GA 133

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Der irdische
und der kosmische Mensch

Ein Zyklus von neun Vorträgen,
gehalten in Berlin am 23. Oktober 1911
und zwischen dem 19. März und 20. Juni 1912

GA 133

1964

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Berlin, 23. Oktober 1911

Da wir uns nach einer längeren Sommerpause wieder hier in diesem Zweig zusammenfinden, so darf vielleicht mlt ein paar Worten wenig­stens über dasjenige gesprochen werden, was das anthroposophische Leben während einer solchen Sommerpause betrifft, und insbesondere über das, was uns das anthroposophische Leben während dieser letzten Sommerpause gebracht hat, die ja für unser engeres mitteleuropäisches spirituelles Leben keineswegs bedeutungslos verlaufen ist. Sie wissen, daß von den Zeiten an, da wir uns hier zuletzt zusammenfanden, um dann die Sommerpause eintreten zu lassen, die Vorbereitungen be­gannen für die Münchener Veranstaltung. Diese beginnt gewöhnlich mit einer dramatischen Aufführung, die im Geiste unserer spirituellen Bewegung gehalten ist. Und wir waren in der Lage, in den letzten Jahren diese dramatischen Aufführungen auszubauen! Wir haben zu­nächst eine solche dramatische Vorstellung einem Münchener Vor­tragszyklus vorangeschickt, waren dann in der Lage, im vorigen Jahre zwei solcher Vorstellungen voranzuschicken, und in diesem Jahre konnten wir es mit dreien versuchen. Es ist immer in der verschieden­sten Beziehung selbstverständlich einWagnis mit diesen Vofführungen verbunden. Aber dank der; man darf sagen allseitigen Opferwilligkeit derjenigen, die sich an diesen künstlerischen anthroposophischen Ver­anstaltungen beteiligen können, ist es uns gelungen, gerade nach dieser Richtung hin einen Anfang zu machen, denn als etwas anderes als einen Anfang können wir die Sache vorläufig nicht bezeichnen, den Anfang einer Sache, die ja wohl ihre Fortsetzung finden wird als wich-tiger Einschlag des anthroposophischen Lebens, wenn wir alle in diesen unsern physischen Leibern nicht mehr werden dabei sein können. Aber zu solchen Dingen, die bereits über den engsten Kreis des persönlichsten Wirkens hinaus gedacht sind, muß ja immer ein Anfang gemacht werden. Und die, welche sich zunächst daran be­teiligen, haben es nötig - um der nötigen Bescheidenheit wie auch um der nötigen Kraft willen -, das Bewußtsein zu haben, daß man es mit

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einem Anfang zu tun hat. Wir verbinden ja diese Aufführungen immer mit einem Vortragszyklus, welcher nicht nur allerlei Mitglieder unserer Gesellschaft vereinigt, sondern auch allerlei Freunde unserer geistes-wissenschaftlichen Strömung, die, man daif jetzt sagen, von allen mög­lichen europäischen Ländern sich bei der Münchener Veranstaltung einfinden. Was insbesondere in diesem Jahre auffallend sein kann, das werden für den, der äußerlich und innerlich in die Sachen hinein-zuschauen sich bemüht, zwei Dinge sein. Das eine ist gerade die Art, wie wir denken, das anthroposophische Leben zunächst in die Kunst hineinzutragen. Denn das liegt uns ja so sehr am Herzen, daß das spirituelle Leben in alle Lebenszweige und Äußerungen des Daseins hineingetragen werde. Daß es uns so wichtig scheint, es in die Kunst hineinzutragen, das ist, daß Geisteswissenschaft nicht eine bloße ab­strakte Theorie und Lehre sein will, sondern hineingetragen werden soll ins unmittelbare Leben, damit sie sozusagen praktisch wirken könne. Es ist dabei wohl auffällig gerade bei den Münchener Vor­stellungen, daß die Geisteswissenschaft nicht in äußerlicher Weise durch allerlei Ausdenken und Ausklügeln dieses bewirken will, son­dern daß von ihrem unmittelbaren Leben auch wieder etwas Leben ausgehen kann für das künstlerische Wirken. Das zeigt sich in der Art und Weise, wie in München mit einer innigen Hingabe und mit wach­sendem Verständnis die Anthroposophen, welche als Teilnehmer da­bei sind, sich in die Sache finden. Das zeigt sich aber auch darin, daß wir im Jahre 1909 eine Vorstellung, im vorigen Jahre zwei, und in diesem Jahre, trotz großer Schwierigkeiten, sogar drei Vorstellungen vorbereiten konnten. Wenn Sie auf die Dinge selbst eingehen, so werden Sie aus einem Werke, wie es die «Prüfung der Seele » ist, er­sehen können, wie das, was okkultistische Beobachtung ist, sehr wohl in derselben Weise zu künstlerischen Darstellungen verwertet werden kann, wie das, was die äußeren Beobachtungen des Lebens sind. Kurz, ich könnte sehr viel sprechen, wenn über den inneren Nerv der Sache gesprochen werden soll.

Was besonders in München auffällt, ist der stets wachsende Zu-drang zu unsern Veranstaltungen. Und der bewirkt, daß wir sowohl bei den künstlerischen Unternehmungen - namentlich aber auch beim

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geisteswissenschaftlichen Vortragszyklus - den Raummangel in einer ganz ausgiebigen Weise verspüren. Bei dem Vortragszyklus ist dieser Raummangel ja auch äußerlich so zu spüren, daß sich die Teilnehmer durch die Hitze im Saale recht sehr unbehaglich fühlen. Nun würde ja natürlich ein leichter Einwand der sein, daß man sagt, dann nehme man einfach einen größeren Saal. Aber mit diesem größeren Saal nehmen hat es auch seine Schwierigkeit. Die Geisteswissenschaft er­fordert, wie Sie alle wissen, doch eine gewisse Intimität. Und so wenig es möglich ist, daß man in Wahrheit einen alten griechischen Drama­tiker in einem Zirkus aufführen kann - nach sicheren Nachrichten soll es ja auch in der Gegenwart zwar geschehen sein, aber nur der Mangel an jeglichem Kunstverständnis kann dahin führen, daß es in weiteren Kreisen Zustimmung oder sogar Zuspruch finden kann; man muß sich darüber wundern; aber auf der anderen Seite ist es wieder nicht zu verwundern, wenn man weiß, wie wenig Künstlerisches in unserer Zeit ist, daß so etwas für möglich gehalten wird -, also so wenig mög­lich es ist, in einem Zirkus einen alten griechischen Dramatiker auf­zuführen, in einem so großen Raume wie einem Zirkus schon, aber nicht in einem «Zirkus», ebensowenig geht dies mit der Geistes­wissenschaft: sie kann schon auch in einem alten griechischen Theater getrieben werden, aber nicht in einem endios bis zum Zirkusmäßigen geführten Saal. Und ich muß offen gestehen, statt daß wir jetzt in Berlin von dem Architektenhaussaal, der mir das Maximum an Größe scheint, übergehen zu einem Saal, der größer ist, würde ich viel lieber einen solchen Vortrag im Architektenhause zweimal halten, als einmal in einem größeren Saal. Das sind Dinge, die doch so sehr mit dem inneren, intimen Wesen der Geisteswissenschaft zusammenhängen, daß sie vielleicht heute noch nicht eingesehen werden, die aber doch, wenn alles, was in der Geisteswissenschaft enthalten ist, in die ver­schiedenen Lebenszweige sich verbreitet, eingesehen werden können.

Was nun die Unternehmungen in München betrifft, so ist es ja nicht anders möglich, wenn durch alles, was man in einem kleinen Saale tun kann, etwas erreicht werden soll, was anthroposophisch ist, als daß unser anthroposophisches Leben uns dazu führen muß, uns unsern Innenraum selber zu schaffen. Das hat zu dem Gedanken geführt, in

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München einen großen Bau aufzuführen, der uns gestattet, wirklich auch für die Bedürfnisse des Münchener Zyklus ein eigenes Haus zu haben. Wie viel Glück wir damit haben werden, das werden die näch­sten Zeiten zeigen. Denn es ist ganz sicher, wenn wir in die Lage kommen werden, den Münchener Bau aufzuführen, daß wir ihn bald aufführen müssen, weil wir sonst um die schönsten Früchte unseres Wirkens doch kommen werden, aus dem einfachen Grunde, weil es dann möglich sein wird, gerade in den nächsten Jahren in der ent­sprechenden Weise zu wirken, wenn wir die Räunilichkeit dazu haben. Daß damit etwas erreicht werden kann, wenn wir in der Lage sind, den Raum selber zu bauen, das haben wir nicht nur bei kleinen Anfängen gesehen, sondern jetzt wieder, wo der Stuttgarter Zweig sich das erste mitteleuropäische anthroposophische Haus aufgeführt hat. Und die, welche bei der Eröffnung anwesend waren, werden sich hinlänglich davon überzeugt haben, was ein im anthroposophischen Sinne weihe­voller Innenraum wirklich zu bedeuten hat, und wie es etwas ganz anderes ist, wenn man in einen solchen Raum hineinkommt als sonst in einen Saal, ganz abgesehen von den einzelnen Feinheiten, die ich auseinandersetzte, als ich in Stuttgart sprach über die Bedeutung der Farbe, der Raumesbegrenzung und so weiter für die Pflege okkulter Erkennmis in einem solchen Raum. Haben wir es doch gesehen, daß diese Vertiefung, die wir auf dem Gebiete der Anthroposophie an­streben, doch in einem gewissen Sinne zahlreiche Ohren, zahlreiche Herzen und Seelen schon in Mitteleuropa findet und wahrscheinlich auch weiter hinaus immer mehr und mehr finden wird. Wir haben ge­sehen, wie leicht allerdings in unserer Zeit - wir haben es ja immer wieder und wieder sehen müssen - sozusagen die Sehnsucht Platz greifen kann, auf bequeme Art sich Überzeugungen und Erkenntnisse von den geistigen Welten zu verschaffen. Ich glaube, wenn so Vor­tragszyklus auf Vortragszyklus gefolgt ist und immer mehr zugemutet wurde dem Denken, dem gefühlsmäßigen Sich-Vertiefen, der Aus­breitung der Kenntnis der einzelnen Gebiete des Lebens, auch des okkulten Lebens, dann werden es eine große Anzahl von denjenigen, die mit uns gestrebt haben, manchmal schon empfunden haben, daß wir hier gerade in der Strömung des spirituellen Lebens, die wir die

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unsrige nennen, es gar zu bequem den Menschen nicht machen. Und wenn wir alles betrachten, was im Laufe der Zeit, wenn ich den tri­vialen Ausdruck gebrauchen darf, aufgespeichert worden ist - und es ist, manchmal wirklich zu meinem Schrecken, viel aufgespeichert an unserem Büchertisch hier an Zyklen und Schriften -, was alles da im Laufe der Jahre zusammengekommen ist und was im Grunde ge­nommen der, welcher wirklich die Strömung, die wir die unsrige nennen, in einer intimen Beziehung kennenlernen will, sich doch ein wenig ansehen muß, wenn wir das bedenken, dann werden wir uns sagen können: Bequem machen wir es niemandem, der in die geistige Welt hineingehen will. - Aber dennoch, es hat sich im Laufe der Jahre immer mehr und mehr gezeigt, daß wir das Ohr, das Herz, die Seele der Menschen, so weit wir zu ihnen kommen, schon zu finden in der Lage sind. Wenn auch in einer sonderbaren Weise, die jetzt nicht wei­ter erörtert werden soll, zum Beispiel der Kongreß der europäischen Sektionen in Genua nicht zustande gekommen ist, so hat sich nicht etwa herausgestellt, daß wir unsererseits, weil nun dieser Kongreß nicht zustande gekommen ist, sozusagen feiern konnten. Es hätte sich ja denken lassen, daß, nachdem der Kongreß ausgefallen ist - in letzter Stunde wurde dies angekündigt, über die Ursachen und Gründe davon später -, daß wir hätten feiern können. Aber es stellte sich gleich her­aus, wie nötig es war, diese Zeit anders anzuwenden, so daß Vorträge hineinfielen während der Zeit des Genueser Kongresses in Lugano, Locarno, Mailand, Neuchâtel und Bern. So waren wir immerhin in der Lage, wenigstens in dieser Zeit auf einem Boden zu wirken, auf dem zu wirken es vielleicht sonst in der nächsten Zeit schwierig geworden wäre. Und wenn ich zum Beispie] bedenke, daß eben in Neuchâtel eine Loge sich zusammengeschlossen hat, die das Bedürfnis hatte, geradezu sich zu benennen nach dem Namen einer großen geistigen, spiri­tuellen Individualität, auf den Namen des Christian Rosenkreutz, und das Bedürfnis hatte, intime Dinge über denselben zu hören - die ich in der nächsten Zeit auch hier zum Vortrag bringen werde -, wenn ich bedenke, daß, um über Christian Rosenkreutz zu sprechen, immer­hin alles nötig war, was wir im Laufe der Jahre zusammengetragen haben an okkulten Wahrheiten, um diese einzigartige Individualität zu

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verstehen, und daß dennoch ein inniges Bedürfnis vorhanden war, über diese Individualität etwas Intimeres zu hören, so muß gesagt werden: Es ist gelungen, uns geisteswissenschaftlich zu vertiefen, ob­wohl wir es denjenigen, die mit uns arbeiten, nicht gerade bequem ge­macht haben. - Und wie leicht machen wir es trotzdem denjenigen, die wirklich zu einem Vertiefen kommen wollen, wie leicht machen wir es! Wir dürfen es, ohne zu überheben, sagen, daß wir es leicht machen.

Denken Sie zum Beispiel über das Faktum nach! Es ist von mir immer wieder und wieder betont worden, daß wir innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung das okkulte Ideal als die Grund­lage unseres ganzen anthroposophischen Lebens ansehen müssen: Es gibt in Wirklichkeit nur einen Okkultismus, nur eine okkulte Wahr­heit. Es kann nicht in Wahrheit einen östlichen und einen westlichen Okkultismus geben. Das wäre ebenso gescheit, als wenn man eine östliche und eine westliche Mathematik unterscheiden würde. Aber es kann das eine oder das andere Problem, die eine oder die andere Frage, durch die Eigentümlichkeit der Menschen besser im Osten oder besser im Westen durch die okkulte Forschung gepflegt werden. Daher müssen wir sagen: Was sich auf jene große Erscheinung bezieht, die wir nun seit Jahren hier als die Christus-Erscheinung bezeichnen, ist ein Ergebnis der okkulten Forschungen der letzten Jahrhunderte innerhalb der europäischen esoterischen Schulen, der europäischen Pflegestätten des Okkultismus. Alles, was gesagt worden ist im Laufe der Jahre über die Individualität, die wir Jesus von Nazareth nennen, was über die zwei Jesusknaben gesagt worden ist, über die Einkehr des Christus in den Leib des Jesus von Nazareth in dem Zeitpunkt, der markiert wird durch die Johannestaufe im Jordan, was über das Myste­rium von Golgatha gesagt ist und was jetzt wieder in Karlsruhe ge­sagt worden ist über das Mysterium der Auferstehung, alles das sind einmal Wahrheiten, die gar nicht heute verkündet werden könnten, wenn nicht seit der Mitte des 12.Jahrhunderts bis in unsere Tage her­ein die okkulten Forschungen des Abendlandes gepflegt worden wären. Und dennoch, man kann das Christentum nicht verstehen, ohne diese Wahrheiten zu haben. Man kann zum Beispiel das Christentum

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wirklich nicht verstehen, ohne Verständnis für die Auferstehung zu haben, und wenn man ein noch so großer Theologe ist. Wer heute so redet wie die modernen Theologen, kann das Christentum nicht ver­stehen. Denn, was könnten sie anfangen zum Beispiel mit dem Worte des Paulus: «Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch vergeblich euer Glaube»? Kurz, gibt es kein Verständnis der Auferstehung, so gibt es kein Verständnis des Christentums! Aber auf der anderen Seite muß man wieder bedenken, daß die äußere Vernunft, ob man sie anwendet auf die Geisteswissen­schaft oder auf die Naturwissenschaft, nun einmal die Eigentümlich­keit hat, daß sie an solche Sachen, wie die Auferstehung, nicht heran­kommen kann. Der moderne Denker sagt: Ich muß einen Strich durch mein ganzes Gedankengebäude machen, wenn ich an die Auferstehung und an das, was im Johannes-Evangelium geschildert ist, wirklich glauben sollte! - Das haben zahlreiche Menschen aus ihrem Bewußt­sein heraus gesagt. Daher ist es notwendig, daß der Okkultismus über diese Tatsachen im Abendlande seine Aufschlüsse gibt. Gerade diese Tatsachen, die sich auf die Mysterien des Abendlandes, des Christen­tums beziehen, hat die orientalisierende Richtung des Okkultismus, insofern sie äußerlich bekannt werden kann, nicht. Denn warum? Die Menschen drüben in Asien, mit Ausnahme der Gegenden um Klein-asien, interessiert doch der Christus nicht, hat sie nicht interessiert. Sie haben nicht das Bedürfnis, nach seiner Wesenheit zu fragen, hatten es durch die ganzen Jahrhunderte und Jahrtausende nicht. So daß es in Indien und Tibet wunderbare okkulte Lehren gibt über die Wesenheit zum Beispiel des Buddha oder der Bodhisattva; aber es hat niemanden besonders interessiert, über die Wesenheit des Christus nachzudenken oder gar okkult nachzuforschen. Daher kann man unmöglich von den orientalischen Richtungen der Theosophie verlangen, daß sie über den Christus etwas wissen.

Als die theosophische Bewegung ins Leben trat, da hat, wie Sie alle wissen, für dieselbe Ungeheures Helena Petrowna Blavatsky gewirkt. Wodurch hat sie Ungeheures gewirkt? Etwa dadurch, daß damals die «drei Grundsätze» der Theosophischen Gesellschaft aufgestellt wor­den sind, die heute noch immer auf den Aufnahmescheinen stehen?

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Dadurch ganz gewiß nicht, daß man gesagt hat: Es muß eine Gesell­schaft geben, welche die «allgemeine Menschenliebe» pflegt! - Denn solcher gibt es viele, und jeder normal denkende Mensch wird die Pflege der allgemeinen Menschenliebe als etwas ansehen, was ver­breitet werden soll. Wodurch H.P. Blavatsky so stark gewirkt hat, das ist, daß durch sie eine so große Menge von okkulten Wahrheiten in die Welt gedrungen ist. Und wer die « Entschleierte Isis» und die dann Jahre danach erschienene «Secret Doctrine» nimmt, der wird sich sagen: Trotz allem, was dagegen einzuwenden ist, enthalten diese Werke eine Unsumme von Wahrheiten, von denen bis dahin niemand im geistigen Leben, außer denen, die eine Initiation genossen haben, eine Ahnung hatte. Und wenn auch Frau Blavatsky ein unlogischer, unordentlicher Kopf war und Dinge ausgedacht hat, die neben den Mitteilungen hoher Meister stehen und nicht dort stehen sollten - das zu erörtern, würde jetzt zu weit führen -, wenn sie auch eine leiden­schaftliche Natur war und oftmals gesprochen hat, wie es nicht geht

- denn es geht im Okkultismus nicht, daß man so leidenschaftlich und so unsystematisch spricht -, wenn man auch sagen könnte, daß es gut wäre, die «Entschleierte Isis» zu nehmen und sie systematisch und logisch anzuordnen, oder aus der «Secret Doctrine» fünf Sechstel her­auszunehmen und das andere Sechstel in einer ordentlichen Weise zu redigieren, so muß man doch in dem theosophischen Leben auf das Positive gehen und sagen: Es ist da etwas Gewaltiges in das okkulte Leben hereingekommen.

Aber wie stehen denn die Dinge in Wahrheit? In Wahrheit stehen sie so, daß H.P. Blavatsky in der Zeit, als sie die «Entschleierte Isis» schrieb, eine Art rosenkreuzerischer Inspiration hatte. In der «Ent­schleierten Isis» stehen - bis auf die Fehler des Rosenkreuzertums -ganz große rosenkreuzerische Wahrheiten, und was darin bedeutsam ist, das ist eigentlich alles rosenkreuzerisch. Ich sagte, bis auf die Fehler des Rosenkreuzertums! Denn das alte Rosenkreuzertum hatte zum Beispiel nicht die Möglichkeit, die Wahrheiten der Reinkarnation und des Karma einzusehen; denn die Wahrheiten über Reinkarnation und Karma hatte das Rosenkreuzertum des 13., 14., 15.Jahrhunderts nicht. Das war etwas, was für das Abendland erst später erobert werden

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konnte. Frau Blavatsky hat in der « Entschleierten Isis» auch nicht eine einigermaßen hinreichende Lehre von Reinkarnation und Karma, sie hat alle Fehler des Rosenkreuzertums sogar übernommen. Dann kam es so, daß Frau Blavatsky durch Dinge, die heute zu besprechen zu weit führen würde, abgekommen war von den Einflüssen, die aus dem Rosenkreuzertum kamen, und eingefangen wurde von einer orientall­sierenden Theosophie. Daraus ist dann die «Geheimlehre» hervor-gegangen, die in bezug auf alles, was nicht christlich ist, große Wahr­heiten enthält, in bezug auf alles aber, was christlich ist, höchst Un­sinniges. So daß in bezug auf alle Religionen und Weltanschauungs­systeme der Welt, außer dem Judentum und dem Christentum, die Blavatskysche Geheimlehre sehr zu brauchen ist, aber was sich darin findet in bezug auf das Judentum und Christentum, ist gar nicht zu brauchen, weil H.P. Blavatsky in ein Feld hineinkam, wo man diese Wahrheiten nicht gepflegt hat. Damit hängt nun die ganze Richtung zusammen, welche die theosophische Bewegung später genommen hat. Sie wurde unzulänglich, diese theosophische Bewegung, für das Begreifen des Christentums. Und an einem Fall - an unserem wich­tigen Fall - lassen Sie es mich klarmachen, was unzulänglich ist an der theosophischen Bewegung für das Begreifrn des Christentums.

Die höchste Individualität, außer den höchsten Initüerten, die auch im Orientalismus nicht anders reden als wir, ist für den orientalischen Okkultismus die Individualität des Bodhisattva. Ein solcher Bodhi­sattva war jene Individualität, die dann etwa fünf Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zu der nächsten Würde aufgestiegen ist, die man nun wieder im Orientalismus begreift. So daß wir es damit zu tun haben, daß jener Bodhisattva, welcher der Sohn des Königs Suddho­dana war, im neunundzwanzigsten Jahre zum Buddha geworden ist. Mit dem Buddha-Werden ist für jeden, der das Wesen des Buddha­bekenntnisses versteht, das verbunden, daß die betreffende Wesenheit nicht mehr, nach dem physischen Leben, in welchem sie der Buddha geworden ist, auf der Erde wiederetscheinen kann. Also der Bodhi­sattva wird Buddha. Dann kommt er nicht mehr in einem gewöhn­lichen Leib nach den Gesetzen der Reinkarnation auf die Erde. Aber er hat einen Nachfolger. In dem Augenblick, als der Bodhisattva die

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Erleuchtung empfing und zum Buddha aufstieg, hatte er gleichsam einen Nachfolger zum Bodhisattva ernannt. Dieser nächste Bodhisattva wird nun immer als Mensch, als hervorragender Mensch erscheinen, bis er selber zur Buddhawürde aufsteigt. Nun wird es jeder Bekenner des Orientalismus als eine Wahrheit betrachten, daß genau fünftausend Jahre nach der Erleuchtung des Gautama Buddha unter dem Bodhi­baum der nachfolgende Bodhisattva zur Buddhawürde aufsteigen und als Maitreya-Buddha erscheinen wird. Das ist dreitausend Jahre nach unserer Zeit. So daß bis dahin in den verschiedensten Inkarnationen, die da kommen werden, ein Bodhisattva leben wird, der immer wieder und wieder auf der Erde erscheinen wird, der aber erst zur Buddha­würde aufsteigen wird dreitausend Jahre nach unserer Zeit, und dann auf der Erde ein großer Lehrer sein wird.

Das ist die höchste Individualität, zu der sich die orientalisierende okkulte Lehre erhebt. Dadurch, daß Frau Blavatsky gewissermaßen eingefangen worden ist von der orientalisierenden Richtung, war das Verständnis, das man für die Dinge erlangen konnte, begrenzt durch die orientalischen Begriffe. Nun wollte man aber auch den Europäern eine Art Verständnis für das Christentum geben. Aber man war nicht imstande, mit den orientalisierenden Begriffen wirklich das Christen­tum zu verstehen. Man kam nur bis zur Bodhisattva- und Buddha­Individualität. Die Folge davon war, daß auch die Hellseher nur bis zu einer Bodhisattva-Individualität kamen. Eine solche aber war vor­handen in einer Individualität, welche hunderfünf Jahre vor unserer Zeitrechnung gelebt hat in dem Jeshu ben Pandira, der zu den Essäern in einer besonderen Beziehung gestanden hat, der Schüler gehabt hat, unter anderen auch denjenigen, der dann das Matthäus-Evangelium vorbereitet hat. Eine solche Bodhisattva-Individualität, die der Nach­folger war des Gautama Buddha, war in jenem Jeshu ben Pandira ver­körpert. Von demselben spricht nun die orientalisierende Theosophie. Und es ist nun für den hellseherischen Blick gerade so, als ob hundert­fünf Jahre nach dem Jeshu ben Pandira in der Welt nichts Besonderes geschehen wäre. Nehmen Sie H.P. Blavatsky Sie richtete ihren okkul­ten Blick hin auf den Punkt, wo Jeshu ben Pandira gelebt hat; sie sah, daß darin eine große Bodhisattva-Individualität verkörpert war, aber

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weil ihr okkultes Auge durch das Einfangen in eine orientalisierende Theosophie begrenzt war, so konnte sie nicht sehen, daß hundertfünf Jahre danach der Christus da war. Kurz, sie wußte über den Christus nur das, was man im Abendlande über ihn sagte, und daraus bildete sich die Idee, es habe überhaupt nicht ein Christus gelebt, das sei alles Schwindel, sondern es habe nur hundertfünf Jahre vor unserer Zeit­rechnung ein Jeshu ben Pandira gelebt, der gesteinigt und dann an einem Baum aufgehängt worden ist, der also nicht gekreuzigt worden ist. Dieser Jeshu ben Pandira wird nun so beschrieben, als wenn er der Jesus vQn Nazareth gewesen wäre. Das ist aber eine vollständige Ver­wechslung. Und über den wirklichen Jesus von Nazareth, welcher der Träger des Christus gewesen ist, wird überhaupt nichts gesagt; den usurpiert man und nennt den, welcher hunderfünf Jahre früher da war, der «Christus». Weil man ihm einer europäischen Namen geben will, nennt man ihn Christus.

Wir aber müssen sagen: Man sieht in jener Strömung einfach nicht, was die Christus-Wesenheit ist. In dem Augenblicke, wo man auf so etwas aufmerksam machen muß, ist man natürlich in einer unangeneh­men Lage; das läßt sich nicht leugnen. Denn warum? Da muß ich schon sagen: Für jeden, der die eine oder die andere Wissenschaft kennt, gibt es Dinge, über die man streiten kann. - Aber es gibt doch solche Dinge, über die man nicht streiten kann, wo man, wenn der andere etwas anderes meint, sich sagen muß: Dann weiß er eben nicht, worum es sich handelt. - Nur kann man als ein außerordentlich hoch­mütiger Mensch angesehen werden, wenn man sagt: Das verstehst du nicht! - In dieser unangenehmen Lage sind wir, daß wir denen, die über den Jeshu ben Pandira wie von dem Christus sprechen, nicht zu­stimmen können. Sie sind eben nicht so weit, es zu verstehen. Es ist unangenehm, das sagen zu müssen, aber es ist so. Daher kann man es ihnen nicht verdenken, wenn sie von jener Wesenheit, welche sie ja auch anerkennen, so reden, als ob sie sich immer wieder im Fleische inkar­nieren könnte. Denn von jener Wesenheit, die als die Christus-Wesen­heit nur einmal im Fleische erscheinen konnte, haben sie keinen Be­griff. Und nun nehmen Sie das «Esoterische Christentum» von Annie Besant in die Hand, lesen Sie es genauer, als man in Theosophenkreisen

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gewohnt ist zu lesen: es wird eine Individualität darin geschildert, die hunderfünf Jahre vor unserer Zeitrechnung gelebt hat; es wird nur der Fehler gemacht, daß sie als «Christus » bezeichnet wird. Nehmen wir nun an, irgendeine Persönlichkeit, zum Beispiel die, welche das genannte Buch geschrieben hat, wollte nun sagen: Im 20. Jahrhundert erscheint in irgendeinem Menschen, im Fleische der, den sie damals beschrieben hat im «Esoterischen Christentum», - dann wäre dagegen gar nichts einzuwenden als nur, von unserem Standpunkte aus, das, was jemand zu hören bekäme, der nach Indien ginge und dort sagte:

Der Buddha wird wieder inkarniert. - Denn da würde ihm gesagt werden: Du bist eben ein ganz ungebildeter Europäer. Von Buddha wissen wir alle, daß er nicht wieder im Fleische erscheinen kann; da verstehst du nichts von dem Buddhismus. - Dasselbe müssen wir aber auch für uns Europäer in Anspruch nehmen, wenn jemand sagte, der Christus wird ein zweites Mal inkarniert. Dem würden wir antworten müssen: Das verstehst du nicht, denn die wirkliche Erkenntnis der Christus-Wesenheit zeigt uns, daß diese Wesenheit eine solche ist, welche nur einmal in einem fleischlichen Leibe erscheinen kann! - Das sind Verständnisse einer Sache, sagen wir verschiedenen Niveaus. Da gibt es dann kein Mißverständnis.

Ich frage: Worauf beschränkt sich das, was uns von irgendeiner orientalisierenden theosophischen Richtung trennen könnte? Leugnen wir, daß hundertfünf Jahre vor unserer Zeitrechnung ein Mensch ge­lebt hat, der wegen Gotteslästerung gesteinigt und danach an einem Baum aufgehängt worden ist? Nein, wir leugnen es nicht. Oder leug­nen wir, daß in dieser Wesenheit eine große Individualität verborgen war? Das leugnen wir nicht. Wir leugnen auch nicht, daß diese Wesen­heit sich im 20. Jahrhundert wieder inkarnieren kann. Wir anerkennen es. Gibt es also irgendeinen realen Punkt, wo wir leugnen würden, was in der anderen Strömung charakterisiert wird? Nur den, daß wir sagen müssen: Der, welcher von uns der Christus genannt wird, den kennt ihr nicht, ihr nennt nur einen anderen so. - Wir aber müssen uns das Recht vorbehalten, daß wir das richtigstellen dürfen. Sonst ist es nur eine Sache der Nomenklatur. Nur das eine gibt es nicht, daß ihr ausdrücklich sagt, daß nichts dagewesen wäre von dem, wovon wir,

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als am Ausgangspunkte unserer Zeitrechnung geschehen, reden. Denn da setzen wir hin unsere beiden Jesusknaben, die Johannestaufe im Jordan, das Mysterium von Golgatha. Davon redet ihr nichts! Wir dürfen doch das Recht haben, davon etwas zu wissen, wovon ihr nichts wißt. Denn sonst würde man dekretieren: Was wir nicht wissen, darf kein anderer wissen; denn das ist alles falsch, was wir nicht wis­sen. - In dieser Beziehung stehen wir auf dem Boden, daß wir gar ticht regieren, und wenn etwas negiert wird, so ist es von der anderen Seite.

So ließe sich sehr leicht jedes Mißverständnis beseitigen, das irgend­wie aufgeworfen werden kann. Daher ist es im Grunde genommen nie möglich, daß auf unserem Boden ein Mißverständnis entsteht, und es gibt auch keines. Nur müssen wir das Recht haben, daß wir okkulte Forschungen, die es einfach auf jenem Boden nicht gibt, weil man tichts von ihnen weiß, und die gerade das Problem des Westens un­endlich vertiefen, heranbringen zum theosophischen Leben. So sehen wir, daß es in einem wichtigen Punkte, wenn guter Wille vorhanden ist, gar nicht notwendig ist, daß irgendwelche Disharmonien inner­halb der theosophischen Strömung herauskommen. Dazu ist allerdings guter Wille notwendig, guter Wille nicht etwa dahingehend, daß man irgendeine Wahrheit verleugnet, die man als die richtige anerkennen kann. Das wäre nicht guter Wille, sondern Verleugnung der Wahr­heit. Aber guter Wille muß insofern vorhanden sein, daß man ver­nünftig ist. Denn, wodurch entstehen verschiedene Meinungen? Etwa dadurch, daß eine Sache von verschiedenen Standpunkten aus be­trachtet wird, oder auch vielleicht dadurch, daß sie von verschiedenen Höhen aus betrachtet wird? Ist das der Fall, dann wird der andere aber auch den Grund nicht angeben können. Und dann handelt es sich darum, daß man die Sache einsieht und Nachsicht hat.

Das ist das, was ich gerade am heutigen Tage, wo wir das erste Mal wieder beisammen sind, anführen muß als etwas, was wenigstens für uns feststehen muß und was angeführt wurde zum Beweise dafür, wie leicht es gerade innerhalb unserer Strömung ist, klar zu sehen, wenn man klar sehen will. Deshalb dürfen wir sagen: Wir haben es gar nicht nötig, irgend jemandem Opposition zu machen, wir können es ruhig

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abwarten, bis man uns Opposition macht. - Wir können ruhig weiter-arbeiten und würden diese Sache nicht hervorheben, würden auch heute hier davon nicht gesprochen haben, wenn nicht unsere Freunde dadurch beirrt würden, daß man sagt: Die Theosophen sind ganz un­einig untereinander. - Sobald man auf die Dinge eingeht, kommt man vielleicht auf die höchst unbequeme Sache, daß man sagen muß: Man weiß auf der anderen Seite gewisse Dinge nicht. - Das kann einem den Stempel des Hochmutes aufdrücken, und das wird man schon zu­weilen auf sich nehmen müssen, wenn man sich sonst dessen bewußt ist, daß man im Ernst demütig und bescheiden sein kann. Das war es auch, was in dem letzten Jahr notwendig war herauszuarbeiten als das, was wirklich an Fortschritt zu verzeichnen ist in der okkulten Arbeit seit der Mitte des 13.Jahrhunderts, wie es zum Beispiel dargestellt ist in dem Buche «Die geistige Führung des Menschen und der Mensch­heit». Diese Ergebnisse, die seit jener Zeit vorhanden sind, werden überhaupt kaum von irgendeiner anderen Strömung erwähnt als von der unsrigen. Daher dürfen wir sagen, daß wir die Unbequemlichkeit, auf die fortschrittlichsten okkulten Ergebnisse einzugehen, unserer okkulten Richtung schon einmal auferlegen. Und wir dürfen es als ein gutes Ergebnis unserer Sommerarbeit betrachten, daß zum Beispiel bei der Begründung des Arbeitszweiges in Neuchâtel das Bedürfnis bestand, den größten Lehrer des Christentums, Christian Rosenkreutz, in seinen verschiedenen Inkarnationen und in seiner Eigentümlichkeit einmal genauer kennenzulernen.

Ich selber habe heute vorgebracht, was vorgebracht worden ist, da­mit jeder von Ihnen die Möglichkeit hat, darüber Auskunft zu geben, wie die Sachen eigentlich liegen, wenn jemand von der anderen Seite sagt: Hier wird gesagt, der Christus inkarniere sich im 20. Jahrhundert wieder; dort wird gesagt, der Christus komme nur als geistige Wesen­heit. Das sind zwei verschiedene Standpunkte. - Nein, man darf nicht dabei stehenbleiben, daß es zwei verschiedene Standpunkte sind, son­dern man muß betonen - auch auf der anderen Seite -, daß man dort von jener Wesenheit spricht, welche hunderffünf Jahre vor unserer Zeitrechnung gesteinigt worden ist. Wenn aber zum Beispiel in dem letzten Buche von Annie Besant, «Ein Wandel der Welt», alle Dinge

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verwischt werden und nicht darauf aufmerksam gemacht wird, daß der Name Christus nur usurpiert wird, wenn also ein krasser Wider­spruch besteht zwischen dem «Esoterischen Christentum» und dem «Wandel der Welt», so sind das doch Dinge, auf die man hinweisen muß, damit nicht jemand glaube, in dem neuen Buche von Annie Besant sei von dem Christus die Rede. Denn sonst müßte Annie Besant sagen, sie mache durch das «Esoterische Christentum» einen dicken Strich und der Inhalt wäre nicht mehr richtig. Denn, wenn der Inhalt richtig wäre, so wird eben darin von einer Wesenheit gesprochen, die hundertfünf Jahre vor unserer Zeitrechnung gelebt hat und nicht in einer gewissen Weise im Beginne unserer Zeitrechnung, wie wir von dem Christus Jesus sprechen.

So ist das Charakteristische unserer Strömung dies, daß wir bis zu der neuesten Zeit mit unseren Mitteilungen über die okkulten For­schungsergebnisse hinaufgehen. Daher ist es auch in gewisser Be­ziehung, wenn auch unbewußt, eine Art Verleumdung, wenn wir

- nicht von uns selbst, sondern von Außenstehenden - « Rosenkreuzer» genannt werden. Es ist in gewisser Beziehung eine Art Verleumdung; wenigstens erinnert es, wenn Außenstehende uns «Rosenkreuzer» nennen, an eine niedliche Sache, die sich in einer mitteldeutschen Stadt auf dem Markt abgespielt hat, wo gesagt wurde, man wisse doch, daß der und der ein Phlegmatiker sei. Was, sagte da jemand, der soll ein Phlegmatiker sein? Ich weiß doch, daß er ein Metzger ist und nicht ein Phlegmatiker! - Aber dieselbe Logik, daß man, wenn man ein Metzger ist, kein Phlegmatiker sein kann, liegt zugrunde, wenn man sagen würde: Die Strömung, in der wir leben, sei keine theosophische, sondern eine «rosenkreuzerische». Warum pflegen wir rosenkreuze­rische Prinzipien? Weil es rosenkreuzerische Pflegestätten des Okkul­tismus gegeben hat, und weil wir rosenkreuzerische Ergebnisse, die da sind, die gepflegt worden sind, aufnehmen müssen in unsere theo­sophische Strömung hinein, wie wir unbefangen über Brahmanismus, Orientalismus, über älteres und neueres Christentum gesprochen haben. Ich glaube nicht, daß in vielen anderen theosophischen Zwei­gen als bei uns, wie dies geschehen ist, zum Beispiel gesprochen wor­den ist über die mexikanischen Gottheiten Quetsalkoatl und Tezkatlipoka.

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So aber werden neben all den übrigen Dingen auch die rosenkreuzerischen okkulten Ergebnisse aufgenommen. Das ist ganz natürlich, wenn man es nicht verschmäht, okkulte Dinge aufzunehmen. Und wenn wir ein gut Stück von Symbolen haben, die aus dem Rosen­kreuzertum genommen sind, so rührt das davon her, daß solche Dinge auf das Gemüt und Herz des modernen Menschen am besten wirken. So sind wir gerade deshalb moderne Theosophen, weil wir es nicht verschmähen, die modernsten Forschungsresultate aufzunehmen. Oder hat vielleicht jemand schon einmal gehört, daß ich die Anrede ge­braucht habe: Meine lieben «rosenkreuzerischen» Freunde? - Gerade weil wir auf dem allgemeinen Boden der Theosophie stehen, geschehen solche Dinge. Daher ist es eine unbewußte Verleumdung, wenn unsere Bewegung belegt wird mit der Bezeichnung «rosenkreuzerisch». Mit diesen Dingen muß man Nachsicht haben.

Unsere Aufgabe wird sich nun in diesem Winter besonders darauf beziehen, Lehren, Wahrheiten, die wir früher empfangen haben, noch mehr zu vertiefen. So möchte ich namentlich, um den Boden vor­zubereiten und demnächst auch hier über Christian Rosenkreutz spre­chen zu können, über die dreifache Gliederung des Menschen und ihre wirklichen Gründe sprechen, insofern der Mensch ein solcher ist, der intellektuelle, ästhetische und moralische Impulse aufnehmen kann. Wir werden diese Dinge sehr tief in den okkulten Untergründen suchen müssen und die Lehren, welche wir zum Beispiel empfangen haben über die Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung, gerade dadurch zur Vertiefung bringen, daß wir den intellektuellen, den ästhetischen und den moralischen Menschen betrachten.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 19. März 1912

Ich möchte Ihnen heute zur Einleitung unserer Betrachtungen zuerst zwei novellenartige Geschichten erzählen. Die erste Geschichte, aus der ich die genaueren Daten auslasse, wäre zunächst die folgende:

Es lebten einstmals zwei Knaben. Diese beiden Knaben waren innig miteinander von frühester Jugend an befreundet. Der eine war ganz besonders begabt, lernte außerordentlich leicht und brachte es bei seinem Heranwachsen sehr bald dazu, die besten Hoffnungen zu er­wecken, einen höheren akademischen Grad zu erzielen. Der andere der beiden Knaben war weniger begabt. Er mußte, da ihn der Freund außerordentlich gern hatte, von diesem immerzu unterrichtet werden, es mußte ihm nachgeholfen werden, und sonderlich viel konnte er nicht lernen. Das schadete zunächst für sein äußeres Leben insofern nicht außerordentlich viel, als er zunächst ein kleines Erbteil und da­von sein Auskommen hatte. Der Knabe, der der begabtere war, der nun zum Jüngling herangewachsen war und bald vor der Erringung eines akademischen Grades stand, starb aber dahin. Und da es in der Gegend, wo diese Geschichte spielt, üblich ist, sehr bald eine Familie zu gründen, so hatte der andere, der dümmere, schon zu sorgen für die Familie des Hingestorbenen. Das tat er, aber dadurch ging sein Erb­teil sehr bald dahin. Er sagte sich aber: Da sich die geistigen Gaben meines Freundes so vergänglich erwiesen haben, so werden sehr bald auch meine äußeren Gaben dahin sein; ich muß mir also jetzt eine äußere Existenz gründen. Das tat er, indem er Kaufmann wurde. Er mußte sehr viel herumreisen. Als er einmal in einer fremden Gegend vor einem Hause saß, setzte sich zu ihm ein riesengroßer Mann. Der machte den Eindruck, als wenn er viele Tage nichts gegessen hätte und als wenn ihn sehr hungerte. Da erbarmte sich der andere und ließ ihm Speise bringen: die war sehr schnell verzehrt. Der reisende Kauf­mann sah es und war außerordentlich erstaunt. Und da die eine Speise nicht ausreichte, um seinen Hunger zu stillen, so brachte er ihm noch eine zweite. Die aß der große Mann mit ebensolchem Heißhunger, und

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dann sagte er, wenn er aber satt sein sollte, müßte er noch einen ganzen Schweineschinken und sehr, sehr viele Kuchen haben. Die aß er alle auch auf und war dann anscheinend von seiner sehr bedeutenden Mahl­zeit satt. Durch dieses Ereignis waren sie Freunde geworden, der große und der kleine Mann, und sie machten nun die Wanderung zu­sammen. Der Große wurde dem Kleinen aber bald sehr lästig, und dieser sagte daher, er könne seine Gesellschaft entbehren. Der Große versicherte aber dem Kleinen seine Freundschaft und sagte, er wolle ihn nicht verlassen, nicht in Leid und nicht in der Freude. Nun hatte der Kleine die Sehnsucht, den Großen nach seinem Leben zu fragen. Da sagte der: Ich habe auf der Erde kein Haus, ich habe auf dem Meere kein Boot; ich wohne bei Tag im Dorfe, bei Nacht in der Stadt. -Diese Ausdrücke verstand zunächst der Kleine sehr wenig. Da ereig­nete es sich, daß sie über einen breiten Fluß übersetzen mußten. Das Schiff, auf dem sie beide saßen, kenterte und ging unter. Da fielen die beiden, der Kleine und der Große, ins Wasser. Der Große erhob sich außerordentlich rasch, trug den Kleinen zu einer gesicherten Stelle, brachte auch das Boot herbei und setzte den Mann hinein, tauchte dann wieder unter und holte alle die Kaufmannsschätze hervor, die der Kleine verfrachten wollte, bis auf alle Einzelheiten, die hinunter-gesunken waren. Da hatte der Kleine vor dem Großen selbstverständ­lich einen außerordentlichen Respekt bekommen und sie führten nach Freundesart mannigfaltige, unter anderen auch tiefe Gespräche. So sagte der Kleine zum Großen: Ach, wenn man nur könnte sich er­kennend zum Himmel erheben, und wenn es doch möglich wäre, zu wissen, was da oben vorgeht! - Da antwortete ihm der Große: Hast du vielleicht Lust, dich in die Luft zu erheben? - Und als der Kleine es bejahte, fühlte er sehr bald etwas wie Müdigkeit und schlief ein. Als er wieder aufwachte, sah er oben die Sterne, wie Staubfäden im Kelch der Lotosblume im Himmel steckend; einen konnte er sogar pflücken und verbarg ihn in seinem Ärmel. Er sah dann herankommen ein großes Drachenschlff, von Drachen gezogen und gelenkt. Darauf war ein großes Faß mit Wasser, und der Große machte den Kleinen darauf aufmerksam, der nun bei ihm in den Wolken war, daß man das Wasser so ausgießen könne, daß es dann auf die Erde herunterträufelt.

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Und der Kleine verstand, daß er in der Lage war, in der sonst die Geister der Luft sind, wenn sie den Regen auf die Erde herunter­träufeln lassen. Er bat nur noch den Großen, das Wasser aus dem Faß über seinen Heimatort auszuschütten. Dann bat er ihn, daß er ihn an einem Seil wieder herunterlasse auf die Erde. Aber der Große sagte ihm vorher noch: Siehe, du hast mich jetzt gerettet; ich bin ein Sohn des Donnergottes und habe meinen Dienst zu leisten bei der Begabung der Erde mit Regen und so weiter, und da ich eine Weile meinen Dienst nicht ordentlich geleistet habe, so mußte ich das Leben führen, das du kennst. - Dann ließ er den Kleinen wieder herunter auf die Erde. Der war nun wieder in seiner Heimat und brachte auch den Stern mit, den er gepflückt hatte auf der Himmelswiese, und stellte ihn auf seinem Tisch auf. Da erhelite dieser wundersam das ganze Zimmer; man konnte lesen bei dem Schein dieses Sternes, der sich bei Tag nur wie ein einfacher Meteorstein ausnahm, bei Nacht jedoch glänzte er wun­derbar auf. Das ging so lange, bis die etwas eitle Frau des Mannes ein­mal bei dem Sternenschein ihr Haar kämmte; das ließ er sich nicht gefallen und wurde kleiner und kleiner. Eines Tages hatte die Frau den merkwürdigen Trieb: verschlucke den Stein! Und die Folge da­von war, daß der kleine Mann plötzlich die Erscheinung hatte des ihm ja wohlbekannten großen Mannes, der ihm sagte: Siehe, durch das, was jetzt eingetreten ist, kann ich eine besondere Entwickelungsstufe erreichen. Ich werde jetzt als Sohn des Donnergottes eine Weile auf die Erde kommen können: Deine Frau wird mich als deinen Sohn gebären; ich werde dein Sohn sein! - Und tatsächlich wurde er als der Sohn dieses Mannes geboren. Dieser Sohn hatte die Eigenschaft, im Dunkeln zu leuchten wie einst der Stern, so daß man ihn auch das Sternkind nannte. So lebte er heran. Obzwar sein Leuchten mit dem Heranwachsen abnahm, zeigte es sich doch in Form seiner großen Begabung. Er wurde sehr bald ein außerordentlich bedeutsamer Mensch im Leben.

Das ist die eine novellistische Geschichte. Sie werden mich nun fragen, warum erzähie ich Ihnen diese Geschichte? Aber bevor ich Ihnen dies sage, werde ich Ihnen eine zweite, ähniiche Geschichte erzählen:

Es war einmal ein Mann, den man bei uns vielleicht einen Hofrat

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oder einen Regierungsrat nennen würde. Der hatte nun mit seiner Familie ein außerordentlich schönes, geräumiges Haus bewohnt. Aber nach einiger Zeit stellte sich in diesem Hause etwas Kurioses heraus:

daß man nämlich bei Tag, namentlich aber bei Nacht in diesem Hause keine Ruhe haben konnte; man wurde von allen Seiten immerdar ge­stoßen, gekneipt, alle Dinge wurden einem vorgeworfen, kurz, ein furchtbarer Gespensterspuk stellte sich heraus. Daher verließ man dieses Haus und ein anderes wurde bezogen. Man ließ nur einen Diener zurück zur Bewachung. Aber dieser Diener starb sehr bald, nach einigen Tagen. Man schickte bald einen zweiten hin; der starb eben­falls. Mit einem dritten ging es ebenso, so daß man nun das Haus ohne Diener lassen wollte. Da kam ein junger Mann, ein Freigeist, der sich zum Examen vorbereiten sollte und dazu dieses Haus beziehen wollte. Der Hofrat warnte ihn: da könne man nie wieder lebendig heraus­kommen, jedenfalls erfahre man die furchtbarsten Dinge. Aber der junge Mann sagte: Ich habe eben eine Abhandlung geschrieben über die «Unwirklichkeit der Geister», die ist ein Beweis dafür, daß es keine Geister gibt. Ich könnte noch viel dergleichen schreiben, und ein Mensch, der so etwas geschrieben hat, fürchtet sich nicht vor dem, was in einem solchen Hause vorgeht! - Da ließ sich der Hofrat be­wegen, ihm das Haus zu überlassen. Der junge Mann nahm eine ganze Anzahl von Büchern mit, die er durchstudieren wollte, und setzte sich nieder, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Aber es dauerte nicht lange, da zupfte ihn etwas bald am einen Ohr, bald am andern Ohr, bald wieder woanders, kurz, in der mannigfaltigsten Weise wurde er be­helligt. Und als er dann schlafen ging, da ging es erst recht los. Er hatte die ganze Nacht keine Ruhe, und der gute Freigeist fing an, sich in der jämmerlichsten Weise zu fürchten. Er wollte aber doch nicht der Schande preisgegeben werden und hielt deshalb stramm aus. Und da er so ausgehalten hatte, zeigten sich ihm auch die geisterhaften Ge­stalten, die sich über seine Bücher beugten, zum Beispiel den Spaß machten, ihm die Augen zuzuhalten, wenn er lesen wollte, und der­gleichen. Recht couragiert war ja der gute Mann, aber die Sache war doch schauerlich. Das ging nun in der Weise weiter, bis er durch seine Gutmütigkeit eine Art Freundschaft schloß mit den zwei geistigen

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Wesenheiten, welche ihn da immer neckten und ihn von allen Seiten molestierten. Da kam es denn so weit, daß er die Entdeckung machte:

die können nicht lesen, möchten aber gerne lesen können. Und so stellte sich heraus, daß er eine richtige Geisterschule einrichtete und sie unterrichtete im Nachschrejben von allerlei Dingen, die in seinen Büchern standen und so weiter. Sie waren dafür außerordentlich dank­bar, und so hatte jedes etwas gelernt. Für ihn war jetzt der Geister-umgang recht kurzweilig geworden, und die Geister, die im Hause wohnten, hatten sogar durch ihn etwas profitiert. So rückte die Zeit heran, wo er sein Examen machen sollte. Er hatte unter diesem mancherlei Amusement so viel gelernt, daß er hoffte, in das Examen gehen zu können. Er hatte aber einen Feind. Der brachte es dahin, daß sich das Gerücht verbreitete, er hätte sich seine schriftlichen Examen erschwindelt. Weil man nun in jenem Lande in solchen Sachen außerordentlich streng ist und weil man dies zunächst glaubte, so wurde er darüber eingesperrt. Nun war er im Gefängnis, und man sperrte ihn recht lange ein und gab ihm auch nichts zu essen. Eines Tages aber brachte ihm eine seiner Geistfreundinnen zu essen. Sie brachte dann auch die andere mit, und sie versorgten ihn mit allem, was er brauchte. Daher spann sich zwischen ihm und einer der Geist-freundinnen eine noch viel größere Freundschaft, als sie schon vorher bestand. Und die Folge war, daß, nachdem sich seine Unschuld er­wiesen hatte und er wieder freigelassen worden war, er jetzt seine Geistfreundin, obwohl er früher die Unwirklichkeit der Geister «be­wiesen» hatte, für so «wirklich» hielt, daß er sogar beschloß, sie zu heiraten! Sie aber sagte, in der Lage, in der sie wäre, könne sie nicht heiraten, denn sie gehöre der geistigen Welt an. Wenn er aber zu einem bestimmten Zauberpriester ginge und diesen um Rat frage, dann gäbe es einen Ausweg. So ging er zu dem Zauberpriester, und der gab ihm einen Zauberspruch, indem er ihm sagte: Seine Geistfreundin solle, wenn ein Leichenzug vorbeiginge, gerade bei dem Sarge den Zauberspruch verschlucken, dann könne sie Mensch werden und ihn heiraten. - Nicht lange danach sollte dort auch wirklich ein Begräbnis stattfinden. Da ging die Geistfreundin an den Leichenzug heran, ver­schluckte den Zauberspruch und verschwand auf der Stelle in den

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Sarg hinein. Man war höchst überrascht, daß man da die Gestalt, die äußerlich sichtbar war - denn sie war auch für andere sichtbar ge­worden, als sie den Zauberspruch verschluckte -, in den Sarg hatte hineinverschwinden sehen. Man stellte also den Sarg auf die Erde, öffnete ihn, aber da stellte sich heraus, daß überhaupt keine Leiche drinnen war. Das Begräbnis konnte daher nicht stattfinden. Dafür aber kam die Geistfreundin nach einigen Tagen zu dem Freunde und er­zählte ihm, sie sei jetzt der Mensch geworden, der dort im Sarge war und sie könnten sich jetzt ehelich verbinden. Und so lebten jetzt die beiden, die sich in dem Gespensterhause kennengelernt hatten, zu­sammen als Ehefreunde weiter.

Wenn Sie ein wenig diese beiden Geschichten überdenken, so wer­den Sie sich eines gestehen müssen. Wenn Sie allüberall die Literatur durchblättern, die den Europäern zugänglich ist: ähnliche Geschich­ten, und wenn man auch in die ältesten Zeiten des Gespensterglaubens zurückgeht, findet man nicht. Man findet ein Hereinspielen der Geister-welt in die Welt des Menschen. Aber in einer solchen Weise, daß man in dem Moment, wo man die Erzählung liest, unbedingt die Meinung hat: natürlicher kann man nicht die Geisterwelt in die menschliche hereinspielen lassen - finden Sie wohl in der europäischen Literatur solche novellistische Erzählungen nicht. Sie sind ganz eigenartig. Wenn man die Art und Weise verfolgt, wie in diesen Erzählungen vor­gegangen wird, so fällt das Eigenartige auf daß zum Beispiel in der ersten Erzählung gesagt wird: Ein Stern wird geboren als ein Sohn eines Menschen und lebt dann auf der Erde als Mensch weiter! - So daß es also sozusagen für ein Bewußtsein, das so denkt, wie es bei der ersten Novelle zugrunde liegt, eine Selbstverständlichkeit ist, daß da Wesen auf den Sternen sind, die urverwandt sind mit den Menschen-wesen, und daß die, welche als Menschen auf der Erde herumgehen, eigentlich verkörperte Sternwesen sein könnten. Das liegt als eine völlige Selbstverständlichkeit der ersten Erzählung zugrunde. Der zweiten liegt zugrunde, daß ein Mensch, der sich verbindet, sogar ehelich verbindet mit einem andern Menschenwesen, zuerst dieses andere Menschenwesen kennenlernt in der geistigen Welt, und daß dieses Wesen dann heruntersteigt in die physische Welt und dort

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weiterlebt. Also ern ganz ähnlicher Zug wie bei der ersten Erzählung. Dieses ganz eigenartige Zusammenieben mit der geistigen Welt - nicht nur, wie wir es in unsern europäischen Sagen und Legenden finden, sondern auf dem ganz andern Grund und Boden, wie wir das gleich besprechen werden -, so eigenartig wie dort tritt es uns in der ge­samten europäischen Literatur nicht entgegen, es sei denn, daß in der neueren Literatur solche Dinge nachgemacht würden.

Nun erinnern Sie sich an etwas, was ich in einem der letzten öffent­lichen Vorträge gesagt habe. Ich habe da, wie man es bei einem öffent­lichen Vortrage tun kann, gesprochen über den Hergang der Erden-entwickelung und über den mit der Erdenentwickelung verbundenen Ursprung des Menschen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß das, was wir jetzt die Entwickelung der Menschheit nennen, verhält­nismäßig spät seinen Anfang genommen hat. Heute sprechen wir so von der Entwickelung des Menschen und der Menschheit, daß wir sagen: Wenn ein Mensch in das physische Erdendasein hereintritt, so kommt zunächst das, was wir seinen inneren Wesenskern nennen, aus einer vorhergehenden Inkarnation. Das arbeitet in dem Menschen innerhalb eines gewissen Spielraumes, bildet plastisch die feineren Organe, das Gehirn, die feinere Leiblichkeit überhaupt aus, kurz, wir haben in dem Menschen einen geistig-seelischen Wesenskern, der aus früheren Inkarnationen kommt und der sich einhüllt in das, was von den Vorfahren kommt und durch die Generationen, durch die phy­sische Vererbung weitergetragen wird. So haben wir in einem Men­schen, der auf der Erde auftritt, zusammengefügt das, was aus früheren Inkarnationen kommt, mit dem, was von Generation zu Generation getragen wird und sich herumlegt um das, was von Verkörperung zu Verkörperung geht. Nun habe ich gesagt, daß diese Art der Mensch­heitsentwickelung erst eingetreten ist während der atlantischen Zeit, als Bedingungen auf der Erde auftraten, welche eine solche Entwicke­lung des Menschen und der Menschheit möglich machten. Und ich habe darauf hingedeutet, daß dieser Art und Weise der Menschheits­entwickelung eine andere vorangegangen ist, in der tatsächlich nicht auf dem Wege der Wechselwirkung von Mann und Frau und des Zu­sammentretens dessen, was von Mann und Frau kommt, mit dem, was

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durch die verschiedenen Verkörperungen hindurchgeht, der Mensch das Erdendasein betteten hat, sondern daß wir, wenn wir weiter zu­rückgehen in der Erdenentwickelung, auf eine ganz andere Art und Weise von Menschenentstehung und Menschenursprung kommen, weil die Erde das, was sie im Laufe der Zeit geworden ist, erst in der nachatlantischen Zeit geworden ist. Nicht so grundverschieden von der jetzigen Erdengestaltung war die letzte adantische Zeit. Aber die erste atlantische Zeit war doch so grundverschieden von der späteren, daß sich alle die über die Konfiguration der Erde eine falsche Vor­stellung machen, die nicht damit rechnen, daß in dieser Zeit ganz andere Verhältnisse herrschten. Denn die Erde war, nachdem sie durchgemacht hatte die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, nicht nur ein lebendes Wesen, sondern auch ein geistiges Wesen, ein großer, von Geistigem und Seelischem durchzogener Organismus. Wir kom­men nicht zurück zu einem leblosen Gasball im Sinne der Kant­Laplaceschen Theorie, sondern wir kommen zurück zu der Erde als einem großen Lebewesen. Und die Entwickelung der Menschheit war in den älteren Zeiten so, daß eine Befruchtung nicht stattfand zwischen Mann und Frau, sondern zwischen «oben» und «unten», in der Weise, daß die Erde in ihrer Lebendigkeit hergab mehr das substantielle Ele­ment, das mehr materielles Element war, während von oben, wie Regen, der sich befruchtend ergießt über Wiesenflächen, das geistige Prinzip kam und sich verband mit dem mehr materiellen Prinzip. Durch diese Befruchtung traten die ersten Menschen ins Dasein. Das ist es, was wir gezeigt haben und was sogar in dem vorhin erwähnten öffentlichen Vortrage besprochen worden ist, und was sich auch lo­gisch rechtfertigen läßt, wenn man die Errungenschaften der Natur­wissenschaft in richtigem Sinne betrachtet.

Dann sonderte die Erde eine feste Masse wie eine Art Knochen-system aus, und es wurde nun unmöglich, daß sie etwas, was sie früher hergab wie ein zu befruchtendes Ei, weiter hergeben konnte. Es mußte das mehr an das Innere des Menschen abgegeben werden. An Stelle der Befruchtung von oben trat nun die Befruchtung durch die beiden Geschlechter, und was früher eingeprägt worden ist durch die Wech­selwirkung von oben und unten, das ging über in die Vererbungsverhältnisse

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und in die mit den Vererbungsverhältnissen verbundenen Reinkarnationsverhältnisse. Dadurch verbarg sich das, was sich früher an der Oberfläche abgespielt hatte, im Innern. Es traten Menschen auf, die immer mehr und mehr fähig wurden, im Sinne einer in der Ver­erbung fortlaufenden Fortpflanzung die Eigenschaften, die früher der Mensch erhalten hatte aus der geistigen Sphäre, zu vererben oder von Reinkarnation zu Reinkarnation zu übertragen. Es braucht nur erinnert zu werden an einzelne Dinge, welche damals gesagt worden sind: wie die ersten Menschen, die da auftraten, zuerst doppelgeschlechtig waren, wie dann die Differenzierung eintrat in das Männliche und in das Weibliche und wie sich dann die gegenwärtigen Verhältnisse heraus-gestalteten, so daß das, was früher mehr von oben wirkte - das mehr weibliche Element -, überging an die Frau, und was mehr in dem irdi­schen Element wirkte, in der Vererbungslinie überging an den Mann.

Nun ist Ihnen aus verschiedenen Andeutungen, die im Laufe der Jahre über Menschheit und Menschheitsentwickelung gemacht wor­den sind, auch klar, daß diese Verhältnisse bis in die atlantische Zeit hineingespielt haben, und daß eigentlich erst in der zweiten Hälfte der atlantischen Zeiten die gegenwärtige Form der Menschheitsentwik­kelung auftrat. Wenn wir also zurückblicken auf die atlantische Bevölkerung unserer Erde, so müssen wir sagen: Diese atlantische Bevölkerung unserer Erde lebte ja eigentlich mitten drinnen noch in den Überbleibseln der alten Verhältnisse, der Befruchtung irdischer Substantialität durch himmlische Geistigkeit. Für sie war die Ent­stehung eines Menschen die unmittelbare Verkörperung, das Herab­steigen eines Geistigen in das Substantielle. - Wie wir den Regen vom Himmel fallen und die Erde durchfeuchten sehen, so sah die atlan­tische Bevölkerung den Menschen heruntersteigend aus himmlischen Höhen, sich verbindend mit einer Substantialität, welche die Erde her-gab, sich darin verkörpernd und dann herumgehend auf der Erde. Die Verhältnisse änderten sich nur langsam und allmählich, so daß in ge­wissen Gebieten schon lange die Vorbereitungen zu den gegenwärti­gen Verhältnissen vorhanden waren, während in andern Gebieten, wo die Vorbedingungen für die alten Verhältnisse sich erhalten hatten, es so war, daß die Menschen wußten: der Mensch ist zuerst oben in

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der geistigen Welt und sucht sich dann eine körperliche Substanz, um sich zu verbinden mit der Erdenmenschheit. Wenn also der Mensch in der atlantischen Zeit seine Mitmenschen hat herumgehen sehen, so sagte er sich: Das ist ja der Erde entnommen; aber was da drinnen ist, das ist derselben Welt entnommen, welcher die Sterne angehören; der Mensch ist aus den Sternenwelten heruntergestiegen. - So wußten die Menschen etwas, was wie ein Märchen aus alten Tagen klingt, daß der Mensch aus himmlischen Höhen heruntersteigt, sich mit Erdenmaterie umhüllt und umkleidet. Sie kannten die Wechselwirkung von Himmel und Erde, und indem sie den Menschen in die Erde hereingestellt sahen, wußten sie: Der Mensch steigt herunter, er ist zuerst ein Geist; wenn er Materie annimmt, geht er auf dem Erdenrund herum! - Also ein Himmeiswesen, ein Wesen aus der geistigen Welt sah man in dem Menschen. Denn man wußte: so wie man als Mensch herumgeht, unterscheidet man sich von den Geistern nur dadurch, daß die Men­schen mit Materie umkleidet sind, die Geister nicht. Es war ein sanfterer Übergang von der geistigen Welt zur physischen Welt. Und nicht nur, daß es für den Atlantier ein Unsinn gewesen wäre, die geistige Welt abzuleugnen, sondern es war für ihn auch klar, daß doch kein so großer Unterschied war zwischen physischen Menschen und Geistwesen, die der geistigen Welt angehören. Er wußte: mit einem Menschen kann man verkehren durch Zeichen, indem man die ersten Elemente der menschlichen Ursprache verwendet, mit den Geistern auch, aber so, daß der Verkehr des Menschen mit den Geistern in einer ähnlichen Weise geschieht wie mit den Menschen.

Von diesem unmittelbaren Wissen eines Zusammenhanges des Menschen mit der geistigen Welt hat sich selbstverständlich über die atlantische Katastrophe hin wenig erhalten. Es war die nachatlantische Zeit im wesentlichen dazu berufen, im Menschen den Sinn für das Erdendasein auszubilden für alles, was man durch die Ausbildung der physischen Werkzeuge, des Leibes, gewinnen kann, so daß das selbst­verständliche Zusammenleben mit der geistigen Welt sehr bald im Laufe der nachatlantischen Zeit verschwand. Aber was für das nor­male Bewußtsein verschwindet, das erhält sich im atavistischen Hell-sehen, in Momenten, wo die Seele besonders mit sich selber ist. Man

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möchte sagen: Was früher Erfahrung ist, was die Seele durchmacht, indem sie den Blick in die geistige Umwelt richtet, das wird später wiedergeboren, aber als Phantasie wiedergeboren. Nehmen wir an, es würde irgendein Volk der nachatlantischen Zeit geben, das ganz be­sonders dadurch ausgezeichnet wäre, daß es am allermeisten noch zu­rückbehalten hätte von den Eigentümlichkeiten und Kräften der atlantischen Zeit. Natürlich würde dieses Volk in der nachatlantischen Zeit nicht atlantische Erlebnisse haben können. Aber in seiner Phan­tasie müßte etwas auftreten, was seine Phantasie unterscheidet von dem, was die Phantasie weniger zurückgebliebener Reste atlantischer Rassen sind, die sich neu gebildet haben. Die tonangebenden Rassen der nach-atlantischen Zeit werden daher weniger erstehen lassen diesen selbst­verständlichen Umgang des Menschen mit der geistigen Welt. Ein Volk dagegen, das dadurch ganz besonders charakteristisch ist, daß es wie hereingebracht hat in die nachatlantische Zeit, was man in diese hereinbringen kann als Seelenverfassung aus der atlantischen Zeit, ein solches Volk muß ganz andere Nachwirkungen zeigen in der Seele als die eigentlichen nachatlantischen Rassen. Bei einem Volke, das so charakterisiert werden könnte im Sinne der okkulten Weltauffassung, daß es nicht zu den fortschreitenden Rassen gehört, sondern wie ein Zurückgebliebenes aus den alten atlantischen Rassen sich darstellt, bei ihm müßten wir vermuten, daß die Phantasie, die erzählt vom Zu­sammenhange der Menschenwelt und der Gespensterwelt, in einer ganz anderen Weise wirkt als bei andern Völkern. Bei einem solchen Volke könnten wir vermuten, daß in einer grotesken Weise in der Phantasie so etwas auftreten wird, wie wenn das Wesen eines Sternes plötzlich den Entschluß faßt, sich als Sohn eines Menschen zu ver­körpern, der diesem Sterne Wohltaten erwiesen hat, wie es in unserer ersten novellistischen Geschichte erzählt ist, wo wir sehen, daß ein Sternwesen als Sohn des befreundeten Menschen geboren wird, der mit dem geistigen Wesen, das der Sohn des Donnergottes ist, eine Weile auf der Erde herumgegangen ist. Und auf der andern Seite sehen wir an der zweiten Erzählung, daß ein ganz sanfter Übergang ist zu dem Verlieben mit dem Geistwesen da oben, und daß ein solches Wesen dann nicht auf dem gewöhnlichen Wege der Menschenwerdung

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heruntersteigt, sondern sich auswählt einen toten Körper und sich so herunterbegibt. Das ist so, wie wenn eine atlantische Seele, die oft gesehen hat, wie ein Mensch heruntersteigt und irdische Sub­stanz annimmt, sich verirrt hätte in einen Körper, der gar nicht der nachatlantischen Zeit angemessen ist, sondern der atlantischen Zeit, wo man nicht geboren werden brauchte in der jetzigen Weise, sondern einfach die Erdenmaterie annahm. In diesem Sinne könnten wir solche Erzählungen als eine Nachwirkung früherer Zustände auffassen. Wir würden uns also bei einer Rasse, die Überbleibsel früherer atlantischer Rassen wäre, über solche Erzählungen nicht wundern. Und interessant ist es, daß eine Reihe solcher Erzählungen, die ganz denselben Charak­ter tragen wie die angeführten, von Martin Buber gesammelt und unter dem Titel «Chinesische Geister- und Liebesgeschichten» erschienen sind. Das zeigt, daß wirklich das der Fall ist, was vermutet werden darf nach dem, was uns die okkulte Wissenschaft zeigt, wenn es auch nur Traditionen sind.

So sehen wir, wie wir alles, was uns in der Welt entgegentritt, licht-voll beleuchten können,wenn wir nur Geduld haben, um die intimeren Zusammenhänge der Weltenentwickelung wirklich ins Auge zu fassen. Die Menschen der Gegenwart werden vielfach mit Staunen vor sol­chen Dingen stehen. Begreifen werden sie dieselben aber erst, wenn sie sehen, daß so etwas für den, der die intimeren Zusammenhänge der Menschheitsentwickelung erfaßt, eben einfach selbstverständlich ist. Man wird Geisteswissenschaft nicht etwa dadurch besser und besser begreifen, daß man pedantisch logische Beweise fordert, denn Beweise sind nur für den gut, der die Behauptungen glauben will, Beweise sind nur für den da, der sie als «Beweise» glauben kann. Man braucht aber einfach nicht an die Beweise zu glauben, dann erspart man es sich, an die Behauptungen zu glauben! Geisteswissenschaft wird sich in die Seelen dadurch einleben, daß sich immer mehr und mehr zeigen wird, wie bis in die geheimsten Winkel der geistigen und auch der mate­riellen Kultur die Gesetze, deren Erkenntnis nur auf okkultem Wege gewonnen werden kann, immer mehr und mehr Raum gewinnen. Die Weistümer werden sich dadurch einleben, daß immer mehr und mehr Menschen die Geduld haben werden, zu verfolgen, wie alles, was man

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zusammenzutragen vermag aus der Welt, um es in das Licht einer geistigen Weltanschauung zu rücken, durchaus zusammenstimmt, und wie auf diese Weise die Dinge erst ihre volle Beleuchtung und ihre wahre Erklärung erfahren können, während sie sonst unverstanden bleiben.

Wenn wir dies ins Auge fassen, werden wir sagen können: Die nachatlantische Kultur hat ihre besondere Aufgabe; diese nämlich, daß allmählich von der Menschheit, welche ihre Zeit in der rechten Weise versteht, die Erkenntnisse, die Willensbetätigungen und die Gemüts-verfassungen angeeignet werden, die mit Hilfe der leiblichen Werk­zeuge angeeignet werden können. In dieser Beziehung wird immer weiter- und weitergeschritten werden können. Mit diesem Weiter-schreiten steht man im Grunde genommen drinnen in der Entwicke­lung, die begonnen hat eben mit der Kultur der heiligen indischen Rishis bis zum Herabsteigen des Christus-Impulses in unsere Mensch­heit. Daneben aber ist vieles enthalten, was wie gebundenes, altes spiri­tuelles Gut in der Menschheit vorhanden ist. War ja die europäische Menschheit im höchsten Grade schon verwundert darüber, daß un­mittelbare spirituelle Einblicke in die Welt der europäischen Mensch­heit zukamen, als erschlossen werden konnten die Weistümer Indiens oder des alten Persiens: die Krishna- oder Brahmankultur, die Kultur des alten Zarathustra und so weiter. Mehr als in den späteren Erzeug­nissen der Erkenntnis war naturgemäß das spirituelle Element in den älteren Kulturen vorhanden. Und als man vom Abendiande aus mit diesen älteren Kulturen bekannt wurde, da wirkten sie verblüffend, zum Beispiel als sie erschlossen wurden von der deutschen Geistes-entwickelung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in der Weise, wie Friedrich Schlegel das Indertum erschlossen hat, oder wie später das Persertum erschlossen worden ist. Das wirkte so verblüf­fend, daß wir, wenn wir dies berücksichtigen, philosophische Rich­tungen verstehen, auf welche die orientalische Philosophie einen tiefen Einfluß genommen hat, wie zum Beispiel bei Schopenhauer oder Eduard von Hartmann. Da haben wir das erste Erstaunen des Abendlandes gegenüber dem, was wie eine gebundene Spiritualität in diesen älteren Kulturen erhalten ist. Wir stehen jetzt einer andern Epoche gegen­über, der Epoche, in welcher noch eine ganz andere gebundene Spiritualität

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das Abendland wird in Verwunderung setzen können, näralich diejenige Spiritualität, die zwar durchaus nicht der Mission der nach-atlantischen Menschheit angehört, die ihr aber wie ein Erbgut von früher geblieben ist, die verhüllt war bis in unsere Epoche herein innerhalb des dem Abendlande recht unbekannten chinesischen Geisteslebens. Und es wird nur eines Umstandes bedürfen, um sozu­sagen das, was da geschehen wird, geradezu zum Überwältiger zu machen der europäisch abendländischen Geisteskultur, so daß diese etwa ihre eigentliche Mission, ihre eigentliche Bedeutung und Aufgabe würde vergessen können. Es wird der Mensch, der immer mehr und mehr in die Zukunft hineiniebt, sich klarmachen müssen, daß auf un­serem Erdenrund gebundenes Geistesgut, spirituelle Erkenntnis, die aus der alten atlantischen Zeit zurückgeblieben ist, in einem viel höheren Maße noch vorhanden ist, als beim Bekanntwerden der alten Brahman- und Zarathustrakultur aufgetaucht ist, die herausentbunden werden wird, wenn einmal das Chinesentum frei werden wird in seiner geistigen Kultur. Dann wird zweierlei notwendig werden für den Menschen, welcher der Zukunft entgegenlebt. Man wird erkennen, daß da ein bedeutender Strom spirituellen Lebens herausfließen muß, der in einer wunderlichen Weise die Menschen auch äußerlich unter­richten wird von dem, wovon sie sich ja allerdings unterrichten könn­ten, wenn sie in das spirituelle Leben eindringen wollten auf dem Wege, den die Geisteswissenschaft eröffnet. Wenn aber der weitaus größte Teil der Menschheit gegenüber dem, was die Geisteswissen­schaft der Menschheit bieten kann - um jetzt einen Ausdruck zu ge­brauchen, den unser verehrter Freund Michael Bauer bei unserer Generalversammlung für einen andern Zweck gebraucht hat -, in Schlafhaubigkeit verbleiben wird, so wird einmal, wenn sich, in einer allerdings nicht für das europäisch abendländische Bewußtsein ge­eigneten Weise, spirituelles Geistesgut aus dem Chinesentum heraus-ergießen wird, dieser Teil der Menschheit dadurch verblüfft sein und wird sehen, daß sich eine solche Kultur nicht begreifen läßt mit dem philiströsen pedantischen Stile des Abendlandes, sondern nur, wenn man sich hineinvertieft in das, was aufgebaut ist auf der alten Chinesen-kultur, was als alte Taokultur vorhanden war. Die Geisteswissen­

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schaft ist diesen Leuten oft aus dem Grunde unangenehm, weil man sich mit ihr so befassen muß, daß man an sie glaubt. Die aber, welche sich der Schlafhaubigkeit weiter befleißigen, sie werden verblüfft sein, sie werden sich aber auch wohl fühlen, wenn ihnen manches aus der Geisteswissenschaft entgegentritt als entbundenes Chinesentum, als ein Erbgut aus der alten atlantischen Zeit. Dann werden sie sogar das haben, daß sie werden sagen können: Wir brauchen ja nicht daran zu glauben, denn, was historisch geblieben ist, das studiert man, weil es interessant ist! - So machen es die Philologen, die Archäologen. Man braucht nicht daran zu glauben, man hat es, indem man es studiert, und ist enthoben, an die Dinge zu «glauben». Aber was da frei wird, das wird noch auf andere Weise wirken: es wird durch seine Macht, durch seine Selbstverständlichkeit, durch seine Größe wirken, es wird verblüffen, es wird schockieren. Es wird sich über das, was sich die Menschheit in der christlichen Kultur erobert hat, so ergießen, daß man gegenüber dem, was da kommen wird an eingerosteter, an ein­chinesisierter Kultur, die richtige Perspektive, den richtigen Stand­punkt wird haben wollen. Das wird so sein, daß man sich sagt: Diese Spiritualität war da, sie bedeutete einstmals die geistige Kultur unserer Erde. Aber eine jede Zeit hat ihre eigene Mission, und die europäisch abendländische Kultur hat die Aufgabe, aus dem Umkreise des Welten-daseins alles dasjenige herauszusaugen, was herausgesaugt werden kann aus dem Geistigen, so daß dieses Geistige sich zeigt trotz und hinter der sinnlichen Welt, hinter dem, was Augen sehen und Hände greifen können und was sich uns darstellt als Offenbarung aus den geistigen Welten. Man wird verstehen müssen, daß eine andere Mis­sion aus der andern Zeit da ist, und daß wir feststehen müssen auf dem Boden, den das Christentum gezimmert hat.

Das ist das, was den andern Standpunkt geben wird. So wird man freudig aufnehmen, was aus den alten Zeiten herüberlebt, aber man wird es durchglänzen, durchleben mit dem, was aus der neueren Zeit, aus der nachatlantischen christlichen Kultur in den Seelen sich allmäh­lich erhoben hat. Die Schwachen aber werden sagen: Wir nehmen die Spiritualität da, wo sie uns gebracht wird, denn wir wollen nur den sensationellen Einblick haben in die geistigen Welten! - So wird es

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vielleicht gewisse neuartige Theosophen geben, die da sagen werden:

Die Wahrheit ruht nicht bei dem tief erfaßten Christus-Prinzip, son­dern in dem, was die Chinesen erhalten haben, was wiedererscheint, wenn sie die in die untersten Schichten der Seele hinabgezogenen atlantischen Weistümer wieder hervorbringen. - Und es wird sich vielleicht eine neue Geheimiehre über Europa ergießen, die abgeschrie­ben ist aus den chinesischen Wahrheiten und die dann sagen wird:

Hätte doch diese moderne Theosophie eine Art von Muster an einer solchen Theosophle, die ihre Aufgabe nicht darin gesehen hat, den Quell des spirituellen Lebens herauszuholen aus der christlichen My­stik und der christlichen Liebe, sondern die abgeschrieben hat, und dazu noch recht mangelhaft, die Weistümer des alten Indien, etwas verbrämt mit den Weistümern des alten Ägypten. - Und die Schwa­chen, sie könnten ebenso gierig nach dem Chinesentum ausschauen, wie die Schwachen ausschauen nach dem, was, wie sie glauben, das alte oder auch das neue Indertum an Spiritualität eröffnet. Liegt doch auch für den Europäer jenseits gewisser Wasser China ebensogut fern, wie Indien fern liegt. Und wenn man den Menschen erzählen wird, daß in China mit Hilfe von Kräften, die jetzt wieder entbunden sind, gewisse Offenbarungen stattgefunden haben, so wird das vielleicht den Menschen glaubhafter erscheinen, als daß so etwas in Berlin statt­gefunden hätte.

Wenn wir dies bedenken, werden wir das richtige Gleichgewicht finden zwischen dem freudigen Aufnehmen desjenigen, was der Menschheit erhalten ist aus älteren spirituellen Zeitaltern, und dem Feststehen auf demjenigen Boden, zu dem es die Menschheit gebracht hat im Laufe der Zeitenentwickelung. Daß man dieses Gleichgewicht beachtet, daß dieses Gleichgewicht wirklich ins Auge gefaßt wird, das ist und wird sein die immerwährende Sorge derjenigen Geistesbewe­gung, die wir die unsrige nennen. Daher ist es einfach eine Unwahr­heit, wenn irgendwo gesagt wird, daß wir verleugnen oder außer acht lassen würden, was zum Beispiel an indischer Spiritualität sich dar­bietet. Das ist eine Unwahrheit. Und wer unsere Geistesbewegung mitgemacht hat, der weiß, daß dies eine Unwahrheit ist. Und traurig wäre es, wenn solche Unwahrheiten wie Charakteristiken unserer Bewegung

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etwa draußen in der Welt Platz greifen könnten. Mit gegen­sätzlichen Meinungen wird man leicht fertig; die gleichen sich leicht aus. Mit dem aber, was unrichtig dargestellt wird, kann man Miß­verständnis auf Mißverständnis hervorrufen, denn es ist das Eigen­artige des Mißverständnisses, daß es fortzeugend neue Mißverständ­nisse gebiert. Aus diesem Gesichtspunkte heraus muß es für uns die erste Aufgabe sein, da, wo wir selber auf den Standpunkt uns stellen, zu dem es die abendländische Entwickelung gebracht hat, uns bewußt zu sein, inwiefern dieser Standpunkt seine Berechtigung hat gegen­über den andern Entwickelungsphasen der Menschheitsentwickelung. Auf der andern Seite müssen wir aber darauf bedacht sein, daß alle Charakteristiken, die wir liefern über andere Phasen der Menschheits­entwickelung, über andere Spiritualität, auf ehrlicher, wahrhafter Dar­stellung fußen. Und immer wieder und wieder soll es betont werden, weil es sich einleben soll in die Herzen der Theosophen: Wenn auch vieles wird hinuntersinken von dem, was wir erobern konnten an geistiger Einsicht, der durchdringende Charakter wird bleiben. Und nach dem sollen wir hinarbeiten, daß, was auch vor unserem geistigen Auge auftauchen mag, wie sich uns auch die Dinge darstellen mögen, wir alles durchsetzt sein lassen von dem Streben nach Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit! Und wenn man in der Zukunft vielleicht gar nichts anderes wird sagen können in bezug auf das ein­zelne, das hier gefunden worden ist, als: manches ist verbessert wor­den, manches ist gar nicht geblieben, aber ein Beispiel ist geliefert, daß auch auf okkultem Gebiete, auf dem Gebiete der geistigen Forschung, nicht immerdar hineinzuspielen brauchen Scharlatanerie und Humbug in ernste Forschung, sondern daß trotz alles Strebens nach okkultem Wissen dieses durchzogen sein kann von Wahrhaftigkeit, Aufrichtig­keit und Ehrlichkeit: dafür ist ein Beispiel geliefert worden - wenn man das von unserer Bewegung wird sagen können, dann ist für die Entwickelung der spirituellen und eigentlichen okkulten Bewegung mit unserer Bewegung Gutes geleistet worden. Und es wird von uns vielleicht als unser schönstes Bewußtsein anerkannt werden dürfen, daß wir nichts, nichts einlassen wollen, von dem man nicht in der Zukunft wird so sprechen können, wie es eben angedeutet worden ist.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 26. März 1912

Anknüpfen möchte ich den Ausgangspunkt unserer heutigen Betrach­tung an das Wort Zufall. Wir sprechen in der mannigfaltigsten Weise davon, daß gewisse Ereignisse in der Außenwe]t uns dadurch erklär­lich sind, daß sie gesetzmäßig verlaufen, daß wir in ihnen gewisse Gesetze, daß wir Naturgesetze erkennen, während von andern Er­eignis sen so gesprochen wird, daß der Mensch eigentlich sagt: Er erkenne kein Gesetz, warum dieses oder jenes in einem bestimmten Zeitpunkt gerade eingetroffen ist, er könne in einem solchen Tat-sachenverlauf, wie er ihm vor Augen steht, nur den Zufall anerkennen. Insbesondere wird unsere gegenwärtige Wissenschaft geneigt sein, überall da, wo sie mit den ja durchaus abstrakten und rein verstandes-mäßigen Gesetzen, die sie allein anerkennt und die sie Naturgesetze nennt, nicht ausreicht, von einem bloßen Zufall, das heißt, von etwas zu reden, demgegenüber es überhaupt verboten ist, irgendeine Ge­setzmäßigkeit anzunehmen. Die gegenwärtige Wissenschaft verbietet ja geradezu da, wo sie vom Zufall spricht, wo sie mit ihren Gesetzen nicht heran will, noch von irgendwelcher Gesetzmäßigkeit zu spre­chen. Denn im Grunde genommen ist eigentlich, wie sich im ganzen und im einzelnen zeigt, kaum irgend etwas intoleranter im ganzen menschlichen Zeitverlauf, als gerade - nicht die Tatsachen der Wissen­schaft, die können nicht intolerant sein, und in bezug auf Darstellung der Tatsachen schreiben wir auch der gegenwärtigen Wissenschaft das größte Verdienst zu - was sich aufbaut dagegen auf den Tatsachen als wissenschaftliche Gesinnung. Die materialistische Gesinnung in unserer Zeit ist etwas, was zu dem Allerintolerantesten gehört, das im Zeitenverlaufe überhaupt den Menschen hat treffen können.

Wenn wir nun einmal gefühlsmäßig den Zufall im Sinne unserer Geisteswissenschaft ansehen, so fragen wir uns zunächst: Wie tritt der Zufall an den Menschen heran? Wie stellt sich das, was man zufällig nennt, dem Menschen dar? - Es stellt sich so dar, wenn es eintritt, als ob der Mensch aus seinen Gedanken heraus, aus seinen irgendwie gearteten

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Ideen nicht voraussetzen könnte, diesem Zufall einen Sinn, eine innere Gesetzmäßigkeit zuzuschreiben. Es stellt sich so dar, als ob die menschliche Vernunft sozusagen den Zufall einfach gehen lassen musse, wie er sich darbietet, und sich nicht darum bekümmern könnte, ob in diesem Zufall etwas von einer Gesetzmäßigkeit stecken würde. Insbesondere ist es ja mit jenen Zufälligkeiten, die als solche scheinbar unerklärlich in das menschliche Leben hereinfallen, zumeist so, daß die Menschen mit ihrer Vernunft, mit ihrem Verstande nicht recht heran wollen, diese Zufälligkeiten zu bemeistern. Mit dem Gefühl verhält sich der Mensch merkwürdigerweise anders, und das ist etwas, was man zwar in der Gegenwart nicht berücksichtigt, was aber doch tief lehrreich ist: das Gefühl läßt sich nicht immer in der Art und Weise, wie es wirkt, bemeistern von den Vorurteilen des Verstandes und der Vernunft, sondern es wirkt herauf - wie Sie aus zahlreichen öffent­lichen und Zweigvorträgen erkennen können - aus verborgenen Untergründen der Seele, die noch gescheiter sind als der Mensch in seinem Verstande und seiner Vernunft. So kommt es vor, daß den Menschen das trifft, was Verstand und Vernunft eine Zufälligkeit nennen, wodurch sich aber doch der Mensch in seinen Gefühlen an­gezogen oder abgestoßen findet, worüber er sich angenehm oder un­angenehm berührt fühlt. Nehmen wir nur einen ganz bestirrirnten Fall, von dem Sie nicht leugnen werden, daß er Ihnen seht häufig in ähn­licher Weise in Ihrem Leben immer wieder und wieder begegnen kann. Nehmen wir den Fall: ein Schüler sitze und schwitze über irgendeiner Rechenaufgabe; furchtbar sitze er und schwitze er, weil er die Lösung dieser Rechenaufgabe nicht treffen kann. Aber er hat sie nun nach langem Sitzen und Schwitzen doch gelöst und ist nun froh, daß er ein Resultat herausbekommen hat. Aber er sagt sich:

Wenn ich ganz sicher sein soll, daß ich nicht sitzenbleibe und eine schlechte Zensur bekomme, so muß ich diese Aufgabe noch einmal durchrechnen! - und er macht sich darauf gefaßt, daß er sie, nachdem er sein Abendbrot gegessen hat, noch einmal durchrechnet. Da kommt ganz zufällig, durch etwas, das gar nicht damit zusammenhängt, ein Kollege des Schülers herein und fragt: Was hast du herausbekommen?

- Beide vergleichen ihr Ergebnis und es stimmt zusammen, und dem

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Schüler ist auf diese Weise erspart, was ihm sonst geblüht hätte. Er ist nun befreit davon, braucht nicht noch einmal eine Stunde sitzen und schwitzen und kann sich gleich schlafen legen. Wenn nun der Vater ein «aufgeklärter» Mann ist, so wird er sagen: Der andere Schüler ist nicht darum hereingestürzt, um meinem Sohne eine Stunde abzunehmen, die ihm doch vielleicht in seiner Gesundheit hätte scha­den können, sondern er ist abgeschickt von seiner Mutter, um mir dies oder jenes zu bringen, was ich vergessen habe. Der Vater also nennt es einen Zufall. - Aber können Sie ableugnen, was Sie ja nicht ableugnen werden, daß der Schüler ein recht angenehmes Gefühl bat, wenn er auch nicht glauben wird, daß ihm ein Engel diesen Kollegen zugeführt hat? Er wird recht angenehm davon berülrrt sein in seinem Gefühl, ganz anders, als vielleicht Verstand und Vernunft sprechen. Der Vater wird ganz sicher nicht geneigt sein, anzunehmen, daß ein Engel vom Himmel diesen Kollegen seinem Sohne zugeschickt habe, er wird aber doch sympathisch davon berührt sein.

Das meine ich, wenn ich sage, das Gefühl kann gescheiter sein, wenn es aus verborgenen Seelentiefen heraufwirkt, als Verstand und Ver­nunft, die sich im Verlaufe der Erdenmission erst selbständig aus­bilden sollen, so ausbilden sollen, daß sie gerade wie gottverlassen auf sich selber angewiesen sind und daher auch leicht in den Irrtum ver­fallen können, daß in dem, was sich ihnen darbietet, nicht irgendeine göttlich-geistige Gesetzmäßigkeit lebe, sondern daß eigentlich gar nichts darinnen lebe. So dürfen wir sagen: Was sich aus den Tiefen unserer Seele heraufholt, wodurch wir, wie in diesem Fall, im Gefühl gescheiter sind als in Verstand und Vernunft, das weist uns darauf hin, ganz deutlich, daß die Behauptung der Geisteswissenschaft richtig ist, daß dasjenige, was in den verborgenen Seelentiefen unten ist und wie im Gefühl sich heraufholt aus diesen verborgenen Seelentiefen, eben aus jener Epoche herstammt, in welcher sich der Mensch noch nicht selbst überlassen war, und daß das, was in unsern Gefühlen spricht als Sympathie und Antipathie, noch aus dem alten Mondenzeitalter her­rührt. So daß der Mensch in seinem Verstande und seiner Vernunft erst im Laufe der Erdenentwickelung so gescheit zu werden braucht, als er in seinen Gefühlen geworden ist durch die alte Mondenentwikkelung.

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Nun kann jemand sagen: Ich habe wohlweislich bemerkt, daß das Gefühl auch nicht immer ganz gescheit ist, daß es auch sehr dumm sein kann. - Das rührt davon her, daß unsere Gefühle als Erden-menschen schon beeinflußt sind von unserem Verstande und unserer Vernunft, daß diese schon hinunterwirken in das Gefühl, so daß dieses, wenn es dumm wird, nur dadurch dumm wird, daß es beein­flußt wird von Verstand und Vernunft. Würde es nicht schon durch die allgemeinen Inkarnationsverhältnisse und durch die allgemeine Entwickelung der Menschheit sich von Verstand und Vernunft be­einflußt erzeigen, so wäre es im Menschen tatsächlich der Gescheitere gegenüber der Vernunft und dem Verstande, welche die Dümmeren sind.

Wenn wir die Sache so betrachten, stellt sich uns etwas ganz Eigen­tümliches für den Zufall heraus, was außerordentlich lehrreich ist. Wir könnten sogar die Frage aufwerfen : Ist es nicht sinnvoll, daß der Mensch gewisse Dinge so ansehen kann, wenn er sie so ansehen will, daß er sie zufäffig nennt? Ist das nicht vielleicht sinnvoll? - Die Frage könnte sehr wohl aufgeworfen werden, und sie erweist sich nicht als sinnlos, wenn wir bedenken, daß der Mensch in der Erdenentwicke­lung Verstand und Vernunft, was wir unser normales Bewußtsein nennen, gerade entwickeln soll. Er soll am Ende der Erdenentwicke­lung so weit sein, daß er die Gesetzmäßigkeit in denjenigen Tatsachen einsieht, die er heute noch als zufällig ansieht. So treten sie ihm heute noch als zufällig entgegen. Er kann ihnen noch nicht, wie in notwen­digen Naturereignissen, das Gesetz unmittelbar ablesen, sie verhüllen ihm noch ihre Gesetzmäßigkeit. Aber der Mensch wird lernen gerade in dem, was während der Erdenentwickelung die Gesetzmäßigkeit verhüllt und sich dadurch als Zufall erweist, eine tiefere Gesetzmäßig­keit zu erkennen, eine solche Gesetzmäßigkeit, welche dann, wenn die Erdenentwickelung abgelaufen sein wird, sich tatsächlich mit der­selben Notwendigkeit wird aufdrängen, wie sich jetzt die Natur­gesetze aufdrängen, aber erst, wenn die Erdenentwickelung abgelau­fen sein wird. Wenn ihm jetzt schon das, was wir Zufälligkeiten nennen, so entgegentreten würde wie die Naturgesetze, so würde der Mensch nichts daran lernen können. Er würde sich nicht dazu entschließen

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können, sich zu sagen : Du kannst es als sinnvoll ansehen und auch als Zufall ansehen! - Also, weil es in des Menschen Hand und in des Menschen Willkür gegeben ist, Verstand und Vernunft auf das anzuwenden, was sich als zufällig darbietet, dadurch lernt er sich hineinfinden in die Erdeninkarnationen, lernt das, was der Zufall scheinbar regellos darbietet, mit Verstand und Vernunft zu durch-dringen, so daß also das, was ihm scheinbar nicht als so starre, ab­strakte Gesetzmäßigkeiten erscheinen kann, als geistige Gesetzmäßig­keiten erscheinen muß.

Da blicken wir in einen sehr weisen Zusammenhang des Welten­werdens hinein, der, wenn wir ihn sinnvoll erfassen, uns sagt : Es ist außerordentlich geistvoll im Weltendasein eingerichtet, daß uns ge­wisse Dinge als Zufall entgegentreten; daher müssen wir sie selbst erst aufwinden auf Fäden einer Gesetzmäßigkeit, die wir in ihnen selbst erst entdecken müssen. Und damit wir uns dabei selbst ergreifen, uns selbst in die Waagschale werfen, um in unserer Entwickelung weiterzukommen, wurde es in unsern Willen gestellt, entweder weise zu sein oder töricht, entweder anzuerkennen eine Gesetzmäßigkeit auch in den Zufälligkeiten oder nur die starren Naturgesetze gelten zu lassen. So wird es sich nach und nach heranbilden, daß im Laufe der Zeit diejenigen Wissenszweige dasein werden, die sich nur der äuße­ren, abstrakten, verstandesmäßigen Naturgesetze bedienen wollen und alles andere als Zufall abweisen werden. Diese äußeren Wissenszweige werden wie Betätigungen des Seelenlebens erscheinen, die aber -wenn der Mensch mit seinem Seelenwesen aufgeblickt hätte im Sinne des Schlusses des Goetheschen «Faust»in eine höhere Welt und in die Nähe dessen gekommen wäre, was man in aller Mystik als «Ewig Weibliches» bezeichnet, wo die ewigen Naturgesetze und die wissen­schaftlichen Zweige symbolisch-mystisch als Weibliches dargestellt werden - am Ende des Erdendaseins als «törichte Jungfrauen» sich erweisen würden. Dagegen wird sich in dem, was sich heute als Gei­steswissenschaft geltend macht, etwas heranbilden, das dort, worin die törichten Jungfrauen, die äußeren Wissenschaften, keine Gesetz­mäßigkeit hereinbringen können, Gesetzmäßigkeit und Weisheit her­einbringen wird. Das wird ausbilden eine Anzahl von Wissenszweigen,

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und diese werden am Ende der Erdenentwickelung die «weisen Jung­frauen» sein. Und es zeigt schon die schöne Parabel im Evangelium, wie es, wenn die Zeiten erfüllt sein werden, ergehen wird den törichten und den weisen Jungfrauen.

Diese Dinge sind immer geeignet, uns in die Geheimnisse der Weltenentwickelung wirklich etwas hineinzuführen. Wenn wir aber das, was wir so aus der Beobachtung der äußeren Welt unmittelbar auf uns haben wirken lassen, verbinden mit mancherlei von dem, was wir durch die Geisteswissenschaft erfahren haben, so stellt sich uns doch ein sehr merkwürdiger Zusammenhang heraus, und ich bitte Sie, diesen Zusammenhang mit mir in Gedanken zu verfolgen.

Sie wissen, daß sich der Mensch den Inhalt, die Erkenntnisse, die Errungenschaften, die Erlebnisse des normalen Bewußtseins während der Erdenzeit immer mehr und mehr aneignen wird. Aber es geht alle Entwickelung langsam und allmählich vor sich. Und daher wird her­einragen - und ragt schon jetzt herein - in unsere rein abstrakte Ver­nunft- und Verstandesentwickelung, in die bloßen Naturwissenschaf­ten das, was in der Zukunft erst für den Menschen normal sein wird :

es ragt herein, was nicht bloß aus dem normalen Bewußtsein stammt, sondern was zu tun hat mit höheren Bewußtseinsformen. Das ist natürlich etwas, das dem normalen Bewußtsein verschleiert sein muß, das aber auf die tieferen Hintergründe des Daseins hinweist. Daher ist es natürlich, daß überall da, wo irgend etwas hereinragt, was das nor­male Bewußtsein überschreitet, auch in einer merkwürdigen Weise mehr zutage treten wird, als man leichten Herzens mit Zufall wird bezeichnen können. Oder mit andern Worten : So lange der Mensch bloß mit dem normalen Bewußtsein in dem Zusammenleben wirkt, wird man auch leichten Herzens von Zufall sprechen können. Be­trachten Sie nur einmal das Leben. Wenn Sie in der Weise als Men­schen miteinander verkehren, daß Sie nicht den geringsten Anspruch daraufmachen, daß irgend etwas anderes in den Verkehr der Menschen bereinspiele als das, was Verstand und Vernunft im Sprechen und Handeln der Menschen hereinbringen könnten, so lange werden Sie leichten Herzens viel von Zufall sprechen können. Denn dann wird alles, was in dem Zusammensein der Menschen und in den äußeren

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Tatsachen sich nicht durchdringbar für eine gewisse Gesetzmäßigkeit darstellt, als Zufall sich so darstellen, daß man schwer dahinterkommen wird, wie auch in dem scheinbar Zufalligen ein wirklicher gesetz-mäßiger Zusammenhang ist. Aber nehmen wir an, es tritt irgend etwas in unser Erdenleben herein, was den ganz gewöhnlichen, bloß auf Verstand und Vernunft begründeten Menschenverkehr durchbricht, was mehr ist im menschlichen Zusammenleben als bloß Verstand und Vernunft. Und damit Sie sehen, was ich meine, möchte ich einen be­stimmten Fall anführen, den ich Sie bitte, eben als einen Fall anzu­sehen, der sich im Leben so zugetragen hat und an dem wir mit den Mitteln der Geisteswissenschaft mancherlei lernen können. Es sei ein recht schroffer, wenig schöner, eigentlich häßlicher Fall angeführt, an dem wir aber wie an einem Experiment kennenlernen können, was wirklich geschieht.

An einem Orte hatte es sich zugetragen, daß ein Pfarrer einem Ehe-mann seine Frau abspenstig gemacht hat. Der Pfarrer hatte eine Art Liebesverhältnis mit dieser Frau entwickelt und dem Ehemann war dies außerordentlich leid. An demselben Orte fanden sich nun zwei Menschen, die miteinander befreundet waren und die dem Pfarrer nicht bloß durch ihren Verstand und ihre Vernunft, sondern auch durch ihre Gefühle zugetan waren. Sie standen in seinem Bannkreis, weil dieser nicht nur durch Verstand und Vernunft wirkte, sondern auch durch den religiösen Kultus, durch das, was an spirituellem Leben in der Religion ist. Daß dieser Kultus in diesem Falle nicht be­sonders gut gewirkt hat, darauf kommt es hier nicht an, sondern dar­auf, zu welchen Mitteln die beiden griffen und daß der Pfarrer eben der Seelsorger dieser beiden war. Und das kam so weit, daß die beiden Freunde dem Pfarrer etwas Gutes tun wollten und sie besprachen sich darüber, mit allen Mitteln den Ehemann aus dem Wege zu schaffen. Insofern ist der Fall häßlich, weil sich das spirituelle Element ver­mischt mit dem egoistisch menschlichen; er wird also in gewisser Weise zu einer Art schwarzer Magie. Es besprachen sich also die beiden Freunde, den Ehemann zu ermorden, und sie taten es auch. Die beiden hatten so eine schwere Schuld auf sich geladen, nicht bloß durch den Vernunftbeschluß, sondern auch durch das Vorhandensein

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eines psychischen Elementes, das durch die Gemeinde hindurch­wirkte. Wir haben also den merkwürdigen Fall, daß wir in einem menschlichen Zusammenhang nicht bloß das drinnen haben, was Ver­stand und Vernunft ist, sondern auch das, was hinter Verstand und Vernunft ist; wir haben es wirksam, weil eben der Pfarrer ein Pfarrer war und mit den Mitteln des spirituellen Lebens wirkte. Was können wir nun nach den uns jetzt schon angeeigneten geisteswissenschaft­lichen Voraussetzungen erwarten? Weil ja Ereignisse Ursachen sind und als solche Folgen haben, so können wir erwarten, daß sich an das, was geschehen ist, auch noch etwas anderes anschließt. Sie werden nun in den meisten Fallen, wo nur etwas geschieht, was bloß mit Verstand und Vernunft zu tun hat, viele sogenannte Zufälligkeiten finden. Diese Zufälligkeiten werden so sprechen im Leben, daß Sie leichten Herzens dieselben als Zufälligkeiten ansprechen werden, wenn Sie noch nicht von Geisteswissenschaft berührt sind. Aber nicht so leichten Herzens werden die Menschen solche Wirkungen im Leben als Zufäfflgkeiten ansprechen können, die aus Ursachen folgen, bei denen Spirituelles, Psychisches mitgewirkt hat. Zwei Freunde waren es, die miteinander den Mord bewirkt hatten. Wir haben also zu erwarten, daß in diesem Falle das Karma besonders wirkte und zwingen würde, durch die Art wie es eintritt, doch nicht bloß an Zufall zu denken. So daß also doch etwas Besonderes geschehen müßte, wenn, wie in diesem Fall, so etwas die Ursache ist : ein Einfluß sozusagen, den man mit den Worten wie graue oder schwarze Magie bezeichnen könnte. Und siehe da, was geschah wirklich? Die beiden Mörder wurden kurioserweise krank, und zwar an zwei verschiedenen Krankheiten, und starben beide in derselben Stunde! Wer nun durchaus von Zufall sprechen will, der wird natürlich auch hier wieder von Zufall reden wollen. Der Mensch aber, der nun nicht durchaus nur von Zufall sprechen will, wird da doch versucht sein, etwas tiefer nachzudenken. Und was für dieses eklatante Beispiel angeführt worden ist, das werden Sie vielfach be­stätigt finden, wo Sie nur wirklich prüfen wollen, wo Sie vermuten können im Leben, daß etwas anderes hereinspielt als das, was nur aus­schließlich zur Erdenmission und zum Erdenbewußtsein gehört, wo also etwas hereinspielt, das hinter der Sphäre des Daseins seine Ur­stände

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hat, das mehr oder weniger durch den sonderbaren äußeren Verlauf schon auf etwas Abnormes, wie der gewöhnliche Mensch sagen würde, hinweist. Wer aber vom Standpunkte der Geistes­wissenschaft aus beobachtet, würde sagen : Es ist so, wie wenn mit Fingern darauf hingewiesen wurde, daß, weil in den Ursachen ein anderer Sinn liegt, sich auch die Wirkungen in ihrem karmischen Verlauf ganz besonders sinnvoll zeigen.

Da sehen wir also, daß wir in der Tat, wenn wir das Walten des Übersinnlichen hinter dem Sinnlichen ins Auge fassen, schon durch die Art und Weise, wie uns die Erscheinungen, die äußeren Tatsachen entgegentreten, darauf hingewiesen werden : Es ist etwas anderes mit diesen äußeren Tatsachen als mit denjenigen, die nicht so verlaufen, daß Übersinnliches in ihnen mitspielt. - Es wäre ja außerordentlich wünschenswert, wenn einmal auch in der äußeren Wissenschaft etwas anderes untersucht würde zu allen möglichen unnötigen Dingen, die heute in der Wissenschaft so zahlreich zutage gefördert werden, und die der in gewisser Beziehung geistvolle Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer einmal damit gegeißelt hat, daß er sagte : Es fand sich einmal ein Gelehrter, der wühlte sich ein in das Goethe-Haus und untersuchte dort allen möglichen Staub, der seit Jahren abgelagert war, und alle Papiere, die noch in den Papierkörben seit langen Zeiten sich fanden, ging dann in allerlei abgelegene Räume, stieß übelriechende Kehricht-fässer um und brachte dann eine Abhandlung zustande über den «Zu­sammenhang der Frostbeulen der Frau Geheimrat von Goethe mit den symbolisch allegorischen Figuren im zweiten Teile des Faust». - Das ist etwas radikal. Aber in den Bücherkatalogen, die über die aller-gelehrtesten Abhandlungen herausgegeben werden, ist schon so etwas zu finden. Es wäre nützlich für die äußere Wissenschaft, wenn sie statt dessen, was der V-Vischer charakterisieren wollte, einmal solche Dinge verwenden würde, an denen sich eklatant zeigt, daß in den Gescheh­nissen, die man geneigt ist für Zufall zu halten, doch etwas waltet, was uns schon in der Art, wie es uns entgegentritt, zeigt, daß bei solchen Ereignissen, wo der Mensch untertaucht in das Psychische, auch der Sinn eklatant hervortritt. Natürlich tritt er in dem, was man so leichten Herzens mit Zufall benennt, auch hervor; nur ist es da nicht so genau

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zu sehen, da muß schon eine geistige Beobachtung hinzukommen, wenn darin das Walten des ja überall vorhandenen Gesetzes gesehen werden soll. Und wir sehen dann in dem, was uns gerade wie das Gegenteil der Gesetzmäßigkeit entgegentritt, was uns als Zufall ent­gegentritt, auch wenn wir unser Leben nur betrachten, das Zusammen­stoßen von zwei Welten, richtig das Zusammenstoßen zweier Welten.

- Was ist das eigentlich?

Der Mensch hat seine Erderunission zu vollbringen, das heißt, er hat das, was wir jetzt das normale Bewußtsein nennen, auszubilden. Er hat also durch die weise Welteneinrichtung die Möglichkeit vor sich, eine ganz große Sphäre von Ereignissen als Zufall zu betrachten. Es unterliegt also gewissermaßen seiner Willkür, dort Gesetzmäßigkeit hineinzubringen. Aber niemals verläuft nur eine Strömung, sondern es verlaufen immer mehrere Strömungen. Wir sehen, wie ja überall Spi­rituelles hineinspielt, das heißt solches Spirituelles, an dem auch der Mensch teilnimmt. Es wäre auch Spirituelles in einem äußeren Er­eignis von der geschilderten Art, wenn der Betreffende, von dem ge­sprochen worden ist, kein Pfarrer gewesen wäre; aber dann wäre er nicht in diesen Tatsachenzusammenhang hineingestellt. Ich meine es also so, daß der Mensch mit seiner Seelenentwickelung an dem Spiri­tuellen selber beteiligt ist. Das ist das, was sich neben det verstandes-und vernunftmäßigen Strömung in der Welt auch klar darstellt. Immer spielen beide Strömungen in unser Leben herein. Sie dürfen nicht etwa glauben, daß zum Beispiel diejenigen, welche als Monisten auftreten, das heißt als Materialisten, immer ganz unabhängig sind vom Spiri­tuellen oder gar nichts glauben, wie sie annehmen. Der ganze Monis­mus ist nichts anderes als ein Glaube; es handelt sich nur darum, daß er ein Glaube ist, der dem Wesentlichen des Menschen gegenüber das Spirituelle verdunkelt. So daß es sich eigentlich darum handelt, daß man bei solchen Dingen Maja wirklich durchschaut. Schwer ist es ja allerdings, bei dem menschlichen Vorurteil immer die Maja zu durch­schauen. Wenn man in der Maja tief drinnensteckt, durchschaut man sie nicht so leicht. Wer heute auf einem geschichtlich materialistischen Standpunkt steht, der wird vielleicht sagen : Die Entwickelung der Menschheit verläuft so, daß aus gewissen rein maten.alistischen Gegensätzen

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im menschlichen Zusammenleben sich irgendeine Art von Zu­sammenbruch entwickeln wird, und aus diesem Zusammenbruch wird dann eine neue Gesellschaftsordnung erwachsen. - Wir wissen, daß eine solche Voraussetzung gemacht wird bei der Strömung des ge­schichtlichen Materialismus. Man hat prophezeit, daß die Entwicke­lung so vor sich geht, daß durch den Gegensatz der Klassen und Stände ein Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung zustande kommt, und daraus würde sich dann herausentwickeln eine Art Neu­begründung der Gesellschaft. Ein solcher geschichtlicher Materialist wird ganz gewiß zugeben, daß er an nichts glaubt, sondern nur auf geschichtliche Tatsachen sich stützt, und er wird aus einer gewissen inneren Befriedigung, ja Beseeligung heraus sagen : Was waren das doch für sonderbare Kerle, die von der Apokalypse gesprochen haben, von einem tausendjährigen Reich und so weiter, die von einer andern Gestaltung der Zukunft aus der geistigen Welt heraus gesprochen haben! - Er wird sie als zurückgebliebene Propheten über die Achsel ansehen. Daß er aber doch nur den andern Glauben übernimmt, daß er an Stelle des spiritualistischen Glaubens den materialistischen Glau­ben setzt, davon hat er keine Ahnung. Nur muß so etwas von dem Wahrheitsuchenden durchschaut werden; er muß immer mehr und mehr über die Maja hinauskommen.

So stoßen in der angedeuteten Art in uns zwei Welten zusammen, eine, welche bloß zusammenhängt mit Verstand und Vernunft, wie sie sich aus der Erdenmission ergeben, und die andere, welche zusammen­hängt mit spirituellen Ereignissen, die sich so gruppieren, daß sie auch in ihrer Zufälligkeit eklatant für sich selber sprechen, wie es in dem angedeuteten Falle war, den wir durch unzählige andere Fälle ver­mehren könnten.

Was ist es denn, was uns dazu bringen kann, daß wir zwar stehen­bleiben bei dem, was ja durchaus im Sinne der Erdenmission liegt : in den Zufall durch unsere eigene Willkür erst die Gesetzmäßigkeit hin­einzubringen, so daß wir wirklich an das anknüpfen, was uns eine weise Weltenentwickelung gegeben hat, daß wir gewisse Dinge als zufällig anschauen können, und dann aber, wenn wir gescheiter sind, erst die Gesetzmäßigkeit hineinprägen wollen? Was ist es, daß wir so die

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Gesetzmäßigkeit hineinbringen? Fassen wir sozusagen ohne Schonung gegenüber den gegenwartigen Schwächen das ins Auge, was da vorliegt.

Die Menschen der Gegenwart werden sich mit kühnem, wissen­schaftlichem Wagemut auf die Naturgesetze stürzen und die Natur-tatsachen in solche Gesetze einfassen. Da sind die Menschen kühn. Warum sind sie da kühn? Es ist vielleicht schonungslos, aber es ist doch in einer gewissen Weise wahr : die Menschen sind kühn, weil dazu nichts weiter gehört! Daß man Naturgesetze anerkennt, daß man dort Gesetze voraussetzt, wo die äußeren Tatsachen so stramm spre­chen, dazu gehört kein besonderer Mut. Wir würden heute sogar ge­neigt sein, dem Leugner von Naturgesetzen einen stärkeren Respekt zuzusprechen als dem Anerkenner derselben. Wenn jemand sagen würde : Da sagen die Leute, es gibt Naturgesetze, aber das kann auch nur Zufall sein, - so würden wir diesem vielleicht mehr Respekt ent­gegenbringen, weil es ein radikal kühner Entschluß wäre, in der Sphäre der Gesetzmäßigkeit auch einen bloßen Zufall anzunehmen. Nietzsche war nahe daran, alles als einen Zufall zu betrachten. So könnte also jemand sagen : Wenn die Sonne bisher alle Tage auf­gegangen ist, so könnte das ebenfalls auf einem Zufall beruhen, und die Menschen hätten nicht weniger Recht, dieses tägliche Aufgehen der Sonne als einen Zufall anzusehen wie andere Ereignisse. - Das könnte stark, könnte mutig sein, nur wäre es natürlich falsch. Aber Naturgesetze anerkennen, die in den chemischen, in den physischen Vorgängen wirken, das ist ein Mut, der ja da ist, den die Menschen haben, und er soll ihnen nicht abgesprochen werden; aber er ist billig. Denn die Welt läßt sich nicht leicht als eine bloße Zufälligkeit be­trachten, insofern man es mit Naturtatsachen zu tun hat. Aber der Mut verdunstet gegenüber den Dingen, die man gewöhnlich als zufällig bezeichnet, wo der Mensch gerade stark sein sollte - nämlich dem Zufall gegenüber - und sich sagen sollte : Da treten mir in einer ge­wissen Sphäre Ereignisse gegenüber, welche sich scheinbar sinnlos zusammenschließen; ich werde einen tieferen Sinn darin suchen. -Hineintragen den Sinn in die äußere Zufälligkeit, das hieße, sich mit starker Seele den äußeren Zeichen entgegenwerfen, so daß der Mut auch andauerte gegenüber den scheinbar zufälligen Ereignissen. So

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daß also das heutige Phantasieren gegenüber dem Zufall aus einer inneren Schwäche stammt, weil sich der Mensch nicht getraut gegen­über den Dingen, die er heute Zufall nennt, ein Gesetz anzuerkennen. Das ist etwas, was man bezeichnen darf als wissenschaftliche Feigheit, als Feigheit der Wissenschaft gegenüber dem Zufall : stehenzubleiben und nicht den Mut zu haben, in das, was sich als ein bloßes wirres Chaos darbietet, die Gesetze hineinzutragen, weil das Gesetz sich nicht selbst anbietet und dazu zwingt, es aus innerem Mut hineinzutragen. Daher muß entgegentreten der mutlosen Wissenschaft, die sich heute bloß auf Naturgesetze ausdehnen will, die mutvolle, starke, kühne Wissenschaft des Geistes, welche die innere Seele so belebt, daß in das scheinbare Chaos der Zufälligkeiten Gesetz und Ordnung hinein­gebracht wird. Und das ist diejenige Seite der Geisteswissenschaft, von der man sagen muß : Der Mensch soll durch sie stark werden, um nicht bloß dort Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen, wo die äußeren Verhältnisse zu Stärke und Mut zwingen, sondern auch dort, wo er sein Inneres aufrufen muß, um so zu sprechen, wie sonst nur die Natur­ereignisse mit ihrem Zwange zu ihm sprechen. Die Natur ist fertig, ist da. Der Mensch tritt ihr gegenüber. Neben die Natur und überall in die Natur hinein stellt sich die Zufälligkeit. Der Mensch ist selbst in diese Zufälligkeit hineinverwoben, und ein großer Teil dessen, was er sein Schicksal nennt, liegt in den Gesetzen dieser Zufälligkeit. Was muß geschehen? Was geschehen muß, das sei heute noch beantwortet.

Geschehen muß etwas, was man in der Tat vielfach heute in der äußeren exoterischen Welt nicht einmal ahnt, wovon man sich gar keine Vorstellung macht. Es braucht, damit das geschehen soli, was geschehen könnte, eine Anfeuerung des Impulses, der zur äußeren Wissenschaftlichkeit treibt, eine Anfeuerung, die nicht von dieser äußeren Wissenschaftlichkeit allein kommen kann, ganz unmöglich von ihr kommen kann. Es braucht einen Einfluß auf diese äußere Wissenschaft von der geistigen, von der spirituellen Forschung her. Denn die äußere Wissenschaft wird, weil sie sich zwingen läßt zu ihren Gesetzmäßigkeiten, sich nicht aufraffen können zu dem Mut, der not­wendig ist, um in das Reich der scheinbaren Zufälligkeiten spirituelle Gesetzmäßigkeit hineinzuschauen. Es hängt das mit dem zusammen,

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das oft hier berührt worden ist, daß Geisteswissenschaft, wenn sie ernst genommen sein soll, auf einen neuen Impuls hören muß, der zu­gleich hinweist auf eine Befeuerung des menschlichen Seelenmutes, der dazu führen muß, daß etwas durchaus Neues in die Welt hinein­treten muß : wenn dieses Neue auch nichts anderes ist als die Neu­erfassung desselben Impulses, welcher der Menschheit zwar gegeben worden ist, aber mehr oder weniger unbewußt gegeben worden ist und zur Bewußtheit von unserem Zeitalter an aufgerufen werden muß. Man sieht es überall, wie ein neuer Impuls kommen muß. Aber die anderen merken es auch, welche diesen neuen Impuls nicht wollen. Sie merken es ganz klar; aber sie geben sich manchmal in einer recht merkwürdigen Weise darüber Rechenschaft. Sie sagen es zwar nicht direkt. Aber das Merkwürdige ist doch, daß alle die, welche den Mut nicht haben zu dem, was jetzt gekennzeichnet worden ist, sich zwar noch in einer merkwürdigen Weise abzufinden vermögen mit allen möglichen philosophischen und sonstigen Auseinandersetzungen über die geistige Welt, die noch so ein bißchen Kompromisse schließen mit dem, was als natürliche Gesinnung herrscht. Sie werden da und dort eine anerkennenswerte Nachsicht finden mit alledem, was in eine geistige Welt hineinweist, was sich aber doch in einer gewissen Art noch gefallen läßt, zusammengeworfen zu werden mit alledem, das man sonst gern hat und das sich noch zeigen kann unter anständigen, naturwissenschaftlich gesinnten Leuten : aber irgendwo wird da eine Ausnahme gemacht. Diejenigen, die so recht glauben, daß sie das Recht dazu haben «unbedingt» zu urteilen, sie werden sagen : Ja, mit denen, die eine idealistische Philosophie vertreten, welche eine all-gemeine, auf Vernunft begründete Annahme einer geistigen Welt macht, mit denen läßt sich ja reden, mit denen kann man sich aus­einandersetzen. - Aber in merkwürdige Töne, in merkwürdige Taten verfallen die Menschen, wenn sie etwas hören von Geisteswissenschaft oder Anthroposophie. Da wird ihnen unbehaglich. Sie geben sich dar­über nicht so ganz Rechenschaft, aber das eine ist ihnen klar : damit wollen sie nichts zu tun haben. Da werden sie auch unerbittlich, und da sind sie nicht so ganz nachsichtig, da wird geschimpft und die Geisteswissenschaft hingestelit als etwas Phantastisches, Erträumtes

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und Willkürliches. Und selbst die, welche noch von oben herunter zu­weilen eine Nachsicht haben mit andern idealistischen Richtungen, der Geisteswissenschaft gegenüber verhalten sie sich doch so, daß fast der Goethesche Ausspruch zuschanden wird : «Den Teufel spürt das Völk­chen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte!», weil sie da die Anthro­posophie so empfinden, als wenn es schon der leibhaftige Teufel wäre. Sie sagen es oft nicht, aber es ist so, ist ganz merkwürdig so.

Man kann heute hinweisen auf einen Fall, der sich in unsern Reihen selber zugetragen hat, kann deshalb darauf hinweisen, weil er jetzt schon durch deutsche Zeitungen geht. Da hatte einer der Unsrigen an einer nordischen Universität eine Abhandlung als Doktorschrift ein­gereicht über das «Verhältnis des Ich zum Denken». Wäre er in der glücklichen Lage gewesen, in der ich selber war, bevor ich unter dem Namen «Theosophie» die Weltanschauung vertreten habe, die ich jetzt vertrete, als ich meine «Philosophie der Freiheit» schrieb, so würden die Menschen ja keine Ahnung, ich sage, keine «falsche» Ahnung haben, daß in dieser Abhandlung das Verhältnis des Ich zum Denken eine Beziehung zur Theosophie habe. Denn gar nichts kommt darin über Theosophie vor, so wenig wie in meiner «Wahrheit und Wissenschaft» und in der «Philosophie der Freiheit» etwas von Theo-sophie vorkommt. In diesen beiden Schriften haben die Menschen gar nicht geahnt, was dahintersteckt, haben auch nichts geredet, und die Dinge haben zuweilen eine merkwürdig günstige Beurteilung erfahren. Ich konnte das so recht prüfen. Eines Tages wurde ich auf Grund meiner Goethe-Schriften aufgefordert, das Kapitel über Goethes Ver­hältnis zur Naturwissenschaft zu schreiben. Das Werk erschien lange Zeit nicht, das Manuskript lag lange beim Herausgeber. Es war da­zumal fast eine Selbstverständlichkeit, daß mir dieses Kapitel über­tragen war, und es zweifelte auch keiner der in Betracht kommenden Menschen daran, daß das Werk über dieses Kapitel gerade von mir geschrieben werden sollte. Aber da geschah etwas Merkwürdiges : Ich hatte angefangen, das Wort Theosophie auszusprechen, ja, ich war sogar offiziell innerhalb der theosophischen Bewegung aufgetreten -und die Abhandlung wurde mir als «unbrauchbar» zurückgeschickt!

Sie sehen, welche inneren Gründe da spielen. Da kann man die

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Dinge abfangen, welche da mitspielen : wäre unser Freund nicht Theo­soph, so würden die Menschen nicht verkannt haben, daß da eine logisch dialektische Abhandlung vorliegt über das Verhältnis des Ich zum Denken. Aber nun ist jene Universitätsstadt, wo sicb das zu­getragen hat, nicht so groß, man wußte, daß der Betreffende ein Theosoph ist, und nun war seine Arbeit unbrauchbar für die Ge­lehrten, die noch dazu Experimentalpsychologen sind, die da sagen:

Gesetze erkennen wir nur da an, wo der äußere Zwang herrscht. -Wenn jemand aber Gesetze anerkennt, wo kein äußerer Zwang herrscht, wie ja bei dem Verhältnis des Ich zum Denken kein äußerer Zwang herrschen kann, so ist der Betreffende von vornherein zurück­gewiesen. Kurz, die Abhandlung unseres Freundes wurde zurückge­wiesen. Es wurde aber noch etwas anderes gemacht. Diese Abhand­lung ist ja in einer nordischen Sprache geschrieben, die nur sehr wenige kennen, und da schickte man sie nun an einen alten deutschen Ge­lehrten, der «zufällig» diese nordische Sprache kennt - ich sage dies absichtlich. Dem alten Herrn mutete man ja viel Philosophie zu; aber man konnte nicht das voraussetzen, was in diesem Falle günstig war :

daß der Betreffende nicht Theosoph war!

So hat er also sein Urteil abgegeben, hat es objektiv abgegeben, und siehe da : es wurde ein außerordentlich günstiges Urteil.

Solcher Geschichten reihte sich an diese Abhandlung noch eine an, und worauf es dabei ankommt, werden Sie gleich sehen. In diesen Tagen wurde mir ein Ausschnitt aus der «Frankfurter Zeitung» ge­schickt, wo in einer unglaublichen Weise über diese Sache berichtet wird, so daß man absolut nicht mehr erkennt, worum es sich handelt; denn es wird die Sache geradezu - obwohl sie selbst mit der Theoso­phie nichts zu tun hat - so dargestellt, als ob nun an einer nordischen Universität über Theosophie gestritten wird! Nicht über Theosophie, sondern über einen ganz anderen Punkt! Und das dürfte nicht ver­schleiert werden. Darüber nämlich : ob es noch möglich ist, irgendwo eine Bresche zu schießen gegen die Intoleranz, von der wir gesprochen haben. Über das, worauf es eigentlich ankommt, darüber wird nicht gesprochen. Da spielen eben andere Gründe mit, und so werden Sie die kuriosesten Entstellungen über solche Vorgänge finden.

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Ich erwähne es, damit Sie die Sache wissen und beurteilen können, und weil so etwas immer wieder und wieder vorkommt und sich selbst unter den Theosophen Leute finden, die es ernst nehmen und sagen :

Da oder dort ist etwas Spirituelles -, während Sie darüber belehrt sein sollten, daß sie das, was als ein wirklich neuer Impuls kommen soll, nicht zu suchen haben da oder dort, sondern in der Geisteswissenschaft selber. Denn nur dadurch gedeiht, was die Welt vorwärtsbringen soll, wenn es sich in seiner eigenen Kraft erfaßt. Und so muß sich der Mensch erfassen in seiner eigenen Kraft, um dennoch die Welt in ihrer scheinbaren Zufälligkeit als sinnvoll und gottdurchdrungen zu durch­schauen. Dieser Impuls muß aus der Geisteswissenschaft heraus ge­geben werden. Wie muß er gegeben werden? So, daß die Menschen erkennen werden, daß einmal im Laufe der Menschheitsentwickelung der Zeitpunkt da war, der jetzt eben neu erkannt werden soll, auf den uns unter anderem so bedeutungsvoll im Markus-Evangelium hin-gedeutet wird, der damals eingetreten ist, jetzt aber für das mensch­liche Bewußtsein erobert werden soll, auf den im Markus-Evangelium im ersten Kapitel mit den Worten hingedeutet wird : «Es ist erfüllt der Inhalt der alten Zeit, und herbeigekommen ist das Reich der Himmel; erkennt euch und schauet hin auf dasjenige, was aus der neuen Bot­schaft fließt!» Und dann wird, wenige Stellen weiter, merkwürdig ge­sprochen von dem Christus Jesus. Es handelt sich wahrhaftig in un­serer Gemeinschaft nicht darum, ein orthodoxes Dogma zu vertreten, sondern darauf hinzuweisen, wie an einer Stelle der Menschheits-entwickelung der Impuls eingetreten ist, der jetzt zur Stärkung der inneren Kräfte führen muß, durch den das menschliche Ich sich er­kennt, aber auch in der Welt sich selbst schauen lernt und in sich selbst hineintragen lernt, was sonst nur als blinder Zufall erscheint. Warum spricht zu dem Menschen aus den Naturerscheinungen heraus kein Zufall? Warum spricht er da von Gesetzmäßigkeit? Das ist aus dem Grunde, weil nach dem Ablauf der Saturn-, Sonnen- und Monden­entwickelung eingegriffen haben die Geister der Form, die Exusiai. Und wenn Naturgesetze sich offenbaren, so sind das keine abstrakten Gesetze, sondern es sind im spirituellen Sinne die Taten der Exusiai, der Geister der Form. Und indem der Mensch hineinschaut in den Ablauf

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der Naturereignisse, schaut er in den Naturgesetzen die Taten der Exusiai. Aber zusammengesunken ist der Mensch in seinem Mut. Und da, wo die Exusiai nicht sprechen, wo sie nicht handgreiflich hin­weisen auf das, was sie in die Naturtatsachen hineingelegt haben, da ahnt der Mensch nichts mehr davon, daß dort auch Geistiges als die Gesetzmäßigkeit spricht. Dahin aber muß es kommen, daß der Mensch von den Ereignissen, die er heute noch in das Reich des Zufalls wirft, so sprechen lernt, wie in den Naturtatsachen die Exusial sprechen. Zusammengeklappt in seinem Mut ist der Mensch. Wie lernt er nur sprechen über das, was als Menschenschicksal durch die Menschheit zieht? Nur wie die « Grammatiker», die nur die Worte aufzählen und keinen Zusammenhang suchen, und gar oft glauben, daß keine wir­kende und lebendige Kraft darinnen wäre. Der Mensch aber muß lernen nicht nur in den Naturtatsachen, in den Taten der Exusiai einen Zusammenhang zu sehen, sondern er muß auch durch einen inneren Impuls so sprechen lernen über die Ereignisse in der Menschheit, wie wenn die Exusiai auch sprechen würden in dem, was ihm heute als Zufälligkeit erscheint. Damit aber das geschehen kann, mußte Einer kommen, der nicht spricht wie die, welche nichts wissen von den scheinbaren Zufälligkeiten. Der da kommen mußte, der mußte spre­chen nicht wie die Grammatiker, sondern wie die Exusial aus den Naturtatsachen sprechen. So sprach der Christus aus dem Jesus. Und das zeigt uns das Evangelium in einer wunderbaren Weise an, indem es uns nicht bloß in abstrakter Weise sagt : «Und sie entsetzten sich über seiner Lehre», sondern indem es gleich hinzufügt : .... . denn er lehrte, wie die Exusiai lehren»,

(en gar didäskön autous hös exusian échon). Wo lehren die Exusiai? In den Naturtatsachen! So, mit derselben Naturnotwendig­keit sprach der Christus aus dem Jesus über das, was er zu sagen hatte über die scheinbar nicht durch Naturgesetze beherrschten Reiche.

Das ist der Impuls, der hineinkommen muß in die Menschen. Dann werden sie den Mut finden, in den heutigen Zufälligkeiten das Reich der spirituelien Gesetzmäßigkeit kennenzulernen und nach und nach darüber so sprechen zu lernen, wie die Exusial, wie die Geister der Form in den Naturtatsachen sprechen. Das war der große Osterimpuls

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der Menschheit, daß in dem Jesus von Nazareth etwas lebte, was da sprach mit derjenigen inneren Notwendigkeit, mit der sonst die Na­turgesetze in den Naturtatsachen sprechen, von dem irdischen Mine­raireich bis oben hinauf über das Reich der Wolken in das Reich der Sterne hinein. So sprach der Christus in dem Jesus von Nazareth! Und wenn der Mensch die Möglichkeit findet, seinen Mut anzufeuern durch diesen Impuls, dann wird er die einheitliche Gesetzmäßigkeit in allen Tatsachen des Weltgeschehens erkennen, in den Naturtat-sachen und auch in den Geistestatsachen, von denen man glaubt, daß dort der Zufall spielt. Das ist das Neue, daß die Menschen, abgesehen von allen Vorurteilen, verstehen lernen müssen, worin das Gewaltige des Christus-Impulses besteht und worüber hinaus sie der Christus-Impuls heben kann. Mit solchen Gedanken schreiten wir entgegen demjenigen Fest, das man als Erinnerungsfest an jene Tatsache be­zeichnet, durch welche erkannt wurde im Laufe der Menschheits-entwickelung, daß ein solcher Impuls der Menschheit zuteil geworden ist. Es wird mancherlei von dem, was gerade im heutigen Vortrage gesagt worden ist, ganz gut verwertet werden können als eine Art Ostermeditation, und Sie werden dann verspüren, daß das, was aus einer solchen Betrachtung wie der heutigen hineinfließt in die Seele, nützlich sein kann für die Stimmung, die den Menschen dem Oster­feste entgegenbringen kann, wie das auch in unserem Seelenkalender charakterisiert worden ist.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 23. April 1912

Ich habe Sie, bevor wir zum Gegenstand unserer heutigen Betrachtung kommen, noch einmal hinzuweisen auf den ja jetzt wirklich erschie­nenen anthroposophischen Kalender, in dem ich den Versuch ge­macht habe, das, was ein Kalender sein kann für den Menschen, wiederum lebendig zu machen dadurch, daß die Zeiten, Kräfte- und Zeitenverhältnisse wiederum zurückgeführt werden auf ihre Ur­sprünge, durch die sie erkannt werden können in okkulten Imagina­tionen. Vieles von dem, was jetzt sich nur in den abstrakten Zeichen der Tierkreisbilder ausdrückt, kann lebendig gemacht werden, wenn wiederum das in eine gefühlsmäßige Imagination umgewandelt wird, was ja auch ursprünglich mit den Tierkreisbildern gemeint war. Das ist geschehen in den erneuerten Tierkreisbildern, wie sie in der emp­findungsmäßigen Intuition von Fräulein von Eckhardtstein gegeben sind, so daß man sich wieder hineinempfinden kann in ein lebendiges Verhältnis zum Himmel. Sie müssen nur versuchen, das, was in Bildern gegeben ist, in sich selber empfindungsgemäß lebendig zu machen.

Sie finden dann für die einzelnen Wochen des Jahres Meditations-formeln. Diese Meditationsformeln seien Ihnen ganz besonders ans Herz gelegt, denn sie enthalten das, was in der Seele lebendig gemacht werden kann und was dann wirklich entspricht einem lebendigen Ver­hältnis von Seelenkräften zu Kräften des Makrokosmos. Was wir nennen können den Fortgang der Zeit, das wird gelenkt und geleitet von geistigen Wesenheiten, von geistigen Wesenheiten, die in ihren gegenseitigen Beziehungen, in ihren lebendigen gegenseitigen Ver­hältnissen eigentlich die Zeit bedingen, die Zeit machen, könnte man sagen. Nun ist es ganz abstrakt und bloß allegorisch, wenn das, was auch beim Menschen Zeiterlebnissen entspricht, das Zeitliche in der Menschenseele, ohne weiteres parallelisiert würde mit Vorgängen, die sich auf die Zeit im Makrokosmos beziehen. Sie werden sehen, daß ganz andere Erlebnisse der Menschenseele, die in gewisser Beziehung gar nichts mit Zeit zu tun haben, dort gegeben sind. Wenn Sie diese

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Dinge in der Seele lebendig machen, so werden Sie das Verhältnis kennenlernen, das die Seele erleben kann zwischen Zentrum und Pe­ripherie der Sinneserlebnisse. Dieses eigentümliche Verhältnis, es kann geändert werden durch diese Meditationen. Es kann dadurch hervor-gerufen werden eine Imagination des Verhältnisses der Wesenheiten, die den Fortgang der Zeit bedingen, so daß man durch diese zweiund­fünfzig Formeln in der Tat den Weg finden kann aus dem Mikrokos­mos zum Makrokosmos.

Was der Kalender als Äußeres hat, ist nur die exoterische Seite, denn in Wahrheit schreiben wir 1879. Die Zeitverhältnisse, die ge­schaut werden können durch okkulte Beobachtung, sollen wirklich hier zum Ausdruck gebracht werden. Damit soll hier begonnen wer­den, denn es ist natürlich nur ein erster Anfang. Mit dem Mysterium von Golgatha ist gegeben die Geburt des Ich-Bewußtseins innerhalb der Menschheit. Und diese Tatsache wird allmählich immer mehr und mehr in der geistigen Kultur unserer Erde erkannt werden als be­deutsam für alle Zukunft der Menschheit. So wird man nach und nach verstehen, daß es gerechtfertigt ist, das Jahr 1879 zu zählen heute, das heißt 1912 weniger 33. Damit ist auch gegeben, daß die Zeit gerechnet wird von Ostern zu Ostern, daß wir nicht mit dem Januar beginnen, weil, wenn man in der Geburt des Ich-Bewußtseins etwas Wesent­liches sieht für die geistige Menschheitsentwickelung, es auch gerecht­fertigt ist, jedes Jahr daran erinnert zu werden, indem diese Geburt des Ich-Bewußtseins selber bezogen wird auf Verhältnisse des Mikro­kosmos und Makrokosmos. Ein bedeutsamer Zug des Verhältnisses von Mikrokosmos und Makrokosmos ist gegeben, wenn das Oster­fest in Zusammenhang mit der Geburt des Ich-Bewußtseins gedacht wird. Daß heute gesucht wird, das Osterdatum auf einen bestimmten Tag zu verlegen, statt es vom Himmel abzulesen, das gehört ganz selbstverständlich zur Signatur unserer Zeit, die für alle äußeren Ver­hältnisse immer mehr in den Materialismus hineinstürmt und vergißt, was mit dem Spirituellen zusammenhängt. Es wird notwendig sein vielleicht, daß in der anthroposophischen Strömung bewahrt werde gegenüber dem Industrialismus, dem Kommerzialismus, dem Mate­rialismus überhaupt, die Erinnerung an die konkreten Daten, die nicht

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gegeben werden durch Geld- und Scheckauszahlen, sondern durch Verhältnisse des Weltenalls. Es wird das erste große Zeichen sein, daß die äußere und innere Kultur, der ganz materialistischen und der spiri­tuallstischen Bahnen gründlich nebeneinanderher gehen müssen, wenn es der äußeren Kultur gelingen sollte, das Osterdatum loszureißen von der Bestimmung aus der Sternenwelt heraus. Man würde vor einer Hoffnungslosigkeit stehen, wenn man glauben wollte, daß aus der materialistischen Kultur heraus ein wirklicher Aufschwung zu spiri­tuellen Tatsachen möglich sein sollte. Es ist ein erster Versuch für dieses Jahr; ich hoffe, daß, indem die Anthroposophen den Kalender benutzen, sie uns unterstützen werden, ihn in immer volikommenerer Gestalt vor die Welt hintreten zu lassen.

Einige unserer Freunde der deutschen Sektion waren mit mir in den letzten Wochen innerhalb eines auswärtigen anthroposophischen Arbeitsfeldes : wir hatten das Arbeitsfeld Finnlands in Helsingfors betreten. Ein solches Verweilen auf einem auswärtigen anthroposo­phischen Arbeitsfelde ist immer etwas, was den Teilnehmern vor Augen zu rücken in der Lage ist : die Zusammengehörigkeit des an­throposophischen Lebens auf der einen Seite, wo es wahrhaft vertreten wird über den Erdkreis hin, und auf der andern Seite die tiefe Be­gründetheit dieses anthroposophischen Lebens in der Kultur der Gegenwart, die Notwendigkeit dieses Lebens für die Kultur der Gegenwart. Es war ja, ich möchte sagen, für mein Bewußtsein ganz besonders bedeutungsvoll, daß unsere Freunde in Finnland einen Vortrag von mir gewünscht haben über das altehrwürdige Epos der Finnen, über die «Kalewala». Damit, daß dieser Wunsch vor Zeiten ausgesprochen worden ist, war ja für mich die Notwendigkeit ge­geben, mich auch vom Standpunkte des Okkultismus aus mit dieser ganz merkwürdigen Dichtung des merkwürdigen finnischen Volkes zu beschäftigen. Und auch dabei trat wieder etwas hervor, was ich bei vielen andern Gelegenheiten auch hier an diesem Orte schon öfter er­wähnt habe. Ein ganz besonderes Gefühl überkommt uns, wenn wir ganz unabhängig von allem, was Menschen über die geistige Welt bisher gewußt haben und in ihrer Art in Worten zum Ausdruck ge­bracht haben, in diese geistigen Welten uns vertiefen und finden, wie

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es in denselben aussieht und wie der Mensch zu ihnen steht, und wenn wir dann ebenso unabhängig davon uns fragen : Wie verstehen wir nun, nachdem wir den Einblick in die geistigen Welten, auch den Ein­blick in das Verhältnis des Menschen zu ihnen gewonnen haben, das­jenige, was in den Überlieferungen der verschiedensten Völker, was in den Urkunden enthalten ist, die von den Jahrhunderten her zu uns sprechen? Wie verstehen wir dies mit den über die übersinnliche Welt gewonnenen Erkenntnissen? - Da haben wir gesehen, wie zum Bei­spiel in der biblischen Urkunde und in andern Urkunden, welche deutlich auf dem Grunde des Okkultismus erbaut sind, in einer andern Ausdrucksweise allerdings als wir sie jetzt geben müssen, aus alten Zeiten, aus den verschiedensten Zeiten der Menschheitsentwickelung und in den verschiedensten Formen dasjenige zum Ausdruck gebracht wird, was wir heute selber finden. Dadurch gewinnen dann diese Ur­kunden für uns ein ganz neues Gesicht und eine ganz neue Kraft. Dann sagen wir uns : In den Welten, in die wir hinein wollen durch den geistigen Erkenntnispfad, durch unser allmähliches Uns-Aufschwin­gen zur Initiation, indiesenWelten haben gewisse Menschen gestanden und von ihnen heraus den Epochen ihre großen Offenbarungen ge­geben. Und in den verschiedensten Zeiten haben sie in den verschie­densten Weisen drinnen gestanden.

Ein solches ganz besonderes Gefühl konnte einen beschleichen in bezug auf die okkulte Bedeutung des altehrwürdigen finnischen Epos Kalewala. Und für mich selber war gerade der Kalewala gegenüber die Empfindung eine ganz besonders lebhafte, ich möchte sagen, eine besonders charakteristische. Diese finnische Dichtung ist zwar in alle europäischen Sprachen übersetzt, aber sie unterscheidet sich im Grunde genommen von allen anderen erzählenden Dichtungen ganz bedeut­sam und läßt sich mit keiner so ohne weiteres vergleichen.

Nun wissen Sie, daß vor vielen Jahren, als zum ersten Male mein Buch «Theosophie» erschien, eine innere Notwendigkeit, eine unab­hängige Betrachtung der spirituellen Welt dazu geführt hat, das menschliche Seelenleben einzuteilen in drei Seelenglieder : in die Emp­findungs seele, in die Verstandes- oder Gemütsseele und in die Bewußt-seinsseele. Diese drei Seelenglieder sind gewonnen nur durch okkulte

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Forschung, nur durch okkulte Beobachtung. Es sind dabei, als diese Gliederung gewonnen worden ist, keine Blicke geworfen worden auf diese oder jene Überlieferung. Nichts anderes ist zu Rate gezogen worden als das, was sich ergibt, wenn man den okkulten Blick in die geistigen Welten hineinrichtet. Nun kam die Notwendigkeit, weil un­sere Freunde von der finnischen Sektion ersucht hatten um eine ok-kulte Interpretation der Kalewala, diese Kalewala einmal anzusehen vom Gesichtspunkte der okkulten Forschung.

Es ist immer wieder und wieder betont worden, daß das mensch­liche Bewußtsein und das menschliche Seelenleben, wie wir sie jetzt haben, nicht immer so waren wie heute, sondern, wenn wir zurück­gehen in der Menschheitsentwickelung, so kommen wir zu denjenigen Urzeiten, in welchen das gegenwärtige Wahrnehmen, das gegenwärtige Denken und die gegenwärtige Art sich zur Außenwelt zu verhalten, nicht vorhanden waren, aber ein altes, ursprüngliches Heilsehen war damals den Urmenschen eigen. Wenn wir also gleichsam den Blick zu­rückwenden über die Menschheitsentwickelung hin, so finden wir von einem gewissen Zeitpunkt ab, der etwa mit dem Jahre 600 vor der christlichen Zeitrechnung beginnt, auch die Zeit, wo in der Mensch­heitsentwickelung die besondere Konfiguration des Seelenlebens ein­tritt, welche dann zu dem mehr abstrakten wissenschaftlichen Denken geführt hat, während früher immer noch vorhanden sind Stücke, Reste alten Hellsehens oder wenigstens Erinnerungen daran, die sich bei einem Volke länger, bei einem andern weniger lange erhalten haben. Überall finden wir, wenn wir zurückgehen in der Entwickelung der einzelnen Völker, daß diese Völker sich erst nach und nach zu dem gegenwärtigen Bewußtsein hindurchgerungen haben. Vorher haben wir eine Erinnerung an menschliche Urzeiten, in welchen das normale menschliche Bewußtsein eine Art von Hellsehen hatte. Und in der Zeit der Dämmerung zwischen dem alten Hellsehen und dem gegen­wärtigen Bewußtsein sind eigentlich die Epen, die Volksdichtungen entstanden.

Eine solche Wahrheit, wie wir sie jetzt finden, daß die menschliche Seele sich gliedert in Emptindungsseele, Verstandes- oder Gemüts-seele und Bewußtseinsseele, wäre natürlich dem Menschen der Urzeit

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durchaus nicht möglich gewesen zu finden. Aber diese Menschen hatten ganz in der Urzeit ein wirkliches Helisehen, wenn auch nicht durchleuchtet von dem jetzigen Intellekt, von dem jetzigen Verstande, wenn auch etwas traumhaft, dämmerhaft. Sie hatten, bevor das gegen­wärtige Bewußtsein heraufkam, etwas wie Zwischenzustände zwischen unserem gegenwärtigen Wachzustand und Schlafzustand, in denen sie aber lebendige Erinnerungen hatten, daß es einstmals anders zu­gegangen war, daß alle Verhältnisse anders waren, und daß sich der einzelne Mensch zu dem andern nicht so verhielt, wie es das jetzige Bewußtsein ergibt, sondern wie es das alte Helisehen ergab. Was die Völker durchgemacht hatten in der Zeit von dem Niedergange des alten Hellsehertums bis zum Eintritt in das gegenwärtige Bewußtsein, das schilderten sie in den Epen, in den großen Völkerdichtungen.

Der heutige materialistische Mensch sagt nun, daß sich das mensch­liche Seelenleben allmählich heraufentwickelt habe aus den materiellen Prozessen, die an den menschlichen Organismus gebunden sind, aus Prozessen, wie sie sich bei niedrigeren Wesen auch finden. Die Geistes­wissenschaft aber zeigt, daß das, was beim Tiere sich im Seelenieben findet, niemals Veranlassung hätte geben können zu einer Gliederung in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseins-seele, daß vielmehr unmittelbar aus einer geistigen Welt herunter­geflossen ist in den Erdenmenschen diese innere Trinität der mensch­lichen Seelenglieder, der Empfindungsseele, der Verstandes- oder Ge­mütsseele und der Bewußtseinsseele. Daher kann sich der Mensch sagen, wenn er hinaufschaut in die geistige Welt : Da fließen drei Ströme herunter, denen in der geistigen Welt drei Wesenheiten ent­sprechen, welche die unmittelbaren Inspiratoren der Empfindungs-seele, der Verstandes- oder Gemütsseele und der Bewußtseinsseele sind. Die Schöpfer dieser drei Seelenglieder haben wir gleichsam in einer Welt zu suchen, die heute der übersinnlichen Welt eben ange­hört, mit der aber die Menschen der Urzeit in einer unmittelbaren Ver­bindung standen.

Nun wissen wir, daß in dem Augenblick, wo wir in die geistige Welt hinaufsteigen, unser menschliches Anschauen uns zur Imagination wird, gleichgültig, ob wir hinaufsteigen durch bewußte Schulung, wie

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es beim modernen Menschen der Fall sein wird, oder ob es durch das alte Hellsehen der früheren Zeiten war. Da stieg die Seele auch hinauf zu einer Art Imagination. Daher hatte sie in Bildern vor sich das Her­ausfließen der dreifachen Menschenseele aus der geistigen Welt. - Nun treten uns in dem finnischen Nationalepos drei Helden entgegen. Zu­nächst sind sie höchst merkwürdig, diese drei sonderbaren Geschöpfe, die etwas Übermenschliches haben und die wieder stufenweise etwas echt Menschliches haben. Geht man aber näher und untersucht man namentlich mit okkulten Mitteln die Sache, so zeigt sich, daß in diesen drei heldenhaften Gestalten die Schöpfer, die letzten Schöpfer und Inspiratoren der menschlichen Seelenkrafte gegeben sind. Der Schöpfer der Empfindungsseele entspricht dem, was in der Kalewala geschildert ist mit dem Namen Wäinämöinen; der Schöpfer der Verstandes- oder Gemütsseele ist geschildert als Ilmarinen und der Schöpfer der Be­wußtseinsseele als Lemminkäinen. Es tritt uns also hier bei diesem so merkwürdigen Volke in seiner Nationaldichtung in einer Imagina­tionsform aus dem ursprünglichen menschlichen Hellsehen das ent­gegen, was die moderne okkulte Forschung wiederfindet. Und wenn wir den gegenwärtigen Menschen betrachten, so ist er, wie er uns als äußerer Mensch entgegentritt, wie wir ihn vor uns haben, nur dadurch möglich, daß zuerst veranlagt war im Verlauf der Menschheitsevolu­tion auf der Erde dieses dreigliedrige Seelenwesen. Ich habe das schon angedeutet in den öffentlichen Berliner Architektenhausvorträgen «Der Ursprung des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft», vom 4. Januar 1912, und «Der Ursprung der Tierwelt im Lichte der Gei­steswissenschaft» vom 18. Januar 1912. Wir haben uns vorzustellen, daß im Verlaufe des Erdenprozesses einmal weder Menschen noch Tiere, sondern sozusagen ein undifferenziertes Etwas von Erdenleben vorhanden war; daß sich dann zuerst abgeschnürt haben die Wesen, die nur bis zur Tierheit gekommen sind, während, als schon alle Tiere da waren, der Mensch noch gewartet hat bis andere Erdenbedingungen eingetreten waren, und deshalb, weil er auf andere Erdenbedingungen gewartet hatte, konnte er seine gegenwärtige Form erhalten. Das heißt, während schon die Tiere ihre verschiedenen Formen auf der Erde entwickelt hatten, war der Mensch noch oben in der geistigen

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Welt, er entwickelte sich erst, als die Tiere ihre festen Formen schon erhalten hatten. Und es ist so, daß der Mensch zuerst diese Veran­lagung in die drei Seelenglieder erhalten hatte, in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele. Dann brachte er in die Erdenverhäitnisse hinein die Möglichkeit, als solcher Mensch in äußerer Form aufzutreten, wie er eben jetzt ist.

Wenn wir dies ins Auge fassen, können wir sagen : Der Mensch, wie er uns jetzt als fertiges Wesen entgegentritt, hat eigentlich das Tier­reich vor sich heruntergeschickt und ist dann nachgekommen, als die Erdenverhältnisse so waren, daß er sein zur Dreigliedrigkeit ver­aniagtes Seelenleben in einer äußeren Form zum Ausdruck bringen konnte. - Was heißt das aber eigentlich? Sonderbarerweise gewinnen, wenn man diese okkulten Wahrheiten ins Auge faßt, jene religiösen Überlieferungen, die auf Okkultismus gebaut sind, wieder ihren tiefen Wert und werden nur enthoben der alten Vorstellungen, mit denen man eben nichts Rechtes mehr verbinden konnte. Der Mensch nahm in sich die Erdenverhälmisse, die Erdenmaterie erst auf, als er sie so um­arbeiten konnte, daß sie seine gegenwärtige Gestalt werden konnte, welche Gestalt der Abdruck werden konnte seines Seelenlebens, seines dreigliedrigen Seelenlebens. Der Mensch verarbeitete also die Erden-materie nach den Gesetzen seines Seelenlebens, gliederte das, was Erdenmaterien sind, in den Plan seines Seelenlebens ein und wurde so der Erdenmensch, das heißt, er schmiedete die Erdenmaterie nach dem Muster seines Seelenvorbildes. Man braucht nur jetzt an die bi­blische Vorstellung zu denken von dem Verarbeiten des Erdenstoffes, nicht Erdenstaubes, sondern der Erdensubstanz, zum Menschen, dann hat man in dieser biblischen Vorstellung, die so viel verspottet worden ist von der modernen Abklärung - will sagen Aufklärung -, einen tiefen Sinn gegeben. Denn es wird darin nämlich auf den Moment hin­gewiesen, als die Tiere schon da waren, weil sie früher herunter-gestiegen waren, und aus der Erdensubstanz erst das geformt wurde nach dem Seelenvorbilde, was jetzt als leiblicher Mensch vor uns steht.

Nun ist es ganz wunderbar, daß dieser Vorgang gerade großartig dargestellt wird im Imaginativen in dem finnischen Nationalgedicht

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Kalewala, und zwar wird er dort dargestellt als das Schmieden eines geheimnisvollen Instrumentes, das dort in der Kalewala Sampo heißt. Die kuriosesten Erklärungen sind für dieses geheimnisvolle Instru­ment Sampo gegeben worden. In Wahrheit ist es der aus dem Zu­sammenwirken der drei Seelenprinzipien geschmiedete Ätherleib, dessen Abdruck dann der physische Leib ist. So hat man hier - und es ist gar nicht nötig, daß wir die genaueren Dinge hier ausführen, es braucht nur darauf hingewiesen zu werden - mit dem finnischenNatio­nalgedicht Kalewala etwas, was ganz selbstverständlich aus der Er­innerung des finnischen Volkes herstammt, die noch eine Erinnerung früherer heliseherischer Wahrnehmungen war, und in diesen hell­seherischen Wahrnehmungen wußten die Menschen noch etwas von dem Heruntersteigen des Menschen als seelisches Wesen in seiner Dreigliedrigkeit in den physischen Leib. Das ist das Bemerkenswerte an einer solchen Sache, daß wir in den alten Heldensängen der Mensch­heit das wiederfinden, was wir uns heute erobern als Wahrheiten, als Erkenntnisse über die geistigen Welten. Was wir an vielen Beispielen gefunden haben gegenüber den für alle Menschen wichtigen Urkun­den, das finden wir hier an einem besonderen Beispiel, das noch dazu, man möchte sagen, wie aus der Vergessenheit im 19.Jahrhundert auf­getaucht ist. Denn es war ja vergessen und wurde erst im Laufe des 19.Jahrhunderts zusammengestellt aus Volksgesängen, die im Volke gelebt haben. Nichts war niedergeschrieben im Beginne des 19. Jahr-hunderts von dem, was wir heute als Kalewala haben, sondern es wurde erst herausgehört aus dem Volke und danach zusammengestellt, hat also nur im Volke gelebt. Wir brauchen, wenn wir vor einer sol­chen Tatsache stehen, gar nichts anderes als das, was da ist. Das heißt, was ist denn in einem solchen Falle da? Es ist das da, daß ein Arzt des 19. Jahrhunderts wahrnimmt : Da singt das Volk von allerlei Dingen, die ganz interessant sind - und daran geht, diese Dinge einmal zu sammeln. Nun werden sie zusammengestellt, werden auf diese Weise dem Volke wieder wert; man kümmert sich darum, die Sachen werden in alle europäischen Sprachen übersetzt, die Gelehrten geben törichte Erklärungen über die einzelnen Dinge, aber die Sache ist da, sie hat im Volke gelebt.

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Wir gehen nun daran, mit dem, was wir heute als geistige Erkennt­nisse haben. Es stellt sich heraus, ob man will oder nicht, wenn man nur guten Willen hat, daß in dem, was da im Volke gelebt hat, was da aufgelesen ist aus dem Volke, okkulter Inhalt enthalten ist, okkulter Inhalt, den wir heute wiederfinden, so wie wir ihn, wenn wir guten Willen haben, wiederfinden in Homers Ilias, in der Odyssee, in dem Nibelungenliede und so weiter. Nur muß man eben jenen guten Willen haben, die Dinge zu suchen, muß ernsthaft suchen, muß allerdings nicht mit Allegorien oder mit den Mitteln einer symbolischen Mythen-deutung an die Sache herangehen, sondern sie unmittelbar auf sich wirken lassen. Was wir selbst gefunden haben auf okkultem Gebiete, das leuchtet uns aus den Imaginationen aus grauer Vorzeit entgegen. Hier kommt nun aber noch etwas Besonderes dazu. Es trat mir näm­lich bei der Kalewala etwas ganz Besonderes entgegen. Als ich die Kalewala in die Hand nahm, da hörte ich auch, daß die Schlußrunen, die von einer Berührung des altfinnischen Geisteslebens mit dem Christentum handeln, offenbar später hinzugefügt sein müßten; denn, während alles andere den alten heidnischen Charakter hat, tragen die Schlußrunen durchaus etwas Christliches hinein, aber etwas zart Christliches. Und da stellte sich mir heraus, wunderbarerweise, daß dies dazugehört, daß ohne diese letzten Runen die Kalewala gar nicht denkbar ist. Das heißt, wie die Kalewala entstanden ist und im Volke gelebt hat, so ist alles so gestaltet, daß es zuletzt ganz selbstverständ­lich gipfelt in einem zarten Hinweis auf das Christentum. Und man möchte sagen, auf das allerunpersönlichste Christentum, das sich nur denken läßt, auf ein Christentum, das das allerunpalästinensischste Christentum ist, das kaum wiederzuerkennen ist für die christlichen Begriffe. So daß wir hier damit zu rechnen haben, daß aus ein und der­selben Seele das geboren war, was nicht mehr bei den übrigen Kultur-völkern Europas mit der christlichen Kultur zusammen geboren wer­den konnte : denn, als die christliche Kultur kam, war lange die Zeit vorbei, in welcher das Hellsehen noch zurückging in die Zeiten, welche entsprechen dem Heruntergliedern der dreifachen menschlichen Seele zur Menschengestalt. So haben wir hier bei dem finnischen Volke noch etwas von dem Zusammenschließen des uralten Heilsehens mit dem,

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was durch die christliche Kultur hereinspielt. Es ist damit etwas ganz Merkwürdiges, etwas ganz Einziges gegeben, was vielleicht sonst nicht zu finden ist auf der Erde. Es ist ja vielleicht durch die besondere Verehrung, welche in Finnland für die Kalewala herrscht, dieses Epos davor bewahrt, das Schicksal der Ilias durchzumachen. Denn ich weiß nicht, ob vielen von Ihnen bekannt ist, daß Gelehrsamkeit die Ilias erst in kleine Stücke zerhackt hat und dann behauptet hat, daß diese Ilias nicht von einem Menschen, der Homer geheißen habe, überhaupt nicht von einem einzigen Menschen stamme, sondern nur später zu­sammengesammelte Gesänge wäre. Bei der Kalewala hat man zwar das Faktum, daß die Sache gesammelt ist. Aber es ist ein Ganzes, ein einheitliches Ganzes; man wird vielleicht in der Zukunft einige Ab-änderungen treffen müssen, aber es ist ein einheitliches Ganzes. Es liegt also die Tatsache vor, daß man hier aus dem Bewußtsein des Volkes eine Summe von okkulten Imaginationen aufgelesen hat, die sich für die geistige Weltanschauung durch ihren eigenen Gehalt deutlich als solche ausweisen. Verfolgt man mit der Akasha-Chronik die Sache zurück, so stellt sich heraus, daß sie zurückführt auf die uralt heiligen Mysterien des nördlichen Europa, daß die Dinge inspiriert sind von den Initiierten und dem Volke gegeben und einverleibt worden sind.

Warum habe ich Ihnen diese Tatsachen auseinandergesetzt? Was wir sonst über geisteswissenschaftliche Angelegenheiten besprechen, was wir seit Jahren besprochen haben, das wurde auch besprochen in Helsingfors und das wird besprochen in andern Gegenden Europas. Ein besonderes Neues, möchte ich sagen, und ein speziell Finnländi­sches war eben jener öffentliche Vortrag, den ich halten durfte über den okkulten Gehalt der Volksepen und besonders über den okkulten Gehalt der Kalewala. Und da fühlte man ganz das, was für die geistes-wissenschaftliche Bewegung das Wesentliche ist, was sich immer mehr und mehr als das Wesentliche über die ganze Erde hin geltend machen wird. Man fühlt : Mit der Geisteswissenschaft ist man in bezug auf das geistige Leben überall zu Hause, denn sie ist das Licht, das hinein­leuchtet in den Geistesweg, den die Menschheit über die Erde hin ge­nommen hat. Und so ist es wieder ein überwältigendes Gefühl, in diesen zusammengelesenen Volksdichtungen, die nun ein Ganzes

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bilden, durch die Geisteswissenschaft den eigentlichen Gehalt zu fin­den, zu finden, wie die Volksseele da einmal gesprochen und gedichtet hat, bis ins 9., 10., 11 Jahrhundert herein, noch lebendige Erinne­rungen habend an das alte Hellsehen, wie es dann im Volke lebte, in diesem sonderbaren finnischen Volke, das sich noch Gebräuche und Künste von alter magischer Art erhalten hat, um dann zu sehen, wie uns Geisteswissenschaft alle diese Dinge erst verständlich macht, wie sie uns zu deren Verständnis führt.

Unter den vielen Zeichen, die angeführt werden konnten für das, was sich uns sozusagen wie große spirituelle Tatsachen unserer un­mittelbar kommenden Zeit darstellt, ist dieses auch eines : die Geistes­wissenschaft trägt uns in ein sprachlich ganz fremdes Gebiet, denn die finnische Sprache unterscheidet sich ganz von allen übrigen euro­päischen Sprachen, man versteht nichts von ihr äußerlich, man wird in ein ganz fremdes Gebiet getragen. Und was lernt man durch die Geisteswissenschaft kennen? Worüber spricht man durch die Geistes­wissenschaft mit diesem Volke, das in bezug auf das, was in den letzten Jahrhunderten geschehen ist, den andern europäischen Völkern ganz fremd ist? Man spricht mit ihm über das, was sein Allerheiligstes ist, was jetzt wieder so auflebt, daß die Leute nach der Kalewala trachten, daß die Kalewala lebendig wird in aller Kulturwelt. Man lernt sich sofort verstehen in dem Allerheiligsten, was da die Volksseele aus­spricht.

So kann es über das ganze Erdenrund hin sein, wenn man zwei Dinge begreift, die der Grundnerv sein mussen für alles anthroposo­phische Leben. Das eine ist, daß wir in der Tat vor einer neuen Er­schließung von spirituellen Tatsachen für die Menschheit stehen. Dar­auf ist oft aufmerksam gemacht worden. Am meisten hingewiesen auf diese Tatsache finden Sie wohl in meinem Rosenkreuzermysterium «Die Pforte der Einweihung», daß wir Zeiten entgegengehen, in wel­chen die Menschenseelen immer mehr und mehr offen werden für die spirituellen Welten, so daß hereinbrechen werden Offenbarungen aus den geistigen Welten, daß die Menschenseele, weil sie entgegenwächst der geistigen Welt und weil dies eine Art Naturereignis sein wird, wirklich sich öffnen wird der geistigen Welt, so daß die Menschen

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nach und nach - im Laufe der nächsten drei Jahrtausende - hinauf-wachsen werden in die geistige Welt. Wir müssen durch Geistes­wissenschaft nur verstehen lernen, inwiefern und warum es so kom­men muß. Rekapitulieren Sie sich nur einmal eine Tatsache, die öfter angegeben worden ist.

Wenn wir die nachatlantischen Kulturen ins Auge fassen, so haben wir in der ersten nachatlantischen Kulturzeit, in der uralt heiligen in­dischen Rishikultur, man möchte sagen, eine Kultur, die unmittelbar herausqnillt aus dem menschlichen Ätherleibe. Wir haben dann in der urpersischen Kulturzeit eine Kultur aus dem, was wir den Empfin­dungsleib nennen, den Astralleib. In der ägyptisch-chaldäischen Kul­turzeit haben wir eine Kultur aus der Empfindungsseele. Aus der Ver­standes- oder Gemütsseele haben wir eine Kultur in der griechisch-lateinischen Zeit, und in unserer Zeit haben wir eine Kultur aus der Bewußtseinsseele. Dann wird kommen eine Kultur aus dem Geist-selbst und so weiter. Fassen Sie diesen ganzen Gang der nachatlanti­schen Kulturentwickelung ins Auge, so werden Sie sich sagen : Es ist in diesem ganzen nachatlantischen Kulturzeitraum die Sache so, daß wir eine Art absteigender Linie haben bis in die griechisch4ateinische Zeit. Es ist in dieser Zeit deutlich wahrnehmbar, daß auf der einen Seite - das läßt sich nicht leugnen - der Mensch am meisten hinunter-gestiegen ist auf den physischen Plan. In einer ungeheuren Ver­schlingung und Verknotung des geistigen Lebens mit dem physischen Plan zeigt sich ja das Eigentümliche dieser vierten nachatlantischen Kulturperiode. Zugleich aber zeigt sich jener Einschlag, den wir als das Mysterium von Golgatha bezeichnen. Wir haben dieses notwen­dige Zusammentreffen des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes mit dem Mysterium von Golgatha oftmals hervorgehoben. Rufen Sie sich alles zurück, was Sie über die Sache wissen. Aber ein anderes ist auch noch als eine wichtige Tatsache ins Auge zu fassen. Im einzelnen Leben, im individuellen Leben drückt sich vielfach dieser Gang der Menschheitsentwickelung aus. Wir haben bis zum siebenten Jahre die Entwickelung des physischen Leibes. Aus der Darstellung, die öfter gegeben worden ist und die enthalten ist in der kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft»,

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wissen wir, daß wir bis zum siebenten Jahre vorzugsweise eine Ent­wickelung des physischen Leibes haben; das liegt als eine menschheit­liche Entwickelung vor der großen atlantischen Katastrophe. Dann, in einer gewissen Weise wiederholt vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre, wenn auch verschleiert, haben wir das, was in die mensch­liche Kultur selber hineingeprägt ist als die Kultur des Ätherleibes, die Sie zur höchsten Glorie erhoben finden in der alten indischen Zeit. Dann haben wir die Kultur, die wir bezeichnen könnten als die Ent­sprechung der urpersischen Zeit : vom vierzehnten bis zum einund­zwanzigsten Lebensjahre die Kultur des astralischen Leibes. Dann haben wir die Kultur des ägyptisch-chaldäischen Zeitraumes, im ein­zelnen Leben sich spiegelnd in der Entwickelung des Menschen vom einundzwanzigsten bis achtundzwanzigsten Jahre; dann folgt im ein­zelnen Leben sich spiegelnd die Kulturentwickelung, die wir als die griechisch4ateinische Kultur bezeichnen können, vom achtundzwan­zigsten bis ins fünfunddreißigste Jahr hinein. Das ist eine wichtige Zeit. Denn ebenso wie damals für die nachatlantische Menschheit ein Umschwung geschehen ist von einer absteigenden zur aufsteigenden Kultur, so kann zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddrei­ßigsten Jahre ein Umschwung geschehen beim einzelnen Menschen. Wir stehen in der Mitte des einzelnen individuellen Lebens zu gleicher Zeit im einzelnen Leben vor einem aufsteigenden und einem ab­steigenden Leben. Wir gehen sozusagen, indem wir das fünfunddrei­ßigste Jahr überschreiten, in das Lebensverwelken, in das äußerliche Vertrocknen und Welkwerden des Menschen. Für diese Zeit muß es in der einzelnen menschlichen Natur etwas geben, was entspricht dem Umschwung von der absteigenden in die aufsteigende Kultur. Es ist nicht zufällig, daß das Mysterium von Golgatha bei dem Christus Jesus gerade in diesen Zeitraum hineinfiel, zwischen das achtund­zwanzigste und fünfunddreißigste Jahr, sondern das ist für den, der diese Zusammenhänge durchschaut, selbstverständlich. Es mußte ge­rade in den Zeitraum hineintreten, welcher der Entwickelung der Ver­standes- oder Gemütsseele entspricht. Jetzt stehen wir, wenn wir die äußerliche Menschheitskultur ins Auge fassen, seit dem Ende des Mittelalters in der Entwickelung der Bewußtseinsseele. Dieselbe wird

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noch lange Zeit dauern. Dann kommt die Entwickelung des Geist-selbst.

Nun tritt für den einzelnen Menschen das Ich eigentlich ganz unregelmäßig auf, und zwar grandios unregelmäßig. Ich kann heute

- in der Zukunft werde ich diese Tatsachen weiter ausführen - nur andeuten, worum es sich dabei handelt. Denken Sie, wie in der re­gulären Menschenorganisation bis zum siebenten Jahre der physische Leib, bis zum vierzehnten Jahre der Ätherleib sich entwickelt und so weiter. Dann würde innerhalb der Verstandes- oder Gemütsseele -wie Sie nachlesen können in der «Erziehung des Kindes vom Ge­sichtspunkte der Geisteswissenschaft» - eigentlich erst das Ich regulär eintreten, denn erst dann haben wir in der äußerlichen Organisation das richtige Instrument für das Ich. Nun tritt aber das Ich schon in der allerersten Zeit ein für den Menschen, ganz unabhängig von der äuße­ren Organisation, in dem Zeitpunkte, bis zu dem man sich später zu­rückerinnert. Woher kommt das, daß der Mensch, wenn er als äußere Organisation betrachtet wird, sein Ich gebiert zwischen dem achtund­zwanzigsten und fünfunddreißigsten Jahre, aber es in Wirklichkeit in frühester Kindheit gebiert? Das kommt von dem Verschieben des inneren Menschen gegenüber dem äußeren Menschen durch die luzi­ferischen Kräfte. Es sind, wie wir es immer darstellen mußten, die luziferischen Kräfte dasjenige, was ein Zurückbleiben in der Zeit be­deutet. Unser Ich beruht, wie wir es in uns tragen, auf luziferischen Kräften, denn es beruht auf Zurückerinnerung auf das, was uns von unserem Erleben zurückgeblieben ist. Luzifer löst los dieses Ich. Daher lebt es losgelöst von der äußeren Organisation. Eine Zeitlang war die Sache so, daß der Mensch äußerlich anknüpfen mußte an noch etwas anderes als an sein bloßes Ich. Das war, daß er anknüpfen mußte, wenn es in der richtigen Weise sein sollte, an einen Menschen, der einmal in dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum gelebt hat, sein drei­ßigstes Jahr erreicht hat, dann inspiriert worden ist von dem Christus mit einer Kraft, die aber auf der Erde nicht hinüberleben konnte über das dreiunddreißigste Jahr, sondern die mit dem dreiunddreißigsten Jahr durch den Tod ging. Es war zunächst ein äußerlich historisches Anknüpfen, es mußte einfach von den Eltern den Kindern, von diesen

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den KIndeskindern und so weiter als eine geschichtliche Tatsache er­zählt werden. Was ich Ihnen oft von der einen Seite entwickelt habe, nehmen Sie es jetzt von der innerlichen Seite. Bis zu diesem Zeitpunkt, wo die Entwickelung der Bewußtseinsseele liegt, erinnert sich der Mensch, wenn er zurückdenkt, an sein Ich, das einmal geboren worden ist : denn der Mensch schlaft sich herein in das Erdendasein. Was vor diesem Zeitpunkt war, das sagen uns unsere Eltern, älteren Geschwi­ster und so weiter. Wie sich der Mensch jetzt au dieses Jch erinnert, welches das luziferische Ich ist, so wird er sich später - und das tritt in den nächsten drei Jahrtausenden als etwas ganz Besonderes in die Menschheitsentwickelung herein - wie in einer Imagination gegen­überstehend sehen einem anderen Ich. Er wird sich künftig erinnern, daß in einem bestimmten Zeitpunkt seiner Kindheit das luziferische Ich aufgetaucht ist und daß in einem andern Zeitpunkt, an den er sich zurückerinnert, gegen das luziferische Ich, sagen wir, das Christus-Ich sich hinstellt, und statt des einen Ich-Punktes werden zwei auftreten. Daß dies als Erinnerung auftritt, das wird der Beweis dafür sein, daß das Christus-Ereignis nicht erst zu geschehen hat, sondern daß es sich schon abgespielt hat. Kurz, wie sich der Mensch gegenwärtig an sein Ich erinnert, so wird er sich später erinnern an die Imagination des zweiten Ich und damit den Weg finden zu dem, was wir als die Chri­stus-Erscheinung charakterisiert haben.

Daß der Mensch also wirklich entgegenwächst neuen inneren Er­fahrungen, spirituellen Erlebnissen ganz neuer Art, das ist das, was auf dem Boden der Geisteswissenschaft begriffen werden muß. Denn, natürlich muß das, was der Mensch erfahren soll, vorbereitet werden. So gehen wir also neuen Erlebnissen der Menschenseele entgegen. Das ist das eine, was zur Geisteswissenschaft notwendig ist. Das zweite ist, daß diese neuen Erlebnisse solche sind, die Frieden und Eintracht und Harmonie über die Erde hin unter die Menschen bringen werden. Und sie bringen sie wirklich! Deshalb ist so überwältigend großartig ein Verstehen des Volksgeistes in einem ganz anderen Winkel. Man versteht, was der Volksgeist gedichtet hat, wenn man es durch Geistes­wissenschaft beleuchtet. Man muß nur den Willen haben, auf das ein­zugehen, was aus diesem Volksgeiste heraus entspringt, und nichts

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hineintragen. Das muß die andere Seite, die Gesinnungsseite einer spirituellen Weltanschauung sein. Fassen wir sie ganz ernsthaft ins Auge. Wie steht sie da? Man hat gestritten, hat mehr als gestritten, hat blutig gekämpft in den aufrinanderfolgenden Zeiten um einzelne re­ligiöse Meinungen. Versteht man den Grundnerv der Geisteswissen­schaft, dann wird man in Zukunft über einzelne religiöse Meinungen nicht mehr kämpfen. Was man ins Auge fassen wird, werden die Tat­sachen sein, die spirituellen Tatsachen, und man wird über die einzel­nen religiösen Probleme so Meinungsverschiedenheiten haben, wie man sonst auch Meinungsverschiedenheiten hat, aber nicht so, wie es zu blutigen Kämpfen geführt hat. Denn man wird erkennen, daß die großen Volksoffenbarungen, wo sie auftreten, zurückführen auf ge­wisse wichtige Erkenntnisse. Man wird auf den Grund dieser Er­kenntnisse kommen; man wird verstehen, daß Wahrheiten in den ver­schiedenen Religionen enthalten sind. Die vergleichende Religions­wissenschaft ist heute weit gediehen in bezug auf die einzelnen Re­ligionssysteme und ihre Vergleichung untereinander. Schöne Resul­tate hat sie zutage gefördert. Aber von welcher Gesinnung ist sie mehr oder weniger doch durchdrungen? Von der Gesinnung ist sie durch­drungen, wenn sie auch mehr oder weniger klein beigibt, daß alle Religionen falsch sind. Nicht auf den Wahrheitsgehalt gehen diese vergleichenden Religionswissenschaften los, sondern auf den Irrtums-gehalt. Geisteswissenschaft aber wird auf den Wahrheitsgehalt der ein­zelnen Religionen losgehen, auf das, was aus den Initiationsprinzipien, aus den verschiedenen Einweihungen in die Religionen hineingekom­men ist. Und wie werden sich dann die Menschen gegenüberstehen? Fragen wir einmal : Wie wird ein Christ gegenüberstehen einem Bud­dhisten? - Der Christ wird kennenlernen das ganz Großartige und Erhabene des buddhistischen Systems, er wird kennenlernen, weil sich das Christentum selber durchringen wird zum Verstehen von Rein­karnation und Karma, das Große, das der Buddhismus in sich trägt in Reinkarnation und Karma. Er wird aber noch etwas anderes ver­stehen, nämlich, daß es gewisse Individualitäten in der Weltenentwik­kelung gibt, die vom Bodhisattva zum Buddha werden. Verstehen wird der Christ, was er eigentlich nur durch eine anthroposophische

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Entwickelung verstehen lernen kann : wie der Königssohn des Suddho­dana im neunundzwanzigsten Jahre seines Lebens - gerade dann mußte es sein, alle diese Tatsachen ergeben sich, wenn Sie nur diese Dinge ins Auge fassen, wie sie in der Geisteswissenschaft gelehrt werden - zum Buddha wird. Das hängt zusammen mit dem, was dar­gestellt ist in der kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Ge­sichtspunkte der Geisteswissenschaft». Durch ein solches Verständnis wird der Christ auch begreifen, daß ein Wesen, wie eine solche In­dividualität, nicht wieder in einem physischen Leibe zur Erde her­untersteigt. Nicht wie auf eine Fabel sieht der, welcher wirklich als Christ Theosoph und als Theosoph, wenn man will, Christ ist, nicht wie auf einen Mythos sieht er auf das, was es im Buddhismus gibt, sondern er glaubt wie der Buddhist selbst an diese Wahrheit, daß der Bodhisattva im neunundzwanzigsten Jahre zum Buddha geworden ist und nicht in einem physischen Leibe wiederkommt. Und er respektiert und achtet diesen Glauben, er glaubt mit dem Buddhisten, glaubt das, was der Buddhist glaubt, steht innerhalb des Buddhismus auf seinem Boden, nimmt es nicht wie eine kindliche Phantasie, sondern er weiß, daß in dem Königssohne des Suddhodana eine Individualität zu einer solchen Würde aufgestiegen ist, daß sie nicht mehr herunterzusteigen braucht in einen physischen Leib, sondern in einer andern Weise hin-einwirkt in die Entwickelung der Menschheit. Und niemals würde sich der Christ mischen in die spirituellen Angelegenheiten des Buddhisten in der Weise, daß er ihn auf etwas Fremdes hinweisen wird. Das wird er verstehen, was der Buddhist aus dem Buddhismus als Wahres her­ausgewinnen kann.

Und was wird ein Buddhist sagen, der als ein buddhistischer Theo­soph dem Christentum gegenübersteht? Er wird versuchen zu be­greifen, was es heißt, daß in einer Persönlichkeit, die als Jesus von Nazareth bezeichnet wird, im dreißigsten Jahre ihres Lebens das Ich ersetzt wird durch Den, welchen die vierte nachatlantische Kultur-periode den Christus genannt hat, der dann durch drei Jahre in dem Leibe des Jesus von Nazareth weilte. Er wird verstehen, was es heißt, daß das, was als Substanz des Christus exlstiert und durch den Tod mit dem Christus Jesus gehen mußte, ausgeströmt ist über die Kultur

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der Menschheit. Er wird zu begreifen versuchen, daß dieses Leben von der Johannestaufe am Jordan bis zum Mysterium von Golgatha ein einmaliges Ereignis in der Menschheitsentwickelung darstellt, und daß das, was einmal in dem Jesus von Nazareth inkarniert war, nicht wiederkommen kann, ebensowenig wiederkommen kann, wie der Buddha jemals wieder auf die Erde kommen kann. Wie der Buddha früher da war als Bodhisattva, um dann aufzusteigen als Buddha in die geistigen Welten, das achtet der auf dem theosophischen Boden stehende Christ. Wie die Individualität des Christus heruntergestiegen ist in den Leib des Jesus von Nazareth, wie sie darin drei Jahre gelebt hat, durch den Tod gegangen ist, wie diese Kraft sich ausgebreitet hat über die spirituelle Erdenatmosphäre und darin weiterlebt, diese ganze Anerkennung dieser spirituellen Tatsachen achtet der buddhistische Theosoph, der theosophische Buddhist gegenüber dem, was der Christ als sein Glaubensbekenntnis anerkennen muß. Gegenseitiges Ver­stehen der Glaubensbekenntnisse auf der Erde und damit gegenseitige Harmonie : das ist der Grundnerv geisteswissenschaftlicher Welten-betrachtung. Und widersinnig wäre es, würde der Christ lehren, daß eine Individualität erstehen könnte, welche der wiederverkörperte Buddha wäre. Auflehnen müßte sich die buddhistische Bevölkerung, wo eine solche Lehre in eine buddhistische Gegend gebracht würde, gegen ein solches Vorgehen. Unfrieden aber müßte es in eine christ­liche Gemeinde bringen, wenn die Menschen hören müßten, daß das, was der Christus ist, sich im Fleische wieder inkarnieren könnte. Theo-sophie aber ist da, um gegenseitiges Verständnis der einzelnen, aus den Initiationen hervorgehenden religiösen Strömungen über die Erde zu bringen. Dann wird es echte Theosophie, echte Geisteswissenschaft geben in den Herzen, wenn man dies verstehen wird. Dann wird es keine neuen Sektenbildungen geben, keine neue Ankündigung von äußeren physischen Propheten, auf welche die Menschheit nicht mehr in jenem äußeren Sinne wartet. Sondern dann wird man auch be­greifen jenes rosenkreuzerische Prinzip, welches seit Begründung des Rosenkreuzertums feststeht : daß die, welche zu lehren haben, über ihre Mission der äußern Welt gegenüber nicht früher sprechen dürfen. Innerhalb des Rosenkreuzertums ist es eine alte Regel, daß der äußeren

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exoterischen Welt gegenüber nie gesprochen wird bei der Zeitgenos­senschaft von irgendeinem, der als ein Lehrer der rosenkreuzerischen Richtung zu gelten hat, sondern erst hundert Jahre nach seinem Tode. Nicht vorher, weil dadurch allein das unpersönliche Element hinein­gebracht werden kann in eine wirkliche spirituelle Bewegung.

Sich klar sein darüber, daß wir vor einer solchen Entwickelung der menschlichen Seele stehen, in welcher die Menschenseele das Herein-leuchten des spirituellen Elementes immer mehr und mehr gewahr werden wird, und daß dadurch das übersinnliche Christus-Ereignis eintreten wird, von dem wir prophetisch sprechen dürfen, und sich klar sein darüber, daß echte Theosophie immer mehr und mehr zum Verständnis desjenigen führen muß, was für den einzelnen religiös heilig ist, das sind die zwei Dinge, die den Menschen zum Theosophen innerhalb der theosophischen Bewegung machen. Daran, daß er sich über diese zwei Dinge klar ist, wird man an dem Menschen erkennen können, ob er die Aufgabe der Theosophie in der Gegenwart wirklich begriffen hat.

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FÜNFTER VORTRAG Berlin, 2. Mai 1912

Vergleichen wir, was im Laufe der Menschheitsentwickelung an gei­stigem Leben, an Anschauungen über die geistige Welt und die Welt überhaupt zutage getreten ist, dann bekommen wir auf der einen Seite wirklich das Bild eines sinnvollen Fortschrittes, eines Fortschrittes der ganzen Menschheitsentwickelung auf der ganzen Erde. Und wir be­kommen, wenn wir mit den Mitteln geistiger Forschung und geisteswissenschaftlicher Denkweise diesen Fortschritt veffolgen, den Eindruck, daß der Mensch überhaupt als eine einzelne Individualität teil­nimmt an dem Gesamtfortschritt der Menschheit, indem er mit seiner Seele in den aufeinanderfolgenden Wiederverkörperungen seines Da­seins die aufeinanderfolgenden Zeiträume und Epochen durchmacht und sozusagen dadurch Gelegenheit hat, auf der einen Seite alles her­überzutragen, was er sich in seiner Seele angeeignet hat in alten und in neueren Zeiten, aber auch andererseits Gelegenheit hat, an allem so­zusagen teilzunehmen, wenn er mit seiner Seele in der einen Kulturepoche gelebt hat, für die Gesamtentwickelung der Erde eben nicht zu verschwinden, sondern zu bleiben, um wieder teilzunehmen an dem, wozu es die Erde auch in späterer Zeit gebracht hat. Einen solchen Gesamtfortschritt nehmen wir wahr. Aber wir brauchen uns nur an einiges zu erinnern, was öfter betont worden ist in unsern geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, und wir werden sehen, daß der Fortschritt nicht ein so einfach gradliniger ist, daß man sagen könnte, es fängt bei einfachen, primitiven Sachen an und steigt immer fort und fort in die Höhe, sondern daß der Fortschritt und die ganze Ent­wickelung überhaupt etwas Kompliziertes sind.

Wir haben, wenn wir auf die nachatlantische Zeit Rücksicht nehmen, uns einen Einblick verschafft, wie nach der großen atlantischen Kata­strophe zuerst eine Kulturepoche da war, die wir als die altindische bezeichnen, von einer solchen Höhe, von einem solchen Hineinblick in die geistige Welt, wie es seit jener Zeit nicht wieder erreicht worden ist, und wie es erst wieder erreicht werden wird, wenn der fünfte und

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sechste nachatlantische Kulturzeitraum vergangen sein werden und der siebente wieder da sein wird. So finden wir in bezug auf gewisse Arten der menschheitlichen Geistesentwickelung ein zeitenweises Heruntersteigen, dem dann wieder ein Hinaufsteigen folgt. Wir finden zum Beispiel die griechisch-lateinische Kultur, von der wir sagen, daß sie in einer gewissen Weise ein Höchstes darstellt in bezug auf Ver­mählung des griechischen Volkes mit der Kunst und in bezug auf Ein-richtungen in dem griechischen und römischen Staatsleben, so daß ein gewisses harmonisches Zusammenleben des Menschen mit dem phy­sischen Plan erreicht war. Wir sehen aber auch, daß für diese Epoche charakteristisch ist ein Ausspruch des großen Griechen: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten! -Das heißt, es ist für diese Epoche höchsten Menschheitsglanzes auf dem physischen Plan nur ein geringes Bewußtsein vorhanden für die Bedeutung der spirituellen Welt, die jenseits des physischen Planes ist. Und seit jener Zeit sehen wir das Abnehmen des unmittelbaren Ver­wachsenseins des Menschen mit dem physischen Plan, sehen ein Ab­nehmen dessen, was in dieser Richtung Großes hervorgebracht ist, sehen aber dafür wieder auch ein allmähliches Hineinwachsen der Menschheit in die spirituellen Welten. Das sei gesagt für die Charak­teristik, daß der Gang der Menschheitsentwickelung ein komplizierter ist und daß, wenn man die Vorteile und Lichtseiten der einen Epoche hervorhebt, man damit durchaus nicht zu meinen braucht, daß andere Epochen, die diese Ordnungen nicht haben, etwa im absoluten Sinne geringer anzuschlagen wären. Wenn wir oft von dem sprechen, was das Christentum in die Welt gebracht hat, so wissen wir, daß wir in dieser Beziehung erst in einem Anfange stehen und daß jene spiri­tuellen Höhen, die im Oriente erreicht sind vor der Zeit des Christen­tums, noch nicht wieder errungen sind. Das alles müssen wir berück­sichtigen, damit kein Schein aufkomme, daß wir, wenn wir die Vor­züge des einen Zeitalters hervorheben, etwa ungerecht wären gegen die Größe und die Bedeutung anderer Epochen. In diesem Sinne bitte ich Sie, auch einen Unterschied aufzufassen, der nicht einen Vorteil auf der einen Seite und einen Nachteil auf der andern Seite charakte­risieren will. Nur eben einen Unterschied will ich bezeichnen, wenn

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ich charakterisieren will den Unterschied zwischen gewissen Ent­wickelungen der nichtchristlichen, auch nicht althebräischen, sondern vorchristlichen orientalischen Kulturentwickelung und dem Christen­tum selber, dem Christentum namentlich, wie wir es wieder aufgehen sehen durch die geisteswissenschaftliche Vertiefung dieses Christen­tums.

Wenn wir in die orientalische Weltanschauung hineinblicken, so sehen wir, daß sie eines hatte, auf dem sie fest stand, auf das sie immer wieder und wieder hinwies, worauf das Christentum in seiner bis­herigen Entwickelung weniger Rücksicht nahm. Es hatte die orien­talische Weltanschauung diejenige Idee, jenes große Weltgesetz, das wir uns heute wieder durch die Geisteswissenschaft erobern: die An­schauung von der Wiederkunft des Menschen in verschiedenen Erden­leben und von dem Gesetz des Karma. Während das Christentum durch Jahrhunderte hindurch nur gerechnet hat mit dem Leben des Menschen zwischen Geburt und Tod und einem - sich daranschlie­ßend, fortlaufend - auch einfachen Himmelsleben, haben wir in der orientalischen Welt bereits die klare Erkenntnis von der Wiederkehr des Menschen in den wiederholten Erdenleben. Und das Bedeutende, das die orientalischen Weltanschauungen haben, wird immer hervor­geholt aus dieser großen Gesetzmäßigkeit der Menschheitsentwicke­lung. Dadurch bildete sich in der orientalischen Lehre etwas heraus über die Führer, die großen Lehrer und die Helden der Menschheits­entwickelung, das sich grundsätzlich unterscheidet von allem, was sich innerhalb der abendländischen Entwickelung herausgebildet hat über die großen Führer und Helden. Wir finden innerhalb der orien­talischen Weltanschauungen Hinweise auf Wesenheiten, von denen uns von vornherein gesagt wird, daß sie immer wiederkommen und daß das Bedeutungsvolle ihres Wirkens gerade durch das Bedeutungs­volle in ihren aufeinanderfolgenden Erdenleben sich erkennen läßt.

Wir sehen vor uns hingestellt den Gautama Buddha und sehen schon in der Namengebung desselben, worauf es ankommt. Denn Buddha ist kein Eigenname, wie Sokrates, Raffael oder andere Eigennamen sind, sondern es ist ein Rangname. Und auf dem Boden der Welt­anschauung, auf dem die Buddhalehre erwachsen ist, spricht man von

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vielen Buddhas. Buddha ist eine Würde. Wir haben es oft hervor­gehoben, daß der Gautama Buddha, bevor er als der Königssohn des Suddhodana eben der Buddha geworden ist, von dem die orientalische Weltanschauung heute spricht, ein Bodhisattva war. Das heißt, es blickt die orientalische Weltanschauung auf die durch die einzelnen Inkarnationen gehende Individualität, sieht hin, wie die Individualität aufsteigt von Inkarnation zu Inkarnation und dann zu jener Höhe kommt, die mit der Buddhawürde erreicht ist. Und dann wird die Individualität mit alledem, was sie Einschneidendes geleistet hat, nicht bezeichnet mit einem Eigennamen. Nur selten wird im Buddhismus, wenn von der Eigenart des Buddha gesprochen werden soll, von dem Prinzen Siddharta gesprochen, sondern meistens von einer Würde, von einer solchen Würde aber, zu der nicht er allein aufgestiegen ist, sondern zu der jeder aufsteigen kann. So weist die orientalische Welt­anschauung, wenn sie auf die großen Führer deutet, auf dasjenige hin, was durch die wiederholten Erdenleben durchgeht, und sie führt ge­rade die Größe und die Bedeutung ihrer Führer auf das zurück, was sie sich erwarben durch die wiederholten Erdenleben.

Vergleichen wir diese Erscheinung mit dem, was sich die abend­ländische Kulturentwickelung vorgesetzt hat. Da hören wir erzählen von der Größe des Plato, von der Größe des Sokrates. Da tritt uns eine Gestalt wie die des Paulus entgegen. Ja, wir können schon be­ginnen im Alten Testament, wo uns eine Gestalt wie Moses entgegen­tritt. Weiter treffen wir Gestalten wie Raffael, Michelangelo, Leonardo da Vinci und andere. Man spricht im Abendlande von der einzelnen Persönlichkeit, und hat nicht im Auge die Individualität, die sich durch die wiederholten Erdenleben zieht. Man wendet den Blick nicht auf das, was von Geburt zu Tod, von Tod zu Geburt geht, sondern man spricht von dem, was als einzelne menschliche Persönlichkeit von diesem Jahr bis zu jenem Jahr dagestanden und gelebt hat. So sehen wir, daß die orientalische Weltanschauung mehr sieht auf die fort­laufende Individualität, die von Verkörperung zu Verkörperung geht, daß aber die abendländische Kultur sich wenig darum gekümmert hat, was zum Beispiel Sokrates war in früheren Erdenleben, bevor er Sokrates wurde, oder was aus ihm werden wird in späteren Leben.

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Ebenso machen wir es mit Paulus oder anderen. Das ist ein bedeut­samer Unterschied. Es ist eben einfach die Sache so zu charakteri­sieren, daß man sagt: Das ganze Wesen des Abendlandes hat bisher darin bestanden, auf die Bedeutung der Persönlichkeit, auf die Be­deutung des einzelnen Lebens des Menschen ganz besonders hinzu­weisen. Jetzt erst, wo wir im geistigen Leben vor einem großen Um­schwung stehen, beginnen wir damit, nachdem wir uns sozusagen innerhalb der abendländischen Kultur einen Maßstab angeeignet haben für die Beurteilung der einzelnen Persönlichkeit, uns wieder aufzuschwingen zu dem, was in der orientalischen Weltanschauung der Betrachtung des Menschenwesens als selbstverständlich zugrunde liegt, uns wieder aufzuschwingen zu dem, was in der einzelnen Persön­lichkeit als Individualität lebt und eben von Leben zu Leben gegangen ist. Da erscheint uns denn etwas Eigentümliches als eine bedeutsame Perspektive für die Zukunft. Und diese Perspektive für die Zukunft wird die Menschheit immer mehr und mehr brauchen.

So sehen wir, daß wir in der Tat in der christlichen Weltanschauung etwas verloren hatten, was der Orient schon hatte, und was wir uns erst jetzt wieder beginnen zu erobern. Der Gang der Menschheits­entwickelung ist überhaupt so, daß gewisse alte Stücke abgeworfen werden müssen, daß neue hinzukommen und daß das Alte durch das Neue wieder erobert wird. So hatte die ganze Menschlaeit einst in Ur­zeiten ein Urhellsehen. Das mußte abgeworfen werden. Es trat dann an seine Stelle die rein äußere Wahrnehmungsanschauung. Und es wird später wieder zu der Wahrnehmungsanschauung das hinzukom­men, was zu künftiges Hellsehen ist. So im Großen und so im Einzel­nen, aber ein ungeheuer Bedeutungsvolles wird der Menschheit da­durch erwachsen. Es mußte schon einmal so sein, daß für das Abend­land die Betrachtung der Menschheit in einzelne Persönlichkeiten aus­einandergefallen ist. Aber nachdem die Menschheit heute davor steht, sich notwendigerweise zu vertiefen, wird sie schon von selbst die Sehnsucht finden, die einzelnen Stücke, die hervortreten im Leben des Menschen zwischen Geburt und Tod, miteinander zu verbinden. Und dann wird ein ungeheures Verständnis davon ausstrahlen für den Fort­schritt, für die Kräfte, die sich hindurchentwickeln durch den Strom

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des einzelnen und auch des Menschheitsfortschrittes. Wir können das an einem einzelnen Falle prüfen.

Sie erinnern sich an den Vortrag «Der Prophet Elias im Lichte der Geisteswissenschaft» vom 14. Dezember 1911 in Berlin. Sie erinnern sich, daß ich dazumal darauf hingewiesen habe, wie durch eine okkulte Forschung dieses Prophetenbild in einer ganz merkwürdigen Weise vor uns erscheint. Ich will auf die Einzelheiten nicht weiter jetzt ein­gehen, will nur sagen, wie an diesem Prophetenbilde durch die okkulte Forschung herausgekommen ist, daß Elias es war, der mit einer be­sonderen Intensität und Kraft darauf hingewiesen hat, daß das, was die Menschheit ein Göttliches nennen kann, eigentlich nur zu er­blicken ist in seiner ureigenen Gestalt - und zwar im tiefsten Zentrum des Menschen -, im eigentlichen Ich des Menschen. So daß wir, zu­sammenfassend, das große Prophetenwort des Elias so charakteri­sieren können: Von ihm ist die Erkenntnis ausgegangen, daß alles, was uns von der Außenwelt gelehrt werden kann, nur ein Gleichms ist, und daß die Erkenntnis über die eigentliche Natur des Menschen nur aufgehen kann im eigenen Ich. - Nur ist Elias nicht dazu gekom­men, die Kraft und die Bedeutung des einzelnen Ich zu erkennen, sondern er stellte gleichsam ein außer dem Menschen stehendes gött­liches Ich auf. Aber erkennen sollte man dieses göttliche Ich, erkennen sollte man, daß es hereinstrahlt in das menschliche Ich. Daß es im menschlichen Ich aufersteht und seine volle Kraft entfaltet, das ist die Eroberung dann des Christentums. So erscheint die Wirksamkeit des Elias als etwas wie eine Heroldschaft für das Christentum. So etwa kann man sprechen, wenn man mit den okkulten Mitteln forscht und das einzelne Leben des Elias, wie es dasteht in der Geschichte der Menschheitsentwickelung, charakterisiert.

Man kann dann darangehen, wieder ein anderes Leben zu charakte­risieren, das Leben derjenigen Persönlichkeit, die Sie kennen als Johannes den Täufrr, und hat die Möglichkeit zu erfahren, wie aus dem Munde Johannes des Täufers die Menschheit erfahren sollte, was in unmittelbarer Nähe kommen sollte. «Ändert die Seelenverfas-sung!», so ungefähr waren die Worte des Täufers, «schauet nicht mehr in die Zeiten rückwärts, wo man das Göttliche nur am Ausgangspunkte

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der Menschheitsentwickelung gesucht hat, schauet in die eigene Seele und in das, was am tiefsten in ihr ist, dann werdet ihr erkennen, daß die Reiche der Himmel nahe herbeigekommen sind!» Das heißt, daß die Entwickelung vorliegt, daß das Ich tatsächlich in sich das Göttliche finden kann. Wir sehen eine Art Heroldschaft des Christen­tums verändert gegenüber dem Elias durch den Lauf der Zeit. Wir sehen, wenn wir die äußere Persönlichkeit des Johannes des Täufers charakterisieren, wie er uns eigentlich ganz anderes darstellt. Aber nun haben wir durch die Geisteswissenschaft erfahren und leben uns in diese Dinge immer mehr und mehr hinein, daß es dieselbe Wesen­heit ist, die in dem Propheten Elias dagestanden hat und die in Johannes dem Täufer wieder auflebte. Wir fügen, um das einzelne Leben zu verstehen, das hinzu, was der Orient schon gehabt hat. Nur hat er nicht das Kraftvolle der Einzelpersönlichkeit in einer so außer­ordentlichen Weise betont.

Wir gehen weiter. Wir haben dann die Möglichkeit, jene merk­würdige Persönlichkeit zu charakterisieren, die zwischen dem Jahre 1483 und 1520 gelebt hat, die am Karfreitag des Jahres 1483 geboren ist und gleichsam dadurch sich hineinstellte lebendig - um schon durch ihre Geburt das anzukündigen - in das Mysterium von Golgatha. Wir lernen also kennen die Gestalt des großen Malers Raffael. Man ist in der Betrachtung des Abendlandes selbstverständlich gewohnt, nun Raffael wieder für sich zu betrachten. Aber gerade, wenn heute die Gestalt Raffaels betrachtet wird, muß man sagen, einer umfassenderen, tieferen Weltbetrachtung gegenüber wird es bald erscheinen, daß eigentlich die abendländische Betrachtung gegenüber Raffael kaum ausreicht. Sonderbar erscheint da dem, der tiefer die Dinge zu be­trachten strebt, diese merkwürdige Gestalt des Raffael. Es ist, wie wenn seine Begabung unmittelbar mit ihm geboren ist. Wir sehen ihn, wie er sich an einem Karfreitag - man kann es so sagen - «geboren werden läßt», um gleichsam zu zeigen, wie er sich in das Mysterium von Golgatha hineinstellt. Dann sehen wir, wie wir gar nicht anders können als ihn so ähnlich zu betrachten, wie wenn gleich in seiner allerersten Anlage alles sich angekündigt hat, was in seiner späteren Größe wieder aufgetreten ist. Früh verwaist, ist er in die Welt hinausgeworfen,

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in den römischen Glanz und die Herrlichkeit hineingewor­fen. Da sehen wir ihn Schritt für Schritt aufsteigen in einem kurzen Leben zu einer ungeheuren Höhe.

Was ist nun dieses Leben Raffaels? Merkwürdig erscheint es uns. Wir brauchen nur ein wenig die Umgebung zu betrachten, in die Raffael hineingeboren ist. Denken Sie, daß er hineingeboren ist in die Wende des 15. zum 16.Jahrhundert, in eine Zeit der umfänglichsten Streitigkeiten auf religiösem Gebiete, wo das Christentum zerspalten war in Sekten über Sekten über die ganze Erde hin, in denen die mäch­tigsten, aber auch furchtbarsten Kämpfe stattfanden in bezug auf das Christentum. Wir betrachten nun seine Bilder. Sonderbar, wie uns seine Bilder erscheinen! Wir können sie nicht betrachten, ohne zu ver­gessen, was dazumal rund herum im Christentum vorgegangen ist, und sehen etwas höchst Eigenartiges uns entgegenleuchten: den Jubel über die Größe der Kraft des Christentums, wie es eingegriffen hat in die Menschheitsentwickelung! Wir stellen uns heute vor ein solches Bild wie die «Schule von Athen», wie man sie gewöhnlich nennt, wir sehen da jene merkwürdigen Gestalten, welche die Philister dadurch entziffern, daß sie den Baedeker in die Hand nehmen und nun wissen:

das eine ist der Sokrates, das andere der Diogenes und so weiter, wäh­rend es uns für die Kunstbetrachtung gar nichts sagt. Aber eines fühlen wir, wenn wir lediglich das Evangelium in die Hand nehmen und namentlich die Apostelgeschichte aufmerksam lesen, daß in einem Bilde vor uns steht die ganze Kraft des Unterschiedes, der da war zwischen den vorchristlichen Anschauungen in Griechenland und denen des Christentums selber. Das tritt uns auch entgegen in dem anderen Bilde, in der «Disputa», wie man sie nennt, aber nicht nennen sollte. Es ist wahr, man hat in der «Schule von Athen » jene Szene aus dem Evangelium vor sich, wo die Griechen vernehmen, daß eine Per­sönlichkeit ankam, die da sagt: Ihr habt bisher gehört von allerlei Göttern. Aber das Göttliche drückt sich nicht aus in Bildern. Großes habt ihr von den lebenden Göttern gesagt. Es gibt noch Größeres:

das Große von dem Gotte, der am Kreuz gestorben und auferstanden ist! - Und wir fühlen seine Kraft und treten vor das Bild, das man die «Schule von Athen» nennt, und schauen die merkwürdigen Philosophenköpfe,

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die aufmerksam zuhören, als Paulus spricht. Und es ver­geht uns dann vor dem unmittelbaren Anblick die philiströse Aus-deutung, die erst später gegeben worden ist: daß man es da zu tun habe in der Mitte mit Aristoteles, Plato und so weiter. Wir fühlen, daß Raffael eigentlich jenen Moment hinstellen wollte, da Paulus unter die Griechen trat. Ja, wenn Sie genau im Evangelium nachsehen, so finden Sie sogar in jener Gestalt mit der bedeutsam weisenden Gebärde eine Persönlichkeit aus dem Evangelium. So daß man im Evangelium sogar das Modell für eine Persönlichkeit dieses Bildes sehen könnte: nämlich für die Persönlichkeit des Paulus!

Und so gehen wir von Bild zu Bild, vergessen, was sich rings ereig­net hat, weil eine große Kraft aus den Bildern spricht, und wir haben die Empfindung: Da lebt das Christentum in seiner größten Kraft in den Bildern fort, die Raffael geschaffen hat, da lebt ein Christentum, über das kein Streit sein kann, da lebt ein Christentum, über das man sich nicht in Sekten zerspalten kann. - Man weiß in der nächsten Zeit nur nicht viel von diesem Christentum, das lebendig durch die Bilder des Raffael wirkt. Wenn man sie noch genauer anschaut, dann hat man ein anderes Gefühl noch, ein Gefühl, wie wenn derjenige, der diese Bilder gemalt hat, die ewige Jugendlichkeit, die ewige Siegeskraft des Christentums hätte malen wollen. Und dann fragen wir uns vielleicht, wenn wir so diese Bilder anschauen: Wie war nun die Fortwirkung dieser Bilder?

Wir brauchen uns nur zu erinnern, daß bald die Zeit kam, in der ein solcher Kunstdespot wie Bernini, der so Ungeheures für die Ver­äußerlichung der Kunst getan hat, warnte vor der Nachahmung Raffaels; man kann sogar von einem Vergessen Raffaels sprechen. Und in Deutschland und Westeuropa sah es im 18. Jahrhundert sonder­bar aus mit Raffael und dem Verständnisse Raffaels. Lesen Sie den ganzen Voltaire, und Sie werden kaum einiges über Raffael finden. Sie können noch einen anderen sich anschauen, der später allerdings zu anderer Anschauung gekommen ist. Sie können nachdenken darüber, wie merkwürdig es Goethe gegangen ist, als er das erste Mal die Dres­dener Galerie besucht hat. Vielleicht werden Sie voraussetzen, wenn Sie vor die «Sixtinische Madonna» hintreten, daß da ein lichtes Entzücken

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über dieses Bild in Goethes Seele aufgegangen sei. Sie könnten es voraussetzen nach all den Lobeshymnen, mit denen er später über die «Sixtinische Madonna» gesprochen hat. Aber wir müssen uns er­innern, was er gehört hatte von den Dresdener Galeriebeamten und von denen, welche die ofliziellen Hüter dieses Bildes waren. Da hörte er, daß das Kind in den Armen der Mutter, dem wir das ungemeine Hellsehen in den Augen ansehen, gemein realistisch gemalt sei; es könnte nicht von Raffael herrühren, sondern müsse von einem andern übermalt worden sein. Und besonders könnten die kleinen Engel nicht von Raffael herstammen. Es war nicht ein Siegeszug, als die «Six­tirüsche Madonna » in Dresden einzog. Allerdings ist es dann ein Ver­dienst Goethes gewesen, daß er, nachdem er zu einer Würdigung Raffaels gekommen war, zum Verständnisse der «Sixtinischen Ma­donna» und Raffaels überhaupt beigetragen hat.

Schauen wir jetzt den Gang der Entwickelung im 19.Jahrhundert an. Nehmen wir einmal davon Abstand, was sich in den katholischen Län­dern zugetragen hat und sehen wir nur auf protestantische Gegenden, denen das Dogma der Maria konfessionell fern liegt. Sehen wir da, was für ein Siegeszug nicht nur mit der «Sixtinischen Madonna», sondern mit allen Raffaelschen Madonnen sich vollzogen hat. Da können wir dann bemerken, selbst wenn wir jetzt nicht die Originale im Auge haben, sondern an die vielen, in bester Art hergestellten Stiche denken, wie sich die Menschen bemühen, Raffaels ganzes Schaffen in möglichst vollkommener Art vor die Menschheit hinzustellen. Wenige Menschen haben doch Gelegenheit, immer die Originale an den Ursprungsstätten zu sehen. Man kann selbstverständlich an einem Stiche nicht sehen, was das eigentlich Künstlerische ist; das zu glauben, wäre eine rohe Barbarei. Aber da ist etwas anderes eingezogen in die Entwickelung der Menschheit: da ist in die Gegenden, die überhaupt nichts wissen wollten von dem Dogma der unbefleckten Empfängnis, ein Christen­tum eingezogen, unabhängig von allen konfessionellen Unterschieden. Die Leute haben die konfessionellen Unterschiede in Theorien und Systemen verfochten. Und während sie dies taten, ist ein einheitliches Bild dieses großen Mysteriums - man möchte sagen: in okkulten Schriftzügen - in den Nachbildungen der Raffaelschen Kunst eingezogen,

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dieses Mysterium wieder belebend. Ein Herold des Christen­tums steht wieder vor uns. Großes und Ungeheures wird sich in Zu­kunft daraus noch entwickeln. Und wenn wir Verständnis dafür haben, werden uns zu Hilfe kommen die Empfindungen, die in die Mensch­heit eingedrungen sind: was herunterstrahit von dem Bilde der «Six­tinischen Madonna», von der «Madonna mit den Fischen» und an­deren Madonnen oder von der «Schule von Athen», der «Disputa» und andern Bildern von Raffael. Ohne daß sie es wissen, haben heute die Menschen in ihren Seelen die Gefühle eines interkonfessionellen Christentums, das da lebt in dieser wunderbaren okkulten Schrift.

Wieder hat einer verkündet und vorherbegründet wie ein Herold einen neuen Aufschwung des Christentums: Raffael, nachdem ihn zu­erst die Menschen nicht verstanden haben. Wir lernen durch die okkulte Forschung, daß dieselbe Individualität, die einst in Elias und später in Johannes dem Täufer wirkte, wieder auf der Erde gelebt hat in Raffael. Wir lernen dadurch verstehen, wie die Kräfte sich hindurch-entwickeln von Leben zu Leben in derselben Seele, und wir lernen manches verstehen als Wirkung früherer Ursachen. Der Täufer wurde enthauptet. Sein Werk ging erst wieder auf in dem, was sein großer Nachfolger tat. Vergessen wurde die neue Heroldschaft des Täufers in Raffael durch lange Zeiten hindurch. Wieder auf ging es in dem, was wir auch geisteswissenschaftlich über den Christus-Impuls wieder zu sagen haben. Wie unendlich lichtvoli wird unserVerständnis gefördert, wenn wir verbinden die Charakteristiken dessen, was durch die einzel­nen Persönlichkeiten hindurchgeht, und wie anschaulich wird uns dann die einzelne Persönlichkeit!

Ich sagte, die Bilder des Raffael erscheinen uns wie ein Jubel über die Kraft des Christentums. Raffael steht selbstverständlich auf dem Boden der Ereignisse der christlichen Tatsachen; aber in einer ganz eigenartigen Weise verkörpert er das, aus bestimmten Gefühlen her­aus. Wir lassen den Blick schweifen und fragen uns: Raffael hat so Großes geleistet in bezug auf die künstlerische Verkörperung der christlichen Kraft; was hat Raffael nicht gemalt? - Er hat keine Szene auf dem Ölberg gemalt, er hat keine Kreuzigung gemalt. Als er eine Kreuztragung gemalt hat, ist es ein sehr schlechtes Bild geworden:

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wir sehen, daß es wie in einem Auftrage entstand. Er hat auch nichts gemalt von den Szenen, die der Kreuzigung vorangegangen sind. Erst da erhebt sich Raffael zu voller Größe, als er zu verkörpern hat die Gestalt des großen Nachfolgers des Johannes: die Gestalt des Paulus in dem Bilde der «Schule von Athen», oder wenn er, mit Übergehen der übrigen christlichen Ereignisse, die Transfiguration malt. Aus dem, was Raffael nicht gemalt hat, gewinnen wir ein gewisses Ver­ständnis dafür, wie es ihm ferner lag, dasjenige zu malen, was sich erst als Ereignis auf der Erde zugetragen - nicht auf die spiritue]le Welt bezieht sich das -, nachdem er in seinem vorhergehenden Leben ent­hauptet war. Man empfindet es unmittelbar, warum Raffael weniger diese Bilder gemalt hat. Ja, wenn man diese Bilder anschaut, so hat man an allem, was aus der Zeit nach der Enthauptung des Johannes stammt, die Empfindung, daß es nicht so, wie es bei den andern Bildern der Fall ist, aus der früheren Erinnerung hervorgegangen ist.

Wenn man das alles zusammennimmt, kann man aber wieder eine andere Empfindung haben. Man kann dann die Empfindung haben:

Was wird einstmals in der Menschheit in zukünftigen Jahrhunderten, man braucht nicht einmal an Jahrtausende zu denken, mit all den Bil­dern, die als so große, gewaltige Symbole gewirkt haben? - Man wird gewiß lange Zeit die Reproduktionen haben, aber nicht mehr lange die Originale. Wer heute mit Wehmut das Bild Leonardo da Vincis «Das Abendmahl» anschaut, der bekommt eine Anschauung, was aus der physischen Substanz dieser Bilder einst wird. Ja, man bekommt auf der andern Seite noch eine Anschauung: daß man erst, wenn man sich aus der Geisteswissenschaft heraus eine Anschauung dafür ver­schaffen kann, was Raffael zum Beispiel in der «Schule von Athen» und in der «Di sputa» gemalt hat, eine richtige Würdigung dieser Bil­der bekommt. Denn, was man heute an den Wänden im Vatikan zu Rom sieht, das ist ja durch die vielen Aufbesserungen und so weiter schon etwas ganz Verdorbenes. Man kann nicht die ursprüngliche Vorstellung der Originale mehr haben; denn durch die vielen Auf­besserungen ist jetzt schon Ungeheures verdorben. Wie wird es also damit in wenigen Jahrhunderten sein? Alle Erhaltungskünste der Menschen werden nicht ausreichen, um das Material der Bilder vor

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dem Verfall zu schützen. Hingeschwunden wird es in wenigen Jahr-hunderten sein. Man wird die Motive kennen, gewiß; aber was damals Raffael als sein Ureigenes geleistet hat, das wird hinschwinden. Da geht uns der Gedanke auf: Ist die Menschheitsentwickelung nun wirk­lich nichts anderes, als daß die Dinge fortwährend entstehen, um dann ins Wesenlose hinunterzusinken?

Unser Blick schweift weiter und wir kommen zu der jugendlichen Gestalt des deutschen Dichters Novalis. Wenn wir uns auf Novalis ein­lassen, sehen wir erstens in seinen Schriften das wunderbare Aufer­stehen des Christus-Gedankens in einer eigenartigen Weise, aber in einer ganz merkwürdigen Weise, die wir uns vielleicht so charakteri­sieren können: Wenn wir uns heute in die Geisteswissenschaft hinein vertiefen und mit allen Mitteln, welche sie uns gibt, zu verstehen suchen die Hineinstellung des Christus-Impulses in die Menschheits­entwickelung, und zu verstehen suchen, was wir alles brauchen, um den Christusdmpuls zu begreifen, und uns dann zu Novalis wenden, so sehen wir überall etwas, was wir nur anzufassen brauchen, um es aufgehen zu lassen in unserer Seele. Es finden sich überall die groß­artigsten Inspirationen über geisteswissenscbaftliche Dinge, die sich ausnehmen wie die größten wissenschaftlichen Träume, die aber auf­gehen können in unserer Seele und dort weiterleben können. Da können wir sehen, daß er etwas gibt, was wie Samenkörner sich hin­einlebt in die Menschheit und in Zukunft aufgehen kann. Wieder etwas wie eine Heroldschaft für das Christentum! In ähnlicher Weise ein Anfang, trotz aller Verschiedenheit, wie das ein Anfang war, was der Täufer geleistet hat. Und wir selber finden die Veranlassung, uns zu der merkwürdigen Gestalt des Novalis zu stellen, und wir fühien, wie da lebendige Theosophie herausströmt, aber überall unter christ­lichen Inspirationen. Dann fühlt man, daß wieder etwas da ist, was für das Christentum Heroldschaft für die Zukunft ist.

Die okkulte Forschung zeigt uns: es ist dieselbe Individualität, die in Elias, in Johannes dem Täufer, in Raffael gewirkt hat, die in Novalis wiedererscheint. Wir fügen wieder hinzu, was als die Individualität durch die einzelnen Persönlichkeiten hindurchgeht. Wir finden für das Werk Johannes des Täufers bei Raffael ein neues Auferstehen und

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sagen uns: Dafür, daß das Werk Raffaels nicht untergehe, trotzdem das, was Raffael auf die Wände gemalt hat, untergeht, dafür kann Raffael selber sorgen, wie er dafür gesorgt hat, daß das andere nicht untergegangen ist. Ja, wir können sagen: Wie er gesorgt hat, daß eine neue Art dessen, was er den Menschen einst zu verkünden hatte, wie-derauferstanden ist, so wird er dazu immer wieder imstande sein, in seinen folgenden Wiederverkörperungen.

So vermag die menschliche Individualität dasjenige weiterzutragen, was sie einmal geleistet hat, durch die Sphäre der Ewigkeit.

Vielleicht mehr als an den bloßen äußeren geisteswissenschaftlichen Lehren, an der Betrachtung der Gesetze bloß, geht uns an solchen konkreten Fällen, die ja immer mehr und mehr hinzukommen werden zu den bloßen abstrakten Gesetzen, das auf, was theosophische Welt-und Lebensbetrachtung der Welt und Menschheit sein wird: verständ­lich wie diejenigen Dinge, die uns in der äußeren Welt entgegentreten. Und man bekommt dann ganz merkwürdige Gefühle und Empfin­dungen, wenn man gerade solchen konkreten Beispielen gegenüber das betrachtet, was sich mehr im geheimen der menschlichen Seelen-entwickelung zuträgt. Natürlich haben die Menschen, die bisher Raffael betrachteten, da die geistige Forschung selbst eine junge Offen­barung ist, nichts wissen können von dem, was Raffael durch die Zeitenwende trägt, was seine Kraft ist. Aber da jetzt aufgehen muß die Idee der Wiederverkörperung der menschlichen Wesenheit, auch wenn man nichts weiß im Konkreten, so kann es vorkommen, daß einem ein unbestimmtes Gefühl aufsteigt, als ob da etwas mit-spielte.

Dafür trat mir in den letzten vierzehn Tagen ein merkwürdiges Bei­spiel auf. Es fiel mir wieder ein, wie ein sehr bedeutender Raffael­Forscher über Raffael spricht: der geistvolle Kunsthistoriker Herman Grimm. Als er über Raffael sprach und ihn charakterisierte, wußte er ja selbstverständlich nichts von Geisteswissenschaft und betrachtete Raffaels eines Leben, betrachtete Raffaels Ruhm in den verschiedenen Jahrhunderten, sah seinen abnehmenden und wieder aufsteigenden Ruhm, und im Zusammenliange damit das Fortleben Raffaels in den verschiedenen Jahrhunderten in seinen Schöpfungen. Da kam Herman

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Grimm der merkwürdige Gedanke, den er hineingeheininißte in sein Buch über Raffael, das er schreiben wollte, das aber Fragment geblie­ben ist. Da sagte er, eine Empfindung ausdrückend, ganz instinktiv:

Wenn man alles betrachtet, was da fortleben soll in der Menschheits­entwickelung, und sich eine Perspektive verschafft für die Zukunft, so könnte einem der Gedanke kommen, daß man alles das wieder-erleben wird! - Eine solche Sache ist unendlich bezeichnend, bezeich­nend dafür, wie in denen, die gedankenvoll und gefühivoll die Menschheitsentwickelung betrachten, instinktiv der Gedanke des Wiederlebens wie in einer Sehnsucht in den Seelen auftaucht, weil er sich ergibt als etwas, ohne das das übrige keinen Sinn hat. Das ist so unendlich bedeutsam. Und wenn man solche Dinge betrachtet, be­kommt man eine Idee, eine schöne und berechtigte Idee, was Geistes­wissenschaft der Menschheitsentwickelung wird geben können und ihr zu geben hat, und welche Bereicherung das Menschenleben in allen seinen Formen durch eine solche Erkenntnis des Gesetzes von Rein­karnation und Karma erfahren wird.

Wenn allerdings die Menschheit eine solche Bereicherung des Le­bens wird erfahren sollen, dann wird sie sich daran gewöhnen müssen, Geistiges mit derselben Genauigkeit zu beobachten, wie man sonst nur das Physische beobachtet, wird beobachten müssen, wie die Wie­derholungen des Physischen ein großes Gesetz sind alles Daseins, und daß die Wiederholung - wie die Wiederkehr des Seelischen in den Leibern - auch ein Gesetz ist der Wiederkehr der verschiedenen Lebensinhalte. Aber auch dazu gibt es durchaus Vorbereitungen, auch dazu gibt es durchaus, man möchte sagen, menschliche Sehnsuchten, menschliche Hoffnungen, menschliches instinktives Wissen, das sich nach und nach in den letzten Jahren heranentwickelt hat. Wir brauchen nur daran anzuknüpfen und es erscheint uns Geisteswissenschaft so, als wenn sie sich heranentwickelt hat, als ob die Menschen nicht wis­sen, daß sie schon davon träumten, sie instinktiv fühlten. Aber da, wo sie nachgedacht haben über das geistige Leben, da haben sie hingewie­sen auf das, was sie fühlen konnten von dem großen rhythmischen Gang der Wiederkehr der Erscheinungen, und von der Wiederkehr der Erscheinung der menschlichen Seele selber.

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Da ist es interessant, wenn wir eine Erscheinung hervorheben wollen, die ich leicht ins Hundertfache vermehren könnte, weil sie uns entgegentritt bei allen Geistern, die den Gang der Menschheitsent­wickelung auf sich haben wirken lassen und dabei ein Gefühl bekamen, was das rhythmische Wiederholen, was die rhythmische Wiederkehr der Ereignisse ist. Auf eines sei hingewiesen, um zu zeigen, wie dieser Gedanke Platz greift, aber zugleich in der Seele etwas auftreibt, ob­wohl der Betreffende noch nicht moderner Theosoph sein konnte. Denn die Erscheinung, die ich erzähle, ist in einem künstlerischen Werke aus dem Jahre 1835 enthalten. Er konnte es noch nicht wissen, wie sich die Zukunft der Menschheitsentwickelung im Sinne der Geisteswissenschaft darstellt. Dennoch quillt ihm etwas auf, was wie ein Traum ist, was sich ihm ergibt als Menschheitszukunftsperspek­tive, was sich gründet auf die Betrachtung der Wiederholung der menschlichen Erscheinung. Es ist der deutsch-österreichische Dichter Anastasius Grün, den ich meine; er hat im Jahre 1835 seine Dichtung «Schutt» veröffentlicht, in der sich eine Darstellung findet, wo er durch fünf Wiederkehrungen eine Erscheinung verfolgt: das Wieder­kehren in gewissem Rhythmus der geistigen Botschaft, die in der Menschheit wirkt. Anastasius Grün weist darauf hin, wie der Christus jedes Jahr am ersten Ostertage geistig wieder besucht den Ölberg, um alle die Stätten zu sehen, an denen er gelebt und gelitten hat. Von fünf solchen Wiederkehrungen, von denen vier in der Vergangenheit liegen und die fünfte in der Zukunft spielt, redet Grün in seiner Dichtung «Schutt». Die erste spielt in der Zeit, nachdem Jerusalem zerstört ist. Die zweite, so meint er, ereignet sich, «da der Christus anschaut, wie die Kreuzfahrer Jerusalem erobert haben», und hinunterschaut, wie es zugeht an den Stätten, die er einstmals betreten hat. Die dritte Wieder­kehr fällt in die Zeit, da der Islam seine Macht über Jerusalem aus­breitet, die vierte in jene Zeit, da die Menschheit in allerlei Sekten ge­spalten ist und sich kämpfend verhält in bezug auf das, was von dem Christus ausgegangen ist.

Das alles beschreibt Grün mit einer gewissen Anschaulichkeit. Dann geht ihm eine Perspektive auf von einer weit, weit, fernliegenden Wiederkehr des Christus einmal an einem ersten Ostertage. Wenn das

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auch äußerlich träumerisch, wenn das auch utopistisch ist, so muß man doch sehen, daß die Empfindungen - von dem Inhalt abgesehen -etwas enthalten von dem Beseligenden, was die Menschenseele er­halten kann, was ihr durch die okkulte Forschung, namentlich seit dem 13. Jahrhundert, werden kann, wenn sie hinblickt auf die Zu­kunft, wo durch die große spirituelle Kultur Segen verbreitet wird gegenüber den Kämpfen und Verwüstungen. Und Grün sieht das Be­seligende in der Zukunftskultur und malt eine künftige Wiederkehr des Christus an einem ersten Ostertage am Ölberg und schildert sie, wie sie sich ihm darstellte in seiner Phantasie. Er stellt sich vor, wie Kinder auf Golgatha spielen, wie sie die Erde umgegraben haben und eine merkwürdige Sache aus Eisen finden, von der sie nicht wissen, was sie ist; später stellt sich heraus, daß es ein Schwert ist. Und die beseligende Empfindung überkommt ihn, daß er sich sagt: Es werden Zeiten kommen, in denen man vergessen haben wird die Bestimmung, die ein solcher Gegenstand hatte, der einem Schwert ähnlich ist. Man wird das Schwert wie einen sonderbaren Gegenstand anstaunen. Und dann sagt er: Es wurde das Eisen zur Pflugschar verwendet. - Und Grün malt sich das Gefühl aus, das ihm quillt aus der rhythmischen Wiederkehr der Erscheinung des Christus am Ölberge. Dann graben die Kinder weiter, und was sie ausgraben, was man auch schon ver­gessen hat, was man aber wieder in der Erscheinung gewinnen wird, ist ein steinernes Kreuz! Man hat es schon vergessen. Man nimmt es wieder auf und er sagt, daß man mit dem Kreuz etwas Besonderes tut, um anzudeuten, welche Rolle von jetzt ab das Kreuz haben wird. -Und so stellt er dasjenige dar, was er empfindet, als die Kinder bei der Wiederkehr des Christus ein Kreuz ausgraben und dann dieses Kreuz der ganzen Menschheit zeigen, und wie dann die Funktion und die Kraft sein wird, welche das Kreuz für die ganze Menschheit haben wird:

Ob sie's auch kennen nicht, doch steht's voll Segen

Aufrecht in ihrer Brust, in ew'gem Reiz,

Es blüht sein Same rings auf allen Wegen;

Denn was sie nimmer kannten, war ein Kreuz!

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Sie sahn den Kampf nicht und sein blutig Zeichen,

Sie sehn den Sieg allein und seinen Kranz.

Sie sahn den Sturm nicht mit den Wetterstreichen,

Sie sehn nur seines Regenbogens Glanz!

Das Kreuz von Stein, sie stellen's auf im Garten,

Ein rätselhaft, ehrwürdig Altertum,

Dran Rosen rings und Blumen aller Arten

Empor sich ranken, kletternd um und um.

So steht das Kreuz innütten Glanz und Fülle

Auf Golgatha, glorreich, bedeutungsschwer:

Verdeckt ist's ganz von seiner Rosen Hülle,

Längst sieht vor Rosen man das Kreuz nicht mehr.

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SECHSTER VORTRAG Berlin, 14. Mai 1912

Sie wissen, daß eine oftmals wiederholte Frage des Lebens und auch der Philosophie die ist nach dem sogenannten Sinn des ganzen Da­seins. Nun haben wir uns ja wohl im Laufe der Zeit durch unsere geisteswissenschaftliche Arbeit ein wenig Bescheidenheit gerade in der Beziehung angewöhnt, die hier in Betracht kommt. Wir wissen, daß der Mensch zwar durch die Erforschung der geistigen Welten über die gewöhnliche Sinneswelt hinausschaut oder denkt; aber wir wissen auch, daß wir uns keineswegs anmaßen können, irgendwie gleich zu sprechen von den letzten Ursprüngen oder dem letzten und höchsten Sinn des Lebens. Das oberflächliche Denken wird ja aller­dings da einwenden: Was wissen wir dann überhaupt, wenn wir nichts wissen können von dem Sinn des Lebens?

Wir haben schon öfter einen Vergleich gebraucht, der uns hervor­gehen kann aus dem Geiste der Geisteswissenschaft und uns sozu­sagen über das, was bei dieser Frage möglich oder unmöglich ist, auf­klären kann. Wir haben gesagt, wenn jemand irgendwo hinreisen wollte und man ihm zunächst an seinem Orte nur sagen könnte, wie er den Weg einzuschlagen habe nach einem viel näheren Orte, ihn aber mit der Gewißheit entlassen würde, daß man ihm an diesem Orte wei­terhelfen würde, so könnte er, wenn er auch streckenweise sich durch­fragt, zwar nicht wissen, wie der Weg zu dem letzten Ziele ist, aber doch sicher sein, daß er an sein letztes Ziel ankommen wird, weil er immer von Ort zu Ort weiterkommen kann. So fragen wir als Schüler der Geisteswissenschaft nicht nach den «letzten Zielen», sondern nach den nächsten, das heißt nach dem Erdenziel, und wissen, daß es gar keinen rechten Sinn hätte, nach den letzten Zielen zu fragen. Denn wir haben erkannt, daß es sich im Menschenleben um Entwickelung handelt. So daß wir uns klar sein müssen, daß wir im jetzigen Zeit­punkte unserer Entwickelung überhaupt nichts verstehen könnten von den späteren Entwickelungszielen und daß wir uns erst zu einem höheren Standpunkte entwickeln müßten, um ein Verständnis für das

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zu gewinnen, was mit einem späteren Ziele gemeint ist. Wir fragen also nach dem nächsten Ziele und sind uns klar, daß - indem wir uns gerade dieses nächste Ziel als ein Ideal vorhalten, es erstreben und, wenn wir die rechten Mittel gebrauchen, es auch erreichen werden -wir dadurch zu einem weiteren Punkte unserer Entwickelung kom­men, so daß wir an diesem Punkte wieder die rechte Frage nach dem nächsten Ziele stellen können und so fort. Während es also scheinen könnte, daß durch Geisteswissenschaft der Mensch unbescheiden ge­macht würde, weil er über die gewöhnliche Welt hinaussieht in eine geistige Welt hinein, wird er gegenüber dem, was man oft leichthin an den Fragen über allerhöchste Dinge aufwirft, im Gegenteil gerade über diese allerhöchsten Dinge bescheiden gemacht.

Nach dem Erdenziel zunächst fragen wir uns. Mit andern Worten:

Wir fragen uns, was der Mensch durch die Entwickelungsperiode, wo er durch jene physischen Verkörperungen durchgeht, die wir die physischen Verkörperungen im Fleische auf der Erde nennen, vor­zugsweise hinzuträgt zu dem, was in den vorhergehenden Entwicke­lungsperioden gewonnen ist, in der Saturn-, Sonnen- und Monden­zeit? - Um dies ins Auge zu fassen, wollen wir uns Dinge vor die Seele führen, welche wir von dieser oder jener Seite her schon kennen, die uns heute aber dazu dienen sollen, recht konkrete, recht bestimmte Begriffe mit dem zu verbinden, was man den Sinn der Erdenentwicke­lung nennen könnte. Da sei zunächst auf etwas aufmerksam gemacht, worauf in anderem Zusammenhange schon hingewiesen ist.

Als in der Zeit, in welcher innerhalb der griechisch-lateinischen Kulturperiode - man könnte fast genau sagen: im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung - das gegenwärtige vernunftgemäße, verstan­desgemäße Denken der Menschheit begann, da wurde ein Gedanke oft und oft geäußert: der Gedanke, daß alle Philosophie, alles tiefere Nachdenken über die Geheimnisse des Daseins ausgehe von dem, was man Verwunderung oder Erstaunen nennen kann. Das heißt mit an­dern Worten: So lange der Mensch über die Dinge, die ihn umgeben, über die Erscheinungen, innerhalb welcher er lebt, keine Verwunde­rung, kein Erstaunen hegen kann, so lange lebt er gedankenlos hin und fragt nicht in einer vernunft- oder geistgemäßen Art nach dem,

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«warum» die Dinge so oder so verlaufen. «Von der Verwunderung oder dem Erstaunen geht alles Philosophieren aus.» - Das war ein immer wiederkehrender Spruch in der alten griechisch-lateinischen Kulturperiode. Was bedeutet denn eigentlich für das menschliche Seelenieben dieser Spruch?

Wenn ein Mensch noch niemals eine Lokomotive fahren gesehen hat - es ist ja heute innerhalb der europäischen Kultur schon schwer, einen solchen Menschen aufzufinden, aber es ist noch gar nicht lange her, da konnte man noch solche Menschen finden; jetzt muß man dazu schon nach recht entfernten Gegenden gehen -, so wird er, wenn er eine Eisenbahn fahren sieht, sich verwundern, wird sich namentlich darüber wundern, daß sich da etwas vorwärts bewegt und gar nicht diejenigen Kräfte zum Vorwärtsbewegen hat, die er zu sehen gewohnt ist, wenn ein Vorwärtsbewegen in Betracht kommt. Es ist ja bekannt, daß viele solche Menschen, die erstaunt waren, wenn sie da eine Loko­motive haben fahren gesehen, gefragt haben, ob da die Pferde im Innern wären, welche die Lokomotive vorwärts bewegten? - Warum waren die Leute erstaunt, verwundert über das, was sich ihnen darbot? Sie waren deshalb erstaunt, weil sie etwas gesehen haben, was ihnen in gewissem Sinne bekannt war und doch wieder unbekannt vorkam. Bekannt war ihnen, daß sich etwas vorwärts bewegt. Aber alles, was sich vorwärts bewegt, hatten sie mit ganz anderen Kräften ausgestattet gesehen. Jetzt zeigte sich ihnen ein Vorwärtsbewegen, wie es sich ihnen vorher niemals gezeigt hat. Das ruft die Verwunderung hervor.

Wenn nun die Philosophen der griechisch-lateinischen Kulturzeit erst dadurch Philosophen sein konnten, daß sie sich verwundern konn­ten, so müßten sie solche Menschen gewesen sein, die alles, was in der Welt vorgeht, zugleich als ein Bekanntes und als ein Unbekanntes empfanden, indem nämlich das, was geschieht, ihnen so dünkte, daß es nicht auf die Art geschehen konnte, wie es geschah, daß etwas ge­sucht werden müßte in alledem, was da um sie herum vorgeht, was ihnen unbekannt war.

Woher kommt es denn, daß sich sozusagen die Philosophen gegen­über allen Dingen so stellen mußten, als ob sie ihnen gänzlich un­bekannt wären in bezug auf gewisse Kräfte oder Ursachen, die in

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ihnen walten? Da man nun annehmen muß, daß die Philosophen min­destens auch so gescheit sind wie die Leute, die sich gar nicht um ihre Umgebung kümmern, so kann man nicht voraussetzen, daß die Philo­sophen nur das, was man mit den gewöhnlichen Sinnen wahrnimmt, in den Dingen annehmen können. Sie müssen also etwas anderes in den Dingen vermissen oder ahnen, was sie in Verwunderung setzt:

das heißt etwas, was nicht innerhalb der Sinneswelt ist. Daher haben auch die Philosophen zu dem, was in der Sinnesweit ist, immer ein Übersinnliches gesucht, solange es keinen Materialismus gegeben hat. Also darf man sagen, die Verwunderung, das Erstaunen der Philo­sophen muß sich eigentlich darauf beziehen, daß sie gewisse Dinge nicht mit dem begreifen können, was sie mit den sinnlichen Augen sehen, sondern daß sie sich sagen müssen: Was ich da sehe, das ent­spricht nicht dem, was ich mir davon vorstelle; ich muß mir übersinn­liche Kräfte darin vorstellen. - Aber in der Sinneswelt sehen die Philo­sophen keine übersinnlichen Kräfte. Das allein würde für einen den­kenden Menschen schon hinreichen, sich klarzumachen, daß eine, wenn auch nicht ins Bewußtsein hereinreichende, aber unterbewußte Erinnerung im Menschen ist seit den Zeiten, in denen die Seele etwas anderes gesehen hat als die Sinnesdinge. Das heißt, die Seele erinnert sich an Dinge, die sie durchgemacht hat, bevor sie in das Sinnesdasein eingetreten ist, und sagt sich daher: Ich bin verwundert, daß ich da Dinge sehe, die mich in ihren Wirkungen nur erstaunen und die anders sind als alles, was ich früher gesehen habe, die also erklärt werden müssen mit Kräften, die ich erst heraufholen muß aus der Welt des Übersinnlichen. - Deshalb also beginnt alles Philosophieren mit dem Erstaunen oder der Verwunderung, weil der Mensch in der Tat an die Dinge so herantritt, daß er, bevor er in die Sinneswelt eingetreten ist, aus einer übersinnlichen Welt kommt und nun die Sinnesdinge nicht dem entsprechen, was er in der übersinnlichen Welt wahrgenommen hat. Daher verwundert er sich, verwundert sich, weil die Dinge Wir­kungen zeigen, die er nicht aus der übersinnlichen Welt kennt.

So weist uns die Verwunderung oder das Erstaunen auf den Zu­sammenhang des Menschen mit der übersinnlichen Welt hin als auf etwas, was einer Sphäre angehört, die der Mensch nur betreten kann,

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wenn er aus seiner Welt, in die er durch den physischen Leib ein­geschlossen ist, hinauskommt. Das ist eines, was uns hier auf dieser Welt zeigt, daß der Mensch fortwährend eigentlich den Drang hat, über sich hinauszukommen. Wer nur in sich selber bleiben kann, wen die Verwunderung nicht hinaustreibt aus dem gewöhnlichen Ich, der bleibt ein Mensch, der nicht über sich hinauskommen kann, der die Sonne auf- und untergehen läßt und so weiter, ohne sich sonst um etwas zu kümmern. Das tun die unkultivierten Völker.

Ein Zweites, das den Menschen loslöst aus der gewöhnlichen Welt, das ihn hier schon aus einer bloß sinnlichen in eine übersinnliche An­schauung bringt, ist das Mitleid oder Mitgefühl. Ich habe das auch schon hervorgehoben. Das Mitleid erscheint dem, der gedankenlos durch die Welt geht, nicht als ein großes Geheimnis oder ein beson­deres Mysterium. Dem aber, der denkend durch die Welt geht, er­scheint gerade das Mitgefühl als ein Wunder, als ein großes Myste­rium. Wenn wir ein Wesen nur von außen anschauen, bietet es unseren Sinnen und unserem Verstande das dar, was von den Eindrücken her­rührt, die von ihm kommen. Wenn wir aber Mitgefühl entwickeln, treten wir über die Sphäre der Eindrücke, die das Wesen auf uns macht, hinüber; dann leben wir mit, was in dem geheimsten Aller­heiligsten in den Wesen vorgeht, leben uns hinüber von unserer Ich-Sphäre in die Sphäre des andern Wesens. Das heißt, wir kommen von uns los, wir gehen von dem, daß wir für gewöhnlich im physischen Leibe eingeschlossen sind, hinweg und kommen in das hinüber, was das andere Wesen in sich schließt und was in dieser Welt schon ein Übersinnliches ist, denn wir können nicht mit unseren Sinnen oder unserem Verstande in die Seelensphäre des andern Wesens hinüber-kommen. Mitgefühl, daß es da ist in der Welt, ist ein Beweis dafür, daß wir schon innerhalb der Sinneswelt von uns loskommen, aus uns her-austreten und in andere Wesen hinübergehen können. Wir wissen, daß es ein sittlicher Defekt, ein sittlicher Mangel des Menschen ist, wenn er nicht Mitgefühl entwickeln kann. Wenn er sozusagen in dem Augen­blick, wo er von sich loskommen sollte und in das andere Wesen hin-übertreten sollte, um nicht seinen Schmerz, seine Freude, sondern den Schmerz und die Freude des andern Wesens mitzuerleben, wenn er in

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dem Moment zu fühlen aufhört, gleichsam ohnmächtig wird, dann ist das ein sittlicher Mangel. Der vollständige Erdenmensch muß durch das Mitgefühl mit andern Wesen über sein Erdenleben hinaustreten können, muß mitleben können, was nicht er ist, sondern was ein anderes Wesen ist.

Auf ein Drittes, wodurch der Mensch über das, was er zunächst im physischen Leibe ist, hinauskommt, haben wir auch schon aufmerk­sam gemacht. Es ist das Gewissen. Im gewöhnlichen Leben wird der Mensch dieses oder jenes begehren, was seinen Trieben oder Bedürf­nissen entspricht, wird dem nachgehen, was ihm sympathisch ist, wird das von sich wegstoßen, was ihm antipathisch ist. Wenn der Mensch so handelt, wird er gar manches tun, wovon er sich dann selber eine Kritik abringt, indem sein Gewissen, die Stimme des Ge­wissens über ihn kommt, ihn sozusagen korrigiert. Von dieser Stimme des Gewissens hängt es auch ab, je nachdem sie so oder so spricht, ob der Mensch letzten Endes zufrieden sein darf mit dem, was er tut, oder nicht damit zufrieden sein darf. Damit aber ist bezeugt, daß der Mensch in dem Gewissen wieder etwas hat, wodurch er über die Sphäre dessen, was er in seinen Trieben und so weiter als sympathisch oder anti­pathisch empfindet, hinausgeht.

Erstaunen und Verwunderung, Mitleid oder Mitgefühl und das Gewissen sind die drei Dinge, durch welche der Mensch schon im physischen Leben über sich hinausgeht, durch die in dieses physische Leben Dinge hereinleuchten, die nicht auf dem Wege des Verstandes und der Sinne in diese menschliche Seele hereinkommen können.

Nun muß es leicht begreiflich sein, daß alle diese drei Kräfte nur möglich sind, sich nur ausbilden können, wenn der Mensch durch die Inkarnationen im fleischlichen Leibe durchgeht, wenn ihn ein fleisch­licher Leib abtrennt sozusagen von dem, was da aus einer andern Sphäre in seine Seelensphäre hereintritt. Würde nicht ein fleischlicher Leib den Menschen von der geistigen Welt abtrennen und ihm die Außenwelt als eine sinnliche Welt darbieten, so würde er nicht er­staunen können. Der sinnliche Leib ist es durchaus, wodurch es kommt, daß der Mensch über die Sinnesdinge erstaunen kann und den Geist zu den Dingen hinzusuchen muß. Wenn der Mensch nicht von

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den andern abgetrennt wäre, sondern wenn die Menschen als eine ge­meinsame Einheit leben würden, so daß sich ein gemeinsames Geisti­ges durch das Bewußtsein eines jeden hindurchziehen würde, wenn nicht jede Seele in einem physischen Leibe wäre, der sozusagen eine undurchdringliche Hülle für sie aufbaut und sie abtrennt von den andern, so könnten wir auch nicht das entwickeln, was wir Mitgefühl nennen. Und wenn dieser sinnliche Leib des Menschen nicht dazu veranlagt wäre, Dinge zu suchen, die nur von der sinnlichen Welt bedingt sind und durch etwas anderes in ihm korrigiert werden können, so würde nicht das Gewissen als eine geistige Kraft, die her­einspricht in seine Welt der Triebe, Leidenschaften und Begehrungen, empfunden werden können. So muß der Mensch im physischen Leibe verkörpert sein, damit er diese drei Dinge - Erstaunen oder Ver­wunderung, Mitgefühl und Gewissen - erleben kann.

In unserer Zeit kümmert man sich wenig um solche Geheimnisse, die aber tief bedeutsam die Welt des Daseins aufklären. Aber es ist im Grunde genommen noch nicht so lange her, da haben sich die Menschen sehr wohl um solche Geheimnisse gekümmert. Sie brauchen sich nur eines klarzumachen. Versuchen Sie sich einmal zurechtzu­finden zum Beispiel in der Welt der griechischen Götter, jener Götter, von denen Homer erzählt. Versuchen Sie einmal alles das auf Ihre Seele wirken zu lassen, was diese griechischen Götter handelnd voll­ziehen. Oder versuchen Sie sich klarzumachen, was die Impulse sind bei einem Wesen, das noch wie ein letzter Rest einer früheren Erden-generation dasteht, bei Achilles, der ja auch von einer göttlichen Mutter abstammt. Gehen Sie durch die Ilias und Odyssee, fragen Sie Homer, ob in diesen zwischen Menschen und Göttern drinnen-stehenden Wesen je sich so etwas regte, was man Gewissen oder Mit­leid nennen könnte? Denken Sie nur einmal, daß Homer seine ganze Ilias noch darauf aufbaut, daß eigentlich da wütet und wüstet der «Zorn des Achill». Das heißt, eine Leidenschaft, eine eminente Lei­denschaft ist es, und Sie müssen alles abziehen, was sonst in der grie­chischen Sage steht: die Ilias handelt von nichts anderem, als von den Ereignissen, die eingetreten sind durch den Zorn des Achill, das heißt durch eine Leidenschaft. Sehen Sie auf alles, was Achill im Laufe der

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Darstellung vollbringt und versuchen Sie, ob Sie nur einmal sagen können, bei Achill regt sich so etwas wie Mitieid oder Gewissen. Aber das regt sich auch nicht einmal, was man Erstaunen oder Ver­wunderung nennen kann. Das ist gerade die Größe des Homer, daß er solche Dinge in einer so bewundernswürdigen Weise darstellt. Verfolgen Sie in der Ilias, welche Miene Achill macht, wenn man ihm erzählt, dieses oder jenes Furchtbare ist geschehen. Er verhält sich ganz anders als ein Mensch, der erstaunt oder verwundert ist. Und nehmen Sie dann die griechischen Götter selber: sie entwickeln alle möglichen Triebe, von denen Sie sagen können, daß sie einen ent­schieden egoistischen Charakter bei einem Menschen gewinnen, der im physischen Leibe eingeschlossen ist. Bei den Göttern sind sie geistig. Aber bei allem, was da innerhalb der griechischen Götterwelt vorgeführt wird, ist kein Mitleid, kein Gewissen, auch nicht das, was wir Erstaunen nennen können. Warum nicht? Weil Homer und die Griechen wußten: es handelt sich da um Wesen, die den früheren Zeiten angehören, die der Erdenzeit vorangegangen sind, wo die Wesen, die damals ihre Menschheitsentwickelung durchgemacht haben, je nach den planetarischen Zuständen, die vorher waren, noch nicht in ihre Seele Erstaunen, Mitieid und Gewissen aufgenommen haben. Diesen Zug muß man durchaus beachten, daß frühere plane­tarische Zustände, die unsere Erde durchgemacht hat und wo solche Wesen, wie sie die Griechen in ihren Göttern verehren, ihre Mensch­heitsstufen durchgemacht haben, durchaus nicht dazu da waren, um Erstaunen, Mitleid und Gewissen in der Seele anzupflanzen. Dazu ist die Erdenentwickelung da. Das ist der Sinn der Erdenentwickelung, daß auf dem Boden der Erdenentwickelung eingepflanzt wird in die Gesamtentwickelung das, was ohne die Erdenentwickeluhg nicht da sein würde: Erstaunen, Verwunderung, Mitgefühl und Gewissen.

Erinnern Sie sich, wie ich Sie selbst darauf aufmerksam gemacht habe, wie sozusagen das Gewissen nachweislich in einer gewissen Zeit des Griechentums entstanden ist: wie wir noch zeigen können, daß bei Äschylos das, was wir Gewissen nennen, gar keine Rolle spielt, daß bei ihm noch die Erinnerungen an die rächenden Furien vorhan­den sind und daß dann erst bei Furipides das klar herausgearbeitet ist,

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was wir Gewissen nennen. Es entsteht der Begriff des Gewissens erst nach und nach in der griechisch-lateinischen Kulturepoche. Von dem Begriff der Verwunderung oder des Erstaunens habe ich Ihnen heute sagen können, daß er sich erst in der Zeit entwickelt, als man anfängt zu philosophieren im Stile der griechisch-lateinischen Zeit. Und wenn wir eine merkwürdige Tatsache der geistigen Erdenentwickelung be­trachten, so wirft diese Tatsache ein weithin bedeutsames Licht auf das, was man Mitleid, Mitgefühl, was man im echten Sinne auch Liebe nennen kann. In unserer heutigen materialistischen Zeit ist es sogar außerordentlich schwierig, gerade über diesen Begriff von Mitgefühl und Liebe die rechte Anschauung zu erhalten. Denn es werden ja viele von Ihnen wissen, wie gerade in unserer heutigen materialisti­schen Zeit dieser Begriff verschoben, karikiert wird, indem der Mate­rialismus in unserer Zeit den Begriff der Liebe so nahe wie möglich heranrückt an den Begriff der Sexualität, mit dem er gar nichts zu tun hat. Das ist ein Punkt, wo unsere gegenwärtige Geisteskultur sogar nicht nur das Vernünftige verläßt, sondern das verläßt, was irgendwie überhaupt noch zulässig ist bei einem gesunden Denken. Hier kommt bereits die Entwickelung in unserer Zeit durch ihren Materialismus nicht nur in das Unvernünftige und Unlogische, sondern in das Schändliche hinein, wenn so nahe aneinandergerückt werden, was man Liebe nennen kann und was sich unter dem Begriffe der Sexuali­tät verzeichnen läßt. Daß unter gewissen Umständen zu der Liebe zwischen Mann und Weib die Sexualität herantreten kann, begründet nicht, daß man diese beiden Begriffe so nahe als möglich aneinander heranbringt: das Umfassende der Liebe und des Mitgefühles und das ganz Spezifische der Sexualität. Und logisch ist es ebenso gescheit, wenn man den Begriff, sagen wir der Lokomotive und des Menschen­überfahrens, weil manchmal Lokomotiven auch Menschen überfahren, als zwei zusammengehörige Begriffe betrachtet, wie man heute den Begriff der Liebe und den der Sexualität zusammentückt, weil sich die Dinge unter gewissen Verhältnissen äußerlich beieinander finden. Aber das rührt nicht her von irgendeiner wissenschaftlichen Voraus­setzung, sondern von der unsinnigen und sogar teilweise ganz un­gesunden Denkweise unserer Zeit.

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Dagegen ist eine andere Tatsache unendlich geeignet, uns hinzu­weisen auf das Bedeutsame im Begriffe der Liebe und des Mitgefühles:

nämlich jene merkwürdige Tatsache, daß sich in einem bestimmten Zeitpunkt, man möchte sagen, bis zu allen Völkern hin im Laufe der Menschheitsentwickelung etwas begibt, was in vielem Wesentlichen voneinander verschieden ist, in einem aber über die Erde hin gleich ist: in der Annahme des Liebesbegriffes, des Begriffes des Mitgefühles. Und da ist es wieder merkwürdig, daß fünf, sechs, sieben Jahrhunderte vor dem Eintritt des Christus-Impulses in die Menschheit über die ganze Erde hin Weltanschauungsstifter auftreten. Bei allen Völkern treten sie auf. Höchst bedeutsam ist es, wie man zusammen hat in China sowohl Lao-tse wie Konfuzius sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung, in Indien den Buddha, in Persien den letzten Zarathu­stra - nicht den ursprünglichen -, in Griechenland Pythagoras. Wie verschieden sind diese Religions stifter! Nur ein ganz abstrakter Sinn, der nicht auf die Unterschiede sehen kann, kann etwa so, wie das heute, aber nur durch einen Unfug vielfach geschieht, darauf aufmerk­sam machen, wie Lao-tse oder Konfuzius dasselbe enthalten wie an­dere Religionsstifter. Das ist nicht der Fall. Aber eines ist bei allen der Fall: sie enthalten alle in ihrer Lehre das Element, daß Mitgefühl oder Liebe regieren muß von Menschenseele zu Menschenseele! Das ist das Bedeutsame, daß da sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung das Bewußtsein davon sich zu regen beginnt, wie jetzt in den fortgehenden Strom der Menschheitsentwickelung Liebe und Mitgefühl aufzu­nehmen sind.

So möchte man also sagen: Alles weist darauf hin, sowohl das Ein­treten von Erstaunen oder Verwunderung, wie der Eintritt des Ge­wissens, wie auch das Eintreten von Liebe und Mitgefühl in den fort-gehenden Strom der Menschheitsentwickelung, daß in der Zeit der vierten nachatlantischen Kulturepoche alle Zeichen geschehen, daß wirklich in die Menschheitsentwickelung das eingefügt werde, was wir nennen können den Sinn der Erdenentwickelung.

Wie unendlich oberflächlich, wie unendlich töricht Ist es, wenn die Menschen zum Beispiel sagen: Warum mußte der Mensch erst hin­untersteigen aus den göttlich-geistigen Welten in die physische Welt,

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da er sich doch erst wieder hinaufentwickeln soll? Warum konnte er nicht droben bleiben? - Er konnte deshalb nicht droben bleiben, weil er die drei Kräfte der Verwunderung oder des Erstaunens, der Liebe oder des Mitgefühls und des Gewissens oder der sittlichen Forderung erst auf der Erde, durch das Heruntersteigen in die physische Erden-entwickelung in sich aufnehmen konnte. So müssen wir uns also sagen: Wir blicken hin auf den vierten nachatlantischen Kulturzeit­raum und sehen während desselben in die Menschheit Impulse herein-treten, welche - eigentlich erst von da ab - in der Menschheit immer mehr und mehr überhandnehmen müssen. Es ist ja sehr leicht heute noch darauf hinzuweisen, wie wenig in der Menschheit schon Mit­gefühl und Liebe, wie wenig das Gewissen herrscht. Gewiß, auf diese Dinge kann man heute noch hinweisen. Aber man muß, wenn man auf diese Dinge hindeutet, zugleich darauf aufmerksam machen, daß noch im griechisch-lateinischen Zeitalter in der Welt so und so viele anerkannte Sklaven waren, und daß sogar noch ein so großer Philo­soph wie Aristoteles das Vorhandensein der Sklaven als in der Men­schennatur notwendig begründet angesehen hat, und daß seit jener Zeit sich so weit die Liebe eingelebt hat, daß, wenn auch heute noch Ungleichheiten unter den Menschen bestehen, jetzt schon in den Menschenseelen gegenüber gewissen Dingen so etwas wie Scham­gefühl vorhanden ist. Das heißt, gerade die Kräfte, die damals in die Menschheitsentwickelung eingetreten sind, sie entwickeln sich in den Seelen immer mehr und mehr. Heute wird sich keiner mehr getrauen, wenn er nicht etwa in einer einseitigen Weise das tragische Schicksal Nietzsches hat - von den Anhängern Nietzsches kann dabei ganz ab­gesehen werden, denn Nietzsche würde sie sich bei gesunden Sinnen abgeschüttelt haben -, sich ganz offen auf den Standpunkt zu stellen, daß heute wieder, wie in Griechenland, die bewußte, ausgesprochene Sklaverei eingeführt würde. Und es wird keiner leugnen, daß das größte Gefühl in der Menschen seele das der Liebe und des Mitgefühles ist und daß es Aufgabe des Menschen sein muß, jene Stimme immer feiner und feiner zu machen, die wie aus einer andern Welt in die Seele hereintönt.

Nachdem wir uns das in die Seele geschrieben haben, daß es gleich­sam der Sinn der Erdenentwickelung ist, die drei charakterisierten

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Kräfte zu entwickeln, blicken wir jetzt auf denjenigen Impuls hin, den wir so oft als den wichtigsten Impuls innerhalb der Erdenentwickelung angeführt haben, der eben in den vierten nachatlantischen Kulturzeit­raum hineinfällt, auf den Christus-Impuls. Schon eine äußere Betrach­tung zeigt uns, daß er gerade in jenes Zeitalter hineinfallt,in welchem die Erde reif ist, die drei Eigenschaften, die drei Kräfte: Erstaunen oder Verwunderung, Mitleid oder Liebe und Gewissen oder sittliche Forde­rung zu entwickeln, in welchem diese erst als so recht menschliche Eigenschaften auftreten. Wie haben wir den Christus-Impuls betrachtet?

Wir haben ihn in der Weise betrachtet, daß wir wissen, wie er eigentlich in die Menschheitsentwickelung hereingetreten ist. Ich möchte hier eine Anmerkung machen in bezug auf das, was ich über den Christus-Impuls gesagt habe, was ich gesagt habe über das Zu­rückbleiben eines Teiles gewisser spirituelier Kräfte wie ein Über-menschliches, als die Menschheit ihre Entwickelung hier auf der Erde anfing durchzumachen, und daß dieser Impuls in der Zeit eingeströmt ist, die wir bezeichnen können als angedeutet in der Bibel durch die J ohannestaufe im Jordan. So daß dasjenige eingetreten ist, was nicht die luziferischen Kräfte aufgenommen hat, was gewartet hat bis zum vierten Kulturzeitraum, um sich dann mit der Menschheit zu ver­einigen. Halten Sie das zusammen mit dem, was ich oft erwähnt habe:

daß eigentlich, wenn man nicht auf diese Art aufmerksam machen kann auf die Dinge, die uns zeigen, wie die geistige Welt in die phy­sische hereinspielt, es eine Unsitte ist, demgegenüber mit den aller-äußerst abstrakten Begriffen zu kommen, wie zum Beispiel mit dem von den «drei Logoi». Oft habe ich betont, daß ein gewöhnlicher Mensch sich unter «Logoi» meistens nichts anderes vorstellen kann als nur die fünf Buchstaben. Wenn Sie trotzdem hören können, daß außerhalb unserer Bewegung gesagt wird, bei uns würde die Sache so dargestellt, daß der Christus der «zweite Logos» ist - wobei so vorgegangen wird, als ob das, was außerhalb unserer Bewegung ge­sagt wird, bei uns gesagt würde -, so können Sie daran ersehen, daß es notwendig ist, wohl ins Auge zu fassen, daß fortwährend heute die Entstellungen dessen, was hier vorgebracht wird, an der Tagesord­nung sind. Während wir uns hier bemühen, immer wieder und wieder

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zu ergründen und zu erweitern und von allen Seiten zusammen­zutragen, was den Christus-Begriff vertiefen kann, werden die Sachen außerhalb unseres Arbeitsfeldes so dargestellt, als ob man hier einen abstrakten Begriff hinpfahie und in einer äußerlichen Weise so reden könnte, daß der Christus der «zweite Logos» sei. Aber in der theoso­phischen Bewegung sollten die Gewissen so geschärft werden, daß man weiß, daß so etwas nicht geschehen dürfte. Solange es noch mög­lich ist, Dinge zu tun, die einfach die Meinung der andern entstellen, steht die theosophische Bewegung auf keinem besonders hohen sitt­lichen Niveau, und es nützt nichts zu sagen, daß es schön sei, daß alle möglichen Meinungen in der Theosophlschen Gesellschaft vertreten werden können. Das bleibt eine Phrase, solange man sich erlaubt, auf irgendeinem andern Gebiete falsche Meinungen über das zu verbrei­ten, was irgendwo vertreten wird. Gewiß muß es gestattet sein, alle möglichen Meinungen zu verbreiten, aber nicht falsche Meinungen von den andern. Und notwendig ist es, daß in dieser Beziehung das spirituelle Gewissen geschärft wird, denn sonst wird endlich aus der theosophischen Bewegung alles Wahrheitsgefühl herausgetrieben, und dann werden wir nicht innerhalb der theosophischen Bewegung die notwendige spirituelle Bewegung fortführen können. Wir müssen die Dinge wirklich ernst ansehen und nicht oberflächlich darüber hinweg-gehen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß allerdings weniger wird gedruckt werden können, wenn man nur das drucken will, was man sicher weiß. Aber was schadet es denn, wenn wirklich weniger ge-druckt wird? Oder was schadet es, wenn weniger gesprochen wird, wenn nur das Wahre, das Wirkliche, das was ist, gesprochen wird? Man konnte in der letzten Zeit in den ausländischen Zeitschriften lesen, wie bei uns von dem Christus als dem «zweiten Logos» ge­sprochen wird, konnte lesen, wie hier eine theosophlsch-christliche Richtung vertreten wird, die nur für Deutschland - für kein anderes Land - paßt. Man konnte lesen, wie hier eine engherzige Theosophie betrieben wird und wie von Leipzig aus, von einer Ihnen bekannten gewissen Richtung, eine «weitherzige» theosophische Bewegung be­trieben wird. Wenn man so etwas liest, muß man sagen: Es ist in der theosophischen Bewegung nicht jene heilige Schärfung des Gewissens

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vorhanden, die notwendig ist für eine spintuelle Bewegung. Und wenn wir jene heilige Scharfung des Gewissens nicht haben, wenn wir uns nicht streng verpflichtet fühlen zur heiligsten Wahrheit, dann kommen wir auch auf keinem anderen Wege vorwärts!

Das mußte gesagt werden. Und es wird gerade innerhalb der theo­sophischen Bewegung notwendig sein, den Menschen gegenüber in bezug auf das, was immer als Liebe und Mitgefühl hingestellt wird, ein wenig auf die Finger zu schauen.

Wenn wir nun den Christus4mpuls so ins Auge fassen, daß wir in ihm das Herabströmen jenes geistigen Impulses sehen, der in der alten lemurischen Zeit zurückgeblieben ist, und der sich mit der Erdenentwickelung vereinigt hat in der vierten nachatiantischen Kulturepoche in dem Zeitpunkt, der durch die Johannestaufe im Jordan bezeichnet wird und der vollendet wird durch das Mysterium von Golgatha, dann haben wir in dem Christus-Impuls, wenn wir ihn so darstellen, etwas, von dem wir immer aussagen, daß das, was wir den Christus nennen, ja auch dazumal nicht in einem gewöhnlichen physischen Menschen verkörpert war. Wir wissen, wie kompliziert jener Jesus von Nazareth gestaltet war, um durch die drei Jahre seines Lebens hindurch den Christus-Impuls aufnehmen zu können. Daher sind wir uns klar, daß durch drei Jahre, umhüllt durch die drei Hüllen eines andern Menschen, der Christus-Impuls auf der Erde gelebt hat, sind uns aber auch klar, daß der Christus-Impuls auch dazumal nicht auf der Erde «verkörpert» war, sondern nur das Fleisch desjenigen durchdrang, ausfüllte, der als der Jesus von Nazareth dastand. Das müssen wir verstehen, wenn gesagt wird, daß von einer Wiederkehr des Christus nicht die Rede sein kann, sondern nur von einem ein-maligen Impuls während der Zeit der palästinensischen Ereignisse, als von dem Jesus von Nazareth bei der Johannestaufe nur geblieben waren dessen physischer Leib, Ätherleib und Astralleib, und diese ausgefüllt wurden von dem Christus-Impuls, der in ihnen gleichsam drei Jahre auf der Erde herumgewandelt hat. Seit jener Zeit wissen wir, ist der Christus mit der geistigen Erdenatmosphäre verbunden und kann dort gefunden werden von denen, die ihn aufnehmen wollen. Er ist seit jener Zeit in der geistigen Erdenatmosphäre vorhanden

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und war vorher nicht da. Das ist der wichtige Einsclinitt in der Erdenentwickelung, daß die Erde von dieser Zeit ab etwas ent­hält, was sie vorher nicht in sich enthalten hat.

Nun wissen wir aber noch, daß wir, wenn wir um uns herum-schauen, die verschiedenen Reiche der Natur sehen, daß aber die Art, wie wir dieselben ansehen, nichts Wirkliches ist, sondern daß es die Maja ist, die große Illusion. Schauen wir in das Reich der Tiere, so haben wir die einzelnen Gestalten entstehend und vergehend und sehen als bleibend höchstens die Gruppenseele an. Schauen wir auf die Pflanzen, so sehen wir ebenfalls die einzelnen Pflanzen entstehen und vergehen, aber hinter ihnen sehen wir den Erdengeist, den wir als etwas Bleibendes dargestellt haben. Und ähnlich ist es bei den Mineralien. So sehen wir das Geistige als etwas Bleibendes, aber das Physische - gleichgültig ob beim Tier-, Pflanzen- oder Mineraireich -können wir nicht als bleibend ansehen. Ja, wenn wir den Erdenprozeß mit den äußeren Sinnen verfolgen, so sehen wir, wie sich der Erden-planet nach und nach pulverisiert und sich einst als Erdenstaub auf­lösen wird. Wir haben es charakterisiert, was sein wird, wenn der Erdenleib von dem Geiste der Erde abgeworfen wird, wie der einzelne Menschenleib von dem Menschengeist abgeworfen wird. Was wird bleiben als höchste Substanz der Erde, wenn die Erde an ihrem Ziele angekommen sein wird? Der Christus-Impuls war auf der Erde da, war gleichsam als geistige Substanz vorhanden. Der bleibt. Der wird von den Menschen während der Erdenentwickelung aufgenommen. Aber wie lebt er weiter? Als er auf der Erde während der drei Jahre wandelte, hatte er nicht physischen Leib, Ätherleib und Astralleib für sich, er hatte die drei Hüllen angenommen von dem Jesus von Naza­reth. Aber indem die Erde an ihrem Ziele angelangt sein wird, wird sie, wie die menschliche Wesenheit, eine voll ausgebildete Wesenheit sein, die dem Christus-Impuls entspricht. Aber woher nimmt der Christus-Impuls diese drei Hüllen? Aus dem, was nur aus der Erde genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwickelung, die mit dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde auslebt seit dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen oder Verwunderung über die Dinge, alles was in uns leben kann als

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Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an den Christus heran und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in den Menschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den ätherischen Leib des Christus-Impulses, und was als Gewissen in den Menschen lebt und sie beseelt, von dem Mysterium von Golgatha bis zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oder das, was ihm entspricht, für den Christus-Impuls.

So bekommt ein Ausspruch des Evangeliums erst seine wahre Be­deutung: «Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!» Da haben wir charakterisiert, wie das, was von Mensch zu Mensch geschieht, der Christus als die auf­einanderfolgenden einzelnen Atome seines eigenen Ätherleibes emp­findet: was an Liebe und Mitleid entwickelt wird, formt sich ein dem ätherischen Leibe des Christus. So wird er am Ziele der Erdenentwik­kelung in dreifacher Weise umhüllt sein von dem, was in den Men­schen gelebt hat und was, wenn sie über ihr Ich hinausgekommen sind, die Hülle des Christus geworden sein wird.

Nun merken Sie, wie sich die Menschen mit dem Christus zu­sammenleben.Von dem Mysterium von Golgatha bis zum Ziele der Erdenentwickelung werden die Menschen immer vollkommener und vollkommener werden, indem sie sich hinentwickeln zu dem, was in ihnen bestehen kann, indem sie eine Ich-Wesenheit sind. Aber die Menschen werden verbunden mit der Christus-Wesenheit, die unter sie getreten ist, indem sie fortwährend aus sich herausgehen und durch Verwunderung und Erstaunen den astralischen Leib des Christus be­gründen. Der Christus baut sich nicht den eigenen astralischen Leib, sondern in dem, was die Menschen in sich finden als Erstaunen oder Verwunderung, werden sie beitragen zu dem astralischen Leib des Christus. Sein ätherischer Leib wird gebaut werden durch Mitgefühl und Liebe, welche von Mensch zu Mensch walten werden, und sein physischer Leib durch das, was als Gewissen sich in den Menschen heranbilden wird. Was der Mensch auf diesen drei Gebieten sündigt, das entzieht zugleich dem Christus auf der Erde die Möglichkeit, sich voll zu entwickeln, das heißt, es läßt die Erdenentwickelung mangel-haft. Die Menschen, die gleichgültig über die Erde gehen, die sich

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nicht bekanntmachen wollen mit dem, was sich ihnen auf der Erde enthüllen kann, entziehen durch ihre Gleichgültigkeit dem astralischen Leib des Christus die Möglichkeit seiner vollständigen Entwickelung, die Menschen, welche mitleidlos, ohne Liebe zu entfalten dahin-leben, verhindern dem Ätherleibe des Christus, daß er sich voll ent­wickeln kann, und die, welche gewissenlos sind, verhindern dasselbe für seinen physischen Leib; das heißt aber, daß die Erde überhaupt nicht an das Ziel ihrer Entwickelung kommen kann.

So müssen wir das Überwinden des egoistischen Prinzips in der Erdenentwickelung in Betracht ziehen. Daher wird der Christus-Impuls sich immer weiter und weiter in der Menschenkultur einleben, und das, was im letzten Vortrage hier gezeigt worden ist, indem auf­merksam gemacht worden ist, wie zum Beispiel in Raffaels Bildern sich der Christus-Impuls in einer interkonfessionellen Weise in die Menschheit eingelebt hat, das wird seine Fortsetzung erfahren. Ja, auch die äußere bildhafte Darstellung des Christus, wie er äußerlich bildhaft vorgestellt werden soll, ist eine Frage, die erst noch gelöst werden soll. Es werden viele Gefühle durch die Menschenseelen auf der Erde gehen müssen, wenn zu den vielen Versuchen, die im Laufe der Epochen gemacht worden sind, derjenige kommen soll, der einigermaßen zeigen wird, was der Christus ist als der übersinnliche Impuls, der sich in die Erdenentwickelung hineinlebt. Zu einer solchen Christus-Darstellung sind in den bisherigen Versuchen nicht einmal die Ansätze vorhanden. Denn es müßte das hervortreten, was die werdende Äußerlichkeit darstellt des Herum-sich-Gliederns der Im­pulse des Erstaunens, des Mitgefühles und des Gewissens. Was sich darin ausdrückt, muß sich so ausdrücken, daß das Christus-Antlitz so lebendig wird, daß dasjenige, was den Menschen zum Erdenmenschen macht, das Sinnlich-Begierdenhafte, überwunden wird durch das, was das Antlitz vergeistigt, verspiritualisiert. Es muß höchste Kraft in dem Antlitz sein dadurch, daß alles, was als höchste Entfaltung des Ge­wissens zu denken ist, sich in dem eigentümlich geformten Kinn und Mund zeigt, wenn er vor einem steht, wenn ihn der Maler oder der Bildhauer formen wird, ein Mund, an dem man fühlen kann, daß er nicht zum Essen da ist, sondern dazu, um auszusprechen, was als Sittlichkeit

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und Gewissen in der Menschheit jemals gepflegt worden ist, und daß dazu das ganze Knochensystem, sein Zahnsystem und Unter-kiefer als Mund geformt ist. Das wird zum Ausdruck kommen in einem solchen Antlitz. Mit dieser Unterform des Gesichtes wird eine solche Kraft verbunden sein, die ausstrahlt, zerstückelt und zerpflückt den ganzen übrigen menschlichen Leib, daß dieser zu einer anderen Gestalt wird, wodurch andere gewisse Kräfte überwunden werden, so daß es unmöglich sein wird, dem Christus, der einen solchen Mund zeigen wird, irgendwie eine Leibesform zu geben, wie sie der heutige physische Mensch hat. Dagegen wird man ihm Augen geben, aus denen alle Gewalt des Mitgefühls sprechen wird, mit der nur Augen Wesen ansehen können - nicht um Eindrücke zu empfangen, sondern um mit der ganzen Seele in ihre Freuden und Leiden überzugehen. Und eine Stirn wird er haben, wo man nicht vermuten kann, daß die Sinneseindrücke der Erde gedacht werden, sondern eine Stirn, die etwas vorn über den Augen vorstehen wird, sich wölben wird über jenem Gehirnteil: aber nicht eine «Denkerstirn», die wieder ver­arbeitet, was da ist, sondern es wird sich Verwunderung aussprechen aus der Stirn, die über die Augen hervortritt und sanft sich wölbt nach rückwärts über den Kopf, dadurch ausdrückend, was man Ver­wunderung über die Mysterien der Welt nennen kann. Das wird ein Kopf sein müssen, den der Mensch nicht in der physischen Mensch­heit antreffen kann.

Jedes Nachbild des Christus müßte eigentlich etwas sein, wie das Ideal der Christus-Gestalt. Und das ist das Gefühl, das diesem Ideal zustrebt, wenn man es in der Entwickelung anstreben wird: immer mehr und mehr muß für die Menschheitsentwickelung, insofern sich die Menschheit künstlerisch betätigen wird in der Darstellung des höchsten Ideals durch die spirituelle Wissenschaft, das Gefühl ent­stehen: Du darfst nicht hinschauen auf etwas, was da ist, wenn du den Christus bilden willst, sondern du mußt in dir kraften und wirken lassen und dich innerlich durchdringen mit alledem, was eine geistige Versenkung in den geistigen Werdegang der Welt durch die drei wich­tigen Impulse: Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen hindurch, dir geben kann.

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SIEBENTER VORTRAG Berlin, 20. Mai 1912

In der vorigen Woche haben wir eine Betrachtung darüber angestellt, wie sich im Laufe jener Erdenentwickelungsepochen, die auf die uns­rige folgen werden, und in unserer selbst natürlich, der Christus­Impuls innerhalb der Menschheit entwickeln wird. Wir haben ge­sehen, daß dadurch, daß gleichsam um diesen Christus4mpuls sich wie Leibeshüllen herumgliedern: Verwunderung oder Erstaunen wie ein astralischer Leib, die von der Menschheit geübten Empfindungen des Mitleides oder Mitgefühles wie ein Ätherleib, und alles, was unter dem Einfluß der Impulse des Gewissens geschehen ist, wie ein physi­scher Leib, dadurch eigentlich im Laufe der uns noch während der Erdenentwickelung zur Verfügung stehenden Zeit jene ideale Wesen­heit völlig ausgebildet wird, die in bezug auf ihr Ich, können wir sagen, das ja der Christus-Impuls selber ist, mit dem Beginne unserer Zeitrechnung - oder mit dem Mysterium von Golgatha - in diese Erdenentwickelung eingetreten ist. So war es uns darum zu tun, gleichsam die Grundnuance, den Grundcharakter der Ideale der Menschenzukunft einmal von einer Seite her zu charakterisieren. Wir wollen heute versuchen, noch von einer andern Seite her eine Farbe zu diesen Auseinandersetzungen vom letzten Male hinzuzufügen.

Erinnern Sie sich, daß der Christus-Impuls sozusagen gerade in die Mitte jener Zeit fiel, welche auf die große atlantische Katastrophe folgte. Wir können diese Zeit gleichsam als diejenige auffassen, die von der großen atlantischen Katastrophe bis zu jener nächsten großen überwältigenden Katastrophe geht, von der ja zu lesen ist in den Vor­trägen über die Apokalypse. Wenn wir in die Mitte dieser Zeit hineinstellen wollen das wesentlichste Ereignis der ganzen Erdenentwicke­lung, so haben wir da eben den Christus-Impuls. Wir brauchen nicht einmal - wie wir aus den Auseinandersetzungen der letzten Zeit er­kannt haben - unbedingt unsere Blicke sozusagen nach Palästina hinwenden, um einzusehen, daß in diesem Zeitpunkte etwas Wichtigstes in der Erdenentwickelung vorgeht. Wir können einfach die griechischlateinische

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Kulturepoche ins Auge fassen, die gerade in die Mitte, also in den vierten nachatlantischen Zeitraum fällt, und wir brauchen uns nur irgendeines charakteristischen Umstandes in diesem Zeitraume zu ermnern, dann können wir diesen charakteristischen Umstand zum Beispiel mit dem vergleichen, was auf einem ähnlichen Felde in dem vorhergehenden dritten Kulturzeitraum geschehen ist, und mit dem, was in unserem jetzigen Zeitraume geschieht. Ein Ihnen bekannter Umstand soll gleich hervorgehoben werden.

Wir haben öfter das Wesentliche eines griechischen Tempels charak­terisiert. Wir haben hervorgehoben, worinnen das Wesentliche des griechischen Tempels besteht, haben erklärt, daß der griechische Tempel durch seine ganze Form, durch seine in sich beschlossene Ganzheit so ist, daß man ihn empfindet als etwas In-sich-Bestehendes, wenn man bei der Betrachtung selber nicht dabei ist, ja im Grunde genommen, selbst wenn man sich denkt, daß gar kein Mensch in der Nähe ist. Menschen, die man sich in einen griechischen Tempel hin­eindenkt, sind eigentlich immer etwas Störendes; sie gehören nicht dazu, gehören nicht da hinein. Denn, was ist der griechische Tempel? Er ist in seiner ganzen Form nur gedacht und kann nur verstanden werden, wenn man ihn als die Wohnung des bis zum physischen Plan heruntergestiegenen, unsichtbaren lebendigen Gottes betrachtet. Da­her sind die einzelnen Tempel die Tempel dieser oder jener Gottheit. Und wenn wir uns den Gott hineindenken und keinen Menschen darinnen, sondern nur den Gott, der auf der Erde, auf dem physischen Plane ein Wohnhaus gebaut hat, so haben wir das, was wir nennen können die Idee des griechischen Tempels. Den Menschen müssen wir so weit als möglich weg denken : das machte die ganze Architektur des griechischen Tempels notwendig. Das konnte nur in einem Zeit-raume auftreten, in dem sozusagen alles, was auf dem physischen Plane lebte, durchdrungen sein mußte von dem Göttlich-Geistigen. Von Menschen, denen sozusagen die Erde unmittelbar überall durch­drungen erschien von dem Göttlichen, konnte so empfunden werden, von Menschen, unter denen das uns so tief zu Herzen gehende Wort entstehen konnte : Lieber ein Bettler sein auf der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten! - das heißt in der Welt, die man betritt,

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nachdem man durch die Pforte des Todes gegangen ist. Es war derjenige Zeitraum, in dem die Menschen am allermeisten mit dem physischen Plane und seinem ihn durchdringenden Geistigen ver­bunden waren.

Vergleichen wir den griechischen Tempelbau mit irgendeiner ähn­lichen Sache in der vorhergehenden Zeit und mit dem, was in unserer Zeit den Ton, die eigentliche Grundnuance angegeben hat. Wir könn­ten irgend etwas nehmen aus der vorhergehenden Zeit, die ägyptischen Tempel, ja die Pyramide : sie sind nur zu verstehen, wenn wir sie auf­fassen als das Streben der Menschen zum Göttlichen hinauf, dem Gött­lichen, das noch nicht heruntergestiegen ist bis zum physischen Plan. In jeder Linie, in jeder Form können Sie das Hinaufstreben der Men­schen zum Göttlich-Geistigen sehen, wenn Sie die Architektur jener Zeiten ins Auge fassen. Aber man sieht dem Geheimnisvollen und tief Symbolischen dieser Bauwerke an, daß die Menschen sozusagen erst etwas brauchten, um den Weg zu finden durch diese Architektur hin­auf zu dem Göttlich-Geistigen. Sie brauchten dazu eine Vorbereitung:

sie mußten auf der ersten Stufe der Einweihung sein. So ist auch die Architektur Vorderasiens zu verstehen.

Und für unsere Zeit konnten wir sagen, daß die Grundnuance für die Architektur abgegeben worden ist durch die Gotik. Das ist eine okkulte Tatsache. Einen gotischen Dom sich zu denken wie einen griechischen Tempel ist unmöglich. Denn ein gotischer Dom ist ge­rade unvollkommen, wenn die gläubige Gemeinde nicht da ist. Da läßt sie sich nicht wegdenken! Und alle Formen sind so, daß sie auf­nehmen sollen die Gebete der Gläubigen, aber der Gläubigen im Gegen-satze zu den Eingeweihten bei den alten Ägyptern. Wer solche Dinge beurteilen kann, der weiß aus dem Gange, den die Entwickelung der Form genommen hat von dem ägyptischen Tempel durch den grie­chischen Tempel bis zu dem gotischen Dome hin : Da ist eingetreten, hat Platz gegriffen der Impuls, der hinaufgeführt hat bis zum mensch­lichen Ich! Das ließe sich auf allen Gebieten zeigen, wie der Christus-Impuls die Menschen erfaßt, wie er sich einprägt in alles Geschehen und alles Werden, und es erscheint geradezu grotesk, wenn allerlei philosophische und theologisierende Weltanschauungen glauben

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sagen zu können, es hinge die Annahme eines Christus-Impulses ab von irgendeiner historischen Urkunde. Sie hängt gar nicht ab von irgendwelchen historischen Urkunden, sondern nur von einer ver­ständnisvollen, sinnvollen Betrachtung der Menschheitsentwickelung. Denn, wo man sie anfaßt, da merkt man, daß derselbe Gang statt­gefunden hat, der in bezug auf die Architektur stattgefunden hat. Der Eingeweihte, der allein die Architekturformen der ägyptisch-chal­däischen Zeit, der dritten nachatlantischen Periode verstehen konnte, wußte, daß er sich zuerst über das gewöhnliche Menschentum erheben muß : dann konnte er hinaufkommen in die Region des göttlich-geistigen Lebens. Der Eingeweihte, der im vierten nachatlantischen Kulturzeitraum lebte, wußte : er lebt in der physischen Welt mit dem Göttlichen zusammen, aber er hat die geringste Verbindung mit dem, was die Griechen die Schattenwelt nannten, weil eben die Menschen weiter heruntergestiegen sind in die physische Welt. Und wenn sich die Götter nicht vereinigten mit den Menschen in den Tempeln, so gäbe es für die Empfindungen der Griechen keine solche Verbindung.

Das ist anders geworden nach dem vierten nachatlantischen Kultur-zeitraum. Das ist so geworden, daß eine jegliche Seele, so wie sie ist, den Weg finden kann zum Göttlich-Geistigen. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir dies ins Auge fassen, denn es ist ja nur der aller­konkreteste Ausdruck für die Tatsache, daß die Menschen in uralten Zeiten mit ihrem ganzen Bewußtsein, Wissen und Seelenleben noch näher dem Geistigen waren, dann heruntergestiegen sind auf den physischen Plan und nun wieder nach und nach hinaufzusteigen haben. Und wir stehen in jenem Zeitalter, in dem das Aufsteigen - während der Christus-Impuls zunächst unbewußt die Menschen getrieben hat

- bewußt stattfinden muß.

Dann wissen wir, daß in unserer Zeit eine Art Wiederholung des ägyptisch-chaldäischen Zeitraumes vorhanden ist. Der griechisch-lateinische Zeitraum steht in den sieben aufeinanderfolgenden Kultur-zeiträumen für sich da. Er kann nicht wiederkehren, denn er ist eine Mitte. Der dritte Kulturzeitraum kehrt in einer gewissen Weise in unserer Zeit wieder. Der zweite, urpersische, wird in der sechsten Kulturepoche wiederkehren, welche die unsrige ablösen wird. Und

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der erste, der urindische Zeitraum, wird in der siebenten Kulturepoche, zu der wir hinblicken in einer fernen Menschenzukunft, vor einer großen, ungeheuren Katastrophe wiederkehren, nicht in derselben Weise, doch so, daß dem allem, was vorher da war, bei der Wieder­holung der Christus-Impuls aufgedrückt sein wird.

Ein Bewußtsein von dem, was mit der Menschheitsentwickelung geschehen ist, war im Grunde genommen namentlich in älteren Zeiten vorhanden. Ältere Zeiten konnten natürlich hauptsächlich sich bewußt sein des Herabstieges der Menschheit, des Herabstieges von den gött-lich-geistigen Höhen zum physischen Plan. Nun bereitet sich ja alles vor. Alles geschieht nach und nach. Und auch der Impuls zum Wieder-aufstieg, der ja allerdings erst mit dem Mysterium von Golgatha im vierten nachatlantischen Zeitraum gegeben ist, bereitete sich schon früher vor. Er hatte als Impuls seine Vorläufer. Wir haben eine ge­wisse Vorläuferschaft betrachtet mit den Gestalten des Elias, Johannes des Täufers unter anderen. Aber nicht nur innerhalb der Kultur, die dann ins Abendland eingelaufen ist, sondern innerhalb aller Kulturen finden wir ein Bewußtsein davon, daß die Menschheit heruntergestie­gen ist von göttlich-geistigen Höhen und in der Zukunft schauen muß

- insofern die Zukunft herankommt - einen neuen Aufstieg in die göttlich-geistigen Welten. Wenn wir eine charakteristische Anschau­ung der verschiedensten Völker ins Auge fassen wollen, die uns so recht erklären kann, wie die Menschen sich über das eben Genannte Vorstellungen machten in der Zeit, so brauchen wir nur eine Tatsache hervorzuheben, von der die Überlieferungen eigentlich aller Völker sprechen, die allerdings auf Verschiedenstes bezogen werden kann, die aber in ihrer letzten Phase eben auf etwas ganz Bestimmtes zu be­ziehen ist, eine Tatsache, über die viel nachgedacht worden ist und über die man erst ins klare kommt, wenn man im okkulten Sinne über sie nachdenken wird, nämlich die Sintflutüberlieferung. Gewiß, es verbindet sich mit dieser Sintflutüberlieferung vielerlei, was sich auf frühere Zeiten bezieht. Aber eines ist okkult zu verfolgen, daß die Völker - und fast alle Völker, die gute historische Denkmäler oder Sagen hinterlassen haben - eine Zeit, die ungefähr dreitausend Jahre vor dem Mysterium von Golgatha liegt, ansetzen für das Stattfinden

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der Sintflut. So daß, wenn wir von da aus dreitausend Jahre zurück­gehen, wir zu dem kommen, was die Sintflutsage als letztes Ereignis, das sie meinte, eben im Auge hatte. Nun würde heute die Zeit nicht hinreichen, um die Gründe darzulegen, daß mit dieser letzten Sintflut, die dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung liegen soll, keine große Katastrophe, keine Überschwemmung im physischen Sinne gemeint sein kann. Daß damit auch nicht die atlantische Katastrophe gemeint ist, ist selbstverständlich, denn diese liegt ja noch weiter zu­rück. Es muß also damit etwas ganz anderes gemeint sein. Aber den­noch, die Tatsache sollte nicht aus den Augen verloren werden, daß die Überlieferungen aller Völker, die in Betracht kommen, in das vierte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung - die Zeiten stimmen zwar nicht genau, aber im wesentlichen überein - die Sintflut ver­setzen.

Warum das? Da bitte ich Sie, sich an eine Sache zu erinnern, die ich öfter ausgeführt habe : daß für die Anschauung der ersten nachatlan­tischen Kulturperiode, deren Lehrer die großen heiligen Rishis waren, der menschliche Ätherleib in Betracht kommt, der damals hauptsäch­lich tätig war, während in der urpersischen Kulturzeit der mensch­liche Astralleib, der Empfindungsleib besonders tätig war, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit die Empfindungsseele, in der griechisch-lateinischen Zeit die Verstandes- oder Gemütsseele, in unserer heuti­gen Epoche die Bewußtseinsseele, und jetzt gehen wir der Zeit ent­gegen, in welcher nach und nach in der Kulturerscheinung das hervor­tritt, was wir das Geistselbst nennen. Indem sich der Mensch so ent­wickelte, ging mit dem, was seine Seele erlebte, etwas sehr Bedeut­sames vor. Denken Sie nur einmal, daß der alte Inder, der Urinder, von dem die Veden nichts mehr wissen, sozusagen so die Welt an­schaute, wie sich dieses Weltbild ergab, wenn vorzugsweise der Äther­leib tätig war. Denn durch den Ätherleib kann der Mensch nicht so nach außen schauen, wie er heute nach außen schaut. Er kann nicht eine solche Anschauung, ein solches Weltbild gewinnen, wie es das heutige ist, sondern durch den Ätherleib kommt alles von innen. Der heutige Mensch bekommt nur noch ein schwaches, mattes Bild von der Art, wie die Anschauung durch den Ätherleib zustande kommt,

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wenn er sich erinnert, wie seine Träume sind. Nur waren das im höch­sten Grade lebendige Träume und Visionen, was in der urindischen Zeit die Menschen voneinander wußten. Begegnete ein Mensch dem andern auf dem Wege, so konnte er ihn nicht mit dem äußeren Auge so sehen wie heute. Das zu glauben, wäre ein Vorurteil. Allerdings, er sah ein Bild, das er vor sich hatte. Der Mensch war noch umgeben von einer Art aurischen Wolke, und was er physisch vor sich hatte, war wie in eine Art Nebel eingehüllt. Er nahm ganz anders wahr. Und bei dem, was gegenüber der heutigen Auffassung in verschwom­menen Bildern wahrgenommen wurde - dieses Wahrgenommene hatte dagegen geistig die höchste Bedeutung -, war das Klare für die alten Zeiten das, was aus dem Weltenraume, aus der Sternenwelt herunter-strömte.

Für die zweite nachatlantische Kulturperiode kam nach und nach die Fähigkeit durch, nach außen zu schauen, aber merkwürdigerweise blieb die Fähigkeit, in den Weltenraum hinauszuschauen, noch be­stehen. Während nach unten noch alles verschwommen blieb, schaute der alte Perser klar in die Sternenwelt. Daher ist es verständlich, daß der Zarathustrismus die Menschen gleich auf das, was aus demWelten­raume kommt, auf das Sonnenlicht hinwies in seinem Ahura Mazdao, dem Ormuzd. Das kam deshalb, weil dasjenige jetzt tätig war, was wir den astralischen Leib nennen. Am Ende dieses Zeitraumes bereitete sich schon das vor, nach außen zu schauen. Langsam kommen die Impulse heran, die Dinge so zu sehen, wie jetzt gesehen wird. Also der Impuls wurde der Menschheit gegeben, nach und nach auf den phy­sischen Plan hinauszuschauen. Und dieser Impuls kam an die Men­schen so heran, daß die Menschen allmählich zu einer ganz neuen Art des Anschauens übergingen, nach und nach dämmerte das bei der Menschheit auf. Und zwar in der folgenden Weise.

Wenn wir das, was die Menschen empfanden, was man als das Auf-dämmern bezeichnen könnte, charakterisieren wollten, so könnten wir sagen : Als der urpersische Zeitraum zu Ende ging und der nächste wie eine Zukunftsmorgenröte heraufglänzte, da empfanden die Men­schen : Wir werden nicht mehr so stark erleben, was als göttliches Erb­stück aus alten Zeiten uns geworden ist, was innerliches menschliches

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Schauen ist, was visionäres Hellsehen ist, wo die Menschheit zu­sammengelebt hat in der atlantischen Zeit mit den göttlich-geistigen Welten. - Zurück haben die Menschen geschaut. Das Wichtigste für sie waren Erinnerungen, in denen auftauchte, gleich lebendigen Traumbildern, wie die Götter die Welt geformt hatten durch die le­murische und atlantische Zeit hindurch. Diese Erinnerungen wurden als etwas, was sich von der Menschheit zurückzog, empfunden, was allmählich verglomm. Und man empfand, daß jetzt etwas kommen wird, wo der Mensch eingreifen muß mit dem, was in ihm spricht über die Außenwelt, was ihm verdunkelt die Helle der inneren Geisteswelt, und was ihn zwingt, von innen nach außen zu schauen, um die äußere Welt als die seinige zu haben. Immer mehr kam diese Zeit heran. Und am meisten, am klarsten, möchte man sagen, empfanden es die, welche dazumal zu den Wissenden im alten Indien gehörten. Sie empfanden es wie eine Art von göttlichem Impuls, der da herankam an die Men­schen, der so wirkte, daß er den Menschen nötigte durch sich selbst, durch das menschliche Hinaustreten in die physische Welt, in sich zu denken, was ihm da in der physischen Welt entgegenkam. Diesen göttlichen Impuls, als eine göttliche Wesenheit denkend, faßten die Nachfolger des alten Indertums - die also jetzt während des zweiten Kulturzeitraumes lebten - so auf, daß sie diese Wesenheit nannten Pramati. Und so etwa würde man mit einem alten Inder, der in jenem Zeitalter lebte, empfunden haben : Es kommt Gottheit Pramati heran. Sie entreißt den Menschen der alten Führung durch die alten Götter; sie macht verschwinden, was durch inneres Hellsehen von der Welt gewonnen worden ist, sie zwingt den Menschen hinauszusehen in den physischen Plan. Die alte Götterwelt verdunkelt sich. Heran kommt eine Zeit, in welcher die Menschen nicht mehr aus ihren Seelen heraus in die Götterwelt sehen können, sondern wo sie in die äußere Welt sehen werden. Heran kommt Kali Yuga~ das «schwarze Zeitalter», das nicht mehr helle, weiße Zeitalter der alten Göttlichkeit, das Zeitalter~ in dem sich die alten Götter zurückziehen, das da eingeleitet wird durch Gottheit Pramati!

Kali Yuga : es wurde empfunden, indem man es anfangen ließ 3101 vor unserer Zeitrechnung, also gerade in der Zeit, in welche die indische

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Überlieferung auch die Sintflut versetzt. Denn sie sagte, die Sintflut fällt zusammen mit dem Herankommen des Kali Yuga. Und Kali Yuga wurde aufgefaßt als die Nachkommenschaft des Gottes Pramati.

Kall Yuga ist hereingebrochen. Wir wissen, daß erst in unserer Zeit das Kali Yuga zu Ende gegangen ist, und daß wir jetzt den Aufstieg finden müssen in die geistige Welt und daß es deshalb eine geistige Wissenschaft gibt! Denn, wie das Kall Yuga 3101 vor unserer Zeit­rechnung begonnen hat, so hat es geendet im Jahre 1899. Deshalb ist 1899 ein wichtiges Jahr. Daher muß die Menschheit ihr Zukunftsideal so auffassen, daß sie jetzt wieder hinaufsteigen muß in die geistigen Welten.

Jenes Zeitalter, das dem Heraufkommen des Kali Yuga voranging, war aber auch dasjenige, das charakteristisch ist für die urpersische Zeit, wo man durch den Astralleib noch hinaufempfand die alten Er­innerungen. Jetzt aber mußte man sich nach außen wenden. Das war ein gewaltiger Übergang. Der vollzog sich bei vielen Menschen so, daß sie eine Zeitlang überhaupt nichts sahen, daß Finsternis durch die menschlichen Entwickelungskräfte sich ausbreitete überdie Menschen­seelen. Nicht durch lange Zeiten hindurch, sondern in der Tat nur durch Wochen währte diese Verfinsterung, dieser Schlafzustand, den die Menschheit durchgemacht hatte. Aber sie machte eben diesen Schlafzustand durch, und aus demselben kamen viele nicht wieder heraus. Es gingen viele dabei zugrunde, und nur wenige blieben zu­rück an den verschiedensten Punkten der Erde. Es reicht heute die Zeit nicht aus, um zu schildern, was für Zustände da auftraten. Kurz kann nur gesagt werden, daß die Zustände dadurch, daß eine große Anzahl von Menschen zugrunde ging, sehr, sehr unheimliche waren, und nur an wenigen Punkten der Erde wachten die Menschen aus der großen geistigen Flut wieder auf, die sich wie ein Schlaf über die Seelen ausbreitete. Und diesen Schlafzustand empfanden die meisten Seelen wie ein Ertrinken - und nur wenige wie einen Wiederaufgang. Dann kam eben das «schwarze Zeitalter», das entgötterte Zeitalter.

Haben noch andere Menschen auf der Erde von dieser Tatsache gewußt?

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Ja! Wir könnten herumgehen bei den verschiedenen Völkern und würden zu unserem Erstaunen finden, wie in den weitesten Kreisen die Menschen allerdings gewußt haben, daß die Sache so ist, daß eine Überflutung des Bewußtseins stattgefunden hat und daß im dritten nachatlantischen Kulturzeitalter durch die besondere Entwickelung der Empfindungs seele - das heißt durch das Schauen nach außen - etwas ganz Neues eintreten mußte. Die Inder haben es empfunden, indem sie sagten : Kali Yuga geht hervor als eine Nachfolgeschaft von Pra­mati. Wie haben die Griechen gesagt? Ganz dasselbe. Bei ihnen heißt Pramati nur Prometheus, was ganz dasselbe ist. Er ist der Bruder von Epimetheus. Dieser repräsentiert noch, was zurückschaut in die ur­alten Zeiten. Epimetheus ist der«Nachdenkende», Prometheus ist der, welcher schon vorherdenken muß in seinen Gedanken was draußen ist und draußen sich vollzieht. Und ebenso wie Pramati die Nach­kommenschaft im Kali Yuga hat, so hat Prometheus seine Nachfolge-schaft : wir brauchen uns nur das Wort «Kali Yuga» dem Griechischen entsprechend zu bilden; da ist es «Kalion», und weil die Griechen empfanden, daß es das Zeitalter des schwarzen Göttlichen ist, müssen wir das «Deu» - deus - voraussetzen und wir bekommen «Deuka­lion». Das ist dasselbe Wort wie Kali Yuga. Wir haben es dabei nicht mit einer Ausspintisiererei zu tun, sondern mit einer okkulten Tat­sache. Daraus sehen wir also, daß die Griechen dasselbe wissen, was auch die Inder wissen. Das sei nur als ein Beispiel angeführt~ das uns zeigen kann, wie die Menschen in ihren uralten heliseherischen Zu­ständen wohl wußten, um was es sich handelt, und wie sie in gewalti­gen Bildern zum Ausdruck zu bringen wußten, was vorging. Denn die griechische Sage erzählt uns, wie Deukalion sich auf den Rat seines Vaters Prometheus einen hölzernen Kasten baute; in diesem rettete er sich und seine Gattin Pyrrha allein aus dem Untergange, als Zeus das Menschengeschlecht durch eine Flut vertilgen wollte. Deukalion und Pyrrha~ die dann auf dem Parnaß gelandet wurden, sind so für die Griechen der Ausgang des neuen Menschengeschlechtes. Deukalion ist der Sohn des Prometheus. Und dazwischen fällt die «Flut »~ die für die verschiedensten Völker sich zugetragen hat als ein Vorgang im Bewußtseinszustand.

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Das ist gerade das Eigenartige, daß wir, wenn wir uns in diese wunderbaren Bilder vertiefen, die uns die Überlieferungen der ver­schiedenen Völker erhalten haben~ darauf kommen, wie bei diesen verschiedenen Völkern die Wahrheit über die Entwickelung der Menschheit lebte.

Damit nun, daß die Menschen allmählich herauskamen zu dem Zeit­alter des Kali Yuga, daß sie eintraten in den dritten nachatlantischen Kulturzeitraum, gingen die alten heilseherischen Erkenntnisse ver­loren. Und wir, die wir den dritten Kulturzeitraum zu wiederholen haben, müssen eben diese Erkenntnisse nun in einer neuen Form wiedererstehen sehen. Wir haben ein charakteristisches Beispiel vor vierzehn Tagen angeführt~ wie sich diese Erkenntnisse wieder ergeben. Wir haben gezeigt, wie diejenige Kultur, die wir als die abendländische, aber mit ihrem Ausgangspunkte in die althebräische hineinlaufend zu denken haben, zunächst die einzelne Persönlichkeit ins Auge gefaßt hat, wie sie, weil ja auf dem physischen Plan nur die einzelne Persön­lichkeit zwischen Geburt und Tod gegeben ist, ihr Hauptaugenmerk nicht auf das richten kann~ was durch die verschiedenen Epochen geht, sondern nur auf das Dasein der Einzelpersönlichkeit, da ja das Leben zwischen Geburt und Tod nicht auf den höheren Planen ver­fließt, sondern auf dem physischen. Jetzt müssen wir empfinden : weil das Kali Yuga zu Ende gegangen ist, deshalb ist es als ein Gebot der Entwickelung der Menschheit, zu empfinden, daß wir uns zum Be­wußtsein bringen müssen, was für die Menschheit notwendig ist : daß wir nach und nach heraufbringen müssen aus den Tiefen der For­schung, was während des Kali Yuga verlorengegangen ist. Ich habe gezeigt, wie wir nach und nach wieder die fortlaufende Individualität betrachten müssen, habe gezeigt, wie das Abendland eine auseinander­fallende Individualreihe hatte - Elias, Johannes der Täufer, Raffael, Novalis - und wie wir jetzt, indem wir hinzufügen, was uns aus den geistigen Welten wird, den fortlaufenden Faden der Seele, die fort­laufende Individualität uns vor Augen führen, die dieselbe ist in Elias, Johannes dem Täufer, Raffael und Novalis.

In dieser Beziehung müssen wir uns nur ganz klar sein, daß wir innerhalb unserer geistigen Bewegung bewußt diese Mission anstreben

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müssen und daß die Erdenentwickelung, die Erdenkultur diese Mission braucht. Denn durch das bloße Fortleben der alten Er­eignisse und der alten Erkenntnisse würde die Fortentwickelung der Kultur nicht geschehen können. Ich habe auch genügend hervor­gehoben, was es für das menschliche Gemüt bedeutet, zu bereichern, zu befruchten, was aus den alten Zeiten gekommen ist, mit dem neu wieder zu Gewinnenden. Aber wir müssen uns klar sein, daß wir uns allerdings - wie es für die Menschen ganz außerordentlich bedeutsam war, einen Übergang zu erleben von dem Leben im Astralleibe zu dem geistigen Leben der Seele vorzugsweise in der Empfindungsseele -jetzt allmählich herausarbeiten von dem Leben in der Bewußtseins-seele zu dem Leben im Geistselbst hinein. Ich habe es öfter angedeutet, wodurch das Eintreten in das Geistselbst erscheint. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Leute, welche die Erscheinung des Christus-Impulses erleben werden in den nächsten dreitausend Jahren, immer zahlreicher werden, daß die Menschen allmählich fähig werden, in den geistigen Welten den Christus-Impuls zu erleben. Aber das ganze Er-leben und Hereinströmen der geistigen Welt wird etwas sein, mit dem sich die Menschen im Verlaufe der nächsten Epoche immer mehr und mehr werden bekanntzumachen haben. Und es wird nicht genügen, daß man zum Beispiel theoretisch wisse, daß die Menschen im all­gemeinen nach dem Tode fortleben, sondern man wird empfinden~ daß das ganze Leben, die ganze Lebensbetrachtung~ das ganze Lebens-bild in jene Anschauung gestellt werden muß, die da weiß : Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, lebt er weiter fort; es ist nur ein Übergang. Wenn ein Mensch noch nicht gestorben ist -das wird man immer mehr und mehr zeigen, nicht als eine Theorie, sondern als ein Wissen -, so wirkt er physisch auf uns durch seinen Leib, wenn er gestorben ist, so wirkt er geistig aus der geistigen Welt auf unsere physische Welt. Er ist da. Die Menschen werden lernen, das Leben in das Licht solcher Tatsache zu stellen und mit den ent­sprechenden Tatsachen zu rechnen.

Nehmen wir einmal an, man hat Kinder zu erziehen. Wer solche Tatsachen kennt, der weiß, daß es etwas ganz anderes ist, Kinder zu erziehen, die bis zum zwanzigsten Jahre ihre Eltern haben, oder solche

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Kinder, deren Vater gestorben ist, als sie vielleicht drei oder fünf Jahre alt waren. Wenn man die Erziehung ernst nimmt und auf die Indivi­dualität der Kinder eingeht - das ist keine Spekulation -, besonders wenn man es zu tun hat mit Kindern, die man zu unterrichten hat, nachdem der Vater gestorben ist, dann wird man sich manchmal klar werden können : Es ist etwas Eigentümliches da, womit man nicht zu­recht kommt. - Und man wird damit auch nicht zurecht kommen, wenn man die gewöhnlichen Denkgewohnheiten aus dem Materialis­mus nimmt. Aber der Mensch kann sich jetzt denken : Da gibt es eine so sonderbare Zeitströmung. Die meisten sehen ja die Menschen, welche sich dazu bekennen, als eine Art Narren an; aber wir wollen doch einmal sehen, was diese Theosophen sagen über die Schicksale von Menschen in der Zeit nach dem Tode. Da kann man finden, daß diese zwar mit dem Tode ihre physischen Leiber abgeworfen haben, daß aber das, was Inhalt ihrer Seele ist, was ihre Hoffnungen sind und so weiter, noch da ist, daß es aber auch wirkt, daß es nicht unwirksam ist. Ja oftmals ist es viel wirksamer nach dem Tode, als es beim Men­schen ist, solange er auf dem physischen Plane ist, wo er durch seine Leiblichkeit eingeschlossen ist. - So, jetzt hat man es nachgesehen, was durch die Geistesforschung gesagt wird und weiß : also wirkt ja der Vater von der geistigen Welt aus herein auf die Kinder I Er hat bestimmte Hoffnungen und Sehnsuchten in bezug auf die Kinder; die stromen ein in das Leben der Kinder. Wenn man das nun nimmt, was man wissen kann~ dann kommt man mit dem, womit man vorher nicht zurecht kam, nun zurecht und weiß, welche Sympathien und Anti­pathien da bei den Kindern auftreten, und womit man zu rechnen hat. Man kommt erst zurecht mit Kindern, wenn man nicht nur weiß, daß die Luft auf die Menschen wirkt und daß man sich bei kühier Luft erkälten kann, sondern wenn man weiß, was alles aus der geistigen Welt hereinspielt in die physische und wie es hereinspielt.

Heute gilt das, was ich jetzt gesagt habe, noch als eine Narretei. Aber die Zeit wird nicht ferne sein~ da die Tatsachen des Lebens die Menschen zwingen werden, mit diesen Tatsachen zu rechnen, lebendig zu beobachten und mit dem~ was übrigbleibt, wenn die Menschen durch die Pforte des Todes gegangen sind, als mit wirksamen Ursachen

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zu rechnen. Dann wird man in das Konkrete der spirituellen Weltanschauung erst hineinkommen.

Dieses Hereinwirken von Menschen aus der geistigen Welt ist natürlich nicht nur bei Kindern der Fall, sondern auch bei denen, die einen Menschen umgeben haben im späteren Alter ist es so, daß die Individualitäten hereinwirken, die in einer geistigen Welt sind. Zu­nächst weiß der Mensch gar nicht, daß sie hereinwirken. Ich erzähle wieder nicht irgend etwas Ausgedachtes~ sondern etwas~ das real be­obachtet ist~ das tatsächlich geisteswissenschaftlich konstatiert ist. Da wird sich ein Mensch bewußt : Ich weiß nicht, warum ich jetzt zu diesem oder jenem gedrängt werde, weshalb ich diesen oder jenen Impuls habe, ich muß jetzt über gewisse Dinge anders denken als früher! - Nach einiger Zeit hat er einen sehr bedeutsamen Traum. Heute wird man noch nicht viel darauf geben, aber darauf kommt es nicht an. Man wird nach und nach merken, daß es auf die Form des Traumes nicht ankommt, sondern auf seinen Inhalt. Das können Sie daraus entnehmen : wenn Edison seine Erfindungen im Traume ge­macht hätte, so wäre es in bezug auf die Erfindungen geradesogut. -So denken wir uns, es habe jemand den Traum, es erscheine ihm eine Persönlichkeit, die ihm unbekannt ist, an die er gar nicht denken könnte wie an eine bekannte, eine Persönlichkeit, von der er nicht weiß, wo er sie hinbringen soll. Sie tritt in sein Traumieben herein, und es geschieht dies und das. Und jetzt weiß er, daß die Persönlich­keit - nicht daß er sich an sie erinnern könnte -~ die vielleicht schon vor fünfzehn Jahren gestorben ist, in sein Leben hereinwirkt. Früher hat er es an den Impulsen gemerkt, durch die er getrieben worden ist, jetzt merkt er es, daß sie als Traumbild in sein nächtiges Bewußtsein hereinwirkt. Das ist oft charakteristisch für den Zusammenhang von Impulsen, die in uns leben, und dem, was als Traum auf uns wirkt. Diese Dinge werden sich einleben. Und jetzt zum Schluß noch, wie sie sich einleben werden.

Nehmen Sie an, es liest jemand heute noch eine der vielen Biogra­phien von Raffael. Dann wird er den Eindruck bekommen, daß Raffael in einer gewissen Beziehung wie eine Erscheinung dasteht, in sich ab­geschlossen, aus sich ihr Bestes gebend, aber auf dem Gebiete, wo sie

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wirkt, eben so abgeschlossen, daß sie sich nicht gesteigert denken läßt, daß sie nicht über das betreffende Niveau hinausgehend gedacht werden kann. Und wieder : wenn wir die eigentümliche Art von Raffaels Schaffen betrachten, so ist sie auf einmal da. Und wie sie ganz merkwürdig beim jungen Raffael entsteht, darüber läßt die Bio­graphie eine Lücke. Warum?

Die Biographen erzählen, daß Raffael den Giovanni Santi zum Vater hatte, der neben anderm auch ein Schriftsteller war, und der starb, als Raffael elf Jahre war, den Knaben aber vorher zu einem Maler in die Lehre gebracht hatte. Wir wissen auch, was für ein Maler, von was für einer Begabung in der Malerei Giovarni Santi war. Wir wissen aber auch, daß in ihm etwas steckte, was bei ihm nicht herauskommen konnte. Wenn man ins Auge faßt, was in seiner Seele lebte, so hat man das Gefühl : in ihm steckte etwas, was nicht herauskam, weil die äußere Natur dafür ein Hindernis war. Nun stirbt er, als der Knabe Raffael elf Jahre ist. Wenn wir nun verfolgen, wie die Entwickelung Raffaels weitergeht, so wissen wir, woher die Kräfte kommen, die Raffael dahin bringen, so rasch zur Vollendung zu kommen, eine Ganzheit zu werden, wir wissen, es sind die Kräfte, die aus der geistigen Welt von seinem Vater hereinkommen! Und wer künftig eine Biographie Raffaels geben will, der wird schreiben müssen : Giovanni Santi war der Vater Raffaels, der elf Jahre alt war, als sein Vater 1494 starb. Dieser war ein ausgezeichneter Mensch, der zeit seines Lebens Außer-ordentliches wollte. Und viel wollte er, als er ungehindert in der gei­stigen Welt war und zu dem geliebten Sohne seine Impulse - bis in die feinsten, intimen geistigen Dinge hinein - über das sandte, wor­über ihn selbst seine äußere Organisation das auszusprechen in der physischen Welt hinderte.

Das ist natürlich keine Herabwürdigung des Genies Raffaels, denn selbstverständlich mußte der Grund vorhanden sein. Wir wissen, daß er die Wiederverkörperung von Johannes dem Täufer war, daß also nur das Spezifische hineingegossen werden mußte, was da heraus­kommen sollte. Wenn wir das ins Auge fassen, dann sehen wir das Zusammenwirken von der geistigen Welt und dem physischen Plan. Auf Schritt und Tritt wird man in der Zukunft bei der Betrachtung

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des Lebens Raffaels dasjenige einfügen müssen, was aus der geistigen Welt in die physische hereinwirkt. Dann wird man vor einem Ganzen der Welt stehen~ die in uns~ um uns, durch uns wirkt. So führen wir die Spintualität wiederum in unsere Kultur ein. Deshalb dürfen wir uns aber auch nicht verwundern, wenn die, welche heute nichts von dieser Einführung der Spiritualität in unsere Kultur hören wollen, eben recht schnöde noch diese spirituelle Weltanschauung behandeln; denn es ist etwas völlig Neues. Es ist ein Auftauchen der neuen Kraft des Geistselbst des Menschen. Und es wird eine Zeit kommen - und ich bitte Sie, diese Tatsache recht sehr in Ihr Gemüt hineinzuschrei­ben -, in welcher die Menschen über die jetzt zu Ende gehende mate­rialistische Kultur gerade so denken werden, wie man einst gedacht hat über die der Sintflut vorangegangene Zeit und nach der kommen­den Kultur sich sehnte, als etwas ganz Neues da kam. Die Theosophen aber sollen sich nicht nur ein theoretisches Verhältnis zu solchem Ideal suchen, sondern es aufnehmen in ihr Herz, in ihr Gemüt; sie sollten sich klar sein, daß es ihr gutes Karma ist, zu wissen von dem Gange der Menschheit, der der Gang der menschlichen Kultur ist.

Solche Empfindungen wollen wir in unsere Seelen einschreiben, da ich jetzt noch nicht sagen kann, wann wir diese Betrachtung fortsetzen können. Aber wir wissen ja, daß viel Zeit dazugehört, um das, was uns auf dem Felde der Geisteswissenschaft entgegentritt, einfließen zu lassen in unsere ganze Gemütsentwickelung und Gemütsimpulse, und daß es zu unserer spirituellen Entfaltung gehört, daß wir die großen Wahrheiten nicht nur verstehen, sondern daß auch in unserem Gemüt das entwickelt wird, was die großen Ideen einer geistgemäßen Welt­anschauung unserem Gemüte sagen können.

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ACHTER VORTRAG Berlin, 18.Juni 1912

Es soll heute meine Aufgabe sein, einige Ausführungen zu machen über den Menschen, damit wir dann mit diesen Ausführungen das nächste Mal in einige Betrachtungen eintreten können, welche zum Verständnisse der ganzen menschlichen Entwickelung einiges bei­tragen können.

Der Ausgangspunkt soll von dem genommen werden, was zunächst für die Betrachtung des Menschen, so wie er auf der Erde vor uns steht, wichtig und bedeutsam ist. Voraus muß ich bemerken, daß Sie ja wissen, daß der Mensch, so wie er vor uns steht, nicht bloß ein Erdengeschöpf ist, sondern einen Ursprung hat, den wir, wenn wir ihn voll verstehen wollen, auch auf vorhergehende Zustände der Erdenentwickelung selber zurückführen müssen. Sie finden es in den verschiedenen Schriften dargestellt, und es ist oftmals davon auch hier Erwähnung geschehen, daß wir mit den Mitteln der geisteswissenschaftlichen Forschung die vorhergehenden Entwickelungs­zustände, gleichsam die Vorherverkörperungen unseres Erdenplane­ten verfolgen können und daß wir sie unterscheiden nach den Be­nennungen, die sich uns in mannigfaltiger Weise als zulässig ergeben haben als den vorirdischen Saturnzustand der Erde, als den vorirdi­schen Sonnenzustand und als den vorirdischen Mondenzustand. Und wir wissen, daß das, was an Kräften im heutigen Gesamtmenschen drinnen ist, nicht bloß von dem herrührt, was auf der Erde wirksam war, sondern daß im Menschen drinnenstecken die Erbstücke aus den früheren Verkörperungen unseres Erdenplaneten. Sie sind geblieben, sie wirken in der menschlichen Natur. Und den gesamten Menschen verstehen wir nur, wenn wir zum Beispiel wissen, daß der physische Leib seine erste Anlage auf dem alten Saturn erhalten hat, während der alten Sonnenzeit und der alten Mondenzeit sich dann weiterent­wickelt hat, und daß die gegenwärtige Form des menschlichen Leibes erst ein Erdenprodukt ist. Ebenso wissen wir von den andern Gliedern der Menschennatur, daß nicht bloß das in ihnen tätig ist, was auf der

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Erde an Kräften erst entstanden ist~ sondern was durchaus Erbschaft ist aus vorirdischen Zeiten. Heute aber wollen wir zunächst dasjenige in Betracht ziehen, was am Menschen insofern ins Auge gefaßt werden muß, als der Mensch ein Erdengeschöpf ist, als er hier auf dieser Erde lebt. Das ist sozusagen dasjenige, was vermöge der Mission der Erde dem Menschen während dieser Erdenzeit einverleibt wird.

Nun können wir das, was der Mensch vorzugsweise von der Erde hat, zunächst in drei Glieder bringen, in drei Teile bringen. Das erste, was der Mensch von der Erde hat, was er den gegenwärtigen Kräften der Erde verdankt, ist sein gegenwärtiges Erdenbewußtsein, also das­jenige, was dem Menschen zunächst, so wie er heute unter uns wan­delt, das Allerallernächste isti Und es mußten die Ereignisse, die Tat­sachen, die im Laufe der Erdenentwickelung geschehen sind, sich alle so abspielen, wie sie sich eben abgespielt haben und wie wir sie des öfteren beschrieben haben, damit sich der Mensch hier auf der Erde sein eben gegenwärtiges Bewußtsein erwerben konnte. Dieses Be­wußtsein ist sozusagen das Ihnen allen Allerbekannteste, das Bekann­teste, von dem Sie wissen : es ist dasjenige, in dem Sie leben vom Auf­wachen bis zum Einschlafen; es ist dasjenige, in dem Ihre Gedanken, Ihre Empfindungen, Ihre Gefühle, Ihre Willensimpulse ablaufen, in­sofern Sie ein wacher Mensch sind. Dieses Bewußtsein, das Sie alle sehr gut kennen, hatte als solches der Mensch in den vorirdischen Zuständen noch nicht, hatte es auch nicht in der ersten Zeit der Erden-entwickelung, die ja nur ein Wiederholen vorirdischer Zustände war. Er hat es sich nach und nach erworben, oder vielmehr, es ist ihm von den schöpferischen Weltenmächten und Weltenkräften verliehen worden.

Nun wissen wir, daß der Mensch, um dieses Bewußtsein zu haben, aufwachen muß und daß es notwendig ist, daß er sich seiner Sinne bedienen muß, das heißt der Werkzeuge des gegenwärtigen mensch­lichen Leibes. Er muß sich dazu auch anderer Werkzeuge als der Sinne im gegenwärtigen menschlichen Leibe bedienen, insbesondere wenn wir nicht bloß auf die Gedanken und Vorstellungen blicken, die sich der Mensch bildet, sondern auch darauf sehen, daß der Mensch auch Empfindungen, Gefühle und Willensimpulse in diesem alltäglichen

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Bewußtsein hat. Dann aber wissen wir, daß all dieser Inhalt des Be­wußtseins, alles dieses, was unser Bewußtsein ausfüllt und bildet, den äußeren physischen Leib, wie er ein Erdenleib ist, braucht. Es lebt und kann nur leben im äußeren physischen Leibe. So daß eine Vorstellung, die wir uns bilden, dadurch gebildet wird, daß sich das, was eigentlich nun der geistig-seelische Mensch ist, der Werkzeuge seines physischen Leibes bedient. Daraus werden Sie sich nun leicht den Gedanken bil­den können, daß dieses besondere Bewußtsein, zu dem der Mensch an jedem Morgen aufwacht, eben abhängig ist vom Erdenleibe. Sie werden auch leicht begreifen können, daß der Mensch so, wie er in diesem gewöhnlichen Bewußtsein vorstellt, fühlt oder will, nur vor­stellen, fühlen und wollen kann, wenn er den physischen Erdenleib als ein Werkzeug hat.

Wir haben öfter davon gesprochen, und Sie können es auch in der «Geheimwissenschaft im Umriß» lesen, daß die Bewußtseinszustände zwischen dem Tode und der neuen Geburt wesentlich andere sind als die irdischen Bewußtseinszustände. Denn das Bewußtsein ändert sich nach seinem Instrument, und zwischen dem Tode und der neuen Ge­burt stehen eben dem Menschen andere Werkzeuge zur Verfügung für sein eigentliches Geistes- und Seelenwesen, als wenn er im physi­schen Leibe ist. Nun wissen wir, daß dieser physische Leib, aus dem die Werkzeuge des gewöhnlichen, alltäglichen Bewußtseins gebildet sind, mit dem Tode zerfällt. Im Sinne der Geisteswissenschaft würde es besser sein, statt «zerfällt», zu sagen, daß er übergeben wird dem allgemeinen Naturelement. Denn, was Auflösung des physischen Lei­bes ist und als solche der äußeren Beobachtung erscheint, ist nur eine Illusion, eine Maja. Es liegt ein ganz großer, gewaltiger Prozeß gerade dem zugrunde, was man Verwesen oder Auflösen des menschlichen Leibes nennt. Das Natürliche wird Mächten übergeben, die hinter dem Dasein stehen. Aber dem Menschen, wie er als Erdenmensch ist, entschlüpft, entfällt sein physischer Leib mit dem Tode. So daß wir, insofern wir über den Menschen als Erdenmenschen sprechen, nur sagen können : das Werkzeug des alltäglichen Bewußtseins entfällt ihm mit dem Tode.

Da hätten wir das erste Glied des Erdenmenschen : sein Bewußtsein.

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Wenn wir nun den Erdenmenschen ganz betrachten, was er ist~ so müssen wir von dem, was man im gewöhnlichen Sinnensein Be­wußtsein nennt, etwas ganz davon loslösen, was durchaus nicht in demselben Sinne zum Bewußtsein zu rechnen ist, wie das gewöhnliche Vorstellen, Fühlen und Wollen. Wir müssen dasjenige loslösen, was wir mit dem Ausdruck Gedächtnis zusammenfassen. Diejenigen Vor­stellungen und Gefühle~ die wir aus dem Schatze unseres Gedächt­nisses, unserer Erinnerungen hervorholen, sind nicht denselben Ge­setzen unterworfen wie das Bewußtsein, von dem soeben gesprochen worden ist. Denn dieses Bewußtsein braucht, damit es überhaupt be­stehen kann, die Erhaltung des physischen Leibes in der Form, wie er einmal ist. Und Sie wissen aus mancherlei Darstellungen, die gegeben worden sind, daß in bezug auf seine Substanz der physische Leib sich fortwährend erneuert, daß nach sieben, acht Jahren ganz andere phy­sische Substanzen in uns sind als vorher, daß also die physischen Sub­stanzen ausgewechselt werden. Aber die Form bleibt. Und sie muß bleiben. Denn so wie sie ist, so ist sie Werkzeug für das gewöhnliche Bewußtsein. Und so lange können wir das gewöhnliche Bewußtsein für Denken, Fühlen und Wollen entfalten, als wir den physischen Leib in der entsprechenden Form haben. Aber das Gedächtnis, die Er­innerungen würden uns, wenn sie an den physischen Leib gebunden wären, nicht lange standhalten können. Das würden sie höchstens so lange können, als die einzelnen Substanzen des physischen Leibes uns standhalten können. Das heißt, wir würden uns höchstens sechs, sieben Jahre zurückerinnern können, wenn das Gedächtnis an den physischen Leib gebunden wäre. Das ist es aber nicht. Der physische Leib ist nicht Werkzeug des Gedächtnisses, sondern Werkzeug des Gedächtnisses ist für den Erdenmenschen der ätherische Leib, der Äther- oder Lebensleib. Und dieser ist es gerade, der im Erdenmenschen immer arbeitet. So daß immer - von unserem ersten Bewußtseinsaugenblicke an bis zu unserem Tode - dasjenige bleiben kann, was wir eben in unser Gedächtnis aufgenommen haben. Dieser Äther- oder Lebens-leib ist es also, der unsere Erinnerungen, unsere Gedächtnisvorstel­lungen von einer Lebensepoche in die andere hinüberträgt. Für das irdische Bewußtsein bedienen wir uns also als eines Werkzeuges des

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Erdenleibes; für die Erinnerungen bedienen wir uns als eines Werk­zeuges des ätherischen Leibes. Wir würden nicht durch die Zeit, die zwischen dem Tode und der neuen Geburt verläuft, die Erinnerungen an unser Leben über diese Zeit hinübertragen können, wenn nicht etwas ganz Bestimmtes eintreten würde : wenn wir nicht eine Zeitlang, nachdem wir mit dem Tode den physischen Leib verlassen haben, im Äther- oder Lebensleibe bleiben würden. Das ist eben die Zeit - ich habe es oft beschrieben -, in welcher das verflossene Leben nach un­serem Tode vor uns liegt wie ein großes Panorama, wie ein großes Tableau. Wir haben oft von diesem Lebenstableau gesprochen. Das­selbe kann uns nur dadurch erscheinen, daß wir unsern Ätherleib noch eine Zeitlang nach dem Tode haben. Denn dieser Ätherleib ist durch­aus eben das Werkzeug für die Erinnerungen. Würden wir ihn so­gleich im Tode oder nach dem Tode verlieren, so würden wir dieses Tableau nicht haben können. Wir müssen uns dieses Ätherleibes oder Lebensleibes als eines Werkzeuges bedienen können, und es geschieht etwas, während wir dieses Lebenstableau haben. Während wir dieses Lebenstableau nach unserem Tode in unserer Seele haben, wird dieses ganze Lebenstableau eingetragen, eingraviert gleichsam - wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf - in den allgemeinen, den Raum durchdringenden Lebensäther. Nun ist es da drinnen. Was wir erst einige Tage hindurch hielten, ist nun gleichsam aufgezeichnet in den allgemeinen Lebensäther, in dem wir leben, in dem wir immer sind. Dadurch, daß es da aufgezeichnet ist, daß es da drinnen ist, ist es für unser weiteres Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt eben vorhanden. Und wir nehmen einen Extrakt aus unserem Äther-leibe mit, das wissen wir, damit wir immer eine Verbindung herstellen können zwischen uns selbst und diesem in den allgemeinen Lebens-äther eingetragenen Lebenstableau. Das ist gleichsam unser fort-laufendes Organ, wodurch wir die Erinnerungen an unser letztes Leben immer haben können.

Daraus sehen Sie, daß wir in unserem Bewußtsein immer nur ein Gegenwärtiges haben können und daß unser Sein mit dem gegen­wärtigen Augenblick eigentlich verschwinden würde, wenn wir nur das Bewußtsein mit unserem Denken, Fühlen und Wollen als Erdenmenschen

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entfalten könnten. Daß wir dasjenige, was in Denken, Fühlen und Wollen lebt~ aufbewahren können, das verdanken wir dem Ätherleibe; und wir bewahren es dann sogar auf nach dem Tode in dem aligemeinen Lebensäther. Da haben wir das zweite Glied des menschlichen irdischen Daseins, dasjenige, was nicht wie das Erden-bewußtsein mit dem Augenblicke verläuft, sondern welches bestehen bleibt, welches sozusagen erhalten bleibt im allgemeinen Lebensäther. Wir haben also nunmehr schon für den Erdenmenschen zwei Glieder zu unterscheiden : sein Erdenbewußtsein und sein Gedächtnis oder seine Erinnerungen, die man nicht einfach mit dem Bewußtsein iden­tifizieren darf. Was ist denn nun das dritte Glied?

Das zweite Glied unterscheidet sich von dem ersten dadurch~ daß es die Dinge~ die erlebt werden, nicht einfach vorübergehen läßt, sondern sie aufbewahrt. Das dritte Glied des irdischen Menschen unterscheidet sich wiederum von dem zweiten in beträchtlicher Art. Wenn Sie Ihre Gedanken, insofern sie Erinnerungen werden, ins Auge fassen, so werden Sie sich sagen : Eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit haben diese Gedanken, welche Erinnerungen geworden sind. - Eine Eigen­tümiichkeit hat alles, was dem Gedächtnis anvertraut worden ist, näm­lich, daß es während des Lebens Ihr persönliches Gut ist, daß es Ihr persönlicher Inhalt ist. Sie tragen das, was Sie als Erinnerung durch das Leben und bis zum Tode hin tragen, als Ihr innerstes Besitztum in sich~ tragen es als Besitztum in Ihrer Persönlichkeit bis zum Tode hin in sich. Und Sie werden sich leicht den Gedanken bilden können~ der ja nahe liegt, daß dies~ was Sie da in Ihrem Gedächtnis, in Ihren Erinnerungen mit sich tragen, zunächst solange Sie leben, nichts in der Außenwelt bedeutet, nichts in der äußeren Welt ist. Es ist in Ihnen und es beginnt erst, nachdem Sie durch den Tod hindurchgegangen sind, etwas in der Außenwelt zu sein : da wird es in den allgemeinen Lebensäther eingetragen. Aber was ist es in dem allgemeinen Lebens-äther? Dort ist es die Notiz von Ihrer Persönlichkeit. Es ist das, was von Ihrer Persönlichkeit bleibt als das, was während des Lebens inne­res Erlebnis ist, und nach dem Tode ist es für die zunächstige Ewig­keit in dem Lebensäther Eingetragenes für Ihre Persönlichkeit. Da steht es aufgeschrieben. Was der Mensch im Leben innerlich erlebt

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hat, wird für den Lebensäther äußerliches Erlebnis nach dem Tode des Menschen. Es ist also mit unsern Erinnerungen so, daß wir diese Erinnerungen, dieses Gedächtnis in uns selber als unser inneres Gut bis zum Tode tragen dürfen, und daß es vom Tode an - sozusagen als offenbares Geheimnis - in den Lebensäther eingeschrieben ist und darinnen lebt und daß wir mit ihm verbunden bleiben, weil wir einen Extrakt aus dem Lebensleib mitgenommen haben und itnmer zurück­schauen können auf das, was wir da erlebt haben. So ist in einer gewissen Beziehung die Welt unserer Erlebnisse durch die Erinne­rungen, durch das Gedächtnis während unseres Erdenlebens in uns; so sind wir mit unserem Erdenleben in dem Weltenäther nach dem Tode.

Anders ist es nun mit dem, was nicht bloß unser inneres Erlebnis bleibt, was nicht bloß unsere Erinnerung, unser Gedächtnis bleibt, sondern was von uns schon während unseres Lebens äußere Tatsache geworden ist. Äußere Tatsache wird von unserem Leben während dieses Erdeniebens im Grunde genommen jeder Schritt. Denn nicht nur, daß wir den Schritt machen und uns dann daran erinnern können, sondern indem wir den Schritt machen, drücken wir unsere Spur in das Erdreich ein. Wir durcheilen die Luft. Ich möchte sagen, schon im äußeren physischen Sinne ist unser ganzes äußeres Leben zugleich äußere Tat. Äußere Wirklichkeit wird unser ganzes Leben. Aber wie wird unser Leben erst äußere Wirklichkeit, wenn wir aufblicken von unserem äußeren physischen Dasein zu unserem moralischen Dasein! Ob wir ein gutes Herz haben und diese oder jene gute Tat verrichten, das wird gar sehr äußere Tatsache. Wenn wir ein gutes Herz haben und diese oder jene Tat des Mitleides, diese oder jene Tat der Mit-freude verrichten, so ist das, was wir getan haben, nicht bloß etwas, das in uns fortlebt, sondern das fortlebt in den andern Menschen, in unserer ganzen Umgebung. Wir drücken fortwährend die Spuren unseres Daseins in unserem Erdenleben dem ganzen Dasein auf. Der Mensch, mit dem wir zusammen waren, demgegenüber wir eine Tat des Mitleides oder der Mitfreude verrichtet haben, er trägt die Wir­kung unseres Tuns mit sich fort. Was wir gefühlt und getan haben, lebt außerhalb unser in dem andern Menschen fort. Wenn Sie sich

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diesen Gedanken überlegen, finden Sie heraus, wie das, was der Mensch darlebt, nicht nur ihm gehört, wie ihin seine Erinnerungs-vorstellungen gehören, sondern was er innerlich erlebt, geht fort-während in die äußere Welt über, das wird fortwährend Wirkung in der Außenwelt.

Was wir auf diese Weise schon während unseres Lebens der Außen­welt mitteilen, ist nicht wie unsere Erinnerungsvorstellungen in un­serem Ätherleibe eingeschrieben. Unser Ätherleib gehört zu innig, zu intensiv zusammen mit unserer ganzen Persönlichkeit, als daß diese Taten, diese Wirkungen des menschlichen Erlebens in ihm einge­schrieben werden könnten. Es würde dem Menschen auch während des Erdenlebens nicht gar gut bekommen. Denn, würde zum Beispiel irgendeine mitleidlose Tat oder irgendeine schlechte Tat dem Äther-leibe unmittelbar eingeschrieben, so würde der Mensch sein ganzes Leben hindurch verspüren müssen, daß er diese Tat getan hat. Dann würde dies in seinem Ätherleibe eine Kraft bedeuten~ und er würde unter Umständen unter dieser schlechten Tat dadurch leiden müssen, daß sie sich in seine Lebenskräfte hineinbohrt, das heißt aber, daß sie ihn krank, unzufrieden machen würde, ihn lähmen würde und so weiter. Wenn unsere Taten dasselbe tun würden in unserem Äther-leibe wie unsere Gedanken, so wäre das Leben des Erdenmenschen unmöglich. Aber ebenso wie der Ätherleib das Werkzeug für unsere Gedanken ist, insofern sie Erinnerungen werden und dem Gedächtnis einverleibt werden, ebenso ist unser astralischer Leib das Werkzeug für unsere Taten. Sie entspringen aus unserem Astralleib. Alles was der Mensch tut, und so, wie ich es beschrieben habe, als Wirkung der Außenwelt einverleibt, ist gebunden an das Werkzeug des mensch­lichen Astralleibes. Wie sein alltägliches Bewußtsein an den physischen Leib, wie seine Erinnerungen und sein Gedächtnis an den Ätherleib gebunden sind, so ist, wenn der astralische Leib auch noch so fein ist, alles was der Mensch tut, was Wirkung ist in der Außenwelt, getan durch den menschlichen Astralleib. Die Folge davon ist, daß es auch in einer gewissen Beziehung mit diesem Astralleib verbunden bleibt, wie das Gedächtnis verbunden bleibt mit dem Ätherleib. Wenn wir, wie wir gesehen haben, nach dem Tode in unserem Ätherleibe noch

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leben, dann bildet sich das Erinnerungstableau; das heißt, an unseren Ätherleib bleiben die Erinnerungen an unser eben vergangenes Leben gebunden. Wenn wir unseren Ätherleib dann einige Zeit nach dem Tode abgelegt haben und in den allgemeinen Lebensäther eingetragen ist, was unsere Persönlichkeit zuerst an Erinnerungen, an Gedächtnis-inhalt bewahrt hat, dann leben wir aber noch ganz in unserem Astral­leib. Wir haben das oftmals beschrieben, wie der Mensch noch lange in seinem Astralleib zu leben hat. In diesem Astralleib sind wir tat­sächlich - wie das auch öfter beschrieben worden ist - mit den äußeren Wirkungen unseres Lebens verbunden. Es zeigt sich das auch äußer­lich dadurch, daß der Mensch nach dem Tode rückwärts zu durchleben hat seine Tatenwelt, alles was er überhaupt an anderen Wesen auf der Erde getan oder verrichtet hat. Er fühlt sich in einer Zeit, von der wir gesagt haben, daß sie ungefähr ein Drittel seines vergangenen Lebens beträgt, wie hindurchgehend in seinem Astralleib durch seine Erden-tatsachen, durch alles, was er auf der Erde verrichtet hat. Und ebenso wie - nachdem wir unseren Ätherleib wenige Tage nach dem Tode abgelegt haben - unsere persönlichen Erinnerungen in den allgemei­nen Lebensäther eingeschrieben sind, so werden in der Zeit, in welcher wir noch mit dem Astralleib verbunden sind, alle unsere Taten in die allgemeine Weltenastralität eingeschrieben. Da stehen sie drinnen und wir bleiben mit ihnen ebenso verbunden, wie wir mit den Erinne­rungen unserer Persönlichkeit verbunden bleiben, die als eine blei­bende Notiz in den Weltenäther eingeschrieben sind, nur werden unsere Taten gleichsam in eine andere Weltennotiz eingetragen. Wäh­rend wir die Taten unseres letzten Lebens zurückerleben, wird das alles in die allgemeine Weltenastralität eingetragen und wir bleiben damit verbunden. Durch unseren Astralleib gehören wir also bleibend unseren Taten an, insofern wir Erdenmenschen sind.

Was ich jetzt eben beschrieben habe, was uns mit unseren Taten verbindet, das ist Karma. Das ist in Wirklichkeit das Karma : was von unseren Lebenstaten eingetragen ist in die allgemeine Weltenastralität. Sie können daraus auch entnehmen, daß ein starker moralischer An­trieb in einem solchen Wissen liegt, wie überhaupt es nur eine Art von Verleumdung wäre, wenn man sagen würde, daß Geisteswissenschaft

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nicht die aliermoralischste Lebensgrundlage bieten würde. Inwiefern liegt in solchen Erkenntnisgrundlagen, wie sie eben ausgesprochen sind, ein starker moralischer Impuls? Sie haben ja gesehen, daß letzt­lich unsere Taten während des Lebens nach dem Tode eingetragen werden in die allgemeine Weltenastralität. Wenn wir irgend etwas Un­richtiges getan haben während unseres Lebens, und wir es nicht kar­misch, soweit wir die Macht dazu haben, noch in diesem Leben gut­machen - denn angenommen, wir bemühten uns also, irgendein Un­moralisches schon im irdischen Leben auszugleichen, dann würden wir uns die Eintragung in das Karma ersparen -, dann wird alles, was wir nicht ausgleichen können, nach dem Tode in das Karma eingetra­gen und es bleibt mit uns verbunden. Insofern wir als Erdenmenschen den irdischen Astralleib haben, haben wir als Menschen unser Karma.

So haben wir das dritte Glied des irdischen Menschen. Das erste ist das Bewußtsein, das als Werkzeug den physischen Leib hat. Das zweite iist Erinnerung und Gedächtnis, das als Werkzeug den Ätherleib oder Lebensleib hat. Und das dritte, das zum irdischen Menschen ebenso gehört, wie im physischen Erdenleibe sein Bewußtsein zu ihm gehört, das ist das Karma. Aus drei Gliedern besteht in dieser Beziehung der ir­dische Mensch : aus seinem Erdenbewußtisein~ aus seinem Gedächtnis und aus seinem Karma~ und ohne diese drei Glieder ist der Erden-mensch kein Erdenmensch. Ein Wesen, das auf der Erde herumgehen würde und im physischen Leibe kein solches Bewußtsein entwickeln würde wie der Erdenmenisch, wäre kein Mensch. Und ein Weisen auf der Erde, das auf der Erde kein solches Gedächtnis ausbilden würde wie der Erdenmenisch, wäre kein Mensch. Und ein Mensch, der her-umgehen würde und durch das Leben im Erdenleibe kein Karma machen würde, wäre kein Erdenmensch. Das macht den eigentlichen irdischen Menschen aus : daß er ein Bewußtsein entwickelt durch den physischen Leib, daß er Gedächtnis und Erinnerung entwickelt durch den Äther- oder Lebenisleib und daß er Karma macht durch den Astral­leib. So haben wir gleichsam herausgeschält, was am Menschen Erden-mensch ist. Wir müssen ein Viertes hinzurechnen, von dem wir wissen, daß es erst auf der Erde aufgeleuchtet hat : das Ich selbst, jenes Ich, von dem wir wissen, daß eis von Inkarnztion zu Inkarnation geht, von dem

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wir also wissen, daß es drinnensteckt in uns, wenn wir unser Erden­bewußtsein entwickeln, daß es drinnensteckt in uns, wenn wir im Gedächtnis aufbewahren Erinnerungsvorstellung auf Erinnerungs­vorstellung, daß es aber auch in uns drinnenisteckt, wenn wir von Inkarnation zu Inkarnation Karma aufhäufen. Überall steckt das Ich darinnen. Aber es steckt in diesen drei Gliedern des Erdenmenischen drinnen. Wie also können wir diesen Erdenmenschen noch charak­terisieren?

Wir wissen, daß der Erdenmenisch das Ich aufleuchten gefunden hat erst auf der Erde. Aber wir wissen, daß sein physischer Leib sich zuerst gebildet hat während der alten Saturnzeit der Erde und daß die Erdenzeit zwar den physischen Erdenleib anders gemacht hat nach der Mondenentwickelung, doch ist der physische Leib nicht ein Erden-produkt. Wir wissen dieses aber auch vom Ätherleibe, der die erste Anlage während der alten Sonnenzeit erhalten hat, und auch vom astralischen Leib, der ja seine erste Anlage auf dem alten Mond er­halten hat. Also stellen wir uns diesen Menschen vor : er kam herüber, als die Erde begann, aus einer vorirdischen Entwickelung, beistehend aus physischem Leib, Ätherleib und Astralleib. Aus dem, was er im Laufe der Erdenevolution geworden ist, gestaltete sich um sein phy­sischer Leib zum Instrument des Erdenbewußtiseinis, sein Ä therleib zum Instrument des persönlichen Gedächtnisses und sein Astralleib zum Träger des Karma. Da haben wir gleichsam herausgeschält, was die früheren Zustände dem Menschen gegeben haben in seinem phy­sischen Leib, Ätherleib und Astralleib, und das, was die Erde erst durch ihre Mission in diesen dreigliedrigen Menschen hinelngearbeitet hat. Halten wir einmal das recht genau auseinander. Sagen wir uns :

dieser physische Leib des Menschen ist ja eine wunderbare Sache, etwas ganz Wunderbares. Er ist so wunderbar geworden, weil er drei­mal eigentlich seinen Zustand verändert hat mit den vorirdischen Erdenverkörperungen. Er wäre, wenn er so geblieben wäre, wie er nach Ablauf der alten Mondenzeit war, mit allen denjenigen inneren Eigenschaften behaftet, die er hat; nur wäre er nicht so umgestaltet, daß er in sich erzeugen könnte die Werkzeuge des irdischen Menschen-bewußtseins. Das ist also zum physischen Leib hinzugekommen, daß

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er nicht nur die Vollkommenheit hat, die er hatte nach der Monden-entwickelung, sondern noch umgestaltet worden ist zum Träger des menschlichen Erdenbewußtseins. Ebenso hat der Ätherleib alle Voll­kommenheiten, die er sonst schon in sich hatte, aber innerhalb der Erdenentwickelung hat er erst diejenigen Kräfte ausgebildet, die ihn zum Träger des menschlichen persönlichen Gedächtnisses machen. Der Astralleib hat sich auf dem alten Monde manche Vollkommen­heiten angeeignet, aber daß er das Instrument geworden ist für das Schaffen von Karma, das hat er sich erst während der irdischen Vor­gänge angeeignet. Das Ich~ das ist allein beim Menschen sozusagen mit seinen Kräften, mit alledem, was es ist, während der Erden-mission ausgestattet worden. Im Ich allein können wir also sozu­alles das beobachten~ was die Erde selber am Menschen sagen all hat.

Was kommt denn also eigentlich durch dieses Ich zum Menschen noch hinzu? Nehmen wir an, der Mensch hätte alle die Dinge, die ihm die Erdenmission gegeben hat, bekommen, aber das Ich wäre nicht aufgeleuchtet. Eis ist das, was ich jetzt sage, eine unmögliche Hypo­these, iselbstveriständlich~ denn es mußte das Ich zum Menschen hinzu­kommen. Aber nehmen wir an, ein Wesen hätte, ohne das Ich zu ent­wickeln, die Eigenschafren erhalten können, die wir eben ausgespro­chen haben als irdische Eigenschaften von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib. Wenn es auch nicht auf der Erde möglich gewesen wäre, solche Eigenschaften im physischen, ätherischen und astralischen Leib zu entwickeln, so ist eine solche Entwickelung immerhin mög­lich gewesen auf anderen Planeten, und für die geistige Wissenschaft iist es möglich, solche Zustände auf anderen Planeten sogar in ihrer Realität zu studieren. Eis würde also das ein Weisen sein, das ein solches Bewußtsein entwickeln kann, wie der Mensch es entwickelt, wenn er aufwacht, ein Wesen, das vorstellt, fühlt, will, nur würde es nicht die Vorstellungen einem Ich zuschreiben, würde nicht die Empfindungen, die Gefühle einem Ich zuschreiben und die Willensimpulse ebenfalls nicht. Aber immerhin, es wäre möglich, daß ein solches Wesen ein Bewußtsein hätte wie die Erdenmenischen, daß es auch Erinnerungen hätte, daß die Vorstellungen in der Erinnerung blieben und daß es ein

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Karma hätte. Vom Erdenmenschen wäre das nicht möglich, aber nehmen wir an, daß wir uns ein solches Wesen vorstellen könnten. Was würde also alles dasein? Bewußtsein, Erinnerung und Karma. Nun sind aber beim Menschen diese drei Dinge vorhanden : Bewußtsein, Erinnerung, Karma. Aber es ist außerdem noch das Ich vorhanden. Was geschieht denn durch dieses Ich? Da Karma wesentlich durch den astralischen Leib bewirkt wird, was geschieht durch das Ich selber, da­durch daß es in seinem Karma eben drinnenisteckt?

Was durch das Ich selber geschieht, ist nun, man möchte sagen, etwas viel Schwerwiegendereis noch als das menschliche Karma. Denn Karma, was als Karma bleibt, bleibt mit uns verbunden. Und wenn wir in irgendeinem Leben Taten getan haben, so bleiben diese als un­ser Karma bestehen und wir können sie im späteren Leben aus­gleichen. Unser astralischer Leib ist es eigentlich, der es bewirkt, daß unser Karma beistehen bleibt. Unser Ich ist auch eine geistige Potenz, eine geistige Weisenheit. Was dieses Ich nun aus sich herauisbringt, so wie der astralische Leib das Karma aus sich herausbringt, sind nun nicht Dinge, die immer mit dem Menschen verbunden bleiben, son­dern das sind Dinge, die sich von dem Menschen loslösen. Wir haben auch öfter schon darauf aufmerksam machen können : es sind die Ge­dankenformen, die sich von dem Menschen loslösen. Während das, was sich in unser Karma einischreibt, mit uns verbunden bleibt und emgegraben wird in den späteren Erdenzustand, gibt es noch etwas Besonderes, was im speziellen durch das menschliche Ich hervor­gerufen wird und ebenso hinübergeht in die andere Welt, wie unsere Erinnerungen in den allgemeinen Lebensäther übergehen. Wie unser Karma in die allgemeine Weltenastralität eingeschrieben wird, so geht in die Welt hinaus, was unser Ich nun bildet und was wir kennen als Gedanken- und Gefühlisformen. Die sind noch etwas Besonderes neben dem Karma. Karma ist etwas, was wir behalten als mit uns zusammen­hängend. Eis gibt aber auch noch solche Erzeugnisse, die sich von uns loslösen, allerdings zunächst nur als Formen, so daß sie als geistige Formen sich loslösen und draußen weiterleben.

Was lebt denn alles von uns weiter? Von uns lebt weiter : erstens unser persönliches Gedächtnis selbst, zweitens unser Karma, drittens

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die Formen unserer Gedanken. Während wir aber mit den beiden ersten verbunden bleiben, ist es für das letzte so, daß sich diese Formen von unis loslöisen~ daß sie selbständig werden als Form. Also wie gleich­sam leblose Formen, die hinzusgehen als Formen, so leben die Erzeug­nisse unseres Ich in der äußeren Welt weiter. An diesem Punkte wer­den wir das nächste Mal anknüpfen und diese Betrachtungen fort­setzen.

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NEUNTER VORTRAG Berlin, 20.Juni 1912

Wir haben vorgestern innerhalb der menschlichen Wesenheit das­jenige betrachtet, was von dem Menschen dem Erdendasein eigentlich angehört. Denn wir haben betont, daß in der menschlichen Natur Kräfte wirken, daß in ihr Wesenhaftes zu finden ist, was als ein Erb­stück zu betrachten ist aus den früheten Verkörperungen der Erde selbst, dem, was wir immer zu nennen gewohnt sind «aus der alten Saturnzeit», «aus der alten Sonnenzeit» und «der alten Mondenzeit». Wir wissen, daß innerhalb des menschlichen physischen Leibes, des ätherischen und des astralischen Leibes, diese Erbstücke uralter Ent­wickelungsepochen, uralter Entwickelungskräfte vorhanden sind. Was wir aber im physischen Leibe zu suchen haben als spezielles Erdenprodukt, herrührend speziell aus den Erdenkräften, das ist, daß dieser physische Leib das Instrument, das Werkzeug des gegenwärtigen menschlichen Bewußtseins ist. Was wir im Ätherleibe des Menschen zu suchen haben als spezielles Erdengut, das ist, daß dieser Ätherleib der Träger, das Werkzeug für alles Gedächtnismäßige, für alles Erinnerungsmäßige im Menschen ist. Vom astralischen Leib haben wir einfach zu sondern, was sich früher schon auf dem Vorgänger unserer Erde, auf dem alten Mond, entwickelt hat für den Menschen als Inhalt des astralischen Leibes. Und auf der Erde ist dann alles dazugekom­men, was wir einschließen können in die Wirksamkeit des mensch­lichen Karma. Dann haben wir aber zum Schlusse außerdem noch zu betonen gehabt, daß auch etwas sich als Tätigkeit, als Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit findet, das spezieller geknüpft ist an die eigentliche Ich-Natur des Menschen, die ja der Mensch erst während der Erdenentwickelung bekommen hat. Alles was dem physischen Leibe, dem Ätherleibe, dem astralischen Leibe dadurch hinzugefügt werden mußte, daß der Mensch ein Ich-Mensch geworden ist, das ist eben eingeschlossen in das Tage sbewußtsein, in das Gedächtnismäßige und in den karmischen Verlau£ Von dem Ich selber haben wir gesagt, daß es seine Kräfte nun nach außen sendet, nach der geistigen Außenwelt,

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und daß nicht so wie das Gedächtnis oder wie das Karma diese Kräfte unbedingt mit der menschlichen Wesenheit verbunden bleiben müssen. Des Menschen Erinnerungen, des Menschen Gedächtnis bleiben mit ihm verbunden - von seinem Bewußtsein ist es ja selbst-verständlich, daß es nur für ihn eine Bedeutung hat, denn andere Wesen haben andere Bewußtseinszustände -, und vom Karma wissen wir, daß es mit dem Menschen insofern verbunden ist, als es während der Erdeninkarnationen zum Ausgleich des menschlichen Karma wirksam zu sein hat. Was wir aber Gedankenformen, Gefühisformen, Empfindungskräfte oder auch Gefühis- und Gedankenkräfte nennen können, das sondert sich noch als etwas Besonderes von dem eigent­lichen Ich des Menschen ab und gewinnt in einer gewissen Beziehung eine selbständige Wesenheit; das bleibt nicht so mit ihm verknüpft wie die anderen erwälinten Kräfte.

Nun müssen wir bei alledem, was aus dem menschlichen Ich stammt, unterscheiden, sehr stark unterscheiden: das menschliche Ich kann im wesentlichen mehr oder weniger selbstsüchtige und mehr oder weni­ger selbstlose innere Lebensvorgänge entwickeln. Je nachdem dieses menschliche Ich selbstsüchtige oder selbstlose, liebevolle, mitleidvolle oder mitfreudenvolle Empfindungen oder Gedankenkräfte entwickelt, je nachdem sind auch diese Empfindungs- und Gedankenkräfte ganz anders wirksam. Wenn wir zunächst die mehr selbstsüchtigen Ge­dankenkräfte ins Auge fassen, so zeigen sich diese in bezug auf ihre Wirksamkeit in der Welt als störende Kräfte der Welt. Sie treten wirk­lich in die geistige Welt wie zerstörende Kräfte ein. Alle selbstlosen Gedankenkräfte dagegen greifen nicht als zerstörende, sondern als mehr aufbauende Kräfte in das geistige Leben der gesamten Erden-entwickelung ein. Aber indem gerade diese selbstlosen Gedankenkräfte sozusagen sich vom Ich des Menschen absondern, lassen sie im Men­schen gewisse Spuren zurück. Wohlgemerkt: insbesondere bei den selbstlosen Gedanken- und Empfindungskräften ist es so der Fall, daß sie, indem sie gleichsam heraussprießen aus dem Ich, Spuren zurück­lassen im Menschen. Diese Spuren sind am Menschen auch durchaus zu bemerken. Sie sind dadurch zu bemerken: Je mehr selbstlose Ge­danken- und Empfindungskräfte das Ich absondert, desto mehr bekommt

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der Mensch das, was man nennen kann seine eigene Form, seine Gebärde, sein Mienenspiel und so weiter, kurz, den ganzen Aus­druck seines Wesens in seine eigene Gewalt. Während mehr selbst­süchtige Gedanken- und Empfindungsformen dahin wirken, daß der Mensch wenig Kraft hat, sich seinen Ausdruck selbst zu geben. So werden wir uns zu fragen haben : Wie haben wir denn zu unterscheiden im Verlaufe des Entwickelungsganges der Menschheit die einzelnen Formen der Menschen?

Alles was auf der Erde Form ist, rührt her von den Geistern der Form. Und der Name Geister der Form ist durchaus aus dem Grunde den betreffenden Wesenheiten der höheren Hierarchien gegeben, weil alles was Form, was Gestalt ist, was Leben ist, das sich innerlich bildet und in einer äußeren Form eben ausgestaltet, seine Veraniagung zu dieser Form, zu dieser Gestalt erhalten hat von den Geistern der Form. Nun ist es aber bei allen diesen Wesenheiten der höheren Hierarchien so, daß sie in einem fortwährenden Entwickelungsprozesse begriffen sind. Nicht nur der Mensch entwickelt sich vorwärts, sondern alle Wesenheiten der verschiedenen Hierarchien entwickeln sich in einer gewissen Weise vorwärts. Wenn wir die Hierarchien für unsere gegen­wärtige Zeit verfolgen, so finden wir, daß sich die Geister der Form hinaufentwickeln zu Geistern der Bewegung, die Geister der Persön­lichkeit zu Geistern der Form, die Archangeloi zu Geistern der Per­sönlichkeit oder Archai und so weiter. Aber es ist nicht so, daß, indem die Geister der Form sich hinaufentwickeln und dadurch eigentlich den Charakter von Geistern der Form verlieren, sogleich die nach­rückenden Geister der Persönlichkeit etwa in ihre Tätigkeit eintreten würden. Dadurch werden Sie verstehen, daß etwas für die zweite Hälfte der Erdenentwickelung stattfinden muß, und in ihr stehen wir ja eigentlich drinnen. Im Anfange der Erdenentwickelung haben so­zusagen in die Menschen als Formen dasjenige, was in den verschie­denen Menschenformen zum Ausdruck gekommen ist, hineingeprägt die Geister der Form. Wie sich die einzelnen Menschenrassen mit ihren Physiognomien gebildet haben, wie die einzelnen Menschen gestaltet sind mit den einzelnen Rasseneigentümlichkeiten, so ist es den einzel­nen Gruppen der gesamten Menschheit auf der Erde eingeprägt worden

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von den Geistern der Form. Jetzt ist seit langem das, was von diesen Geistern der Form den Menschen eigentlich aufgeprägt ist, im Grunde genommen vererbt. Das ist seit langem ein Erbstück, erbt sich fort von Geschlecht zu Geschlecht, und die Geister der Form lassen in einer gewissen Beziehung dem Menschen insofern immer mehr und mehr Freiheit, als sie selbst hinaufsteigen in eine höhere Kategorie, sich zurückziehen von der formenden Tätigkeit, die ihnen obgelegen hat im Beginne der Erdenentwickelung. Der Mensch wird in der Tat in bezug auf die Wesenheiten der höheren Hierarchien immer mün­diger und mündiger. Das müssen wir uns nur klarmachen. Die geisti­gen Wesenheiten, die zwar nachrücken, haben sich erst zu entwickeln für den nächsten Zustand der Erde, der auf den jetzigen hin folgt, um die entsprechenden Wesen der Erde während des Jupiterzustandes der Erde mit der entsprechenden Form zu begaben. Gegen das Ende einer Planetenzeit hin ist immer das der Fall, daß die Hauptwesenheit - und das ist für die Erde der Mensch - freigelassen wird, daß die Eigen­schaften, die ihr ursprünglich eingeprägt sind, immer mehr und mehr sozusagen in Freiheit, in freier Gestaltung an sie selber übergehen.

So kommt es denn, daß im Laufe der künftigen Erdenentwickelung die Formkräfte, die Kräfte der inneren Gedanken- und Bmpfindungs-formen, immer mehr siegen werden. Und insofern sie selbstlos sein werden, insofern sie zugewendet sein werden namentlich selbstloser Weisheit und selbstloser Liebe, werden diese Kräfte auf den Menschen formend wirken. Denn so gestaltete sich allmählich die menschliche Entwickelung: je weiter wir zurückgehen, desto ähniicher ist in der äußeren Gestalt das Kind den Vorfahren. Je weiter wir in die Zukunft hineingehen, desto mehr wird der äußere Mensch ein Ausdruck der Individualität werden, die von Inkarnation zu Inkarnation geht. Das heißt, in einer und derselben Familie werden sich - was jetzt schon bis zu einem hohen Grade der Fall ist, und niemand, der Augen dafür hat, kann es ableugnen - die Gesichter immer unähnlicher gestalten, und auch die sonstigen Ausdrücke der menschlichen Gestalt, und das aus dem Grunde, weil sie als Ausdrücke nicht mehr sein werden der Familienausdruck oder der Rassenausdruck, sondern immer mehr und mehr der Ausdruck der einzelnen menschlichen Individualität, die von

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Inkarnation zu Inkarnation geht. Heute schon kann derjenige, der mit diesem Wissen der Geisteswissenschaft ausgerüstet ist, wenn er nur wirklich die Menschen über die ganze Erde hin anschaut, soweit es ihm möglich ist, sehen, wie neben den vererbten Rassen-, Familien-und sonstigen Eigentümlichkeiten immer auftreten individuellere und individuellere Gesichts- und Kopfbildungen und so weiter, immer in­dividuellere Physiognomien. Er kann sehen, wie stark voneinander verschieden sind die einzelnen Formen der Angehörigen einer und derselben Familie. Natürlich leben wir in dieser Beziehung in einem Übergangszeitalter. Aber es bereitet sich jetzt schon der sechste nach-atlantische Kulturzeitraum vor, dessen Eigentümlichkeit sein wird, daß wenig maßgebend sein werden - wie bei den vorhergehenden Kulturzeiträumen - die äußeren physiognomischen Rassenmerkmale, sondern über die ganze Erde hin wird im sechsten Kulturzeitraum maßgebend sein, wie stark schon die einzelnen Individualitäten ihrem Antlitze und ihrem ganzen Wesen aufgedrückt haben werden, was die Reste der selbstlosen Gedanken- und Empfindungsformen, nament­lich der aus wirklicher Weisheit gewonnenen, zurückgelassen haben.

Es ist jeder wirklichen Erkenntnis der Geisteswissenschaft zuwider­laufend, wenn davon gesprochen würde, daß in demselben Sinne, wie es in der Vergangenheit führende Rassen für die einzelnen Kultur-epochen gegeben hat, es etwa auch in der Zukunft eine solche füh­rende Rasse geben würde, die durch Naturmerkmale namentlich her­vorgebracht würde. Die uralt indische Kultur war getragen von einer führenden Rasse, die alte persische Kultur war getragen von einer führenden Rasse, ebenso die ägyptisch-chaldäische Kultur und die griechisch-lateinische Kultur. Heute schon sehen wir, wie im Grunde genommen die Kultur nicht mehr getragen wird von einer führenden Rasse unmittelbar, sondern wie die Kultur sich über alle Rassen aus­breitet. Und die Geisteswissenschaft soll ja gerade dasjenige sein, was ohne Unterschied der Rassen und Stämme die Kultur über die ganze Erde trägt, insofern die Kultur Geisteskultur ist. Aber einsehen kann man, daß unseren Zeitraum ein ganz anderer ablösen wird, in welchem sich über die ganze Erde hln am Menschen zeigen wird, inwieweit er wirklich schon sein inneres Wesen in der äußeren Form zum Ausdruck

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bringt. Es wäre heute nahezu ein herber Widerspruch gegen alles, was uns die Geisteswissenschaft zeigt, wenn wir etwa gar auf einen be­stimmten Kontinent, auf ein eingegrenztes lokales Gebiet beschränken würden, was als die Menschheit des sechsten Kulturzeitraumes über die ganze Erde in der Zukunft ausgebreitet sein soll. Nur wer nicht von den wirklichen Erkenntnissen der Geisteswissenschaft ausgeht, sondern etwa im Kopfe hätte eine sonderbare Widerspruchsidee, daß sich bei der geistigen Entwickelung auch etwas wie treibende Räder wiederhole, wie im Jahresablauf auf der Erde Frühling, Sommer, Herbst und Winter sich wiederholen, nur der könnte zu der Behaup­tung kommen, die ganz unmöglich ist gegenüber der wirklichen Geisteswissenschaft, als ob sich auch für den sechsten Kulturzeitraum wiederholen würde, was zur Herstellung der Rassen in früheren Zeiten notwendig war. Eine solche Behauptung würde geradezu ins Gesicht schlagen einer jeglichen Erkenntnis des wirklichen Menschheits­fortschrittes, der darin besteht, daß das Innere, das Seelische immer mehr und mehr sich offenbart, daß nicht bloß das Alte in einer etwas anderen Gestalt wiederholt wird, sondern daß ein wirklicher echter Fortschritt in der menschheitlichen Entwickelung vorhanden ist. Und wenn Theosophle ihren guten alten Grundsätzen treu bleiben soll, so wird sie - trotzdem sie zu ihrem ersten Grundsatze hat, ohne Unter­schied von Rassen- und Farbeigentümlichkeiten und so weiter, eine Kultur zu begründen - gar nicht darauf verfallen können, eine Zu­kunftskultur zu erhoffen von einer einzelnen besonderen Rasse. Das ist ja gerade der tiefere Zusammenhang der Theosophie mit dem wirklicher Gange der Menschlieitsentwickelung, daß das, was ge­schehen soll, von der Theosophle aufgegriffen wird und sozusagen im Sinne der Weltenentwickelung theosophlsch gedacht wird, theo­sophisch gefühlt wird und auch die entsprechenden Willensimpulse in die Welt gesetzt werden. Wenn man ins Auge fassen will, wie dieses Seelische immer mehr und mehr in der Menschheit zur Offenbarung kommt - es ist ja der Punkt, der heute besprochen wird, schon oft und oft im Laufe der Jahre berührt worden -, so ist nur notwendig, eines immer wieder und wieder klar herauszuarbeiten. Dann wird man sich auch darüber klar werden können, daß alles, was jetzt angeführt worden

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ist, uns sozusagen den Menschen zeigt in seiner individuellen Ent­wickelung.

Wir sehen den Menschen im Beginne der Erdenentwickelung so­zusagen mehr dem Gruppenseelenhaften - Rasse, Familie, Stamm und so weiter - angehörig, und im Laufe der Entwickelung wird er immer individueller und individueller. Er arbeitet sich immer mehr und mehr zur Individualität heraus. Wir sehen, wie notwendig für die Individua­lität es ist, daß gewisse Dinge im Laufe der Erdenentwickelung enge mit der menschlichen Natur verbunden sind. Eng mit der mensch­lichen Natur verbunden ist das Bewußtsein, das an den physischen Leib gebunden ist, eng gebunden an die Menschennatur ist alles Ge­dächtnis- und Erinnerungsmäßige, das an den menschlichen Äther-leib gebunden ist, und eng an die Menschennatur gebunden ist ferner das Karma, wodurch der Mensch einen wirklichen Fortschritt machen kann, indem seine Unvollkommenheiten und Fehler nicht bleiben, sondern von ihm überwunden werden können beim Durchgange von Inkarnation zu Irkarnation. Eng ist aber auch mit dem Menschen das verbunden, was sich zwar von ihm absondert und ein selbständiges Leben führt, aber, indem es sich absondert, als Reste in ihmdas zurück-läßt, was von seinem Ich ausgeht als Gedanken- und Empfindungs-kräfte oder -formen und selber beiträgt zu seiner Formung im Laufe der Zeit, wodurch der Mensch gerade eine Individualität wird, indem er das Gruppenseelenhafte abstreift. Nicht das Hereintreter in eine neue Gruppenseele, sondern das Abstreifer des Gruppenseelenhaften ist das, was über den ganzen Erdball hin immer mehr sich ausbreiten wird, und das gerade das Charakteristikon des sechsten Kulturzeit­alters sein wird. Damit steht in inniger Verbindung, daß der Mensch in bezug auf seine ganze geistige Führung immer individueller und individueller, ja man darf sagen, immer freier und freier wird.

Es geht für den, der den ganzen Sinn meiner Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» begreift, klar hervor, daß eine solche Bewegung in fortschrittlicher Beziehung wirklich im Menschengeschlechte stattfindet. So daß also tatsächlich die Menschen in uralten Zeiten, je weiter wir zurückgehen, immer mehr und mehr unter äußerer Führerschaft standen, unter äußeren Lehrern standen,

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daß aber immer mehr und mehr da auch die Führerschaft eine innere Angelegenheit der Menschheit wird. So wie sogar die Offenbarung in der äußeren Form eine individuelle Angelegenheit der Menschheit wird, so wird es auch immer mehr und mehr eine individuelle An­gelegenheit der Menschheit, den Weg zu finden in die geistigen Wel­ten. Oft ist es ja betont worden, daß jetzt gerade von dem, der tiefer hineinsehen kann in die Zeichen der Zeit, festgestellt werden muß, wie die Menschen nicht etwa bloß zurückgeblieben sind auf einem Standpunkte, den sie einmal eingenommen haben, so daß mit den­selben Kräften wie einstmals unter ihnen gearbeitet werden müßte, sondern daß sie wirklich fortgeschritten sind. Daher werden in der Tat die menschlichen Seelen in dem nächsten Zeitalter immer reifer und reifer werden, um das, wovon heute in der Geisteswissenschaft erzählt wird, wirklich auch wahrzunehmen, wirklich auch zu schauen.

Es ist einmal so, daß, während zum Beispiel das Christus-Ereignis da, wo es als Mysterium von Golgatha stattgefunden hat, ein äußeres Ereignis war, eingreifend in die physische Welt, ein zukünftiges Chri­stus-Ereignis eine innere Angelegenheit der Menschenseele sein wird, insofern gerade durch das erste Christus-Ereignis die Menschenseele reifer geworden ist, so daß der Mensch den Weg finden wird in der Zukunft im Geiste zu dem Christus, aus der Seele heraus zu dem Christus.

Wo Sie das, was als Geisteswissenschaft hier gebracht worden ist, angreifen, da werden Sie es überall in Übereinstimmung finden - selbst dort, wo von sehr speziellen Dingen gesprochen wird - mit dem, was sich Ihrer Vernünftigkeit, Ihrer inneren freier Entscheidung ergibt, wenn Sie nur die innere freie Entscheidung wirklich anzuwenden ver­suchen. Indem der einzelne Mensch immer mehr und mehr zugänglich werden wird, individuell zugänglich werden wird für das, was in der geistigen Welt ist, wird äußere Führerschaft immer mehr und mehr an autoritativem Wert abnehmen und verlieren. Wichtig ist es heute vor allem, daß sich der Mensch bewußt werde, daß das alte Weisheitsgut, das vorhanden ist und das sich im Grunde genommen heute schon jeden Augenblick mehren kann für diejenigen, welche die Seele nach den spirituellen Welten offen haben, verstanden werden muß, daß der

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Mensch wirklich danach trachten muß, mit seiner Vernünftigkeit sich diesem Weisheitsgute zu nähern. Das liegt im Charakter der fort­schreitenden Merschheitsentwickelung. In diesem Sinne und Stil wird auch hier versucht zu zeigen, wie die durch Geisteswissenschaft in die Menschheit zu bringenden Erkenntnisse wirken sollen. Und wenn von noch so speziellen Dingen gesprochen wird, so braucht man das Sprechen zur einzelner menschlichen Vernünftigkeit deshalb nicht auszuschließen. Etwas anderes ist es freilich, wenn man heute einen unerwachsenen Menschen vorführen würde und von ihm sagen, er habe diese und jene Inkarnationen hinter sich. Wenn ich Ihnen der­gleichen sagen würde, so würde ich Sie vor allen Dingen bitten, eine solche Sache mir nicht aufs Wort zu glauben. Ich werde Sie Ihnen auch nicht autoritativ sagen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil es eine Unmöglichkeit ist, daß Sie sich objektiv davon überzeugen können. Wenn aber davon gesprochen wird, daß dieselbe Individualität vor­handen war in Elias, in Johannes dem Täufer, in Raffael und in Nova­lis, dann sind das längst verstorbene Leute und Sie können sich über­zeugen an dem Leben dieser Leute, ob Sie eine solche Angabe ver­nünftig finden können. Und andere Anforderungen sollen nicht ge­stellt werden; das erfordert die Achtung vor der einzelnen mensch­lichen Seele, ob eine solche Prüfung möglich ist. Es sind ja allerdings einzelne bequeme Leute, die sagen: Das müssen wir dir « glauben», wenn du von derselben Individualität sprichst in Elias, Johannes dem Täufrr, Raffael und Novalis. - Nein! Man braucht es nicht zu glauben; man soll nur suchen, in den einzelnen Seelen einen Beweis zu finden für das, was ja allerdings wirklich nur auf dem okkulten Wege ge­funden werden kann. Es kann dieser Beweis gefunden werden, und es ist nichts weiter als eine menschliche Bequemlichkeit, wenn man sagt, wenn jemand Inkarnationen über längst verstorbene Leute angibt, so müsse man es ebenso auf Autorität hin nehmen, wie wenn jemand In­karnationen angibt über einen heute inkarnierten jüngeren Menschen. Aber das ist nicht dasselbe. Gerade in bezug darauf sollte ein scharfer Appell an die Theosophen gerichtet werden, überall zu prüfen unter Anwendung aller Vernunft und nicht bei der billigen Ausrede stehen-zubleiben, es könnten die Dinge nicht geprüft werden. Sie können

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geprüft werden, wenn man will. Das muß immer wieder betont werden.

Während auf der einen Seite die menschliche Individualität immer mehr und mehr sich herausbildet, wird auf der anderen Seite, wei] überall eine Art von Gleichgewicht in der Welt vorhanden ist, etwas anderes immer allgemeiner und allgemeiner werden. Das ist eben das objektive Wissen, das von dem Menschen erlangt werden muß. Ob­jektivität des Wissens, Einheitlichkeit des Wissens widerspricht nicht dem Prinzip der Individualität. Das zeigt schon einfach die Mathema­tik. Und so ist denn die Aufgabe des Okkultismus - wenn man von einer solchen Aufgabe des Okkultismus in der Gegenwart sprechen darf - diese: objektive Weltenweisheit, objektives Weitenwissen zu geben. Wenn auch natürlich das Ideal nicht immer gleich erreicht werden kann, weil nicht immer ein jeder Zeit und Gelegenheit hat, das einzelne zu prüfen, so ist es doch wahr: wenn auch die Dinge nur gefunden werden können durch die okkulte Forschung, geprüft und bestätigt können sie von jeder einzelnen Seele werden, sie brauchen nicht auf Treu und Glauben hingenommen zu werden. Es müßte sich jemand nur gegenüber den Dingen, wie sie da vorliegen, vernünftige Überlegungen machen. Nehmen wir einen bestimmten Fall, und auf alle Fälle ist das anwendbar, was gesagt werden soll.

Nehmen wir an, jemand sagt: Die Menschheit hat sich entwickelt. Sinn ist in der Menschheitsentwickelung dadurch, daß ein gewisser Fortschritt in ihr vorhanden ist. Dieser Fortschritt zeigt sich dadurch, daß gewissermaßen der Mensch immer mehr eine individuelle Natur, ein individuelles Wesen wird. Dadurch ist es gegeben, daß in alten Zeiten mehr persönliche Führerschaft bestanden hat und daß in der Zukunft immer mehr die Führerschaft eintreten wird durch objektive Weisheit, durch objektives Wissen, und daß immer mehr die persön­liche Führerschaft zurücktritt, die dann immer mehr und mehr nur ein lnstrument und Mittel sein wird, um das objektive Wissen an die Menschen heranzubringen. Immer mehr nähern wir uns dem idealen Standpunkte, wo auch der okkulte Lehrer nichts anderes ist als auch der Lehrer der Mathematik, der natürlich auch da sein muß. Aber nicht auf die Autorität des Mathematiklehrers nimmt man die Mathematik

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an, sondern jeder einzelne nimmt sie an, weil er sich nach und nach zur Erkenntnis der Grunde aufschwingt, welche für die Sache sprechen. So wird immer mehr und mehr der Wissenscharakter, der Weisheits­charakter an die Stelle des Persönlichkeitscharakters treten. - Nehmen wir an, jemand sagte dies und es stünde einer solchen Aussage die andere entgegen, wo jemand sagt: Die Welt bewegt sich in Perioden, dreht sich vorwärts, wie ein Rad sich gleichförmig vorwärts bewegt. In den alten Zeiten waren große Menschheitslehrer da, in den neuen Zeiten kommen neue - dann kann man sich nicht bloß in bequemer Weise darauf berufen, man könne das eine oder das andere glauben, sondern dann muß man sich überlegen: Welches ist annehmbar für die eigene unmittelbare Vernünftigkeit? - Dann hat man die Wahl, sich zu entschließen, entweder der Menschheit keinen Fortschritt zuzuschrei­ben und immer nur alles in ewiger Wiederholung zu denken, oder der Menschheit einen Fortschritt zuzuschreiben, das heißt, der Erden-entwickelung einen Sinn zu geben. Wer dies nicht will, der Erde in ihrer Entwickelung einen Sinn geben, der mag von einer ewigen Wiederholung der Zeitepochen sprechen. Wer aber einen Sinn mit der Erde verbinden will, wie es uns gerade die okkulte Forschung zeigt, dem ist es unmöglich, vor einer ewigenWiederholung derselben Dinge zu sprechen, wie sie ja auch wirklich nicht stattfindet.

Das ist das Bedeutsame, daß wir einen Aufstieg der menschlichen Fähigkeiten anerkennen, daß wir anerkennen, daß tatsächlich durch diesen Aufstieg der menschlichen Fähigkeiten so etwas bedingt ist, wie zum Beispiel folgendes. In den alten Mysterien mußte jeder ein­zelne gewisse Prozeduren durchmachen, welche sich, man könnte sagen, an serner eigenen Persönlichkeit vollzogen; dadurch wurde er ein Initiierter. Er machte dasjenige durch, was man nennen kann die verschiedenen Grade der Initiation. Was diese verschiedenen Grade der Initiation waren, das wurde ein weltgeschlchtliches Ereignis durch das Mysterium von Golgatha. Dadurch steht es in der Tat vor der ganzen Menschheit da. Aber es wurde eben ein weltgeschichtliches Ereignis. Dadurch, daß etwas weltgeschichtliches Ereignis wird, was früher nur partielle Sache von diesen oder jenen Einweihungsstätten war, ist es ein allgemeines Menschheitsgut geworden, ganz zugänglich

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den fortschreitenden Individualitäten. Deshalb mußte ich in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» das Mysterium von Golgatha in einem gewissen Sinne als einen Abschluß der alten Myste­rien darstellen, weil dadurch in der Tat die verschledenen alten Reli­gionen in eine große Einheit zusammengelaufen sind. Der Okkultis­mus zeigt uns noch viel mehr, wie die verschiedenen Kulturströmun­gen immer mehr und mehr zusammenlaufen. Dann muß man sie aber auch in ihrem Zusammenlaufen anerkennen. Gerade wenn man okkult forscht, zeigt sich, wie die Ergebnisse der okkulten Forschung zu­sammenstimmen mit dem, was jeder doch für sich annehmen kann aus der Beobachtung auch dessen, was auf dem physischen Plan geschieht.

Nehmen wir gleich etwas sehr Weitgehendes, wovon Sie zunächst meinen können: Der sagt uns etwas, was wirklich nicht mit der äuße­ren Vernünftigkeit bewiesen werden kann, wo die äußere Vernünftig­keit nicht heran kann. - Zunächst können Sie das gewiß einer solchen Sache gegenüber sagen, wie ich sie jetzt darstellen will.

In meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» können Sie die Dar­stellung finden, wie einmal Sonne, Mond und Erde ein planetarisches Dasein hatten, wie sich dann die Sonne herausgespalten hat und später Merkur und Venus, und wie, nachdem sich die Sonne mit Merkur und Venus herausgespalten hatten, sich dann aus der Sonne auch der Mars abgespalten hat. Nun ist eigentlich ein jeder solcher Vorgang, je weiter wir zurückgehen, ein geistiger Vorgang, und es kommt eigent­lich darauf an, die Frage zu verstehen: Welche Wesenheiten waren es, die sich da abgespalten haben? Nun, für die Erde war es im wesent­lichen die Christus-Wesenheit, jene große Sonnenwesenheit, die dann durch das Mysterium von Golgatha sich wieder mit der Erde ver­bunden hat. Dadurch ist sozusagen alles das, was dem Christentum vorangegangen war, im Christentum zu einer Art von Abschluß ge­kommen. Dadurch können wir aber auch sagen, ist das Mysterium von Golgatha das Hereinbrechen einer kosmischen Tatsache in die Erdenentwickelung.

Wenn heute nun etwa auch Theosophen den Einwand erheben sollten, daß dadurch, daß der Christus einmal da war, für alle vorher­gehenden Seelen doch der Christus-Impuls nicht stattgefunden hätte,

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sondern nur für die nachfolgenden, und somit für die ersteren eine Ungerechtigkeit bedeuten würde, so könnte das zwar dem materia­listisch denkenden Menschen als ein Einwand erscheinen, nicht aber dem Theosophen. Denn der Theosoph weiß, daß die Seelen, die heute leben, dieselben sind, die in früheren Zeiten, vor dem Mysterium von Golgatha gelebt haben, so daß das Erscheinen des Christus ebenso für die früheren Seelen in Betracht kommt, denn diese werden sich ja alle nach dem Mysterium von Golgatha wieder inkarnieren. Es kann viel­leicht nur das eine eingewendet werden - das vom Theosophen ver­standen werden muß -, daß eine solche Persönlichkeit wie die des Buddha, in einer gewissen Weise eine Ausnahme machte. Wir wissen uns ja zu erheben zu dem Standpunkte des wirklichen Buddhlsten, der sagt: die Buddha-Individualität ist eine Bodhlsattva4ndividualität, die, als sie geboren wurde als Sohn des Suddhodana, im neunund-zwanzigsten Jahre zur Buddhawürde hinaufstieg und damit eine Höhe erreicht hat, von der sie nicht mehr zu einem fleischlichen Leibe zu­rückzukehren braucht, so daß die Buddha-Individualität die letzte Ver­körperung des Bodhlsattva war. Da hätten wir also eine Individualität, die sich nicht in der nachchristlichen Zeit wiederverkörpert.

Ich konnte schon in Kristiania - bei den Vorträgen «Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophle und Philosophie», im Juni 1912 - darauf aufmerksam machen, daß es für eine so hohe Individua­lität wie die Buddha-Individualität eine besondere Aufgabe in der Welt gibt. Diese Buddha-Individualität war bereits den Venusmenschen, bevor sie wieder - man nehme dazu die Darstellung in meiner « Ge­heimwissenschaft» - zurück auf die Erde gekommen sind, von der Sonne heruntergesendet worden aus den Scharen des Christus, so daß die Individualität, die in Buddha steckte, ein Abgesandter des Christus war von der Sonne zur Venus hin. Mit den Venusmenschen kam er auf die Erde und hatte dadurch so viel voraus, daß er sich durch die atlantische Zeit hindurch bis in die nachatlantische Zeit zum Buddha entwickeln konnte, vor dem Erscheinen des Christus. Er war sozu­sagen Christ vor dem Christus. Und wir wissen ja auch, daß er sich später zeigte in dem astralischen Leibe des Lukas-Jesusknaben, weil er nicht wieder herunterzusteigen brauchte in einen fleischlichen Leib.

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Aber der Buddha hatte eine andere Aufgabe für die Folgezeit, weil er sozusagen mit der Christus-Strömung verbunden ist. Diese Aufgabe ist näher charakterisiert worden in dem erwähnten Zyklus in Kristia­nia. Der Buddha brauchte sich nicht wieder in einen fleischlichen Leib zu inkarnieren. Dafür aber hatte er die Aufgabe, eine gewisse Tat, die man nicht gleich-, aber in Parallele zu dem Mysterium von Golgatha setzen darf, auf dem Mars zu vollbringen, das heißt, den Mars­menschen eine Erlösung zu bringen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Kreuzestod, wie wir ihn als Mysterium von Golgatha kennen, denn die Marsmenschen sind, wie Sie in der «Geheimwissen­schaft im Umriß» nachlesen können, anders geartet als die Erden-menschen. Das sind natürlich Ergebnisse okkulter Beobachtung, die nur durch hellseherische Forschung gefunden werden können.

Nun nehmen Sie dies Resultat, daß der Buddha, der ein Abgesandter des Christus war, auf der Venus zuerst gelebt hat. Nehmen Sie dann dazu die Eigenart des ganzen Buddhalebens, die Art, wie er geworden ist, und machen Sie es so, wie ich es selbst gemacht habe. Zuerst kam an mich heran das okkulte Ergebnis: Buddha geht von der Venus zum Mars, um dort für die Wesenheiten des Mars eine Erlösertat zu voll­bringen. Nun nehme man Buddhas Leben, wie er in einer merkwürdi­gen Weise abweicht von allen anderen gleichzeitigen Religionsstiftern. Alle anderen lehren, so viel als es möglich ist, etwas zur Verdeckung der Reinkarnationslehre; Buddha lehrt die Reinkarnation und begrün­det eine Gemeinde, die im wesentlichen auf Frömmigkeit, auf eine Art Zurückgezogenheit von der Welt begründet ist. Legen Sie sich die Frage vor: Konnte es Menschen geben, bei denen so etwas allgemeine Bedeutung haben konnte, die durch das, was eine solche Wesenheit wie der Buddha durchgemacht hat, erlöst werden konnten? - Und wenn wir weiter sprechen könnten von den Marsmenschen, wie sie beschaffen sind, so würden Sie sehen, daß allerdings das Buddhaleben für diese Jndividualität eine Art Vorbereitung für eine höhere Mission war, daß es wie ein Letztes in das Erdendasein hineingestellt war und keine unmittelbare Fortsetzung haben kann. Sie können aus dem Buddhaleben vieles vergleichen mit den okkulten Angaben und wer­den dann selbst solche, so weit in den Kosmos hineingehenden Angaben

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prüfen können. Finden, das können Sie noch nicht, aber prüfen können Sie, wenn Sie zu Hilfe nehmen, was Ihnen alles zur Verfügung steht. Und es wird zusammenstimmen, wie die Dinge sich gegenseitig tragen und halten. Wie Buddha mit der Venus in einer Verbindung steht, das hat ja auch H. P. Blavatsky erkannt, indem sie in der «Ge­heimlehre» die merkwürdige Gleichung schrieb : «Buddha = Merkur»; «Merkur» deshalb, weil man früher die Namen für Venus und Merkur verwechselt hat, so daß man heute sagen muß: Buddha=Venus. So ist also das, was der Okkultist wissen kann, schon in der «Geheim-lehre» von H.P. Blavatsky angedeutet. Man muß es nur verstehen.

Das aber ist das Wesentliche, daß selbst eine solche Sache im Zu­sammenhange steht mit der ganzen fortschreitenden Entwickelung. Wenn Sie die Entwickelung des Menschen nehmen, müssen Sie ihn im Zusammenhange mit dem ganzen Universum nehmen, müssen ihn denken als einen Mikrokosmos im Makrokosmos. Dann wird aber in diesem Zusammenhang vollständig hineinpassen, daß tatsächlich Wesenheiten vermitteln zwischen den einzelnen Planeten, so daß man tatsächlich in einer solchen Wesenheit wie dem Buddha, einen Ver­mittler zwischen den einzelnen Planeten zu sehen hat. Bei alledem wird uns sozusagen ein guter Prüfungsmaßstab das sein, wenn wir anerkennen den menschlichen Fortschritt, anerkennen, daß Evolution nicht bloß ein Wort, sondern eine Wahrheit ist. Und wie könnten wir denn nicht finden, wie Evolution eine Wahrheit ist? Wir sehen ja bei der einzelnen Pflanze - Goethe hat es uns so schön gezeigt -, wie in der Tat eine Einheit steckt im grünen Pflanzenblatt, Kelchblatt, Blumenblatt, in Staubgefäßen und Stempel, und wie darin in der Tat trotz der Einheit ein Fortschritt zu bemerken ist vom grünen Blatt zum Kelchblatt und zur Frucht. Es ist ein Fortschritt, und dieser Fort­schritt ist im geistigen Leben in einem noch eminenteren Sinne zu bemerken. Es würde eine Abstraktion sein, wenn man sagen wurde, der Mystenweg war überall, bei allen Menschen und zu allen Zeiten derselbe. Billig könnte man ja die Menschen überreden, wenn man billig sein wollte, wenn man sagen wollte: Die mystische Anschauung war dieselbe beim Jogi, beim christlichen Heiligen und so weiter. Das würde aber nicht auf einer wirklichen Erkenntnis der Tatsachen basieren,

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nicht einmal der äußeren Tatsachen. Wie groß ist der Unter­schied zwischen dem, was an richtiger Stelle der Jogi erlebt und was eine christliche Mystikerin wie die heilige Therese erlebt! Heißt es nicht, allen Sinn der Wahrheit auf die Spitze stellen statt auf den Boden, wenn man etwa die eminente Durchdringung mit dem Christus-Prin­zip - ja mit dem Jesus-Prinzip bei der heiligen Therese - vergleichen wollte mit dem, was ein indischer Jogi erlebt? So wahr ein Unterschied ist zwischen dem roten Rosenblatt und dem grünen Blatt am Rosen­stengel, so wahr ist ein Unterschied und auch ein Fortschritt von dem J ogitum zu dem, was in einer späteren Zeit eingetreten ist. Wenn auch dem Fortschreiten eingegliedert sind mannigfaltige Rückschritte, so kann man doch unterscheiden, wie die Fortschritte gegenüber den Rückschritten überwiegen und sie damit notwendig überwinden.

Das sind Dinge, die zugleich die Möglichkeit für jeden abgeben, sie zu prüfen. Und das ist notwendig. Denn Theosophie muß unter der Voraussetzung gegeben werden, daß sie zu dem Innersten der Seele, zu dem Innersten der Herzen spricht, aber daß sie zugleich von diesem Innersten der Seelen, von diesem Innersten der Herzen erfaßt werde. Es würde heißen, die Menschheit könnte niemals mündig werden, wenn man etwa für die Zukunft in der ähnlichen Weise solche Welten-lehrer erwarten würde, wie das in älteren Zeiten notwendig war, ganz abgesehen davon, daß kein wirklicher Okkultismus eine solche ab­strakte Wiederholung jemals lehren kann, weil sie den Tatsachen ab­solut widerspricht. Immer mehr und mehr wird im Weltenfortgang gerechnet werden auf die urteilenden und prüfenden Seelen. Daher ist es in der Gegenwart so schwer, an eine Individualität anzuknüpfen, die viel verkannt wird, auch unter Okkultisten; nämlich an die In­dividualität des Christian Rosenkreutz. Niemals wird von denen, die an ihn anknüpfen, das Prinzip verleugnet werden, das eben hier aus­gesprochen ist. Aber nur langsam und allmählich entwickelt sich die Menschheit gerade zur Anerkennung des den Menschen in seiner Würde am meisten zeigenden, aber auch unbequemsten Entwicke­lungsprinzips. Deshalb wird es sein, und es wird ganz gewiß sein, daß derjenige, den wir anerkennen als Christian Rosenkreutz, als den Führer der okkulten Bewegung in die Zukunft hinein, und der ganz

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gewiß nicht seine Autorität durch einen äußeren Kultus in der Welt je enifalten wird, am meisten verkannt werden wird. Und die, welche es wissen, wie es gerade mit dieser Individualität steht, die wissen auch, daß Christian Rosenkreutz der größte Märtyrer unter den Menschen sein wird, abgesehen von dem Christus, der gelitten hat als ein Gott. Und die Leiden, die ihn zum großen Märtyrer machen werden, werden davon herrühren, daß die Menschen so wenig den Entschluß fassen, in die eigene Seele hineinzusehen, um immer mehr die sich entwik­kelnde Individualität zu suchen und sich der Unbequemlichkeit zu unterziehen, daß ihnen nicht wie auf einem Präsentierteller die fertige Wahrheit entgegengebracht wird, sondern daß man sie erringen muß in heißem Streben, in heißem Ringen und Suchen, und daß nicht andere Anforderungen gestellt werden können im Namen dessen, den man als Christian Rosenkreutz bezeichnet.

Und diese Anforderungen stehen im Einklänge mit der heutigen Zeit und mit dem, was die heutige Zeit fühlt, wenn sie es auch vielfach miß-deutet. Die heutige Zeit fühlt ganz genau, daß immer mehr und mehr die Individualität sich heben wird. Und wenn sie dies auch grotesk und zuweilen in einem unmöglichen Radikalismus ausdrückt, so entspricht dies doch einem richtigen Instinkte im menschlichen Denken und Fühlen. Manchmal ist man tatsächlich überrascht, daß trotz allem, was an Materialismus und an Unmöglichkeiten in der heutigen Kultur ge­geben wird, in bezug auf manche Dinge ein unbedingt richtiger In­stinkt vorwaltet, wenn er auch oft auf die Spitze getrieben und zur Karikatur wird. Das muß ich gestehen gegenüber einem jetzt erschie­nenen Buche, «Zur Kritik der Zeit» von Walther Rathenag, wo es an einer Stelle heißt: Die Zeit der Sektenstiftung, die Zeit des Autoritäts­glaubens ist ein für allemal vorbei, ist vorbei als ein mögliches Ideal der Menschheit. - Obwohl gerade in unserer Zeit alles, was als das Richtige sich entwickelt, sein Gegengewicht hervorruft, so daß heute in gewissen Kreisen gerade Autoritätsglaube und Dogmensucht vor­handen sind. Und trotzdem: wer die Dinge in unserer Zeit kennt, kann einsehen, daß nichts so sehr den Frieden unter den Menschen heute untergraben könnte als die Nichtanerkennung dieses Prinzips, das eben jetzt ausgesprochen worden ist. Es muß ein Ideal der Menschen

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sein, die objektive Wahrheit zu durchdringen und anzuerkennen, sich zu erheben durch objektive Wahrheit in die geistigen Welten. Dem würde ein Hindernis entgegengeschoben werden, wenn man irgendeine Wahrheit, die, wie es nicht sein kann in der Zukunft, ein­seitig auf persönliche Autorität begründen wollte! Das muß im rich­tigen Sinne gesehen werden. Es ist wirklich schwierig, sehr schwierig, und indem lange - doch jetzt schon viele Jahre hindurch - geistes-wissenschaftlich gearbeitet wird, hat es sich gezeigt, wie schwierig es ist. Und nicht nur hier, sondern überall, wo es möglich ist theosophisch arbeiten zu dürfen, zeigt es sich, daß es immerhin schwierig ist, diesen Grundnerv theosophischen Strebens zu dem Grundnerv des eigent­lichen theosophischen Wirkens zu machen. Es ist schwierig, ist aus dem Grunde schwierig, weil es immer Menschen geben wird, die gerade zu dem, was so sehr Grundlmpuls unserer Zeit werden muß, nicht leicht sich hinaufschwingen wollen. Man begegnet sehr leicht diesem oder jenem Einwand, der von selbst behoben würde, wenn man sich nur ein wenig einließe auf die Grundbedingungen unserer Zeit, wenn man nur ein wenig verstehen würde, daß die Menschheit doch immerhin einem Fortschritte zu geht. Den ganzen Geist der Theosophie zu fassen: darum handelt es sich! Aber gegen den Geist der Theosophie würde es zum Beispiel ungeheuer sprechen, wenn das geglaubt werden könnte in den weiteren Kreisen der Theosophen, was vielfach heute verbreitet wird: daß von einer besonderen Kontinentgestaltung auf der Erde das abhinge, was man gerade zu einem Gemeingut ohne Unterschied von Rasse und Farbe machen will. Ist es denn möglich, daß man mit einem Satze zurücknimmt, was man mit einem Satze geben will? Ist es denn so schwierig, den Widerspruch zu bemerken, wenn man auf der einen Seite spricht von einer Ausbreitung der all­gemeinen Weisheit, die ein Gemeingut aller Menschen werden soll ohne Rassen- und andere Unterschiede, wenn man aber irgendeine Zukunftskultur abhängig machen will von einer lokalisierten, ein­gerahmten Rasse? Es ist notwendig, daß man sich diese Dinge wirklich überlegt, daß man wirklich zu diesen Dingen durchdringt. Jst es denn möglich, von einem Menschheitsfortschritte zu sprechen, wenn man immer wieder und wieder davon spricht, daß man dieselben Bedürfnisse

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- nämlich eine persönliche Lehrerautorität - in die Welt hinein­stellen müßte? Ist es möglich, davon zu sprechen, daß des Menschen Geisteskräfte stärker werden sollen, daß er sich erheben soll zur gei­stigen Welt, wenn man es davon abhängig machen will, daß sich ein einzelner Mensch hinstellt als Autorität auf diese physische Erde? Dies ist außerordentlich leicht zu sagen: alle Meinungen wären gleich in der theosophischen Bewegung. Das bleibt eine Phrase, wenn es nicht im Ernst genommen wird. Und insbesondere bleibt es eine Phrase, wenn die Meinung des andern nicht in der richtigen Weise dargestellt wird. Schon einmal mußte ich hier sagen: Es bleibt die Gleichberech­tigung der Meinungen eine Phrase, wenn das, was hier getrieben wird und nicht im mindesten etwas zu tun hat mit irgendeinem Punkte oder irgendeiner Rasse der Erde, auf andern Seiten so dargestellt wird, als wenn es bloß auf den deutschen Charakter zugeschnitten wäre. - Es ist eine Menschheitssache, wie die Mathematik, und nicht die Sache einer einzelnen Nation. Und das, was wir hier treiben, so darzustellen, als ob es die Sache einer Nation, eines engbegrenzten Territoriums wäre, das ist eine Unwahrheit, und es darf nicht mit einer allgemeinen Phrase begründet werden, daß man objektive Unwahrheiten in die Welt setzt. Denn dann kommt der andere sehr leicht ins Unrecht, dann ladet sich sehr leicht der Schein der Intoleranz auf ihn ab, weil er ver­pflichtet ist, für die Wahrheit einzutreten. Es könnte einmal in dieser Beziehung die Stunde ernst werden! Und nur der wird verstehen, was ich sagte, der die Theosophie im weitesten Sinne ernst nimmt und sich nicht auf die Dinge einläßt, die im Widerspruche mit dem Ernst und dem Nerv der theosophischen Wirkung stehen.

Gesetzt den Fall, man wäre verpflichtet, diejenigen, die nicht alles prüfen können, abzuhalten von gewissen Unwahrheiten. Darf dann der andere sagen: Das wäre eine Intoleranz? Er darf es sagen, wenn er unter dem Schein der Wahrheit etwa nur die Herrschaft anstreben würde! Wirken wird in der Zukunft die von physischen Verhältnissen unabhängige, die spirituelle Wahrheit mit ihren Impulsen, mit ihren Wirkensmöglichkeiten. Und das wird das Schöne, das Große sein, wenn durch die Theosophie gewirkt werden kann ein Einheitliches über die ganze Erde hin. Nicht aus persönlichen Gründen, nicht aus

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nationalen Gründen, nicht einmal, möchte ich sagen, aus irgend­welchen Menschheitsgründen, sondern aus rein theosophischen Gründen möchte einem das Herz bluten, wenn heute von der Präsi­dentin der Theosophischen Gesellschaft in England Reden gehalten werden, die nicht etwa im theosophischen Sinne als «theosophisch» zu bezeichnen sind, sondern die im eminenten Sinne als politische Reden aufzufassen sind. Bluten möchte einem, wenn man an die guten alten Traditionen der Theosophie denkt, das Herz, wenn heute in einer theosophischen Rede die Worte fallen, daß einmal die Zeit kommen werde, von der man sagen kann: « England mit Indien in der Mitte -Amerika und Deutschland rechts und links: eine Weltpolitik unter der Flagge der Theosophie!» Und nun sagt man: Hier bei uns walte In­toleranz, wenn die Verpffichtung einem obliegt, darauf aufmerksam zu machen, daß sich bei solchen Reden in die Führerschaft das drängt, was nicht mitsprechen darf: das persönliche Element! Ich muß ge­stehen, dem Okkultisten wird es wehe in seinem Sinne ums Herz, wenn man so etwas vernehmen muß als «theosophisch» gemeint, wehe ums Herz, nicht aus nationalen Gründen, ich wiederhole es noch einmal. Nicht aus persönlichen Gründen, nicht aus allgemeinen Menschheitsgründen, sondern aus rein theosophischen und rein okkulten Gründen wird es einem wehe ums Herz, wenn man das, was gerade der innerste Nerv des theosophischen Wirkens sein muß, zu­sammengebracht sieht - meinetwillen unbewußt - mit nationalen und imperialistischen Aspirationen. Nicht darum, weil ich irgend etwas gegen irgendein Land der Erde habe, nicht darum, daß ich gegen irgendwelche Aspiratioren sprechen will, handelt es sich, sondern weil es sich von vornherein zeigt, daß das In-den-Vordergrund-Stellen irgendeiner solchen Aspiration ein Vermischen persönlichster Ele­mente mit dem theosophischen Ideal ist.

Ich habe manchmal von den Aufgaben, von den Zielen der Theo-sophie in ernsten Worten zu Ihnen gesprochen. Der Okkultist redet nicht unüberlegt. Der Okkultist weiß sehr wohl, wann er auch diese oder jene Worte gebrauchen will - muß! Und ganz von jeglicher Emo­tion, ganz von jeglicher Leidenschaft, von jeglicher Sympathie oder Antipathie ist das entfernt, was ich Ihnen gesagt habe. Aber es war

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abgefordert von etwas, was Sie vielleicht doch einmal ansehen können als den Ernst der Stunde - für den Okkultismus, für die Theosophie, meine ich! Die Theosophie muß, das habe ich oftmals betont, aus den Quellen menschlicher Weisheit herausholen, was für unsere Gegen­wart für die Menschheit zu sagen ist. Das muß sie. Und wenn die Theosophie diesem Ideal entgegengehen soll, dann ist es nötig, daß sie sich ganz auf sich selbst stellt, daß sie in sich - nicht nur für das, was sie zu sagen hat, sondern auch für die Art und Weise, wie sie der Welt gegenüberzutreten hat - die Richtschnur findet, damit nicht Richt­schnüre, die draußen walten, hereinspielen in unsere theosophische Bewegung. Da werden sie vom Übel, recht sehr vom Übel. Ebenso­viele Zerstörungsstoffe übergibt man der theosophischen Bewegung, als man von gewissen Usancen, die heute im äußeren Leben vorhanden sind, in die theosophische Bewegung einführt. Draußen wirken sie zu­weilen grotesk, so grotesk, daß sich die Außenwelt hüten wird, man­ches für sich nachzumachen, was auf okkultistischem Boden, weil die­ser eben ein heißer ist, entstehen konnte. Die Außenwelt hat heute ver­schiedene Vereine, hat Vereine für Friedensbewegung, für Vegetaris­mus, Antialkoholvereine und so weiter. Das sind doch Ziele, die man sich setzen kann. Wenn die Vereinsbegründung sich etwa gar darauf erstrecken sollte, daß Vereine oder gar Orden daraufhin begründet werden, daß Persönlichkeiten, Religionsstifter oder sonstige Persön­lichkeiten in die Welt treten sollen, Vereine oder Orden für das Heran-nahen von künftigen Weltheilanden, dann kann das nicht einial die Außenwelt nachmachen. Denn ich glaube nicht, daß ein Staatsmann das nachmachen würde, einen Verein zu gründen für das Kommen eines neuen Staatsmannes, oder daß ein General einen Verein gründen würde für das Kommen eines großen Generals. So einfach sind die Dinge, daß man sie sich nur überlegen müßte. Denn einen Verein zu gründen, um das Kommen eines Weitheilandes zu erwarten, ist nicht grotesker als einen Verein zu gründen für das Kommen eines neuen Staatsmannes oder eines großen Generals.

Als eine Persönlichkeit, die heute viel mit dem Gründen eines sol­chen Ordens beschäftigt ist, mir auf das eben Angeführte einwendete:

Ja, aber das Deutsche Reich hat doch auch einen Verein begründet im

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Jahre 1848 zur Einigung der deutschen Staaten, und dann ist doch auch der Bismarck gekommen und hat dafür gesorgt, daß das Deutsche Reich zustande gekommen ist, - so mußte ich darauf antworten: Ich weiß wirklich nicht, daß jemals ein Verein begründet worden wäre für das Kommen eines « Bismarck ».

Meinen Sie, ich sage das, um etwas Spaßhaftes vorzubringen? Ich sage es, weil der Okkultismus auch noch die Seite hat, wenn er nicht richtig betrieben wird, daß er die Urteilskräfte, statt sie auszubilden auch untergraben kann, und weil es mir auf der andern Seite tiefer Ernst ist mit Bezug auf das, was ich öfter gesagt habe. Es mag man­ches hier zusammengetragen sein über okkulte Dinge. In fünfzig Jahren wird man vielleicht diese oder jene Punkte genauer erforscht haben, wird dieses oder jenes anders sagen können. Und wenn kein Stein zurückbleiben würde von dem, was als Inhalt hier ausgeführt worden ist, daß aber das eine zurückbleibt, möchte ich: daß hier in­auguriert und scharf eingehalten worden ist eine theosophisch-okkul­tistische Bewegung, die einzig und allein begründet sein will auf Wahr­haftigkeit und Wahrheit! Und wenn man selbst schon in fünfzig Jahren sagen wird: Alles muß korrigiert werden, was die da gesagt haben; aber wahr wollten sie sein und nichts passieren lassen als das, was wahr sein kann, - dann wäre auch mein Jdeal erreicht. Wahr­haftigkeit und Wahrheit, daß sie bestehen können auch mit einer okkultistischen Bewegung, das sollte einmal, und wenn sich noch so viele Stürme dagegen erheben werden, mit unserer Bewegung in der Welt - ich will nicht stolz sein und sagen «gezeigt» -, sondern an­gestrebt werden!

Damit wollen wir in unsern Sommer eintreten und uns manches überlegen von dem, was heute, aber auch im Laufe des Winters gesagt worden ist. Denn nunmehr ist es notwendig, daß ich mich mit einigen andern zu der Arbeit wende, die uns in München für die anthropo­sophische Sache im August bevorsteht.

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HINWEISE

Zu der Zeit, als Rudolf Steiner diese Vortrage hielt, stand er mit seiner anthtoposophisch orientierten Geisteswissenschaft noch innerhalb der damaligen Theosopbischcn Gesell­schaft und gebrauchte die Worte «Theosophie» und «theosophisch», jedoch immer im Sinne seiner von Anfang an anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Einer späteren Angabe Rudolf Steiners gemäß sind hier diese Bezeichnungen im allgemeinen durch «Geisteswissenschaft» oder «Anthroposophie», «geisteswissenschaftlich» oder «anthroposophisch» ersetzt.

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9 Münchener Veranstaltung: Gespielt wurden: «Die Pforte der Einweihung» und als Uraufführung «Die Prüfung der Seele» von Rudolf Steiner, vorher «Das heilige Drama von Eleusis» von Edouard Schuré, übersetzt von Marie von Sivers und in freie Rhythmen gebracht durch Rudolf Steiner.

10 wie es die «Prüfung der Seele» ist: Siehe Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Gesamtausgabe Domach 1962.

11 Architektenhaussaal: im ehemaligen Berliner Architektenhaus Wilhelmstraße 92/93. Rudolf Steiner hat in der Zeit von 1902-1918 die öffentlichen Vorträge in Berlin meistens dort gehalten.

12 Münchener Bau: Der zuerst für München geplante Bau, an dessen Stelle 1913-1918 das Geetheanum in Dornach gebaut wurde.

das erste mitteleuropäische anthroposophische Haus: Siehe Rudolf Steiner «Die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues», zwei Vorträge, Stuttgart 1911.

13 «der Kongreß der europäischen Sektionen in Genua nicbt zustande gekommen ist... über die Ursachen u,sd Gründe»: Siehe: Generalveraarumlung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft in Berlin am 10. Dez. 1911, gedruckt in «Mit­teilungen für die Mitglieder der deutschen Sektion der Theosophischen Gesell­schaft », herausgegeben von Mathilde Scholl, Nr. XIII März 1912.

13 Vorträge... in Lugano, Locarno, Mailand, Neuchâtel: Siehe Rudolf Steiner « Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», Gesamt­ausgabe Dornach 1962.

14 Mysterium der Auftrstehung: Siehe Rudolf Steiner «Von Jesus zu Christus», Ge-samtausgabe Dornach 1958.

15 Pauluswort: 1. Kor. 15, Vers 14.

Helena Petrowna Blavatsky, 1831-1891. « The seeret doctrine», The synthesis of seienre, religion and philosophy. Deutsch « Die Geheimlehre», aus dem Eng­lischen der dritten Auflage übersetzt von Robert Froche, Leipzig o. J. und Ulm 1960/61. «Isis Unveiled», New York 1877, Deutsch «Die entsehleierte Isis», Leipzig o. J. (1909).

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17 orientalisierende Theosophie der Blavatsky: Siehe auch Rudolf Steiner «Mein Lebens-gang» Kap. XXXIX u. if., Gesamtausgabe Dornach 1961.

19 Annie Besant, London 1847-1933 Adyar, Indien. «Esoterisches Christentum, oder die kleinen Mysterien.» Autor. Ühersetaung von Mathilde Scholl, Leipzig 1903.

22 Rudolf Steiner «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Gesa",tausgahe Dornach 1960.

den größten Lehrer des Christentums, Christian Rosenkreusz: Siehe Hinweis zu S.13. Annie Besant «Ein Wandel der Welt», Leipzig 1910.

23f Die mexikanischen Gottheiten Quetzalkoatl end Tetzkatlispoka: Siehe Rudolf Steiner «Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neun-zehnten Jahrhunderts», Gesamtausgabe Dornach 1964.

24 So möchte ich... demndchst auch hier...... sprechen: Siehe «Die Evolurion vom Gesichts­punkte des Wahrhaftigen», Geamtausgabe Domach 1958.

31 in einem der letzten öffentlichen Vorfräge: Siehe Rudolf Steiner « Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung», Gesamtausgabe Dornach 1962, 8. Vortrag vom 4. Januar 1912 «Der Ursprung des Menschen im Lichte der Geisteswissenschaft».

36 Martin Büber, geb. 1878, «Chinesische Geister- und Liebesgeschichten», Frank­furt a. M. 1911.

37 wie Friedrich Schlegel das Jndercum erschlossen hat: Friedrich Schlegel, 1772-1829. «Von der Sprache und Weisheit der Inder», 1808.

Arthur Schopenhauer, 1788-1860. Sämtliche Werke in 12 Bdn. mit Einleitung von Dr. Rudolf Steiner, Stuttgart und Berlin o.J. (1894).

Eduard von Hartmann, 1842-1906.

Michael Bauer, 1871-1929.

Friedrich Theodor Vischer..., 1807-1887.

56 Goethesche Ausspruch: « Faust I», Auerbachs Keller.

Doktorschrift... über das «Verhältnis des Ich zum Denken»: Konnte bisher nicht gefunden werden.

Kapitel über... Goethes Verhältnis zur Naturwissenschaft: Es ist nicht bekannt, um welchen Aufsatz es sich hier handelt.

Rudolf Steiner «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenhestimmung», Gesamtausgabe Dornach 1961.

«Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beohachtungaresultate nach naturwissenschaftlicher Methode.» Gesamt­ausgabe Dornach 1962.

«Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit.» Gesamt­ausgabe Dornach 1958.

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58 im Markus-Evangelium: Markus 1, Vers 15.

61 jetzt... orschiennor anthroposophischer... Kalender...: Rudolf Steiner: Anthroposophischer Seelenkalender, in «Wahrspruchworte», Gesamtausgabe Dornach 1961, und als Einzelausgabe Dornach 1963.

Imme von Eckhardtstein, 1871-1930.

63 Kalewala: Eine erste deutsche Übersetzung der Kalewala, auf die sich wohl alle späteren Übersetzungen stützen, erschien im Jahre 1852 in Helsingfors und stammt von Anton Schiefner.

was ich... auch hier an diesem Orte schon alters erwähnt habe: Siehe Rudolf Steiner «Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Finnland und die Kalevala», 3 Vorträge Nov.1914. Dornach 1932.

67 in den öffentlichen Berliner Architektenhausvorträgen: Siehe Rudolf Steiner « Menschen-geschichte im Lichte der Geisteaforschung», Gesamtausgabe Dornach 1962. 8.Vortrag 4.Jan.1912, «Der Ursprung des Menschen im Lichte der Geistes-wissenschaft» und 9. Vortrag 18.Jan.1912 «Der Ursprung der Tierwelt im Lichte der Geisteswissenschaft ».

71 jener öffentliche Vortrag: Rudolf Steiner «Das Wesen nationaler Epen mit speziellem Hinweis a'af Kalevala», Berlin 1912.

72 « Die Pfrrte der... Einweihung»: Siehe Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Gesamtausgabe Dornach 1962.

73 «Die Erziehung des Kindes vom Getichtspio'kte der Geisteswisenschaft»: in Rudolf Steiner «Luzifer-Gnosis 1903-1908. Grundlegende Au£satze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift und , Gesamt-ausgabe Dornach 1960; ferner in TB Stuttgart 1961.

82 «Lieber ein Bettler sein in der... Oherwelt als ein König im Reishe der Schatten!»: Homer «Odyssee» 11. Gesang Vers 489-491, Worte des Achilleus.

«Der Prophet Elias im Lichte der Geisteswissenschaft»: in Rudolf Steiner « Menschen-geschichte im Lichte der Geistesforschung», Gesamtausgabe Dornach 1962.

Voltälre (eig. François-Marie Arouet), 1694-1778.

93 Novalis (eig. Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg), 1772-1801.

94 Herman Grimm, 1828-1901. «Das Leben Raphaels», 1872, mehrere Bearbeitungen, zuletzt 1892.

96 Awtaiius Grun (eig. Anton Alexander Graf von Auersperg), 1806-1876. «Fünf Ostern» in der Gedichtsammlung «Schutt» 1835.

97 f. Anastasius Grün, «Fünf Ostern», Ende des letzten Gesanges.

109 Friedrich Nietzsche, 1844-1900. Über Sklaverei vgL z. B. «Die Wiederkunft des Gleichen ». Drittes Buch: Die Einverleibung des Wissens. Leidenschaft der Erkenntnis.

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Zu Seite:

114 Ausspruch des Evangeliums: Matthäus 25, 40.

117 in den Vortragen über die Apokalypse: Rudolf Steiner «Die Apokalypse des Jo­hannes», Gesamtausgabe Domach 1962.

135 Rudolf Steiner «Die Gebeimwissenschaft im Umriß», Gesamtausgabe Domach

1962.

152 es ist ja der Punkt, der heute besprochen wird: Anmerkung von Marie Steiner in der Ausgabe Dornach 1932: «Es wird damit auf gewisse Einseitigkeiten und mangelnde Erkenntnisse in den Lehren der Theosopbical Societs hingewiesen.»

153 Rudolf Steiner «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Gesamtausgabe Dornach 1963.

158 Rudolf Steiner «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums», Gesamtausgabe Domach 1959. «Die Geheimwissenschaft im Um­riß», Gesamtausgabe Dornach 1962.

159 Rudolf Steiner «Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie», Gesamtausgabe Dornach 1956.

161 H.P. Blavatsky, siehe Hinweis zu Seite 15.

163 Walther Rathenau, 1867-1922. Mitglied der deutschen Regierung nach dem 1. Welt­krieg, ,

167 Vereine oder Orden für das Herannahen von künftigen Weltheilanden: Von Marie Steiner zu dieser Stelle hinzugefügte Anmerkung in der Ausgabe von 1932: «Für die­jenigen Persönlichkeiten, welche die anthroposophische Weltanschauung erst in jüngster Zeit kennen gelernt haben, sei hier bemerkt, daß die obigen Wone gesprochen sind in der Zeit, als Mrs. Besant den Verein mit Zielen wie die oben angedeuteten und von mir abgewiesenen, gegründet hatte. Die später hervortretende gehässige Agitation gegen das Deutschtum der Mrs. Besant ist übrigens eine echte Frucht ihrer schon damals zutage tretenden Ver­irrungen.»

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.