welten. Er war vorher niemals richtig in einem menschlichen Leibe verkörpert. Die Beziehung zu Krishna war nicht eine richtige Verkörperung, sondern eine stellvertretende Ver­körperung. Wenn wir die Wesenheit dieses späteren nathanischen Jesus vor uns stellen, müssen wir zu den Engelwesen schauen und können sagen: Bevor der Christus auf der Erde erschien, war er nicht verkörpert, sondern verseelt dreimal vorhanden in der geistigen Welt, aber in jeder dieser drei Daseinsstufen trat für ihn immer wieder etwas ein, ähnlich dem Ereignis von Golgatha. Die Vorankündigungsstufen von Golgatha müssen wir also in den geistigen Welten suchen. Jedes dieser Ereignisse hat eine tiefe Bedeutung für das ganze Leben der Menschen auf der Erde. Das, was wir da erleben, wird nicht be­einflußt von dem nur, was innerhalb der physischen Erde geschieht, sondern auch aus geistigen Welten. Was durch die drei Vorstufen bewirkt wurde, wurde von außen herein bewirkt.

Als die Menschheit in der lemurischen Epoche lebte, war schon der

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luziferische Einfluß über sie niedergegangen. Er sandte gleichsam seine Kraftstrahlen in die Menschennatur hinein. Die Wirkung war darinnen. Der Mensch mußte sich da anders entwickeln, als wenn kein luziferischer Einfluß gekommen wäre. Der Mensch war sozusagen infiziert mit dem luziferischen Impuls. Wir können aus der Geistes­wissenschaft heraus sagen, was dieser luziferische Einfluß bewirkt hat. Wäre er so stark geblieben wie in Lemurien, wäre mit unserer Men­schennatur etwas geschehen, was sie in große Gefahr gebracht hätte. Es wäre geschehen, was man etwa so charakterisieren könnte: Die zwölf Sinneskräfte - denn es sind zwölf - des Menschen hätten sich so gestaltet, daß der Mensch übersensitiv geworden wäre. Während wir jetzt das Rot der Rose so betrachten, daß es im Anschauen objektiv auf uns wirkt, würde dann das Rot wie mit Stacheln in unsere Augen eindringen, Blau würde an unserer Sehkraft saugen. Wir würden über­sensitiv sein. So würde es auch mit dem Gehör und allen Sinnes-empfindungen eines Menschen sein. Wir würden nichts wahrnehmen können, ohne Schmerz oder Wollust zu empfinden. Dem ging die Menschheit durch Luzifer entgegen. Das sahen die Wesenheiten der höheren Hierarchien. So wie der nathanische Jesus später lebte, war er in der lemurischen Zeit in der Geisteswelt vorhanden in einerEngel­wesenheit, und ihm war es vorgesetzt, sich mit der Christus -Wesen­heit zu durchdringen. Während die Hüllen später durchdrungen wur­den mit der Christus -Wesenheit, wurde damals das seelische Element dieses Engelwesens durchgeistigt von dem Christus-Impuls. Damals senkte sich schon der Christus-Impuls in die Seele des späteren natha-nischen Jesus herab. Das geschah in der Geisteswelt, aber die Strahlen, die davon ausgingen, breiteten sich über die Erde und besänftigten die überempfindlichen menschlichen Sinne, so daß die Gefahr beseitigt wurde, daß die Menschen nur unter Schmerz und entwürdigender Wollust das Sinnliche hätten erblicken können. So blicken wir auf den ersten Vorboten des Ereignisses von Golgatha und sagen uns: Wir sind in bezug auf unsere zwölf Sinne dadurch so geworden, daß der Christus sich in die Seele des späteren nathanischen Jesus senkte und das menschliche Sinneswesen besänftigte.

Dann in der atlantischen Zeit kam durch den allmählich mit dem

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luziferischen Einfluß sich verbindenden ahrimanischen Einfluß wieder­um eine Gefahr in das menschliche Leben. Während in Lemurien die Sinne vor einer Gefahr standen, standen jetzt in der ersten Zeit von Atlantien die Lebensorgane und der Atherleib des Menschen in Ge-fahr. Diese Organe eines von dem Einfluß von Luzifer und Ahriman durchsetzten Ätherleibes hätten sich so entwickelt, daß der Mensch eine dem Menschenwesen unwürdige Gestalt angenommen hätte. Alles hätte so gemacht werden müssen, daß der Mensch das ihm Nütz­liche mit Gier verfolgt hätte und das, was ihm nicht zuträglich, nur unter Ekel hätte anschauen können. Zwischen Gier und Ekel wäre das menschliche Leben verlaufen. Alle Organe wären so gestaltet worden, daß der Mensch sich wie ein wildes Tier in entwürdigender Weise über das gestürzt hätte, was er aufnehmen mußte, und unter Ekel tief sich erniedrigt gefühlt hätte unter dem, was ihm nicht zuträglich. Daß das nicht so wurde, rührt her von der zweiten Vorstufe des Ereignisses von Golgatha. Die Gefahr war so, daß selbst beim Atmen der Mensch mit Gier die Atemluft geschöpft hätte und daß sich in einer furcht­baren Weise geäußert hätte jedes Aufleuchten von etwas für ihn Un­geeignetem, unter furchtbaren Ekelausbrüchen. Da war es das zweite Mal, daß diese Engelwesenheit durchdrungen wurde mit dem Christus-Impuls und dadurch Kraftstrahlen in die Erdenaura kamen und des Menschen Leben besänftigten.

Gegen Ende der atlantischen Zeit entwickelte sich die dritte Vor-stufe. Wieder stand die Menschheit vor einer großen Gefahr. Jetzt sollte das Denken, Fühlen und Wollen untereinandergebracht werden. Die Seelenäußerungen sollten disharmoniert werden, so daß der Mensch nicht in geordneter Weise das Denken, Fühlen und Wollen hätte entwickeln können, sondern daß diese sich wie wahnsinnig untereinander gerührt hätten. Das wurde durch die dritte Vorstufe abgewendet. Noch einmal durchdrang sich die Wesenheit, die später der nathanische Jesus wurde, mit dem Christus-Impuls, und Ordnung und Harmonie wurde in den Zusammenklang von Denken, Fühlen und Wollen hineingebracht. Das empfand man noch lange in nach-atlantischer Zeit. In Zeiten, die unserer Gedankenentwickelung voran-gingen, gestalteten sich schon die Vorboten eines Bildes, das in unsere

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Zeit hereinragt, aber noch nicht richtig verstanden wird. Als am Ende der atlantischen Zeit Christus durchseelte diese Seele, welche später Jesus von Nazareth wurde, bewirkte dies, daß es eine Wesenheit gab, welche immer Herr wurde über die wild durcheininderstürmenden Affekte, Sieger wurde über das zu dichten Gebilden werdende Denken, Fühlen und Wollen. Das stellte sich die Menschheit hin in dem Bilde vom heiligen Georg oder dem heiligen Michael, dem Drachen­besieger. Das ist unmittelbar der imaginative Ausdruck des dritten Vorboten des Ereignisses von Golgatha.

Die Griechen, welche in ihren Vorstellungen belebten, was herüber-leuchtete aus den Geheimnissen vonAtlantien, schufen sich einGötter­bild von dem Wesen, das in Atlantien tätig war. Sie verehrten in Apollo den Geist, von dem sie sich vorstellten: das ist Er, der durch­drungen ist mit dem Sonnengeist. Sie nannten es nicht Christus, aber auf den Namen kommt es nicht an. Sie verehrten in ihrem Sonnen-dienst die dritte Vorstufe des Ereignisses von Golgatha und drückten das äußerlich aus, indem sie in den wichtigsten Angelegenheiten sich Rat holten bei den Priestern des Apollo. Sie wußten, diese Griechen, daß in die Geheimnisse des Daseins hineingewebt ist, was in der Erdenaura webt, und wie es Denken, Fühlen und Wollen in Ordnung gebracht hat. Sie fühlten es so mit der Erde verbunden, daß sie sagten:

Aus der Erde stieg in dichter Form das auf, was, wenn es nicht durch Apollo besiegt worden wäre, Denken und Fühlen und Wollen in Unordnung gebracht hätte. Aber Apollo bringt Ordnung hinein, so daß aus der Erdenaura statt Disharmonie, statt Wahnsinn, in Denken, Fühlen und Wollen Weisheit übergeht.

Sie schauten nach jener Gegend, wo aus der Erde heraufdrang der Dampf, den sie bannten, in ihrem Heiligtum auffingen, um über die Öffnung die Priesterin des Apollo zu setzen, durch die er selbst so sprach, daß es sich durch seine Weisheit umsetzte in Orakel, in Rat­schläge für die Angelegenheit jener, welche diese Weisheit suchten. Wie Georg und Michael im Bilde erscheinen, so Apollo in seinem Heiligtum, den durch ihn Redenden Weissagungen in die Seele gießend.

Oh, das Christentum ist uralt! Nicht auf den Christus-Namen

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kommt es an. Apollo-Dienst verehrte Christus, den Sonnengeist, so daß in dieser Verehrung das Bewußtsein liegt von der dritten Vor­stufe des Ereignisses von Golgatha.

Dann kam die Zeit, wo die Menschheit vor einer vierten großen Gefahr stand. In Lemurien stand der physische Leib vor einer Gefahr, dann in Atlantien die Ätherorgane und die astrallschen Organe. Jetzt war es das Ich, das in Unordnung kommen sollte. Das bereitet sich so vor, daß zur Zeit, als das Ich den Menschen ergreifen sollte im griechi­schen Gedankenleben, sich in einer ganz sonderbaren Erscheinung zeigt, daß alle Bedingungen vorhanden sind, Unordnung in das Ich zu bringen. Man wird nach und nach erst verstehen, wie sich das, was dieses Ich hervortreiben sollte, in griechischer Philosophie und so weiter entwickelt. Ich versuchte schon darzustellen, wie das Ich er­wachte. Es zeigt sich durch Betrachtung der Philosophie, die im Ge­dankenleben des Plato und Aristoteles gipfelt, wie das Ich allmählich herankommt. Als Thales, Pherekydes von Syros, Anaxagoras die großen Gedanken erst ins Leben riefen, da ging parallel eine Erscheinung, die von Griechenland sich über die griechische Welt verbreitete: da ging parallel dem Herankommen des Ich das Sibyllentum. Überall machten sich die Sibyllen geltend. Sie sprachen zuweilen große Weis­heiten für die Zukunft aus, aber zum Teil auch Wahnsinniges. Alles das, was das Ich in Unordnung bringen kann, wie das Ich in Un­ordnung kommen muß ohne den Christus-Impuls, drückte sich in ihren Weissagungen aus. Zweierlei bereitete sich vor: Propheten, Vorbereiter für den Christus-Impuls, welche in reiner seelischer Ver­tiefung die junge Christus-Kraft aufzunehmen suchen, die in geordne­tem Gedankenleben das durchmachen, was in der Menschheits­entwickelung webt; die Sibyllen auf der anderen Seite, die an die äußeren Einflüsse der Erdenaura hingegeben sind. Es tritt uns in Michelangelos Darstellung der Sixtinischen Kapelle in Rom dieser Gegensatz von Sibyllen und Propheten entgegen. Michelangelo zeigt, wie bei den Sibyllen der Wind und anderes wirkt, was mit der Erde elementar zusammenhängt, zeigt, daß bei den Sibyllen Gefahr vor­handen war, daß das Ich in Unordnung kommt, und wie die Pro­pheten wirken, dieses Ich zu beruhigen. Das Studium der Propheten

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neben den Sibyllen in den Bildern Michelangelos kann uns tiefhinein­weisen in manche Geheimnisse. In den Kräften, die durch die Sibyllen wirkten, zeigt sich, wie das menschliche Ich auf einer vierten Stufe in Unordnung kommen will. Die Ordnung, die der Propheten Lehre ankündigt, wurde durch das Mysterium von Golgatha hergestellt, die Ordnung der Ich-Kräfte in der Form, daß das Ich des Menschen immer tiefer fühlen lernte: Nicht ich, sondern der Christus in mir. - Was bei den Sibyllen zur Unordnung des Ich hätte beitragen müssen, tritt durch den Christus-Impuls in geordneter Weise hervor. Weil das Ich des Menschen sich auf der Erde entwickeln muß, mußte das Ereignis von Golgatha auf der Erde stattfinden, Christus mußte den Leib des Jesus durchdringen, den wirklichen physischen Leib, wäh­rend bei den Vorstufen ein Engel durchseelt wurde.

So rückte Golgatha an die Erdenentwickelung heran. Tief wahr ist, was Augustinus sagt: Christentum hat es immer gegeben, nur daß man es jetzt Christentum nennt. - Man fühlte zu Augustins Zeiten etwas davon, daß Apollos Diener Christen waren, wenn auch nicht dem Namen nach. Es war Verehrung des dritten, nur noch geistigen Ereig­nisses. So näherte sich Christus allmählich der Erde. In der Devachan­welt war die erste und zweite Vorstufe, in der Astralwelt die dritte und in der physischen Welt das Ereignis von Golgatha.

Aber nicht als Lehrer, sondern durch seine Kraft drang Christus in die Erdenaura ein. Das muß immer wieder betont werden. Wenn Christus nur durch das hätte wirken wollen, was die Menschen von ihm hätten verstehen können, würde er wenig haben wirken können.

Er trat als lebendige Wesenheit in die Entwickelung ein. Das menschliche Verständnis muß sich zu ihm hinaufringen. Dadurch sehen wir, wie sich die Dogmenstreitigkeiten abspielen. Die mensch­liche Urteilskraft ist noch weit entfernt davon, in den Christus-Impuls einzudringen. Der Christus-Impuls wirkt in den Tiefen durch die Seelen hindurch als lebendige Kraft. Wir können diese Kraft ver­folgen. Sehen wir auf ein Ereignis hin vom 28. Oktober 312. Damals lieferte Konstantin dem Maxentius bei Rom eine Schlacht. Maxentius' Heer war viermal so stark wie das des Konstantin. Konstantin siegte. Wer die Geschichte recht betrachtet, sagt: Das Leben von ganz

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Europa wäre anders geworden, wenn Konstantin nicht gesiegt hätte. -Eine merkwürdige Schlacht war das. Es siegte nicht äußere Stärke, nicht Urteilskraft. Die Schlacht wurde nicht geschlagen mit dem, was aus Urteilskraft hervorging. Sie wurde geschlagen von jeder Seite nach unterbewußten Impulsen, in die der Christus-Impuls hinein-spielte. Maxentius frug die sibyllinischen Bücher. Sie sagten ihm:

Wenn du nicht am Orte verbleibst, wo du bist, wenn du aus Rom hinausgehst, wirst du den großen Feind Roms knechten. - Ein Traum sagte ihm noch, er solle Rom verlassen und vor den Toren kämpfen. In Rom war er sicher verschanzt. Menschhche Urteilskraft entschied nicht über das, was in dieser Schlacht spielte. Das Unterbewußtsein wirkte in Maxentius' und Konstantins Seele hinein. Dem Konstantin offenbarte ein Traum, daß er das Symbol des Christentums dem Heer vorantragen solle. Träume entschieden über diese Schlacht, die über das Schicksal Europas entschied. Die menschliche Urteilskraft war nicht geeignet, das herbeizuführen, was herbeigeführt werden sollte, sondern der Christus-Impuls wirkte und stellte das viermal schwächere Heer Konstantins außerhalb Roms Maxentius gegenüber. Durch das, was die Menschen nicht beurteilen können, geschah die Leitung der menschlichen Angelegenheiten. Das ist bedeutungsvoll für die ganze Leitung der menschlichen Geschichte.

Der Christus-Impuls wirkte im Unterbewußtsein der Seelen als geistiger Impuls. Ebenso hat er später gewirkt, als wieder einmal die Landkarte Europas eine ganz andere Form erhielt. Wäre im ent­scheidenden Augenblick nicht die Jungfrau von Orleans an die Seite ihres Königs getreten, alle europäischen Geschicke wären anders ge­worden. Wieder war es nicht Urteilskraft, sondern der Christus-Impuls, der sich eines menschlichen Werkzeuges bediente. Auf unser Urteil kommt es nicht an, ob man das gut oder schlecht findet.

An etwas anderem kann ich zeigen, wie unter der Schwelle des Bewußtseins der Chnstus-Impuls wirkt. Er bedient sich merkwürdi­ger Offenbarungsarten, merkwürdig für den Materialisten. Als das neuzeitliche Geistesleben heranrückte, war in seiner Entwickelung etwas, was bewirkt haben würde, daß der Materialismus seine Arme noch viel mehr über das europäische Leben ausgestreckt hätte. Wenn

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gewisse Vorgänge nicht eingetreten wären, wäre es möglich gewesen, daß selbst in den Seelen, die sich noch geistig fühlten, ganz materielle Vorstellungen eingetreten wären. Es würde eben das Verständnis für den Christus-Impuls schon in viel früheren Jahrhunderten so weit heruntergekommen sein, daß man sein physisches Dasein angezweifelt hätte. Dann würden Arthur Drews und andere viel leichteres Spiel haben. Es verbreitete sich über die entferntesten Gegenden Europas im 16. und 17. Jahrhundert, als die Gefahr vorhanden war, daß man gar keinen Zusammenhang mehr hätte mit dem Christus-Impuls, die Stimmung: Warum soll man glauben, daß Christus gelebt habe? - Und da geschah an den verschiedensten Orten gleichzeitig das gleiche. In fast allen Gegenden Europas, überall zeigte sich, daß durch die ver­schiedensten menschlichen Stätten, durch Dörfer und Städte nicht immer die gleiche, sondern immer eine andere physische, menschliche Persönlichkeit ging. Es verbreitete sich die Meinung, daß diese menschliche Persönhchkeit, welche in einem besonders merkwürdigen Aufzug erschien, Ahasver, der ewige Jude, sei, der durch die Welt gewandert, seitdem er Christus von sich gestoßen. Die Kunde ver­breitete sich, daß da ein Mensch lebt, der aus eigener Anschauung sagen kann: Ich habe Christus gesehen, er hat wirklich gelebt. -An den verschiedensten Orten ging diese Persönlichkeit durch die Dörfer, nahm in furchtbarer Verfassung, in ganz veralteter Kleidung an den Gottesdiensten teil und erzählte das Ereignis, von dem sie Zeugnis ablegen kann. Bischöfe, Äbte haben solche Persönlichkeiten zu Gast-mahlen eingeladen, Festlichkeiten veranstaltet. Diese Persönlichkeiten erzählten da immer: Wir können euch bestärken im Bewußtsein, daß Christus über die Erde ging, denn an mir ging er vorüber, und weil ich ihn so behandelte, muß ich jetzt so durch die Welt ziehen.

Aus dem, was man in der Geschichte erfährt, hat man keine Vor­stellung, wie tief vor ein paar Jahrhunderten in die menschlichen Gemüter hineinwirkte, was Ahasver erzählte. Es waren immer andere Persönlichkeiten, aber sie sahen, wie in einer Ahasver-Rückschau, Christus an sich vorübergehen, so daß ihnen geglaubt wurde. Von ihnen ging das Bewußtsein aus: Ja! Er hat gelebt, denn er kann von ihm erzählen. - Die oberflächlichen Menschen heute können sagen:

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Soll das einen so großen Einfluß gehabt haben, daß dadurch die Ge-fahr, daß Christus als historischer Christus ganz vergessen worden wäre, hintangehalten wurde? - Sie wissen nicht, daß solche Ereignisse durch die Welt gingen, die die Geschichte nicht aufgezeichnet hat. Daß wir heute nicht vollständig im Materialismus versumpft sind, ist Folge von dem, was da von diesen Persönlichkeiten ausging. Heute könnte das nicht geschehen. An einigen Orten hatte Ahasver dicke Schwielen, eigentümliche Kleidung, lange Haare, vergilbte Haut, war groß und hager, an anderen Orten war er klein, hatte einen Buckel, war aber immer von dem Bewußtsein, von der Anschauung dessen durchdrungen, was die Seele erlebt zu haben glaubte im Moment, als Christus vor ihr vorüberging.

In zahlreiche Persönlichkeiten wurde das Bewußtsein versenkt, diese Fähigkeit, in die Akasha-Chronik zurückzuschauen und sich so damit zu identifizieren, daß sie es wirklich glaubten. Heute würden alle diese Ahasvere ins Irrenhaus kommen, damals waren sie Werkzeuge zur Verstärkung des geistigen Lebens. Bischöfe und Äbte ließen sich durch sie stärken in der Kraft des Christus-Glaubens. Aus geistigen Welten herein wurde in psychisch veranlagte Naturen der Keim ge­senkt, zurückschauen zu können zu dem Ereignis von Golgatha. Die Erzähler sahen sich dann durch die Eigentümlichkeit ihres Bewußt­seins selbst in dem Bilde darinnen. Das war wahr, war das lebendige Hinschauen auf das Ereignis von Golgatha. Viel mehr als im Ober-bewußtsein des Menschen, in dem sich die Urteilskraft geltend macht, spielte sich in unterbewußten Seelenregionen ab, was vom Christus-Impuls ausging. Der heutige materiell denkende Mensch hat leicht spotten über solche Dinge. Er wird das für eine psychische Epidemie halten, wird sagen: Was kann man geben auf das, was aus krankhaften Seelen kommt. - Man möchte diesen Materialisten fragen, was er sagen würde, wenn einer psychisch krank wird, so daß ihn zwölf Psychiater ins Irrenhaus sperren, aber dort beginnen würde aus seiner Erleuchtung heraus den wirklich als Idee den Menschen vorschweben­den Luftmotor zu ersinnen? Den würden sie dann auch von einer solchen Seele hinnehmen und nicht fragen, ob das aus einer krank­haften Seele kommt. Das ist kein Kriterium, kein Einwand, ob eine

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Seele krankhaft ist. Es handelt sich darum, den Inhalt dessen, was aus der Seele kommt, zu prüfen. Es ist das schlimmste an unserem mate­riellen Geist, daß man an Nebenrücksichten, nicht an Wahrheitskraft appelliert.

Wenn wir so die Entwickelung der Menschheit überblicken, wird uns klarwerden, daß wir den Christus-Impuls aufzufassen haben als lebendige Kraft, die viel mehr in den Untergründen der Seelen wirkt und sich physischer Mittel bedient, mehr als dessen, was die Menschen verstehen. Wäre er darauf beschränkt geblieben, wäre es mit seinem Einfluß nicht weit gekommen. Aber in unserer Zeit beginnt die Sache anders zu werden, so zu werden, daß nach und nach in uns das wirken muß, was für die Griechen der Gedanke war, mit dem zugleich eigentlich das Bewußtsein vom Menschen-Ich geboren worden ist. Wie macht sich dieser Gedanke heute geltend? Man braucht das nicht mit Geisteswissenschaft zu belegen, sondern mit Philosophie. In den Jahrhunderten vor der Begründung des Christentums, mit Pherekydes beginnend bis Aristoteles, beginnt der Gedanke in der Welten-entwickelung. Es beginnt das Denken in Bildern erst im griechischen Leben. Das bereitet das eigentliche Ich-Bewußtsein vor. Dann kommt der Christus-Impuls. Er wirkt mit dem zusammen, was als Ich-Kraft herausgekommen ist. In unserer Zeit sehen wir es am Hegeltum, das ja wenig beachtet wird, aber eine bedeutsame Erscheinung der Mensch­heit ist, wie Hegel ringt mit dem Gedanken, der die ganze Welt er­fassen will. Der Mensch entwickelt sich in der Welt, er krönt die Ent­wickelung dadurch, daß der Gedanke die Welt erfüllt. Er erkennt da­durch die Umwelt. Aber zweierlei kann der Gedanke: Sich richtig entwickeln, was sich mit der Entwickelung des Keimes zur Blüte vergleichen läßt, oder es kann der Keim dienen zur menschlichen Nahrung. Da wird er aus seiner fortlaufenden Strömung heraus­gerissen. Bleibt er bei der fortlaufenden Strömung, entwickelt sich eine neue Pflanze, es kommt voraussichtlich Leben für die Zukunft aus ihm. Ebenso ist es mit dem menschlichen Gedanken. Man sagt, wir machen uns durch ihn Bilder von der Umwelt. Aber die Verwendung zu solcher Erkenntnis ist, wie wenn wir Keime zur Nahrung ver­wenden. Wir treiben den Gedanken von seiner Strömung ab. Beharrt

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er aber in seiner Strömung, verwenden wir ihn nicht gleichsam zur Nahrung, dann lassen wir ihn sein eigenes Keinaleben leben, lassen ihn aufgehen in Meditation und Inspiration, lassen ihn sich entwickeln zu neu befruchtendem Dasein. Das ist die gerade Strömung für den Ge­danken. Das wird man in Zukunft erkennen, daß das, was man als Erkenntnis der Welt angesehen hat, sich verhält wie das Korn, das nicht fortschreitet zu neuem Korn, sondern herausgetrieben wird in eine ganz andere Strömung; aber das, was wir erkennen lernen durch die Erkenntnis der höheren Welt, ist der in Freiheit philosophisch ergriffene Gedanke, der in Meditation und Konzentration direkt in das geistige Leben hinein leitet.

Wir stehen an dem Punkte, wo erkannt werden wird, daß sich die gewöhnliche Erkenntnis zur übersinnlichen Erkenntnis verhält, wie sich verhält ein Korn, welches verwendet wird zur Nahrung, zu einem solchen, das fortschreitet zu neuem Korn. Innerliche Erkenntnis der Gedanken ist das, was die Zukunft bringen muß. Philosophie in der alten Art ist überwunden, hat ausgespielt. Man wird wissen, daß solche Erkenntnis immer da sein muß, aber zu einem Nebenstrom der Entwickelung führen muß. Man wird wissen, daß der lebende Ge­danke, der sich zur Meditation und Konzentration umgestaltet, in geistige Erkenntnis der menschlichen Natur und zur Erkenntnis der geistigen Welt führt.

Wenn wir mancherlei Erscheinungen in unserem Geistesleben be­trachten, kann manches auffallen. Hier darf man ja wohl solches sagen, besprechen, was in der Außenwelt mißverstanden würde. Ein Mann wird heute als großer philosophischer Geist angesehen, der im Grunde genommen seine Weisheit darauf beschränkt, immer wieder davon zu sprechen: Der Mensch darf nicht bei der äußeren Erkenntnis stehen­bleiben, er muß den Geist erfassen. - Man könnte sagen, er sagt immer wieder in anderer Version: Der Mensch kann nicht stehenbleiben bei der bloßen äußeren Erkenntnis, er muß das Geistige in sich selbst erfassen, muß es in sich erleben, es darf nicht bloß in Begriffen erfaßt werden, muß lebendig werden. Er sagt nicht, was der Geist ist, erkannt wird nichts. Das ist das Kennzeichen der Euckenschen Philosophie. Sie führt nicht zur wirklichen Geist-Erkenntnis. Wenn das Denken

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sich aus sich selbst gestaltet, wird es nicht zu einem unbestimmten Geist-Erleben, sondern es wird in sich gerundet, und es schwingt dem Denken entgegen, was wir als Ätherleib kennengelernt haben. Ver­wandelt das Denken sich in Meditation, so wird dieser Gedanke sich formen und aus dem menschlichen Ä therleib ist da - der geistige Mensch. Die Menschheit ist in ihrer Entwickelung auf dem Weg aus der Philosophie zu einem lebendigen Geist-Erkennen.

Wir sind auf dem geraden Weg. Die das einsehen, erkennen ihre Zeit, aber es läßt sich nicht eine wirkliche Einsicht in diese Dinge gewinnen, ohne daß man eine hellige Scheu entwickelt vor der Er­kenntnis, die einen zurückhält, mit der Urteilskraft, die man hat, über­all den Maßstab anzulegen. Man muß sich immer wieder vorbereiten wollen zu neuer Erkenntnis, denn so wie die Seele ist, taugt sie nur zur Nebenströmung der Erkenntnis. Nur wenn sie sich höherentwickelt, taugt sie dazu, wirklich in die geistige Welt einzutreten. Dann erst verstehen wir unsere Aufgabe innerhalb unserer Gemeinschaft rich­tig, wenn wir fühlen, bei aller Demut, wie wir dazu berufen sind, etwas zu wissen von dieser großen Umwertung aller Erkenntnis­begriffe, die in das spirituelle Leben hineinführen wollen. Wir wollen ganz bescheiden bleiben, können aber manchen, der heute als großer Geist gilt, einen seichten Schwätzer nennen, weil das nicht abfidlige Kritik ist. Das, wo hinein wir uns finden müssen, ist: klares, starkes und energisches Urteil über das, wonach wir streben, zu verbinden mit Demut; zu erkennen, daß wir im Großen gemessen erst am An­fang stehen, aber unser Herz schwellen kann, freudig erglühen kann bei dem Gedanken, was aus dem werden soll, dem wir zusteuern wollen, unsere intimsten Seelenkräfte widmen wollen. Nicht nur an Ihre Vorstellungskraft möchte ich mich wenden, sondern an Ihre tief­sten Herzenskräfte, an das in Ihren Seelen, wo Ihr tiefstes Fühlen für den Pulsschlag der Zeit zu finden ist. Dann verstehen Sie, was damit gemeint ist, daß mit solcher Rede nur angedeutet sein soll, was uns sprechen heißen die führenden Mächte unserer Zeit, die geistigen Individualitäten, von denen wir wissen, daß sie durch unsere Zeit­strömung gehen. Nicht dadurch allein kommen wir vorwärts, daß wir immer mehr Begriffe uns aneignen für das, was die Geisteswelt ist -

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wir müssen sie uns aneignen -, aber dadurch kommen wir erst richtig vorwärts, daß wir mit jeder neuen Idee etwas verbinden, was aus dem tiefsten Grunde unserer Seele herauskommt, so daß dies Immer-mehr-Verstehen sich erweisen kann gegenüber den führenden Mächten der Zeit. Wir können sie fühlen, wie sie in die intimsten Gründe unserer Seele sprechen. Lange bevor wir dies Sprechen wie eine Warnung ver­nehmen, können wir fühlen, wie unsere Bewegung so getragen wird von diesen geistigen Führermächten, deren Verkünder wir sind im richtigen Sinne innerhalb unserer Bewegung. Dieses Bewußtsein soll sich ausgießen wie eine wahre Seelenströmung über das, was wir treiben.

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DER FORTSCHRITT IN DER ERKENNTNIS DES CHRISTUS DAS FÜNFTE EVANGELIUM Paris, 27. Mai 1914

In der heutigen Betrachtung möchte ich zuerst sprechen über das­jenige, was wir innerhalb der okkulten Forschung jetzt wissen können über die Christus-Wesenheit, um dann eine Auseinandersetzung daran zu knüpfen über die Fortschritte, die wir seit dem Mysterium von Golgatha in der Erkenntnis des Christus haben machen können.

Es ist innerhalb unserer Geistesbewegung wiederholt auf die große Bedeutung des Mysteriums von Golgatha für die ganze Erden-entwickelung hingewiesen worden. Indem innerhalb der okkulten Forschung diese Bedeutung des Mysteriums von Golgatha weiter ver­folgt wurde, konnte man kommen zu drei Vorstufen des Mysteriums von Golgatha, die sich innerhalb der Erdenentwickelung und zu­sammenhängend damit zugetragen haben. Drei Vorstufen gehen dem Mysterium von Golgatha voran, bereiten es vor, aber sie spielen sich nicht ab auf dem physischen Plan, sondern sie spielen sich ab in den höheren Welten.

Das erste dieser Ereignisse fällt in die Zeit der lemurischen Ent­wickelung der Erde. Die zwei weiteren Ereignisse, das zweite und das dritte, fallen in die Zeit der atlantischen Entwickelung der Erde. Und das vierte ist das Mysterium von Golgatha, das sich in der nachatlan­tischen Zeit, im Beginne unserer Zeitrechnung, auf dem physischen Plan abspielte.

In der lemurischen Zeit verbindet sich dasselbe Wesen, das wir kennen als das Christus-Wesen, mit einem anderen Wesen der höheren Welten, mit einem Wesen der höheren Welten, das nicht auf dem phy­sischen Plane sich verkörperte, sondern der Welt der höheren Hierarchien angehörte. Und so, wie wir gegenüber dem Mysterium von Gol­gatha davon sprechen, daß der Christus eingezogen ist in den Leib des Jesus von Nazareth, so können wir für die alte lemurische Zeit davon sprechen, daß der Christus eingezogen ist in eine erzengelartige Wesen­heit der höheren Welten. Man könnte davon sprechen, daß ein ähnliches

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Ereignis, ins Geistige übersetzt, sich abspielte während der le­murischen Entwickelung, wie sich später abspielte auf dem physischen Plan die Johannestaufe im Jordan. Wir treffen also in jener alten Zeit die Christus-Wesenheit in dem Seelenleib eines Erzengels. Und durch dieses Opfer der Christus-Wesenheit, des Eintretens in einen Leib, in einen Seelenleib eines Erzengels, wird eine ganz bestimmte Wirkung von den geistigen Welten hereingestrahlt in die Erdenentwicke­lung.

Um die Bedeutung dieses Ereignisses kennenzulernen, müssen wir von einer Gefahr sprechen, welche der ganzen menschlichen Ent­wickelung in der lemurischen Zeit durch die luziferischen Kräfte be­vorstand. Wenn diese Gefahr von der Menschheit nicht abgewendet worden wäre, so wäre all dasjenige, was wir sinnliche Wahrnehmungs­tähigkeit des Menschen nennen, in Unordnung gekommen. Die Sinneskräfte hätten sich unter dem luziferischen Einfluß nicht so ent­wickeln können, wie sie sich entwickelt haben, sondern sie waren viel sensibler, viel erregungsfähiger geworden gegenüber der Außenwelt. Zum Beispiel hätten wir dann so durch die Welt gehen müssen: Wenn wir eine blaue Farbe gesehen hätten, so würde diese an unserem Auge wie gesogen haben und wir würden etwas wie eine aussaugende Kraft empfunden haben, und wenn wir eine rote Farbe gesehen hätten, wür­den wir etwas empfunden haben wie ein Stechen in den Augen. Wir müssen uns nur vorstellen, was wir Menschen geworden wären, wenn wir auf Schritt und Tritt im Leben durch die Sinneswahrnehmungen in lauter erregenden Eindrücken hin und her geworfen worden wären. Diese Gefahr wurde dadurch abgewendet, daß sich der Christus, ich muß jetzt sagen, nicht verkörperte, sondern verseelte in einer Erz­engelwesenheit, und die Kräfte, die dadurch von den geistigen Welten ausstrahien konnten, ergossen sich in die Menschheitsentwickelung, und die Sinneskräfte wurden harmonisiert, so daß die eben bespro­chene Gefahr von den Menschen abgewendet wurde und sie das nö­tige Gleichmaß bekamen. Wir können also heute, wenn wir daran denken, in welcher Mäßigkeit unsere Sinneswahrnehmungen ver-laufen, zurückblicken in die alte lemurische Zeit und sagen: Damals war es, daß der Christus sich opferte, sich verseelte in einer Erzengelwesenheit

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und von uns nahm die Gefahr der Hypersensitivität unseres Sinnensystems.

Die zweite Gefahr drohte der menschlichen Entwickelung, und zwar jetzt durch Ahriman und Luzifer zusammen, in der ersten Zeit der atlantischen Entwickelung. In dieser Zeit drohte eine abnorme Entwickelung den Lebenskräften. Die Lebenskräfte sollten sich so ent­wickeln, daß zum Beispiel, wenn der Mensch Hunger empfunden und Nahrung vor sich gehabt hätte, er mit tierischer Gier sich über die Nahrung gestürzt haben würde. Und auf der anderen Seite zum Bei­spiel, wenn er irgendeine Nahrung vor sich gehabt hätte, die ihm nicht zuträglich gewesen wäre, würde er furchtbaren Ekel empfunden haben und vor der Nahrung geflohen sein. Die Hyperempfindlichkeit der Lebenskräfte drohte dem Menschen in jener Zeit. Der Christus verseelte sich neuerdings in einer erzengelartigen Wesenheit der höhe­ren Hierarchien, und durch dieses Opfer des Christus wurde die Ge­fahr, die eben geschildert worden ist, von der Menschheit abgewendet, und die Lebenskräfte wurden so harmonisiert, daß wir sie jetzt in der Mäßigkeit und im Gleichmaß gebrauchen können.

Die dritte Gefahr drohte der menschlichen Entwickelung gegen das Ende der atlantischen Zeit. In Unordnung sollten kommen durch den Einfluß Luzifers und Ahrimans die drei Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen, so daß sie ungeordnet, daß sie durcheinander, chaotisch gewirkt haben würden, wenn diese Gefahr nicht abgewendet worden wäre.

Wenn wir verstehen wollen, wie es mit dieser Sache eigentlich sich verhält, so müssen wir uns klar sein darüber, daß die Erde nicht nur das ist, was die Geologen meinen, ein mineralischer Körper, sondern daß die Erde ein ganzer Organismus ist. Was aus dem Grund der Erde aufsteigt, sich als neblige Dünste aus dem Grund der Erde heraus er­hebt, ist nicht nur physikalischer Dunst, sondern auch die Verkörpe­rung von Leidenschaften, die sich vereinigen können mit den Leiden­schaften und Trieben der Menschen und die durchsetzt sind von luziferischen und ahrimanischen Kräften. Die würden in der angegebenen Zeit in der menschlichen Seele das Chaotische von Denken, Fühlen und Wollen bewirkt haben. Und würde diese Gefahr nicht abgewendet

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worden sein, so hätte das ganze Menschengeschlecht durch das Chao­tische von Denken, Fühlen und Wollen in eine Art Delirium kommen müssen. Das Menschengeschlecht wurde sich zu einem Wahnsinn hin­entwickelt haben, der der normale Zustand der Erde geworden wäre. Da verseelte sich zum dritten Mal die Christus-Wesenheit in einem erz­engelartigen Wesen und wendete diese Gefahr ab durch die Strahlun­gen, die durch dieses eben charakterisierte Opfer wiederum auf die Menschheitsentwickelung ausgeübt werden konnte. Die Wirkung dieser dritten Verseelung der Christus-Wesenheit ist die Harmonisie­rung von Denken, Fühlen und Wollen in der menschlichen Seelennatur.

Die Griechen, die in ihrer Mythologie etwas wie Nachbilder der Vorgänge während der atlantischen Zeit empfunden haben, sie haben in ihrer Mythologie auch diese eben erwähnte übersinnliche Tatsache ausgedrückt. Und das Bild, das Nachbild, unter dem sich die Griechen die dritte Verseelung des Christus in einem erzengelartigen Wesen vor­gestellt haben, ist Apollo, der Sonnengott. Apollo als Beschützer der Aussprüche der Pythia erscheint als diejenige Wesenheit, welche har­monisiert den Drachen, der aus der Erde in Form von Dämpfen her-aufsteigt. Würde ohne die Harmonisierung des Apollo dieser Dunst in die Leidenschaft der Pythia ffießen, so würde Denken, Fühlen und Wollen als Wahnsinn zum Ausdruck kommen. Durch die Imprägnie­rung mit den Kräften des Apollo wird das, was die Pythia zu sagen hat, zuweilen zu den weisesten Ratschlägen, die den Griechen gegeben wurden.

Würde man einen Eingeweihten der alten Mysterien auf seine wahre Meinung hin haben fragen können, wer Apollo ist, so würde er ganz gewiß die Antwort gegeben haben : Er ist der Vorläufer des Christus Jesus, der nur noch nicht heruntergestiegen ist bis zum physischen

Plan.

Die Menschheit hat sich eine wunderbare Imagination dieses dritten Christus-Ereignisses erhalten in dem Bilde: Sankt Georg besiegt den Drachen, oder der Erzengel Michael besiegt den Drachen. Es ist wun­derbar, aufmerksam darauf sein zu können, wie in der Tat diese Imagi­nation: Sankt Georg besiegt den Drachen, ein Nachklang ist des dritten übersinnlichen Christus-Ereignisses.

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Und das vierte Ereignis kam in der nachatlantischen Zeit, wo die Menschheit wiederum der Gefahr ausgesetzt war, im Laufe der Ent­wickelung in Unordnung zu kommen mit den Seelenkräften. Jetzt sollte direkt in Unordnung kommen das menschliche Ich selbst.

Die erste Gefahr bestand darin, daß die Sinneskräfte in Unordnung gekommen wären. Die zweite Gefahr darin, daß die Lebenskräfte in Unordnung gekommen wären. Die dritte Gefahr darin, daß die Seelen-kräfte, Denken, Fühlen und Wollen in Unordnung gekommen wären. Die vierte Gefahr darin, daß die Kräfte des Ich in Unordnung ge­kommen wären.

Dieselbe Wesenheit, die Christus-Wesenheit, die sich vorher dreimal verseelt hatte, verkörperte sich jetzt im Mysterium von Golgatha in Jesus von Nazareth, um diese vierte Gefahr durch ihre Ausstrahlung in die Erdenaura von der Menschheit abzuwenden.

Man kann wirklich in der Menschheitsentwickelung innerhalb der Jahrhunderte, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen sind, und denjenigen Jahrhunderten, die ihm folgten, ersehen, wie die Gefahr vorhanden war, die das Ich und seine Kraft in Unordnung bringen sollten. Wir sehen, wie beim Aufblühen der Ich-Kraft, die wir beobachten können in der griechischen Philosophie bei Sokrates, Plato, Aristoteles - schon von Thales, Heraklit angefangen-, wir sehen, wie neben dem Aufblühen der Ich-Kraft durch die griechische Philosophie etwas anderes einhergeht. Als die Kräfte des menschlichen Gedankens in Thales, Heraklit, in Sokrates, Plato, Aristoteles aufblühen, sehen wir ungefähr von demselben Zeitpunkte an sich über den ganzen da­mals kultivierten Teil der Erde verbreitend, da und dort sich zeigend, die Kräfte der sogenannten Sibyllen. Diese Sibyllen, die als Parallelerscheinung neben der Entstehung der Philosophie einhergehen, sie stellen dar, wie hereindringen soll das Chaos in die Ich-Kräfte. Wir sehen, wie auf der einen Seite aus dem, was solche Sibyllen verkünden, hervorgehen kann Wahres, Gut-Prophetisches, auf der anderen Seite Mißverständnisse, trügerische, ungeordnete Ich-Kräfte, die aus den Sibyllen sprechen. Wie das Chaotisch-Irdische aus den Sibyllen spricht, das hat in wunderbarer Weise später aus der Tradition heraus Michel-angelo dargesteHt in der Sixtinischen Kapelle. Bis in die Darstellung

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der Gebärde hinein ist es zu sehen, wie durch die einzelnen Sibyllen das Ungeordnete der Ich-Kräfte wirkte, die auf die mannigfaltigste Weise zum Ausdruck kommen.

Und Michelangelo hat als polarische Erscheinung neben die Sibyl­lenkräfte hingestellt diejenigen, welche versucht haben das Ich zu suchen, das Ich aufzufinden in der menschlichen Natur und es frucht­bar zu machen für die geschichtliche Entwickelung der Menschheit:

es sind die Propheten. Was uns bei Michelangelo in den Sibyllen und Propheten erscheint, es stellt die beiden Pole dar : Auf der einen Seite die Tendenz des Ich, in Unordnung zu kommen, auf der anderen Seite das Suchen des jüdischen Prophetentums, die Ich-Kräfte in Ordnung zu bringen. Es gärte in der menschlichen Natur um das eigentliche Be­wußtwerden des Ich, das dazumal eintreten sollte, und wäre die Gefahr nicht abgewiesen worden, so würden heute in unserem Ich chaotisch durcheinandergehen dunkle prophetische Kräfte und dunkle Sibyllenkräfte. Eine wirkliche Klarheit des Ich hätte es nicht geben können in der Entwickelung der folgenden Jahrhunderte. Da fiel die Inkarnation des Christus in dem Jesus von Nazareth in diese Gärung hinein und bewirkte zum vierten Male die Harmonisierung der menschlichen Na­tur. Geschehen konnte dies nur dadurch, daß die Christus-Wesenheit sich verkörperte in einer menschlichen Wesenheit, welche im höchsten Sinne alle damals an den Menschen herantretenden Fähigkeiten in sich zur Entwickelung gebracht hatte.

Ebenso wie uns die heutige okkulte Forschung möglich macht, Licht zu werfen auf die vier Etappen des Mysteriums von Golgatha, ebenso setzt sie uns in den Stand, Licht zu verbreiten über die Wesen­heit des Jesus von Nazareth, in der sich die Christus-Wesenheit durch das Mysterium von Golgatha, die letzte Etappe, verkörpert hat. Ich konnte bei früheren Gelegenheiten darauf aufmerksam machen, daß geboren wurden im Beginn unserer Zeitrechnung zwei Jesusknaben. Ich konnte darauf hinweisen, daß im zwölften Jahr des einen Jesus-knaben, der aus der nathanischen Linie des Hauses David abstammte, hereinzog die Seele des anderen Jesusknaben, der aus der salomoni­schen Linie stammte, so daß aus den zwei Jesusknaben ein Wesen wurde. Fragen wir uns, wer nun dieser zwölfjährige Jesus von Nazareth

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war, so antwortet uns heute die okkulte Forschung : Es ist die Seele des Zarathustra in einer ganz besonderen Menschenwesenheit, die eben abstammte aus der nathanischen Linie des Hauses David. -Und wenn wir nun den geistigen Blick hinwenden auf das Wesen des Zarathustra in dem nathanischen Jesus, so stellt sich uns dar, wie sich dieser Jesus von Nazareth nun weiter bis zu seinem dreißigsten Jahr entwickelt hat.

Wir können drei Epochen in der Entwickelung dieses Jesus von Nazareth unterscheiden. Die erste vom zwölften bis zum achtzehnten Lebensjahr. Die zweite vom achtzehnten bis zum vierundz:wanzigsten Lebensjahr. Die dritte etwa vom vierundzwanzigsten bis zum dreißig­sten Lebensjahr. Es lebte der junge Jesus von Nazareth in dem Hause, dem vorstand sein wirklicher Vater und die Mutter des salomonischen Jesusknaben. Die beiden anderen waren mittlerweile gestorben. Der junge Jesus von Nazareth wurde äußerlich eingeführt in das Handwerk des Vaters, eine Art Schreiner- oder Zimmermannshandwerk. Dabei aber entwickelte er sich merkwürdigerweise mit unendlicher Voll­kommenheit des geistigen Lebens in seiner Seele. Festhalten müssen wir, daß im Grunde genommen die tief bedeutungsvolle Entwicke­lung des jungen Jesus von Nazareth niemand aus seiner Familienumgebung verstand. Er war mit ihr einsam schon als Knabe von zwölf bis achtzehn Jahren; ganz einsam mit ihr. Merkwürdig war diese innere Entwickelung, die sich in der Einsamkeit der Seele vollzog, da­durch daß wie aus dem tiefen Seelengrund heraufholen konnte Jesus von Nazareth all dasjenige, was an großen Offenbarungen dem jüdi­schen Volk im Laufe der Zeit geworden war. Das israelitische Volk hatte ja in der Zeit, in der Jesus von Nazareth lebte, kaum noch etwas anderes als schriftliche Überlieferungen desjenigen, was einstmals die uralten Propheten in unmittelbaren Offenbarungen erhalten hatten aus den geistigen Welten herunter. Man wußte aus den Schriften, was die Alten geoffenbart erhalten hatten, aber man hatte keine Möglichkeit mehr, hinaufzureichen zu dieser Offenbarung selbst, die einstmals den uralten Propheten zugekommen war durch jene Stimme, die man die große Bath-Kol nannte. Wie in rückläufiger Entwickelung machte Jesus von Nazareth in sich selbst alles dasjenige wieder durch, was das

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jüdische Volk durchgemacht hatte, und er arbeitete sich hinauf bis zu dem Punkte, daß seine Seele verspürte : Die große Bath-Kol spricht wieder zu mir. Unmittelbar aus der geistigen Welt vernehme ich die Stimme, die einmal die Propheten empfangen haben. Und wie es bei solch innerer Entwickelung geht, so war es auch bei Jesus von Naza­reth : diese innere Entwickelung war verbunden mit dem tiefsten see­lischen Schmerz und Leid. Die höchsten Erkenntnisse erwirbt man sich nicht ohne Schmerz und Leid. Namentlich war es eines, das sich wie ein furchtbarer Schmerz ablagerte in der Seele des etwa siebzehn-bis achtzehnjährigen Jesus von Nazareth, als er sich sagte: Einmal hat gesprochen die große Bath-Kol die wunderbarsten Offenbarungen zu dem jüdischen Volk. Heute ist das jüdische Volk da, aber wenn die große Bath-Kol heute zu ihm sprechen würde, es wäre niemand da, sie zu hören. Die Schriften verstehen sie, die lebendige Schrift aber ver­stehen sie nicht mehr. - Einsam war er in sich; eine ungeheure Traurig­keit kam über seine Seele, über dasjenige, was aus seinem Volk ge­worden war in der herabgehenden Entwickelung der Menschheit.

Dann kam die Zeit, wo hinausgeschickt werden sollte in die Welt Jesus von Nazareth. Er wanderte, indem er sein Handwerk da und dort betrieb, in den verschiedensten Gegenden umher, sowohl in Pa­lästina als auch außerhalb Palästinas, in heidnischen Gegenden. Merk­würdig waren diese Wanderungen namentlich in ihrem Eindruck auf die Menschen, zu denen Jesus von Nazareth kam. Das, was der Schmerz in seiner Seele verrichtet hatte, das hatte sich umgewandelt in etwas wie Liebe, die man unmittelbar in seiner Gegenwart von ihm ausströmen fühlte. Wenn er so am Abend, nachdem er die Arbeit verrichtet hatte, bei den Menschen war, die er besuchte, mit ihnen zusammensaß, so fühlten sie, wie eine Atmosphäre von Liebe mit seinen Worten, aber auch durch seine bloße Anwesenheit, auf sie überging. Das Liebe­durchtränkte, was er mit ihnen sprechen konnte, das machte den tief­sten Eindruck auf die Leute, und wenn er weggegangen war, anders­wo zu arbeiten, so blieb bei den Leuten, die er verlassen hatte, etwas wie die allerlebendigste Erinnerung an ihn zurück. Oftmals kam es vor, daß Jesus von Nazareth schon drei oder vier Wochen weg war, da hatten die Leute, die er vor drei bis vier Wochen verlassen hatte, die

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gemeinsame Vision, daß er wiederum zu innen hereinträte und mit ihnen sprach - die Vision sprach mit ihnen. So tief war der Eindruck, daß er im Grunde genommen bei ihnen geblieben war, dieser Jesus von Nazareth. So drückte sich das, was Jesus von Nazareth war, in Hundert und Aberhundert von Seelen ein, da er herumwanderte in seinem achtzehnten bis vierundzwanzigsten Jahr.

Bei diesen Wanderungen kam Jesus von Nazareth auch in heid­nische Gegenden. Er traf eines Tages einen heidnischen Ort, in dem die Bevölkerung verwahrlost war. Der Ort war verlassen von seinen Priestern. An diesem Ort war eine Opferstätte, aber sie war verödet. Die Priester waren weggeflohen, weil eine böse Krankheit unter den Leuten des Ortes ausgebrochen war. Solche Opferorte und die Kultus­verrichtungen an diesen Opferstätten leiteten sich her aus den Myste­rien. Was in den Mysterien sich geoffenbart hatte, das ging über in die zeremoniellen Handiungen an diesen Opferstätten. Um eine solche Sache zu verstehen, muß man ein wenig auf die Bedeutung der zere­moniellen Opferung aufmerksam sein. Durch die Art, wie die Opfer­handiungen vorgenommen werden, und durch die Gebete, die diese Opferhandiungen durchdringen, fließen tatsächlich spirituelle Kräfte sozusagen auf die Altäre herab. Aber Jesus von Nazareth fand, als er zur Kultstätte des erwähnten Ortes kam, nicht mehr die guten Kräfte, die einstmals bei den alten Opfern heruntergefiossen waren auf die Altäre. Er fand die Kultstätten, die von ihren Priestern verlassen waren, bevölkert von Dämonengewalten, die um den Altar herum waren. Selbst die verwahrlosten, siechen, herabgekommenen Men­schen dieses heidnischen Ortes hatten einen tiefen Eindruck, als sie herankommen merkten Jesus von Nazareth, den sie ja nicht kannten, der aber eine Atmosphäre der Liebe ausströmte. Sie glaubten zuerst, einer ihrer alten Priester, der sie verlassen hatte, käme wieder und wolle ihnen ihre heidnischen Opfer darbringen. Jesus von Nazareth wollte selbstverständlich nicht das heidnische Opfer darbringen, aber er trat unter die Leute. Da wurde er erfaßt von der Kraft der Dämo­nen, die um den Altar waren, und er fiel wie tot hin. Als die Leute das sahen, flohen sie, und im Betäubtwerden sah Jesus von Nazareth noch nachfliehen und die Leute verfolgen die Dämonengewalten. Dann

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verlor er das gewöhnliche Bewußtsein und wurde entrückt in geistige Welten. Und wahrnehmen konnte er jetzt, was den alten Mysterien-priestern in Reinheit und Wahrheit einmal geoffenbart war, wahr­nehmen konnte er die alten heidnischen Offenbarungen, wie er in der Stimme der großen Bath-Kol die jüdischen Offenbarungen wahrge­nommen hatte. Und hören konnte er jetzt die uralt heidnische Offen­barung, die etwa in der folgenden Weise in der heutigen Sprache wie­derholt werden kann :

Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender Ichheit
Von andern erschuldete Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel Wille
Indem der Mensch sich schied von Eurem Reiche
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.

Und es wußte Jesus von Nazareth in seinem veränderten Bewußtseinszustand, daß diese Offenbarung durchgegangen war durch die uralt heiligen Lehren der Mysterien. Er erwachte und hatte zurückbehalten die Erinnerung an dasjenige, was einmal die uralt heiligen Lehren der heidnischen Religionen war. Dasjenige, was er in dieser Offenbarung empfangen hatte, er wendete es für den weiteren Fortschritt der Menschheit dann um und es wurde das «Vaterunser» daraus.

Dasjenige, was man in bezug auf die höheren Welten lernt, lernt man nicht bloß durch Lehren, sondern vielmehr durch Tatsachen, die man in den höheren Welten erlebt. Man erfährt aber dann in unendlich tie­ferer Weise die ganze Bedeutung einer solchen Offenbarung, als man jemals etwas durch Lehren oder Theorien erfahren kann. Ein neuer großer Schmerz lagerte sich in der Seele des Jesus von Nazareth ab. Er hatte vor sich in einem besonders klaren Fall das ganze Elend, zu dem die heidnischen Offenbarungen geworden waren, und konnte es nun kontrastieren mit dem, was sie einstmals gewesen waren.

Wie er inmitten des jüdischen Volkes sagen konnte : Und wenn auch

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heute ertönen würde die Stimme der großen Bath-Kol, die Menschen sind nicht mehr da, die sie verstehen könnten; man ist einsam mit ihr, -so konnte er jetzt in bezug auf das heidnische Volk sagen : Und wenn sie wieder überall erklingen würden, die Stimmen der alten heidnischen Mysterien, die Menschen wären nicht mehr da, die sie verstehen könn­ten.

So sollte Jesus von Nazareth in tiefstem Schmerz die absteigende Entwickelung der Menschheit erfahren.

Das eben Erzählte trug sich etwa im vierundzwanzigsten Lebensjahr des Jesus von Nazareth zu. Kurz nachdem sich das zugetragen hatte, kehrte er nach Hause zurück. Es war ungefähr die Zeit, in der sein Vater in Nazareth starb.

In der Zeit zwischen seinem vierundzwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr kam er nun, da er wieder zu Hause war in Nazareth, in Verbindung mit den Essäern, die dort die eine oder andere Kolonie in der betreffenden Gegend hatten. Er wurde nicht eigentlich Essäer, aber durch sein tiefes Seelenleben, durch den zwiefachen großen Schmerz, der sich in seiner Seele abgelagert und in Liebe verwandelt hatte, nahmen ihn die Essäer auf und sprachen mit ihm oftmals über ihre tiefsten Geheimnisse, über die sie sonst nur zu ihresgleichen, zu Eingeweihten gesprochen hatten. Nur zu ihm sprachen sie über ihre tiefsten Geheimnisse. Und er lernte in den Essäern Menschen kennen, welche in damaliger Zeit durch eine besondere innere Entwickelung wiederum hinaufzusteigen trachteten zu dem, wovon sich die Mensch­heit nach abwärts entwickelt hatte. Begierig nahm er auf das, was er über die menschliche Entwickelung eines solchen Aufstieges von den Essäern erfahren konnte. Eines Tages aber, als er das Haus der Essäer verließ und durch das Tor ging, hatte er eine besonders bemerkens­werte Vision : Zu beiden Seiten des Tores sah er zwei Gestalten, von denen er später, durch seine späteren Erlebnisse, wußte, daß es Luzifer und Ahriman waren. Die flohen von den Toren der Essäer hinweg in die übrige Welt hinaus. Und er war nun durch dasjenige, was er in sei­ner eigenen inneren Entwickelung durchgemacht hatte, so weit, daß er sozusagen lesen konnte in der okkulten Schrift die Bedeutung dieses Hinwegfliehens Luzifers und Ahrimans von den Toren der Essäer. Er

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wußte nun : Ja, möglich ist es auch in dieser Gegenwart, daß einzelne Menschen durch eine besondere seelische Entwickelung hinauf-kommen zu den geistigen Höhen, aber nur auf Kosten der übrigen Menschen. Denn die Essäerentwickelung konnten nur einzelne Aus­erwählte durchmachen und sie konnten es nur dadurch, daß andere auf unteren Stufen zurückblieben. Er wußte, daß die Essäer sich durch ihre mystische Entwickelung frei machten von dem Einflusse Luzifers und Ahrimans, daß aber Luzifer und Ahriman deshalb, weil sie fliehen mußten von den Essäerhäusern, gerade zu den anderen Menschen hinfiohen und die übrige Menschheit nur um so mehr ergriffen. Und aus diesem okkulten Erlebnis kam ihm der dritte große Schmerz, in­dem er sich sagen konnte : Ja, einzelnen besonders auserwählten Men­schen ist es möglich, aufzusteigen zu dem, was früher den Menschen geoffenbart worden ist, aber nur auf Kosten der übrigen Menschen können sie aufsteigen. - Das schnitt ihm fast das Herz ab, denn er war voll Liebe zu allen Menschen. Und jetzt konnte er sich als Ergebnis des dritten großen Schmerzes sagen : Wie auch in unserer Gegenwart einzelne Menschen hinaufsteigen zu den höheren spirituellen Erkennt­nissen, den übrigen Menschen müssen sie entzogen werden. Wie hoch eine Seele auch steigen mag, was sie auch wissen mag, es mitzuerleben mit den Essäern, dazu sind die anderen Menschen im weiten Erden-rund viel zu elend.

Als Jesus von Nazareth solches erlebte, konnte er erfahren, wie seine Stief- oder Ziehmutter immer mehr und mehr Verständnis faßte für sein inneres Leben. Namentlich seit dem Tode des Vaters war dies der Fall. Und während in früheren Jahren Jesus von Nazareth ganz allein und einsam in der Familie war, entwickelte sich in dieser Zeit so manches Gespräch mit der Mutter, in dem Jesus von Nazareth spre­chen konnte von dem, was er in seiner einsamen Seele erlebte. Und es kam zu einem großen entscheidenden Gespräch zwischen Jesus von Nazareth und der Mutter im dreißigsten Jahre seines Lebens. All das­jenige, was sich an Erkenntnissen seit dem zwölften Jahre in seiner Seele abgelagert hatte - bei dem Vernehmen der Stimme der großen Bath-Kol, durch das kosmische Vaterunser, durch das Erlebnis mit den Essäern -, all das, was sich so an Erkenntnissen in seiner Seele

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aufgespeichert hatte, von dem sprach er zu seiner Mutter eines Tages. Und er sprach so zu seiner Mutter, daß tief erschütternd wirkt dieses Gespräch, auch wenn es hinterher aus der Akasha-Chronik von der okkulten Forschung entziffert wird. Die Worte gingen nicht nur wie Worte hinüber zur Mutter, sondern wie lebendige Kräfte, die wie auf Flügeln hinübertrugen das Wesen der Seele des Jesus von Nazareth in das Wesen der Seele der Mutter hinein. So tief verbunden war Jesus von Nazareth mit dem, was er in seine Worte zu kleiden hatte, daß sein Leid und seine Erkenntnisse übergingen in die Worte und hin-überströmten in Herz und Seele der Mutter. Und es war, wie wenn die Mutter von einem neuen Leben durchzogen worden wäre; wie ver­jüngt lebte sie neu auf.

Jesus von Nazareth aber kam wie in einen ganz anderen Seelen-zustand hinein. Mit den Worten hatte er das, was so innig mit ihnen verbunden war, das eigene Ich hinausgeströmt. Das Ich des Zara­thustra hatte die drei Leiber, physischen, Äther- und Astralleib des Jesus von Nazareth verlassen und die kosmischen Kräfte wirkten in die drei Leiber hinein. Ohne Ich-Bewußtsein, wie in einem höheren Traumleben, wurde Jesus von Nazareth hingetrieben auf den Weg zu Johannes dem Täufer: Jesus von Nazareth, der im Gespräch mit der Mutter sein Zarathustra-Ich ausgehaucht hatte.

So war er bereitet, nach Hingabe seines Zarathustra-Ich aufzuneh­men die Christus-Wesenheit als sein neues Ich. Das Mysterium von Golgatha als die vierte Etappe der Christus-Ereignisse, von denen wir gesprochen haben, war damit vorbereitet. Es spielte sich ab während der drei Jahre, in denen der Christus lebte im Leibe des Jesus von Nazareth bis zu dem Mysterium von Golgatha hin. Und erst bei dem­jenigen Ereignis, dessen Andenken wir feiern in dem Pfingstereignis, kamen die Jünger, wie selbst aus einem anderen Bewußtseinszustande heraus, zur Erkenntnis dessen, was sich mit dem Christus Jesus ab­gespielt hatte.

Wenn wir dasjenige, was über die Christus-Wesenheit nunmehr be­trachtet worden ist als ein Ergebnis der okkulten Forschung der Ge­genwart, überblicken, können wir dann sagen, daß unser Herz und unsere Seele weniger erschüttert würden durch diese Offenbarungen

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für unsere Zeit, als durch jene Offenbarungen, die einer früheren Zeit über Jesus und Christus geworden sind? Die okkulte Wissenschaft unserer Tage setzt uns wirklich in den Stand, ein Mehreres und ein Tieferes über den Christus Jesus zu wissen, als verflossene Jahrhun­derte gewußt haben. Und das dürfen wir sagen: Die Gestalt des Chri­stus wächst zu kosmischer Größe, indem wir sie zu erkennen ver­suchen mit den Mitteln, die uns der moderne Okkultismus zur Verfügung stellt.

Blicken wir zurück auf das, was einer früheren Menschheit über den Christus Jesus gegeben war, zum Beispiel in den vier Evangelien. Im okkulten Standpunkt sind wir uns klar darüber, daß diejenigen, die die Evangelien geschrieben haben, sie nach den Inspirationen alter Myste­rien, aus einem atavistischen Heilsehen heraus geschrieben haben. Ich habe darauf hingewiesen in meinem Buche «Das Christentum als my­stische Tatsache». Der erste, welcher eine Impression hatte von der kosmischen Bedeutung des Christus, war Paulus; Paulus, der wahr­nehmen konnte, wie hereingeströmt war die Kraft der Christus­Wesenheit in die Erdenaura. Dasjenige, was dem Paulus für einen be­stimmten Punkt der Christus-Erkenntnis aufgegangen war, das kann, wenn wir den Okkultismus unserer Tage vertiefen, für weitere Felder der Christus-Erkenntnis dem Menschen aufgehen. Denn indem das Schauen des Paulus ausgedehnt wird von dem Mysterium von Gol­gatha auf seine drei Vorstufen, indem es ausgedehnt wird von dem, was bei Paulus fast nur die Wahrnehmung ist des Jesus von Nazareth, auf das Leben des Christus Jesus, dann wird gewissermaßen die Pau­linische Methode von einem einzigen Zentrum aus über die ganze große Erscheinung des Christus Jesus-Lebens verbreitet. Indem wir auf diese Weise heute durch eine hingebungsvolle okkulte Forschung in die Lage kommen können, die Paulinische Methode gleichsam all­gemein zu machen für die Christus-Erkenntnis, hat sich ein wirklicher Fortschritt in der Erkenntnis des Christus vollzogen.

Nicht in abstrakter Weise wollte ich sprechen über die Entwicke­lung des Fortschrittes in der Erkenntnis des Christus, sondern kon­kret wollte ich anschaulich machen, welche Christus-Erkenntnis in der Gegenwart von der okkulten Wissenschaft errungen werden kann. So

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wird uns denn ersichtlich geworden sein aus unserer heutigen Be­trachtung, daß Geisteswissenschaft, wie wir sie meinen, ein Instru­ment sein kann zu einer immer tieferen Christus-Erkenntnis. Zu hoffen steht, daß, wenn die Menschheit durch die materialistischen Einflüsse auch noch so weit kommen sollte in der Ablehnung der alten reli­giösen Vorstellungen über den Christus, die neuere Geisteswissenschaft den Christus der Menschheit wiederum geben wird. Denn diese Gei­steswissenschaft spricht nicht aus Theorien heraus über den Christus, sondern eingedenk des Christus-Wortes selbst : Ich bin bei euch bis ans Ende der Erdentage! - Denn in die Erdenaura, in die wir selbst eingebettet sind, ist der Christus hineinergos sen. Er lebt darinnen! Und wir können mit ihm als einem geistigen Wesen in der Erdenaura verkehren, wenn wir uns die Möglichkeit dazu aneignen, wie die Jünger einmal auf dem physischen Plan mit dem Christus Jesus gelebt haben. Wir müssen uns nur daran gewöhnen, die lebendige Anwesen­heit des Christus in der Erdenaura wirklich zu durchschauen und das Christentum nicht nur zu identifizieren mit einer bloßen Lehre, einer bloßen Doktrin. Seit dem Mysterium von Golgatha ist der Christus da, ist um uns herum. Wir können ihn finden in derselben Welt, in der wir sind, in der er ist, nur nicht in einer physischen Gestalt, sondern als Geistwesenheit.

Und wir können verfolgen, wie er tätig ist als Wesenheit, unab­hängig von dem, was die Menschen über ihn zu denken vermochten. Haben wir es nicht erlebt, daß in Konzilien und sonstigen Streit-stätten die Meinungen, die Lehren über den Christus hin- und hergegangen sind, daß die Menschen nicht fähig waren, mit ihren Gedanken über den Christus zurechtzukommen? Wie viele Meinungen sind erlebt worden über den Christus! Wenn aber die Fortentwickelung des Christus-Impulses abhängig gewesen wäre von den Meinungen der Menschen über denselben, so stände es wahrlich schlecht mit dieser Fortentwickelung des Christus-Impulses. Dieser Christus4mpals ist in der Erdenentwickelung als eine lebendige Realität, und er wirkt in ihr als Realität, ganz abgesehen davon, wie die Menschen über ihn dachten.

Fassen wir, um uns so etwas zu vergegenwärtigen, das Datum des

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28. Oktober 312 ins Auge. Damals stand vor den Toten Roms Kon­stantin, der Sohn des Constantius Chiorus, er stand vor dem Rom, das Maxentius regierte. Konstantin mit seinem verhältnismäßig kleineren Heer näherte sich Rom, in dem Maxentius ein bedeutsam größeres Heer befehligte. Maxentius war innerhalb der Mauern Roms sicher. Konstantin rückte auf freiem Felde heran. Jene Schlacht, die damals geschlagen wurde, entschied über die Landkarte Europas. Derjenige, der die Geschichte studiert in ihren Tiefen, wird stets zugeben müssen :

Damals entschieden nicht die Ideen der Generäle, nicht die Vernunftgründe der Menschen über das, was in der Schlacht geschah, sondern etwas ganz anderes! Maxentius fragte bei den sibyllinischen Büchern an und er bekam zur Antwort : Wenn du außerhalb der Tore Roms Konstantin angreifen wirst, so wirst du den größten Feind Roms ver­nichten. - Ein rechtes Orakel! Und in der Nacht, die der Schlacht voranging, hatte Maxentius einen Traum, der ihn antrieb, die gesicherte Stellung in den Mauern Roms zu verlassen und Konstantin entgegen-zugehen. Konstantin aber, mit seinem viel kleineren Heer, er hatte in der Nacht einen Traum, der ihn anwies, das Symbolum des Christus seinem Heere vorantragen zu lassen und in diesem Zeichen zu siegen. Keine Vernunftgründe, keine strategischen Gründe, keine Kenntnisse des Kriegswesens hatten dazumal eine Rolle gespielt, da es auf die Entscheidung ankam, sondern unterbewußte Kräfte standen sich gegenüber in Maxentius und Konstantin. Man mag über den Wert oder Unwert Konstantins denken, wie man will, in dem Siege, den Konstantin dazumal erfocht, lebte der Impuls des Christus als eine wirkliche, reale Kraft, die durch das Unterbewußte der Menschen wirkte seit dem Mysterium von Golgatha, ganz abgesehen davon, was die Menschen über den Christus dachten.

Das ist nur eines der Ereignisse, deren viele angeführt werden könnten, die uns bezeugen, wie zuerst in die unterbewußten Seelenkräfte hinein, die sonst ins Sibyllinische übergegangen wären, der Christus-Impuls kam und sich heraufarbeitete. Und während die ober-bewußten Seelenkräfte immer mehr dazu drängten, den Christus-Impuls durch die materialistische Strömung nicht mehr zu ver­stehen, arbeitet in den unterbewußten Seelenkräften der Menschen

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der Christus weiter, so wie er gewirkt hat in Konstantin und in Maxentius.

Heute aber stehen wir vor der Notwendigkeit, das, was in den un­terbewußten Seelenkräften gewirkt hat, heraufzuholen und bewußt vor die Seele hinzustellen. Bewußt erkennen sollen wir das Wesen, das seit dem Mysterium von Golgatha in der Erdenaura, in den Seelen der Menschen wirkt, und das die Geschicke der Erdenentwickelung, der Menschheit seit dem Mysterium von Golgatha aus dieser Erdenaura heraus bestimmt hat.

Indem wir uns dies so vor Augen halten, verstehen wir den Fort­schritt, den die menschliche Erkenntnis in bezug auf den Christus ge­macht hat, und wir verstehen unsere eigene Aufgabe gegenüber den Fortschritten in der Erkenntnis Christi.

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DIE VIER CHRISTUS-OPFER DIE DREI VORSTUFEN DES MYSTERIUMS VON GOLGATHA Basel, 1. Juni 1914

Für unsere gegenwärtige Kultur ist vor allen Dingen nötig, daß wir immer mehr und mehr gewinnen, indem wir die Ergebnisse der Gei­steswissenschaft auf uns wirken lassen, eine neue Christus-Erkenntnis. Und gerade dieser neuen Christus-Erkenntnis ist manches so feind­lich, was heute das Amtssiegel des Christlichen trägt. Notwendig ist, daß immer mehr und mehr ein Verständnis erworben wird dafür, wie wir für unsere Kultur eine Schule der Selbstlosigkeit brauchen. Eine Erneuerung der Moral, eine Vertiefung des menschlichen sittlichen Lebens kann nur kommen durch die Schulung der Selbstlosigkeit. Diese Schule der Seibstiosigkeit kann der Mensch nach den Bedin­gungen des gegenwärtigen Zeitenzyklus nur durchmachen, wenn er sich ein Verständnis erwirbt für wirkliche Seibstiosigkeit, ein durch­dringendes Verständnis sich erwirbt für wirkliche Selbstlosigkeit. Nun können wir, wenn wir die Weltenevolution, die Weitenentwickelung durchgehen, kein tieferes Verständnis finden für Seibstlosigkeit als dasjenige, was uns durch die Erscheinung des Christus auf Erden ge­geben worden ist. Und den Christus erkennen, heißt die Schule der Selbstlosigkeit durchmachen. Christus erkennen, heißt sich bekannt­machen mit all denjenigen Impulsen der Menschheitsentwickelung, die so in unsere Seele hineinträufeln, daß sie alles, was in dieser Seele zur Seibstlosigkeit veranlagt ist, durchglühen, durchwärmen und auf­rufen zum aktiven Seelensein, zur Selbstlosigkeit. Unter dem Einfluß des Materialismus ging die Seibstlosigkeit der Menschheit in einer Weise verloren, wie es in zukünftigen Zeiten der Menschheit erst er­kannt werden wird. Aber durch die Vertiefung in das Mysterium von Golgatha, die Durchdringung der Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha mit unserem ganzen Gefühl, unserem ganzen seelischen Wesen, können wir uns wiederum eine Kultur der Selbstlosigkeit aneignen.

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Und wir können sagen: Was Christus für die Erdenentwicke­lung getan hat, ist beschlossen in dem Grundimpuls der Selbstlosigkeit, und was er werden kann für die bewußte Entwickelung der mensch­lichen Seele, ist die Schule der Selbstlosigkeit! Das werden wir am besten gewahr, wenn wir das Mysterium von Golgatha in seinem großen Zusammenhang betrachten.

Dieses Mysterium von Golgatha ist so, wie wir es kennen, einmal verlaufen innerhalb der physischen Erdenentwickelung. Einmal ver­leiblichte sich diejenige Wesenheit, die wir als die Christus-Wesenheit anerkennen, in einem menschlichen Leibe, in dem Leibe des Jesus von Nazareth. Aber drei Vorstufen hat dieses Mysterium von Golgatha. Dreimal ist vorher etwas geschehen, allerdings noch nicht auf der Erde, aber in der geistigen Welt. Und gewissermaßen haben wir drei Myste­rien von Golgatha, von denen wir sagen müssen, daß sie noch nicht auf dem physischen Plan sich vollzogen haben. Das vierte erst hat sich auf dem physischen Plan abgespielt und ist dasjenige, von dem uns die Evangelien und die Paulinischen Briefe Kunde geben. Vorbereitet ist dieses größte Erdenereignis durch drei überirdische Ereignisse. Diese überirdischen Ereignisse fielen so, daß das eine in der alten lemuri­schen Zeit liegt, zwei liegen in der atlantischen Zeit. Das vierte Er­eignis liegt in der nachatlantischen Zeit und ist unser Mysterium von Golgatha.

Die drei vorhergehenden sind Ereignisse, die sich nicht auf der Erde abgespielt haben, sondern in der überirdischen Welt, aber die Kraft dieser Ereignisse ist auf die Erde heruntergedrungen. Wir wollen ver­suchen zu verstehen, wie die Kräfte der drei, das Mysterium von Gol­gatha vorbereitenden überirdischen Ereignisse in die Menschheits­entwickelung hereingewirkt haben.

In bezug auf unser sittliches Leben, unser Weltverständnis und in bezug auf dasjenige, was innerhalb unserer Bewußtseinsseele sich ab-spielt, müssen wir erst selbstlos werden. Das ist eine Aufgabe der jetzigen Kultur gegen die Zukunft hin. Die Menschheit muß immer selbstloser und selbstloser werden, darin liegt die Zukunft der richti­gen sittlichen Lebenstaten, die Zukunft aller Liebestaten, die durch die Erdenmenschheit geschehen können. Unser bewußtes Leben ist auf

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dem Wege zur Selbstlosigkeit oder muß auf dem Wege zur Selbst-losigkeit sein. In einer gewissen Beziehung aber gibt es in uns schon wesenhaft Selbstloses. Und es wäre das größte Unglück des Erden-menschen, wenn er mit Bezug auf gewisse Teile seines Wesens so selbstsüchtig sein müßte, wie er es in vieler Beziehung heute noch sein muß in bezug auf sein moralisches, intellektuelles und gefuhlsmäßiges Leben. Wenn die Selbstsucht zum Beispiel in demselben Grad unsere Sinne ergreifen würde oder ergreifen könnte, wie sie unsere Moral er­greift, so wäre dies das größte Unglück für den Erdenmenschen. Denn unsere Sinne wirken an unserem Leibe so, daß in dieser Sinnes-wirkung sich Selbstlosigkeit ausspricht.

Wir haben Augen in unserm Leibe. Durch diese Augen sehen wir. Aber wir sehen nur dadurch, daß tatsächlich die Augen selbstlos sind, daß wir sie gar nicht spüren. Wir tragen sie in uns, wir sehen gleich­sam durch die Augen hindurch die Dinge, aber die Augen selbst sind ausgelöscht als solche in unserem Wahrnehmen. So ist es auch mit den anderen Sinnen. Wir nehmen die Welt dadurch wahr, daß unser Sinnensystem selbstlos ist. Nehmen wir einmal an, unsere Augen wären selbstsüchtig. Was würde dann mit dem Menschen geschehen? Wir würden uns zum Beispiel einer blauen Farbe nähern, und indem wir uns ihr nähern, würde unser Auge, weil das Auge so wirken würde, daß es nicht die Farbe durchlassen, sondern sie unmittelbar im Auge selbst erschöpfen würde, von dem Blau, indem es sich ihm näherte, ausgesogen werden. Wie eine Saugkraft würde man es im Auge emp­finden, wenn das Auge so selbstsüchtig werden könnte, wie wir in un­serem moralischen, intellektuellen und Gefühl4eben sind. Wenn wir uns einer roten Farbe nähern und unser Auge sich nicht selbstlos ver­halten würde, sondern Anspruch darauf machen würde, die Wirkung des Rot in sich zu erleben, so würde das Rot wie stechend auf unser Auge wirken. Und wenn unser Auge selbstsüchtig würde, so wäre es so, daß wir gegenüber allen Eindrücken einen Saug- oder Stech­schmerz hätten. Wir wären uns bewußt, daß wir Augen haben, aber wir würden bloß Saug- oder Stechschmerzen wahrnehmen. In Wirk­lichkeit ist es für den heutigen Menschen so, daß er durch die Welt geht und weiß, daß Farben- und Lichtwirkungen da sind. Aber er

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braucht nicht an das Auge zu denken. Es löscht sich selbstlos aus während des Wahrnehmens. Und ebenso ist es mit den andern Sinnen.

In unseren Sinnen waltet Selbstlosigkeit. Aber zu dieser Selbstlosig­keit wären die Sinne nicht gekommen, schon in der lemurischen Zeit wäre ihnen die Selbstlosigkeit genommen worden, wenn Luzifer frei für sich hätte wirken können in dieser alten lemurischen Zeit. Der Geist, von dem mit Recht das biblische Wort gesagt wird : Euer Auge wird geöffnet sein -, dieser Geist hat notwendig gemacht, daß der Njensch in eine Sphäre des Etdenlebens versetzt worden ist, in welcher seine Augen, wenn sie sich so entwickelt hätten, wie sie sich unter dem Einflusse Luzifers hätten entwickeln mussen, selbstsuchtig geworden wären. Und bei jedem Eindruck und so wurde es auch für die andern Sinne sein - hätte der Mensch gerufen Ach, hier sticht es! und er hätte nicht die rote Farbe in seiner Umgebung wahrgenommen, oder er hätte gesagt : Ach, es saugt an mir und hatte nicht die blaue Farbe wahrgenommen, sondern im Auge die saugende Wirkung. Abgewen­det worden ist noch in der lemurischen Zeit diese Gefahr von der Menschheitsentwickel dadurch daß sich - aber jetzt nicht auf der Erde, sondern in den überirdischen Welten - diejenige Wesenheat, die später durch das Mysterium von Golgatha sich in dem Leib des Jesus von Nazareth verleiblicht hat dazumal verseelt - ich kann nicht sagen verleiblicht - hat in ein Erzengelwesen, ein Wesen aus der Hierarchie der Archangeloi. So lebte während die Erde ihr lemurisches Zeitalter durchmachte, in geistigen Höhen ein Wesen, welches - man möchte sagen, durch eine Art Vorbotschaft der Johannestaufe - dadurch ent­standen ist, daß ein Erzengel seine Seelischheit hingeopfert hat und der Christus dieses Erzengelwesen durchdrang. Dadurch aber löste er eine Kraft aus, die in die menschliche Erdenentwickelung hereinwirkte Und das Ergebnis dieser Einwirkung war eine Beruhigung der Sinne, ein Harmonischwerden der Sinne. Und wenn wir uns heute unserer Sinne so bedienen können, daß diese Sinne selbstlos sind, werden wir - wenn wir in bezug auf diese Tatsache verstanden haben und der Weltenordnung dankbar gemacht worden sind - hinschauen in alte Zeiten und werden sagen: Das, was wir als Sinnenmenschen sind was möglich macht, daß wir nicht Schmerz durch unsere Sinne, sondern

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die herrliche Natur um uns herum empfinden, das rührr von dem ersten Christus-Opfer her. Dadurch, daß er sich verseelt hat in einem Erzengel, bringt er die Wirkung hervor, welche die Gefahr der Selbst-sucht der Sinne von der Menschheitsentwickelung ablenkte. Das war die erste Vorstufe des Mysteriums von Golgatha.

Lernen wird der Mensch allmählich das tiefe, bedeutsame religiöse Gefühl entwickeln, wenn er hinschaut auf die Herrlichkeit der Natur, wenn er hinaufschaut zum Sternenhimmel, auf alles dasjenige, was das Sonnenlicht bescheint, was im tierischen, im mineralischen, im pflanz­lichen Reich um uns herum ist, sagen lernen wird der Mensch: Daß ich so die Welt um mich herum schauen kann, daß ich so hineingestellt bin in diese Welt, daß meine Sinne nicht Quellen von Schmerzen sind, sondern das Werkzeug der Wahrnehmung der Herrlichkeit der Welt, das verdanke ich dem ersten Opfer, das von seiten des Christus als Vorbereitung vorangegangen ist dem Mysterium von Golgatha. -Und vor uns erblicken wir perspektivisch eine Zeit, in der die Natur-betrachtung, der Naturgenuß durchchristet sein wird, wo die Men­schen fühlen werden, sich sagen werden, wenn sie hinausgehen und sich eriaben an dem herrlichen Frühling, an den Schönheiten des Som­mers oder an sonstigen Herrlichkeiten der Natur : Indem wir das alles aufnehmen können, was Herrliches die Natur um uns ausbreitet, müs­sen wir uns bewußt sein: Nicht wir, der Christus in unseren Sinnen ist es, der uns geeignet macht, also die herrliche Natur zu empfinden.

Und es war in den ersten Zeiten der atlantischen Entwickelung, da wollte sich - jetzt durch Luzifer und Ahriman bewirkt - die Selbst­sucht eines andern Systems der menschlichen Organisation bemächti­gen, nämlich der Lebensorgane. Versuchen wir einmal, uns das We­sentliche unserer Lebensorganisation von diesem Gesichtspunkt aus vor Augen zu führen. Was ist denn dieses Wesentliche? Man braucht nur zu denken, wie es dem Menschen ergeht, wenn dieses Wesentliche der Lebensorgane beeinträchtigt ist. Und es ist beeinträchtigt, wenn organische Erkrankungen der Lebensorgane auftreten. Da beginnt der Mensch zu erleben die Selbstsucht seiner Lunge, seines Herzens, Magens und anderer Organe. Da beginnen die Zeiten, wo der Mensch, erst indem er den Schmerz fühlt, weiß, er hat einen Magen, ein Herz,

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wo er es weiß im unmittelbaren Bewußtsein: Kranksein heißt, ein Organ ist selbstsüchtig geworden, führt ein eigenes Leben in unserem Organismus. In dem gewöhnlichen normalen Menschenleben ist das nicht der Fall. Da leben in der Gesamtorganisation des Menschen die einzelnen Organe des Menschen selbstlos. Und unsere alltägliche Ver­fassung hält uns nur dann sicher in der Welt aufrecht, wenn wir mit selbstlosen Organen durch die Welt gehen können, wenn wir nicht spüren, daß wir Magen, Lunge und so weiter haben, sondern wenn wir sie haben, ohne sie zu spüren, wenn sie nicht selbst sich gleich gel­tend machen, sondern wenn sie im ganzen Organismus dienende Glie­der sind.

Bei anderer Gelegenheit, ein andermal werden wir davon sprechen, warum Krankheit durch die Selbstsucht der Organe bewirkt wird, heute soll nur auf den normalen Zustand hingewiesen werden. Wäre es nur auf Ahriman und Luzifer angekommen, so wären ganz andere Zustände eingetreten schon in der atlantischen Entwickelung. Jedes einzelne menschliche Organ wäre selbstsüchtig geworden und etwas ganz Merkwürdiges hätte sich ereignet. Nehmen wir an, der Mensch näherte sich irgendeiner Frucht, also etwas, was in der Außenwelt ist und was von uns genossen werden kann oder was in irgendeiner Be­ziehung zu unserer Leibesorganisation steht. Es wird einmal gerade diese Beziehung zu unseren Lebensorganen ein Gegenstand des mcdi­zmischen Studiums sein, wenn die Wissenschaft sich wird anregen lassen von der Geisteswissenschaft. Dann wird man wissen, daß, wenn der Mensch zum Beispiel sich Kirschen pflückt vom Baum und sie ißt, gerade das, was mit den Kirschen in die Organisation übergeht, eine besondere Beziehung zu gewissen Organen hat, andere Früchte haben andere Beziehungen zu andern Organen. Alles was in die menschliche Organisation hineinkommt, hat gewisse Beziehungen zu dieser Orga­nisation. Wenn das erfüllt worden wäre, was durch Ahriman und Lu­zifer hätte geschehen sollen in der atlantischen Zeit, dann hätten wir zum Beispiel Kirschen gepflückt, und im höchsten Maße hätte das Organ, das zu den Kirschen Beziehung hat, eine Gier gehabt. Eine unendliche Gier wäre da zum Ausdruck gekommen, und der Mensch hätte gespürt das betreffende Organ, das selbstsüchtig sich herausstellen

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würde aus dem Gesamtorganismus, aber die andern Organe würden dafür ebenso selbstsüchtig dagegen streiten in seinem Or­ganismus. Oder nehmen wir einen andern Fall : es sei irgend etwas da, was dem Menschen schädlich ist. Geradeso wie die Dinge der Außen-weit gewisse Beziehungen zum Menschen haben im guten Sinn, so haben andere Dinge der Außenwelt nachteilige Beziehungen. Wenn der Mensch sich irgendeiner giftigen Pflanze näherte oder etwas an­derem, was nur nachteilige Beziehungen zu diesem oder jenem Organ hätte, so würde er diese Beziehung durch die innere Tätigkeit des Or­ganes spüren, und dies würde sich ausdrücken in einem furchtbaren, quälenden Angstgefühl. Der Mensch würde fühlen : vor ihm ist etwas, was da auf sein Organ so wirkt, daß es sich gleichsam ausgebrannt fühlt.

Nehmen wir jetzt nicht dasjenige, was der Mensch ißt, nehmen wir die Luft, die uns umgibt. Alles was in der Luft auftritt, hat Beziehung zu unseren Organen. Wenn das in Erfüllung gegangen wäre, was Ahriman und Luzifer gewollt haben, wenn der Mensch nur soauf sich angewiesen wäre, so würde er gejagt werden durch die Welt zwischen tierischster Begierde nach dem, was dem einen oder andern Organ zuträglich ist, und furchtbarem Ekel vor dem, was dem einen oder andern Organ schädlich ist. Stellen wir uns vor, wenn wir so hinein­gestellt wären in die Welt, mit solchen Leibesorganen, daß wir im höchsten Maße ein Spielball wären für jedes angenehme Aroma, dem wir, weunschon es eine Stunde entfernt ist, nachlaufen würden, oder ein Ekelgefühl nötigte uns schon von weither, daß wir entflöhen. Wenn wir so wie ein Kautschukball hin- und hergeworfen würden, denken Sie sich, wie könnten wir uns da entwickeln in der Welt? Daß das nicht so kam, daß unsere Lebensorgane abgedämpft worden sind, daß sie harmonisiert worden sind, ist die Folge davon, daß sich in der Zeit, in der der Mensch die erste atlantische Entwickelung durch-machte, in überirdischen Sphären die zweite Vorstufe des Mysteriums von Golgatha ereignete. Wieder verseelte sich die Christus-Wesenheit in einer Erzengeiwesenheit, und das, was dadurch bewirkt wurde, das strahlte in die Erdenatmosphäre herunter. Da entstand jene Harmom­sierung, jene Abdämpfung der Lebensorgane, die die Organe im Menschen

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selbstlos macht. In unserem Zusammensein mit der Außenwelt würden wir fortwährend die Ursache haben von den schlimmsten Er­krankungen, wir könnten gar nicht gesund sein, wenn nicht dieses zweite Christus-Ereignis eingetreten wäre. Und wiederum wird sich - das tritt uns als eine Perspektive für die Zukunft entgegen - die Menschheit, wenn sie sich wird durchdringen können mit einem wirk­lichen Verständnis von der geistigen Welt, ein Dankbarkeitsgefühl an­eignen gegenüber den geistigen Wesenheiten, von denen der Mensch abhängt. Es wird sich die Menschheit erfüllen mit jenem wahren Frommsein, durch das sie sagen wird : Ich empfinde es, daß ich ein physischer Mensch mit der Selbstlosigkeit der Organe nur sein kann dadurch, daß nicht ich allein in der Welt mich entwickelt habe, sondern der Christus in mir, der mir meine Organe so gestaltet hat, daß ich Mensch sein kann! - So lernen wir immer mehr und mehr, daß wir im Grunde genommen alles dasjenige, was uns zum Menschen macht, im allerumfassendsten Sinne so auffassen müssen, daß wir sagen : Nicht ich, der Christus in mir. -Der Christus hat gesorgt für die ganze Mensch­heitsentwickelung in den drei Vorstufen des Mysteriums von Golga­tha, die er verrichtet hat vor dem eigentlichen Mysterium von Golgatha.

Es war in den letzten Zeiten der atlantischen Entwickelung, da stand die Menschheit vor einer dritten Gefahr. Da sollte in Unordnung kommen Denken, Fühlen und Wollen. Die Selbstsucht sollte ein-ziehen in Denken, Fühlen und Wollen. Was würde dadurch entstanden sein? Nun, der Mensch würde dieses oder jenes gewollt haben, würde diesen oder jenen Willensimpulsen nachgegangen sein, einem andern Impuls würde sein Denken, wieder einem andern sein Fühlen nach-gegangen sein. Notwendig war es für die Menschheitsentwickelung, daß Denken, Fühlen und Wollen sich als selbstlose Dinge der Ge­samtheit der Seele einfügten. Unter dem bloßen Einfluß von Luzifer und Ahriman würden sie das nicht gekonnt haben. Da würden Den­ken, Fühlen, Wollen selbstsüchtig geworden sein, sie hätten gleichsam das harmonische Wirken der Seele zerrissen. Da trat dann, gegen Ende der atlantischen Entwickelung, das dritte Christus-Ereignis ein. Wie­derum verseelte sich die Christus-Wesenheit in einem Erzengelwesen,

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und die Kraft, die in der überirdischen Welt dadurch entstand, daß der Christus ein Erzengelwesen durchdrang, die ermöglichte die Harmoni­sierung von Denken, Fühlen und Wollen. Wahrhaftig, so wie die phy­sischen Sonnenstrahlen auf die Erde wirken müssen, damit nicht alles Pflanzenleben verdorrt, so muß von überirdischen Welten der Sonnen-geist spiegelnd auf die Erde herein wirken, wie ich es jetzt geschildert habe. Auf der dritten Stufe hat er harmonisiert Denken, Fühlen und Wollen, so wie sie für das normale Menschenleben harmonisiert wer­den mußten.

Was wäre aus dem Menschen geworden, wenn dieses dritte Christus-Ereignis nicht eingetreten wäre? Furienhaft würde er erfaßt worden sein von seinen wilden Begierden, von seinem Willensleben. Rasend hätte er werden können, trotzdem auf der andern Seite wiederum sein Verstand selbstsüchtig höhnisch gedacht hätte über dasjenige, was rasend der Wille vollbringt. Das ist abgewendet worden durch das dritte Christus-Ereignis, da der Christus zum dritten Mal als Christus­Wesenheit in der äußeren Seele eines Erzengels war, eines Wesens aus der Hierarchie der Archangeloi.

Die Menschheit hat sich eine Erinnerung erhalten daran, wie die menschliche Leidenschaft und das menschliche Denken harmonisiert worden sind durch die Kräfte, die damals herunterwirkten aus den überirdischen Welten. Und dieses Erinnerungszeichen ist vorhanden, wird nur nicht in richtiger Weise verstanden. St. Georg, der den Dra­chen besiegt, oder Michael, der den Drachen besiegt, ist das Zeichen, das gebildet worden ist für das dritte Christus-Ereignis, da in Erz­engelgestalt sich verseelt hat der Christus. Und der Drache, den er zer­tritt, ist derjenige, der in Unordnung gebracht hat das menschliche Denken, Fühlen und Wollen. Alle, die auf St. Georg mit dem Drachen oder auf Michael mit dem Drachen oder auf ähnliche Angelegenheiten hinblicken, sprechen in Wahrheit von dem dritten Christus-Ereignis. Und die Griechen, welche in ihrer wunderbaren Mythologie etwas ge­schaffen haben wie Nachbilder desjenigen, was sich am Ende der atlan­tischen Zeit in der geistigen Welt zugetragen hat, verehrten den Sonnengeist als den Harmonisator von Denken, Fühlen und Wollen in den Menschen. Du Sonnengeist - so sagten sich diejenigen Menschen

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in Griechenland, die etwas davon gewußt haben -, du hast dich in ätherischer Geistgestalt - denn so ist die Gestalt derer, die wir heute Archangeloi nennen - verseelt. Da hast du dasjenige, was sonst wild und unbeherrscht in der menschlichen Seele als Denken, Fühlen und Wollen durcheinanderrasen würde, zur Harmonie entfaltet auf deiner wunderbaren Leier, auf der du die Töne der menschlichen Seele har­monisch erklingen läßt! - Da wurde der Sonnengeist der Schutzgeist der im Menschen wild stürmenden Leidenschaften, wenn sie, wie es geschehen konnte, auflebten in den wilden Dämpfen, die aus dem Innern der Erde aufsteigen, die durch die Erde brechen. Und wenn nun ein Mensch sich ihnen aussetzen würde und nur diese Dämpfe auf sich wirken ließe, er würde wild durcheinanderrasen haben in sich Denken, Fühlen und Wollen. So setzte der Grieche die Pythia über solche, die Leidenschaften von der Erde aus durch Luzifer und Ahri­man in Unordnung bringenden Dämpfe, aber Apollo überleuchtete die Pythia, besiegte die Wildheit der Leidenschaften - und sie wurde zur Weissagerin. In dem Sonnengeist des Apollo empfand der Grieche den Christus des dritten Christus-Ereignisses. Und in dem Verhältnis dazu der die Leidenschaften beherrschenden Stimmung der Pythia, in diesem Schutz, den der Gott Apollo der Pythia angedeihen ließ, in ihm sah der Grieche die Wirkung des dritten Christus-Opfers : die Harmo­nisierung der in Unordnung kommenden menschlichen Leiden­schaften durch das dritte Christus-Ereignis. Der Sonnengeist Apollo aber ist im Grunde genommen dasselbe für die Griechen, was im Bilde dargestellt wurde als Michael oder St. Georg, der den Drachen be­siegt.

So sehen wir, daß es einen Sinn hatte, wenn Justin, der Märtyrer, einen merkwürdigen Ausspruch tut. Einen Ausspruch, der, da ihn der Märtyrer getan hat, doch auch als christlich angesehen werden darf, trotzdem verschiedene heutige Vertreter des Christentums ihn ver-ketzern würden. Justin sagte : Heraklit und Sokrates und Plato waren auch Christen, aber nur solche, wie man Christ sein konnte bevor eben das Mysterium von Golgatha sich vollzogen hatte. Die Theologen von heute wissen nichts mehr davon, aber die ersten Zeiten des Christen­tums, die christlichen Märtyrer wußten es noch, daß die alten griechischen

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Weisen, wenn sie auch vielleicht nicht den Namen des Christus angewandt haben, doch, wenn man gefragt hätte : Wer war Apollo? -aus ihrem Mysterienwissen heraus geantwortet hätten : Der große Sonnengeist, der später in einem Menschen leben wird, der tritt in Apollo uns so entgegen, daß er wie in einer Erzengelgestalt in ihm verseelt ist.

Und dann kam das vierte, das irdische Mysterium, das von Gol­gatha. Dieselbe Christus-Wesenheit, die sich dreimal in Erzengel-gestalt verseelt hat, dieselbe Christus-Gestalt verleiblicht sich dann durch das Ereignis, das wir die Johannestaufe im Jordan nennen, in dem Leibe des Jesus von Nazareth.

Ich gebe zu, daß es Ihnen sonderbar erscheinen wird, wenn ich sage :

Dreimal hat sich diese Wesenheit in Erzengelgestalt verseelt und dann in Menschengestalt verleiblicht Denn schematischer wäre es, zu sagen, zwischen der Verseelung in einer Erzengelgestalt und der Verleib­lichung läge eine Verseelung in einer Engelgestalt, das heißt es würde sich der Christus auf einer der Stufen in einer Engelgestalt verseelt haben. So kommt es einem vor. Aber wenn die Menschen einem auch unterstellen, daß die Dinge, die aus der Geisteswissenschaft kommen, erdichtet sind, wahrhaftig, es ist nicht so. Das können Sie ja auch aus andern Dingen entnehmen. Und wenn Sie mich fragen : Wie kommt es, daß der Christus nicht herunterstieg von Hierarchie zu Hierarchie und dann erst zum Menschen herunterstieg -, wenn Sie mich heute darum fragen, so muß ich Ihnen antworten : Das weiß ich nicht, weil ich überhaupt nicht kombiniere. Sondern die Tatsachenforschung er­gibt, daß der Christus sich dreimal einer Erzengelgestalt - die Engel-gestalt wurde ausgelassen - und dann einer Menschengestalt bediente. Ich überlasse es späterer Forschung, festzustellen, warum das so ist. Heute weiß ich es noch nicht, aber es ist so. Wenn man erdichten wollte, würde man es - das können Sie aus dem eben Gesagten ent­nehmen - ganz anders machen.

Es trat also die vierte Stufe des Mysteriums von Golgatha ein. Die­ses Mysterium von Golgatha hat eine andere Gefahr abgewendet, die Gefahr, die darin bestanden hätte, daß durch den Einfluß Luzifers und Ahrimans das Ich des Menschen in Unordnung gekommen wäre.

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Die Sinnesorgane wären in Unordnung gekommen durch Luzifer in der lemurischen Zeit; in der ersten atlantischen Zeit drohte den Lebensorganen Unordnung und Disharmonie; in den letzten atlanti­schen Zeiten den Gemütsorganen, denjenigen Organen, die dem Den­ken, Fühlen und Wollen zugrunde liegen. Und in der nachatlantischen Zeit drohte dem Ich selber Unordnung. Weil das Ich in dieser Zeit Platz greifen sollte in der menschlichen Entwickelung, suchte man die Harmonie herzustellen zwischen diesem Ich und den Kräften des Kos­mos, so daß das Ich nicht ein Spielball werde der Kräfte des Kosmos. Es hätte ein Spielball werden können zwischen diesen Kräften. Es wäre so ausgebildet worden, daß es nicht bei sich hätte sein Selbst be­halten können, und wenn man es diesen Kräften überliefert hätte, so wäre das, was von der Seele kommt, hingerissen worden von allen elementarischen Kräften, die von Wind, Luft, Wellengang abstammen. Sie hätten den Menschen überall hingerissen.

Michelangelo hat es gemalt. Sehen Sie sich die Bilder an, die Michel­angelo gemalt hat. Er hat das gemalt, was dem Menschen gedroht hat. Es trat hervor in den Sibyllen. Wunderbar hat er es gemalt, wie sie den­jenigen Menschentypus darstellen, der sein Ich in Unordnung kom­men fühlt, so daß, wenn dieses Ich in Unordnung kommt, alle mög­lichen wunderbaren Weisheiten hervorkommen können, aber so, daß der Mensch sie nicht dirigieren kann. Sehen Sie sich an, wie Michel­angelo sie gemalt hat. Sie stellen dar die verschiedenen Stufen des durch Unordnung des Ich an die Elementarwesen Hingegebenen. Auf der andern Seite aber kommt auch anderes auf. In denselben Raum hat er hineingemalt die sinnenden Gestalten des Prophetismus, denen man es ansieht, daß sie dasjenige aufleuchten lassen, was die Ordnung des Ich gegenüber dem Kosmos erhält. Es ergreift uns wunderbar, wenn wir den Drang nach dem Ich sehen in den Propheten, und auf der an­dern Seite die menschlichen Wesen sehen, die durch das Ich selber in Unordnung gekommen sind, und dann den Christus selber in diesem Raume sehen, den Christus, der sich in einem menschlichen Leibe ver­leiblicht, und der das Ich, das in die Welt kommen sollte, in Ordnung zu bringen hat.

Ja, Geisteswissenschaft wird uns gerade tiefer und immer tiefer zeigen,

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wie dieses Ich des Menschen durch das vierte Christus-Ereignis, das Mysterium von Golgatha, zur Selbstlosigkeit kommen kann. Die Sinne haben gesagt : Nicht ich, der Christus in uns. Die Lebensorgane haben gesagt : Nicht ich, der Christus in uns. Die Gemütsorgane haben gesagt : Nicht ich, der Christus in uns. Des Menschen moralisches und intellektuelles Leben muß lernen zu sagen : Nicht ich, der Christus in mir. - Jeder Schritt in die geistige Welt hinein zeigt uns dieses.

Ich wollte heute dieses auseinandersetzen, damit wir bei einer an-dern Gelegenheit, die wir hoffentlich recht bald haben werden, einzelne okkulte Belege für diese Tatsachen liefern können und damit wir zei­gen können, wie das, was wir da Geisteswissenschaft nennen, in unser moralisches und intellektuelles Leben so sich hineinergießen wird, daß der Mensch ein Schüler der Selbstlosigkeit wird, daß der Christus in uns lebt, daß wir den Christus lebendig fühlen in jedem Worte, das über Geisteswissenschaft gesprochen wird.

Nur eines sei noch angeführt. Sie wissen, daß wir seit dem Jahre 1909 in München unsere Mysteriendramen aufgeführt haben. Man mag das, was wir zur Darstellung auf der Mysterienbühne gebracht haben, gut oder schlecht finden, darum kann es sich jetzt nicht han­deln. Aber dasjenige, was getan worden ist, brauchte eine gewisse Kraft, eine Kraft, welche an den Menschen nicht so ohne weiteres her­ankommt dadurch, daß er Mensch auf Erden ist. Sehen Sie, wenn wir jetzt in Dornach arbeiten können, wenn wir unsere verschiedenen Arten von Harthölzern verarbeiten wollen, brauchen wir Muskelkraft. Wir können nicht sagen, daß wir diese Muskelkraft uns bewußt geben können. Sie kommt von unserem Leibe, von dem, was wir in der Seele können. Wir haben sie nicht in der Hand. Auch das haben wir nicht alles in der Hand, was wir im Geistigen verrichten und wozu wir spiri­tuelle Kraft brauchen. Das hängt nicht aliein ab von unsern Talenten als Mensch, so wie es nicht von unsern Talenten abhängt, ob wir etwas tun können, sondern auch von der Muskelkraft unseres Leibes. So brauchen wir spirituelle Kräfte, die ebenso außer uns sind wie die Muskelkräfte außer unserer Seele sind. Ich weiß, daß Flachlinge kommen und sagen können : Du bist ein Tor, du glaubst, daß dir spiri­tuelle Kräfte von außen kommen, während sie nur aufsteigen aus dem

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eigenen Innern. - Mögen sie mich für einen Toren halten. Ich finde sie gerade von der Gescheitheit der Menschen, die nicht den Hunger von einem Stück Brot unterscheiden können. Ich weiß, wie spirituelle Kräfte von außen in den Menschen einfließen. So wie man, nur wenn man verrückt ist, glauben kann, daß der Hunger selber das Brot er­zeugt, das ihn stillt, so wenig wie das der Fall ist, so wenig erzeugt die Kraft nnserer Seele diejenigen Kräfte, die wir zum spirituellen Wirken brauchen : sie müssen in uns hereinffießen, müssen uns zufließen. Und ebenso wie wir ganz genau wissen, daß der Hunger in uns ist und das Brot von außen kommt, wenn wir nicht verrückt sind, ebenso weiß derjenige, der in geistigen Welten lebt, was in ihm ist und was von außen kommt. Und ich für meine Person fühlte seit dem Jahre 1909 immer mehr und mehr, wenn es sich darum handelte, in aller Stille und Ruhe dasjenige zu entwickeln, was für die Mysterienspiele notwendig war, ich fühlte die spirituelle Kraft, die von außen kam. Ich wußte ruhen das geistige Auge einer spirituellen Wesenheit auf demjenigen, was getan worden ist. Und ich spreche es aus als ein unmittelbares Er­lebnis.

In den ersten Zeiten, als wir in Deutschland arbeiteten auf dem Felde unserer Geisteswissenschaft, kam zu uns eine befreundete Per­sönhchkeit, die mit einem wunderbaren Enthusiasmus aufnahm, was wir damals geben konnten. Aber nicht nur mit einem wunderbaren hingebenden Enthusiasmus nahm sie auf, was dazumal möglich war zu geben über Menschheitsentwickelung, kosmische Geheimnisse, über Reinkarnation und Karma, sondern sie verband damit zugleich einen wunderbaren ästhetischen Sinn. In Schönheit getaucht war alles, was man lehrend und unterredend mit dieser Persönlichkeit durch-ging. Wir waren damals noch wenige. In solchem Raum uns zu drük­ken, wie das heute der Fall ist, hatten wir noch nicht nötig. Und die Dinge, die wir heute vor großem Zuhörerkreis sprechen, bei deren Besprechung waren wir nur drei : ich mit zwei andern Personen. Die eine dieser Personen verließ uns schon 1904 auf dem physischen Plan, ging in die geistige Welt. Wie es so ist : solche Personen machen eine Entwickelung durch nach dem Tode. Im Jahre 1907, als wir zu un­serem Kongreß die Schurésche Rekonstruktion des Mysteriums von

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Eleusis aurführten, war noch nichts von solchem Einfluß wahrnehm­bar. 1909 fing es an, und immer mehr kam es in den letzten Jahren. Genau wußte ich, das ist die Individualität jener uns so befreundeten Persönlichkeit, die man wahrhaftig objektiv, rein wegen solcher Eigen­art, lieb haben konnte. Entrückt in die geistige Welt wirkte sie wie ein Schutzengel für das, was wir zu leisten hatten zur Vermählung des Ästhetischen mit dem Esoterischen in unsern Mysterien. Und gut be­hütet fühlte man so von dieser Persönlichkeit, die 1904 entrückt war in die geistige Welt, dasjenige, was dann übergegangen ist in unsere irdische Wirksamkeit, was hereingeflossen ist in Erdenwirksamkeit und was uns durchdrungen hat, zu dem wir dankbar emporblicken, indem es durch das Ruhen des Seelenauges einer geistigen Persönlich­keit auf unseren Taten zum Ausdruck kam.

Aber dann, wenn es sich darum hindelte, dasjenige mit der Persön­lichkeit zu pflegen, was man nennen kann : Zwiesprache - man kann es Zwiesprache nennen, weil es eine Art von Wechselwirkung ist -, wenn das eintreten sollte, war es immer wiederum so, daß jene Persönlich­keit offenbarte : sie könne um so besser den Weg finden zu unserer Erdenwirksamkeit, je mehr wir uns durchdringen mit dem Gedanken des Christus in der Erdenentwickelung. Würde ich in Erdenworte das­jenige kleiden, was diese Individualität immer wiederum sprach, so würde ich sagen - ich muß aber selbstverständlich nur symbolisch ausdrücken das, was in der geistigen Welt anders ist : Ich finde so gut den Weg zu euch, weil ihr immer mehr und mehr den Weg findet, eure Geisteswissenschaft zu einem Ausdruck dessen zu machen, was das lebendige Wort des Christus selber ist,

Das wird uns der Christus-Impuls werden : die lebendige Brücke zwischen dem Leben der Erde und dem Leben in überirdischen Wel­ten. Dreimal hat der Christus aus überirdischen Welten herein dem Menschen jene Wesenheit veranlagt, die er braucht, damit er recht leben kann. Dreimal hat der Christus des Menschen Sinnes-, Lebens-und Gemütsorgane selbstlos gemacht. Jetzt ist es an dem Menschen, selbstlos zu werden in intellektueller und moralischer Beziehung da­durch, daß er für dieses intellektuelle und moralische Leben verstehen lernt das Wort : Nicht ich, der Christus in mir.

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Das wird die Welt erkennen, daß das, was wir als Geisteswissen­schaft verkündigen, das Wort Christi ist. Er hat gesagt : Ich bin bei euch alie Tage bis an das Ende der Erde. - Die Mission der Geistes­wissenschaft in unserer Zeit ist, zu eröffnen die Tore zu dem lebendi­gen Christus. Mit dem Verständnis der Lebenden vereinigen sich die Toten, die wissen, daß der Christus den Übergang gefunden hat vom Himmel zur Erdenwirksamkeit. Und wenn die Toten sich neigen wie die nächsten Schutzgötter den irdisch Lebenden, dann finden sie die Seelen der irdisch Lebendigen um so intensiver, um so mehr, je mehr diese Seelen selber von dem Christus4mpuls durchdrungen und durch­geistigt sind. Der Christus, er stieg als der hohe Sonnengeist aus den überirdischen Welten durch das Mysterium von Golgatha herab, da­mit er Wohnung finde in den Menschenseelen. Geisteswissenschaft soll werden die Botschaft davon, wie der Christus Wohnung finden kann in den Menschenseelen. Wenn der Christus in den Menschen­Erdenseelen Wohnung finden wird, dann wird von der Erdenaura die Christus-Kraft wiederum zurückstrahlen in diejenigen Welten, die der Christus verlassen hat zum Heil der Erdenmenschen, und der ganze Kosmos wird durchchristet sein.

Zu solch tiefem Verständnis des Mysteriums von Golgatha schwin­gen wir uns allmählich auf durch wirkliches Durchdringen mit Gei­steswissenschaft. Wenn wir das so bedenken, und dazu bedenken, wie sie sein muß eine Schule der Selbstlosigkeit für das intellektuelle und moralische Leben der Menschheit in die Zukunft hinein, dann werden wir so intensiv durchdrungen werden von der Notwendigkeit der geisteswissenschaftlichen Verkündigung des Mysteriums von Gol­gatha! Dann werden wir wissen, was gemeint ist mit den geistes-wissenschaftlichen Impulsen, die hereinkommen wollen in die Gegen-wart. Dann wird jener Christus4mpuls die Menschheit durchdringen, den wahrhaftig alle Menschen annehmen können, weil der Christus nicht einer Nation erschienen ist, sondern weil er das hohe Sonnen-wesen ist, das der ganzen Erde angehört und das in alle Menschen­seelen eindringen kann, gleichgültig welcher Nation und Religion sie angehören. Mögen nach und nach recht viele Menschen den Weg fin­den zu solchem Verständnis des Christus-Impulses und zu solchem

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Verständnis des Mysteriums von Golgatha, dann wird vielleicht das­jenige als das ehristlichste erscheinen, was heute von vielen, die sich christlich abgestempelt wähnen, unchristlich genannt und verketzert wird.

Versuchen wir nicht bloß ein verstandesmäßiges Begreifen des My­steriums von Golgatha, versuchen wir ein Ergreifen dieses Myste­riums von Golgatha mit unserer ganzen Seele, dann brauchen wir dazu die Geisteswissenschaft. Dann aber auch werden wir uns als Zugehö­rige unserer spirituellen Strömung, als jene Seelen wissen dürfen, welche verstehen, was der Menschheit jetzt und in der nächsten Zu­kunft nötig ist.

Das waren die Dinge, über die ich heute mit Ihnen sprechen wollte. Hoffentlich gelingt es in nicht allzuferner Zeit, Betrachtungen, die sich unmittelbar an diese anschließen können, wiederum in dieser Stadt pflegen zu können.

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HINWEISE

Die in diesem Band gesammelten Vorträge erscheinen erstmals in dieser Zusammen­stellung. Die Vorträge waren von Rudolf Steiner nicht auu'n Druck bestimmt, und er hat sie selbst nicht durchgesehen. Deshalb stammt auch der Titel des Bandes sowie die Titel der einzelnen Vorträge nicht von ihm. Einzig die beiden Londoner Vorträge vom 1. und 2. Mai 1913 waren zu seinen Lebzeiten in Zyklenform erschienen. Soweit sonst noch Vorträge schon veröffentlicht waren, gchen die Titel auf die Herausgabe durch Marle Steiner zurück (vgL S.4). Die Güte der einzelnen Nachschtiten ist sehr unterschiedlich. Einige können als gute, nahem wörtliche Wiedergaben des gesprochenen Wortes galten, bei anderen wiederum sind Lücken deutlich spürbar.

Nachdem Rudolf Steiner in den Vorträgen London 2. Mai 1913 und Stuttgart 20. Mai 1913 von einem im Beginne des 19.Jahrhunderts stattgefimdenen Zweiten Mvsterium von Golgatha gesprochen hat, ertolgte die Mitteilung über Vorstufen dieses Mysteriums von Golgatha in früheren Menschheitsepochen erstmals in dem Zyklus «Christus und die geistige Welt. Von der Suche nach dem heiligen Gral», gehalten um die Jahreswende 1913/14 in Leipzig, Gesamtausgabe Dornach 1960. Die daraufhin auch an anderen Orten gegebenen Darstellungen - letztmais in Basel, am Pfingstmontag dem 1. Juni 1914 - sind in dem vorliegenden Bande enthalten.

Bei diesen Forschungsergebnissen handelt es sich jedoch nur um ein Motiv der neuen Christus-Erkenntnis Rudolf Steiners, weshalb noch auf einige andere in engem Zu­sa'menmg damit stehende hingewiesen sei:

«Das Wiedererscheinen des Christus im Ätherischen», Gesarntausgabe in Vorbereitung.

« Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», Gesamtausgabe Dornach 1962.

«Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium», Gesamtausgabe Dornach 1963.

Zu Seite:

9 in diesem Lande: Nach der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Zuletzt hatte Rudolf Steiner London im Juli 1905 an]i!llich des IL Kongresses der Födeta­tion Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft besucht

47 zwei Betrachtungen: Siehe «Okkulte Untersuchungen über dss Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Gesamtausgabe Dornach 1961.

48 gestern gehört: Öffentlicher Vortrag Stuttgart, 17. Mai 1913: «Ergebnisse der Geistesforschung für Lehensfragen und dss Todesrätsel.»

52 Vortragszyklus in Kristiania: «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammen-hange mit der germanisch-nordischen Mythologie »,Gesamtausgabe Dornach 1962.

59 Vorträge, dis ish das ktzte Mal hier gehalten habe: Siehe Hinweis zu Seite 47.

62 gestern im öffentlichen Vortrage: Stuttgart, 19. Mai 1913: Railisel und seine Mission im Lichte der Wissenschaft vom Geiste. Erscheint innerhalb der Gesamtausgabe in Bibliographie Nr. 69.

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Zu Seite:

70 Evolution, die Buooha durchgemacht hat: Siehe «Das esotcrische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», Gesamtausgabe Dornach 1962, und «Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Gesamtausgabe Dornach 1961.

70 jene knahenbaften Einwendungen: Hinweis auf die Bemühungen der im «Stern des Ostens » gruppierten Mitglieder der Theosophical Society, den jungen Inder Ktishnamurti als Christus-Träger dem Westen aufzudrängen.

79 Immanuel Kant (1724-1804). Zu Rudolf Steiners Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants vergleiche vor allem die Schrlften «Wahrheit und Wissenschaft», «Die Philosophie der Freiheit» und «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Ge­schichte als Umriß dargestellt», alle in der Gesamtausgabe.

80 in Kristiania von einem Fün ften Evangelium: Siehe «Aus der Akasha-Forschung.

Das Fünfte Evangelium», Gesamtausgabe Dornach 1963.

80 zwei jes,skuaben: Rudolf Steiner sprach darüber erstmals in den Vorträgen in Basel vom 15. bis 26. September 1909 über «Das Luleas-Evangellum », Gesamt­ausgabe Domach 1955. Iunerhalb der Schriften findet sich eine Darstellung in « Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit » (1911), Gesamt­ausgabe Dornach 1963.

82 er zog im Geiste durch Griechenland, Rom, bis zu den Germanen herauf: Siehe hierzu die ausführlichen Darstellungen im Vortrag Doruach, 11.Januar 1919 «Der Goetheanismua, ein Menschenumwandiungsimpuls und Auferstehungsgedanke », Dornach 1942.

84 Ein berühmter Theologe der Gegenwart: Arthur Drews (Ütersen/Holstein 1865-1935 Achern). Siehe Berliner Religionsgespräch. Hat Jesus gelebt? Reden über die Christuamythe, gehalten am 31.Jimuar und 1.Februar 1910 von Arthur Drews und anderen, Berlin und Leipzig 1910.

90 Betrachtungen des Ftnften Evangeliums: Siehe den Stuttgarter Vortrag vom 22. No­vember 1913 in

91 in Qual üherwinden müssen: Nach diesem Satz ist in der Nachschrift eine Lücke. Siehe hierzu die selben Ausführungen in anderen Vorträgen dieses Bandes.

95 Scotus Erig ena (wahrscheinlich in Irland um 810 bis um 877 in Frankreich). Über­setzer der Schriften des Dionysius Areopagita, Verfasser von «De divin« prae­destinatione», «De divisione naturae». 1225 wurde vom Vatikan das Verbrennen aller seiner Schriften angeordnet.

95 Jungfrau von Orl6ans: Siehe auch Rudolf Steiner «Okkulte Geschichte», Gesamt­ausgabe Dornach 1956, und «Menschenschicksale und Völkerschjcksale», Gesamtausgabe Dornach 1960.

97 moralische Phantasis: Kapitel XII in «Die Philosophie der Freiheit», Gesamtausgabe Dornach 1962.

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Zu Seite:

104 Darstellung aus d,r Akosha-Chronik für die lemurische Zeit: Siehe «Aus der Akasha­Chronik», Gessmtausgibe Dornach 1964.

110 Die vierte Gefahr; In diesem Abschnitt ist zu berücksichtigen, daß der nach-geschriebene Text offensichtlich sehr unvollständig ist.

112 Hineinzuleiten diesen Christus-Impuls in das aufrechte Gehen, in Sprechen und Denken:

Siehe hierzu «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Gesamt­ausgabe Dornach 1963.

117 Die den Vortrag München, 30. März 1914 einleitenden Worte über den Dornacher Bau erscheinen in dem Band Bibliographie Nr.253.

118 Beziehung zu Krishna: Dargestellt in den Vorträgen Helsirigfors 28. bis 31. Mai,

1. bis 5. Juni 1913 «Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita», Gesamt­ausgabe Dornach 1962.

119 die zwölf Sinneskräfte: Siehe hierzu die Vorträge Berlin 23. bis 27. Oktober 1909,

1. bis 4.November 1910, 12. bis 16. Dezember 1911 123 Augustinus-Zitat: Retractationes, L. 1, Cpt XIII, 3.

125 Arthur Drews: Siehe Hinweis zu Seite 84.

128 Rudolf Eucken (1846-1926). Vergleiche Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philo­sophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt», Gesamtausgabe, Stuttgart 1955.

131 in der heutigen Betrachtung: Rudolf Steiner sprach in Paris am 25., 26. und 27. Mai

1914. Die beiden Vorträge vom 25. und 26. Mai über das Thema Helisehen,

Vernunft und Wissenschaft erscheinen in der Gesamtausgabe Bibliographie

Band Nr.154. Zum Vortrag vom 27. Mai 1914 siehe auch den Band «Aus der

Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium», Gesamtausgabe Dornach 1963.

137 Batb-Kol (hebr., «Tochter der Stimme», im griechisch-jüd. Schrifttum «Himmels-stimme»), nach dem Tahnud eine Art göttlicher Offenharung, welche neben der Prophetie den zweiten Rang eiiinahm,

148. Die einleitenden Worte zum Vortrag vom 1.Juni 1914 über Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft sind abgedruckt in «Was in der Anthropo-sophischen Gesellschaft vorgeht», Jg. 1936, Nr.39. Innerhalb der Gesamtausgabe erscheinen sie in dem Band Nr.252 der Bibliographie.

157 Justin der Märtyrer: Der Ausspruch tindet sich in seiner Apologie des Christen­tums I, 46.

158 Wenn man erdichten wollte, würde man es... ganz anders machen: An dieser Stelle machte Marie Steiner in der ersten Ausgabe des Vortrages folgende Anmerkung : « Siehe Näheres darüber in dem erschienenen Vortragszyklus . Da spricht Rudolf Steiner auch noch - man karin nicht in jedem Vortrag alles sagen - von der engelartigen Wesen­heit, die dem nathanischen Jesuaknaben zugrunde gelegen hat, die zu dem Seelenhaften

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gehört, das in der geistigen Welt zurück geblieben ist, als die eigentliche irdische Menschenentwickelung rnit ihrem luziferischen Einschiag begann. Es blieb eine Bezichung zwischen dieser rein geistigen Substanz und der auf die einzelnen Menschenseelen verteilten; sie äußerte sich in einem geistigen Schutz der sich auf dem physischen Plan entwickelnden Menschen vor den Anfechtungen Luzifers und Ahrimans. Jene übermenschliche Wesenheit beschloß eine Ent-wickelung durchzumachen in der Welt der oberen Hierarchien, die sie befahigte, eine Zeitlang durchsetzt zu sein von der Christus-Wesenheit. Die geistige Sonnen-wirksamkeit wurde dadurch im Wirken der kosmischen Kräfte ln einer gewissen Weise gemildert zum Zwecke der Harmonisierung des Erdenmenschen. Indem der Christus bei der Durchseelung des Erzengels sich mit dem Urbild des Jesus verband, machte er ihn fahig, den Drachen aus der menachlichen Seelennatur herauszustoßen. Die griechischen Götter sind Projektionen jenes engelartigen Wesens in seinem Gange durch die Planeten hindurch. »

160 in Muachen unsere Mysteriendramen aufgeführt haben: Von 1909 bis 1913 fanden all-jährliche Mysterienspiele ln München statt: 1909 «Die Kinder des Lucifer» von Edouard Schuré; 1910-1913 die vier Mysteriendramen Rudolf Steiners. Die Festspiele für 1914 mit einem geplanten flinften Mysteriendrama Rudolf Steiners kamen durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zustande.

160 in Dornach ... verschisdene Arten von Harthölzern verarbeisen: Vergleiche hierzu «Der Baugedanke des Goethranurn» mit 104 Abbildungen. Gesamtausgabe, Stuttgart 1958.

161 eine befreundete Persönlichkeit: Maria Strauch-Spettini (1847-1904). Schauspielerin am Dresdener Hofthrater, dannam deutschen Kaiserlichen Thrater in Petersburg, zog sich 1883 ins Privatleben zurück. Von 1897 an Lehrerin und Freundin Marie Steiners, damals Marie von Sivers'. Siehe

161 waren wir nur drei: Rudolf Steiner, Marie Steiner, da'nals von Sivers, und Maria von Strauch-Spettini Vergleiche den vorherigen Hinweis.

161 1907 zu unserem Kongreß: Siehe Rudolf Steiner, «Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907», Gesamtausgabe Dornach 1957.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.