GA 150

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Welt des Geistes
und ihr Hereinragen in das
physische Dasein

Zehn Vortrage, gehalten in
verschiedenen Städten zwischen dem
12. Januar und 23. Dezember 1913

GA 150

1973

Inhaltsverzeichnis


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ZWEI STRÖMUNGEN INNERHALB DER FORTLAUFENDEN ENTWICKELUNG DES MENSCHEN SIND BEI DER ERZIEHUNG ZU BERÜCKSICHTIGEN Augsburg, 14. März 1913

Wenn man heute in unserer Gegenwart einen öffentlichen anthroposo­phischen Vortrag hält - und was hier gesagt wird in bezug auf einen öffentlichen Vortrag, das muß in Betracht gezogen werden bei allem, was wir von Anthroposophie an die Außenwelt heranbringen, an die Menschen, welche sich nicht einer anthroposophischen Vereinigung an­schließen -, dann muß immer berücksichtigt werden, daß die Seelen der heutigen Menschen zwar in ihren Tiefen, in ihren Untergründen eine große Sehnsucht nach Anthroposophie haben, daß aber in den Teilen des Seelenlebens, von denen sie selber wissen, doch recht wenig Zusammenhang mit den spirituellen Wahrheiten vorhanden ist. Es kommt deshalb natürlich bei einem öffentlichen Vortrag nicht darauf an, zu beachten, was bei solchen Persönlichkeiten beliebt oder unbeliebt ist. Man sollte darum sich niemals fragen, was sie gerne oder nicht gerne hören, aber man muß darauf Rücksicht nehmen, daß schon ein­mal unser Zeitalter Denkgewohnheiten hat, Vorstellungsarten hat, wel­che in vieler Beziehung ganz direkt entgegengesetzt sind demjenigen, zu dem wir uns hinaufarbeiten durch die anthroposophische Erkennt­nis. Gerade was da beachtet werden muß, das bemühe ich mich immer sorgfältig zu berücksichtigen, wenn ich festzustellen versuche den Un­terschied des Tones, in dem ein öffentlicher Vortrag gehalten werden muß, und des Tones, in dem gesprochen werden kann zu unseren an­throposophischen Freunden. Und wir sollten uns gewöhnen, diesen Unterschied durchaus wirklich einzuhalten. Wenn auch dann die Leute, die der Anthroposophie noch ferne stehen, vielleicht auch unangenehm berührt werden von dem, was man ihnen sagt, so braucht uns das nicht irgendwie im schlimmen Sinne zu berühren, wenn wir nur das Bewußt­sein in uns tragen, daß wir das an sie herangebracht haben, was gerade ihren Seelen frommt. Dann aber, wenn wir gewissermaßen unter uns sind, dann müssen wir eben durchaus versuchen, in die Dinge tiefer

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und immer tiefer hineinzudringen. Wir können ganz bestimmte Wahr­heiten, die heute schon für unsere Gegenwart außerordentlich wichtig und bedeutsam sind, und die wir unter uns verhandeln müssen, damit sie, von uns ausgehend, immer tiefer und tiefer in das Geistesleben der Zeit eindringen, sozusagen noch nicht in ganz deutlich ausgesprochenen Worten an das äußere Publikum heranbringen.

Wir müssen gerade diese Sache ganz richtig verstehen. Nehmen wir einmal an, wir sprechen von dem, was ja in das Menschenleben fort­während hereinspielt, von dem Durchdrungensein alles menschlichen Lebens auf der Erde durch die ahrimanischen, durch die luziferischen Gewalten, oder wir sprechen von gewissen Dingen, die sich beziehen auf das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das, was uns abhalten soll, so ohne weiteres über diese Dinge vor Unvorberei­teten zu sprechen, das soll nicht dasjenige sein, was oftmals gerade in einer solchen Gesellschaft, wie die unsrige ist, auftritt, und was man nennen könnte eine gewisse Geheimniskrämerei, bei der sich die mei­sten dann nicht einmal die rechte Vorstellung machen, warum sie getan wird. Das, was uns abhalten soll, so ohne weiteres über diese Dinge vor Unvorbereiteten zu sprechen, das ist, daß die Menschen, die un-vorbereitet sind, die Dinge nicht ernst genug nehmen können, nicht tief genug nehmen. Es soll dem Anthroposophen das Wort «ahrima-nische», «luziferische» Gewalten nach und nach etwas für das Leben so Bedeutsames werden, etwas, wobei er in seinen Gefühlen und Emp­findungen so tief innerlich ergriffen wird, wenn diese Dinge ausge­sprochen werden, daß man das Gefühl hat: Wenn man diese Worte den Unvorbereiteten an den Kopf wirft, so wird ihnen das, was man an innerer Kraft fühlen soll, wenn sie ausgesprochen werden, genom­men, und auch wir selber schaden uns, wenn wir im gewöhnlichen Le­ben bei jeder Gelegenheit, die uns gerade paßt, diese Worte ohne wei­teres anwenden. Wenn wir zum Beispiel in unsere Geldbörse greifen und da zu tun haben mit dem Geld, so haben wir es ja ganz richtig mit ahrimanischen Gewalten zu tun. Aber es ist nicht gut, das Wort «ahri­manisch» so ohne weiteres immer wieder anzuwenden auf die alltäg­lichen Verhältnisse. Dadurch, daß wir ein solches Wort auf die all­täglichen Verhältnisse anwenden, stumpft es sich ab für unser Empfinden,

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für unser Gefühl, und wir haben dann gar nicht die Möglich­keit, noch Worte zu haben, die, wenn wir sie denken oder aussprechen, auf uns jenen elementaren, bedeutsamen Sinn ausüben, den sie ausüben sollen. Das ist außerordentlich bedeutsam, daß wir nicht im alltäg­lichen Leben mit diesen Dingen gar zu sehr herumwerfen, denn wir kommen dadurch tatsächlich allmählich um das Beste, um das Wirk­samste, was uns Anthroposophie geben kann. Je mehr wir in bezug auf die alltäglichen Verhältnisse die anthroposophischen Worte im Munde führen, desto mehr nehmen wir uns die Möglichkeit, daß Anthroposo­phie für uns wirklich etwas unsere Seele Tragendes, unsere Seele tief Durchdringendes wird. Wir brauchen nur die Macht der Gewohnheit ins Auge zu fassen und wir werden sehen, daß ein Unterschied besteht, wenn wir mit einer gewissen heiligen Scheu, mit einem gewissen Be­wußtsein, daß wir Yon anderen Welten sprechen, Worte gebrauchen, wie, sagen wir, die Worte «Aura» oder «ahrimanische Gewalten» oder «luziferische Gewalten». Wenn wir immer fühlen, wir müssen sozu­sagen haltmachen, bevor wir solche Worte gebrauchen, müssen sie nur anwenden, wenn es uns eben wirklich darauf ankommt, unsere Bezie­hung zur übersinnlichen Welt ins Auge zu fassen, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn wir im alltäglichen Leben bei jeder beliebigen Gelegenheit von diesen Dingen der höheren Welt sprechen und Worte, die von diesen Welten hergenommen sind, immerfort im Munde führen.

Ich mußte diese Einleitung bringen, weil wir einmal gerade in dieser Stunde auf etwas in der Menschenseele hinweisen wollen, was zwar immer in unserem Bewußtsein vorhanden sein soll, was wir aber doch nur richtig betrachten, wenn es mit einer gewissen heiligen Scheu ge­schieht. Nehmen Sie einmal in die Hand die kleine Schrift «Die Er­ziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft». Da wird sozusagen gezeigt, wie die Vorgänge am sich entwickelnden Men­schen von sieben zu sieben Jahren sind. Da wird gezeigt, daß bis zum siebenten Lebensjahre, bis zum Zahnwechsel, wir es vorzugsweise in der Hauptsache mit der Entwickelung des physischen Leibes zu tun haben, daß wir es zu tun haben im nächsten Zeitraum, vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre, bis zur Geschlechtsreife, mit einer Entwickelung des Ätherleibes und so weiter. Wenn Sie diese Entwickelung

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des Menschen von sieben zu sieben Jahren ins Auge fassen, dann haben Sie es vorzugsweise zu tun mit dem, was die sozusagen normalen Wesenheiten der höheren Hierarchien an der menschlichen Evolution bewirken. Das ist so recht die fortschreitende Evolution, die da von sieben zu sieben Jahren verläuft, so daß wir sagen können: Die eigent­lich fortschreitenden göttlich-geistigen Mächte, die leiten und lenken diese Evolution von sieben zu sieben Jahren. Würden nur diese fort­schreitenden göttlich-geistigen Mächte an dem Menschen tätig sein, dann würde überhaupt das ganze menschliche Leben anders verlaufen, im ganzen anders verlaufen, als es tatsächlich verläuft. Dann würde vor allen Dingen der Mensch einem kleinen Kinde in ganz anderer Weise entgegentreten. Er würde bei dem kleinen Kinde immer das Ge­fühl haben: Da spricht durch das Kind eine geistige Individualität. Man würde sogar immer das Gefühl haben, daß das kleine Kind, bei alldem, was es tut, was es vornimmt, aus höheren Welten heraus die Antriebe, die Impulse empfängt. Und die Menschen würden sicher gar kein anderes Gefühl bekommen, als daß das Kind aus weit höheren Impulsen heraus handelt, als diejenigen sind, die sie selbst mit ihrem Verstand durchdringen können. Und das würde verhältnismäßig noch recht lange dauern.

Das, was den Menschen heute so sehr wünschenswert erscheint, daß die Kinder möglichst früh recht gescheit sind im menschlich-irdischen Sinne, das würde dann den Menschen höchst unwillkommen erschei­nen, denn von einem Kinde, das heute das Entzücken seiner Umge­bung hervorruft, weil es schon gar so gescheite Dinge sagt oder tut, von dem würden, wenn die Menschen nur Kinder hätten, die von den fort­schreitenden göttlich-geistigen Mächten gelenkt werden nach den sie­benjährigen Perioden, es würden die Menschen sagen, wenn das Kind möglichst früh im heutigen Sinne gescheit redete und sie an die anderen Verhältnisse gewöhnt wären: Wie früh ist das Kind gottverlassen! -Worüber man heute entzückt ist, würde man dann als eine Strafe emp­finden. Und einen jungen Menschen von fünfzehn Jahren, der so ge­scheit wäre, wie man es heute verlangt, den würde man als ein ganz gottverlassenes Wesen ansehen. Denn durch die fortschreitenden gött­lich-geistigen Mächte ist eigentlich der Mensch erst berufen, nach und

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nach mit seinem Ich zwischen dem einundzwanzigsten und achtund-zwanzigsten Jahre völlig herauszurücken, und vorher würde das, was er tut, viel mehr so erscheinen, daß durch ihn durchwirken höhere gei­stige, übersinnliche Impulse. Allerdings würde ein gewisses nach außen hin träumerisches Leben den Kindern eigen sein; aber man würde dieses träumerische Leben empfinden als Gott- oder Geistgesegnetheit, und man würde gar nicht das Bestreben haben, die Kinder zur Frühreife im heutigen Sinn irgendwie zu erziehen.

Nun fällt, wie wir wissen, etwas anderes in diese Entwickelungs­perioden des Menschen auch hinein. Das ist, was wir oftmals hervor-gehoben haben, die Ausgestaltung des Ich-Bewußtseins im dritten, vier­ten, fünften Jahre, in jenem Zeitpunkt, den wir im allgemeinen so cha­rakterisieren können, daß wir sagen: Es ist der Zeitpunkt, bis zu dem der Mensch im späteren Leben sich zurückerinnert. Es ist das Auftreten jenes Momentes, von dem aus der Mensch anfängt, zu sich «Ich» zu sagen. - Sie müssen nun eigentlich die ganze Entwickelung des Men­schen sich als zwei Strömungen denken: als die der Evolution, an der die fortschreitenden göttlich-geistigen Wesenheiten wirken, und dazu die andere Strömung, durch welche der Mensch innerhalb des ersten siebenjährigen Zeitraumes anfängt, innerlich ein Selbstbewußtsein zu entwickeln, ein solches Gedächtnis zu entwickeln, das ihn später im Bewußtsein sich zurückerinnern läßt bis zu jenem Zeitpunkt. Das rührt nun gar nicht von den fortschreitenden göttlich-geistigen Wesenheiten her. Die würden uns viel länger recht träumerisch sein lassen, würden durch uns hindurch in die Welt hereinwirken. Daß wir so frühzeitig zum Selbstbewußtsein kommen, daß wir so frühzeitig zu uns Ich sagen, das ist lediglich das Ergebnis der luziferischen Kräfte, die in den Men­schen hereinwirken. So haben wir es mit zwei Strömungen zu tun, mit einer gleichsam regulären fortschreitenden göttlich-geistigen Strömung, die uns aber eigentlich erst zwischen dem einundzwanzigsten und acht­undzwanzigsten Jahre zu einem deutlichen, klaren Ich-Bewußtsein füh­ren würde, und mit einer luziferischen Strömung in uns. Diese luzife­rische Strömung wirkt in ihren Impulsen so in uns, daß sie die andere Strömung ganz durchkreuzt, so daß sie in uns etwas ganz anderes macht, als was die fortschreitenden göttlich-geistigen Wesenheiten von

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uns eigentlich haben wollen. Sie wirken so, daß wir also mittendrin­nen im ersten Zeitraum schon lernen, zu uns «Ich» zu sagen, lernen die Egoität innerlich seelisch auszubilden und uns zurückzuerinnern in unserem Gedächtnis.

Wenn wir das so recht ins Auge fassen, so können wir uns ein Bild machen von dieser unserer fortlaufenden Entwickelung. Denken Sie sich einmal den eben charakterisierten luziferischen Einschlag weg und nur das, was die fortschreitenden Wesenheiten aus dem Menschen als ein ruhig dahinfließendes Wasser machen würden. Wir denken uns dieses ruhig dahinfließende Wasser als ein Bild des fortschreitenden Lebensstromes des Menschen unter dem Einfluß der eigentlich guten göttlichen Wesenheiten. Und jetzt gehen wir an dem Wasser, das so ruhig dahinfließt, ein Stück hin, nehmen dann eine blaue oder rote Substanz, gießen sie hinein in das ruhig dahinfließende Wasser und lassen, indem wir eine chemische Flüssigkeit wählen, die sich getrennt halten läßt von dem klaren Wasser, da eine zweite Strömung von einem bestimmten Punkt an neben der ersten Strömung mitfließen. So fließt in unserer richtigen, ruhig fortschreitenden, wir möchten sagen Jahve­Christus-Strömung, die luziferische Strömung von der Mitte ungefähr unseres ersten siebenjährigen Zeitraumes in unserem Inneren mit uns fort. Und so lebt Luzifer in uns. Würde dieser Luzifer in uns nicht le­ben, so würden wir diese zweite Strömung nicht haben. Aber lebten wir nur in der ersten Strömung, dann würden wir eben bis in die Zwan­zigerjahre herein das Bewußtsein haben: Wir sind eigentlich ein Glied der göttlich-geistigen Mächte. - Das Bewußtsein von Selbständigkeit, von innerer Individualität und Persönlichkeit erlangen wir durch die zweite Strömung. So sehen wir zugleich, daß es weisheitsvoll ist, daß diese luziferische Strömung in uns sich hineinergießt.

Aber auch im zweiten siebenjährigen Zeitraum tritt etwas ein, was wir in einer gewissen Weise als eine nicht mit den bloß fortschreiten­den göttlichen Wesenheiten zusammenhängende Strömung auffassen können. Es wurde ja von einem gewissen Gesichtspunkt aus auch das schon wiederholt gekennzeichnet bei uns. Es tritt so um das neunte, zehnte Jahr, also im zweiten siebenjährigen Zeitraum auf. Da kom­men für die einen, die sinnigen Menschen, die Erfahrungen, wie ich sie

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zum Beispiel von lean Paul angeführt habe. Bei ihm trat es vielleicht etwas früher auf, bei anderen tritt es in der Regel um das neunte, zehnte Jahr auf. Da kann auftreten eine wesentliche Verstärkung, man möchte sagen Verdichtung des Ich-Gefühls. Aber es kann die Tatsache, daß da etwas Besonderes vorgeht, auch noch auf eine andere Weise konstatiert werden. Ich möchte aber nicht empfehlen, daß diese andere Weise eine besondere Erziehungsregel werden sollte. Es kann nur gesagt werden, daß wenn es einmal, man möchte sagen, von selbst geschieht, es be­obachtet werden kann, aber man sollte ja nicht damit spielen, es ja nicht zum Erziehungsprinzip machen. Wenn man nämlich ein Kind, namentlich um das neunte, zehnte Jahr herum, unbekleidet in einen Spiegel schauen läßt, und das Kind nicht abgestumpft ist durch unsere heutigen oftmals sonderbaren Erziehungsprinzipien, so wird es immer auf naturgemäße Weise von dem Anblick dieser seiner Gestalt Furcht empfinden, eine gewisse Angst, wenn es nicht früher kokett gemacht worden ist durch vieles In-den-Spiegel-Schauen. Dieses kann gerade bei natürlich empfindenden Kindern, die nicht vorher viel in den Spiegel geschaut haben, beobachtet werden, weil nämlich in dieser Zeit in dem Menschen etwas heranwächst, was wie eine Art Ausgleich zu der lu­ziferischen Strömung wirkt, die in der ersten Periode da ist. In dieser zweiten Periode, um das neunte, zehnte Jahr herum, da ergreift Ahri­man nämlich den Menschen und bildet eine Art von Ausgleich mit seiner Strömung zur luziferischen Strömung. Wir können nun dasje­nige vollbringen, was dem Ahriman den größten Gefallen tut, wenn wir gerade in diesem Zeitpunkt den Verstand, der auf die äußere Sinnes-welt gerichtet ist, beim heranwachsenden Kinde ausbilden, wenn wir uns sagen: Das Kind muß in dieser Zeit möglichst so abgerichtet wer­den, daß es überall zu einem eigenen, selbständigen Urteil kommt. -Sie wissen, daß ich da ein Erziehungsprinzip erwähne, das heute ziem­lich allgemein in der Pädagogik ausgesprochen wird. Selbständigkeit heranerziehen, gerade in diesen Jahren, wird heute fast allgemein ver­langt. Man stellt sogar Rechenmaschinen hin, damit die Kinder nicht einmal veranlaßt werden, das Einmaleins ordentlich gedächtnismäßig zu lernen. Das beruht durchaus auf einem gewissen Wohlwollen un­seres Zeitalters gegenüber dem Ahriman. Unser Zeitalter wünscht, unbewußt

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natürlich, die Kinder so zu erziehen, daß Ahriman möglichst stark in der Menschenseele kultiviert werden kann. Und wenn wir heute die gangbaren Erziehungsmethoden durchnehmen, so sagen wir uns als Okkultisten: Diese Leute, die diese Erziehungsmethoden ver­treten, sind nur Stümper. Wenn Ahriman selber diese Erziehungsprin­zipien schreiben würde, er würde es gescheiter machen! - Aber es ist eine rechte Schülerschaft des Ahriman, was da ganz besonders über die Selbständigkeit, über das eigene Urteilen der Kinder gesagt wird. Es wird dies, was damit angedeutet ist, noch immer mehr und mehr über­handnehmen in der nächsten Zeit. Denn Ahriman wird ein guter Len­ker werden für die äußeren Mächte und Geistesführungen unseres Zeit­alters.

Nun nehmen Sie eine solche Sache, wie wir sie jetzt ausgesprochen haben. Wir müssen es als etwas ansehen, was ganz naturgemäß und selbstverständlich ist, daß es an den Menschen herankommt; daß der Mensch Luzifer und Ahriman an sich herantreten fühlt. Es wäre ganz falsch, zu glauben, daß es besser wäre, wenn wir nun uberhaupt Lu­zifer und Ahriman ausschalten würden. Das würde ganz unmöglich sein. Wie unmöglich es sein würde, das kann Ihnen etwa die folgende Betrachtung darlegen. Wenn nicht unser Leben reguliert würde gleich­sam von einem Zusammenwirken der fortschreitenden göttlich-gei­stigen Wesenheiten mit den ahrimanischen und luziferischen Gewalten, wenn also nur die fortschreitenden Mächte an uns arbeiten würden, dann würden wir viel später zu einer gewissen Selbständigkeit kom­men, und wir würden auch diese Selbständigkeit so haben, daß, so wie wir jetzt Farben, Licht wahrnehmen, wir dann gar nicht daran zwei­feln würden, daß hinter den Farben und dem Licht, hinter dem also, was wir äußerlich wahrnehmen, auch wirklich göttlich-geistige Wesen­heiten walten. Wir würden zugleich mit unseren Sinneswahrnehmungen die Weltgedanken wahrnehmen. Wir würden zwar, aber erst in den Zwanzigerjahren, zu unserer Selbständigkeit kommen, aber wir wür­den dann auch außen Weltgedanken wahrnehmen. Wir würden dann unsere Jugend verträumen, weil in uns göttlich-geistige Mächte wirken würden, und wenn diese aufhören würden von innen zu wirken, dann würden sie uns von außen entgegentreten. Wir würden von außen ihre

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Gedanken so wahrnehmen, wie wir jetzt nur die Sinneswahrnehmun­gen empfangen. Wir würden also, mit Ausnahme einiger Jahre, so ge­gen das zwanzigste Jahr hin, wo wir uns sichtbar würden, sonst gar niemals eine ordentliche Selbständigkeit haben. Wir würden als Kin­der träumerische Wesen sein, wir würden im mittleren Lebensalter gar nicht so recht aus unseren Impulsen und unseren Entschließungen her­aus über uns bestimmen können, sondern wir würden überall, wo wir der Außenwelt entgegentreten, einfach sehen, was wir zu tun haben, ähnlich wie es die Menschen in der alten Atlantis noch gekonnt haben. Die Selbständigkeit fließt in uns herein dadurch, daß Luzifer und Ahri­man in uns wirken.

Nun kommt natürlich ungeheuer viel darauf an, daß wir nicht so reden, wie die törichte Pädagogik von heute über den Menschen redet, die immer von Entwickelung redet, daß man gleichsam das Innere aus dem Menschen herausholen solle. Gescheit redet man in pädagogischer Beziehung nur dann über den Menschen, wenn man weiß, daß ein Drei-faches an seiner Seele beteiligt ist: die fortschreitenden guten göttlich-geistigen Wesenheiten und Luzifer und Ahriman, und wenn man diese auseinanderhalten kann. Es ist nun von besonderem Wert, zunächst einmal den Hauptgesichtspunkt von den fortschreitenden göttlich-geistigen Wesenheiten aus zu nehmen und vor allem zu berücksich­tigen: Was sind die Anforderungen, wenn wir auf die siebengliedrigen Perioden der Entwickelung des Menschen sehen? Denn in bezug dar­auf können wir jedem Menschen wirklich einfach dadurch helfen, daß wir uns sinngemäß zu diesem Menschenkinde verhalten. Wenn wir in den ersten sieben Jahren des Kindes Verhältnisse herbeiführen, daß es in einer Umgebung lebt, die auf seinen physischen Leib gesundend wirkt, so tun wir unter allen Umständen dem Kinde etwas Gutes. Wenn wir in der zweiten Periode uns so verhalten, daß wir gute, im edelsten Sinne so zu nennende Autoritäten um den Menschen herum schaffen, so daß der Mensch nicht ein Klugredner wird in diesen Zeiten, son­dern daß er ein Wesen wird, das auf die Menschen seiner Umgebung als auf Autoritäten baut, vor denen das Kind Respekt hat, zu denen es Hingabe hat, dann tun wir ihm unter allen Umständen etwas Gutes Wir tun etwas Gutes, wenn wir heranerziehen solche Kinder, die nicht

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im neunten, zehnten Jahre alles schon selber wissen wollen, sondern die, wenn man sie fragt: Warum ist dieses oder jenes richtig oder gut? -dann sagen: Weil der Vater, weil die Mutter es gesagt hat, es sei gut, oder weil der Lehrer es gesagt hat. - Wenn wir so die Kinder erziehen, daß in ihrer Umgebung eben die Erwachsenen als selbstverständliche Autoritäten walten, dann tun wir den Kindern unter allen Umständen etwas Gutes. Und wenn wir gegen diese siebenjährigen Perioden ver­stoßen, wenn wir also herbeiführen etwa einen solchen Zustand, daß schon gerade in dieser Zeit die Kinder anfangen, diejenigen, die selbst­verständliche Autoritäten sind, zu kritisieren, wenn wir das nicht ver­meiden, daß diese Kritik eintritt, so tun wir unter allen Umständen etwas Schlimmes für den heranwachsenden Menschen. Und wenn wir nicht die Gelegenheit finden, zu einem Menschen zwischen dem vier­zehnten, fünfzehnten und einundzwanzigsten Jahre so zu sprechen, daß man sich in naturgemäßer Weise mit ihm zu Idealen erheben kann, zu Idealen, die das Herz mit Freude durchdringen, so tut man diesem jungen Menschen auch wiederum nichts besonders Gutes. Mit Men­schen in diesen Jahren muß man von Idealen sprechen, von dem, was das spätere Leben unter allen Umständen dem richtig heranwachsen­den Menschen bringen muß. Man darf sagen: Heute könnte einem da wirklich manchmal das Herz brechen, wenn da achtzehnjährige Kna­ben - pardon, Persönlichkeiten - kommen und ihre Feuilletons schon in die Zeitungen tragen. Wenn man, statt von ihnen etwas anzuneh­men, sich unterhalten würde mit ihnen von dem, was durchaus noch nicht eingreift in das äußere Leben, sondern was sie später erst reali­sieren sollen, wenn man mit ihnen reden würde von den großen Idealen des Menschenlebens und sich mit ihnen begeistern würde, dann würde man sich in richtiger Weise zu ihnen verhalten. Eigentlich tut derjenige, der etwa als Redaktor das Feuilleton annimmt eines Menschen, der noch nicht das zwanzigste Jahr erreicht hat, unter allen Umständen etwas schlimmeres als jener, der, wenn der junge Mensch mit diesem Feuilleton kommt, zu ihm sagt: Ja, sieh einmal, das ist ja sehr schön, was du gemacht hast. Aber wenn du zehn Jahre älter sein wirst, dann wirst du darüber ganz andere Ideen haben. Lege dir das jetzt hübsch in deine Schublade und nimm es in zehn, zwölf Jahren wieder vor. -

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Der, welcher das macht, dann einen Blick hineinwirft in das Manu­skript und über die Lebensideale, die man daran anknüpfen kann, mit dem Betreffenden spricht, der tut an ihm etwas Gutes.

Ich will damit nur charakterisieren, daß diejenigen Dinge, die da gesagt worden sind in meiner Schrift «Die Erziehung des Kindes», un­ter allen Umständen eigentlich in der Erziehung immer berücksichtigt werden sollten. Alles andere, wo es auf Luzifer und Ahriman ankommt, das läßt nicht allgemeine Regeln zu, das ist tatsächlich bei jedem Men­schen anders, denn das bezieht sich gerade auf das Persönliche. Da handelt es sich vielfach um den persönlichen Takt des Erziehers, da kann man nicht eingreifen mit allerlei pedantischen Regeln in diese Dinge. Ich wollte Ihnen charakterisieren, was alles in der menschlichen Seele ist, und wie wir berücksichtigen müssen Luzifer und Ahriman, wenn wir die volle Menschennatur verstehen wollen, wenn wir wirk­lich alles ins Auge fassen wollen, was wir nicht nur so anzusehen haben, daß wir sagen: Bekämpfen müssen wir Luzifer und Ahriman. - Wenn wir den Luzifer unter allen Umständen bekämpfen wollten, so könnten wir das auf sehr sichere Weise tun: wir brauchten den Men­schen nur davor zu bewahren, ein Gedächtnis zu entwickeln. Denn wie es wahr ist, daß in unsere Erdenentwickelung gewisse Mondwesen hereingebracht wurden, so wahr ist es, daß alles Gedächtnis eine luzi­ferische Kraft ist. Wir müßten also unser Gedächtnis einfach nicht entwickeln! Wir müssen uns jedoch klar sein, daß wir dieses Gedächtnis in der richtigen Weise zu entwickeln haben. Und deshalb wurde gesagt in jener Schrift, daß der richtige Zeitraum für die Erziehung des Gedächtnisses derjenige zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre ist. Im vorhergehenden Zeitraum, da brauchen wir nicht besonders das Gedächtnis systematisch zu erziehen, denn da entwickelt es sich selber, weil da am meisten der Luzifer im Menschen steckt. Da überlassen wir den Menschen sich selber. Dann aber, nach dem Zahnwechsel, wenn Ahriman am deutlichsten herangetreten ist an den Menschen, dann fangen wir mit der Ausbildung des Gedächtnisses an. Denn da hat Ahriman schon sein Gegengewicht gegen Luzifer geschaffen, da werden wir nicht mehr geradezu dem Luzifer in die Hand arbeiten, wenn wir das Gedächtnis ausbilden.

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Daß wir etwa Ahriman bekämpfen wollen, das dürfen wir uns gar nicht einfallen lassen. Es gäbe wieder ein sehr einfaches Mittel, die gröbsten ahrimanischen Wirkungen zu bekämpfen, aber es würde dem Menschen nicht gut bekommen. Man müßte dann, wenn der Mensch die zweiten Zähne bekommt, sie ihm einschlagen, denn da sind die aller-schärfsten ahrimanischen Wirkungen. Von den fortschreitenden Mäch­ten hat der Mensch nur seine sogenannten Milchzähne. Das, was der Mensch als seine durch das Leben hindurchwirkende selbständige Be­zahnung bekommt, ist eine rein ahrimanische Wirkung.

So müssen wir uns an diesen Dingen klarmachen, daß vieles von dem, was überhaupt an uns ist, gar nicht anders an uns sein kann, als dadurch, daß die ahrimanischen und luziferischen Gewalten in uns sind. Es gelingt uns manchmal, sogar recht unzufrieden zu sein mit un­serem, dem Ahriman unbewußten Entgegenwirken. Im Laufe des Le­bens bereiten wir uns schon vor, gewisse Kräfte zu haben, wenn wir durch den Tod geschritten sind, so daß Ahriman uns nicht gar zu viel zu tun vermag zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Aber manch­mal lassen wir deutlich uns selber merken, daß uns der Kampf gegen Ahriman nicht einmal willkommen ist, zum Beispiel, wenn wir jeden Zahnverlust bedauern. Aber mit jedem Zahn, der uns ausfällt, wächst uns eine Kraft zu, die wir sehr gut gebrauchen können. Ich rede selbst­verständlich nicht gegen das Plombieren oder Einsetzen der Zähne, denn es wächst uns nichts Ahrimanisches zu dadurch, höchstens das Gold selber, aber darauf kommt es nicht an. Also davon kann keine Rede sein, daß das etwas Schlimmes ist. Daß wir nach und nach unsere ahrimanischen Zähne verlieren, kommt davon her, daß wir in der Evo­lution auch gewisse Impulse bekommen, die den Ahriman besiegen. Und gleichgültig ob wir einen Zahn wieder einsetzen lassen oder nicht, wenn er einmal verlorengegangen ist, so ist uns dadurch ein Impuls zugewachsen, der uns hilft in den Kräften, die wir entwickeln müssen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt auf der alleruntersten Stufe. Es ist eine rechte Kleinigkeit zunächst, aber sie kann uns zeigen, wie wir im Grunde genommen wirklich uns angewöhnen müssen, wenn wir an die Wirklichkeit herantreten und über den Schein und die große Täuschung hinausblicken, die uns gewöhnlich umgibt, die Dinge ganz

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anders im Leben anzusehen, als sie gewöhnlich angesehen werden. Und auch die Schwäche des Alters zum Beispiel, ist eine Kraft, die, indem wir sie empfinden, uns direkt zuwächst, um wiederum etwas zu ha­ben gegen den Ahriman, wenn wir durch die Pforte des Todes ge­schritten sind. Während wir hier zwischen der Geburt und dem Tode in der Tat böse sein können, wenn wir zu früh altern, müssen wir mit Bezug auf das, was wir nach dem Tode wollen, um mit Ahriman zu­rechtzukommen, froh sein, daß wir altern.

Und jetzt sehen Sie, wie wunderbar schön sich damit zusammen­fügt, daß uns der innere geistig-seelische Kern verbleibt, der durchaus, in dem er sich zwischen Geburt und Tod fortentwickelt, mit den fort­schreitenden Mächten zu tun hat. Denn dieser Keim, der durch die Pforte des Todes hindurchschreitet, ist da, wo er seine stärksten inner­lichen Spannkräfte entwickelt hat, rein beherrscht von den fortschrei­tenden Mächten. Das, was außer ihm ist, was äußerlich abwelkt, das ist dasjenige, worin die ahrimanischen Kräfte sind. Und wir müssen nun berücksichtigen, was eigentlich dem Seher dieser Ahriman ist.

Wenn unsere Pflanzen herauswachsen aus unserer Erde, gegen den Herbst zu verwelken und die Blätter herunterfallen, dann erscheinen überall die Elementargeister, die Ahriman an die Oberfläche der Erde schickt. Da heimst er ein alles Ersterbende; das heimst er durch seine Elementargeister ein. Wenn man im Herbst durch die Fluren geht und die ersterbende Natur hellseherisch sieht, dann streckt überall Ahri­man seine Kräfte aus, und überall hat er seine Elementarboten, die ihm zutragen das, was abwelkende physische und ätherische Wesenheit ist. Aber wir sind als Menschen den ganzen Tag über eigentlich auch ge­wissermaßen in einer Art von Herbst- und Winterstimmung. Wahr­haftig, die Seelensommerstimmung ist eigentlich nur vorhanden, wenn die Seele schläft. Das ist wirklich so, daß der schlafende Menschenleib, physischer Leib und Ätherleib, von dem Werte einer Pflanze ist; und das, was draußen ist, das Ich und der astralische Leib, die werfen ihre Strahlen zurück auf den physischen und ätherischen Leib, wirken wie Sonne und Sterne und lassen da heraussprossen die Kräfte, die wir den Tag über zerstört haben. Da wächst das vegetabilische Leben, und das Tagesdenken ist eigentlich nur dazu da, um das, was die Nacht

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hat aufsprossen lassen, wiederum hinwegzuschaffen. Wenn wir auf­wachen, dann huschen wir hin über unser vegetabilisches Leben, genau wie der Herbst über die Pflanzen der Erde. Und was der Winter tut an der Vegetation der Erde, das tun wir genauso im Tagwachen an un­serem physischen und ätherischen Leib, an dem, was sie an sprießen­dem, sprossendem Leben in der Seelensommerzeit, nämlich zur nacht-schlafenden Zeit hervorbringen. Wenn wir wachen, ist Winterzeit, richtig Winterzeit der Seele, und wenn wir Frühling der Seele haben wollen, so müssen wir einschlafen. Es ist so. Und von diesem Stand­punkt aus ist es eigentlich leicht begreiflich, warum Menschen, die nicht wenigstens etwas aus der Seelensommerzeit hineinmischen in ihr tagwachendes Leben, so leicht vertrocknen. Trockene Gelehrte, dürre Professorenmännlein, das sind solche, die nicht gern das aufnehmen, was nicht ganz vollbewußt ist, die nicht gern aufnehmen etwas von der Seelensommerzeit. Dann vertrocknen sie, dann werden sie ganz ausgesprochene Wintermenschen. Und dem Seher stellt sich die ganze Entwickelung des menschlichen Tageslebens damit schon dar als ganz ähnlich dem, was ich Ihnen eben für die Natur gesagt habe. Wenn näm­lich der Mensch seine gewöhnlichen, auf das Äußere bezüglichen Ge­danken bildet, wenn er so recht materialistisch dasjenige nur denkt, was äußerlich geschieht, dann greifen seine Gedanken in das Hirn so ein, daß dieses Hirn Stoffe ausscheidet, die Ahriman gut gebrauchen kann, so daß eigentlich Ahriman das wache Tagesleben fortwährend begleitet. Und je materialistischer wir gesinnt sind, desto besessener sind wir von Ahriman. Kein Wunder, daß wahr ist, daß der Materia­lismus mit der Furcht zusammenhängt. Denn wenn Sie sich erinnern an den «Hüter der Schwelle», so werden Sie gewahr werden, wie die Furcht wiederum mit Ahriman zusammenhängt.

Wir sollen das Gefühl erhalten, daß wir in der Tat im Leben kom­plizierten geistigen Welten gegenüberstehen. Und was wir von der An­throposophie erhalten sollen, ist nicht allein das, daß wir dieses oder jenes wissen, daß wir wissen, es gibt den Ahriman, den Luzifer, einen physischen Leib, einen Ätherleib. Das ist das Allerwenigste. Was wir uns aneignen sollen aus der Anthroposophie, das ist eine gewisse Stim­mung der Seele, ein Grundgefühl des menschlichen Lebens, was da

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eigentlich in diesen Untergründen der Seele ist. Daher ist es notwen­dig, daß wir mit einer gewissen heiligen Scheu die Worte bewahren, die mit diesen höheren Dingen zusammenhängen. Wenn wir sie immer auf den Lippen führen, dann geschieht es nur allzu leicht, daß ihr Ernst und ihre Würde sich für uns abstumpfen.

So sehen wir den Menschen zwischen der Geburt und dem Tode, in seinem Verhältnis zu den fortschreitenden geistigen Wesenheiten, in einer gewissen Weise zwischen Luzifer und Ahriman stehen. Und da­mit die gesamte Entwickelung des Menschen in der richtigen Weise sich vollziehen kann, muß dieses Verhältnis auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt so bleiben, nur daß, was zwischen der Geburt und dem Tod innerlich ist, zwischen dem Tod und einer neuen Geburt äußerlich wird. Innerlich hat Luzifer von dem Momente an, bis zu dem wir uns zurückerinnern, seine Krallen mit der menschlichen Seele verbunden. Innerlich - der Mensch weiß nichts davon, wenn er nicht durch Geisteswissenschaft etwas erfährt und darüber fühlen lernt. Nach dem Tode ist die Sache anders. Da tritt in einem bestimmten Zeitpunkt Luzifer, ebenso sicher wie zwischen der Geburt und dem Tode inner­lich, in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt äußer­lich auf. So steht er dort in voller Gestalt vor uns, so steht er uns zur Seite, so wandeln wir mit ihm! So wenig nämlich der Mensch den Lu­zifer kennt, bevor er durch die Pforte des Todes getreten ist, so sicher und klar kennt er ihn, wenn er an seiner Seite geht zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Nur daß im jetzigen Zeitenzyklus dieses Be­wußtsein ein recht unangenehmes werden kann. Wir können so durch das Gebiet zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchgehen, daß wir den Luzifer - der ja auch nicht nur etwas Furchtbares hat, son­dern auch etwas Schönes, Herrliches in bezug auf seine äußere Ge­stalt -, daß wir gewissermaßen Luzifer neben uns haben und seine Not­wendigkeit für die Welt einsehen. Immer mehr und mehr kommt die Zeit heran, wo die Menschen nur so das Leben nach dem Tode mit Luzifer durchschreiten können, wenn sie hier im Leben schon ordent­lich die luziferischen Impulse in der Menschenseele haben ahnen- und kennengelernt. Die Menschen - und solche wird es ja auch gegen die Zukunft immer mehr und mehr geben -, die nichts wissen wollen von

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Luzifer, und das ist ja wohl gut die Mehrzahl, die werden um so mehr wissen von Luzifer nach dem Tode. Denn nicht nur, daß er an ihrer Seite stehen wird, sondern er wird an ihrer Seite fortwährend von ihren Seelenkräften abzapfen, er wird die Menschen vampirisieren. Das ist es, wozu man sich durch Unkenntnis vorbereitet, zum Vampirisiert­werden durch Luzifer. Dadurch entzieht man sich Kräfte für das nächste Leben, denn die gibt man an Luzifer in einer gewissen Weise ab.

In einer ganz ähnlichen Weise ist es mit Bezug auf Ahriman. Mit Bezug auf ihn steht die Sache so. Die beiden Geister sind ja immer da zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, aber das eine Mal ist der eine mehr und der andere weniger da, das andere Mal ist es um­gekehrt. Wir gehen hin, und dann wiederum zurück im Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Bei dem Hingang ist besonders Luzifer, beim Zurückgehen gegen die neue Geburt zu besonders Ahriman an unserer Seite. Denn der führt uns wiederum zur Erde zurück, der ist bei der Rückwanderung in der zweiten Hälfte eine wichtige Persönlichkeit. Und auch er kann denjenigen Menschen, die nicht an ihn glauben wol­len in ihrem Leben zwischen der Geburt und dem Tode, gewisser­maßen Schlimmes zufügen. Er gibt ihnen nämlich dann zuviel von seinen Kräften. Er verleiht ihnen das, was er immer übrig hat, die­jenigen Kräfte, die mit der irdischen Schwere zusammenhängen, die über die Menschen Krankheit und frühzeitigen Tod verhängen, die allerlei Unglücksfälle, die wie Zufälle aussehen, in das Erdendasein hineinbringen und so weiter. Das alles hängt zusammen mit diesen ahrimanischen Gewalten.

Von einem etwas anderen Gesichtspunkte habe ich die Sache drüben in München dargestellt. Da habe ich nämlich aufmerksam darauf ge­macht, daß die menschliche Seele nach dem Tode der dienende Geist sein kann für die Mächte, die Krankheit und Tod hereinsenden aus den übersinnlichen Welten in die sinnliche. Das, was gerade das Le­ben schwach macht, ist es, was Ahriman so sehr willkommen ist, und was es ihm möglich macht, unser Leben weiter zu schwächen. Aber wiederum dürfen wir nicht einseitig urteilen. Ganz falsch wäre es, wenn wir sagen wollten: Also ist es sehr schlimm, daß Ahriman uns hereingeführt hat in das Leben und daß wir etwa unter seinen Nachwirkungen

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im Leben zu leiden haben. - Nein, das ist gut, weil unter Umständen eine Krankheitswirkung das sein kann, was zu unserer auf­steigenden Entwickelung am allermeisten beiträgt.

Es ist immer so, daß, wenn wir herantreten an die Schwelle, welche trennt die übersinnliche von der sinnlichen Welt, wir bereit sein müs­sen, unser Urteil etwas zu modifizieren und nicht so zu urteilen, wie wir das gewohnt sind in der gewöhnlichen physischen Welt. Denn nicht wahr, in der physischen Welt, da ist ja Maja vorhanden in Hülle und Fülle. Woher kommt denn der Materialismus in der physischen Welt, jener Materialismus, der sagt: Es gibt ja gar keinen Ahriman, gibt ja gar keinen Teufel! Wer schreit am lautesten: Es gibt keinen Teufel? -Der am meisten von ihm besessen ist. Denn der Geist, den wir Ahriman nennen, hat das allergrößte Interesse daran, daß sein Dasein am aller­meisten verleugnet wird von demjenigen, der am meisten von ihm besessen ist. «Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kragen hätte!» Das ist also eine arge Maja, nicht an Ahriman zu glau­ben, denn da hat er einen am allermeisten am Kragen, wenn man nicht an ihn glaubt, da gibt man ihm die allergrößte Macht über einen. So daß man falsch urteilt, wenn da Monisten auftreten und gegen den Teufel wettern, und man sagt: Die bekämpfen den Teufel. - Nein, eine materialistisch-monistische Versammlung, die gegen den Teufel wettert, ist dazu eingerichtet, den Teufel zu beschwören. Und viel mehr, als es die alten Hexen getan haben sollen, beschwören die modernen Ma­terialisten den Teufel, viel, viel mehr! Das ist die Wahrheit und das andere ist die Maja. So müssen wir uns angewöhnen, anders urteilen zu lernen. Und derjenige, der in eine monistische Versammlung hin-eingeht, die materialistisch nuanciert ist, sagt die Unwahrheit, wenn er sagt: Die Leute befreien die Menschen vom Teufel. - Er müßte sa­gen: Jetzt gehe ich in eine Versammlung, wo der Teufel mit allen Machtmitteln, die die Menschen haben, in die Menschenkultur herein-gerufen wird. - Das ist das, was wirklich uns zum Bewußtsein kom­men sollte, daß wir sozusagen hineinwachsend in das geistige Leben, nicht nur Begriffe und Ideen aufnehmen lernen, sondern daß wir ler­nen umdenken, umfühlen und doch, wenn wir der äußeren Welt ge­genüberstehen, vernünftig genug bleiben, nicht diese äußere Welt immerzu

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in schwärmerischer Weise zu vermischen mit dem, was für die übersinnlichen Welten die Wahrheit ist. Wenn Menschen in bezug auf die äußere physische Welt immerzu mit Worten herumwerfen, die eigentlich nur für die übersinnlichen Welten den rechten Wert haben, dann nehmen sie sich das weg, was gerade das Wichtigste ist: daß wir lernen zu unterscheiden, nicht zusammenzuwerfen sinnliche und über­sinnliche Welten, daß wir lernen, die Worte im richtigen Sinne anzu­wenden.

Das sei so einzelnes, was an Andeutungen heute gegeben werden sollte, wo wir uns hier versammelt haben, zum erstenmal in so großer Anzahl auch mit auswärtigen Freunden, in unserem vor kurzem be­gründeten Augsburger Zweig. Und es sollte heute, wo wir hier in un­seren Seelen die Gedanken sammeln wollten, die helfend sein sollen der Arbeit an diesem Ort, es soll auch ein ernstes Wort, ein recht ern­stes Wort wie eine Art Eröffnungswort für diesen unseren Augsburger Zweig gesprochen werden. Denn dann gedeiht ganz sicher unter der Führung und Lenkung der den fortschreitenden göttlich-geistigen We­sen dienenden Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen die Arbeit eines Zweiges, wenn diese spirituelle Arbeit sich harmonisch eingliedert einer größeren spirituellen Arbeitsströ­mung. Und unsere Freunde von auswärts sind hierhergekommen zu Euch, meine lieben Augsburger Freunde, um heute auch räumlich ne­ben Euch Gedanken der Liebe und Hingebung für die allgemeine an­throposophische Sache und für jeden einzelnen anthroposophisch Stre­benden mit Euch hier in ihren Seelen zu entwickeln. Und in diesen Seelen wird das zurückbleiben, was von diesen Stunden an seinen Aus­gangspunkt genommen hat, was sich wie ein Quell der Zusammenge­hörigkeit in diesen Seelen entwickelt hat. Ihr werdet, meine lieben Augsburger Freunde, wiederum allein hier arbeiten von Woche zu Woche, von Zeit zu Zeit, aber nur scheinbar, nur äußerlich räumlich allein. Das Zusammensein vieler Freunde mit Euch wird sein der Aus­gangspunkt jener stärkenden Kräfte, die eigentlich jeder Einzelarbeit innerhalb unserer spirituellen Bewegung von all denen zufließen kann, die zu dieser spirituellen Bewegung gehören, auch dann, wenn wir räumlich nicht mit den Freunden irgendeiner Gruppe verbunden sind.

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Darum ist es so schön, wenn einmal die Möglichkeit geboten ist, daß in größerer Zahl unsere Freunde sich mit einem jungen Zweig zusam­menfinden. Denn dann ist der Punkt, in dem sie sich zeitlich zusam­mengefunden haben, auch ein äußeres Zeichen, wie wir es als Men­schen schon einmal brauchen, dafür, daß von da aus auch wirklich der Wille gehen könne, wieder und wiederum hinzudenken zu der Ein­zelarbeit, die da geleistet wird von unseren Freunden an diesem oder jenem Ort. Und wenn Ihr, meine lieben Augsburger Freunde, die Ihr jetzt schon seit einer gewissen Zeit treulich an der Anthroposophie ar­beitet, auch in Zukunft treulich weiterarbeitet, so denkt daran, daß es Freunde in der Welt geben wird, die in der Absicht zu Euch hierher denken, daß Eure Arbeit ein würdiges, echtes, gutes Glied sein könne in unserer gesamten spirituellen Bewegung. So üben wir unsere Zu­sammengehörigkeit und verlieren im Geiste unsere Zusammengehörig­keit niemals aus dem Auge. Halten wir sie uns immer klar, aber auch stark gegenwärtig, denn nur so können uns jene Mächte wirklich helfen, die über unserer wahrhaften Arbeit walten, die Kräfte der Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen. Diese Kräfte werden unsichtbar durch Eure Gedanken hindurchhuschen, wenn Ihr im rechten Sinne diese unsere anthroposophische Arbeit auch hier an diesem Orte leistet. Die lieben hiesigen Mitglieder, sie haben durch so vieles in ihrem anthroposophischen Auftreten und Tun bisher ge­zeigt, wie treu und wahrhaftig sie mit uns arbeiten wollen. Und des­halb tun wir auch alle etwas Wichtiges, wenn wir jetzt, wo wir eben durch dieses Zusammensein Gelegenheit haben, unsere Gedanken in dem Ziel vereinigen, das uns hier zusammengeführt hat: Es möge durch die Kräfte, an die wir immer appellieren, gesegnet und gestärkt sein die Arbeit unserer Augsburger Schwestern und Brüder! Von dieser Ge­sinnung aus rufe ich denn auch für diesen Zweig den Segen der Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen an, jenen Segen, von dem ich weiß, daß er bei unserer Arbeit ist, wenn wir uns seiner würdig machen.

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FRÜHLINGSANFANG, OSTERMOND UND OSTERSONNTAG Den Haag, Ostersonntag, 23. März 1913

Es mag unentschieden bleiben, wie viele Herzen am heutigen Tage im westlichen Europa noch soviel Zusammenhang des Geistig-Seelischen mit dem Göttlich-Natürlichen fühlen, daß ihnen am heutigen Tag, an diesem Zukunftshoffnungsfest, in diesem Jahr der Gedanke durch die Seele zieht, wie wir in einem Jahre leben, in dem dieses Hoffnungs­frühlingsfest so früh als möglich hereingerückt sein darf in die Zeit, da heraussprossen aus dem Schoße unserer Mutter Erde die frischen Triebe des Jahres, wo einzieht in das Menschenleben dasjenige, was wir Früh­ling nennen. Drei Tage, die sonst weit voneinander abliegen, sind in solchen Jahren, wie dieses eines ist, hintereinander zusammengedrängt. Der Ostersonntag, es ist ja derjenige Sonntag, der auf den Vollmond folgt, welcher wiederum folgt auf den Frühlingsbeginn am 21. März. Drei Tage, die verhältnismäßig weit auseinanderliegen können, die fol­gen sich in diesem Jahre: Frühlingsanfang vorgestern, Frühlingsvoll-mond gestern, der Ostersonntag heute. In solchen Jahren ist für den­jenigen, der in das geistige Erkennen der Welt einrückt, eine ganz be­sondere Schrift hineingeschrieben in das Weltenall, und gerade an die­sem Tage eines solchen Jahres geziemt es sich ganz besonders der Seele, welche sich bestrebt, mitfühlen zu lernen die geistigen Geheimnisse des Weltenalls und des Zeitenwerdens, auch mitfühlen zu lernen, was hineingeschrieben sein soll in unsere menschliche Erdenentwickelung mit diesem Frühlingsfest.

Derjenige Mensch, welcher den Zusammenhang von Sonne und Mond kennt, so kennt, wie man ihn kennenlernen kann, wenn man das Zusammenwirken von Sonne und Mond für die Erde in der geheimwis­senschaftlichen Schrift erschaut, der kennt auch das tiefe Geheimnis, das da waltet zwischen dem Erdengeist Christus und zwischen dem Geist, den wir ausdrücken mit dem Worte Jahve, Jehova. Und wer den Zusammenhang kennt zwischen der Sonne und dem Monde, der hört mit einem Verständnis erweckenden Klang die Paradieseslegende von

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dem Fall der Menschen und ihrer Verführung durch Luzifer, von den in Strafgerechtigkeit erschallenden Worten Gottes. Derjenige, der ver­sucht, manches, was zwischen den Zeilen meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» enthalten ist, zu verstehen, kann ahnen den Zusammen­hang zwischen dem Sonne-Mondgeheimnis und dem Geheimnis, das gewöhnlich als die Versuchung Luzifers und das Einwirken Jahve­Jehovas gekennzeichnet wird.

Heute aber wollen wir mehr den Blick richten darauf, daß Sonne und Mond, wie sie sich folgen in ihrer Wirkung auf die Erde, von die­sem Karfreitag zu diesem Karsamstag, wie Sonne und Mond in ihrer Schrift im Kosmos dem Okkultisten erscheinen wie ein Fragezeichen, das hineingeschrieben ist tief geheimnisvoll ins geistige Weltenall, und die Antwort gibt uns in diesem Jahre, so schnell als möglich, die un­mittelbare Folge des Ostersonntags auf den Sonnabend des Frühlings­vollmondes: Ostersonntag, der Tag der Erinnerung und der Tag der Hoffnung, der Tag, der uns symbolisch ausdrückt das Mysterium von Golgatha. Manche Geheimnisse verbergen sich hinter dem, was uns in der äußeren physisch-sinnlichen Natur umgibt, und die Enthüllung solcher Geheimnisse, sie bringt uns ja immer in einer gewissen Weise in die Nähe des strengen Hüters der Schwelle. Auch das Osterge­heimnis ist ein solches, das durchaus in einer gewissen Weise, um ver­standen zu werden, erst das Reifwerden der Menschenseele fordert, obwohl im instinktiven Gefühl ein jeder das innere Andachtsopfer immer verrichten kann, das unsere Seele erfüllen mag, wenn an den Frühlingsanfang angereiht wird der Tag der Erdenzuversicht, der Tag der Erlösung und Auferstehung, der Ostersonntag. Wenn der Früh­ling beginnt, wenn die Sonne in ein solches Verhältnis zur Erde rückt, daß durch ihre Kraft aus dem Schoße der Erdenmutter hervorsprießen können die Pflanzenkeime, dann beginnt die Menschenseele innerlich wie in Paradieseshelle aufzujauchzen, weil sie weiß, es gehen Kräfte durch den Kosmos, welche in zyklischer Folge mit jedem neuen Jahre aus dem Erdenschoße hervorzaubern, was zum äußeren Leben und auch zum Leben der Seele notwendig ist, damit der Mensch in der Erdenent­wickelung seinen Lauf vom Beginne bis zum Ende dieser Erdenentwikkelung gehen könne. Und wenn die Eindrücke des Winters, der da zudeckt

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den Boden der Erdenmutter mit seiner Eisdecke, wenn das alles wachruft den Gedanken an alles dasjenige, was einstmals die Erde zum Verfall bringen wird im Weltenall, was einstmals die Erde überführen wird in den Welterstarrungszustand, der sie unfähig machen wird, fernerhin Wohnplatz des Menschen zu sein, wenn der Winter diese Gedanken wachruft, dann ruft jeder neue Frühling in die Menschen-seele den anderen Gedanken herein: Ja, du Erde, dir ist mitgegeben seit deinem Urbeginn immer neue Jugendkraft, immer sich erneuerndes Leben. Dir ist gegeben, die Seele wiederum herauszurufen zu inner­lichem Jauchzen, aber auch zu innerlicher Andacht. Und wenn sich auch noch die kalte Eisdecke hingebreitet hat über das Erdenreich, so verbinden sich in der Menschenseele doch die hoffnungsvollen Vorstellungen mit der ahnenden Empfindung, wie die Erde noch lange werde durch ihre Frühlings- und Sommerkräfte den Menschen tragen können, damit er die Möglichkeit finde, all die Fähigkeiten, all die inneren Kräfte aus sich heraus zu entwickeln, die in seinen An-lagen begründet sind. Das ist das innere, ehrfürchtige Aufjauchzen der Seele in der Frühlingsjahreswende. Es kommt davon, daß die Seele sich voller Hoffnung fühlt, daß die Erde bestehen kann und daß die Erde die Möglichkeit geben kann, Menschenkräfte voll zu ent­wickeln.

Aber es kommt wohl auch an die Menschenseele die Frage heran:

Werden alle Sonnenkräfte in der Lage sein, alle Winterkräfte zu über­winden oder wenigstens ihnen die Waage zu halten? Werden die Win­terkräfte nicht vielleicht so stark auf der Erde wirken können, daß die Erde früher in Erstarrung übergehen muß, bevor die Menschenseele ihre volle Erdenmission erfüllt hat? Wird der Sommer dem Winter die Waage halten? Wird der Frühling immer seine notwendige Kraft ha­ben? - ein Gedanke, der vielleicht den Menschenseelen, die nur die äußere Natur beobachten, nicht so leicht kommt, der aber immer mehr und mehr kommen muß denjenigen Seelen, die sich in den wahren Geistesinhalt des Weltenalls vertiefen können. Diese Seelen, sie suchen zu entziffern die große, gewaltige Schrift, mit der die Weltengeheim­nisse in den Kosmos hineingeschrieben sind. Dann wird gegenüber der eben erwähnten Schrift von dem Kampf des Winters mit dem Sommer

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eine andere Schrift der Seele vernehmlich, jene Schrift, welche sich hereinschreibt in unser Weltenall, wenn wir verfolgen den Mond in seinem geheimnisvollen Gang, wie er unsichtbar-sichtbar seinen Kreislauf vollendet. Oh, dieses Mondenlicht, wie ein rätselhafter Buch­stabe der Weltenschrift stellt es sich herein in das urewige Schöpfungs­wort des Erdenlebens. Dieses Mondenlicht, wenn es der Okkultist zu ergründen sucht, dann erinnert es ihn zunächst an die strafende Stimme Jahves im Paradies nach der Versuchung Luzifers, dann erinnert es ihn freilich auch wiederum an die Wunderbare, geheimnisvolle Tat­sache, wie der Buddha in einer Silbermondnacht seinen Geist ausge­haucht hat in das kosmische Weltenall. Was sagt uns das Mondenlicht, das da ist in der Finsternis der Nacht wie der Traum im Schlaf des Menschen? - Der Okkultist erfährt, daß von den Kräften der wirken­den Sonne, von den immer wieder und wiederum die Erdenevolution erneuernden Kräften der Sonne, stets so viel hinweggenommen wird, als Licht der Sonne zurückgestrahlt wird vom vollen Mond. Die Men­schenseele mag sich hineinträumen in die mondbeglänzten Zauber-nächte, der Okkultist weiß, daß so viel genommen wird von der Kraft des Sonnenlichtes und der Sonnenwärme, als zurückstrahlt der volle Mond von diesem Sonnenlicht zur Erde.

So ist der Vollmond das stetige Symbolum dessen, was der Sonne genommen wird. Und wenn die Sonne in jedem neuen Frühling mit ihren Kräften neuerdings heraufdringt in das irdische Leben, so weiß der Okkultist, daß, wenn das auch für die äußere Beobachtung wenig wahrnehmbar ist, mit jedem neuen Frühling die Sonne schwächere Kräfte hat, als sie im alten, vorhergehenden Frühling hatte, und daß ihr ebensoviel von ihren Kräften genommen ist, als Vollmondlicht über die Erde hingeschienen hat. So ist der Vollmond, der da erscheint nach dem Frühlingsbeginne, so geheimnisvoll, so seelenbeschwingend er auch den Menschen erscheint, zugleich ein ernster, strenger Mahner an die irdisch-kosmische Tatsache, daß Kräfte der Sonne mit jedem neuen Frühling hingeschwunden sind, und daß der Mensch nimmermehr das in seiner Erdenmission erreichen könnte, was er erreichen würde, wenn der Sonne diese Kräfte nicht genommen würden. Diese Tatsache zu empfinden, stellt ein gewaltiges Fragezeichen in den Kosmos, dieses

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Fragezeichen empfindend, verhielten sich in ihrem Herzen die alten Okkultisten.

So sagten sich die alten Okkultisten: Wir blicken hinauf zur Sonne, deren Geheimnisse Zarathustra einstmals den Menschen verkündet hatte. Wir blicken hinauf zu dem Monde, dessen Geheimnis in der Jahve-Religion seinen bedeutendsten Ausdruck gefunden hat. Wenn wir die beiden Himmelszeichen schauen, dann wissen wir: Zusammen­wirken von Sonne und Mond bedeutet Erdenniedergang. - Dann schau­ten diese alten Okkultisten hin auf einen Punkt der Erdenentwicke­lung selbst, auf jenen Punkt, wo aufging aus der Erde selber in der Fülle der Zeit der Geist der Sonne in dem Leibe des Jesus von Naza­reth. Damals, als Christus starb am Kreuz von Golgatha und der Geist des Christus sich mit der Erde verband, da war das kosmische Ereignis im Erdenleben geschehen, daß eine Gegenkraft geschaffen wurde ge­gen alles das, was der Mond an Kräften der Sonne wegnimmt, während diese Sonne aus dem Kosmos her auf die Erde wirkt. Indem der Chri­stus-Geist in einer Menschenseele seinen Wohnsitz aufgeschlagen hat und von da aus über das ganze Erdensein im Laufe der zukünftigen Erdenentwickelung verbreitet wird, ist Ersatz geschaffen für das, was die Mondenkräfte fortwährend entziehen den von der Sonne in die Erde eindringenden Sonnenkräften. Daher versteht diese Menschen-seele ihre Beziehung zum Kosmos, wenn sie moralisch-spirituell zu den Tagen, die aus dem Kosmos hereindiktiert sind, aus sich heraus hinzu­setzt den dritten Tag, den Tag des Todes und der Auferstehung von Golgatha. Und wenn sie so nahe aneinanderrücken, die fortschreiten­den kosmischen Sonnenkräfte, die in ihrer unendlichen Güte der Erde immer neues Leben geben wollen, und der strenge Mondengeist, der ob der Wesenheit des Luzifer und seiner Kräfte wegnehmen muß der Sonne, insoferne sie nur die natürliche Sonne ist, ihre Kräfte, so kann hinzufügen zu den beiden als dritten Tag, moralisch-spirituell, wie die Antwort auf die große kosmische Frage, die Menschenseele diesen Ostertag. Wunderbar stehen sie nebeneinander in solchen Jahren, wie dieses Jahr eines ist.

Karfreitag! - er darf uns in diesem Jahre besonders mahnen in kos­misch-okkulter Schrift daran, daß der Sonne immerzu mit jedem neuen

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Frühling Kräfte genommen sind, und daß die Erde früher ersterben könnte, als bis die Menschenseele all ihre Kräfte entwickelt hat. Voll­mondtag am Karsamstag, ein wunderbares Geheimnis! Oben im Kos­mos das wunderbare Zeichen, das Sinnbild des gestrengen Jahve, der seine Donnerstimme wallen läßt durch das Paradies, in dem die mensch­liche Sünde die Folge der Versuchung ausstrahlt; unten auf der Erde das Symbolum der neu erstandenen Erdenkraft, der im Grabe ruhende Christus! Es geht tief in die Seele, die okkultistisch empfinden kann, wenn sich gerade über dem Ostergrabe, dem Sinnbild des Hinein­dringens des Christus-Impulses in den Erdenleib, breitet das silberne, ernste und strenge Vollmondlicht. Darauf folgend das Sinnbild der wiedererstandenen Sonne, der aus der Menschenseele wiedererstan­denen Sonne, der Ostersonntag! Fühlen wir diese Dreiheit in unserer Seele, fühlen wir die kosmische Sonne, gefolgt von dem kosmischen Mond, gefolgt von der moralisch-geistigen Sonne, fühlen wir in die­ser Dreiheit in unserer Seele das Symbolum, wie überwindet der Geist die Materie, wie überwindet das Leben den Tod, fühlen wir etwas davon, was uns erfüllen kann, wenn wir im rechten Sinne des Wortes Okkultisten unserer Zeit sind, wie jene Kraft, die wir als den Christus-Impuls bezeichnen, immer stärker und stärker dem Erdenmenschen auf­gehen wird, damit die Menschen in dem immer mehr und mehr sich offenbarenden Christus-Impuls fühlen lernen, was in ihnen selbst ent­halten sein muß, damit sie als Menschen finden den Weg hinaus aus der ersterbenden Erde zu höheren Entwickelungsstufen der unsterblichen, in Ewigkeiten hinauslebenden Menschenseele!

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SINNESERLEBEN UND ERLEBEN DER WELT DER VERSTORBENEN Weimar, 13. April 1913, vormittags

Wenn wir uns darauf besinnen, daß wir hier in der physischen Welt uns bekanntmachen mit dieser physischen Welt, so werden wir ja im­mer darauf kommen, daß wir in dieser Welt in erster Linie leben durch unsere physischen Sinne, durch den Verstand. Wir leben ja allerdings innerhalb dieser physischen Welt auch durch unser Seelenleben, durch die Gedanken, die in uns auftauchen, die uns bleiben in der Erinne­rung, die unseren Gedächtnisschatz ausmachen, wir leben in dieser Welt durch die Gefühle und Willensimpulse. Es ist ganz begreiflich, daß es für den Menschen, der sich noch nicht tiefer mit geisteswissen­schaftlichen Fragen befaßt hat, recht unwahrscheinlich ist, daß auch ein Erleben stattfinden kann, welches ganz anders gestaltet ist als das in der physischen Welt; denn es ist ja klar, der Mensch kennt die Welt zunächst nur durch das Denken, Fühlen und Wollen. Es gibt nun aber durch das, was wir die Initiation nennen, in der Welt eine ganz andere Form des Erlebens, die über die physische Welt hinausgeht. Im Grunde ist es dieselbe Art des Erlebens, wie wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, eintritt in jene Zeit, die zwischen Tod und neuer Ge­burt liegt.

Nun muß man ja sagen, in den meisten Fällen ist dasjenige, was den Menschen überfällt, wenn er sich hier im physischen Leib eine Vorstel­lung machen soll von dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt, ein Auftreten in der Seele einer gewissen Angst vor dem Nichts. Machen wir uns klar, daß dieses Auftreten von Furcht ganz natürlich ist. Denn versuchen Sie einmal, sich rein physisch in die Lage zu versetzen, Sie wären recht schnell gegangen und wären an einen tiefen Abgrund ge­kommen. Dieser böte nichts anderes dar, als ein Ahnung, ein Gefühl:

Sie können gar nicht wissen, was im nächsten Augenblick geschehen könnte, wenn Sie die Schritte fortsetzten. - Dieses Gefühl kann nur dann die Seele befallen, wenn der Mensch so schnell gelaufen ist, daß er sich nicht mehr aufhalten kann. Er sagt sich: Du mußt den nächsten

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Schritt machen. - Das Unbestimmte der Angst lebt in der Seele und dieses Gefühl würde sich nur vergleichen lassen mit dem Gefühl, das in der Tiefe der Seele immer vorhanden ist, aber nur nicht wahrge­nommen wird, weil die Aufmerksamkeit auf die physische Welt ge­richtet ist, dieses Gefühl, das ihm sagt: Was geschieht mit dir, wenn du alles verläßt, in das du hineingewöhnt bist? - Der Mensch braucht sich nur zu besinnen, daß so etwas unterbewußt in ihm leben kann, und es lebt auch da, was man aussprechen kann mit den Worten: Sehen und hören kannst du nicht, denn die Instrumente zu dieser Sinnenbetäti­gung sind dir genommen; denken kannst du auch nicht. - Diese Ge­fühle macht man sich nicht klar, aber sie sitzen in der Seele, und das­jenige, was der Mensch empfindet, ist eine Art Sich-Hinwegbetäuben über dieses Gefühl. Sobald es auftritt, wird irgend etwas anderes in die Seele hineingerufen, so daß das Gefühl nicht zum Bewußtsein kommen kann. Aber damit kann man auch nicht die richtige Vorbereitung tref­fen, man kann nicht den Schleier lüften, der hinter dem Tode liegt. Wir wollen uns heute aufklären darüber, wie zusammenhängt dieses unser Leben mit dem nach dem Tode.

Wir sprechen mit Recht in der physischen Welt davon, daß wir sie wahrnehmen durch unsere Sinne. Der Mensch spricht, wenn er von den Sinnen spricht, eigentlich nur von den Sinnen, die zu gebrauchen sind in der physischen Welt. Sie sind nur zu gebrauchen in der physi­schen Welt, weil sie gebunden sind an die Werkzeuge, die uns beim Tode genommen werden. Als Sinne werden da immer nur die fünf Sinne aufgezählt: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl. Diese sind aber alle nicht zu gebrauchen im entkörperten Zustand. Es ist notwendig, wenn man einen Ubergang finden will, daß man vollstän­dig aufzählen muß die menschlichen Sinne. Das, was der Mensch bei der Aufzählung verfehlt, ist, daß er sich selbst dabei vergißt. Er ge­hört aber doch zu der physischen Welt und er könnte sich hier nicht wahrnehmen, wenn er keine Sinne dafür hätte. Es sind zunächst we­nige Sinne, durch die er sich selbst wahrnimmt: Der Gleichgewichts-sinn, der Bewegungssinn und der Lebenssinn, doch sind sie ebenso wich­tige Sinne wie die anderen Sinne, die äußeren Sinne. Was ist Lebens-sinn? Sie können sich eine Vorstellung davon machen, wenn Sie in

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Betracht ziehen, den Unterschied zu fühlen zwischen Hunger und Sättigung. Wenn sich der Mensch nicht innerlich begriffe, so würde er nichts wissen von seiner eigenen Leiblichkeit, von Wohlbefinden oder Übelbefinden. Genauso wie man von dem Gesichtssinn spricht, so muß man von dem Lebenssinn sprechen.

Aber auch noch von einem anderen Sinn muß man sprechen. Wie unmöglich wäre es für den Menschen, sich zu fühlen, wenn er nicht empfände die Tätigkeit der Muskeln und Sehnen. Das ist ein Wahr­nehmen der inneren Beweglichkeit. Es ist nur für den Menschen etwas getrübt, weil der Mensch sich in der physischen Welt mit seinen phy­sischen Augen sieht. Das richtige Gefühl bekommt man von dem in­neren Wahrnehmen, wenn man sich im Finsteren bewegt; da wird zum Beispiel die Wahrnehmung des Atmungsprozesses leichter klar.

Dasjenige, was wir Gleichgewichtssinn nennen, brauchen wir sehr notwendig. Es ist zu beobachten bei Kindern, wenn sie gehen und stehen lernen; da fühlen sie sich nach und nach in den Sinn hinein. Wir müssen uns daran gewöhnen, zu empfinden, daß wir aufrechtgehen. Dieser Sinn hat sogar ein Organ; das sind die drei haibzirkelförmigen Bogengänge im Ohr, die senkrecht zueinander stehen. Sind sie ver­letzt, so fällt der Mensch um, und das mangelnde Gleichgewichtsgefühl mancher Menschen rührt davon her, daß der innere Orientierungssinn verletzt ist.

Wenn wir weitergehen, so finden wir noch andere Sinne, durch die wir in uns eine Art Selbstwahrnehmung haben können, doch ist das schon schwieriger. Da müssen wir von einer gewissen Betrachtung aus­gehen, die hinweist auf einen Bewußtseinszustand, der nicht mehr ganz normal ist. Er tritt auf in gewissen Träumen. Es kann im Bewußtsein einmal auftreten als Traum das Folgende: Ein Mensch hat furchtbaren Ärger, der Steuermann ist gekommen. Er träumt das in allen Einzel­heiten, und es kann ein langes Traumgespinst sein. Es verwandelt sich und dann tritt Wagengerassel auf; die Feuerwehr fährt vorüber. Es ist Feuer ausgebrochen. Äußerlich ist nichts weiter vorgekommen, als der Ruf «Feuer». Dies Wort klingt leise an an das Wort «Steuer», und es ruft in der Seele durch den Ton den Übergang hervor von dem unmit­telbar gehörten Ruf «Feuer», und das gebiert wiederum die Summe der

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ärgerlichen Vorstellungen des Traumes. Der Traum läuft furchtbar schnell ab. Die einzelnen Ereignisse denkt man sich in der Zeitlinie, und deshalb kommt einem der Traum so lang vor. Man sieht aus die­sem Traum, welche große Bedeutung im Seelenleib das Tönen hat, na­mentlich dann, wenn es sich untermischt mit Vorstellungen, wenn das Wort hineinspielt. Wenn wir weitergehen in der Seelenforschung, so sehen wir, daß eigentlich etwas ganz anderes vorgeht. Nur wenn der Mensch tief schläft, merkt er die Dinge nicht. Es wäre auch etwas vorgegangen, wenn der Ruf «Feuer» gar nicht ertönt wäre, aber nun deckt der Ruf etwas zu und ruft das Wort «Steuer» hervor. Aus dem Nachklang des Wortes wird ein feiner Schleier gesponnen. Im Tages-leben ist der Schleier furchtbar dick, aber neben den Tagesvorstel­lungen gehen einher die feinen Seelenvorstellungen. Nur werden diese nicht wahrgenommen. In einem solchen Traumgesicht fassen wir das Weltgeschehen, wie es sich hinstellt vor unsere Seele, an einem Zipfel.

Wir haben dies Beispiel absichtlich gewählt, weil das Gehör, wie es nun in der jetzigen Menschheit eingerichtet ist, der den übersinn­lichen Sinnen nächste Sinn ist. Wir stehen da hart an der Grenze der übersinnlichen Welt und könnten wir abstreifen die beiden Worte, so würden wir die wahren Seelenerlebnisse erfahren können.

An diesem Beispiel ist gut zu sehen, wie der Mensch vor der gei­stigen Welt steht. Aber die beiden Worte halten ihn zurück. Es ist wirk­lich so, daß die weitaus meisten unserer Träume durch Nachklänge des Gehörsinnes gesponnen werden, weil zwischen dem Hören und dem Denken ein innerer Sinn lebt, der für das heutige Leben ganz ver­kümmert ist. Wenn man sich hineingelebt hat in die geistige Welt, so tritt dieser Sinn in Tätigkeit. Zwischen dem Hören und dem Denken lebt dieser Sinn, der bewußt wird, wenn man Unhörbares hören kann. Wenn man die Empfindung für rhythmisch, melodisch Harmonisches erweckt hat... (Lücke im Text.)

Wenn man nicht vordringt zu einem Sinn, der nur Bedeutung hat für die physische Welt, so steht man vor einem Sinn der übersinnlichen Welt. In der physischen Welt hat dieser Sinn sich gespalten in Gehör-und Vorstellungssinn. Er klingt an, wenn man zu einer Art von Selbstbewußtsein

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kommt. Am besten klingt er dann an, wenn man versucht, die Nachempfindung der Musik und Dichtung zu entwickeln. Es ist jedoch besser, von der anderen Seite vorzudringen. Im äußeren phy­sischen Leben ist der Sinn verkümmert.

Von da aus geht es immer weiter bis zu dem, was wir heute nennen:

Der Mensch kommt zu der Ich-Vorstellung. Dieser Ich-Vorstellung gegenüber muß man aufrichtig sein. Die Menschen sprechen das Ich aus und haben in dem Aussprechen einen gewissen inneren Halt. Sie glauben mit Recht, in dem Ich-Aussprechen das Ich zu erfassen. Mit Recht ist das so. Es ist dies eine Art Vorbereitung zur Erfassung des wirklichen höheren Ich. Dieses Erfassen hat seine große Schwierigkeit, sonst würde nicht das ganze philosophische Streben darauf gerichtet sein, dahinterzukommen. Ich habe in meiner «Philosophie der Frei­heit» dahin gestrebt, klarzumachen, wie man dahinter kommt. Alles das gehört zur Selbstwahrnehmung. Man muß es innerlich erfassen, wodurch man als Ich sich anspricht. Wir haben also Sinne, durch wel­che wir die äußere Welt erfassen, und solche, wodurch wir uns selbst erfassen, wenn wir das tonlose Tönen hören.

Hier im Physischen sind besonders ausgebildet die bekannten fünf Sinne. Diese haben keine Bedeutung für den Initiierten in der geistigen Welt. Die anderen Sinne, durch die der Mensch zur Selbstwahrneh­mung kommt, sind verkümmert. Sie haben eine große Bedeutung für den Menschen, wenn er durch die Pforte des Todes geht.

Das erste, was er braucht im Jenseits, ist der Sinn, der übergeht vom äußerlich Musikalischen zum innerlich Musikalischen. Für diesen Sinn ist das Vorhandensein des äußeren Gehörwerkzeuges nicht hinderlich. Heute ist nur der Sinn durch das Ohr totgeschlagen. In der physischen Welt kann man die Kraft des Sinnes wahrnehmen, wenn die Musiker komponieren. Der Sinn steht da hinter dem musikalischen Schaffen. Nach dem Tode wird er ein Sinn, durch den der Mensch auf seine ganze Umgebung hingewiesen wird. Musik erleben wir dann innerlich. Nach dem Tode wird der Sinn ein äußerer Sinn und man nimmt wahr eine Zeitlang nach dem Tode, was durch die Welt geht, denn die Welt ist durchzogen von rhythmisch-musikalisch Harmonischem. Ein Mensch, der nicht wahrnehmen würde dieses rhythmisch-musikalisch Harmonische,

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der würde sein wie ein Mensch in der physischen Welt, der das Unorganische nicht wahrnehmen könnte.

In meinem Buche «Theosophie», bei der Schilderung des Devachan, werden Sie finden, wie das gegenseitige Leben besteht im Ausbreiten des musikalisch-rhythmisch Harmonischen. In der Tat gliedert sich an das Obere und Untere das Vorwärts und das Rückwärts, während wir durch den Gleichgewichtssinn nur wissen, daß wir aufrechtgehen. Wir nehmen die Wesen wahr, die oben und unten, rechts und links sind. Also die inneren Sinne, die jetzt verkümmert sind, die breiten sich aus und vermitteln uns die geistige Welt. Dann geht über der Gleichge­wichtssinn in den Harmonie- und Rhythmussinn, dann gliedert sich an der Sinn der Bewegung. Wenn wir befreit sind von dem ganzen Mus­kel- und Sehnenwerk, dann wird der Sinn, der sonst durch die Leib­lichkeit konzentriert ist, sich ausbreiten und wir kommen zu der Mög­lichkeit, im Weltall überall so zu sein, wie wir durch den Bewegungs­sinn in unserem eigenen Leibe sind. Die Außenwelt ist in der geistigen Welt so, wie in der physischen Welt in uns eine Muskelbewegung vor sich geht. Wenn einem Kinde die Hand entgegengestreckt wird, so kommt dies dem Kinde zum Verständnis und es macht die Bewegung nach. In dem inneren Erleben der nachgemachten Bewegung erwacht der Bewegungssinn.

Man wird mit der Zeit gründlich kuriert von manchen Lehren, die immer daran kranken, daß sie sagen: Wir leben ja in uns. In der über­sinnlichen Welt gibt es aber keine Blutzirkulation.

Der innere Bewegungssinn wird ein ganz besonders wichtiger Sinn sein, wenn wir gestorben sind, der Lebenssinn wird uns wichtig - wenn er nicht in unangenehmer Weise in Anspruch genommen werden kann -, weil wir dann keine Kopfschmerzen mehr haben und kein Hunger-gefühl.

Diejenigen Sinne, welche hier verkümmert sind, werden ganz be­sonders angeregt, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Die eigene Leiblichkeit können wir nicht durch die eigene Leiblichkeit wahrnehmen, das Auge kann sich nicht selber sehen und das Gehirn kann sich nicht selbst untersuchen; also das Organ, das etwas wahr­nimmt, kann nicht dasselbe sein, das sich selbst wahrnimmt. So muß

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aus der Leiblichkeit herausgesondert werden das, was wir Lebenssinn genannt haben, und so nähert es sich dem Seelischen. Beim Gleichge­wichtssinn ist es nicht so, daß er das Wahrnehmen vermittelt, sondern er drückt sich nur symbolisch in demselben aus.

Diese Sinne sind eigentlich diejenigen, die durch ihre eigene Natur egoistisch sind, weil der Mensch durch sie sein Selbst wahrnimmt. Und das dürfen wir uns nicht verhehlen, daß das, was wir mit heraustragen aus dem Leben, der egoistischere Teil ist. Zunächst behalten wir also den egoistischeren Teil und daraus wird verständlich, daß der Mensch unmittelbar nach dem Tode übergeht in einen recht egoistischen Zu­stand. Wie das Kind seine Sinne mitbringt ins physische Dasein und sich erst gewöhnen muß an die physische sinnliche Welt, so muß der Mensch im entkörperten Zustand seine Sinne an die übersinnliche Welt gewöhnen. Das dauert nach dem Tode recht lange, und während er die Sinne gewöhnen lernt, bleibt ihm zunächst lediglich das, was hier in der physischen Welt ihn mit der Außenwelt zusammengebracht hat, als Erinnerung, und zwar als der unangenehmere Teil der Erinnerung. Die erste Erinnerung dauert nur wenige Tage, sie erscheint als Erinne­rungstableau, das uns ja bekannt ist. Dann beginnt sie so zu werden, daß das, was hier ihr Innerstes ist, sich anknüpft in innerlicher Weise, so daß der Mensch sich daran gewöhnt innerlich zu durchsetzen alles, was er erlebt hat, denn die Möglichkeit, wahrzunehmen, hört ja auf.

Ein konkreter Fall: In irgendeinem Lebensverhältnis haben wir zu­sammengelebt mit einem Menschen. Wir sterben hinweg, er bleibt zu­rück auf dem physischen Plan. Wir gewöhnen uns immer mehr daran, von dem Inneren etwas anderes zurückzubehalten als die Erinnerung. Wenn wir einen Toten betrachten, so sehen wir, daß er weiß, was wir mit ihm erlebt haben während seines Erdenlebens. Mit dem Tode reißt nun der Faden ab und jetzt kann die erschütternde Wahrnehmung ge­macht werden, daß man Tote trifft, die einem mit den Mitteln der Mitteilung sagen: Da habe ich gelebt mit diesem oder jenem Menschen. Ich weiß, daß er fortlebt, ich weiß aber nur etwas von ihm bis zu mei­nem Tode. - Das ist ein großer Schmerz. Jetzt vermißt der Tote ihn. Darum jammern die Toten hauptsächlich nach denen, die sie geliebt haben und an die sie nicht heran können. Es muß bekannt werden, daß

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wir in dieser Beziehung den Toten wichtige Dienste leisten können, wenn wir ihnen entgegenkommen. Die äußeren Sinne sind den Toten genommen, es lebt in ihnen nur das, was sie gemeinschaftlich mit uns erlebt haben. Ja, das gewöhnliche Leben bietet eigentlich nichts, was die Sache anders machen könnte. Sie kann nur geändert werden, wenn Bande geknüpft werden zwischen dem Toten und dem Lebenden. Es ist für den Toten gewöhnlich so, als wenn wir zu den Toten hinauf­sehen. (Lücke im Text.) Nun gibt es ein gemeinsames Bindeglied zwi­schen den Toten und den Lebenden: es ist das, was wir denken an über­sinnlichen Gedanken. Das spirituelle Denken ist dieses Bindeglied.

Ich darf betonen, daß man den Toten vorlesen kann über das, was von übersinnlichen Welten handelt. Wenn wir Zeit haben, setzen wir uns hin und gehen in Gedanken durch, was der Inhalt der Geistes­wissenschaft ist und stellen uns dabei recht lebhaft vor, daß die Ver­storbenen bei uns wären. Wir nehmen ihnen damit die Qual, daß sie denken, wir waren nicht da. Da haben wir innerhalb der anthroposo­phischen Bewegung recht schöne Resultate erzielt, dadurch daß wir in Gedanken an die Toten ihnen vorgelesen haben. Dadurch sind sie mit uns zusammen, und dessen bedürfen sie, danach sehnen sie sich.

Es gibt zweierlei im Zusammenleben mit den Toten. Das erste ist dasjenige, was eben jetzt charakterisiert worden ist, das Entbehren der Menschen, mit denen man gelebt hat auf der Erde. Dem können wir abhelfen durch das Vorlesen. Wir sollen zusammensein mit den Toten und überbrücken die Daseinsverhältnisse. Was hat es nun für eine Be­deutung für die Toten, wenn wir ihnen Anthroposophie vorlesen, trotzdem sie bei Lebzeiten nichts davon haben wissen wollen? - wird oft gesagt. Doch das ist ein materialistischer Einwand, denn die Ver­hältnisse bleiben ja nicht dieselben. Es kann zum Beispiel der Fall be­obachtet werden, daß zwei Brüder da sind. Der eine neigt der Geistes­wissenschaft zu, während der andere gerade darüber immer wütender wird. Er redet sich immer mehr in die Wut hinein. Doch dies tut er nur aus dem Grunde, weil er sich betäuben will über die innere Sehnsucht nach Geisteswissenschaft. Im Leben kann man an ihn nicht gut heran, und es ist nicht gut, für die Anthroposophie zu agitieren. Im Tode zeigt sich nun das am meisten, was der Mensch ersehnt hat, und gerade

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solchen Seelen kann man das Allerbeste leisten, wenn man ihnen vor­liest. Derjenige, der sich hier schon für Anthroposophie interessiert hat, wird sich auch dort immer mehr dafür interessieren. Dies ist das eine.

Das andere, was zu bedenken ist, gerade in unserer Zeit, ist, daß wir, wenn wir jeden Tag im Schlaf in die übersinnliche Welt eingehen, in demselben Reiche sind, wo die Toten sind. Nur wissen wir nach dem Aufwachen nichts mehr davon. Wie gehen nun die meisten Menschen in den Schlaf hinein? Man darf sagen, wenn sie die Schwelle des Schla­fes überschritten haben, daß sie wenig Spirituelles mitgenommen ha­ben. Diejenigen, die durch Genuß geistiger Getränke die nötige Bett-schwere erlangt haben, bringen nicht viel Spirituelles hinein in die geistige Welt. Aber es gibt da viele Nuancen. So oft hört man: Ja, was nützt es denn, wenn man Geisteswissenschaft lernt und kann doch nicht hineinsehen in die geistigen Welten? - Ja, wenn man sich nur genügend damit beschäftigt, so nimmt man auch etwas mit hinein in den Schlaf. Denken Sie sich einmal eine schlafende Stadt, schlafende Menschen, so sind die Seelen entkörpert. Dasjenige, was die schlafenden Seelen dar­stellen für die geistige Welt, ist noch etwas anderes als das, was sie dar­stellen für die physische Welt. Für die Toten ist das etwas Ähnliches. Was wir den Toten geben und was sie ins Bewußtsein aufnehmen, das ist das, was sie für ihr Leben brauchen. Und wenn wir ihnen spirituelle Gedanken mitbringen, so haben sie Nahrung, wenn nicht, so haben sie Hunger, so daß der Satz ausgesprochen werden darf: Wir können da­durch, daß wir hier auf der Erde spirituelle Gedanken pflegen, den Toten Nahrung verschaffen. Wir können sie hungern lassen, wenn wir ihnen keine spirituellen Gedanken bringen. - Wenn die Fluren veröden, so bringen sie keine Früchte für die Nahrung der Menschen und die Menschen können verhungern. Die Toten können nun freilich nicht verhungern, sie können nur leiden, wenn das geistige Leben auf der Erde verödet.

Die Sache ist so, daß hier auf der Erde die Wissenschaft verschiede­nen Gesetzen über die Zusammenhänge folgt, und ein Idealist es, daß durch die Wissenschaft das Leben als solches naturwissenschaftlich er­faßt werden kann. Hier auf dem physischen Plan lernt man aber nicht das Leben kennen. Alle Gesetze beziehen sich zwar auf das Lebendige,

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aber man kann doch mit allem diesem Wissen nicht das Leben erfor­schen. Für die übersinnliche Welt kann man mit allem Forschen nicht den Tod kennenlernen. Für den, der die Dinge durchschaut, ist es un­sinnig zu glauben, daß es in der übersinnlichen Welt einen Tod gibt. Zwar gibt es schlafartige Bewußtseinszustände und auch eine Sehn­sucht nach dem Tode, ebenso wie wir das Leben begreifen möchten, aber einen Tod gibt es dort nicht. Man darf nicht glauben, daß man in der geistigen Welt zugrunde gehen könnte, auch sterben kann man dort nicht. Man kann auch sein Bewußtsein nicht vernichten, das was hier dem Sterben entspricht. Aber man kann ein Einsamer werden in der geistigen Welt.

Es handelt sich da um ein Nicht-Wahrnehmen-Können der phy­sisch-sinnlichen Welt. Man weiß nur noch von sich selbst und nichts von anderen Wesen. Das ist es, was man die Leiden und Schmerzen des Kamaloka nennt. Das, was das menschliche Bewußtsein erweitert, ist das gesellige Leben nach dem Tode, und wir kommen in Geselligkeit auch mit den verschiedenen Wesen der übersinnlichen Welt.

Ein Einwand, der noch gemacht werden kann, soll heute abend in Erfurt gelöst werden. Er besteht darin: Wie ist es denn, die Toten sind doch in der übersinnlichen Welt. Können sie denn etwas erfahren, wenn wir ihnen von den übersinnlichen Welten vorlesen? - Das, was wir ihnen nicht von der Erde aus geben, können sie nicht in der übersinn­lichen Welt kennenlernen. Die Gedanken müssen von der Erde hin­aufströmen. Anthroposophie wird nicht im Himmel gelehrt, sondern auf der Erde. Die Menschen sind nicht auf der Erde, um nur ein Jam­mertal kennenzulernen, sondern auch Anthroposophie. Es wird oft geglaubt, daß man Anthroposophie auch nach dem Tode kennenlernen könnte, doch das ist ein großer Irrtum. Was der Mensch auf der Erde erfahren hat, das muß er niederlegen in der geistigen Welt, nachdem er die Pforte des Todes durchschritten hat.

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VON DER EINWIRKUNG DER TOTEN IN DIE WELT DER LEBENDEN Erfurt, 13. April 1913, abends

Es muß uns eine große Freude sein, daß wir aus den verschiedenen Orten unserer anthroposophischen Arbeit uns in dieser Stadt haben zusammenfinden können, wo schon seit langer Zeit einzelne unserer Freunde zusammen gearbeitet haben, um zu versuchen, für die spiri­tuelle Entwickelung, unter zuweilen widerstrebenden Verhältnissen, anthroposophisches Leben zu entwickeln. Und die Frucht dieser Arbeit ist dieser Johannes-Raffael-Zweig. Wenn wir hier von auswärts mit unseren Erfurter Freunden zusammenkommen und diesen Zweig ein­zuweihen in der Lage sind, so dürfen wir einleitend mit ein paar Ge­danken unsere Seele hinlenken auf die Bedeutung der anthroposophi­schen Arbeit der Gegenwart für die Menschheitsentwickelung über­haupt.

Meine lieben Freunde, wie entstehen denn unsere anthroposophi­schen Zweige? Wenn man sich darauf besinnt, so entstehen sie eigent­lich gewissermaßen in wunderbarer Weise. Denn sie blühen da und dort auf, gleichsam wie geistige Naturprodukte, und diejenigen, welche sich berufen fühlen durch ihren Enthusiasmus für die Sache, solch ei­nen Zweig zu gründen, sie stehen für ihr Gefühl und durch das, was als geheime Kräfte hinter diesen Gefühlen steht, wie eine spirituelle Macht da. Sie fühlen, daß sie etwas tun müssen. Durch äußere Kultur unserer Zeit wird ein Zweig nicht gegründet, sondern aus den Herzen derer, die sich dazu berufen fühlen, wird er gegründet. In unserer heu­tigen Kultur gibt es nichts, was an den Menschen herantritt und ihm sozusagen von außen her nahelegen könnte, anthroposophisch mitzuar­beiten. Denn derjenige, der sich zur anthroposophischen Mitarbeit ent­schließt, hat vieles andere zu erwarten durch die Förderung unserer Bestrebungen als Bequemlichkeit und Anerkennung. Es gibt keine der gebräuchlichen Strömungen und Bestrebungen der Gegenwart, welche Seelen zu gewinnen suchen für die Anthroposophie, und wer dasjenige

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ansieht, was unsere anthroposophische Bewegung ist, der wird unserer Bewegung das Zeugnis ausstellen, daß sie im gewöhnlichen Sinne nicht agitatorisch vorgeht. Abgesehen davon, daß die äußeren Verhältnisse es nicht gestatten, daß die Vortragenden woanders hingehen, als wo­hin sie gerufen werden, fassen wir das Wesen der Bewegung so auf, daß wir alles versuchen, um die Möglichkeit zu bieten, daß die Men­schen etwas zu hören bekommen; sie aber sollen herankommen an die anthroposophische Arbeit. Wenn man sieht, daß Propaganda getrie­ben wird, so wird man sehen, daß dies mit der von uns vertretenen Strömung nichts zu tun hat, und so sollte jede auf dem Boden des Ok­kultismus stehende Bewegung handeln. Den Seelen sollte es selbst über­lassen bleiben, herbeizukommen. Und dann sieht diese Bewegung, daß hier und da anthroposophische Zweige aufblühen, weil das, was in die Bewegung einfließt, in der richtigen karmischen Folge weiter wirkt. Und meistens stellt es sich so heraus, daß der bestehenden Bewegung die Zweige entgegengebracht werden. Es muß Wert darauf gelegt wer­den, daß die Zweige entstehen trotz aller Vorurteile, die da herrschen. Es müssen sich begeisterte Seelen finden, welche aus sich selbst heraus zur Begründung solcher Zweige schreiten.

Auf eine große starke Wirksamkeit können wir ja von Anfang an nirgends rechnen, und diejenigen, welche sich für unsere Arbeit be­geistern, dürfen Hohn und Spott nicht scheuen. Damit müssen sie sich bekanntmachen und auch damit, daß zunächst die Arbeit eine schwie­rige und entsagungsvolle sein wird. Nirgends haben wir andere Erfah­rungen gemacht, Enttäuschung auf Enttäuschung wird oft erlebt. Im­mer wieder werden öffentliche Vorträge veranstaltet, aber Mißerfolge haben wir eigentlich nur da gehabt, wo wir uns durch anfängliche Miß­erfolge abschrecken ließen. Wo wir ruhig zugesehen haben, daß der erste Vortrag von fünf Personen besucht war, der zweite ganz leer blieb, und doch die Arbeit fortgesetzt haben, da haben wir auch schließ­lich Erfolge zu verzeichnen gehabt. Wir sollten uns unabhängig machen von sofort sichtbaren Erfolgen, denn sich von Erfolgen aufgemuntert fühlen, ist leicht, aber nicht nachlassen, das ist schwierig. Dies letztere setzt voraus., daß wir keinen äußeren Halt haben. So stellt es sich her­aus, daß unsere Zweige arbeiten müssen oft von klein auf. Mißverstindnis

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auf Mißverständnis ereignet sich, aber man soll sich so er­ziehen, daß man findet, was recht ist.

Manchmal haben wir auch ein anderes Echo gefunden. Ich wurde in eine Stadt gerufen - den Namen will ich nicht nennen -, zwei-, drei­mal zu Vorträgen. Als kein Erfolg eintrat, sagte der Betreffende: Jetzt ist es genug, die Leute sollen jetzt kommen und uns zu Vorträgen auf­fordern. - Ich sagte ihm, darauf würden wir wohl lange warten kön­nen - und wir warten noch heute darauf. Ich bin mir wohl bewußt, daß es hier angemessen ist, in Dankbarkeit von unseren Freunden zu sprechen, nachdem sie jahrelang schwer gearbeitet haben. Diejenigen, die mit hierhergekommen sind, werden den Dank mitempfinden. Die Gedanken, die von unseren Freunden hierher geleitet werden, werden stärkend wirken, und weiter werden wir kommen, wenn wir treu zusammenhalten. Die Unterstützung der Seelen ist für die spirituelle Arbeit die Hauptsache, je mehr ihnen diese Unterstützung zuteil wird, desto besser wird die Arbeit gelingen. Ich möchte sagen, durch ein äußeres Zeichen hat gerade dieser Erfurter Zweig zum Ausdruck ge­bracht, wie innig er sich verbunden fühlt mit unserer Arbeitsweise und Gesinnung, und dieses Verbundenfühlen wird ihm sein ein innerer spiritueller Impuls für das Gelingen der Arbeit.

Es ist in gewisser Weise etwas Gewagtes, wenn man auf konkrete Einzelheiten der anthroposophischen Forschung eingeht und in gewis­ser Weise darf ich es als eine Errungenschaft unserer Arbeit bezeichnen, daß das Einleben unserer Freunde in die Anthroposophie uns dazu ge­führt hat, daß bei einzelnen ein Gefühl entstanden ist dafür, daß man nicht nu? Theorien entwickeln kann, sondern daß das Arbeiten zu Erkenntnissen führt. Man macht ja gerade auf diesen Gebieten die son­derbarsten Entdeckungen. Es ist kurios, daß außerhalb stehende Men­schen, die nichts von anthroposophischer Arbeit wissen, daß solche Kreise beginnen, ihre Kritik anzulegen an die konkreten Forschungen, ohne daß sie eine Ahnung haben, welche spirituelle Arbeit notig ist, um zum Beispiel das aufzustellen, was in meinem Buche «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» gesagt ist. Da machen sie sich darüber her zu kritisieren, wie man auf diesem Gebiete forscht. Da wird zum Beispiel über die zwei Jesusknaben kritisiert. Wenn man

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sich an die allgemeinen Wahrheiten hält, so mag es sein, daß die Men­schen mitsprechen können. Wenn es aber an das Besondere geht, so kann man nichts anderes tun, als schweigen. Jeder Mensch müßte sich sagen: Es ist mir ja sonderbar, wenn solche Behauptungen aufgestellt werden, aber sie gehen mich nichts an.

Um so mehr ist es aber wertvoll, wenn unsere Erfurter Freunde sich mit diesen besonderen Dingen verknüpft fühlen. Denn es werden keine anderen Dinge mitgeteilt als diejenigen, welche mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln nachgeprüft werden können. Zu solchen Wahrheiten gehört es, daß Johannes der Täufer dieselbe Seele ist wie Raffael. Es ist deshalb von meinem Gefühl aus eine schöne spirituelle Tat, diesen Zweig Johannes-Raffael-Zweig zu nennen, um so die in­time Auffassung einer spirituell. erforschten Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Darum ist diese Weihe auch eine intime Weihe. Dadurch, daß wir uns an eine solche okkulte Wahrheit anlehnen mit einer Na­mengebung, dadurch geben wir kund, daß wir zusammenhalten in Treue in bezug auf Dinge, die unser Intimstes sind. Und dann werden die Worte zu etwas Tiefem, die ja von dem Träger des Namens als Novalis ausgesprochen sind, die zu Beginn unserer Feier heute an unser Ohr klangen.

Wir müssen ja das Wichtigste.suchen in den Empfindungen und Ge­fühlen, die uns vereinigen. Nicht können sie entstehen anders als auf der Grundlage unserer Erkenntnis. Aber wir dürfen nicht bequem sein. Es muß sich die Erkenntnis zu entzünden wissen zu einem Miteinander-Fühlen, und wenn es den Intentionen unserer Freunde entspricht, wenn ich mit einigen Worten die Weihe begehe, so darf ich ruhig sagen: Diese Worte auszusprechen, es ist äußerst befriedigend, es ist eine Weihe, die dem Herzen entspricht. Darum darf ich sagen: Laßt Euch zu dem, was wir begonnen haben, einen Impuls sein, was ich zu Euch spreche. Ihr werdet arbeiten unter dem Schutze der Mächte und Gewalten, von denen wir ja wissen, daß sie unsichtbar unter uns walten: die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen, wenn wir in Liebe und Treue unsere Arbeiten verrichten. Was bei Euch gewaltet hat, als Ihr aus dem intimen Impuls heraus versucht habt, Eurem Zweig einen Namen zu geben, darf ich in diesem Augenblicke aussprechen:

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Die schützenden Mächte, die über uns wachen und uns Impulse zu unserer Arbeit geben, von denen wir wissen, daß sie genannt werden die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen, ich rufe die Schützer der Arbeit an, daß der Zweig recht gedeihen möge und ein Zentrum in dieser Stadt sein möge für das, was wir ersehnen als spirituellen Fortschritt. - Und damit ist für Euch die Möglichkeit gegeben, anzuknüpfen an etwas, was ich für die in Weimar versam­melten Freunde ausgesprochen habe, anzuknüpfen in einer gewissen Weise, ohne daß es notwendig ist, daß jeder von uns es gehört haben müßte.

Es handelt sich um das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Es ist die Rede davon gewesen, daß ein Mensch nach dem Verlassen des physischen Planes in gewisser Weise Schwierigkeiten ha­ben kann, Verbindungen zu haben mit denen, die zurückgeblieben sind auf der Erde. Es kann sich die Möglichkeit herausstellen, daß derjenige, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, weiß von jemandem, den er zurückgelassen hat, weiß, solches habe ich mit ihm erlebt, bis ich durch die Pforte des Todes gegangen bin. Im Bewußtsein des Toten lebt das, was gemeinschaftlich erlebt ist auf der Erde. Oft kann aber eine solche Verbindung auch nicht hergestellt werden, wenn der Zu­rückgebliebene solche Gedanken entwickelt, die nicht spiritueller Na­tur sind.

Wenn hier jemand zurückgeblieben ist auf der Erde und er seine Seele ganz selten mit spirituellen Gedanken erfüllt, dann ist die Seele eine solche, zu der die verstorbene Seele keinen Zugang hat. Das be­zieht sich auf die Art, wie der Lebende sich mit dem Toten in Ver­bindung bringen kann.

Eine gewisse Forschungsrichtung gab mir merkwürdigen Aufschluß über den Verkehr mit den Toten. Zunächst könnte es verwunderlich erscheinen, daß Johannes der Täufer die von den Willensimpulsen durchdrungene prophetische Wirksamkeit in die Welt setzte und dann in so wunderbar geschlossener Weise, ganz hingegeben an ein tiefes Hingegebensein an die Welt, in dieser Raffael-Seele wieder erscheint. Vieles erscheint uns verwunderlich in der Geistesforschung. Vieles er­scheint uns gefährlich, weil es so einleuchtend ist. Und wenn man dann

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näher eingeht auf die Dinge, so wirken sie erschütternd auf die Seele, wenn man sieht, daß manches anders ist, als man gedacht hat. Für den­jenigen, der eine solche Tatsache, wie die hier beleuchtete, die Iden­tität des Johannes und Raffael, als wahr erkannt hat, ist es wichtig, daß er ein Gefühl der Verwunderung aufrecht erhält. Ich kann denen versichern, die nicht solche Tatsachen erforschen können, daß etwas nicht zutage kommt, wenn man es sucht; ungesucht kommen solche Dinge. Viel nachdenken über solche Dinge hilft außerordentlich wenig. Am meisten hilft das Ruhig-Warten-Können, bis die Eingebung kommt. Und dann ist es gut, wenn man sich in gewisser Weise verwundern kann über das, was sich ergibt.

Der gerade Weg des Verstandes ist nicht geeignet zur okkulten For­schung. Das Verwundern führt dazu, daß man nach und nach erkennt, daß das Verwunderliche sich als begreiflich erweist. So zeigte es sich mir eines Tages, daß bei Raffael, der in erstaunlicher Weise gemalt hat, etwas anderes in seiner Seele nachwirkte, und ich konnte entdecken, daß das, was da nachwirkte, nichts anderes war, als das, was von sei­nem Vater ausging. Dieser starb, als Raffael erst zehn Jahre alt war. Dieser Vater hätte ja vielleicht noch etwas länger leben können, ich meine das natürlich hypothetisch aufgefaßt. Er hätte die Kräfte noch länger haben können, zu leben, aber diese Kräfte trug er hinüber in die geistige Welt, und unter Umständen können diese Kräfte von da aus mächtig wirken. Der Vater war kein großer Maler, aber er war inner­lich ein Maler, er lebte in malerischen Vorstellungen, die er nicht ver­wirklichen konnte, solange er noch im physischen Leibe war. Aus der geistigen Welt schickte er die Kräfte seinem Sohn, und dieser junge Raffael konnte deshalb ein so großer Maler werden. Er hat die male­rische Befähigung durch das gewonnen, was der Vater ihm zuschickte aus der geistigen Welt. Durch das ist Raffael natürlich nicht verklei­nert, sondern es sollte nur gezeigt werden, wie Kräfte aus der geisti­gen Welt herunterwirken in die physische Welt. Lessing hat einen merkwürdigen Ausspruch getan. Er hat gesagt, Raffael würde auch ein großer Maler geworden sein, selbst wenn er ohne Hände geboren wäre. Die Kräfte, die in dem Täufer Johannes waren, wurden umge­wandelt in den Maler Raffael.

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Wenn wir die Erkenntnis gewinnen können von dem Hereinwirken der geistigen Welt in die physische Welt, dann wird das Leben unge­heuer viel weiter gebracht.

Ich habe eine lange Zeit eine Erziehertätigkeit auszuüben gehabt. Da war es meine Aufgabe, Kinder zu unterrichten, die den Vater ver­loren hatten. Wenn man in gewissenhafter Weise erzieht, so muß man alle Verhältnisse berücksichtigen. Man muß da fragen, welches sind die Anlagen, wie wirkt die Umgebung und so weiter. Ich hatte ver­sucht, alles ins Auge zu fassen, was äußerlich ins Auge gefaßt werden konnte, es blieb aber eine Schwierigkeit. Dann sagte ich mir, der Va­ter ist gestorben, und er hatte bestimmte Absichten mit seinen Kindern. Als ich dann berücksichtigte das Wollen des Vaters, dann ging es. Die Willenskräfte des Vaters waren vorhanden. Da sieht man, wie die Toten wiederum hineinwirken in das Gebiet der Lebenden.

Trotzdem soll aufrechterhalten werden, daß die Toten nicht wis­sen können, was ihre Zurückgebliebenen auf der Erde tun, wie das heute morgen gesagt ist. Wenn jemand durch die Pforte des Todes gegangen ist, und er weiß, daß seine Impulse hineinwirken in die phy­sische Welt, so kann es ein Schmerz für ihn sein, daß er nichts wahr­nehmen kann von seinen Hinterbliebenen. Der Tote kann fühlen eine innere Unbehaglichkeit, wenn er nicht wissen kann, was da unten ge­schieht. Dies Gefühl kann aber beseitigt werden, wenn wir ihm Nah­rung zusenden. Wir müssen als Lebende selbst die Gelegenheit herbei­führen, daß uns die Toten wahrnehmen können. Nun bedenken Sie, daß wir ja durch einen Gedanken leicht schon sozusagen spirituelles Leben in unserer Seele entzünden können. Es ist schon ein wichtiger positiver Gedanke, wenn wir wissen, der Tote ist da, für uns erreich­bar, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, denn das ist ein Gedanke, der niemals herbeigeführt werden kann durch die Beschäf­tigung mit der sinnlich-physischen Welt. In unserem Seelenleben soll­ten wir deutlich tragen die Überzeugung: der Tote lebt.

Sehen Sie, in den Zeiten, wo es noch nichts Beirrendes gab, war es nicht gerade notwendig, daß es Anthroposophie gab, aber die Zeiten ändern sich während der Menschheitsentwickelung. Während es noch nicht lange her ist, daß jede Seele, auch wenn sie sich mit den zu jenen

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Zeiten gebräuchlichen Wissenschaften beschäftigte, überzeugt sein konnte von dem Leben der Verstorbenen, wird der Mensch heute be­irrt. Nicht allein beirrt werden diejenigen, die zweifeln, daß die To­ten vorhanden sind, sondern beirrt werden auch die anderen Seelen, und das ist auch der Grund, weshalb die Anthroposophie in die Welt kommen mußte. Wir wissen, daß die Toten leben. Was wir in der Tiefe der Seelen bergen, darauf kommt es an und davon haben wir oft gar keine Ahnung. Wir alle stehen mitten darin im mechanischen Zeitalter, das uns die Eisenbahnen, Schiffe, Telegraphen und sonstige Erfindun­gen gegeben hat. Was heißt es zum Beispiel, in einer elektrischen Bahn zu fahren, im Gegensatz zu dem, daß man vor noch gar nicht langer Zeit noch nicht in einer elektrischen Bahn fahren konnte? Es heißt, man ist umgeben von einer rein mechanischen Zusammenfügung. Das erzeugt eine Imagination, doch kann sie unbewußt bleiben; aber sie ist da und wirkt in der Seele und ist geeignet, den Glauben an das Leben der Seele nach dem Tode uns zu rauben. Dieses Leben wird da mit den Wurzeln ausgerissen. Gegen die alten Postkutschen kam der Glaube noch auf, aber gegen die heutigen Verkehrsmittel nicht, da bedarf es größerer, stärkerer Kräfte.

Ich möchte jetzt ausgehen von etwas, was ich öfter gesagt habe. Manche wollen die anthroposophische Bewegung aufhalten. Als die erste Eisenbahn gebaut werden sollte, fragte man das Medizinalkolle­gium, was es in bezug auf die Gesundheit der Reisenden von dem Pro­jekt hielte. Da äußerten die Ärzte schwere Bedenken gegen den Be­trieb der Eisenbahn und rieten entschieden davon ab. Wenn man aber trotzdem die Bahn bauen wolle, so sei es unbedingt erforderlich, daß an der Strecke entlang hohe Bretterwände aufgestellt werden würden, sonst würden die Mitfahrenden durch die schnell wechselnden Bilder unzweifelhaft Gehirnerschütterungen bekommen. Aber dieses Gut­achten konnte den Fortschritt nicht aufhalten, und ebensowenig wird durch die gegnerischen Bestrebungen die anthroposophische Bewegung aufgehalten werden können. Ich habe mich nicht etwa lustig machen wollen über das Medizinalkollegium, sondern ich wollte nur sagen, daß man durch ein solches Gutachten den Fortschritt nicht aufhalten kann; der nimmt seine Wege trotz seiner Gegner. In der Tat haben

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die Eisenbahnen die Menschen nervöser gemacht, und die Menschheit hat sich verändert durch die Eisenbahnen. Das ganze Gefüge des See­lenlebens ist ein anderes geworden, innerlicher wären die Menschen ohne die Eisenbahnen geblieben. Das Gutachten hatte zwar etwas aufgetragen, aber es hatte recht gehabt.

Der Gang der Erdenentwickelung ist so, daß es so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die Anthroposophie wird nicht etwas zurück-schrauben wollen, aber es wird klar sein, daß der Glaube gegen die alten Postkutschen aufkommen konnte, aber nicht gegen die Eisenbahnen.

Die Anthroposophie wirkt im Unterbewußtsein und der Glaube an die spirituelle Welt wird ein wichtiger Faktor für die Weiterentwicke­lung der Menschen sein. In den weitesten Kreisen ist der Glaube nicht mehr aufrichtig. Deshalb müssen die Gründe ins Feld geführt werden, die von der Anthroposophie ausfließen. Wenn wir dies beachten, dann finden wir, daß in älteren Zeiten die Menschen die spirituelle Hinnei­gung zu den Toten hatten, sie konnten ihnen eine genügende Kraft ge­ben. Heute ist die spirituelle Erkenntnis notwendig und da sehen wir, daß der spirituelle Gedanke an das Fortleben der Seele angefeuert werden muß durch die Erkenntnis. Wir können sagen: Weil unsere Zeit eine gewisse Form angenommen hat, war es notwendig, Anthro­posophie in diese Zeit einfließen zu lassen und diese Strömung wird es wieder möglich machen, daß die Lebenden sich verbunden fühlen kön­nen mit den Toten. Es braucht nicht trostlos der Mensch zu sein, weil er hier zurückbleibt, denn er kann ein Helfer werden den Verstorbenen.

Helfer können aber auch uns die Hingestorbenen werden. Manche wissen sehr wohl, was sie den Toten verdanken. In bezug auf geistige Erkenntnis kann manches den Toten verdankt werden, und diese Er­fahrung war zum Beispiel mir immer eine außerordentlich wichtige, daß Tote, früh Hingestorbene gerade Helfer waren. Dabei handelt es sich nicht immer darum, daß derjenige, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, hier auf der Erde nun intellektuell hervorragend gewesen sein müßte, wenn er den Lebenden helfen wollte. Oft sterben junge Kinder, und doch sind sie oft fortgeschrittene Seelen in der geistigen Welt und können uns vieles sagen. Wer die Sache nur intellektuell be­trachtet, der wird nicht eindringen können in solche Geheimnisse.

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Ich sagte vorhin, die Toten können uns dies und jenes zeigen. Wie kommt das zustande? Ich will hier ein Beispiel anführen. Früher habe ich schon öfter gesagt, wie es sich verhält mit Raffaels Bild «Die Schule von Athen». Gewöhnlich werden die beiden mittleren Gestalten auf­gefaßt als Plato und Aristoteles. Das ist eine falsche Darstellung, und wer sich nach der Art des Baedecker mit dem Bilde beschäftigt, welcher sagt, die einzelnen Figuren stellen diese oder jene Persönlichkeiten dar, der wird nicht viel aus dem bedeutenden Bilde herauslesen können. Die eine Gestalt nämlich ist Paulus, der in Athen auftritt unter den Philo­sophen. Mancherlei konnte mir klarwerden, wenn ich anhand der Akasha-Chronik zurückverfolgte, was Raffael zu dem Bilde geführt hatte. Ich hatte durch andere Forschungen die Überzeugung gewon­nen, wie die Evangelien zustande gekommen sind - das hängt nicht zu­sammen mit der «Schule von Athen». Die Schreiber der Evangelien hatten da mitunter die Daten festgestellt nach den Sternen, hatten also Astrologie getrieben. Das ist eine Tatsache für sich und hat zunächst gar keinen Zusammenhang mit dem Bilde von Raffael. Nun hatte ich das Glück oder die Gnade: eine verhältnismäßig früh verstorbene Seele machte mich aufmerksam auf den Zusammenhang zwischen der rechten und linken Seite des Bildes und mir wurde gesagt, daß die Worte aus dem Lukas-Evangelium, welche auf dem Bilde gestanden hatten, später übermalt worden waren und Worte aus der pythago­reischen Schule darauf geschrieben wurden. Nun begreift man auch die Geste, daß drüben auf Sternenkunde hingewiesen wird mit dem Zirkel, und ich konnte feststellen, daß von Raffael rechts Sternen-forschung gezeigt werden sollte. Und was da erkannt wurde, wurde auf der anderen Seite aufgeschrieben. Also wurden aus der Sternen-kunde heraus Evangelien geschrieben. Nun, sehen Sie, es war mir wichtig, Sie auf das aufmerksam zu machen, wie der Zusammenhang zwischen Lebenden und Toten ist. Derjenige, der so etwas unternimmt, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, kann den spirituel­len Ereignissen so gegenüberstehen, wie ein Kind der Natur gegen­übersteht. Es schaut die Natur an, aber es versteht sie nicht. Aber trotzdem kann es aus einer Intuition heraus wunderbare Dinge mit­teilen.

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Was man mit intellektuellen Gedanken entwickelt, das kommt nicht zu den Toten. Der Lebende muß dem Toten zur Verfügung stehen. Der Tote muß sich wenden können zu den Gedanken der Lebenden, und was er erlebt, muß geschaut werden können aus dem Spiegeln der Gedanken der Lebenden in ihm.

Anthroposophie würde nie in der geistigen Welt existieren, wenn die Menschen sie nicht auf der Erde erworben hätten. Darum ist es wahr, daß Eingeweihte, die auf der Erde arbeiten, auf diesem Umwege die Gedanken in ihrer Seele haben, und daß die Toten diese Gedanken hinnehmen können. Es kann nicht gesagt werden, wozu wollen wir den Toten vorlesen, da ja doch die Toten in der Welt leben, von der wir uns Gedanken machen. Kinder leben auch in der Welt, von der wir reden. Kinder haben auf der Erde nicht das, was die Wissenschaft bringt, aber Anthroposophie können sie in der geistigen Welt aufnehmen. Doch kann diese Anthroposophie nur von der Erde zu den Toten gelangen.

Ich hoffe, daß wir uns darin verstehen. Es zeigt sich in der Tat, daß der, der einem als Toter gegenübertritt, etwas in sich erlebt wie eine Sehnsucht. Er weiß aber nicht, worauf diese Sehnsucht hinaus will. Man kommt mit ihm zusammen, und wird man dadurch dazu geführt, daß man mit ihm in Beziehung tritt, so kann man in allen Verhältnissen mit den Toten wirken. Steht man in der spirituellen Weisheit, so ist sie durchleuchtet, und die Toten nehmen das Licht wahr. Nimmt aber die Seele keine spirituelle Weisheit in sich auf, so bleibt sie finster und die Toten können die Seele nicht wahrnehmen. Daß die Toten mit uns leben können, das hängt davon ab, was wir ihnen entgegenbringen können.

Das ist die andere Seite von dem, was wir heute morgen besprochen haben. Wir bringen das zustande, was den Toten innere Befriedigung gewährt, und das wird tatsächlich die schönste Frucht anthroposophi­schen Lebens und Wirkens, daß man nicht nur einen Glauben hat an das Leben der Toten, sondern daß immer mehr werden wird ein Wir­ken, ein seelisches Wirken, das die Toten anzieht. Und das wird für die Kulturentwickelung immer notwendiger werden. Der Mensch wird um so weniger verbunden bleiben mit dem, was ihm bleibt von dem Leben zwischen Tod und einer neuen Geburt, je weniger er sich mit

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spiritueller Weisheit erfüllt. In der physischen Welt werden die Seelen immer mehr verarmen und erkalten müssen, wenn sie sich nicht dem spirituellen Leben zuwenden. Verinnerlicht werden sie nur durch den Verkehr mit der spirituellen Welt.

Ein Gedanke wird stärkend in unserer Seele leben dürfen: daß unser Wirken nicht abgeschlossen zu sein braucht, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, nicht abgeschlossen für den Fort­schritt der Kultur, daß wir vielmehr herunterwirken können, wenn man unten unser Wirken aufnehmen will. Würde die spirituelle Welt uns zugänglich sein, ohne daß der Mensch etwas dazu tun würde, so würde er lässig werden. Der Mensch muß schon etwas dazu tun. Das ist uns gerade ein Beweis für die Grundwahrheit, die uns aus der Anthro­posophie heraus fließt.

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DIE UMWANDLUNG DER KRÄFTE DER SEELE IN DER INITIATION Paris, 5. Mai 1913

Zu sprechen gedenke ich heute über einen wichtigen Begriff der esote­rischen Wissenschaft, den des Zusammenhangs von Mikrokosmos und Makrokosmos. Es gibt innerhalb der esoterischen Wissenschaft ver­schiedene prinzipielle Begriffe, die wie Leitmotive durch die ganze eso­terische Bewegung gehen. Ein solcher ist der Begriff der rhythmischen Zahl, ein anderer der des Mikrokosmos und Makrokosmos. Das Ge­heimnis der Zahl drückt sich aus darin, daß gewisse Erscheinungen so aufeinanderfolgen, daß die siebente Wiederholung als Abschluß eines Ereignisses, die achte als Anfang eines neuen Ereignisses bezeichnet werden kann. Abgebildet ist diese Tatsache innerhalb der physischen Welt in dem Verhältnis der Oktave zum Grundton. Für diejenigen, welche versuchen, in okkulte Welten einzudringen, wird dieses Prin­zip die Grundlage zu einer umfassenden Weltanschauung. Es sind nicht nur die Töne nach dem Gesetz der Zahl angeordnet, sondern auch die Ereignisse in der Zeit. Die Ereignisse der geistigen Welt sind so ange­ordnet, daß man ein Verhältnis findet wie in dem Rhythmus des Tones.

Wichtiger noch ist das Verhältnis zwischen Mikrokosmos und Ma­krokosmos. Das sinnliche Abbild davon finden wir auf Schritt und Tritt. Betrachten wir das Verhältnis der ganzen Pflanze zum Keim: in der ganzen Pflanze sehen wir einen Makrokosmos, in dem Keim einen Mikrokosmos. In gewisser Weise sind im Keim die Kräfte, die auf die ganze Pflanze verteilt sind, wie in einem Punkt zusammengedrängt. In ähnlicher Weise können wir die Entwickelung des einzelnen Men­schen von der Kindheit bis ins Alter als Mikrokosmos, die Entwicke­lung eines Volkes als Makrokosmos auffassen. Jedes Volk hat eine Kindheit, in welcher es wichtige Kulturelemente aufnimmt. Ein Bei­spiel dafür sind die Römer, welche die griechische Kultur in sich auf­nahmen. Ein Volk wächst heran und entnimmt aus sich selbst die Kräfte zu seiner weiteren Entwickelung. Daher ist es wichtig, daß der Angehörige eines Volkes durchmacht, was das ganze Volk durchmacht.

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Er verhält sich zu seiner Nation wie der Keim zur Pflanze. Im höchsten Maße finden wir das Verhältnis zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos beim Menschen, wie er uns in der Sinneswelt entgegen­tritt, und dem Kosmos. So wie er in der Sinneswelt vor uns steht, hat er die Kräfte des Universums in sich zusammengezogen, so wie im Keim die Kräfte der ganzen Pflanze zusammengezogen sind.

Wir können uns nun fragen: Sind diese Kräfte im Menschen auch in irgendeiner Art verteilt auf den Makrokosmos, wie die Kräfte des Pflanzenkeims auf die ganze Pflanze verteilt sind? Die esoterische Wissenschaft allein kann uns darauf eine Antwort geben, denn inner­halb des Erdenlebens lernt sich der Mensch nur als Mikrokosmos ken­nen. Aber er lebt nicht nur im Mikrokosmos, sondern er hat auch ein Leben im Universum.

Zunächst erscheint das nur wie eine Behauptung, daß der Mensch im Erleben von Wach- und Schlafzustand wechselt zwischen einem Leben im Mikrokosmos und einem Leben im Makrokosmos. Wenn er in den Schlaf versinkt, hört das Bewußtsein auf zu wirken, die Affekte hören auf für ihn da zu sein. Eine äußere Wissenschaft wird sich ver­geblich bemühen, innerhalb des schlafenden Menschen das zu finden, was im Wachzustand sein Seelenleben ausmacht. Schon logisch aber ist es unmöglich, zu denken, daß beim Einschlafen das Seelenleben des Menschen vernichtet wird, und daß es beim Erwachen wieder aus dem Nichts herauskommt. Die äußere Wissenschaft wird in nicht zu ferner Zeit zugeben, daß man das Seelenleben aus den äußeren materiellen Tatsachen ebensowenig erkennen kann, wie man die Lunge kennt da­durch, daß man die Gesetze des Sauerstoffs kennt. Wir studieren dazu die Lunge in ihren organischen Funktionen. So auch erkennen wir, daß in den äußeren Gesetzen nichts ist von dem physischen Leben, das wir beim Erwachen einatmen und beim Einschlafen ausatmen. Für den Okkultisten ist einschlafen und aufwachen nichts anderes als At­mung. Der Mensch nimmt mit jedem Morgen geistig atmend Geistig­Seelisches auf und atmet es wieder aus beim Einschlafen. Wo ist dieses Geistig-Seelische, wenn der Mensch im Schlafzustand ist, entsprechend der Luft im Raum, die er ausgeatmet hat? Die okkulte Wissenschaft zeigt uns, daß es umhüllt ist von der Atmosphäre der Geisteswelt, so

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wie wir umhüllt sind von der Luftatmosphäre, nur daß diese wenige Meilen sich hinaus erstreckt, jene das Weltall erfüllt.

Betrachten wir das Quantum von Luft, das der Mensch im Leibe eingeatmet hat, bringen wir es in ein Verhältnis zur ganzen Atmo­sphäre: dasselbe Quantum, das nach dem Einatmen im menschlichen Leibe ist, fügt sich nach dem Ausatmen der Atmosphäre ein. So kann man im Sinne des Okkultismus sagen: Nach dem Einatmen ist es im Mikrokosmos, nach dem Ausatmen im Makrokosmos. Ebenso ist das seelisch-geistige Leben, das innerhalb unseres Leibes sich betätigt, vom Aufwachen bis zum Einschlafen im Mikrokosmos, vom Einschlafen bis zum Aufwachen im Makrokosmos. Wie uns die äußere physische Wis­senschaft die Existenz der physischen Atmosphäre lehrt, so spricht die okkulte Wissenschaft von dem geistigen Makrokosmos, der unsere Seele im Schlafe aufnimmt.

Die geistige Wissenschaft wird erlangt durch geistige Methoden: die Initiation. Das Leben unserer Seele innerhalb des Mikrokosmos zeigt uns die tägliche Erfahrung, das Leben innerhalb des geistig-seelischen Makrokosmos lernen wir kennen durch die Initiation. Von dieser Wis­senschaft muß zuerst gesprochen werden, wenn der Übergang vom Mikrokosmos zum Makrokosmos verstanden werden soll. Diese Wis­senschaft gewinnt eine besondere Bedeutung, weil wir in ihr die gei­stige Welt nach dem Tode betreten. Das Betreten der Schwelle des Todes bedeutet nur ein endgültiges Verlassen des Körpers durch die Seele. Die Methode der Initiation lehrt intime Übungen der Seele. Wie wir im alltäglichen Leben auf die leibliche Umgebung wirken, so müs­sen wir unsere Seele in die Lage bringen, geistig-seelisch auf den Makro-kosmos zu wirken und Eindrücke aus ihm zu bekommen. Wir müssen unsere an das leibliche Leben gebundenen geistig-seelischen Kräfte frei­zumachen suchen. Drei Seelenkräfte sind im gewöhnlichen Leben mit dem Leibe verbunden, die durch die Initiation frei werden. Die erste Kraft der Seele ist die Denkkraft. Wir verwenden sie im gewöhnlichen Leben zur Bildung der Gedanken, zu Vorstellungen der uns umgeben­den Dinge. Versuchen wir, uns in die Natur dieser Denkkraft zu ver­setzen. Was geschieht, wenn wir denken und uns Vorstellungen machen? Auch die physische Wissenschaft wird zugeben, jedesmal, wenn wir

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einen Gedanken fassen, der sich auf etwas Sinnliches bezieht, findet in unserem Gehirn ein Zerstörungsprozeß statt. Feine Strukturen des Ge­hirns müssen wir zerstören, die Ermüdung zeigt das zur Genüge. Was das alltägliche Denken zerstört, das wird wieder hergestellt im Schlaf.

Durch die Methode der Initiation erlangen wir einen Zustand, durch den wir die Denkkraft frei bekommen von dem physischen Ge­hirn: es wird dann nichts zerstört. Das erreichen wir in der Medita­tion, Konzentration, Kontemplation. Diese sind gewisse Vorgänge in unserer Seele, die sich vom gewöhnlichen Seelenleben unterscheiden. Diejenigen Vorstellungen und Seelenvorgänge, die im gewöhnlichen Leben uns erfüllen, sind wenig geeignet, in unserer Seele die Meditation zu erzeugen; man muß andere dazu wählen. Um konkret zu sprechen, soll ein Beispiel gegeben werden. Stellen Sie sich zwei Gläser vor, das eine leer, das andere halb gefüllt. Dann stellen Sie sich vor, wir füllen Wasser aus dem halb gefüllten Glase in das leere, und nun stellen wir uns vor, das halb gefüllte würde immer voller und voller dabei wer­den. Der Materialist findet so etwas närrisch. Aber bei einer Vorstel­lung, die zur Meditation geeignet ist, handelt es sich nicht um etwas im physischen Sinne Wirkliches, sondern um etwas, das Seelenvorstel­lungen bildet. Gerade weil sich eine solche Vorstellung auf nichts Wirk­liches bezieht, lenkt sie unseren Sinn ab vom Wirklichen. Ein Symbol aber kann sie sein, nämlich für den Seelenvorgang, der mit dem Ge­heimnis der Liebe verknüpft ist. Bei dem Vorgange der Liebe verhält es sich wie mit dem halb gefüllten Glas, aus dem man in ein leeres gießt und das dabei doch voller wird. Die Seele wird nicht leerer, sie wird voller in dem Maße, wie sie gibt. Eine solche Bedeutung kann dieses Symbol haben.

Wenn wir eine solche Vorstellung so behandeln, daß wir alle Seelen­kräfte auf sie hinwenden, dann ist dies eine Meditation. Wir müssen bei einer solchen Vorstellung alles andere vergessen, auch uns selbst. Unser gesamtes Seelenleben muß lange auf sie gerichtet sein, etwa eine Viertelstunde lang. Es genügt nicht, einmal oder wenige Male eine sol­che Übung zu machen; sie muß immer wiederholt werden. Je nach der Veranlagung des Individuums wird sich zeigen, daß das Seelenleben sich dabei verändert. Wir bemerken, daß wir dabei eine solche Denkkraft

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entwickeln, die das Gehirn nicht zerstört. Wer eine solche Ent­wickelung durchmacht, wird erkennen, daß die Meditation keine Er­müdung hervorruft und das Gehirn nicht zerstört. Dem scheint zu widersprechen, daß Anfänger bei der Meditation einschlafen. Aber die­ses rührt davon her, daß wir im Beginn noch an der äußeren Welt hän­gen und noch nicht die Gedanken vom Gehirn befreit haben. Haben wir durch wiederholte Anstrengungen die Denkkräfte vom Gehirn be­freit, haben wir das Meditieren ohne Ermüdung erreicht, dann tritt eine Umwandlung in unserem ganzen menschlichen Leben ein. Wie wir bisher im Schlafe ohne Bewußtsein außerhalb des Körpers waren, so sind wir es jetzt bewußt. Und wie wir unser Ich im alltäglichen Le­ben .

in unserer Haut denken, so erleben wir uns nach der Meditation

außerhalb unseres Leibes. Der Leib wird ein Objekt, auf das wir hin­schauen. Jetzt aber lernen wir das noch anders kennen als im Schlafe. Wir lernen es wie magnetische Kräfte kennen, die uns an unseren Leib ketten. Er ist etwas, in das wir untertauchen wollen. Und wir erken­nen, es sind dieselben Kräfte, die jeden Morgen uns zu unserem physi­schen Körper ziehen, die wir vor der Geburt uns aus der geistigen Welt herausgeholt haben, und die uns veranlaßt haben, die Vererbungsströ­mungen aufzusuchen, um einen neuen Körper zu finden. Wir erfahren dadurch, warum wir uns zu unseren Eltern und Ahnen hingezogen fühlen.

Eine Vorstellung können wir ausnehmen, ein Seelenerlebnis, das an­ders ist als die, die wir beim Übergang vom Mikrokosmos zum Makro-kosmos haben. Wenn wir vom Makrokosmos auf den Leib blicken, sa­gen wir bei allen Erfahrungen: Dieser ist außer uns. - Haben wir aber das Paulus-Erlebnis in uns erweckt, dann haben wir ein Seelenelement ausgebildet, das schon in uns ein äußeres ist. Wenn wir außerhalb des Leibes sind, dann fühlen wir das Christus-Erlebnis als ein inneres. Dies kann man die erste Begegnung mit dem Christus-Impuls im Makrokos­mos nennen. Nun müssen wir eine zweite Art von Initiationskräften besprechen. Wie wir die Denkkraft loslösen, so können wir auch die Kraft loslösen, die wir zum sprachlichen Ausdruck verwenden. Die materialistische Wissenschaft sagt, die motorischen Sprachorgane hät­ten ihr Zentrum im sogenannten Brocaschen Sprachorgan. Aber nicht

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das Brocasche Organ hat die Sprache gebildet, sondern diese hat jenes gebildet.

Die Denkkraft wirkt zerstörend, die Sprache, die aus der sozialen Umgebung kommt, wirkt aufbauend. Nun können wir diese Kraft, die das Brocasche Organ aufbaut, loslösen. Das erreichen wir dadurch, daß wir unsere Meditation durchtränken mit Gefühlswerten. Wenn ich me­ditiere: Im Lichte strahlet Weisheit -, so spiegelt auch das keine äußere Wahrheit, aber einen tiefen Sinn hat es, eine tiefe Bedeutung. Wenn wir unser Gefühl damit durchdringen: Wir wollen leben mit dem ganzen Lichte, das Weisheit strahlt -, dann fühlen wir, wie wir die Kraft er­greifen, die sonst im Worte zum Ausdruck kommt, und die nun in un­serer Seele lebt. Wenn man vom goldenen Schweigen spricht, so be­zieht sich das darauf: Wir haben in unserer Seele eine Kraft, die das Wort schafft. - Wir können sie ergreifen wie die Denkkraft. Dann überwinden wir die Zeit, wie wir durch das Ergreifen der Denkkraft den Raum überwinden. Was für das alltägliche Leben ein Erinnern ist bis zur Kindheit, das dehnt sich dann aus über das vorgeburtliche Le­ben. Das ist der Weg, um Erfahrungen zu bekommen über das Leben vom letzten Tode bis zu unserer jetzigen Geburt, und zugleich der Weg, die Entwickelung der Menschheit zu durchschauen. Wir durch­schauen die Kräfte, die die Evolution der Menschengeschichte leiten.

Und das Leben von der Geburt bis zum Tode erkennen wir. Wenn wir die Kraft des stummen Wortes ausbilden, erkennen wir die spiri­tuelle Grundlage des Erdenlebens. Hier ist es wieder so, daß wir auf eine historische Stelle treffen, auf das Mysterium von Golgatha. Denn dies ist der Weg, auf dem wir die auf- und absteigende Entwickelung der Menschheit finden und den Punkt, wo Christus sich inkarniert. Wie er in seiner ureigenen Kraft ist, so wird er erkannt. Wie wir durch die Befreiung des Denkens uns verbinden mit dem Christus, wie er auf Erden war, so verbinden wir uns durch die Befreiung des Wortes mit dem Mysterium von Golgatha. Ein besonderes Licht fällt damit auf die erste Zeile des Johannes-Evangeliums.

Dann wird noch eine dritte Kraft durch die Meditation selbständig. Nicht nur das Gehirn und den Kehlkopf, sondern auch die Blutzirku­lation und das Herz ergreift sie. In schwacher Form wirkend, fühlen

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wir sie beim Erröten und Erblassen. Da greift ein Seelisches in die Pulsation des Blutes ein und geht bis zum Herzen. Diese Seelenkraft kann herausgezogen werden aus der Pulsation des Blutes und eine selb­ständige Seelenkraft werden. Dieses geschieht durch Meditation, da wo der Wille sich mit der Meditation verbindet. Wir meditieren: Im Lichte erstrahlet Weisheit. - Aber wir fassen den Entschluß, unser Wol­len so damit zu verbinden, daß wir mitgehen wollen mit dieser strah­lenden Weisheit in der Evolution der Menschheit. Wenn wir zu solcher Willensmeditation kommen, dann erreichen wir, daß die Willenskräfte in die Seele einströmen. Diese Kräfte kann man erfassen und heraus­ziehen aus dem Blute - man kann sie zwar nicht ganz herausziehen -, dann bilden sie eine hellseherische Kraft, durch die wir hinauskommen über unsere Erde. Wir lernen unsere Erde erkennen als einen wieder-verkörperten Planeten, der sich neu verkörpern wird und wir Men­schen mit ihm. So wachsen wir durch die geistig-seelische Welt hinein in den Makrokosmos. In gewisser Weise erfahren wir, wie das Leben zwischen Tod und Geburt entgegengesetzt sein muß dem Leben in einer Inkarnation. Denn was der Mensch da nach dem Tode erlebt, befreit vom Körper, das erfährt ja der Initiierte. Nehmen wir das Haupt-charakteristikum dessen, was sich uns dargeboten hat im leibfreien Zu­stande. Es ist dasselbe Erlebnis wie im Leben nach dem Tode. Im Mi­krokosmos lebend, nehmen wir wahr durch das physische Organ der Sinne. Nach dem Tode sehen wir auf den Körper wie der Initiierte. Nicht wahrnehmen kann man da, was die Sinnesorgane wahrnehmen. Der Initiierte kann das Leben zwischen Tod und neuer Geburt erken­nen, weil er schon hier den Übergang vom Mikrokosmos zum Makro-kosmos gefunden hat.

In der gewöhnlichen Menschensprache kann man nicht mit den Toten reden. Wenn wir aber die Kraft der Sprache befreit haben, kön­nen wir erkennen, wie wir mit den Toten zusammen sind. Dadurch, daß wir die Denkkraft befreien, können wir reden mit denen, die zwi­schen Tod und neuer Geburt sind.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Ein Seher konnte mit einem Verstorbenen sprechen. Der war ein vortrefflicher Mann gewesen, aber nur im materiellen Sinne hatte er sich um die Seinen gekümmert. Er

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war ohne religiöse und anthroposophische Vorstellungen. Der Seher konnte von dem Manne folgendes erfahren: Ich weiß, ich habe mit meiner Familie, mit den Meinen zusammengelebt und sie waren mein Sonnenschein. Sie leben auch jetzt noch, das weiß ich, aber ich sehe sie nur bis zu dem Zeitpunkt, wo ich die Erde verlassen habe. Kein Zu­sammenhang ist herzustellen mit ihnen. - Die Verhältnisse sind kom­pliziert nach dem Tode. Der Seher konnte folgendes sehen: Die Frau zeigte in ihrem Wesen noch etwas wie die Folgen des Einflusses ihres Mannes. Diese Wirkungen konnte der Mann sehen, aber nicht wie man einen Menschen sieht, sondern wie im Spiegel. Es gibt da wohl ein Se­hen, aber es ist so, wie wenn man nur ein Bild im Spiegel sähe. Das wirkt schauerlich, weil man den Menschen nicht wirklich, wie er ist, sehen kann. Wie wir im Sinnendasein das Leibliche sehen, so müssen wir nachher das Seelische sehen können. Wie wir aber im dunkeln Raume eine Kerze nicht sehen, wenn sie nicht brennt, so ist auch hier das Er­kennen herabgedämpft, verdunkelt. Doch ist ein Zusammenhang noch möglich zwischen dem Toten und dem Menschen auf Erden, wenn letzterer sich mit spirituellem Leben durchdringt. Darauf beruht die Wohltat, die wir den Toten erweisen können. Jemand ist durch die Pforte des Todes gegangen, mit dem uns gemeinsame Interessen ver­binden: wir können ihm vorlesen. Wir stellen uns vor, daß er vor uns sei, wir lesen ihm leise vor, auch Gedanken können wir ihm senden. Aber er bekommt nur dann einen Eindruck, wenn wir ihm Ideen und Begriffe mit spirituellem Leben senden. Die Aufgabe der Anthroposo­phie wird begriffen werden, wenn wir verstehen, daß wir den Abgrund wegschaffen müssen, der uns von den Toten trennt.

Auch eine Seele, die sich zur Anthroposophie gegnerisch verhielt, kann durch solches Vorlesen eine Wohltat empfinden. In unserem See­lenleben sind zwei Seiten zu unterscheiden: Bewußt Durchlebtes und die Seelenuntergründe, die, wie die Tiefe des Meeres, sich nur in den Wellen an der Oberfläche ausdrücken. So können wir erfahren, daß von zwei Brüdern zum Beispiel der eine Anthroposoph, der andere ein Geg­ner der Anthroposophie wird. Dies kann nur eine Tatsache der Außen­welt sein. Der innere Vorgang ist: Eine tiefe Sehnsucht nach Religiösem ist da, und man will sich nur darüber betäuben durch das Ablehnen der

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Anthroposophie. Die bewußte Vorstellung ist nur ein Opiat, um zu vergessen, was in der Tiefe vorgeht. Der Tod schafft all das fort und wir hungern dann gerade nach dem unbewußt Ersehnten. Darum ist das Vorlesen anthroposophischer Schriften da gerade eine Wohltat. Allmählich kommt das Bewußtsein der Verbindung mit den Toten. Aber auch bevor wir dieses Gefühl haben, riskieren wir ja nichts wei­ter, als daß der Tote uns nicht anhört, wenn wir ihm vorlesen. So se­hen wir, daß durch das lebendige Erfassen der anthroposophischen Lehre Tote und Lebende, Mikrokosmos und Makrokosmos in Zusam­menhang kommen.

Noch auf einem anderen Gebiete geschieht dies. Wenn der Seher Schlafende beobachtet, so sieht er: Es gehen Seelen durch die Pforte des Schlafes, die nie spirituelle Interessen haben, und andere, die am Tage spirituelle Gedanken aufnehmen. - Da zeigt sich ein Unterschied:

Die schlafenden Seelen sind wie Keime im Felde. Hungersnot würde in der geistigen Welt eintreten, wenn keine spirituellen Gedanken mit hinübergenommen würden. Der Tote nährt sich von dem, was an spirituellen, an anthroposophischen Ideen mitgebracht wird von den Einschlafenden. Wenn wir beim Einschlafen nicht hinauftragen spi­rituelle Begriffe, so entziehen wir den Toten Nahrung. Mit dem Vor­lesen geben wir ihnen geistige Anregung, mit den spirituellen Ideen, die wir beim Einschlafen hinauftragen, geben wir den Toten Nahrung.

Durch das, was der Mensch in seiner Seele schafft, wird er eine Brücke vom Mikrokosmos zum Makrokosmos. Was wir uns aneignen, ist wie ein Samenkorn. Die lebendige, nicht nur die theoretische Mission der Anthroposophie möchte ich so darstellen: Die Theorie verwandelt sich in Lebenselixier, die Unsterblichkeit wird eine Erfahrung. Wie der Keim die Garantie gibt für einen nächsten Keim, so entwickeln wir geistig seelische Kräfte, die Garantien sind für ein Wiederkommen in einem nächsten Erdenleben. Wir begreifen nicht nur, wir erleben die Unsterblichkeit in uns. So erleben wir von dem Augenblick an, wo das Haar ergraut, das, was durch die Pforte des Todes durchgeht. In solchem Sinne wird Anthroposophie Lebenselixier werden, wie das Blut unseren physischen Körper durchzieht. Nur dann wird Anthroposophie das sein, was sie sein soll. Wenn wir das erkennen lernen und es zusammenfassen

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wollen in eine Grundempfindung, in die Grundempfin-dung, daß die Menschenseele zusammenhängt mit der spirituellen Welt wie unser physischer Leib mit der physischen Welt, dann erlebt der

Mensch:

Es sprechen zu dem Menschensinn

Die Wesen in den Raumesweiten,

Sie wandeln sich im Zeitenlaufe.

Erlebend dringt die Menschenseele

Von Raumesweiten unbegrenzt

Und unbeirrt vom Zeitenlauf

Ins Reich der Ewigkeiten ein.

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NATUR UND GEIST IM LICHTE GEISTESWISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS Stockholm 8. Juni 1913

Als das erste der Themen, die gewählt worden sind für diesen kurzen Vortragszyklus, ist dasjenige über «Natur und Geist im Lichte geisteswissenschaftlicher Erkenntnis». Natur und Geist! - Es ist damit schein­bar ein Widerspruch ausgedrückt, bei dem sogleich den Menschensee­len einfallen viele gegnerische Anschauungen und Meinungen, die ein­ander gegenübergetreten sind in der Welt. Wir wissen ja, daß in den letzten Jahrhunderten sich immer mehr eine Art von Wissenschaft herausgebildet hat, die nur die Natur gelten lassen will und die eigent­lich, von ihrem Standpunkte aus, kaum anders tun kann als auch den Geist zur Natur zu rechnen. Auf der anderen Seite sehen wir, wie Ver­teidiger des Geistes und des Geisteslebens sich doch auf allen Gebieten, auch in unserer Zeit, geltend machen. Und wir brauchen nur auf der einen Seite zu sehen nach dem äußersten Extrem, wo gesagt wurde im 19. Jahrhundert: Das Gehirn sondert Gedanken ab, wie die Leber Galle, das heißt, dasjenige, was wir geistig im Menschen wahrnehmen, ist ein rein natürlicher Vorgang, und an einen anderen Geist glauben wir nicht. - Wir brauchen das nur hinzustellen neben die vielen gegen­wärtigen Bestrebungen für das Begründen einer Geisteswissenschaft, dann haben wir Extreme.

Aber man kann über die Worte «Natur und Geist» auch noch an­ders denken, nämlich hinweisen auf die Goetheschen Worte: «Natur ist Sünde, Geist ist Teufel, sie hegen zwischen sich den Zweifel, ihr mißge­staltet Zwitterkind.» Und so können wir manches vor Augen führen, was Natur und Geist in Gegensatz bringt, und können darin manches finden, was die menschlichen Herzen in Disharmonie gebracht hat, was Stürme von Kampf und Streit in der Welt hervorgerufen hat.

Auf der anderen Seite klingt uns noch ein Wort der neueren Zeit entgegen, auch von Goethe, das da sagt, daß der Geist niemals ohne Materie und die Materie niemals ohne Geist seiend und wirksam sein könnte. Dieses Wort läßt sich sehr leicht widerlegen. Man braucht nur

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aufmerksam zu machen, daß, wenn ich ein Stück Granit aus einem Felsen schlage, ich dann Materie ohne Geist habe! Widerlegungen von tiefen Worten sind sehr leicht in der Welt zu finden, und man muß gerade in einer geisteswissenschaftlichen Bewegung klar einsehen, daß für das Törichte in der Welt nichts leichter ist, als mit einem großen Schein von Recht die Worte der Weisen zu widerlegen. Eine anthro­posophische Anschauung muß auf diese Dinge tiefer eingehen.

Was ist Geist, was ist Natur? - Daran ist kein Zweifel für unser ge­wöhnliches Empfinden, daß wir der Natur gegenübertreten, wenn wir im Frühling aus der Erde aufsprießen sehen die Pflanzen, wenn wir sie sich entfalten sehen. Da sehen wir das Weben und Leben der Natur. Ebensowenig ist ein Zweifel daran, daß wir mit einem gewissen Recht von der Natur reden, wenn im Winter die Schneeflocken die Erde be­decken. Das sind beides Naturwirkungen. Aber haben wir damit in ganz berechtigter Weise uns beteiligt an dem, was sich um uns herum ausbreitet? Man stelle sich einmal vor: Wesenheiten könnten denken, die viel kleiner sind als wir, so klein, daß für sie unsere Nägel oder unsere Haare so groß wären wie für uns die Bäume, so würden diese Wesenheiten die Haare unseres Hauptes so beschreiben, wie wir die Pflanzen, die aus der Erde kommen. Wir Menschen aber beschreiben nicht die einzelnen Haare oder das Haupt des Menschen als einen Boden, auf dem sich die einzelnen Haare erheben, denn wir wissen, daß wir ein Haar nicht als eine Einzelwesenheit in der Natur finden kön­nen; sie sind nur möglich auf einem anderen Wesen. Nur wer durch seine Kleinheit die Haare nicht in ihrer Gesamtheit überschauen kann, könnte ein Haar für sich beschreiben. Eine solche Wesenheit könnte vielleicht sehr wohl unterscheiden zwischen den verschiedenen Haaren. Je nach der Stelle am Kopfe, wo sie wachsen, könnte sie sie in Klassen und Ordnungen bringen: eine Klasse linke Schläfehaare, eine Klasse rechte Schläfehaare; eine Klasse linke Stirnhaare, eine Klasse rechte Stirnhaare; man könnte ihnen später Namen geben, die sie weiter unter­scheiden. So könnte es eine Haarwissenschaft für solche kleine Wesen­heiten geben. Für andere Wesen gibt es, mit gewissem Recht, eine sol­che Wissenschaft: es ist die Botanik. Während in der Tat die Erde als Ganzes betrachtet die einzelnen Pflanzen hervorbringt wie unser Kopf

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die Haare, während die einzelnen Pflanzen zur Erde gehören und nicht als besondere Gattung bestehen, werden in der Botanik die Pflanzen klassifiziert und beschrieben, ohne Rücksicht darauf, daß diese Pflan­zenwelt eine zur Erde gehörende Einheit bildet, ebenso wie unsere Haare eine Einheit bilden mit unserem Organismus. Für die Natur oder die Welt ist es sehr gleichgültig, daß der Mensch sich eine Botanik macht, wie eine Haarwissenschaft von einem denkenden kleinen Wesen für den Menschen gleichgültig sein würde.

Geisteswissenschaft führt uns aber noch weiter. Sie zeigt uns, daß ebensowenig wie man sich denken kann ein Wesen wie der Mensch, mit Haaren auf seinem Kopfe, ohne eine Seele, ebensowenig die Erde an­ders betrachtet werden kann als wie ein Ganzes, das alle materiellen, lauter natürlichen Dingen als Organe des Erdgeistes oder der Erd­seele hat. Wenn wir diesen Erdgeist oder diese Erdseele weiter stu­dieren, so unterscheidet sich dieser zunächst von der Menschenseele. Das Eigentümliche der Menschenseele ist, daß sie uns entgegentritt als eine Art Einheit. Bei dem Erdgeist ist das zunächst nicht so. Zuletzt ist allerdings auch, wie Sie wissen, ein dirigierender Erdgeist da, aber das nächste, was wir bei der spirituellen Erdbetrachtung finden, ist eine große Summe, eine Fülle von Elementarwesen, die als eine Vielheit, eine Mannigfaltigkeit die nächste Stufe des Erdgeistes bilden.

Mit diesem Erdgeist konnen wir uns zunächst beschäftigen. Dann zeigt sich, daß zum Beispiel auf der Erdhälfte, wo gerade in einer be­stimmten Zeit Sommer ist, diese Wesenheiten des Erdgeistes eine Art von Schlaf durchmachen, und da wo Winter ist, da wachen sie. Für das spirituelle Erkennen beginnen tatsächlich, in demselben Maße wie die Pflanzen aus der Erde aufsprießen, die elementarischen Wesen und Geister einzuschlafen. Im Winter beginnt es sich zu regen. Dann bilden diese elementarischen Wesen und Geister auf ihre Weise sich ihre Vor­stellungen, Empfindungen und Gefühle. Was die Nacht für den Men­schen ist, das ist auf der Erdhälfte, wo gerade Sommer ist, der Sommer, und was der Tag für den Menschen ist, das ist für die Erde der Winter. Die Erde als Gesamtwesenheit wacht und schläft wie der Mensch, aber so, daß immer die eine Hälfte mehr wacht, die andere mehr schläft, während der Mensch so organisiert ist, daß, wenn er schläft, er überhaupt

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im ganzen gleichzeitig schläft. Das ist eigentlich auch nicht rich­tig, sondern es ist beim Menschen ganz wie bei der Erde. Wenn der Mensch schläft, so schläft nur sein Kopfteil, während die anderen Or­gane dann um so mehr wachen. Aber der Mensch ist nur nicht darauf eingerichtet, das wahrzunehmen. Es ist eigentlich bei der Erde auch so, obwohl nicht ganz. Die eine Halbkugel der Erde hat ja mehr Was­ser als die andere, daher ist es bei der Erde mit Schlafen und Wachen nicht unähnlich dem Schlafen und Wachen des Menschen.

So wie wir den Menschen als ein belebtes und beseeltes Wesen be­trachten, so müssen wir auch die Erde betrachten. Nur weil wir als so kleine Wesen über die Erde gehen, sehen wir nicht, daß sie zugleich Leib und Seele hat. Aber das rührt auch von der materialistischen Zeit her. Kepler zum Beispiel, der doch auch zu denken wußte, sagt noch, daß er die Erde als einen großen Organismus betrachtet. Nur hatte er keine okkulte Anschauung über die Erde, daher wußte er nicht, daß der Winter Wachen und der Sommer Schlafen bedeutet für die Erde, und er stellte sich die Erde vor als einen großen Walfisch, anstatt sie sich als ein beseeltes Wesen zu denken, das höher ist als der Mensch. Er schob die Verhältnisse etwas herab, sah die Erde als einen Walfisch an, und in der Luftbewegung sah er das Ein- und Ausatmen des Tieres. Das war auch die Anschauung Giordano Brunos. Für ihn war die Erde ein großer, beseelter Organismus, der in Ebbe und Flut seinen Atmungs-prozeß hat. So auch Goethe: Die Erde ist ein großes, belebtes Indivi­duum, das in der Ebbe und Flut, in den Luftströmungen und im Meere seinen Ein- und Ausatmungsprozeß bekundigt. - Ja, die Geister der älteren, mehr spirituellen Zeit wußten noch, daß man die Erde nicht so abstrakt theoretisch betrachten kann, wie man das heute tut in einer Weise, als ob man ein Haar oder einen Nagel für sich beschreiben könnte, während man wissen sollte, daß diese nicht ohne den ganzen Organismus bestehen können, daß sie begründet sind im ganzen Orga­nismus. Die naturalistische Anschauung weiß nicht, worauf es an-kommt. Bei der Weltbetrachtung kommt es darauf an, daß man bei allem in der Welt sich muß fragen können: Ist das ein Teil eines Gan­zen oder ist es selber ein Ganzes? - Wenn jemand einen menschlichen Zahn findet, dann darf er diesen nicht als Einzelwesen betrachten,

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sondern der Zahn ist nur begründet, wenn er betrachtet wird als ein Teil des Menschen. So ist es auch ein Unding, eine einzelne Pflanze zu beschreiben, denn sie ist nur denkbar als ein Teil des ganzen Erden­wesens. So ist nur denkbar der äußere Leib der Erde mit der Seele und dem Geist der Erde. Und wenn man nichts weiß von dem Geist der Erde, wenn man nicht weiß, daß diese Erde der Leib ist eines Gei­stes, wie es unser eigner Leib ist, dann betrachtet man eben die Erde, wie die Mineralogie, die Geologie, die Botanik sie betrachten. Diese haben nicht das Bewußtsein, daß hinter allem, was sie beschreiben, der dirigierende Erdgeist ist. Wenn ich ein Stück aus einem Felsen schlage, ist es leicht zu sagen: Da ist kein Geist darin! - In einem Stück Zahn ist auch kein Geist darin, aber das Stück Zahn ist nicht denkbar ohne den ganzen Menschen und das Seelisch-Geistige, zu dem es gehört.

Das müssen wir im Auge behalten, wenn wir von Natur und Geist sprechen. Wenn wir von der Erde also als von einem natürlichen Pla­neten reden, ohne von dessen Seele und Geist zu sprechen, so rührt diese Beschreibung nur davon her, daß wir vom Geiste absehen, nichts von ihm wissen wollen. Wo besteht denn die Erde als bloß natürlicher Planet? Die Botanik, die Geologie, die Astronomie würden sagen: Sie bewegt sich in dem Weltenraum! - Wenn jene Behauptung wahr wäre, dann würde sie bald aufhören sich zu bewegen, dann würde sie zusam­menbrechen, wie der menschliche Leib nach dem Tode, wenn der Geist ihn verlassen hat.

Diese Art der Weltbetrachtung hat abgefärbt. Auch die Glieder des Menschen und der ganze Mensch werden heute so beschrieben, als ob sie nur Natur wären, das heißt, man betrachtet den Leichnam. Denn wäre der Mensch so, wie der Physiologe, der Anatom und so weiter ihn be­schreibt, so müßte er sogleich sterben. Die Physiologie beschreibt nur ihre eigene Phantasie, desgleichen die Astronomie, die Geologie mit ihrer Erdbeschreibung. Diese ist ein reines Phantasieprodukt. Das gibt es gar nicht, diese bloß natürliche Erde. Denn daß die Erde so ist, wie sie ist, ist bis in das kleinste Felsenstückchen hinein dadurch be­gründet, daß die Erde von dem Erdgeist durchdrungen ist.

Da sehen wir, worauf es ankommt. Bei der Menschenbetrachtung

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kommt es darauf an, daß man den Ausgangspunkt findet von dem Teil zum Ganzen hin, daß man nicht abbröckelt den Teil vom Ganzen. Der Mensch ist als solcher ein Ganzes. Handelt es sich aber um die Erde, so ist die ganze Erde als ein Ganzes zu betrachten. Wenn wir die Natur und ihre Wirkungen absondern von der Erde, was ist dann diese Natur? Dann ist sie unser Phantasieprodukt, das in Wirklichkeit gar nicht besteht, das sich uns nur so vorspiegelt, weil wir einen Teil aus einem Ganzen herausschneiden. Daher sieht man, daß es gar nicht darauf ankommt, daß einer etwas getreu beschreibt, sondern daß er weiß, wie ein Teil sich in das Ganze eingliedert oder vielmehr aus dem Ganzen herauswächst. So muß die Erde als Ganzes betrachtet werden, nicht etwa als physisches Ganzes, sondern als ein leibliches Wesen, das zu seinem Geist gehört.

Man könnte aber jetzt noch in einer anderen Weise über Natur und Geist sprechen. Man braucht nur den Menschen selber zu betrachten. Beim Menschen tritt uns in gewisser Weise etwas entgegen, was die Begriffe «Natur und Geist» als Gegensätze zu rechtfertigen scheint. Das Kind wird geboren, alle Lebensäußerungen des Kindes in der er­sten Zeit erscheinen wie etwas aus dem Physischen, aus der ganzen physischen Natur Herausgebildetes. Daher sagt man oft: Das Kind handle noch ganz nach seiner Natur. Erst später werde das Geistige, das Seelische aus dem Leibe geboren. Im Anfang seines Lebens ist der Mensch mehr Natur, später entwickelt er mehr den Geist. - Das ist aber wiederum nichts als eine nachlässige Betrachtungsweise. Denn in den ersten Zeiten unseres Lebens ist viel Geist in uns, er ist nur in mehr verborgener Weise in uns als später. Alles, was unserem Leibe seine Formen gibt, ist wirkender Geist, nur ist es nicht so, daß wir uns innerlich im Geiste betätigen und ihn mit dem Erinnerungsvermö­gen durchleuchten. Wir haben wahrhaftig in den ersten Kindheits­jahren nicht weniger Geist in uns als in den späteren Jahren. Man könnte wirklich unter Umständen noch radikaler sprechen. Jemand fragte in diesen Tagen: Was bedeutet es, wenn ein Kind nur ein paar Tage lebt und dann stirbt? - Es zeigt uns nun die okkulte Wissen­schaft, daß ein so kurzes Leben doch einen Sinn hat. Oft hat das We­sen, das in diesem Kinderleibe ist, vieles ausbilden können, aber bisweilen

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hat es eines nicht ausbilden können, zum Beispiel ganz gesundes Sehen. Nehmen wir an, jemand ist in einer Inkarnation ein vorzüg­licher Mensch gewesen, hatte aber ein schwaches Sehvermögen. Dann wird es geschehen, daß ein solcher später in einer Inkarnation nur we­nige Tage lebt, nur um das, was ausgeblieben ist in dem vorigen Leben wegen seiner schwachen Augen, auszugleichen. In diesem Falle muß man diese Inkarnation zu der vorigen mitrechnen. Man unterschätzt im allgemeinen sehr die Bedeutung des Lernvermögens von dem Kinde in den ersten Tagen. Wenn das Kind lernt ins Licht zu sehen, so ist dazu mehr Kapazität notwendig, als zu alledem, was man lernt im ersten akademischen Semester.

Gegen solche Dinge kann man manches einwenden, aber man denke nur einmal über den Inhalt einer solchen Sache nach, und man wird schon sehen, daß es richtig ist. Wir betrachten das Kindheitsalter erst in der richtigen Weise, wenn wir wissen, daß der Geist dann nicht we­niger in dem Leibe ist, wenn wir unser Gehirn aufbauen, unsere Phy­siognomie herausarbeiten und so weiter, als später, wenn wir etwas Scharfsinnigeres verrichten können. Im späteren Alter hat der Geist sich etwas mehr aus dem Leibe herausgezogen und wirkt als der mehr abstrakte Geist, der aber dann nicht mehr das Gehirn organisieren kann. Dieses ist dann schon wieder fest geworden. Der Geist, den man später im Menschenleben so gerne «Geist» nennt, war schon im ersten Teil des Menschenlebens vorhanden, hatte da aber etwas anderes zu tun, war mehr mit den Naturprozessen verknüpft. Das sieht man nur nicht, deshalb nennt man das, was da geschieht, nur Natur, und das, was später bewußt geschieht, nur Geist. Deshalb nimmt der Mensch einen Gegensatz an zwischen den «natürlichen» Prozessen der ersten Kindheit und der Geistigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens im späteren Leben. Der Gegensatz ist aber ein ganz anderer.

Im ersten Kindheitsalter ist ein inniger Zusammenhang zwischen Natur und Geist, sie durchdringen einander, stehen einander noch freundschaftlich gegenüber. Später sondern sie sich, und der Geist und die Naturprozesse gehen mehr abgesondert vor sich. Dafür werden die Naturprozesse auch mehr geistlos, indem der Geist aus ihnen her­ausdifferenziert ist und zu der besonderen Seele geworden ist, auf die

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der Mensch so stolz ist. Diese erkauft sich der Mensch damit, daß sein Leib mehr geistlos wird. Der Mensch hat erst Geist aus seinem Leibe gesogen, damit er ihn mehr abgesondert für sich gebrauchen kann. In der ganzen Erdenentwickelung gibt es ein Ähnliches. In sehr frühen Zeiten der Erde war überall der Geist mit der Natur der Erde innig verbunden, daher war dazumal ein inniges Zusammenwirken zwischen Erdgeist und Erdennatur. Heute ist in gewisser Weise die Erden-natur so abgesondert von ihrem Geist wie beim Menschen die Natur von dein Seelischen. Und wie beim Menschen der Geist es ist, der Den­ken, Fühlen und Wollen dirigiert, so läuft in der Erdenentwickelung auch der Erdgeist als Geschichtsverlauf neben dem Naturprozeß ein­her. Diese waren in der lemurischen Zeit noch mehr miteinander ver­woben, wie die geistigen und die Naturprozesse beim Kinde auch enger verwandt sind als beim späteren Menschen. Worauf kommt es denn hier an? Kommt es darauf an, zu sagen: Der Geist entwickelt sich im späteren Lebenszeitalter oder Erdzeitalter? - Nein, er war schon da, aber er hat dazumal seine Tätigkeit verwendet auf das, was dann ab-gesondert ist. Und das verhärtet, es verholzt, es stirbt.

Aus dem Grunde müssen wir auch das Ganze, das als Ganzes zu be­trachten ist, nicht in der Zeit, nur nach seinen Teilen betrachten. Der Mensch, so wie er als Kind ist, ist kein physisches Ganzes auf Erden. Der Mensch mit Jugend, mittlerem Alter, Alter und so weiter ist erst ein Ganzes, und wir können nicht sagen: Der Mensch macht eine Ent­wickelung durch von dem Natürlichen zum Geistigen -, sondern wir müssen sagen: In seiner ersten Kindheit waren Natur und Geist innig verbunden. Später sondern sie sich mehr voneinander. Dadurch wird das Natürliche etwas toter, etwas weniger innerlich lebendig, und der Geist wird selbständiger. Es ist also eine Differenzierung eingetreten in dem ganzen Menschenwesen. - Das ist der richtige Eindruck. Nicht aber entwickelt sich das Geistige ohne weiteres aus dem Natürlichen. Differenzierung gibt es. Wenn wir von Natur reden ohne den Geist, dann reden wir von einem bloßen Phantasieprodukt. Niemals könnte ein Mensch unter den heutigen physischen Erdverhältnissen später ein denkendes, fühlendes und wollendes Wesen sein, das so stolz ist auf seine Geistigkeit, wenn er seinen Geist nicht erst losgelöst hätte von

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dem natürlichen Dasein. Man muß lernen, über Natur und Geist ganz umzudenken.

Das geht noch weiter. Betrachten wir das äußere Wesen von Mann und Weib. Wer das ganz oberflächlich macht, wird zu dem Urteil kom­men: Die Frau steht näher zur Natur, urteilt mehr unmittelbar aus den Gründen der Natur heraus. Der Mann hat sich mehr von der Natur entfernt, in ihm lebt mehr das selbständige Denken, der selbständige Geist. - Das materialistische Zeitalter, das den Geist sich materialistisch denkt, hat noch andere Gründe für diesen Unterschied beigebracht, wie zum Beispiel das Gewicht des Gehirns. Als man aber das Gehirn ge­wogen hat von demjenigen, der diese Theorie erdacht hat, stellte es sich heraus, daß er ein ganz besonders kleines Männergehirn gehabt hat! Wenn wir also Natur und Geist so betrachten, dann zeigt schon ein oberflächlicher Anblick, wie wenig das zutrifft. Wer hier auf die Tie­fen eingeht, wird wiederum zu einer ganz anderen Art der Betrach­tung kommen. Das Äußere der Frau ist in einer gewissen Hinsicht aller­dings natürlicher, dafür aber auch wiederum geistiger als das Äußere des Mannes. Die Frauheit auf der heutigen Erde ist deshalb natür­licher, weil sich die geistige Tätigkeit in ihr noch nicht so getrennt hat von ihrem Leiblichen, wie das beim Manne der Fall ist. Daher ist der Mann nicht mit einer größeren Geistigkeit als die Frau zu denken, sondern beim Manne tritt nur das, was destillierter Geist ist, der die Materie neben sich läßt, mehr hervor. Dafür ist auch für gewisse Par­tien die männliche Leiblichkeit mehr geistverlassen. Die weibliche Leiblichkeit ist mehr geistdurchdrungen, wie zum Beispiel diejenige des Kindes es ist, die männliche Leiblichkeit im späteren Alter mehr geistverlassen, als es in der Jugend der Fall ist. Aber von mehr Natür­lichkeit oder Geistigkeit beim Mann- oder Frausein dürfen wir nicht sprechen.

Die Betrachtungsweise muß also ganz anders werden. Es ist wahr:

In gewisser Hinsicht hängt das, was mit dem Wesen von Mann und Frau zu tun hat, uns unser ganzes Leben an. Es ist nicht immer ange­nehm, darauf hinzuweisen. Warum sind zum Beispiel mehr Frauen als Männer in der Anthroposophischen Gesellschaft? Spricht das nicht eigentlich gegen das Vorhandensein von Intellekt in der Anthroposophie?

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- frägt man wohl. Das ist ganz objektiv zu beantworten, nur wird man dann leicht mißverstanden. Daß die Frauen mehr zu der Anthroposophischen Gesellschaft kommen, das heißt sich die geistigen Wahrheiten leichter aneignen, das kommt, weil sie sich im späteren Leben mehr bewahren die Geistigkeit des Nervensystems und des Ge­hirns. Beim Manne sondert sich diese früher vom Leiblichen, daher hat er nicht die Möglichkeit, so leicht das aufzunehmen, was spricht zu dem, was weder Mann noch Frau ist, sondern was darüber steht: das Wesen selber.

Der Mensch ist in einer Inkarnation entweder Mann oder Frau. Beim Manne sind mehr ausgebildet die verholzten Teile, und etwas mehr destilliert aus seiner Gesamtnatur heraus ist der Geist, der zeit­liche, vorübergehende Geist. Bei der Frau bleibt im ganzen Leben mehr verbunden Natur und Geist, daher bleibt ihre Natur mehr beweglich. Aber die spirituellen Wahrheiten sprechen zu etwas im Menschen, was nichts zu tun hat mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau. Denn das Wesen, das von Inkarnation zu Inkarnation geht, kann abwech­selnd Mann und Frau sein, wenn das auch eine Wahrheit ist, über die die Männer oft böse werden.

Dasjenige also, was unser tiefstes Wesen ist, hat mit Mann und Frau nichts zu tun. So wie das mit Mann und Frau nichts zu tun hat, so hat das tiefste Wesen der Welterscheinungen und Tatsachen überhaupt mit Natur und Geist nichts zu tun, sondern es gestaltet sich das eine Mal mehr geistig, das andere Mal mehr natürlich. Das sind beides Phasen eines Daseins, so schreitet das Leben weiter. Wie im Menschenleben ab­wechseln sein mehr seelisch-geistiges Tun am Tag und sein für den physischen Menschen mehr natürliches Tun in der Nacht, so wechseln im Weltall ab Zeiten der Wesen, in denen sie sich mehr vergeistigen, und Zeiten, in denen sie sich mehr «vernatürlichen». Das ist ein Rhyth­mus im Weltall. Wer zum Beispiel auf das Wesen des Menschen sieht, wenn er Mann ist in einer Inkarnation, wenn er also karmisch dazu ver­urteilt ist, den Geist zu destillieren aus dem Natürlichen, dann kann er sich sagen: Nun bin ich allerdings karmisch dazu bestimmt, den Geist aus der Natur zu destillieren, aber das muß rhythmisch, zyklisch ab­wechseln mit einem Frauendasein, wo ich mit meinem Geist mehr in

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dem Natürlichen stecken darf, damit ich wiederum einen Pendelschlag in die Richtung des natürlichen Daseins haben darf.

So ist es bei allen Planeten, bei allen Ganzen, Totalitäten, bei allen Welten. Wo wir ein Natürliches finden, gehört ein Geistiges dazu, und wo wir einen Geist finden, hat er die Neigung, etwas aus sich abzuson­dern, was ein Natürliches ist. Natur und Geist sind nicht Gegensätze, sondern Wechselzustände des dahinterstehenden höheren Wesenhaften.

So müssen wir sehen, daß durch unsere spirituelle Weltanschauung mancher alter Begriff, mit dem viel Unfug getrieben worden ist, korri­giert werden muß. Wenn man aufhören wird, nur Teile zu beschreiben von einem Wesen, das eigentlich ein Ganzes ist, wird man auch zur Klarheit kommen über die Begriffe Geist und Natur und wird sich nicht länger in Einseitigkeiten beschränken. Dann wird man einsehen, daß der Geist etwas sehr Schwaches sein würde, wenn die Natur ihm feindlich gegenüberstände, dann wird man einsehen, daß die Natur etwas ist, was der Geist zeitweise aus sich heraussetzt, wie die Schnecke ihr Haus aus sich heraussetzt. Aber auch wiederum zu sich nehmen und in sich auflösen kann der Geist die Natur. Dann macht er sie unsicht­bar, aber dann hat er sie in sich, dann ist er mit ihr eine Einheit gewor­den. Würde irgendwo eine vollständige Einheit von Geist und Natur vorhanden sein, so würde das bedeuten: Für das Gebiet der Tatsachen hat der Geist alle Natur, die zu ihm gehört, aufgelöst.

Nehmen wir an, ein Mensch ist vierzig Jahre alt. Da hat er seine Natur und er hat seine Seele, seinen Geist, auf die er so stolz ist. Gehen wir zurück bis in seine Kindheit, so ist das mehr eine Einheit, aber dafür erscheint es mehr in seiner Naturgrundlage. Gehen wir noch weiter zurück, vor seine Geburt, dann ist er ganz geistig, da hatte er noch alle Geistigkeit ohne Naturgrundlage, ohne Materie in sich.

Es ist in der Welt ein Pendelspiel: Das Wesenhafte schafft sich sein Abbild im Naturaspekt und offenbart sich durch ihn. Der Geist trägt die Natur in seinem Schoße, um sich mit dem, was er in seinem Schoße selber als Natur gebiert, ein Abbild zu machen. Aber das Wesenhafte hat auch wiederum die Macht, alles, was da draußen Natur ist, in den Geist aufzunehmen. Und so kann der Geist über alle Abbilder von sich selbst siegen, um immerwährend in neuen Verwandlungen, neuen Gestaltungen

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von neuem zu erscheinen. Das bezeugt uns, daß unendlich viele Gestaltungen im Schoße des Wesenhaften ruhen, und daß in im­mer neuem und neuem Werden der Sinn der Welt sich eigentlich voll­zieht. Wenn man einsehen kann die Zusammengehörigkeit, die Un­trennbarkeit von Geist und Natur, kommt man zu dem Wesenhaften in der Welt.

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DIE FREIHEIT DER SEELE IM LICHTE ANTHROPOSOPHISCHER ERKENNTNIS Stockholm. 10. Juni 1913

Indem Sie sich dem geistigen Leben widmen, ist es notwendig, sich be­wußt zu werden darüber, warum wir als Menschen in der heutigen Zeit, indem wir unsere Aufgabe als Menschen in der heutigen Zeit er­fassen, die Sehnsucht und den Drang haben, das geistige Leben zu pfle­gen. Das ist ja aus dem Grunde, weil in der Tat seit der letzten Zeit des vorigen Jahrhunderts in einer ganz anderen Weise der Mensch sich verhalten kann zu den höheren Welten, als das in den früheren Jahrhunderten der Fall war. Es ist dies etwas, was man im Grunde viel zu wenig berücksichtigt, daß die Entwickelung der Menschheit von Epoche zu Epoche immer neue Impulse zeitigt.

Während es verhältnismäßig schwierig war, in den Zeiten des 14., 15., 16. Jahrhunderts aus der Menschenseele heraus ein Verständnis zu gewinnen für die spirituelle Welt, für das spirituelle Leben, wird es immer mehr und mehr ein naturgemäßes Bedürfnis der Menschen­seele werden in den nächsten Zeiten, spirituelles Verständnis zu su­chen. Denn seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben sich in gewissem Sinne die Pforten nach der geistigen Welt geöffnet, so daß für jeden, der sie empfangen will, spirituelle Erkenntnis aus der gei­stigen Welt strömt. In diesem Sinne stehen wir in einer ganz neuen Epoche der Menschheitsentwickelung. Wer heute wie durch einen In­stinkt getrieben wird zur Anthroposophie, zu der anthroposophischen Bewegung, der fühlt eben, was in den Zeichen der Zeit geschrieben steht. Wie wir heute zusammenkommen, um spirituelle Geheimnisse des Daseins zu besprechen, würde vor fünfzig Jahren noch ganz und gar unmöglich gewesen sein, weil damals noch nicht zu den Menschen herunterströmten die Wellen des spirituellen Verständnisses. Und wir müssen verstehen, daß das, was wir anstreben und wollen, immer all­gemeiner werden muß. Dazu müssen wir auch einmal aufsuchen die Symptome, die die ganze heutige Entwickelung der Menschheit kenn­zeichnen. Es sind heute erst wenige Menschen, die sich für das spirituelle

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Leben interessieren und den Drang haben, Erkenntnisse zu er­langen der spirituellen Welt. Die große Masse lehnt noch energisch jede spirituelle Erkenntnis ab. Nun muß man sich zu vertiefen wissen in all das, was zu einem solchen Tatbestand in unserer menschlichen Entwickelung geführt hat. Unter den Ideen, an welchen man am be­sten sehen kann, was sich als Symptom der gegenwärtigen Zeitepoche herausgebildet hat, ist vielleicht die Idee der Freiheit die wichtigste, sie ist diejenige Idee, welche uns am besten die Evolution der letzten Jahrhunderte anschaulich machen kann.

Es ist ganz natürlich, daß heute ein Mensch draußen in der Welt, der nicht spirituelle Erkenntnisse sucht, der sich jedoch unterrichten will über die Gesetze der Welt und des menschlichen Seelenlebens, seine Zuflucht nimmt zu der offiziellen Wissenschaft, die wiederum be­herrscht wird von der Naturwissenschaft. Wie kommen die Menschen denn zu einer Welterkenntnis? Sie wenden sich an die Menschen, die gelernt haben, sich ein naturwissenschaftliches Verständnis der Welt zu erringen und die dann vielleicht auch in populär-wissenschaftlichen Schriften niedergelegt haben, wie man über die menschliche Seele, über Natur und Freiheit und so weiter zu denken hat. Wie würde so jemand zu einer anderen Idee kommen können, als daß er bei solchen Men­schen anfrägt?

Nun hat aber die offizielle Wissenschaft, da wo sie Weltanschauung werden will, im 19. Jahrhundert etwas sehr Merkwürdiges durchge-macht, das symptomatisch ist. Aber gerade solche allermerkwürdigsten Symptome bemerken die Menschen ganz und gar nicht. Wenn man eine Größe der Wissenschaft frägt, ob es so etwas wie eine Idee der Freiheit gibt, so wird diese antworten: Das gibt es nicht in dem Sinne, wie die alten Weltanschauungen diese Idee auffaßten, denn heute wissen wir, daß, wenn ein Mensch zum Beispiel etwas von dieser oder jener Sub­stanz genießt, daß dieser Stoff sogleich auf sein Gehirn wirkt, und dann kann er sich seines Gehirns nicht mehr richtig bedienen. Man sieht, daß der Mensch abhängig ist von seinem Gehirn, wie kann er dann frei sein? - Oder man sagt: Wir zeigen in der rationalistischen Psychologie, daß ein Mensch, der mit einer seelischen Krankheit be­haftet ist, der nicht sprechen oder sich der Sprachlaute nicht erinnern

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kann, Abnormitäten in seinem Gehirn zeigt. Wie kann man da, wenn der Mensch von seinem Gehirn abhängig ist, von Freiheit reden? - So sagt die gewöhnliche Psychiatrie. Für das gewöhnliche triviale Denken haben alle diese Gründe sehr viel Gewicht. Es klingen solche Dinge sehr plausibel und ergreifen allmählich das Denken der Menschen, und wenn nicht eine spirituelle Weltanschauung die Köpfe wieder in Ord­nung bringen wird, werden die Menschen einer Weltanschauung ver­fallen, welche die Idee der Freiheit ganz leugnet.

In dieser Hinsicht hat die Wissenschaft einen merkwürdigen Weg zurückgelegt. Im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hat man immer gesucht nach Zweckmäßigkeit in der Natur. Man fragte sich: Warum hat der Stier Hörner, warum wachsen Äpfel am Apfelbaume? - Eine weise Weltenlenkung, so sagte man, hat das getan. Sie hat dem Stier Hörner gegeben, um damit stoßen zu können, und sie hat Äpfel wach­sen lassen, damit der Mensch sie essen kann und so weiter. Aufgeklärte Geister des 18. und 19. Jahrhunderts haben viel über diese Nützlichkeits-gründe gespottet. Sie haben - ironisch - gesagt: Warum hat das Welten-dasein diesen oder jenen Baum wachsen lassen? - Weil der Mensch Wein trinken will und für seine Weinflaschen Korkstöpsel braucht!

Solche Einwände gegenüber der leichtsinnigen Art, welche sich die Natur dachte wie den Menschen, sind ganz berechtigt. Bei einem Men­schen kann man immer fragen: Was für einen Zweck verfolgt er mit dem, was er tut? - Nun hatte man die Natur vermenschlicht oder ver­anthropomorphisiert, man hatte ein anthropomorphe Weltanschauung geschaffen, die bei der Natur ebenso nach Zielen fragte, wie man bei einem Menschen nach seinem Ziele fragen kann. Es war vollberech­tigt, daß das 19. Jahrhundert sich widersetzte diesem Anthropomor­phismus, der nichts in der Natur selbst sah, sondern nur den Menschen in die Natur hineingetragen hatte. Die Geister des 19. Jahrhunderts wollten die Natur unmittelbar betrachten, sie selbst fragen. Sie woll­ten nicht solche Zwecke, wie der Mensch sie hat, in die Natur hinein-phantasieren. Dieses Streben war ganz berechtigt, denn die alte Be­trachtungsweise trug menschliches Seelenleben in die Natur hinein. Und berechtigt ist es zu sagen, man wolle die Natur betrachten, wie sie, abgesehen vom Menschen, ist. Man sagte: Wir wollen alles, was zum

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Menschen gehört, herauswerfen aus der Natur. - Das führte dann im 19.Jahrhundert zu einem Bilde der Natur, in dem nichts mehr vom Menschen darinnen war. Dadurch entstand eine materialistische Na­turwissenschaft. Die menschlichen Begriffe wurden aus der Natur her­ausgedrängt. Es war in gewissem Sinne eine richtige Reaktion gegen die alte Nützlichkeitslehre oder Teleologie.

So entstand eine materialistische Naturwissenschaft unter der Vor­aussetzung, daß in dieser Naturwissenschaft nichts von dem Menschen zu finden ist. Das war damals eine ganz berechtigte Forderung. Aber in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts kam dann heraus, daß man sich sagte: Wir müssen aber den Menschen auch als Naturprodukt be­trachten, wir müssen den Menschen auch so betrachten wie die Natur. -Durch diese zweite Forderung, den Menschen nach den materiellen Verhältnissen der Natur zu betrachten, wurde die Sache ganz anders, denn man hatte den Menschen herausgeworfen aus der Natur. Da war es ganz klar, daß der Mensch gar nicht mehr zu finden war in dieser so hergerichteten Naturwissenschaft. Das hat sich herausgebildet im Laufe des 19. Jahrhunderts. Da hat sich vollzogen, daß man herausdestilliert hat aus der Naturwissenschaft alles, was der Menschenseele angehört, was zu vergleichen ist damit, daß man etwa sagt: Ich habe eine Flasche, da ist Wasser darin. Ich will aber eine leere Flasche haben, also schütte ich das Wasser aus der Flasche. - Und man wundert sich dann, daß kein Wasser mehr in der Flasche ist. Bei der Flasche merkt ein jeder sogleich, daß die Flasche dann leer ist. Bei der Naturwissenschaft merkte man die Torheit nicht, aus der von dem Menschen entleerten Natur heraus den Menschen verstehen zu wollen. Ich bin überzeug?, daß eine materialistische Versammlung über diese einfachen Betrach­tungen nur lachen würde, denn man ist sich dieses kapitalen Fehlers nicht bewußt. Unter diesen Mißauffassungen hatte die Idee der Frei­heit, der Unsterblichkeit und dergleichen am meisten zu leiden. Denn wer die Sache so ansieht, wie sie eben geschildert wurde, findet es ganz selbstverständlich, daß in der Naturwissenschaft über diese Begriffe kein Aufschluß zu bekommen ist.

Nun handelt es sich darum, daß es in der Tat notwendig ist gerade für eine spirituelle Weltanschauung, sich zu der Erkenntnis durchzuringen,

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daß der Mensch in seiner Leiblichkeit zwar der äußeren Natur und ihren Gesetzen angehört, daß er aber als Seele etwas in sich trägt, was nur auf spirituellem Wege gefunden werden kann. Mit anderen Worten: Wenn wir den Menschen erkennen wollen in seiner ureigen­sten Wesenheit, dann dürfen wir nicht auf dasjenige im Menschen sehen, was zwischen Geburt und Tod seine äußere Hülle ist, sondern dann müssen wir auf dasjenige sehen, was von Inkarnation zu Inkar­nation gehend seine eigentliche, wahre Wesenheit ist. Und es wird die Aufgabe der Anthroposophie sein, die Aufmerksamkeit der Men­schen hinzulenken auf jene Vorgänge des inneren Lebens, die bewei­sen, daß es einen solchen von der äußeren Leiblichkeit unabhängigen, ewigen Wesenskern im Inneren des Menschen gibt.

Wenn man den Menschen zunächst so betrachtet, daß man zugibt, die eigentliche menschliche Wesenheit lebt nicht nur zwischen Geburt und Tod, sondern sie ist dasjenige, was den Menschen hineinstellt in das physische Dasein und was auch bleibt nach dem Tode, dann wird man die Notwendigkeit einsehen, menschliches Wissen und Erkennen hinaufzuführen zu den Gebieten, wo die menschliche Wesenheit Anteil hat durch ihre Erkenntnis an jener höheren Welt, der sie durch ihr seelisch-geistiges Wesen angehört. Aber in dem Augenblicke, wo der Mensch mit seinem Erkennen eintritt in die höheren Welten, kommt er ebenso mit geistigen Wesenheiten der höheren Welten zusammen wie hier in der physischen Welt mit den Wesen der drei Naturreiche.

Nun ist es die allerunberechtigtste Anschauung, die zum Beispiel Pascal, der berühmte christliche Forscher, einmal geäußert hat und in der ihm zum Beispiel Maeterlinck heute wiederum so ganz recht gibt, daß er sagt, Pascal habe das ein für allemal gewollt. - Pascal sagt: Wir haben von dem irdischen Dasein eigentlich nichts anderes, als daß es uns die Ewigkeit, die Unendlichkeit verbirgt. - Man muß sagen, dieser Glaube ist sehr verbreitet. Wo man hinhört, überall findet man eine be­rechtigte Sehnsucht nach dem Geistigen, dem Ewigen, die so zum Aus­druck gebracht wird, daß man sagt: Das irdische Dasein ist doch recht unbefriedigend. Erst in der Anschauung des Ewigen kann der Mensch wirklich Befriedigung finden. - Wenn man aber wirklich eindringt in die ewigen Welten, dann kommt noch etwas anderes zu dem Ausspruch

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Pascals hinzu. Wenn man nämlich in die Ewigkeit eindringt, dann hat man das Erleben, daß sie einem keineswegs das irdische Dasein ver­birgt, sondern daß sie einem sogar noch zeigt, daß alles dort darauf angelegt ist, wieder zum irdischen Dasein hinzuführen.

Gegen die Wiederverkörperungslehre gibt es bisweilen die eigen­tümlichsten Einwände. Eine Dame, der ich die Notwendigkeit der Wiederverkörperung mit allen Gründen auseinandersetzte, sagte mir:

Ich will nicht wiederum auf die Erde kommen, das Leben gefällt mir zu wenig. - Ich versuchte ihr klarzumachen, daß ihre Gefühle nichts mit der Sache zu tun haben. Sie hörte mich an und reiste dann ab. Vom nächsten Bahnhof schickte sie mir eine Ansichtskarte, auf der geschrie­ben stand: Ich will doch nicht wieder geboren werden! - Man kann über eine solche Gesinnung lachen. Man findet sie vielfach. Man be­denkt eben nicht, daß es auf die Gesinnung gar nicht ankommt, nicht ankommt auf das, was man hier auf der Erde ausspricht innerhalb dieses Lebens. Man weiß eben nicht, daß es ganz unbedeutend sein kann, ob man zurückkehren will oder nicht. Man weiß nicht, daß man in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt alle Kräfte in seiner Seele trägt, die nach Wiederverkörperung hindrängen, die wiederum zurückkehren wollen. Diese Kräfte sind da in der Tat vorhanden. Dort ist alles dar­auf angelegt, daß die Kräfte, die man da entwickelt, nur befriedigt werden können, wenn man wieder eintritt in das irdische Leben. Man spürt, daß die Seele unvollkommen geblieben ist, daß sie gewisse Eigen­schaften nicht entwickelt hat in ihrem letzten Erdenleben. Hier auf Erden kann einem das vielleicht gleichgültig sein, ob man vollkommen oder unvollkommen ist, nicht aber in dem Leben zwischen Tod und einer neuen Geburt. Da drängen unwiderstehliche Kräfte dazu, die Unvollkommenheit in Vollkommenheit umzuwandeln. Man sieht ein, daß das in vielen Fällen nur durch Leid und Schmerz erreicht werden kann, und man weiß, daß, um eine Vollkommenheit zu erreichen, man die Leiden und Freuden eines irdischen Lebens auf sich nehmen muß. Und da geht man mit aller Macht hinein in eine neue Inkarnation.

Ich habe dieses angeführt, weil man aus einer solchen Sache sehr scharf sehen kann, daß unsere Weltanschauung allseitig werden muß, daß man nicht aus dem Leben zwischen Geburt und Tod, so wie es sich

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darbietet für unsere Begierden und Interessen, schließen darf auf die Begierden und Interessen, die man hat zwischen Tod und neuer Ge­burt. In einer gründlichen, energischen Weise denken lernen, wird der Mensch erst, wenn er durch die spirituelle Weltanschauung in dieser Weise sich zur Allseitigkeit ausbildet, wenn er erkennen lernt, daß ein jedes Ding von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden muß. Schon die Lebenspraxis zwingt den Menschen dazu im gewöhnlichen Leben. Wenn einer sagt: Das Feuer ist wohltätig -, so hat er recht. Wenn man aber sagt: Das Feuer ist sehr schädlich, denn es verbrennt Städte und Dörfer -, so ist das auch wahr. Der absolute Satz: Das Feuer ist gut -, oder: Das Feuer ist böse -, gilt nicht. In bezug auf das Feuer lehrt schon die Lebenspraxis, diese zwei Seiten anzuerkennen. Wird aber dasselbe verlangt für Wesenheiten der höheren Welten, zum Beispiel Luzifer und Ahriman, so geht man nicht gerne darauf ein, son­dern man frägt: Ist Luzifer ein gutes oder ein böses Wesen, ist Ahriman ein gutes oder ein böses Wesen? - Die Menschen wollen Definitionen haben, die ihnen eine Antwort auf solche Fragen geben, und man be­trachtet eine Antwort als höchst unbefriedigend, welche sagt: Luzifer und Ahriman können sowohl gut als auch böse sein. Vom Feuer fordert man das nicht. Da hilft uns die Lebenspraxis, ein unrichtiges Urteil in ein richtiges zu verwandeln.

Unter den mancherlei Dingen, die jetzt zum Beispiel in Deutsch­land zirkulieren, um uns anzugreifen, ist auch dieses, daß vor kurzem gesagt wurde: Er - das heißt Doktor Steiner - setzt in seinen öffent­lichen Vorträgen die Sachen so auseinander, wie sie sich seiner An­schauung darbieten, aber er vermeidet es, bestimmte Begriffe oder Ur­teile zu geben. - Meine lieben Freunde, in einer griechischen Philoso­phenschule wollte man einmal einen ganz bestimmten Begriff davon haben, was ein Mensch ist. Nach langem Hinundherreden kam man überein, zu sagen, um den Begriff Mensch zu definieren, daß ein Mensch ein Wesen sei, das auf zwei Beinen geht und keine Federn hat. Am nächsten Tag brachte jemand einen gerupften Hahn und sagte: Das ist also ein Mensch, denn er hat zwei Beine und keine Federn. Nach der Definition müsse das also ein Mensch sein! - Mit «bestimmten Be­griffen» steht es eben so, daß sie, wenn man näher zusieht, sehr wirklichkeitsfremd

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sein können. Deshalb wird gerade die spirituelle Welt­anschauung die Menschen daran gewöhnen, die Dinge allseitig zu cha­rakterisieren. Die Naturwissenschaft hat auch ein gutes Stück ein­seitigen Denkens erzeugt, und sogar diejenigen, die sich mit ihrem Geist etwas erheben möchten über das naturwissenschaftliche Denken, zei­gen oftmals - bei allem guten Willen - eine gewisse bewundernswerte Naivität. Man muß auf diesem Gebiet wirklich nach und nach den Willen entwickeln zu einer vollen Klarheit.

So wie ich gestern versuchte zu zeigen, wie Menschen, die man als gründliche Naturforscher ansehen darf und deren Namen nicht ver­unglimpft werden sollen, gerade auf dem Gebiete der geisteswissen­schaftlichen Forschung nicht urteilen können, so soll man sich, ohne ungerecht zu werden, auch nicht sofort verblüffen lassen von einer Idee, die vielleicht in guter Absicht gebracht wird, dafür aber nicht stichhaltig ist. Da ist zum Beispiel der Naturforscher William Crookes. Er hat vieles Bedeutsame für die naturwissenschaftliche Forschung ge­leistet, er ist zu gleicher Zeit jemand gewesen, der sich mit vollstem Herzen bekannt hat zu der Unsterblichkeitsforschung. Er wollte über die Unsterblichkeit Gewißheit erlangen mit den gewöhnlichen natur-wissenschaftlichen Methoden, und er hat wunderbare Resultate er­zielt in seiner medialen Forschung. Nun hat er einmal eine Idee ge­äußert so, daß man sich diese Idee auch aneignen kann, mit ihr mit­gehen kann bis zu einem gewissen Punkt. Wenn jemand behauptet: daß wir Farben sehen, hängt von der Beschaffenheit unserer Augen ab, daß wir Töne hören, verdanken wir unseren Ohren, und wenn wir andere Sinnesorgane hätten, würde die Welt um uns herum ganz anders sein -, so ist das ganz richtig. Wenn nun William Crookes sagt: Warum leug­net ihr denn das Dasein einer übersinnlichen Welt, die doch auch nur deshalb nicht für euch da ist, weil ihr solche Organe habt, die nicht geeignet sind, sie wahrzunehmen? - so hat das auch seine Richtigkeit. Diese vollberechtigte Idee drückt er genauer aus, indem er davon ausgeht, daß er sagt: Die Farben nehmen wir wahr, die Töne hören wir, aber von Elektrizität und Magnetismus sehen wir nur Wirkun­gen. Sie sind Naturkräfte, deren Wesen der Mensch nicht kennt, wenn er sie auch im praktischen Leben anwendet. Das findet man überall,

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daß man sagt, das seien Naturkräfte, deren Wesen der Mensch nicht ergründet hat. - Zugegeben! Es bedeutet in Wirklichkeit nichts an­deres als: Für die Farben hat der Mensch seine Augen, für die Töne seine Ohren und so weiter; in dem Falle des Magnetismus sieht der Mensch zwar, daß der Magnet das Eisen anzieht, aber den Magnetismus selber, das, was der Magnetismus eigentlich selber ist, das sieht er nicht. Bei der Elektrizitat nimmt er Licht- und Wärmewirkungen wahr, nicht aber die Elektrizität selber. - Nun sagt William Crookes:WWie würde sich die Welt ausnehmen für Wesen, die Elektrizität und Mag­netismus unmittelbar mit besonderen Sinnesorganen wahrnehmen könn­ten, aber dafür nicht Licht, Farben, Töne und so weiter? Wenn wir kein Licht wahrnehmen könnten, so würde zum Beispiel ein Kristall für uns undurchsichtig sein, Glas ebenso, und Fenster anzubringen würde dann keinen Sinn haben. Sie würden uns nur daran hindern, eine Verbindung mit der Außenwelt zu haben. Hätten wir dagegen Organe für den elektrischen Strom, so würden wir einen Telegraphendraht sehen wie eine Lichtlinie, die durch den finsteren Raum zieht; fließende, lichtvolle Elektrizität würden wir da wahrnehmen. Magneten könn­ten wir, wenn wir ein Organ für Magnetismus hätten, so wahrnehmen, daß magnetische Kräfte nach allen Seiten ausstrahlen würden und so weiter. - William Crookes sagt nun: Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es solche Wesen gibt, deren Organe eingerichtet sind auf Schwingun­gen, die unsere Organe unberührt lassen. Solche Wesen leben in einer ganz anderen Welt als wir. - Und er betrachtet dann, wie diese Welt ausschauen würde. Glas und Kristall sind in dieser Welt dunkle Kör­per, Metalle, da sie die Elektrizität leiten, sind schon etwas heller, mit dunklen Teilen durchsetzt. Ein Telegraphendraht wäre ein langes, en­ges Loch in einem Körper von undurchdringbarer Festigkeit. Eine ar­beitende Dynamomaschine würde ähnlich sein einer Feuersbrunst, und ein Magnet würde gar den Traum der mittelalterlichen Mystiker er­füllen von einer ewigen Lampe, die nie erlischt.

Schön hat das William Crookes auseinandergesetzt, und man kann auf diese Weise schon eine Vorstellung davon erwecken, wie unsinnig es ist, zu behaupten, daß diese sinnlich-physische Welt die einzige sei, daß es keine andere Welt gäbe als nur die unsrige, und daß es andere

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Wesen als die Menschen nicht geben könne. Alles richtig! Aber man kann noch etwas anderes sagen über diese Idee - und hier beginnt die andere Seite der Sache, die den wahren Geistesforscher angeht. Nehmen wir einmal an, wir stellen die Frage: Wie würde es sein, wenn der Mensch anstelle der Augen wirklich diese Organe hätte, um direkt Elektrizität und Magnetismus wahrzunehmen, wenn diese Idee, die in einer naiven Weise ein Mensch hinstellt, verwirklicht wäre an uns Men­schen, wie wäre das? Dann würden wir Menschen uns in dem Reich von Elektrizität und Magnetismus ebenso unmittelbar zurechtfinden, wie wir uns jetzt im Reiche des Lichtes und der Töne zurechtfinden. Das würde aber eine Folge haben. Hätte der Mensch ein Organ für das unmittelbare Wahrnehmen von Elektrizität und Magnetismus, so hätte er zugleich mit diesem Organ, das dann für ihn ein Erkenntnis­organ wäre, die Macht und die Gewalt, jeden anderen Menschen zu töten oder krank zu machen. Diese Fähigkeit würde ein solches Organ unmittelbar verleihen.

Das ist es, was Geisteswissenschaft zu sagen hat zu der Idee des William Crookes, weil Geisteswissenschaft weiß, daß der Mensch durchzogen ist von solchen Kräften, die eine Verwandtschaft haben hier auf Erden mit den magnetischen und elektrischen Kräften. Nun bekommt die Frage einen ganz anderen Sinn, nun wird wirklich das Stück Naivität in dem einfachen Aufstellen einer solchen Idee erst recht sichtbar. Während ein Mensch, der kein höheres Schauen be­sitzt, die Idee von dem Hineinschauen in die elektrischen und magne­tischen Kräfte aufstellt, folgt für den Geistesforscher aus ihr sogleich das soeben Gesagte. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, kommen wir erst dazu, uns klar zu werden darüber, daß wir nicht an der Ober-fläche bleiben dürfen, wenn wir uns in die Weisheit, die der Welten-ordnung zugrunde liegt, wirklich vertiefen und sie verstehen wollen. Denn diese Erkenntnis des Geistesforschers zeigt uns, daß es sehr gut ist für den Menschen, daß er die elektrischen und magnetischen Organe nicht hat, daß er also seine Mitmenschen mit ihnen nicht schädigen kann. So können sich zunächst seine niederen Instinkte und Begierden auch nicht in solcher Weise ausleben und für ihn und die Welt ver­hängnisvoll werden. Der Mensch hat eine Welt um sich herum, die

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ihm in langsamer und allmählich wirkender Erziehung erlaubt, diese niederen Kräfte zu besiegen und dann erst zu den höheren Kräften auf­zusteigen.

Das ist der ganze Sinn der Erdenentwickelung, daß der Mensch durch viele Erdenleben gehend, in mannigfaltigen auf und ab wogen-den Wellenbewegungen allmählich doch der Vervollkommnung ent­gegengeht, aber so, daß er lernt, seine niederen Kräfte, Instinkte und Sehnsüchte in den Dienst der höheren Ideen und Motive zu stellen. Das würde er nicht tun können, wenn er in der Zeit, als er sich erst im Laufe der Erdenentwickelung zur Moralität zu erziehen hatte, Organe bekommen hätte, die ihn Elektrizität und Magnetismus unmittelbar wahrnehmen ließen, denn da würde die Versuchung zu stark gewesen sein, die Menschen, die ihm aus irgendeinem Grunde nicht gefallen hätten, zu töten, und nur diejenigen Menschen auf der Erde zu lassen, die ihm recht waren.

So sehen wir, daß eigentlich erst die spirituelle Weltanschauung uns die Möglichkeit gibt, allseitig das Dasein zu betrachten und tiefer in dieses einzudringen. Wenn der Mensch wirklich so zum Geistes-forscher wird, wie das gestern im öffentlichen Vortrag nur flüchtig charakterisiert werden konnte, so kommt er wirklich in die geistige Welt hinein und wird dann gewahr, daß dort um ihn herum die höhe­ren Hierarchien sind wie hier um ihn herum die drei Naturreiche. Da lernen wir erkennen gewisse Wesenheiten, die wir die luziferischen und ahrimanischen Wesen nennen. Was sind denn die luziferischen Wesen für Kräfte? Es sind solche, die zu Wesenheiten gehören, die während der vorhergehenden Erdenverkörperung, in der alten Mondenzeit, in ihrer Entwickelung zurückgeblieben sind, also nicht eingetreten sind in die volle Verhärtung des Erdendaseins, in die der Mensch eingetre­ten ist, sondern die stehengeblieben sind auf einer Stufe, die vor der Vermaterialisierung des Menschen liegt. Dadurch sind sie mit ihren Kräften geistiger geblieben, als der Mensch ist. Sie haben es in ihrer Entwickelung nur bringen können bis zu einer Stufe, die geistiger ist als die Stufe, in der der Mensch seine irdischen Verkörperungen durch-macht. Indem diese nun mit ihren Kräften die menschliche Natur durchsetzt haben, haben sie bewirkt, daß diese menschliche Natur

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Geistigeres in sich hat, als sie eigentlich haben sollte. Wenn diese luzi­ferischen Kräfte nicht dagewesen wären, würde der Mensch in seinem Astralleibe in den gegenüber den bewußten Ich-Kräften untergeord­neten, unbewußten Kräften persönlich Durchgeistigtes haben, wie die luziferischen Kräfte es sind, aber nicht solche Kräfte, die er jetzt hat. In seiner niederen Natur ist der Mensch geistiger geworden durch den luziferischen Einfluß, als er sonst gewesen wäre. Der Mensch hätte alles dasjenige, was er auf der Erde hätte bekommen sollen, von den nur fortschreitenden Mächten erhalten, aber er wäre nicht so geistig, wie er heute ist. Er wäre ohne den luziferischen Einschlag.

Aber auch etwas anderes würde der Mensch nicht haben. Ohne die­sen Einfluß hätte der Mensch nicht die Freiheit haben können, denn er würde, wenn dieser luziferische Einfluß nicht gekommen wäre, alle seine Handlungen so ausführen, daß er, wenn er dieses oder jenes zu tun hätte, nur hätte hinschauen können auf die Motive, die ihm in der Gestalt von aus der geistigen Welt zufließenden Ideen zugekom­men wären. Was immer der Mensch auf der Erde vollbringen würde, er würde es so vollbringen, daß er sehen würde auf die Idee, die dem zu­grunde liegt wie ein Bild, das ihm zeigt, was zu geschehen hat, ohne daß er sich diese Idee zu bilden hätte. Es würde wie eine Eingebung sein aus den höheren Welten, und diese würde so auf ihn wirken, daß er ihr unmöglich widerstehen könnte. Er würde wie selbstverständlich dem Willen der Götter folgen.

Nun aber war der luziferische Einfluß da. Durch ihn ist der Mensch in die Lage gekommen, sich nicht einfach die Motive zu einer Tat zu­fließen zu lassen, sondern er muß sich diese Motive durch seine eigene Arbeit aus den Untergründen seiner Seele heraus erst selbst bereiten. Er muß sich erziehen zu sittlichen Ideen, und dieses Sich-Erziehen zu sitt­lichen Ideen, das würde der Mensch nicht können, wenn der luzife­rische Einfluß nicht gekommen wäre. Denn dadurch ist in unsere astrale Natur ein Geistigeres hereingekommen. Dadurch wirkt nicht nur im Ich-Bewußtsein die Idee der Sittlichkeit - die so wirken würde, daß es keinem Menschen einfallen würde, das Böse zu tun, da von göttlich-geistigen Wesenheiten die Idee des Guten für eine Handlung unmittel­bar vor sein geistiges Auge gestellt würde -, sondern es wirken mit die

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Triebe und Leidenschaften. Es würde diese Idee gar nicht im Ich-Be­wußtsein auftauchen können, wenn nicht seine astrale Natur, indivi­duell gestaltet durch den luziferischen Einfluß, ihr entgegentreten würde. Dieser luziferische Einfluß hat bewirkt, daß in unserer Natur, aus dem Unbewußten heraus zum Bewußtsein hin, die Läuterung ein­treten muß, daß wir uns zu bewußten sittlichen Ideen und Motiven heraufarbeiten müssen im Kampf mit uns selber, und diesen Ideen dann aus eigenem Antrieb folgen. So ist es Luzifer, der uns fähig macht, den sittlichen Ideen zu folgen, nachdem wir sie uns selbst erst erarbeitet haben.

Nun können wir sagen: Da gibt es also doch eine Kraft, die aus unserem Inneren aufsteigt, wenn wir uns zu sittlichen Ideen hinarbei­ten. Wo ist diese Kraft im Menschen, wenn der Mensch nicht ohne weiteres sittlich ist, sondern sich dazu erziehen muß; wo ist die Kraft, die da in der Seele aus dem Unbewußten heraus arbeitet, um sittliche Ideen vor den Menschen hinzustellen? Wo ist sie in uns, daß wir sie aus uns herausholen können? - Wenn der Mensch zum Geistesforscher wird, wenn er in die geistige Welt hineinzuschauen vermag, dann ent­deckt er auch, wo die Kraft ist, die sittliche Ideen erzeugt. Sie arbeitet fortwährend in den unbewußten Kräften, sie ist im Menschen, wird aber in der gewöhnlichen Welt zu etwas ganz anderem verwendet. Wenn wir in der gewöhnlichen Welt handeln, bevor wir uns sittliche Ziele gesetzt haben, handeln wir unter dem Einfluß unserer Triebe, Begierden und Instinkte. Wir können aber nur handeln, wenn wir un­seren Körper in Tätigkeit versetzen. Da arbeiten wir fortwährend mit unbewußten Kräften, denn wer weiß, wenn er sich nicht mit Geistes­wissenschaft befaßt hat, mit welchen Kräften man einen Arm beugt, einen Fuß vor den anderen setzt und so weiter? Was das für Kräfte sind, die da im Menschen wirken, das weiß man ohne Geisteswissenschaft nicht. Kein Mensch weiß, wie seine Bewegungen, wie alles, was da wirkt, daß er ein handelnder Mensch sein kann in der physischen Außenwelt, wie das zustande kommt und welche Kraft da wirkt. Das merkt erst der Geistesforscher, wenn er zur sogenannten imaginativen Erkenntnis kommt. Da macht man sich zunächst Bilder, die dadurch wirken, daß sie stärkere Kräfte aus der Seele heraus schöpfen, als sie

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sonst im gewöhnlichen Leben angewendet werden. Woher kommt denn diese Kraft, die die Bilder des imaginativen Erlebens in der Seele ent­fesselt? Sie kommt dorther, wo die Kräfte wirken, die uns zu einem handelnden Menschen in der Welt machen, die uns unsere Hände und Füße bewegen lassen. Weil das der Fall ist, kommt man nur zur Ima­gination, wenn man in Ruhe verbleiben kann, wenn man den Willen seines Leibes zum Stillstand bringen kann, ihn beherrschen kann. Dann merkt man, wie diese Kraft, die sonst die Muskeln bewegt, herauf-strömt in das Seelisch-Geistige und die imaginativen Bilder erbildet. Man vollbringt also eine Umlagerung der Kräfte. Da unten in den Tiefen des Leiblichen ist also etwas von unserem ureigensten Wesen, von dem wir im gewöhnlichen Leben nichts spüren. Dadurch, daß wir das Körperliche ausschalten, dringt der Geist, der sonst in unseren Handlungen zum Ausdruck kommt, herauf in die Seele und erfüllt diese mit dem, was sie sonst für das Körperliche verwenden muß. Der Geistesforscher weiß, daß er dasjenige dem Leibe entrücken muß, was sonst der Leib konsumiert. Für die imaginative Erkenntnis muß also das Leibliche ausgeschaltet werden. Im gewöhnlichen Leben, da den­ken wir zwar, da bilden wir uns die ich-bewußten Vorstellungen, aber die soeben besprochene Kraft strömt in unserem Organismus im Wach-bewußtsein in unsere Organe herab, wird da wirksam und wird in der Regel gar nicht dazu verwendet, in der Seele geistig sichtbar zu werden.

Wenn wir nicht Geistesforscher sind, haben wir über diese Kraft keine Gewalt, wir müssen sie da unten im Unterbewußtsein lassen, aber sie tut doch etwas, diese Kraft. Sie wirkt auf unsere moralischen Ideen. Wenn sie bewußt heraufströmt, erzieht man sich mittels dieser Kraft zu der imaginativen Erkenntnis; wenn sie nicht bewußt dazu verwendet wird, dient sie dem Menschen bei seinem Handeln in der Welt. Nun ist aber der Mensch nicht immer in Handlung, in Tätigkeit; dann wird unbewußt diese Kraft frei, die da unten sitzt, und sie arbei­tet dann auch an dem Zustandekommen der moralischen Ideen. Die­selbe Kraft also, welche die Glieder bewegt, die geistig den Leib durch­dringt, damit der Mensch greifen, gehen kann und so weiter, die macht sich bisweilen frei im menschlichen Leibe und erzeugt die sittlichen Ideale. Wenn man irgendwo einen sittlichen Denker bewundern kann,

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der einsam hohe Ideale ausbildet, so sieht man in diesen Idealen das Freiwerden derselben Kräfte, die in seinen Handbewegungen und so weiter spielen. Zum Ausbilden der sittlichen Ideale muß also der Mensch gewissermaßen erst zur Ruhe kommen.

Man kann aber auch sittliche Ideale ausbilden und ihnen dann nicht folgen, denn die Kräfte, die wir gebrauchen zum Ausbilden der sitt­lichen Ideen, gebrauchen wir auch dazu, uns zu bewegen und sie kön­nen für das eine und für das andere verwendet werden. Sittliche Ideale ausbilden, bedeutet noch nicht, sittlich zu sein. Erst ihnen folgen, heißt sittlich handeln. Die sittlichen Ideale tauchen dann wie Erinnerungen auf. Solange man sich noch zu ihnen erziehen muß, muß man die­selbe Kraft zu ihrer Erzeugung verwenden, welche man später braucht, um ihnen zu folgen. Wir tragen sie als Erinnerungsbilder in uns als unsere sittlichen Normen. Daher muß der Mensch zur Sittlichkeit er­zogen werden, damit diese Erinnerungsbilder als seine sittlichen Nor­men in ihm aufsteigen und er ihnen folgen kann.

Wer ist es denn, der da in uns wirkt, um diese sittlichen Ideale so aus unserer Natur hervorzuzaubern? Das ist Luzifer. Er nötigt uns, un­sere sittlichen Ideen, unsere freie Sittlichkeit aus uns selbst heraus zu er­zeugen. Luzifer verdankt es der Mensch, daß er seine sittliche Freiheit aus sich selber heraus erzeugen muß. Freiheit gibt es nicht in der Na­tur. Freiheit findet man nur, wenn man ausführt, zur Ausführung bringt, was als Geistig-Seelisches den Menschen durchdringt. Indem Luzifer in die niederen Begierden des Menschen eindrang, wurde er nicht nur der Verführer des Menschen, sondern zugleich der Schöpfer der menschlichen Freiheit. Durch Luzifers Impuls wurde der Mensch frei gemacht.

Wenn wir also die innerste Natur unseres physischen Leibes stu­dieren in der Weise, wie die Naturwissenschaft die Natur studiert, und dabei den logischen Gesetzen folgen, dann kommen wir zu diesem Ursprung der menschlichen Freiheit. Wenn heute ein Mensch sagen würde: An Magnetismus glaube ich nicht, ich sehe nur ein Eisen und das kann unmöglich ein anderes Eisen anziehen, das ist Phantasterei -, so widerlegt dieses die Lebenspraxis. Auf geistig-seelischem Gebiete be­nehmen sich die Menschen aber wohl so, daß sie die vorhandenen

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Kräfte leugnen. Luziferische Kräfte stecken in der Freiheit. Ohne diese luziferischen Kräfte könnten wir keine freien Wesen sein, könnten nie­mals aus unseren Seelentiefen heraus ethische Impulse entwickeln und uns nach ihnen richten. Verstehen wird man erst die Freiheit, wenn man verstehen wird, daß die physisch-sinnliche Natur des Menschen durch­zogen ist von einem Geistig-Seelischen, das sich schon äußert in der Handbewegung, das sich aber freimachen kann, bewußt in den Imagi­nationen des Geistesforschers, unbewußt in dem Vor-sich-Hinstellen der sittlichen Motive. Wenn wir auf unser Inneres sehen, lernen wir auch die gute Seite des Luzifer kennen, und man kann nicht länger sagen: Luzifer ist ein böses Wesen -, denn er ist zugleich auch der Brin­ger der menschlichen Freiheit.

Nun wandelt aber der Mensch auch noch andere Kräfte in seiner Seele zu leiblichen Verrichtungen um, zum Beispiel beim Sprechen, bei dem In-Bewegung-Bringen des Sprachorgans im Gehirn. Da sind wir nicht mit dem ganzen Körper in Aktion, aber indem wir vom Geistig-Seelischen aus die Organisation des physischen Leibes in Tätigkeit ver­setzen, vollbringen wir eine innere Tätigkeit. Wenn wir sprechen, grei­fen geistig-seelische Kräfte in das sogenannte Brocasche Organ, das sich in der dritten Gehirnwindung befindet, und dann in den Kehl­kopf ein. Wenn wir diese Kraft, die auf das Brocasche Organ einwirkt, gleichsam herausziehen aus dem Sprechen, wenn wir uns ihrer bewußt werden, ohne daß wir sie zum Sprechen verwenden, dann haben wir sie in ihrem Geistig-Seelischen erfaßt. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie meditieren so, daß Sie sich in die Kräfte Ihrer Seele versetzen, die sonst im Sprechen zum Ausdruck kommen, ohne zu sprechen, Sie blei­ben stumm. Wenn man so das Seelische gleichsam aufhält in seinem Inneren, bevor es in das Körperliche eingreift, so hat man eine Kraft in sich erfaßt, die zu der sogenannten Inspiration führt, zu dem gei­stigen Hören. Darauf beruht der okkulte Ausspruch von der soge­nannten «schweigenden Erkenntnis». Ein solches Schweigen ist da ge­meint, bei welchem man die Kräfte, die sonst in den Kehlkopf fließen, innerlich verwendet. Da dringen diese in das Seelische hinein und ma­chen die Seele innerlich regsam. So dringt man ein in die Welt der In­spiration.

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Diese Welt der Inspiration ist im Grunde zunächst, wenn der Gei­stesforscher in sie eintritt, eine Welt, die getrennt ist von der Welt der bloßen Imagination. Sie ist eine Welt, durch welche andere Wesen­heiten der geistigen Welten sich uns kundgeben. In unserem Zeiten-zyklus ist es so, daß wie durch eine Naturnotwendigkeit immer mehr auch im Menschen unbewußt solche Kräfte zur Geltung kommen, die sonst nur in den Organen des physischen Leibes und deren inneren Tätigkeiten sich ausleben.

Wenn nun im Menschen wie naturgemäß die Kraft wirkt, die er sonst im Sprechen gebraucht, dann setzt ihn diese Kraft instand, ein Geistiges wahrzunehmen, was einer Inspiration entspricht. Das ist etwas anderes, als wenn man die Bilder wahrnimmt in der imaginativen Er­kenntnis mit dem Auge des wahren Sehers. Diese Kraft, die in un­seren moralischen Ideen wirkt, läßt uns die gute Seite der luziferischen Wesen erkennen. Wenn wir wahrnehmen können mit dieser Kraft, die sonst zum Sprechen verwendet wird, dann treten wir in die Sphäre ein, für die, ohne alles religiöse Vorurteil, das Johannes-Evangelium uns das richtige Verständnis gibt, indem es sagt: «Im Urbeginne war das Wort.» - Dieses «Wort» vernimmt man, wenn man das eigene Wort, die eigene Leiblichkeit so abdämpfen kann, daß man die Kraft, die sonst durch den Kehlkopf spricht, vor dem Kehlkopf aufhalten kann und sie dadurch frei wird.

Was war also das Hindernis, das machte, daß die Menschen nicht von Anfang an das Weltenwort wahrgenommen haben? Das war, daß sie sprechen lernen mußten! Aber bei der Weiterentwickelung wird in der Tat aus der Sprache etwas sehr Merkwürdiges werden. Die Sprache hat sich im Laufe der Menschheitsentwickelung doch sehr verändert. Wenn man zu ursprünglichen Sprachstufen zurückgeht, da waren die Menschen noch unmittelbar verknüpft mit der Sprache. Sogar heute noch findet man auf dem Lande, daß der Mensch dort viel mehr in ihr lebt und webt, mit ihr verwachsen ist. Er fühlt noch, wenn er ein Wort ausspricht, daß darin etwas liegt wie eine Nachbildung dessen, was er um sich herum sieht. Je weiter die Menschheitsentwickelung vor-schreitet, um so abstrakter wird das Wort, es wird nur zum Zeichen dessen, was es ausdrücken soll. Die Sprache wird immer unorganischer,

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immer arabeskenartiger, immer fremder dem Menschen. Woher kommt das? In diesem Fremdwerden der Sprache von der inneren Bedeutung der Worte werden bloßgelegt diejenigen Kräfte, die früher dazu ver­wendet wurden, die Sprache auszubilden. Das hängt wiederum damit zusammen, daß bald eine geistige Wahrnehmung kommen wird von dem Christus-Wesen, eben weil der Mensch die sprachbildende Kraft frei bekommt. In älteren Zeiten war die Sprache eng verwachsen mit dem menschlichen Organismus, jetzt beginnt sie sich von diesem zu emanzipieren. Dadurch wird die sprachbildende Kraft frei und wird verwendet werden für das Wahrnehmen des Weltenwortes, des gei­stigen Christus.

So haben wir zwei Seiten der menschlichen Natur betrachtet; wie der Mensch auf der einen Seite die luziferische Kraft gebraucht in dem freien Erzeugen der sittlichen Ideale, und wie er auf der anderen Seite durch das Freiwerden der sprachbildenden Kraft - durch etwas also, was er mit der ganzen Menschheit teilt, da diese Kräfte innerhalb der ganzen Menschheit frei werden - die Kraft erlangt, den Christus gei­stig wahrzunehmen. Zu dem Christus-Impuls dringen wir, indem wir Angehörige des ganzen Menschengeschlechts sind. In demselben Maße, in dem die Sprache immer abstrakter wird und die Sprachkraft sich emanzipiert von dem Organismus in der menschlichen Natur, bereitet sich der Mensch vor, den geistigen Christus wirklich wahrzunehmen. Das ist die andere Seite der menschlichen Entwickelung. Während der Mensch durch den luziferischen Einfluß innerlich freier geworden ist, indem dieser ihm die Möglichkeit gab, sich seine sittlichen Ideen zu bilden, wird er wie durch eine äußere Gewalt sich die Fähigkeit er­werben, sich mit dem Christus zu verbinden. Der Christus wird an den Menschen so herantreten, daß er sein Wesen als den Inbegriff der sittlichen Ideen ausgießen wird über die ganze Menschheitsevolution. Die Christus-Wesenheit wird, wenn sie der ganzen Menschheit so be­kannt werden wird, in sich etwas haben von der Natur der moralischen Motive. Und da berühren wir etwas, was zeigt, daß Anthroposophie sich erheben kann zu etwas, was höchstes Wahrheitsgefühl vereinigen kann mit den edelsten moralischen Motiven. Ich habe in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit», das vor zwanzig Jahren abgeschlossen

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wurde, versucht zu zeigen, daß wirkliche Freiheit dann vorhanden ist in der Menschenseele, wenn der Mensch den moralischen Motiven folgt, die er in sein Bewußtsein heraufgehoben hat. Was ist die Natur dieser sittlichen Motive? Sie zwingen nicht, wir folgen ihnen ohne Zwang. Kein Motiv ist sittlich, das zwingt. Motive, denen wir aus Zwang folgen, sind aus der Außenwelt an uns herangebracht. Sittliche Motive sind daran erkennbar, daß wir ihnen auch nicht folgen können. Wir müssen uns von ihrem Wert durchdringen in freier Weise. Zu den ethisch sittlichen Motiven bekennt sich der Mensch nur dann in wahr­haft sittlicher Weise, wenn er zu ihnen geht, wenn sie sich ihm nicht aufdrängen. Das ist das Charakteristikon der sittlichen Motive. Der Christus, wenn ihn die Menschheit im Geiste erkennen wird, wird das gemeinschaftlich mit den ethischen Motiven haben, daß man ihn auch verleugnen kann, daß er keinen zur Anerkennung zwingt. Die alten Götter haben noch auf andere Kräfte der Menschenseele gewirkt. Sie haben den Menschen noch da erfaßt, wo er sich noch nicht zur Bewußt­heit heraufgeführt hatte. Der Christus aber wird dem Menschen be­wußt in seiner Geistigkeit erscheinen in dem Maße, als der Mensch sich im Bewußtsein frei gemacht hat und sich zu ihm erhoben haben wird. Er wird da sein für alle, die ihn erkennen wollen, ohne daß je­mand gezwungen wird, ihn anzuerkennen. Er wird so vor der Mensch­heit erscheinen, daß man ihm in freier Weise folgen kann. Wie ein sitt­liches Motiv den Menschen nicht zwingt, sondern ihn frei läßt, diesem Motiv zu folgen oder nicht, so wird es auch mit dem Christus-Wesen sein: daß der Mensch durchaus sich voll bewußt des Wertes dieses Chri­stus-Wesens sein muß, wenn er ihm folgen will. Die Anerkennung der Christus-Wesenheit wird in Zukunft für jeden einzelnen Menschen zu­gleich eine freie Tat seiner Seele sein. Das wird das unendlich Bedeu­tungsvolle sein, daß wir uns zu einer Wahrheit durchringen dürfen, die uns nicht zwingt, sie anzuerkennen, sondern die wir erst anerkennen, wenn wir ihren vollen Wert einsehen.

So wird in der Tat die Idee, die uns die Anthroposophie von dem Christentum gibt - das erst in seiner wahren Gestalt kommen wird -, eine Wahrheit an die Menschen heranbringen, die im eminentesten Sinne zugleich eine freie Wahrheit ist. Dem kann noch folgendes, in bildhafter

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Form Gegebenes, hinzugefügt werden, was dann durch Medi­tation weiter verstanden werden kann. Zweimal ist in der Mensch­heitsentwickelung dasselbe Wort gebraucht worden: Einmal bei der Paradiesesversuchung, als Luzifer zu dem Menschen sagte: «Ihr wer­det sein wie die Götter, eure Augen werden geöffnet werden.» Das ist der bildliche Ausdruck für den luziferischen Impuls. Luzifer hat da­mit die Geistigkeit in die niedere Natur des Menschen gegossen und dafür den Menschen die Möglichkeit gegeben, zur inneren Freiheit durch sittliche Motive zu kommen. Und ein zweites Mal wurde ge­sagt, jetzt von dem Christus: Seid ihr nicht Götter? - Dasselbe Wort! Daraus sieht man, daß es nicht nur ankommt auf den Inhalt eines Wortes, sondern auf das Wesen, das ein Wort ausspricht, auf die Art und Weise, wie ein Wort gesprochen wird. Da sieht man den notwen­digen Zusammenhang zwischen der Luzifertat und der Tat des Chri­stus auch in bildlicher Weise ausgedrückt, wie die religiösen Urkunden das zu tun pflegen.

Luzifer ist der Bringer der persönlichen Freiheit des einzelnen Men­schen, Christus ist der Träger der Freiheit des ganzen Menschenge­schlechtes, des ganzen Menschentums auf Erden. Das ist das Bedeut­same der Anthroposophie, daß sie uns lehrt, daß die Anerkennung des Christus-Wesens in solcher Weise geschehen wird, daß es dem Men­schen freisteht, den Christus anzuerkennen oder nicht, wie es dem Menschen freisteht, nicht moralisch zu sein.

Eine freie Wahrheit soll der Christus für die Menschenseele sein. Alle anderen Wahrheiten, welche der ganzen Menschheit angehören, zwingen uns. Es ruhen aber noch Wahrheiten im Weltenschoße, die gerade mit dem Mysterium von Golgatha zusammenhängen, deren Anerkennung freie Taten des Menschenwesens sein müssen und die diese Menschenwesenheit adeln und veredeln dadurch, daß sie aus freiem Willen von dem Menschenwesen anerkannt werden. So tief greift freie Wahrheit, die freie konkrete Wahrheit, in das sich auf der Erde entwickelnde Wesen des Menschen ein. Es zeigt sich uns, wie die Wahrheit, die in Freiheit gewonnen wird, zu den Grundgesetzen der menschlichen Entwickelung gehört.

Es hat sich uns gezeigt, wie die Freiheit erst durch den luziferischen

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Einfluß in die menschliche Entwickelung kommen konnte und daß der Mensch sich zunächst mit Hilfe dieses luziferischen Impulses zur Wahrheit erheben mußte. Da wurde die Menschheit zur Wahrheit noch gezwungen, man konnte nur durch Zwang die Wahrheit anerkennen. Das aber kann der Mensch als Ideal für die Zukunft ansehen, daß er sich in einer solchen Weise, wie hier dargelegt, zur Freiheit entwickeln und Wahrheiten in freier Weise anerkennen kann. Man könnte vieles über Anthroposophie sagen, aber etwas, was mit unserem Freiheitsbe­dürfnis inniger zusammenhängt, als das eben Ausgesprochene von der freien Wahrheit, wird es nicht leicht geben, etwas, was in der tiefsten, edelsten Weise sprechen muß von dem, was in unserer Menschheitsbe­stimmung liegt.

Wir fühlen erst, was Mensch sein heißt auf Erden, wenn wir wissen, was als bewußtes Ideal vor uns steht: das Ideal von der Freiheit und der Wahrheit, von der Wahrheit, die sich in der Freiheit einen äußeren Leib schaffen wird.

Über solche Ideen der Freiheit mußte zu Ihnen gesprochen werden gerade in dem Zeitpunkte, wo wir unsere eigene Befreiung als Anthro­posophische Gesellschaft gewonnen haben aus für uns unmöglich ge­wordenen Fesseln, um mit diesen Ideen eine empfindungsgemäße An­deutung zu geben über die Art, wie man überhaupt in einer Gesellschaft gesinnt sein sollte, die sich solche Ideale zum Ziele ihres Zusammen­seins macht.

Nun möchte ich noch in herzlichster Weise Ihnen sagen - wie alle Freunde, die von auswärts mit unseren schwedischen Freunden hier zu­sammengetroffen sind, es mit mir fühlen werden -, wie tief befriedi­gend es ist, und noch tiefer befriedigend am Schlusse unserer Veran­staltung, daß hier in diesem Lande dem, was hier vorgetragen werden konnte, ein so tiefes, gründliches Verständnis entgegengebracht wor­den ist, daß sich hier ein so gründliches Verständnis entwickelt hat für dasjenige, was wir mit der Begründung der Anthroposophischen Ge­sellschaft wollen. Und wahrhaftig, nicht um irgend etwas zu bekämp­fen, sondern in rechter Weise zu dienen unserem frei gefaßten anthro­posophischen Ideal, sei dies als Abschiedswort gewählt. Möge die Ge­sellschaft, die Sie unter sich begründet haben, noch vieles an Arbeit und

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Leistung beitragen zu dem, was wir heute besprechen durften in un­serem Vortrage über die Freiheit der Seele im Lichte geisteswissen­schaftlicher Erkenntnis. Möge durch diese Arbeit aus den spirituellen Welten dasjenige herabströmen, was dort schon wartend, hoffend vor­handen ist, was sicher für uns Menschen in Erfüllung gehen wird, wenn durch unsere Arbeit geleistet werden wird, was so ungeheuer bedeut­sam werden wird für die Entwickelung des spirituellen Strebens der Menschheit. Möge dies die Arbeit gerade dieses Zweiges sein! Mit die­sen Worten möchte ich zu Ihnen mein Abschiedswort gesprochen haben.

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ERDENWINTER UND SONNEN-GEISTESSIEG Bochum, 21. Dezember 1913

Zu unseren Freunden in Bochum sind eine Anzahl auswärtiger Freunde gekommen, um unter dem Weihnachtsbaum den hier begründeten Zweig unseres geistigen Strebens zu besuchen. Und zweifellos fühlen alle diejenigen, die von auswärts herbeigekommen sind, um heute zu­sammen mit unseren Bochumer Freunden den hier begründeten Zweig festlich einzuweihen, die Schönheit und die geistige Bedeutung des Entschlusses unserer Bochumer Freunde, hier in dieser Stadt, mitten in einem Felde materieller Tätigkeit, mitten in einem Felde, das ge­wissermaßen hauptsächlich dem äußeren Leben angehört, zu begründen diese Stätte geistigen Strebens und geistigen Fühlens. Und in vieler Beziehung kann uns gerade ein jeglicher unserer lieben Zweige, hier in dieser Gegend mehr als anderswo, ein Symbolum sein für die Bedeu­tung unserer Art anthroposophischen geistigen Lebens in der gegen­wärtigen Zeit und für die Zukunft der Entwickelung der Menschen­seelen.

Wir stehen wahrhaftig nicht in irgend etwas, das wir kritisierend, abfällig betrachten dürfen, wenn wir mitten in einem Felde modernster materieller Tätigkeit stehen, denn wir stehen da vielmehr auf einem Gebiete, das uns gerade zeigt, wie es im späteren äußeren Erdenleben immer mehr und mehr werden muß. Wir würden uns nur unverständig zeigen, wenn wir sagen wollten: Alte Zeiten, in denen man gewisser­maßen Wald und Wiese und das ursprüngliche Naturleben mehr um sich hatte als die Schornsteine der Gegenwart, sie möchten wieder her­aufkommen. - Man würde sich nur unverständig zeigen. Denn man würde beweisen, daß man keinen Einblick hat in dasjenige, was die Weisen aller Zeiten genannt haben «die ewigen Notwendigkeiten, in die der Mensch sich zu finden hat». Gegenüber dem die Erde über­deckenden materiellen Leben, wie es insbesondere das 19. Jahrhundert heraufgebracht hat und welches die späteren Zeiten in noch viel um­fassenderer Weise der Menschheit bringen werden, gegenüber diesem

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Leben gibt es keine aus einer Sympathie mit dem Alten genommene be­rechtigte Kritik, sondern gibt es einzig und allein die Einsicht, daß so das Schicksal unseres Erdenplaneten ist. Mag man die alten Zeiten von einem gewissen Standpunkte aus schön nennen, mag man sie betrachten wie eine Frühlings- oder Sommerzeit der Erde, zu wettern dagegen, daß auch andere Zeiten kommen, wäre ebenso unverständig, wie es un­verständig wäre, unzufrieden damit zu sein, daß auf den Frühling und Sommer Herbst und Winter folgen. Deshalb müssen wir es schätzen und lieben, wenn aus einem innerlich mutigen Entschlusse heraus un­sere Freunde gerade inmitten des allermodernsten Lebens und Treibens eine Stätte unseres geistigen Lebens schaffen. Und recht wird es sein, wenn alle diejenigen, die nur für den heutigen Tag diesem unserem Zweig ihren Besuch gebracht haben, weggehen mit dankbarem Her­zen gerade für die schöne, in echt geisteswissenschaftlichem Sinne ge­haltene Tätigkeit unserer Bochumer Freunde.

Das ist ja das so lieb-sympathische bei dem, was wir seit Jahren un­sere «Zweigeinweihungen» nennen, daß sich bei solchen Gelegenheiten zu dem Kreis, der sich an irgendeinem Orte zusammengetan hat, aus­wärtige Freunde, oftmals von weither, finden. Dadurch geschieht es, daß diese auswärtigen Freunde zunächst in unmittelbarer Anschauung entzünden können das innere Feuer ihrer Dankbarkeit, das wir hegen müssen für alle diejenigen, die solche Zweige gründen, und daß auf der anderen Seite diese auswärtigen Freunde mitnehmen können den le­bendigen Eindruck des Erlebten, der die Gedanken wach erhält, die wir dann von überallher der Arbeit eines solchen Zweiges zuwenden, damit diese Arbeit durch die schaffenden Gedanken von allen Seiten her fruchtbar werden kann. Wissen wir doch, daß das geistige Leben eine Wirklichkeit ist, wissen wir doch, daß Gedanken nicht nur das­jenige sind, was der Materialismus glaubt, sondern daß Gedanken le­bendige Kräfte sind, die, wenn wir sie in Liebe vereinigen zum Beispiel über irgendeiner Stätte unseres Wirkens, dort sich entfalten, dort Hil­fen sind.

Und überzeugt möchte ich sein dürfen, daß auch von diesem heu­tigen Beisammensein diejenigen, die ihren Besuch hierher gebracht ha­ben, mitnehmen den Impuls, oft und oft an die Stätte dieser unserer

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Arbeit zu denken, damit unsere Freunde hier fühlen können, wenn sie still unter sich beisammensitzen, sich vertiefend in dasjenige, was uns durch der Hierarchien Gnade an geistigen Erkenntnissen wird, damit unsere Freunde, wenn sie still wieder allein beisammensitzen, das Ge­fühl hegen dürfen, daß von allen Seiten her in ihren Arbeitsraum, ihren geistigen Arbeitsraum, die schaffenden Gedanken kommen.

Hinschauen auf dasjenige, was ist, und nicht eine unberechtigte Kri­tik am Sein üben, das lernen wir ja allmählich gerade durch unsere anthroposophische Weltanschauung. Ganz zweifellos müssen wir uns gestehen, die Erde macht eine Entwickelung durch. Und wenn wir, mit unseren anthroposophischen Kenntnissen ausgerüstet, ja schon wenn wir verständig mit dem, was wir außerhalb der anthroposophi­schen Kenntnisse wissen können, zurückblicken in frühere Zeiten der Erdenentwickelung, so erscheinen uns frühere Zeiten gegenüber der Erde, die durchfurcht ist von Eisenbahnen und durchsetzt ist von Tele­graphendrähten, die durchwallt wird von jenen elektrischen Strömen -so erscheinen uns diese Zeiten der Erde wie die Frühlings- und Sommer­zeit, und die Zeiten, in die wir eintreten, wie die Herbst- und Winter­zeit der Erde. Aber nicht ist es an uns, darüber zu klagen, sondern an uns ist es, dies eine Notwendigkeit zu nennen. Ebensowenig ist es an uns zu klagen, wie es nicht an dem Menschen ist zu klagen, wenn der Som­mer zu Ende geht, daß Herbst und Winter kommen.

Wenn aber der Herbst und der Winter kommen, dann rüstete sich seit langen Jahrhunderten die Menschenseele, um das Zeichen für das Eintreten des lebendigen Wortes in die Erdenentwickelung in der Tiefe der Winternacht aufzurichten. Und damit zeigte das Menschenherz, zeigte die Menschenseele, daß geschaffen werden muß jenes Lebendige, das der Sommer von außen ohne des Menschen Zutun gibt, durch menschliches Zutun aus dem Inneren heraus.

Erfreuen uns die sprießenden, sprossenden Frühlingskräfte, die von sanften Sommerkräften, ohne unser Zutun, von außen abgelöst werden, deckt uns der Winter mit seiner Schneedecke dasjenige zu, was uns sonst, ohne unser Zutun, während des Sommers erfreut und immer er­neut den Beweis bringt, daß göttlich-geistige Kräfte durch die Welt walten, so erhalten wir uns während der kalten finsteren Winterzeit

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dasjenige, was in den Winter hineingestellt ist als die sommerliche Zu­kunftshoffnung, die uns besagt, daß, so wie es nach jedem Winter Frühling und Sommer wird, so auch einstens, wenn die Erde an ihrem Ziel angelangt sein wird im Kosmos, wiederum ein neuer geistiger Früh­ling und Sommer kommen werden, die unsere schaffenden Kräfte mit-gestalten. So errichtet sich das Menschenherz das Zeichen von dem ewig lebendigen Leben.

In eben diesem Zeichen von dem ewig lebendigen geistigen Leben fühlen wir uns heute vereinigt mit unseren Bochumer Freunden, ihren vor einiger Zeit hier gegründeten Zweig einzuweihen. Schön ist es, daß wir ihn gerade vor dem Weihnachtsfeste einweihen können.

Es wird vielleicht manchem, der zunächst oberflächlich hört von alldem, was über den Christus Jesus durch unsere Geisteswissenschaft erkundet wird, was sich ihr offenbart über den Christus Jesus, es wird manchem vielleicht, der oberflächlich hinschaut, so erscheinen, als ob wir anstelle der früheren Einfachheit und Kindlichkeit des Weih­nachtsfestes mit seiner Erinnerung an die schönen Szenen des Matthäus-und Lukas-Evangeliums, etwas ungeheuer Kompliziertes setzen wür­den. Müssen wir doch die Menschenseele darauf aufmerksam machen, daß im Beginn unserer Zeitrechnung zwei Jesusknaben eingetreten sind in die irdische Entwickelung, müssen wir doch davon sprechen, wie das Ich des einen Jesusknaben herüberzog in die Leiber des anderen Jesus-knaben, müssen davon sprechen, daß im dreißigsten Jahre des Jesus-lebens sich die Christus-Wesenheit herabsenkte und drei Jahre in den Hüllen des Jesus von Nazareth lebte. Es könnte leicht scheinen, als ob all die Liebe, die Innigkeit, die die Menschen durch Jahrhunderte zu ihrem Heil aufzubringen wußten, wenn ihnen vorgeführt wurde das Jesuskind in der Krippe, umgeben von den Hirten, wenn zu ihren Ohren tönte das wunderbar eindringliche Weihnachtslied, wenn die Weihnachtsspiele da und dort gefeiert wurden, wenn die das kindlich­ste Herz erfreuenden Lichter am Tannenbaum erschienen, es könnte scheinen, daß gegenüber alidem, was so unmittelbar im Schauen das menschliche Herz zur Innigkeit, zur Frommheit, zur Liebe entzündet, als ob demgegenüber erlöschen müßte das warme Gefühl, die warme Empfindung, wenn man erst aufzunehmen hat die komplizierten Ideen

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von den beiden Jesusknaben, von dem Hinübergehen des einen Ich in die Leiber des anderen, von dem Heruntersenken einer göttlich-geistigen Wesenheit in die Leibeshüllen des Jesus von Nazareth. Doch dürfen wir uns solchen Gedanken nicht hingeben, denn schlimm wäre es, wenn wir nicht auf diesem Gebiet dem Gesetz der Notwendigkeit uns fügen wollten.

Ja, meine lieben Freunde, in den Orten; die draußen lagen am Wal­desrand oder inmitten der Äcker und Wiesen, zu denen herunter und hinein sprachen die schneebedeckten Berge und Fernen oder die wei­ten Ebenen und Seen, in jenen Orten, die nicht durchzogen waren von Schienensträngen und Telegraphendrähten, da konnten die Herzen wohnen, die unmittelbar entzündet waren, wenn die Krippe auferbaut wurde, und wenn erinnert wurde an dasjenige, was das Matthäus- und Lukas-Evangelium von der Geburt des wunderbaren Kindleins er­zählte. Was in diesen Erzählungen enthalten ist, was geschehen ist auf Erden so, daß diese Erzählungen davon Zeugnis sind, das lebt und wird weiter leben. Nur braucht eine Zeit, welche eintritt, wir dürfen sagen, in den «Erdenwinter», eine Zeit der Eisenbahnen und Telegra­phendrähte und der Essen, stärkere Kräfte in der Seele, um gegenüber dem äußeren Mechanismus, gegenüber der äußeren Materialität, Wärme und Innigkeit im Herzen zu entzünden. Es muß die Seele erstarken, um von der Wahrheit dessen, was geschehen ist zur Vorbereitung des My­steriums von Golgatha, innerlich so überzeugt zu sein, daß es fest im Herzen lebt, wie auch äußerlich die mechanische Naturordnung in das Erdensein eingreifen möge. Anders durfte die Kunde von dem Kinde in Bethlehem dringen in die Seelen, die am Waldesrand, an Berges-hängen, an den Seen und inmitten der Äcker und Wiesen wohnen durf­ten, anders muß die Kunde dringen von dem gleichen Wesen zu den­jenigen, welche den neueren Daseinsbedingungen gewachsen sein müssen.

Aus diesem Grunde geben uns für die heutigen Tage diejenigen, die wir nennen die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen von jenen höheren Zusammenhängen Kunde, die wir beachten müssen, wenn von dem Kinde von Bethlehem die Rede ist. Wir stehen dann mit unseren neueren Erkenntnissen nicht minder see­lenerfüllt vor dem Weihnachtsbaum, weil wir anderes noch wissen

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müssen, als frühere Zeiten gewußt haben. Im Gegenteil, wir lernen besser verstehen diese früheren Zeiten, wir lernen verstehen, warum die Zukunftshoffnung und die zukunftssichere Freude aus den Augen sprach von jung und alt am Weihnachtsbaum und an der Krippe. Wir lernen verstehen, wie da noch mehr lebte, als was man so unmittelbar sehen konnte, wenn wir in unserem Sinne die Gründe uns darlegen, warum wir so tiefe, innige Liebe empfinden zu dem Kinde von Bethle­hem. Den einen der Jesusknaben, den aus der nathanischen Linie des Hauses David, wir dürfen ihn im schönsten Sinne, im allerschönsten Sinne nennen «das Kind der Menschheit, das Menschenkind». Denn, was fühlen wir denn gegenüber diesem Kinde, dessen Wesenheit hin­durchglänzt noch durch die Schilderungen des Lukas-Evangeliums?

Die Menschheit hat ihren Ursprung genommen mit dem Erdenur­sprung. Aber viel ist über die Menschheit hingegangen im Laufe der lemurischen, der atlantischen und nachatlantischen Zeit. Und wir wis­sen, daß dies ein Abstieg war, daß vorhanden war für die Menschheit in der Urzeit ein Urwissen und Urschauen, ein Urzusammenhang mit den göttlich-geistigen Kräften, ein altes Erbgut eines Wissens des Zu­sammenhanges mit den Göttern. Immer mehr hat sich herabgestimmt dasjenige, was so aus göttlichen Wesenheiten in den Seelen der Men­schen lebte. Die Menschen sind geworden so, daß sie im Laufe der Zeit immer weniger durch ihr unmittelbares Wissen ihren Zusammenhang mit dein göttlich-geistigen Urgrunde fühlten. Immer mehr wurden sie gewissermaßen herausgeworfen auf das Feld des bloßen materiellen Schauens, des Sinnenseins. Nur noch im anfänglichen Menschenleben, im Kindesleben wußte man die Unschuld zu verehren, zu lieben, die Unschuld des Menschen, der noch nicht aufgenommen hat die Nieder­gangskräfte der Erde.

Wie sollte man aber, da wir jetzt wissen, daß mit dem einen der Jesusknaben eine Wesenheit auf die Erde kam, welche vorher nicht auf der Erde als solche war, welche eine Seele war, die nicht mitgemacht hat die übrige Erdenentwickelung der Menschheit - die ich ja darge­stellt habe in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» -, die gleichsam zurückgehalten war in dem unschuldigen Zustand vor der luziferischen Versuchung, daß eine solche Seele, eine in einem viel, viel höheren Sinne

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als man gewöhnlich meint, kindliche Menschenseele, zur Erde gekom­men ist, wie sollte man nicht diese Menschenseele erkennen als «das Kind der Menschheit»? Was wir Menschen selbst im zartesten Kindes­alter nicht mehr an uns haben dürfen, weil wir ja in uns tragen die Ergebnisse unserer früheren Inkarnationen, was wir in keinem von uns noch erkennen können, selbst in dem Augenblicke nicht, wenn wir die Augen zuerst aufschließen auf dem Erdenfelde, in dem Kinde stellt es sich dar, das als der Lukas-Jesusknabe die Erde betrat. Denn es war ja in diesem Kinde eine Seele, die vorher nicht auf Erden aus einem Men­schenleibe geboren worden war, die von den Menschenseelen zurück­geblieben war, als die Menschheitsentwickelung auf der Erde von neuem begann, die dazumal, im Beginn unserer Zeitrechnung, ganz im Kindheitsstadium des Menschen auf Erden erschien. Daher jenes wun­derbare Ereignis, das uns die Akasha-Chronik enthüllt, daß dieses Kind, der nathanische Jesusknabe, unmittelbar nach seiner Geburt nur seiner Mutter verständliche Laute hervorbrachte, Laute, die nicht ähn­lich waren einer der gesprochenen Sprachen der damaligen Zeit oder irgendeiner Zeit, aus denen aber herausklang für die Mutter etwas wie eine Botschaft aus Welten, die nicht die Erdenwelten sind, eine Bot­schaft aus höheren Welten. Daß dieses Jesuskind sprechen konnte, bei seiner Geburt alsbald sprechen konnte, das ist das Wunderbare!

Dann wuchs es heran so, als ob es konzentriert in seiner eigenen Wesenheit all dasjenige enthalten sollte, was an Liebe und Liebefähig­keit gewissermaßen alle Menschenseelen zusammen aufbringen konn­ten. Und die große Genialität der Liebe, das war es ja, was in dem Kinde lebte. Nicht lernen konnte es viel von dem, was Menschenkultur errungen hat im Erdenleben. Was im Lauf von Jahrtausenden errungen worden war von den Menschen, das konnte der nathanische Jesus-knabe bis zu seinem zwölften Jahre wenig erleben. Weil er es nicht konnte, ging dann das andere Ich in ihn über in seinem zwölften Jahre. Aber alles dasjenige, was er berührte von frühester, zartester Kindheit an, war von der vervollkommneten Liebe berührt. Alle Eigenschaften des Gemütes, alle Eigenschaften des Gefühls, sie wirkten so, wie wenn der Himmel die Liebe auf die Erde gesendet hätte, damit in die Winter­zeit der Erde hineingetragen werden könne ein Licht, das in die Dunkelheit

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der menschlichen Seele leuchtet, wenn die Sonne während dieser Winterzeit ihre volle äußere Kraft nicht entfaltet. Wenn später der Christus einzog in dieses Menschen Hülle, so müssen wir eingedenk sein, daß diese Christus-Wesenheit sich auf Erden nur verständlich machen konnte dadurch, daß sie zu wirken hatte durch diese Hüllen hindurch.

Die Christus-Wesenheit ist kein Mensch. Die Christus-Wesenheit ist eine Wesenheit der höheren Hierarchien. Auf Erden mußte sie drei Jahre als Mensch unter Menschen leben. Dazu mußte ihr ein Mensch entgegengeboren werden von der Art, wie es von mir öfter geschildert worden ist für den nathanischen Jesusknaben. Und weil dieses Men­schenkind nicht hätte aufnehmen können - da es ja vorher nicht betre­ten hatte die Erde, nicht hatte die Vorbildung früherer Inkarnationen-, weil es nicht hätte aufnehmen können, was äußere Kultur erarbeitet hat auf Erden, so ging in dieses Kind ein eine Seele, die in höchstem Sinne sich das erarbeitet hatte, was äußere Kultur bringen kann: die Zarathustra-Seele.

Und so sehen wir den wunderbarsten Zusammenhang, als dann der Christus Jesus vor uns steht. Wir sehen das Zusammenwirken von die­sem Menschenkinde, das des Menschen beste Erdenanwartschaft, die Liebe, herübergerettet hatte aus den Zeiten, in welchen der Mensch noch nicht der luziferischen Versuchung verfallen war, bis zum Be­ginn unserer Zeitrechnung, wo es zum erstenmal verkörpert auf Erden erschien, mit dem entwickeltsten Menschheitspropheten, mit Zara­thustra, und mit jener geistigen Wesenheit, die ihre eigentliche Heimat bis zum Mysterium von Go] gatha innerhalb der Reiche der höheren Hierarchien hatte, und die dann ihren Schauplatz auf Erden zu neh­men hatte, indem sie durch das Tor der Leiber des Jesus von Nazareth einzog in ihr Erdendasein. Dasjenige, was auf Erden das Höchste ist, und was wir nur in der Anlage in seiner Reinheit erschauen können in dem noch unschuldigen Blicke des Menschenwesens, aus dem Auge des Kin­des, das brachte im allerhöchsten Maße das Menschenkind mit. Das­jenige, was auf Erden als Höchstes erreicht werden kann, das trug Za­rathustra zu diesem Menschenkind bei. Und dasjenige, was die Himmel geben konnten der Erde, damit die Erde geistig empfange, was sie in

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jedem Sommer neu empfängt durch die verstärkte Kraft der Sonne, das empfing die Erde durch die Christus-Wesenheit.

Man wird nur verstehen lernen müssen, was mit der Erde alles ge­schehen ist. Und für unsere kommenden Zeiten wird die Seele schwellen können in Innigkeit, wird die Seele sich erkraften können durch eine Kraft, die stärker sein wird als alle Kräfte, die bisher sich angeschlos­sen haben an das Mysterium von Golgatha, in einer Zeit, die äußerlich wenig unterstützen kann das Erstarken jener Kräfte, die sich hinnei­gen zu des Menschen wahrer Quellkraft, zu des Menschen innerster Wesenheit, zum Verständnis dessen, wie diese Wesenheit erfließt aus dem Geistig-Kosmischen. Aber wir müssen uns erst, um solches voll zu verstehen, wiederum so zu verstehen, wie man einstmals verstand das Jesuskind am Weihnachtstage, wir müssen uns erst aufschwingen zur Erkenntnis des Geistes. Zeiten werden kommen, wo man gewisser­maßen mit dem Auge der Seele hinschauen wird auf das Erdengesche­hen. Dann wird man so manches sich sagen, was man sich heute in weitesten Kreisen noch nicht sagen kann, wozu uns heute nur die Gei­steswissenschaft befähigt, so daß wir uns manches schon sagen können, was man sich heute in weitesten Kreisen noch nicht sagen kann.

Wir sehen den Frühling heraufziehen. Wir sehen während des heran­kommenden Frühlings die aus der Erde sprießenden, sprossenden Pflan­zen. Wir fühlen unsere Freude sich entflammen an dem, was da aus der Erde herauskommt. Wir fühlen die Kraft der Sonne stärker und stärker werden bis zu jener Höhe, wo sie unsere Leiber jauchzen macht, bis zur Johanni-Sonne, die gefeiert wurde in den nordischen Mysterien. Die Eingeweihten dieser Mysterien, sie wußten, daß die Johanni-Sonne sich über die Erde mit ihrer Wärme und ihrem Licht ergießt, um das Walten des Kosmos im Umkreise der Erde zu offenbaren. Wir schauen, wir fühlen das alles.

Wohl schauen und fühlen wir während dieser Zeit auch noch an­deres. Es krachen manchmal hinein Blitze und Donner in die Strahlen der Frühlingssonne, wenn Wolken diese Strahlen überziehen. Es ergie­ßen sich unregelmäßig die Regengüsse über die Oberfläche der Erde. Und wir verspüren dann die unendliche, durch nichts zu beeinflussende harmonische Regelmäßigkeit des Sonnenganges, und die - nun, brauchen

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wir das Wort - wetterwendische Wirksamkeit der Entitäten, die auf der Erde wirken als Regen und Sonnenschein, als Gewitter, als an­dere Erscheinungen, die abhängen von allem möglichen unregelmäßigen Treiben, gegenüber dem durch nichts zu beeinflussenden regelmäßigen, harmonischen Wirken des Sonnenganges und seiner Folgen für die Ent­wickelung der Pflanzen und alles dessen, was auf der Erde lebt. Unend­lich regelmäßige Harmonie der Sonnenwirksamkeit und das Wetter­wendische wie Launische desjenigen, was unmittelbar in unserer Atmo­sphäre vorgeht, wir fühlen das wie eine Zweiheit.

Dann aber, wenn der Herbst naht, fühlen wir das Absterben des Lebendigen, das Hindorren desjenigen, was uns erfreut. Und haben wir ein Mitgefühl mit der Natur, so werden unsere Seelen vielleicht traurig über die absterbende Natur. Die weckende, liebende Kraft der Sonne, dasjenige, was regelmäßig, harmonisch das Weltenall durch-wallt, wird gleichsam unsichtbar, und dasjenige, was wir als das Wetter­wendische bezeichneten, das siegt dann. Es ist wahr, was noch frühere Zeiten wußten, was unserer Materialität aus dem Bewußtsein geschwun­den ist: daß zur Winterzeit der Egoismus der Erde siegt gegenüber den Kräften, die, durchdringend unsere Atmosphäre, aus dem weiten Wel­tensein auf unsere Erde herniederströmen und das Leben auf unserer Erde erwecken.

Und wie eine Zweiheit erscheint uns so die ganze äußere Natur. Ganz verschieden das Frühlings- und Sommerwirken und das Herbst-und Winterwirken. Wie wenn die Erde selbstlos würde und sich hin­geben würde der Umarmung des Weltenalls, aus dem ihr die Sonne Licht und Wärme zusendet und ihr Leben erweckt, wie ihre Selbst-losigkeit zeigend erscheint uns die Frühlings- und Sommererde. Wie ihren Egoismus zeigend, aus sich selber hervorzaubernd alles dasje­nige, was sie in ihrer eigenen Atmosphäre enthalten und hervorbrin­gen kann, so steht die Herbst- und Wintererde vor uns. Besiegend das Sonnenwirken, das Weltallwirken durch den Egoismus des irdischen Wirkens, so erscheint uns die Wintererde.

Und wenn wir mit dem Auge, das uns die geistige Forschung eröff­nen kann, von der Erde weg und auf uns selber sehen, wenn wir über­haupt über das Materielle hinaus zu dem Geistigen schauen, dann erblicken

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wir noch etwas anderes. Wir wissen es: Ja, in dem, was im Früh­lings- und Sommerringen um uns herum sich abspielt, und was so aus­sieht, als wenn nur in die Entfaltung der Sonnenkräfte hineinwirkten die wetterwendischen Kräfte der Erdenatmosphäre, in dem leben die elementarischen Geister, in dem leben unzählige geistige Wesenheiten, die in dem Elementarreich die Erde umspielen, niedere Geister, höhere Geister. Niedere Geister, die erdgebunden sind in dem elementarischen Reich, die es erdulden müssen während der Frühlings- und Sommer­zeit, daß die höheren Geister, die aus dem Weltenall herniederströmen, eine größere Herrschaft ausüben, sie zu Dienern machen des Geistes, der von der Sonne herabströmt, zu Dienern machen die dämonischen Kräfte, die im Egoismus der Erde selber walten. Wir sehen während der Frühlings- und Sommerzeit der Erde, wie die Geister der Erde, der Luft, des Wassers, des Feuers Diener werden der kosmischen Geister, die ihre Kräfte herabsenden auf die Erde. Und verstehen wir den gan­zen geistigen Zusammenhang der Erde und des Kosmos, dann gehen unseren Seelen während des Frühlings und Sommers diese Beziehungen auf und wir sagen uns: Du, Erde, zeigst uns dich selber, indem du dir die Geister, welche Diener des Egoismus sind, zu Dienern des Welten-alls, der kosmischen Geister machst, die das Leben hervorzaubern aus deinem Schoße, das du selbst nicht hervorzaubern könntest!

Dann schreiten wir der Herbst- und Winterzeit entgegen. Und dann spüren wir den Egoismus der Erde, spüren, wie mächtig jene Gei­ster der Erde werden, die an diese Erde selber gebunden sind, die sich losgelöst haben vom Weltenall seit Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, spüren, wie sie sich abschließen gegenüber dem Wirken, das aus dem Kosmos hineinströmt. Wir fühlen uns in der egoistisch sich erlebenden Erde. Und dann halten wir vielleicht Einschau in uns selbst. Da prüfen wir unsere Seele mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen, prüfen sie ernstlich und fragen uns: Wie tauchen aus den Untergründen unserer Seele Gedanken auf? Wie tauchen erst unsere Gefühle, Affekte und Empfindungen auf? Haben sie jene Regelmäßigkeit, mit der die Sonne durch das Weltenall zieht und der Erde die aus ihrem Schoß hervor­sichzaubernden Lebenskräfte leiht? - Das haben sie nicht. Die Kräfte, die in unserem Denken, Fühlen und Wollen sich zeigen im Alltag, sie

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sind schon ihrer Außenseite nach ähnlich dem wetterwendischen Trei­ben in unserer Atmosphäre. So wie Blitz und Donner hereinbrechen, so brechen die menschlichen Leidenschaften herein in die Seele. So wie kein Gesetz regelt Regen und Sonnenschein, so brechen die mensch­lichen Gedanken aus den Tiefen der Seele herauf. Mit dem, wie Wind und Wetter wechseln, müssen wir äußerlich schon unser Seelenleben vergleichen, nicht mit der Regelmäßigkeit, mit der die Sonne unsere Erde beherrscht. Da draußen sind es die Luft- und Wassergeister, die Feuer- und Erdgeister, die da wirken im elementarischen Reiche, und die eigentlich den Egoismus der Erde darstellen. In uns selber sind es die elementarischen Kräfte. Aber diese wechselnden Kräfte in uns, die unser Alltagsleben regeln, das sind Embryonen, sind Keimwesen, die, nur als Keim, aber doch als Keim gleichen den elementarischen Wesen, die draußen in allem Wetterwendischen enthalten sind. Wir tragen die Kräfte derselben Welt in uns, indem wir denken, fühlen und wollen, die als dämonische Wesen im elementarischen Reich in Wind und Wet­ter draußen leben.

Als die Zeiten herannahten, in denen die Menschen, die an der Zei­tenwende der alten und neuen Zeit standen, fühlten: Es kommt eine solche Zeit, die an die Winterzeit der Erde erinnert -, ja da gab es un­ter diesen Menschen solche Lehrer, solche Weise, die die Zeichen der Zeit zu deuten verstanden, welche aufmerksam machten darauf: Wenn auch unser inneres Seelenleben gleicht der wetterwendischen Wirk­samkeit der Außenwelt und so wie da der Mensch weiß: Hinter dieser Wirksamkeit der Außenwelt, besonders im Herbst und Sommer, scheint doch die Sonne, lebt und webt die Sonne im Weltenall, sie wird wieder kommen -, so darf der Mensch auch festhalten an dem Gedanken, daß gegenüber seinem eigenen Wetterwendischen, das in seiner Seele lebt, eine Sonne vorhanden ist, tief, tief in jenen Gründen, wo der Quell unserer Seele sprudelt aus dem Quell der Welt selber. Darauf haben aufmerksam gemacht die Weisen an der Zeitenwende, daß so, wie die Sonne wieder erscheinen und ihre Kraft wieder gewinnen muß ge­genüber dem Egoismus der Erde, so auch aus jenen Tiefen unserer Seele heraus Verständnis sich wird entwickeln müssen für das, was zu dieser Seele herandringen kann aus den Quellen, wo diese Seele in

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ihrem Leben selber zusammenhängt mit der geistigen Sonne der Welt, so wie das Erdenleben mit der physischen Sonne der Welt zusammen­hängt.

Erst war dies ausgesprochen wie eine Hoffnung, indem man hin­wies auf das große Symbolum, das die Natur selber darbot. Es wurde so ausgesprochen, daß man für jene Tage, wo die Sonne wieder ihre Kraft bekommt, die Wintersonnenwende zur Feier ansetzte, die Zeit, von der man sich sagte: Und wie sich auch mag der Egoismus der Erde entfalten, sieghaft ist die Sonne über den Egoismus der Erde. Es drin­gen hinein wie durch das Dunkel einer Weihenacht in die Welt der elementarischen Geister, die den Egoismus der Erde darstellen, die Geister, die von der Sonne herüberkommen und die uns zeigen, wie sie die egoistischen Geister der Erde zu ihren Dienern machen.

Erst fühlte man es wie eine Hoffnung. Und als der große Zeiten-wendepunkt gekommen war, wo wirklich sonst Trostlosigkeit und Öde in den Menschenseelen hätten erscheinen müssen, da bereitete sich das Mysterium von Golgatha vor. Da zeigt sich auf dem geistigen Ge­biet: Ja, im Inneren des Menschen leben solche Kräfte, welche nur zu vergleichen sind mit den wetterwendischen Kräften der Erdenatmo­sphäre, mit dem Erdenegoismus. Sie zeigten sich in alten Zeiten, wo die Menschen noch das Erbstück aus den alten Götterkräften in sich trugen, wie jene Kräfte, die im Frühling und Sommer sich zeigen: sie waren Diener der alten Götterhierarchien. Aber in der Zeit, da es ge­gen das Mysterium von Golgatha hinging, wurden die inneren Kräfte der Menschenseelen immer mehr und mehr so, wie die äußeren dämo­nischen elementarischen Geister im Herbst und Winter sind. Entreißen sollten sich diese unsere Kräfte den alten Götterströmungen und Wirk­sankeiten, wie sich im Winter entziehen die wetterwendischen Kräfte unserer Erde dem Sonnenwirken. Und da trat denn für den Menschen in seiner Erdenentwickelung dasjenige ein, was man immer schon hof­fend symbolisch sich darstellte in dem Sieg der Sonne über die Winter-kräfte, da trat ein die Weltenwinterwende, in der die geistige Sonne das durchmachte für die ganze Erdenentwickelung, was die physische Sonne zur Wintersonnenwende immer durchmacht. Das sind die Zei­ten, in die das Mysterium von Golgatha fiel.

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Zwei Erdenzeiten müssen wir wirklich unterscheiden. Eine Zeit vor dem Mysterium von Golgatha, wo es durch den Sommer der Erde ge­gen den Herbst zu geht, wo die inneren Kräfte der Menschen immer mehr und mehr den wetterwendischen Kräften der Erde ähnlich wer­den, und das große Weihnachtsfest der Erde, die Zeit des Mysteriums von Golgatha, wo hereinbricht über die Erde dasjenige, was ja aller­dings Winterzeit der Erde ist, aber wo aus der Dunkelheit heraus der sieghafte Geist der Sonne, der Christus, der Erde sich nähert, der den Seelen innerlich das bringt, was die Sonne äußerlich an Wachstums-kräften der Erde bringt.

So fühlen wir so recht unser ganzes menschliches Erdenschicksal, unser innerstes menschliches Wesen, wenn wir am Weihnachtsbaum stehen. So fühlen wir uns innig verbunden mit dem Menschenkinde, das Botschaft herüberbrachte aus jener Zeit, wo die Menschheit noch nicht der Versuchung und damit der Anlage zum Niedergang verfal­len war, das Botschaft brachte davon, daß ein Aufstieg wieder begin­nen werde, wie in der Wintersonnenwende der Aufstieg beginnt. Wir fühlen gerade an diesem Tage so recht die innige Verwandtschaft des Geistigen im Inneren der Seele mit dem Geiste, der alles durchwebt und durchwallt, der äußerlich sich ausdrückt in Wind und Wetter, aber auch in dem regelmäßigen, harmonischen Gang der Sonne, innerlich sich ausdrückt in dem Gang der Menschheit über die Erde hin, in dem großen Feste von Golgatha.

Sollte die Menschheit nicht gegen die Zukunft hin aus diesen Ge­danken heraus - die keine Gedanken bleiben sollten, die Gefühle und Empfindungen werden können -, eine neue Frömmigkeit entwickeln, eine innige innere Frömmigkeit, eine Frömmigkeit, welche sich nicht abstumpfen kann auch gegenüber dem äußersten Mechanismus, wie der sich immer mehr und mehr auf Erden entfalten muß? Sollten nicht wiederum Weihnachtsgebete, Weihnachtsgesänge möglich sein, auch in der abstrakt gewordenen, von Telegraphendrähten und Rauch erfüll­ten Erdenatmosphäre, wenn die Menschheit fühlen lernen wird, wie sie verbunden ist mit den göttlich-geistigen Mächten in ihren Tiefen, dadurch daß sie in ihren Tiefen ahnt das große Weihnachtsfest der Erde mit der Geburt des Lukas-Jesusknaben?

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Wahr ist es, was auf der einen Seite uns durch alle menschliche Er­dengeschichte tönt: daß einmal kommen mußte das große Weihnachts­fest der Erde, das das Osterfest von Golgatha vorbereitete. Wahr ist es, daß dieses einmalige Ereignis auftreten mußte als der Sieg des Son­nengeistes über die wetterwendischen Erdengeister. Wahr ist es auf der anderen Seite, was Angelus Silesius sagte: «Wird Christus tausendmal zu Bethiehem geboren, und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich ver­loren.» Wahr ist es, daß wir in uns finden müssen in jenen Tiefen un­serer Seele, das, wodurch wir den Christus Jesus verstehen.

Aber wahr auch ist es, daß anders in den Orten am Waldesrande, am Seeufer, umgeben von Bergen, die Menschen nach einem auf dem Acker und der Weide vollbrachten Sommer dem Symbolum des Christus-Kindes entgegenschauen durften, daß sie anderes noch in ihren Seelen fühlten als wir, die wir die Kraft, die Weihnachtsbotschaft zu empfin­den, auch fühlen müssen gegenüber unserer rauchigen, trockenen, ab­strakt-mechanisch gewordenen Zeit. Können in unseren Herzen diese starken Gedanken wurzeln, die uns die Geisteswissenschaft geben kann, dann wird eine Sonnenkraft aus diesen unseren Herzen hervorkommen, die imstande sein wird, hineinzuleuchten in die ödeste äußere Umge­bung, hineinzuleuchten mit der Kraft, die sein wird, wie wenn sich in unserem Inneren selber Licht auf Licht entzündete am Baume unseres Seelenlebens, den wir, weil seine Wurzeln die Wurzeln unserer Seele selbst sind, immer mehr und mehr in dieser Winterzeit selber zum Weih­nachtsbaume umgestalten sollen. Wir können es, wenn wir nicht bloß als Theorie, wenn wir als unmittelbares Leben in uns aufnehmen das­jenige, was uns die Botschaft des Geistes, was uns die wahre Anthropo­sophie sein kann. So wollte ich die Gedanken des Weihnachtsfestes aus unserer Geisteswissenschaft hineinholen in den Raum, den wir heute weihen wollen für die Arbeit, die ja schon seit längerer Zeit unsere lie­ben Freunde hier leisten.

Auf den Namen jener Gottheit, die im Norden angesehen wird als die Göttheit, die wiederbringen soll verjüngende Kräfte, geistige Kind­heitskräfte der altwerdenden Menschheit, zu dem hin sich neigen ge­rade nordische Seelen, wenn sie sprechen wollen von dem, was, vom Christus Jesus-Wesen ausfließend, unserer Menschheit neue Botschaft

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einer Verjüngung bringen kann, auf diesen Namen wollen unsere Freunde hier ihre Arbeit und ihren Zweig weihen. «Vi dar-Zweig» wol­len sie ihn nennen. Möge dieser Name verheißungsvoll sein, wie verhei­ßungsvoll für uns ist, die wir verstehen wollen die Arbeit, die hier gelei­stet wird, dasjenige, was aus liebenden, aus geistliebenden Seelen hier schon geleistet wurde und zu leisten beabsichtigt ist. Wollen wir so recht tief schätzen, was unsere Bochumer Freunde hier versuchen, und wollen wir ihrem Zweig und ihrer Arbeit die Weihe, die heute zugleich eine Christweihe sein soll, dadurch geben, daß wir unsere schönsten, unsere liebevollsten Gedanken hier entfalten für den Segen, für die Kraft und für die echte, wahre, geistige Liebe zu dieser Arbeit. Wenn wir so füh­len können, dann begehen wir mit unseren Bochumer Freunden die­ses heutige Fest der Namengebung des «Vidar»-Zweiges im rechten Sinne.

Und lassen wir unsere Gefühle hinaufdringen zu denen, die wir da nennen die Leiter und Lenker unseres spirituellen Lebens, zu den Mei­stern der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen, und erflehen wir ihren Segen für die Arbeit, die sich hier in dieser Stadt durch unsere Freunde entfalten soll:

Ihr, die Ihr das geistige Leben leitet, und gebet den Menschen

je nach den Epochen, was der Mensch braucht,

Ihr arbeitet mit, wenn hingebungsvoll dem geistigen Leben

unsere Freunde hier in dieser Stadt dienen

Solches möchten wir als Gebet zu den geistigen Leitern, den höheren Hierarchien in diesem Augenblick, der in zwiefacher Beziehung feier­lich ist, hinaufsenden. Und hoffen dürfen wir, daß walten werde über diesem Zweige dasjenige, was verheißen ist, trotz aller Widerstände, die sich immer mehr und mehr auftürmen, trotz aller Hemmnisse und Gegnerschaften, was verheißen ist unserer Arbeit: daß durch sie das Christus-Geheimnis in der Weise, wie es geschehen muß, der Mensch­heit neuerdings einverleibt werde.

Daß dies walten möge, das sei heute unser Weihnachtsgebet: daß auch dieser Zweig werden mag ein lebendiger Zeuge dessen, was als Kraft in die Menschheitsentwickelung aus höheren Welten hineinfließt

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und immer mehr und mehr den Menschenseelen das Bewußtsein geben kann von der Wahrheit der Worte:

Es sprechen zu den Sinnen

Die Dinge in den Raumesweiten,

Sie wandeln sich im Zeitenstrome;

Erkennend dringt die Menschenseele,

Von Raumesweiten unbegrenzt

Und unerreicht vom Zeitenstrom,

Ins Reich der Ewigkeiten ein.

Von diesem Gefühl durchdrungen, werden unsere lieben Bochumer Freunde hier an ihre Arbeit schreiten. Von diesem Gefühl durchdrun­gen werden diejenigen, die nunmehr durch ihr Beisammensein mit ihnen konkret wissen von ihrem Arbeiten, oft und oft an diese Arbeit denken. Können ja doch diese Gedanken ihre besondere Kraft noch da­durch entfalten, daß wir der Arbeit die Weihe geben durften unmittel­bar vor dem Weihnachtsfest dieses Jahres, vor dem Feste, das uns im­mer ein Symbol sein kann für alles dasjenige, was der Geist Sieghaftes hat über das Materielle, über alle Widerstände, die ihm irgendwie in der Welt entgegentreten können und entgegentreten müssen.

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KINDESKRAFT UND EWIGKEITSKRAFT. EINE WEIHNACHTSGABE Berlin, 23. Dezember 1913

Leicht könnte es scheinen, als ob jene einfache, liebe Freude, die sich durch lange Zeiten hindurch in Hunderten und aber Hunderten von Herzen ausgesprochen hat, wenn an diesen Herzen ein solches Spiel von dem göttlichen Kinde und seinem Schicksale auf Erden vorbeizog, leicht könnte es scheinen, als ob diese einfache, liebe Freude beeinträch­tigt würde durch unsere geisteswissenschaftliche Weltanschauung, durch die scheinbar so komplizierten, so vieles herbeiholenden Erkenntnisse von dem Christus Jesus, zu denen wir innerhalb unserer Weltanschau­ung aufstreben müssen. Es wird ganz gewiß jedes Herz, jedes Gemüt freudig ergriffen, wenn es an einem solchen Spiele wieder gewahr werden kann, wie von den Städten bis hinaus in die einsamsten Einöden durch die Jahrhunderte hindurch in dieser Weihnachtszeit die Herzen der Menschen, sowohl derjenigen Menschen, die durch ein gewisses Geistesleben hindurchgegangen sind, wie auch derjenigen Menschen, die in der Einfachheit des Landlebens geblieben sind, wie alle diese Herzen sich hingedrängt fühlten zu dem göttlichen Kinde, in dem sie die Kräfte wahrnahmen, die einst in das Menschheitswerden einge­zogen sind und dieses Menschheitswerden errettet haben von dem gei­stigen Tode, dem man es sonst vermöge der ewigen Weltengesetze ver­fallen glaubte. Jedes Herz, jedes Gemüt muß ergriffen werden, wenn es wieder sieht, wie dieses göttliche Kind verehrt worden ist.

Und doch, es ist nur scheinbar, wenn man glauben wollte, daß durch unsere komplizierter werdende Erkenntnis des Wunders von Bethlehem irgendwie diese unmittelbare Wärme, dieses elementarische Gefühl beeinträchtigt werden könnte. Es ist, sage ich, nur dem Scheine nach die Verhältnisse angeschaut, wenn man so denken kann. Denn wir stehen doch heute einer anderen Welt gegenüber, und werden im­mer mehr und mehr einer anderen Welt gegenüberstehen als diejenigen Jahrhunderte, die nicht in einer solchen Erinnerung, wie wir es tun,

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sondern in unmittelbarem Leben in dieser Weihnachtszeit solche Spiele an sich haben vorübergehen sehen. Unsere komplizierte Zeit, die so viele Blicke in das naturwissenschaftliche Denken und Vorstellen getan hat, braucht einen anderen Impuls der Seele, um wieder zu dem göttlichen Kinde aufblicken zu können, das den größten Impuls in das Mensch­heitswerden hineingetragen hat. Nur scheinbar komplizierter ist unsere Anschauung, die da spricht von den beiden Jesusknaben, von dem salo­monischen und dem nathanischen Jesusknaben. Denn wir sehen in dem nathanischen Jesusknaben gewissermaßen das Kind der ganzen Mensch­heit, jenes Menschheitswesen, das, als die andere Menschheit ihren Er­denweg antrat, zurückgeblieben ist, zurückgeblieben in geistigen Welten, bevor der Versucher, das luziferische Prinzip, an die Menschheit heran­getreten ist. Wir sehen, daß es gleichsam auf der Menschen-Kindheits-stufe bewahrt geblieben ist und als der Menschheit geistiger Kindheits­impuls im Geisterlande zurückbehalten wurde, bis «die Zeit erfüllet war», das als ein Ausnahmemensch geboren worden ist in dem nathani­schen Jesusknaben und als ein Menschen-Ich erschien, das nicht durch die Erdeninkarnationen vorher durchgegangen ist, sondern das zum er­sten Male in einer irdischen Verkörperung erschien und das schon gleich nach der Geburt seine Mutter anredete in einer nur ihr verständlichen Sprache, einer Sprache, die wie aus Himmelshöhen herunterklang. Und immer mehr wird man sich davon überzeugen, daß man dem anders­artigen Menschheitsverstehen unserer Zeit gegenüber brauchen wird den Aufblick zu dem göttlichen Kinde, das wir im nathanischen Jesus-knaben verehren, das zurückgeblieben ist auf der Kindheitsstufe der Menschheit im Geisterlande, das geboren worden ist mit jenen Mensch­heitsqualitäten, mit jenen Ureigenschaften, welche die Menschen alle gehabt hätten, wenn sie nicht durch die luziferische Versuchung in das Erdenwerden eingetreten wären. Mit all diesen Eigenschaften, die der Menschheit vor der luziferischen Versuchung ureigen waren, trat der nathanische Jesusknabe in die Menschheit ein.

Wir müssen dies heute wissen, müssen wissen, daß wir die Kindheit der ganzen Menschheit in diesem Jesusknaben haben, damit wir aus dem Tiefsten unserer Seele heraus dasselbe fühlen können, was die einfachen Menschen früher fühlten - aber eben nur fühlten, was wir

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wissen können, wenn wir die Geisteswege weitergehen wollen -, wenn sie der Glorifizierung des göttlichen Kindes bei solchen Spielen gegen­überstanden. Was am meisten zu unserer Seele spricht bei einem solchen Spiele, wie es uns entgegengetreten ist, das ist gerade des Kindes tiefste Unschuld, der Menschheit eigene göttliche Kindesunschuld gegenüber dem, was der Versucher in der Gestalt Luzifers oder des späteren Ahri-man, den man ja als den mittelalterlichen «Teufel» anzusehen hat, aus der Menschheit gemacht hat. Tief ergreifend ist dieser Kontrast zwi­schen dem vom Teufel verführten und vom Teufel geholten Herodes aus unserem Spiel und dem des Menschen Unschuldsprinzip, des Men­schen heiliges Prinzip wahrenden und zum ewigen Leben führenden Kinde der Menschheit.

Solche Vorstellungen, wie sie in einem solchen Spiele leben, sie waren wahrhaftig nicht hervorgegangen aus oberflächlichem Fühlen. Sie waren hervorgegangen aus dem erahnenden Erkennen der tiefsten Weltengeheimnisse, die man durch das Mittelalter hindurch von den Städten bis hinaus in die Einöden der Gebirge und Länder, wenn auch nur erahnend, aber doch erkannte. Nur anders wandten sich die Men­schenseelen hin zu jenen Geheimnissen, als wie wir sie wieder ergrün­den müssen.

Und leicht wird einem der Seelenblick von einem solchen Spiele zu Darstellungen hingewendet, in welchen, man möchte sagen, mit allen Mitteln höchster Kunst, wie sie im 13., 14. Jahrhundert aus der Fülle des christlichen Fühlens entstanden sind, dargestellt wurde das ganze Geheimnis des Menschheitswerdens über die Erde hin und das Ver­hältnis der Menschenseele zu dem, was als ewiges Göttliches in dem Menschenwesen lebt. So möchte ich denn heute an diesem Tage, wo wir in unserer Art die heilige Weihenacht feiern wollen, den Blick von diesen Spielen zu einer großartigen Darstellung hinwenden, an der wir gewissermaßen die Urgründe zu bewundern vermögen, die von dem höchsten Empfinden und von dem, man möchte sagen, für das Mittel­alter «wissenschaftlich-künstlerischen Erkennen» aus, zu solchen ein­fachen Spielen führen. Hinlenken möchte ich den Blick zu einer sol­chen höchsten künstlerischen Darstellung, die gleichsam die Urgründe enthält von dem, was dann in solchen einfachen Spielen liegt.

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In Pisa, der westitalienischen Stadt, ist der berühmte Dom, in dem Galilei, wie wir es öfter erwähnt haben, jene schwingende Kirchen-lampe beobachtete, an der er durch seine Genialität die Gesetze ent­deckt hat, ohne welche heute die moderne Physik nicht zu denken wäre. An diese Kirche anstoßend finden wir den berühmten Gottes­acker, den Camposanto, eingeschlossen von hohen Wänden, an denen die mittelalterliche Kunst verkörpert hat, was gedacht wurde über die göttlichen Geheimnisse und den Zusammenhang des Menschen mit die­sen göttlichen Geheimnissen, mit dem im Menschenwesen gedachten urewigen seelischen Prinzip. Manche von diesen mittelalterlichen Ge­heimnissen sind malerisch dargestellt an den Wänden des Camposanto von Pisa. Bedeckt wurde ja dieser Gottesacker mit Erde, welche die Kreuzfahrer vom Grabe Jesu Christi mitgebracht haben. Und wer heute noch diesen Gottesacker besucht und eine Handvoll Erde aufhebt, kann das Gefühl bekommen, daß unter dieser Erde etwas ist von dem, was einst die Kreuzfahrer aus Palästina mitbrachten, um es auf die­sem Gottesacker auszubreiten, der als besonders heilig gelten sollte.

Unter den Malereien an den Wänden des Camposanto ist ein Ge­mälde, «Der Triumph des Todes». So wird es aber erst seit dem Jahre 1705 genannt. Vorher hieß es bei allen, die es besahen und kannten und davon sprachen, das «Fegefeuer», «Purgatorium». Und ganz gewiß waren an den Wänden des Camposanto auch ein «Himmel» und eine «Hölle». Dieses Purgatorium enthält nun aber am tiefsten ausgespro­chen die Art, wie sich die mittelalterliche Seele zu dem Geheimnis der Menschenseele und ihrem Zusammenhange mit dem Urewigen im Men­schenwesen stellte. Heute ist ja manches von diesem Bilde schon korrum­piert. Aber man kann durch das Korrumpierte noch auf das hindurch­sehen, was der heute für die Geschichte unbekannte Maler auf die Wand hat hinzaubern wollen von den großen Geheimnissen des Men-schenwerdens.

Da sehen wir zunächst, wie aus einer Erdhöhlung eines Berges herauskommend und mächtig sich entwickelnd, einen Zug von Köni­gen und Königinnen, voller Selbstbewußtsein und Hochmut und er­füllt von dem Gefühl: Wir wissen, was man ist auf der Erde, wenn man einem solchen Stande angehört! - Aus der Höhlung eines Berges

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kommt der Zug heraus, und er trifft, indem er aus der Höhle heraus-tritt, auf drei von einem Einsiedler bewachte Särge. Plötzlich also steht diese Jagdgesellschaft vor diesen drei Särgen. Charakteristisch unter­schieden ist das, was in diesen Särgen sich findet: In dem einen ein Skelett, in dem zweiten ein Leichnam, der schon soweit in Verwesung übergegangen ist, daß die Würmer an ihm nagen, und in dem dritten ein kürzlich erst Verstorbener, der eben erst in Verwesung überge­gangen ist. Halt macht der Zug vor diesen drei Särgen. Ein Einsiedler sitzt vor diesen Särgen, gleichsam durch seine Gebärde andeutend:

Haltet ein! Schaut, was ihr als Menschen wirklich seid an diesem Me­mento mori. - Weiter oben, über dem Berge, auf einer zweiten hin­aufsteigenden Anhöhe, sehen wir drei Eremiten sitzen, solche, die Nah­rung herbeischaffen, solche aber auch, die tief über ihre Bücher gebeugt den Geheimnissen des Menschenwerdens nachsinnen, das Ganze so an­geordnet, daß der eine Berg gleichsam oben die Decke bildet. Dort, wo der Jagdzug auf die Särge auftrifft, sitzen oben die drei Einsiedler, die den Frieden darstellen und die vermögend sind, in das Innere der Menschenseele einzugehen, um den Zusammenhang dieser Menschen-seele mit den Gefilden des Ewigen zu finden. Und wenn wir weiter hinschauen, sehen wir allerlei durcheinandergeworfene bresthafte Men­schen unmittelbar sich anschließen an den Jagdzug, der vor dem Me­mento mori steht. Weiter sehen wir Leute, die den Tönen einer Harfe lauschen, hinter der Harfe steht eine Gestalt, die den Finger an den Mund hält. Über dem ganzen sehen wir sich ausbreiten lauter engel­artige Wesen auf der einen Seite, teufelartige Wesen in abscheulichen Bildern - der Maler hat seine ganze Phantasie angewendet, um die Teufel auszuprägen - auf der anderen Seite. So daß ganz rechts auf dem Bilde die Engel zu sehen sind, die sich herniederneigen zu den Menschen, die den Harfentönen lauschen. Zwischen diesen und dem Berge, aus dessen Krater Feuer herauskommt, sehen wir die Teufel sich entwickeln.

Das alles aber ist für den, der die Sache betrachtet, eigentlich da, um den Blick auf etwas hinzulenken, was man vielleicht bei ober­flächlicher Betrachtung nicht bemerken möchte, was aber nach und nach zu einem Einblick in die tiefsten Menschengeheimnisse hinführt.

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Was soll denn eigentlich dargestellt werden? Oh, es ist charakteristisch für die Anschauung jener mittelalterlichen Wissenschaft, wenn wir sehen, wie der Jagdzug vor den drei Leichen hält: zunächst ein Skelett, dann die zweite, eine Leiche, schon von den Würmern zerfressen, dann die dritte, ein aufgedunsener Körper, einer, der erst kurz verstorben ist-, ein Motiv, wie wir es oft finden im Mittelalter. Wir verstehen es erst, wenn wir fragen: Warum kommen die Leute aus dem Berge heraus? Was sind die, welche dort in dem Jagdzuge sind? - und wenn wir wis­sen: Das sind keine Lebenden, das sind Verstorbene, die im Kamaloka sich befinden! - Solche Leiber habt ihr an euch - will das Bild sagen -:

das Skelett als den physischen Leib, den von den Würmern angefres­senen Leichnam als den Ätherleib, und den, der dem eben Verstorbenen angehört als den astralischen Leib. Erinnert euch, ihr Lebenden, was ihr schauen sollt von den Geheimnissen des Daseins nach dem Tode! -So sehen wir in mittelalterlicher Weise ausgedrückt das Geheimnis von den drei menschlichen Hüllen.

Eigenartig, wunderbar möchte man sagen. Der Eremit, der unmittel­bar vor den drei Särgen etwas erhöht sitzt, deutet uns durch die ganze Gebärde an, daß der Mensch wohl nötig hat in die Geheimnisse des Daseins einzudringen, um zu erkennen, wie er fur sein vorübergehendes Dasein mit den urewigen Quellen verknüpft ist. Das Bild setzt sich dann so fort, daß sich über dem ganzen der Berg oben selber wölbt, und oben die Eremiten sitzen, in stiller Beschaulichkeit und in einem friedsamen Naturleben, indem sie uns gleichsam zeigen, wie man sich durch das In-sich-Gehen mit dem Inneren der Menschennatur verbin­den kann.

Das wollte der Maler darstellen, und nicht einen «Triumph des Todes», wie man das Bild später genannt hat, als man seinen Sinn nicht mehr verstanden hat. An dem Bilde selbst können wir sehen, wie recht diejenigen hatten, welche von dem Purgatorium sprachen, das heißt von dem, was wir das Kamaloka nennen. Was der Maler beab­sichtigte, war, daß er zeigen wollte, daß wir so, wie wir im Leben sind, nicht immer zu denen gehören, die die Bedeutung des Lebens nach dem Tode erkennen und sich in richtiger Weise zu dem Urewigen in der Menschennatur verhalten, wie der Maler uns dies an denen zeigt,

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die nicht mehr im Leben stehen, sondern im Leben nach dem Tode; denn wir haben es ja bei denen, die im Jagdzug sind, mit Menschen zu tun, die im Kamaloka sind, die bereits gestorben sind. Sie sehen, was nach dem Tode aus dem Leibe wird.

Und wenn wir auf die Kranken, auf die bresthaften Menschen schauen, so sehen wir einerseits das, was das Leibliche ist, und ander­seits sehen wir, wie die Teufel und die Engel mit den Menschenseelen abziehen. Und wir sehen das Tiefe, das da vor uns sich zeigt: Jeder Teufel hat in seinen Klauen eine Seele, die er wegführt, und jeder En­gel führt unter seinen Flügeln eine Seele mit sich, aber verschieden sind diese Seelen. Und das ist es, worauf ich hinweisen möchte in dieser Weihnachtsstunde. Die Seelen, die von den mit Recht mißgestalteten, aber mit rechtem Verständnis gestalteten Teufeln geholt werden, das sind Seelen, die die Gestalt älter gewordener Menschen haben. Und die, welche von den Engeln geholt werden zu den Seligkeiten der Himmel, das sind Seelen, die vom Maler als Kinder gestaltet wurden. Darin spüren wir die Anschauung, die durch das ganze Mittelalter geht: daß etwas im Menschen durch das ganze Erdendasein hindurch kindlich bleiben muß, daß sich die Menschen etwas bewahren können, selbst wenn sie noch so alt und äußerlich greisenhaft werden, an Kind­lichkeit, an Unschuld des Fühlens durch das ganze Leben hindurch; daß es dagegen Menschen gibt, die nicht nur äußerlich physisch, son­dern auch seelisch alt werden dadurch, daß sie das Seelisch-Irdische annehmen. Denn nur auf Erden wird man alt. Die, welche alt wer-den, können es nur werden durch Schuld, durch das, was ablenkt von dem Urewig-Himmlischen. Daher schauen ihre Seelen aus wie alt ge­wordene Menschen, wogegen die Seelen derer, die verbunden bleiben mit dem, was den Zusammenhang bewahrt mit dem Urewigen in der geistigen Welt, die kindliche Gestalt behalten.

Das ist es, was so ungeheuer groß, so gewaltig aus diesem Bilde des Camposanto in Pisa zu dem Beschauer spricht: daß es etwas in der Menschennatur gibt, was wir als solches anzusprechen haben als aus­drückend des Menschen Ewiges in den ersten drei Kindheitsjahren -was ich darzustellen versuchte in dem kleinen Buche «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» -, daß der Mensch in

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den ersten Kindheitsjahren in der Tat anders ist als später. Dieses in der Kindheit auftretende Verwachsensein mit den göttlich-geisti­gen Höhen, das empfand man im Mittelalter. Das drückte man selbst in einem so grandiosen Kunstwerke aus, wie auf diesem Bilde des Camposanto zu Pisa, dem vielleicht in dieser Beziehung in seiner Komposition interessantesten Bilde der früheren Zeit des Mittelalters, das als Bild so großartig war, daß es ja - was aber unmöglich ist, weil es in der Zeit nach Giotto gemalt worden ist - dem Giotto und man­chem anderen großen Zeitgenossen zugeschrieben wurde. Wie der mit­telalterliche Mensch zu dem Kinde stand, das drückt am großartigsten dieses Bild aus. Dieses Empfinden, wir treffen es ja überall. Wir finden es so wunderbar in diesen einfachen Weihnachtskindspielen, wir fin­den es in der Tatsache, wie gerade die Legende von dem Jesuskinde in allen Herzen sich einbürgerte in unsäglicher Wärme, und wie gerade diese Kindeslegende den Menschen wissend machte, wie er mit dem Christus-Impuls verbunden ist. Die Menschen brauchten die Gewiß­heit, daß in dem Kinde hereingekommen ist das die Ewigkeit der Menschenseele rettende Prinzip. Wie der Mensch, der sich sein Ewiges bewahrt hat, auf dem Bilde des Malers als Menschenwesen in Kindes­form von den Engeln in die Gefilde der Seligen geholt wird, so muß man sich auch vorstellen, daß in der Gestalt des unschuldigen Kindes hineinzog in die Welt dasjenige, wovon wir wissen, daß es sich dann in seinem dreißigsten Lebensjahre mit dem christlichen Gottesimpuls, mit dem christlichen Gotteswesen verbunden hat.

So ist, möchte ich sagen, die Verbindung von den Höhen des gei­stigen Lebens im Mittelalter, wie sie sich uns in einem solchen Bilde im Camposanto zu Pisa darstellen, zu den einfachen Spielen, die aller­dings in der Art, wie eines hier vorgeführt wurde, erst später entstan­den sind, die aber alle die Impulse enthalten, welche das zum Ausdruck brachten, was wir im Ton und in der Art unserer Zeit wiederum su­chen. So war es auch nicht «einfach» bloß - was man heute so gerne den Leuten vorschwatzen möchte -, wie die Seelen der Menschen in früheren Jahrhunderten zu dem Jesuskinde standen. Wie wir jetzt die Lehre von dem nathanischen Jesuskinde in uns aufzunehmen haben, das in seinem zwölften Lebensjahre das Ich des Zarathustra in sich aufnahm

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und in seinem dreißigsten Jahre die Christus-Wesenheit, wie wir das verstehen müssen, um uns zu vergegenwärtigen, was im Menschen-werden zu geschehen hatte, damit der Mensch das Ewige in seiner We­senheit rettet, so brauchte der mittelalterliche Mensch alle jene Wis­senschaft nicht, die in Begriffen und Theorien gegeben wird, sondern das, was an solchen grandiosen Anschauungen über das Wesen der Menschenseele gegeben wurde, wie sie in dem eben charakterisierten Bilde zum Ausdruck gebracht worden sind. Andere Zeiten fordern andere Arten der Darstellung der ewigen Geheimnisse, und die ver­schiedenen Zeiten haben ihre verschiedenen Arten der Darstellung der ewigen Geheimnisse gehabt. Immer und immer wieder ist es die Mani­festation dessen, daß der Mensch eine große Hoffnung haben darf für seine Seele. In der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha war es die Hoffnung, daß da kommen werde, was im Menschen geistig dem ent­spricht, was die Sonne in unserem Planetensystem in physischer Be­ziehung ist. Was wir heute wissen können, man fühlte es tief zu allen Zeiten.

Wir sehen im Frühling das Leben, die Pflanzen aus der Erde her­aussprießen und -sprossen und sehen sie gegen den Sommer zu wachsen. Wir richten den Blick hinauf zur Sonne und wissen: Von der Sonne gehen sie aus, die Kräfte, welche die Erde befruchten, so daß sie aus sich herausholen kann das lebendige Leben der sprießenden und spros-senden Pflanzen und der anderen Wesen. Und neben dem, was sich so regelmäßig in heiliger Ordnung von Jahr zu Jahr vollzieht, sehen wir in das Regelmäßige des Sonnenganges, der zu seiner exakten Stunde jeden Ort mit der Segenskraft erfüllt, mit der er erfüllt werden muß, dasjenige sich hineinmischen, was sozusagen der Erdenatmosphäre sel­ber angehört: die Stürme, die hinfegen über die Äcker, der Regen, der aus den Wolken strömt, der Nebel, der über die Erde sich breitet, sehen das, was nicht Regel und Ordnung hat. Wir sehen Regel und Ordnung vielleicht in dem, was für das Erdenleben von der Sonne ausgeht. Wir haben im Frühling und Sommer das Gefühl, wenn wir die Natur sinnig anschauen, daß die Sonne, sieghaft hineilend über die Erde, etwas vermag über das, was die Erde sozusagen auf ihrer Oberfläche an Wind und Wetter entstehen läßt. Wenn wir uns aber dem Herbste nahen, und

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der Winter herankommt, und die Kraft der Sonne ihre Stärke verliert und weniger in das Erdensein eingreift, dann wird uns in anderer Weise fühlbar das Wetterwendische der eigenen Erdenwirkungen. Und wer ein wenig sinnig dieses Abwechseln von FrüMing und Sommer auf der einen Seite und Herbst und Winter auf der anderen Seite betrach­tet, der kann sich sagen: Im Frühling siegt die Sonne mit ihrer heiligen Ordnung über das, was der Egoismus der Erde aus der Erdennatur her­vorbringt an wetterwendischen Wirkungen. Im Winter aber ist die Zeit, in welcher die Erde dasjenige herausbildet, was in der egoistischen Atmosphäre ist, wo das, was in ihr ist, über das siegt, was vom Kosmos her segnend in die Erde hereinwirkt.

Der Mensch, der sein Inneres in Denken, Fühlen und Wollen be­trachtet, sieht, wie die Gefühlsimpulse, die Affekte, die Kräfte des Wollens vom Aufwachen bis zum Einschlafen regellos in ihm aufstei­gen. Er kann fühlen, wie dieses Wetterwendische in seinem eigenen Inneren sich nur mit dem vergleichen läßt, was in der Atmosphäre der Erde ist. Und in der Tat, so, wie die Erdenatmosphäre, ist das, was un­ser Denken, Fühlen und Wollen beherrscht. Unsere Seele hat dieselben Kräfte in sich, wenn auch nur embryonal, wie diejenigen, die draußen in Luft und Wetter und in den elementarischen Gewalten wirken. Sie beherrschen in uns als Kräfte Denken, Fühlen und Wollen. Draußen sind es elementarische Kräfte, dämonische Gewalten, die in Luft, Was­ser und Feuer leben und in dem, was wir in Blitz und Donner, in den wetterwendischen Wirkungen unserer Atmosphäre um uns haben. Wir sind im Grunde genommen, wenn wir denken, fühlen und wollen, nur verwandt mit dem, was winterlich die Erde aus ihrem eigenen Egoismus entwickelt. Und das fühlte man zu allen Zeiten. Wenn der Winter her­ankam, der den Egoismus der Erde mit den Elementargewalten wirk­samer werden ließ, die jetzt nicht der Sonne folgten, wie sie der herr­schenden Sonne im Frühling und Sommer folgen, dann fühlte man, daß das alles verwandt ist mit des Menschen eigenem Inneren. 0 Winter­zeit - so fühlte der Mensch, wenn er es auch nicht deutlich aussprach -, du bist verwandt mit meinem eigenen Inneren! - Wenn aber dann die Tiefe der Winternacht kam, wenn die Zeit der Wintersonnenwende kam, dann fühlte der Mensch an dem, wie die Sonne nun ihre Kräfte

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neu entwickelte, damit sie wachsen und immer mehr wachsen und kraften könne gegen den Frühling und Sommer hin, da fühlte der Mensch: Der Sonne Kraft siegt stets über den Egoismus der Erde. -Und dann fühlte der Mensch in sich selber Mut und Hoffnung und konnte sich sagen: Wie in der physischen Welt immer die kosmische Sonne siegt über die terrestrischen Kräfte der Erde, wie immer der Sonnensieger in der dunklen Winternacht hereinbricht, wenn wir ihn nur fühlen, so muß in des Menschen Inneren auch ein Etwas sein, was in den Tiefen der Seele als geistige Sonne waltet, die da kommen wird und siegen wird - wie die Jahressonne siegt in der Wintersonnen­wende-, die da kommen wird als Geistessonne in der großen Winter­sonnenwende! Erst hoffte man es, dann wußte man es, daß die Zeit der großen Wintersonnenwende hereingebrochen ist, als man verstehen lernte die Zeit des Mysteriums von Golgatha als das Aufgehen der Gei­stessonne im Menscheninneren.

Und jetzt blicken wir hin auf jene alten Zeiten in der Erdenent­wickelung, als Erdenfrühling und Erdensommer war, bevor das My­sterium von Golgatha gekommen war. Da hat der Mensch noch das Erbstück der alten Zeiten, das alte Hellsehen in sich getragen, das ihm das Schauen in der geistigen Welt möglich machte, wo das Bewußtsein des Zusammenhanges mit der göttlich-geistigen Welt noch vorhanden war. Wir aber leben im Erdenwinter, das kann nicht in Abrede gestellt werden, in der Zeit, in welcher wirklich das eingetreten ist, daß wir nicht nur draußen immer mehr und mehr von den mechanischen Kräf-ten umgeben sein werden, die in den Maschinen, in der Industrie, in den kommerziellen Verhältnissen des Erdenbetriebes wirksam sind, son­dern wir leben auch so, daß wir nicht mehr, wie in der Zeit des Erden­frühlings und des Erdensommers um uns haben die geistig-göttliche Welt. Aber was der Mensch als Symbolum empfand, den Sieg der Sonne zur Wintersonnenzeit als den Sieg der Geistessonne in den Tiefen der Menschenseele, das darf die heutige Menschheit empfinden gegenüber dem Mysterium von Golgatha und seiner Vorbereitung durch jene Ge­burt, die wir jedes Jahr erneuert feiern in der Weihnacht. Wie der Mensch niemals, wenn er gegen den Winter zu lebt, an der Macht der Sonne verzweifeln braucht, sondern wie er hoffen darf, daß die Freuden,

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die ihm der Herbst genommen hat, wiedererscheinen werden nach der Tiefe der Winternacht, so darf der Mensch auf das hinblicken, was sich im Zusammenhang mit dem Mysterium von Golgatha vollzogen hat, und darf sich sagen: Wenn auch, wie die Winterstürme in der Winternacht, regellos walten möge im eigenen Inneren der Egoismus der menschlichen Winternacht, so kann doch niemals die Hoffnung schwinden, daß sich gegenüber dem, was sich als Wetterwendisches in unserer eigenen Seele kundgibt, geltend machen muß, was seit dem Mysterium von Golgatha verbunden ist mit allem menschlichen Erden­wallen: der Christus-Impuls, der durch den Leib des nathanischen Je­susknaben in die Erdenmenschheitsentwickelung hereinzog, der da­durch hereinziehen konnte, daß in dem nathanischen Jesus geboren wurde das Menschheitskind, das Kind mit jenen Eigenschaften, die der Menschenseele angehörten, als sie noch nicht durchgegangen war durch irdische Inkarnationen, denen noch nicht eingepflanzt war, was aus dem Eintreten in die Erdeninkarnationen kommt, das Kind, das noch die Eigenschaften der geistigen Höhen hatte, in denen es ewig sein darf.

Diese Vorstellungen wollte ich vor Sie hinstellen, damit wir aus ihnen entnehmen können, wie im Hinblick auf des Menschen Kindes-kräfte, die zugleich seine Ewigkeitskräfte sind, die Menschen ein Höchstes empfinden können, was man immerzu empfunden hat und weiter empfinden soll beim Anblick des göttlichen Kindes in der Weih­nacht. Und wenn auch unsere Erkenntnis eine andere werden muß, wenn auch an die Stelle dessen, was die mittelalterliche Vorstellung in dem Bilde sah, das ich andeutete, wir die anderen Vorstellungen gewin­nen müssen - die Vorstellung der zwei Jesusknaben, das Herüberziehen der Wesenheit des einen in den anderen, das In-Besitznehmen des Kör­pers des nathanischen Jesusknaben durch die Christus-Wesenheit -, so bleibt doch das bestehen, daß wir mit unseren heiligsten Gefühlen und mit unseren stärksten Hoffnungen hinblicken können auf die Erkennt­nis, die uns sagt: Seit dem Mysterium von Golgatha lebt in unserem Menschenwerden etwas, was in unsere Erdenaura hereingezogen ist, an das wir nur appellieren brauchen in unserer Festesfreudigkeit, als Hoffnung auf die Unzerstörbarkeit unseres Menschenwesens.

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Daran uns zu erinnern, ist uns ebenso notwendig, wie es den Men­schen gewesen ist, die ihre Freude an den einfachen Spielen gehabt haben. Ja, wir dürfen noch anderes sagen: Wir haben nicht minder unsere Freude an den einfachen Spielen. Wir fühlen uns verbunden mit jenen Menschen, welche ihre Freude an diesen Spielen hatten, weil wir in unserer Art zu schätzen wissen, was den Menschen gegeben worden ist, indem das Menschheitskind in das Erdenwerden eingezogen ist, wie ihnen gegeben worden ist die stärkste Hoffnung, der stärkste Impuls, den der Mensch braucht, damit er im Erdenwinter, in der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha, sich aufrechterhalten kann an dem Anblick, daß, wie im physischen Kosmos die Sonne siegt über den Erdenegoismus, so in den Tiefen der Menschenseele immer mehr und mehr der Impuls leben wird, der ausgeflossen ist durch das Mysterium von Golgatha als der geistige Sonnenimpuls der menschlichen Erden-entwickelung. Einstmals war das Ereignis da als ein historisches, durch das dieser Impuls in das Erdenleben eingezogen ist, aber aufwachen soll er immer wieder und wieder in der Erinnerung, wie es durch solche Feste geschehen kann. Denn wahr ist auf der einen Seite, daß einstmals das Christus-Wesen eingezogen ist in die Erdenaura durch das Myste­rium von Golgatha, wahr ist auf der anderen Seite, was Angelus Sile­sius mit den schönen Worten gesagt hat:

Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren

Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren!

Was in Bethlehem geboren ist, soll tief und immer tiefer in unserer eigenen Seele geboren werden, damit wir an dieser eigenen Seele er­füllt sehen, was das mittelalterliche Empfinden erfüllt sehen wollte, indem es das Schicksal der von dem Christus-Impuls durchzogenen Seelen in jenen kindlichen Gestalten sah, die von den Engeln herauf-getragen werden in die Gefilde der Seligen und nicht den Klauen des Ahriman verfallen, dem nur diejenigen Seelen bleiben, die sich mit dem Erdenleben so weit verbunden haben, daß sie alt erscheinen, wäh­rend das Seelenschicksal nicht ist, auf Erden alt zu werden, sondern jung zu bleiben. Und nur des Leibes Schicksal auf Erden ist es, alt zu werden. Des Menschen höheres Schicksal ist es, in diesem altwerdenden

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Leibe die geistige Jugend zu erhalten im Zusammenhange mit dem My­sterium von Golgatha, um so in sich immer mehr und mehr die Hoff­nung zu fühlen, daß, wie auch die Winterstürme in der Seele walten mögen und die Anfechtungen in der Seele leben mögen, niemals die lebendige Zuversicht ersterben kann, daß aus den Tiefen der Seele heraufkommen kann, was in die Erdenaura eingeflossen ist durch das Mysterium von Golgatha, und was wir erinnernd in unseren Seelen durch solche Feste beleben wollen.

So versuchte ich zusammenzufassen, was wir als Weihnachtsstim­mung gerade aus einer Betrachtung heraus empfinden können, die mit diesen wenigen Worten zusammenzuschließen sucht, was wir aus unse­rer anthroposophischen Weltanschauung heraus gegenüber dem Weih­nachtsfeste fühlen, mit dem, was die Menschen in früheren Zeiten er­lebten an der Botschaft von dem göttlichen Kinde bei einem solchen Spiele, wie wir es vorgeführt haben. Das sollen zum Ausdruck brin­gen die Worte:

In des Menschen Seelengründen

Lebt die Geistes-Sonne siegessicher;

Des Gemütes rechte Kräfte,

Sie vermogen sie zu ahnen

In des Innern Winterleben,

Und des Herzens Hoffnungstrieb:

Er erschaut den Sonnen-Geistes-Sieg

In dem Weihnacht-Segenslichte,

Als dem Sinnbild höchsten Lebens

In des Winters tiefer Nacht.

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LUZIFERISCHES UND AHRIMANISCHES IM HEUTIGEN KULTURLEBEN Notizen aus dem Vortrag, Leipzig, 12. Januar 1913

Unser Leben muß sozusagen darstellen das, was wir durch Anthro­posophie werden können. Dazu gehört ein freier Blick für das Leben und ein gesundes Urteil über dasselbe. In unserer Zeit ist das Leben komplizierter, als es im vorhergehenden Zeitalter war. Selbst in heute kurz hinter uns liegenden Zeiträumen war es noch viel weniger kom­pliziert. Das lag in den einfachen Verhältnissen. Damals waren das Gemüt und die damit zusammenhängenden Eigenschaften weiter ver­breitet in der Menschheit als heute. Aber auch vieles andere ist wesent­lich verändert. Und wir alle stehen drinnen in diesem veränderten Le­ben und müssen versuchen, die Lebenssphäre, in der wir stehen, so zu durchdringen, wie es erforderlich ist. Gerade ins Leben der Gegenwart gehört, daß wir uns trotz der Zersplitterung des modernen Lebens Har­monie der Seele und innere Geschlossenheit des Gemütes erringen.

In einem Vortrag läßt sich dies nicht erschöpfen, wir können da nur einzelnes herausheben. Wir finden heute überall den Materialismus, auch einen Materialismus, der das ganze praktische Leben durchdringt, heraufgebracht durch den maschinellen Betrieb. Letzterer hat die Ver­hältnisse des Geschäftslebens, des Lebens überhaupt viel komplizierter gestaltet, hat hervorgebracht das Hasten und Treiben, in dem die Menschheit stehen muß und nicht zur Besinnung kommt. Die Men­schen merken oft gar nicht, wie ihre ganze Arbeitskraft, ihr ganzes Sinnen und Denken vom morgen bis zum abend dem gewidmet ist, was den materiellen Bedürfnissen gilt. Es ist nur natürlich, daß in dem Zeit­alter, in dem wir umlärmt werden von Maschinen, der Mensch über alle Angelegenheiten anfängt materialistisch zu denken. Wahrhaftig unmöglich wäre die Verbreitung von materialistischer und monistischer Weltanschauung in einem anderen Zeitalter.

Wir Anthroposophen stehen in einer neuen Weltanschauung. In die Welt tritt die spirituelle Bewegung. Bedenken Sie die Schwierigkei­ten, die uns entgegenstehen, bedenken Sie, wie klein die Geisteswissenschaft

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geblieben ist trotz ihrer großartigen Anlage. Vergleichen wir, wie draußen in der Welt als Religionsbekenntnisse herrscht, was als Überbleibsel aus vergangenen Zeiten anzusehen ist. Wir finden da man­che religiöse Bestrebung. Die sollen wir uns wohl ansehen. Da finden wir ein sehr verstandesmäßiges Ergreifen der Religion. Es treten Pre­diger auf, christliche, die nicht mehr an einen menschlichen Christus, nicht an Unsterblichkeit glauben. Die Menschen sind froh, wenn eine Jatho-Bewegung und ähnliches auftritt und möglichst rationalistisch vorgetragen wird. Alle alten Autoritäten können nicht mehr aufkom­men gegen den blinden Glauben an dem, was die Wissenschaft bewie­sen hat. Diese Erscheinungen stehen alle wieder mit den moralischen Auffassungen in Beziehung. Wer im geschäftlichen Beruf steht, wird mir bestätigen, wie wenig die Wahrheit einen Platz hat im heutigen Verkehr zwischen Verkäufer und Kunden. Gar mancher, der mit Ver­antwortungsgefühl dazwischensteht, leidet darunter. Haben denn die spinnwebdünnen Begriffe solcher verstandesmäßiger Prediger Moral-kräfte in sich? Auch die öffentliche Meinung, auf die man heute so stolz ist, hat nicht bestanden im 13. und 14. Jahrhundert wie jetzt durch das Zeitungswesen. Große Philosophen sagten längst: Die öffentliche Meinung sind private Irrtümer. - Wer könnte wohl einem Ostwald und so weiter glauben machen, daß geistige Wesenheiten etwas mit ihm zu tun haben? Dadurch, daß er sie ableugnet, ruft er aber gerade ganz bestimmte geistige Wesenheiten heran. Hinter einem Ostwald zieht ein Heer von ganz bestimmten Geistern her. In aller Materie lebt der Geist. Es gibt einen Geist, der alles Interesse daran hat, seinen Geist zu ver­leugnen, das ist Ahriman. Wenn der Mensch alle seine Blicke nur hin-richtet auf die materiellen Gesetze, da vertreibt er nicht die Geister, sondern zaubert sie hervor, die schleichen sich ein in die Hirne der Materialisten. Mephistopheles schickt den Faust in das Reich der Müt­ter und sagt: Dort wirst du das Nichts finden. - Faust antwortet ihm:

«In deinem Nichts hoff ich das All zu finden.» - Aber die Menschheit von heute antwortet nicht wie Faust, denn besessen sind die materiali­stischen Menschen von Ahriman.

In der religiös-rationalistischen Richtung dagegen wirkt ein ande­rer Geist, nämlich Luzifer. Durch die abstrakten, spinnwebdünnen

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Begriffe löst er die Menschen los vom wirklichen Geistigen. Ideen sol­len jetzt in der Geschichte leben, das ist geradeso gescheit, wie wenn ein nur gemalter Maler Bilder malen soll. Dieses Verquicktwerden mit der Materie war seit langer Zeit vorbereitet, und heute hat es einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Heraklit verdünnte die Theosophie zur Philosophie durch den Einfluß des Luzifer. Das ist ausgedrückt bildlich in dem Ausspruch, daß er der Diana von Ephesus sein Buch zum Opfer gebracht.

Nun wollen wir uns die öffentliche Meinung ansehen. Die kommt herauf aus der Gesetzmäßigkeit, die darin besteht, daß Luzifer und Ahriman eingreifen mußten in das Weltbild. Früher gab es anstelle der öffentlichen Meinung Leute, deren Seelenleben hinaufreichte bis zu den geistigen Geheimnissen. Es ging von diesen Persönlichkeiten im Guten und im Bösen ein Einfluß auf das Weltenleben aus. Das begreift man, wenn man zum Beispiel die Geschichte von Florenz zwischen den Jahren 1100 bis 1500 studiert. Heute entsprechen diesem Einfluß diejenigen Menschen, die sich bemühen, den Zusammenhang mit dem Geistigen zu erlangen. Bis zu diesem Punkt sind aber nicht mit fort­geschritten die auf dem Mond zurückgebliebenen luziferischen Wesen­heiten, welche die öffentliche Meinung bestimmen. Infolgedessen ist diese um etwa ein Jahrtausend zurückgeblieben. An der öffentlichen Meinung arbeiten die allergeringsten unter ihnen, sozusagen die Rekru­ten nur des luziferischen Heeres. In ihnen bilden sich heraus Wesen, die einmal später als mächtige Wesenheiten auftreten werden. Sie sit­zen hinter dem Redaktionstisch, sie stehen hinter dem Volksredner und so weiter. Es sind in ihrer Kunst gerade erst anfangende luziferische Geister, eigentlich noch Knirpse.

Sich auskennen im Leben, das gehört zur praktischen Geisteswissen­schaft. Der Mensch bildet sich mit dem Verstand sein Bild über die Welt. Was entspringt nun aus dieser Verstandes- und Sinneserkennt­nis? Da gibt es ein altes Wort. Es fassen es nicht einmal die dazu be­rufenen Vertreter. Die Schlange sagt: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. - Alle Verstandes- und Sinneserkenntnis ist luziferisch, ist sein eigentliches Wahrzeichen. Das Pochen auf die äußere Erfahrung, welche nichts anderes gelten läßt als die Atome, sind

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phantastische Ideen. Hinter der Maja stehen nicht die Atome, son­dern die geistigen, spirituellen Wirklichkeiten. Alle Erscheinungen, die da beschrieben werden, sind nicht Realitäten, die Realitäten sind die geistigen Wesenheiten. Die Monaden existieren nicht, wenn wir sie nicht auffassen in Wirklichkeit als die höheren Hierarchien. Es gibt viele Hierarchien, unter den höchsten sind auch die Gottheiten der Trinität. Die Philosophie spricht nur von einer Einheit. Die Geister sind aber viele, und die Einheit existiert nur in den Seelen der Geister. Wer sich gewöhnt hat, so zu denken, daß er sich in der Gemeinschaft der Geister weiß, der hat die moralischen Gesetze. Ahriman läßt die Menschen im Sumpf der Materie versinken, Luzifer zieht sie ab von der Wahrheit, läßt sie nicht ahnen, daß sie sich in einer Scheinwelt ver­irren. Die Maja hat eine Berechtigung, wenn sie aufgefaßt wird als Ausdruck der dahinterstehenden Realität.

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HINWEISE

Von den Vorträgen aus den Jahren 1913/14, die in der Bibliographie unter den Num-mern 150, 152 und 154 aufgeführt sind, wurden jene über das Thema «Vorstufen zum Mysterium von Golgatha» in einem Band (Bibl.- Nr. 152) unter diesem Titel zusammengefaßt. Die übrigen Vorträge, vermehrt um einige andere aus dieser Zeit, erscheinen nun in der Gesamtausgabe in zwei Bänden: im vorliegenden Band Bibl.­Nr. 150 und in Bibl.-Nr. 154 «Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?». Sie bieten in vieler Hinsicht Ergänzungen zu dem Band «Okkulte Unter­suchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt» (Bibl.-Nr. 140), nament­lich in bezug auf die konkrete Einwirkung der Toten in die Welt der Lebenden. Die Nachschriften können im allgemeinen als gut bezeichnet werden. Nur bei den Vor­trägen vom 13. April 1913 (vormittags und nachmittags) sowie beim Vortrag vom 5. Mai 1913 ist der Text stellenweise mangelhaft und kann nicht durchgehend als wörtliche Wiedergabe des von Rudolf Steiner Gesagten bezeichnet werden. Der Vor­trag vom 12. Januar 1913, von dem nur Notizen festgehalten sind, wurde an den Schluß des Bandes gestellt.

Folgende Vorträge sind in Zeitschriften erschienen:

Augsburg, 14. März 1913 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht -Nachrichten für deren Mitglieder» (= «Nachrichtenblatt») 1948, 25. Jg. Nrn. 40-42, und in der «Menschenschule» 1955, Nr.1.,

Stockholm, 8. Juni1913 im «Nachrichtenblatt» 1935, 12. Jg. Nrn. 37-38, Stockholm, 10. Juni1913 im «Nachrichtenblatt» 1935, 12. Jg. Nrn. 39-42, Bochum, 21. Dezember 1913 im «Nachrichtenblatt», 1936, 13. Jg. Nrn. 51-52,

und in der «Gegenwart» 1958, Nr.9 (Dezember),

Berlin, 23. Dezember 1913 im «Nachrichtenblatt» 1933, 10. Jg. Nr. 52, und in «Blätter für Anthroposophie» 1954, 6. Jg. Nr.12 (Dezember).

Einer Angabe von Rudolf Steiner gemäß sind an den sacMich in Betracht kom­menden Stellen die Ausdrücke «Theosophie» und «theosophisch» durch «Geisteswis­senschaft», «Anthroposophie», «geisteswissenschaftlich» und «anthroposopbisch» er­setzt.

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

13 «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft»: In Rudolf Steiner, «Luzifer-Gnosis 1903-1908», Bibl.-Nr. 34, Gesamtausgabe Dornach 1960; erweiterte Einzelausgabe Dornach 1969.

16 f. die Erfahrungen, wie ich sie von Jean Paul angeführt habe: Eigentlich Jean Paul Friedrich Richter, 1763-1825, deutscher Dichter. «Nie vergeß' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und

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sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen-blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind schwerlich denkbar, da kein fremdes Er-zählen sich in eine bloß im verhanguen Allerheiligsten des Menschen vorge­fallne Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.» Siehe «Wahrheit aus Jean Pauls Leben», Breslau 1826-28, Heft 1, S.53. Selbstbiographie, in Form eines Kollegs erzählt, in der zweiten Vorlesung. Unter dem Titel «Selbsterlebens-beschreibung» erschienen in «Jean Pauls Werke» (Sechs Bände) München 1970, herausgegeben von Norbert Miller, im sechsten Band.

21 in meiner Schrift: «Die Erziehung des Kindes . . .»: Siehe Hinweis zu S.13.

24 wenn Sie sich erinnern an den «Hüter der Schwelle»: Siehe Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Bibl.-Nr. 14, Gesamtausgabe Dornach 1962. Im dritten Drama: «Der Hüter der Schwelle», sechstes Bild, S.342.

26 habe ich die Sache drüben in München dargestellt: Vortrag München, 10. März 1913, abgedruckt in «Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Bibl.-Nr. 140, Gesamtaus gabe Dornach 1970, S. 258/259.

27 «Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte»:

Goethe, «Faust» I, Auerbachs Keller.

31 in die Nähe des strengen Hüters der Schwelle: Siehe das Kapitel »Der Hüter der Schwelle» in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».

34 Zarathustra: Religionsstifter der altpersischen Kultur. Siehe u. a. Rudolf Stei­ner «Geheimwissenschaft im Umriß«, Bibl.-Nr. 13, Gesamtausgabe Dorn-ach 1968, S. 279 ff.

35 In einer Nachschrift ist am Schluß des Vortrags folgende Notiz (Fragenbe­antwortung?):

Physischer Leib Christi ist die Sonne

ätherischer Leib Christi die sieben Planeten Astralleib Christi die zwölf Tierkreiszeichen Das Ich des Christus ist noch ganz draußen.

45 heute abend in Erfurt: Siehe den nächsten Vortrag dieses Bandes.

48 Da wird . . . über die zwei Jesusknaben kritisiert: Siehe zu diesem Thema u. a. «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Bibl.-Nr. 15, Ge­samtausgabe Dornach 1963, und «Das Lukas-Evangelium», Bibl.-Nr. 114, Ge­samtausgabe Dornach 1968.

49 aber sie gehen mich nichts an: Mangelhafte Nachschrift? Soll wohl dem Sinne nach heißen: «. . . aber es ist nicht meine Sache, sie zu verantworten.»

daß Johannes der Täufer dieselbe Seele ist wie Raffael: Siehe «Erfahrungen des Übersinnlichen», 9., 10. und 13. Vortrag. Bibl.-Nr. 143, Gesamtausgabe Dornach 1970.

Raffael, 1483-1520.

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49 die Worte..., die ja von dem Träger des Namens als Novalis ausgesprochen sind, die zu Beginn unserer Feier heute an unser Ohr gek klun gen sind: Novalis, eigentlich Friedrich von Hardenberg, 1772-1801. Es wurde das Gedicht «Wenn alle untreu werden...» vorgetragen.

50 was ich für die in Weimar versammelten Freunde ausgesprochen habe: Siehe den vorangehenden Vortrag dieses Bandes.

51 Lessing hat einen merkwürdigen Ausspruch getan: Gotthold Ephraim Lessing,

1729-1781. Der Ausspruch lautet wörtlich: «Oder meinen Sie, ..., daß Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?». «Emilia Galotti», Aufzug I, Auftritt 4.

52 ich habe . . . eine Erziehertätigkeit auszuüben gehabt: In der Familie Eunicke. Siehe Rudolf Steiner »Mein Lebensgang», 7. Auflage, Dornach 1962, S. 286 ff., namentlich S. 294.

wie das heute morgen gesagt ist: Siehe den vorangehenden Vortrag.

53 was ich öfter gesagt habe: Siehe u. a. im Vortrag vom 18. Januar 1909 in Karlsruhe «Die praktische Ausbildung des Denkens» in «Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie», Bibl.-Nr. 108, Gesamt­ausgabe Dornach 1970, S. 217, sowie Einzelausgaben.

55 Früher habe ich schon öfter gesagt Siehe den Vortrag vom 2 Mai 1912 in Berlin, abgedruckt in «Der irdische und der kosmische Mensch» Bibl Nr 133 Gesamtausgabe Dornach 1964 und vom 5 Mai 1909 in Berlin (bisher unge druckt). Siehe auch den Vortrag vom 27 April 1913 in Okkulte Untersu chungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt» Bibl Nr 140 Ge samtausgabe Dornach 1970, S. 316, und «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse», Band 2 «Lionardo Michelangelo Raffael» Vortrag vom 1. November 1916, und Band 7 «Raffael ,

Plato, 427-347 v.Chr.

Aristoteles, 384-322 v.Chr.

Paulus, der in Athen auftritt unter den Philosophen: Apostelgeschichte 17,

15-34.

62 haben wir aber das Paulus-Erlehnis in uns erweckt: Siehe Apostelgeschichte

9, 3-6.

im Brocaschen Sprachorgan: Sprachzentrum in der dritten linken Gehirnwin-dung des Großhirns. So genannt nach seinem Entdecker Paul Broca, 1824-1880, französischer Anthropologe und Chirurg.

68 das Gehirn sondert Gedanken ab wie die Leber Galle: Siehe u. a. Carl Vogt,

1817-1895, materialistischer Philosoph, wörtlich:«. . . daß die Gedanken in dem selben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Le­ber . . .» in »Philosophische Briefe an die Gebildeten aller Stände», Stuttgart und Tübingen 1845, S. 26.

«Natur ist Sünde, Geist ist Teufel . . .»: Goethe, «Faust» II, Rittersaal, Worte des Kanzlers.

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68 daß der Geist niemals ohne Materie: Goethe in einem Briefe an Kanzler von Müller vom 24. Mai 1828. Wörtlich: «Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen . . .» Ph. Stein, «Goethe-Briefe», Berlin 1924, 8. Band, S. 251.

71 Johannes Kepler, 1571-1630, Astronom.

Giordano Bruno, 1548-1600, italienischer Philosoph, Mitbegründer der mo­dernen Weltanschauung, endete auf dem Scheiterhaufen der Inquisition.

75 in der lemurischen Zeit: Siehe «Die Geheimwissenschaft im Umriß». 28. Auf­lage, Dornach 1968, S. 244ff. und 259.

84 Blaise Pascal, 1623-1662, französischer Mathematiker und Philosoph. Der Aus­spruch Pascals konnte bis jetzt nicht nachgewiesen werden.

Maurice Maeterlinck, 1862-1949, belgischer Dichter.

87 So wie ich gestern versuchte zu zeigen: Im öffentlichen Vortrag, Stockholm,

9. Juni 1913: «Erkennen und Erleben der Unsterblichkeit im Lichte theoso­phischer Erkenntnis», (keine Nachschrift vorhanden).

William Crookes, 1832-1919, englischer Physiker und Chemiker. Entdeckte u. a. das Thallium.

in seiner medialen Forschung: Eine andere Nachschrift hat: «in seiner For­schung mit seinem Medium».

90 gestern im öffentlichen Vortrag: Siehe Hinweis zu. S. 87.

95 das sogenannte Brocasche Organ: Siehe Hinweis zu S. 62.

99 «Ihr werdet sein wie die Götter»: 1. Moses 3, S.

Seid ihr nicht Götter?: Joh.-Ev. 10, 34.

101 wo wir unsere eigene Befreiung als Anthroposophische Gesellschaft gewonnen haben: Der Ausschluß aus der Theosophischen Gesellschaft und die Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Der Ausschluß erfolgte durch den Brief von A. Besant an Dr. Rudolf Steiner vom 14. Januar 1913, in dem sie ihm den Beschluß zur Auflösung der Deutschen Sektion mitteilte. Die Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft erfolgte am 2./3. Februar 1913.

105 daß im Beginn unserer Zeitrechnung zwei Jesusknaben eingetreten sind: Siehe Hinweis zu S. 48.

108 Daher jenes wunderbare Ereignis: Siehe das »sogenannte arabische Kindheits­evangelium» in »Die Kindheit Jesu, Zwei apokryphe Evangelien», übersetzt und eingeleitet von Lic. Emil Bock. Schriftenreihe «Christus aller Erde», Band 14/15, München 1924, S. 115.

109 Zarathustra: Siehe Hinweis zu S. 34.

116 Was Angelus Silesius (1624-1677) sagte: in «Cherubinischer Wandersmann»,

1657. Erstes Buch, Spruch 61.

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119 ein solches Spiel von dem göttlichen Kinde: Dem Vortrage ging eine Auffüh-rung des «Dreikönig-Spiels» voran. Siehe «Weihnachtspiele aus altem Volks-tum. Die Oberuferer Spiele», mitgeteik von Karl Julius Schröer, szenisch ein­gerichtet von Rudolf Steiner. Dornach 1965 und 1972.

120 unsere Anschauung, die da spricht von den beiden Jesusknaben: Siehe Hinweis zu S. 48.

und das schon gleich nach der Geburt: Siehe Hinweis zu S. 108.

122 Galileo Galilei, 1564-1642, italienischer Physiker. Begründer der modernen Naturwissenschaft.

An den Wänden des Camposanto ist ein Gemälde «Der Triumph des Todes»:

Siehe dazu Rudolf Steiner «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Im­pulse«, Band I, Dornach 1938, S. 41. Eine Wiedergabe des Bildes ist ferner enthalten in der Einzelausgabe des Vortrages »Kindeskraft und Ewigkeits­kraft», Dornach 1971.

125 in dem kleinen Buche: Siehe «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Bibl.-Nr. 15, Gesamtausgabe Dornach 1963, S. 10ff.

126 Giotto, 1266-1337, italienischer Maler.

131 Angelus Silesius: Siehe Hinweis zu S. 116.

bei einem solchen Spiele, wie wir es vorgeführt haben: Siehe Hinweis zu S. 119.

134 Jatho-Bewegung: Karl Jatho, evangelischer Geistlicher, 1851-1913. Zog sich durch seine freie Lehrweise einen kirchlichen Prozeß zu, in dessen Verlauf das Spruchkollegium auf Amtsentsetzung entschied. «Predigten» 1903 (5. Auf­lage 1906), «Persönliche Religion» 1905.

Die öffentliche Meinung sind private Irrtümer: Konnte bis jetzt nicht er­mittelt werden. Vielleicht handelt es sich um den Ausspruch von Friedrich Nietzsche: «Öffentliche Meinungen - private Faulheiten», aus «Menschliches -Allzumenschliches», Band I, Aphorismus Nr.482.

Wilhelm Ostwald, 1853-1932, Chemiker. Begründer der energetischen Welt­anschauung.

Mephistopheles . . . sagt: Dort wirst du das Nichts finden: Goethe «Faust» II, Finstere Galerie. Wörtlich: «Nichts wirst du sehen in ewig leerer Ferne.»

135 Heraklit, etwa 540-480 v. Chr., griechischer Philosoph.

Die Schlange sagt: Ihr werdet sein wie Gott: 1. Moses 3, S.

136 Monade: Wesensbegriff der Leibnizschen Philosophie.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.