GA 127

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Mission der neuen Geistesoffenbarung

Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen
der Erdenevolution

Sechzehn Vorträge
gehalten zwischen dem 5. Januar und 26. Dezember 1911
an verschiedenen Orten

GA 127

1975

Inhaltsverzeichnis


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DIE VERSCHIEDENEN ZEITALTER DER MENSCHHEITSENTWICKELUNG UND IHRE EINWIRKUNG AUF DIE MENSCHLICHEN WESENSGLIEDER Mannheim, 5. Januar 1911

Es ist schon einige Zeit her, daß es möglich war, auch hier in Mannheim eine Zweigversammlung zu haben, und heute dürfen wir wiederum einer solchen Aufgabe genügen. Nun haben Sie, meine lieben Freunde, hier in den letzten Zeiten aufmerksam, eifrig dasjenige an Wissen sich angeeignet, was man die wichtigeren Ideen, Einsichten unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung nennen kann. Deshalb ist es viel-leicht nicht unangemessen, wenn wir heute über etwas sprechen, das auf der einen Seite unseren Blick auf das Ganze unserer geisteswissen­schaftlichen Bewegung wendet und auf der anderen Seite uns auch Gelegenheit gibt, das, was wir uns angeeignet haben an spirituellem Wissen, namentlich über den Menschen und seine Entwickelung, ein wenig zu verwerten, zu verwerten sozusagen in dem Dienste, dem jeder Mensch ergeben sein soll, und der gerade für Anthroposophen durch ihre Einsichten, durch dasjenige, was sie an Empfindungen aus der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung heraus gewinnen können, eine besondere Gestalt annehmen soll. Sie wissen, meine lieben Freunde, daß die Entwickelung der Menschheit vorwärtsschreitet, daß Epoche nach Epoche, Zeitalter nach Zeitalter folgt, und ein jedes Zeitalter hat seine besondere Aufgabe. Wir können in der geschichtlichen Entwicke­lung der Menschheit größere und kleinere Zeitalter unterscheiden, und es gibt in jedem Zeitalter wiederum ganz besondere Zeitpunkte, in denen es notwendig ist, nicht zu versäumen, die eigentliche Aufgabe, die eigentliche Mission dieses Zeitalters zu durchdringen. Wir dürfen bemerken, daß den Menschen in den aufeinanderfolgenden Zeiträumen aus den geistigen Welten heraus Aufgaben gestellt werden, Aufgaben, die für dieses oder jenes Zeitalter ganz besondere sind, und für uns Menschen handelt es sich dann darum, das Rechte zu tun, um etwas zu wissen von diesen Aufgaben, um in unsere Seele eine Erkenntnis dieser Aufgaben aufzunehmen.

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Wir leben wirklich in einem Zeitalter, wo es dringend notwendig ist, daß eine Anzahl von Menschen sich wiederum ein Wissen verschafft von dem, was vorzugsweise auf dem geistigen Gebiete heute oder in unserer Gegenwart zu tun ist. Ich m&hte zunächst nur zwei Zeiträume, die uns ganz naheliegen, vor Ihre Seele hinrücken, zwei Zeiträume, die uns deshalb naheliegen, weil der eine der Vergangenheit angehört und vieles von ihm an geistigen Gütern und geistigen Erzeugnissen noch in unsere Gegenwart hereinreicht; der zweite Zeitraum aber ist kaum im Anlaufen. Wir stehen an dem Beginn eines neuen Zeitraumes, eines klei­neren Zyklus oder Zeitraumes der Menschheit, stehen sozusagen an der Grenzscheide. Deshalb ist es von ganz besonderer Wichtigkeit, diese zwei Zeiträume ein wenig zu durchschauen. Der eine Zeitraum umfaßt ungefähr jene Epoche, die mit Augustinus begann und etwa mit dem Herannahen des 16. Jahrhunderts endete. In der okkulten Wissenschaft sagt man: Dieser Zeitraum umfaßt die Zeit von Augustinus bis Calvin.-Dann haben wir auf diesen einen anderen Zeitraum folgend, der die Zeit umfaßt von Calvin bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Und wir stehen wieder am Ausgangspunkt eines Zeitraumes mit neuen Aufgaben, deren Einhaltung außerordentlich wichtig ist für die nächste Zukunft der Menschheit. Nun wollen wir uns zunächst ein kleines Bild davon machen, was an solchen Ausgangspunkten von neuen Zeit­räumen ganz besonders geschieht. Da wird, wenn ein Zeitraum in den anderen eingeht, etwas alt, und etwas ist jung. Etwas geht seinem Ver­fall entgegen, und anderes ist wieder keimhaft, wie wurzelhaft vor­handen, gleichsam wie eine neue Morgenröte für einen Sonnenschein, der sich vorbereitet als der Sonnenschein eines neuen Zeitalters. Und das Eigentümliche eines solchen Übergangszeitalters - Sie wissen, man spricht in verschiedenem Sinn von Übergangszeitaltern, aber wir haben es wirklich in ganz bedeutungsvollem Sinne mit einem Übergangs-zeitalter heute zu tun - zeigt sich, daß neue Kräfte der Kultur der Menschheit zugefügt werden müssen.

Ich will, um dies zu charakterisieren, eine große Aufgabe für die Gesamtmenschheit ins Auge fassen; das ist das Aufkommen des Chri­stentums. Wenn wir uns ein Bild verschaffen von der Art, wie das Christentum aufkam, müssen wir sagen: Eigentlich haben es gerade

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diejenigen abgelehnt, die an der Spitze der Kultur waren. Aber es waren zugleich die, welche an der Spitze der Kultur waren, bei einem Verfall angelangt. Man versuche sich ein Bild zu machen von der römischen Kultur, wie sie im Verfall begriffen war, und man versuche sich ein Bild zu machen, wie die Gemeinden beschaffen waren, denen Paulus predigte. Das waren Leute, die sozusagen naiv, aber mit frischen Kräften der Kultur gegenüberstanden, mit einer lebendigen Empfin­dung für das, was da kommen sollte, die man nicht so eigentlich zur höchsten Blüte der damaligen Kultur rechnete. Das waren die neuen Kräfte, aber zuweilen sogar aus den untersten Schichten des Volkes geboren. Weil das komplizierte soziale Leben der oberen tonangeben­den Kreise, wenn es sich eine Zeitlang entwickelt hat, niedergehen muß, namentlich aber die Wissenschaft mit ihren Begriffen, Ideen und so weiter an einem Rand ankommt, wo sie sich nicht weiterentwickeln kann, muß etwas Neues, das Volkstümliche, eingreifen. Da haben wir einen großen Umschwung vor uns hingestellt. In gewisser Beziehung stehen wir heute wieder vor einem Umschwung. Dasjenige, was mit großer Hingabe errungen ist als wissenschaftliche Gedanken und Ideen, das ist tatsächlich an einem Punkte angekommen, dem gegenüber sich jeder Einsichtige sagen muß: es geht wirklich nicht weiter - die wissen­schaftlichen Begriffe und Ideen, die heute in offiziellen Strömungen getrieben werden, stehen vor einem Verfall. Und überhaupt die ganze Art, wie das geistige Leben angefaßt wird da, wo die großen Strömun­gen dieses geistigen Lebens fließen, ist in einem vollen Verfall. Ich möchte mit einigen krassen Worten schildern, wie dieser Verfall wirk­lich mit verhältnismäßig schnellen Schritten beobachtet werden konnte von denjenigen, die überhaupt so etwas beobachten.

Wenn man teilgenommen hat an dem Leben, wie es sich auslebte in der Literatur, durch Bücher und dergleichen, in der Wissenschaft, dann wuchs man dazu mit einem Ernst heran, mit einem gewissen, heute schon als altväterisch angesehenem Ernst, den man gar nicht mehr ver­steht. Der ganze Ton von Wochenschriften zum Beispiel war in den siebziger Jahren wesentlich anders, als er heute ist. Er war, wenn wir den Ausdruck gebrauchen dürfen, viel, viel gediegener. Es gab dazumal ganz bestimmte Ansichten innerhalb dieser geistigen Strömung, wie

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man sich verhält zum Drama, zur Lyrik und so weiter. Das ist ab­gekommen, wie man damals gedacht hat. Dazumal gab es auch eine bestimmte Art zu dichten, indem man weniger strengen Anforderungen genügte, zum Beispiel Dramen zu schreiben bei kleinen festlichen Ge­legenheiten, mehr zum Spaß, zum Scherz. Da war manchmal ganz gutes Talent darinnen. Insbesondere die Studenten bei ihren Versamm­lungen führten Dramen auf, in denen ganz gutes Talent darin war. Nun wurde man etwas älter und konnte Umschau halten über die lite­rarischen Strömungen, und man fand darunter geschätzte Produkte, die aber ganz genau dasselbe waren, was man früher nur für den Tag reif gehalten hatte. Das wurde literaturreif für die geistige Bewegung. Um nicht gar zu sehr Anstoß zu erregen, möchte ich keinen Namen nennen. Heute stehen wir bereits vor dem Punkte, daß wir im weitesten Umkreis überall - ganze Buchhändlerläden sind damit ausgefüllt -nichts anderes haben als gedruckte Trivialitäten. Noch vor dreißig bis vierzig Jahren wäre es einem um die Tinte leid gewesen, um sie aufzu­schreiben. Wenn der Mensch in einem solchen Umschwung darinnen-steht, beurteilt er die Dinge nicht kraß genug, aber so wird die Kultur­geschichte einmal unser Ende des 19.Jahrhunderts zu charakterisieren haben. So stehen wir in der Tat vor einem Verfall des hergebrachten geistigen Lebens, und leicht könnte man das nachweisen an dem Verfall der wissenschaftlichen Theorien. Daher dürfen wir uns nicht verwun­dern, wenn dasjenige, was auftreten soll als eine neue geistige Bewe­gung, was zuführen soll der menschlichen Entwickelung etwas Neues, wenig Zuspruch findet bei dem, was man heute offizielles geistiges Leben nennt; wenn die Angehörigen dieser Kreise sagen: Da gibt es solche Vereinigungen von halben Narren, die sich Theosophen nennen, das sind im Grunde recht ungebildete Leute meist - und so weiter. -Das sind Notwendigkeiten, die in jedem Übergangszeitalter vorhanden sind. Es müssen von unten auf frische Kräfte kommen, und was so auf-sprießt, das wird dann für das spätere Zeitalter dasjenige, was not­wendig ist, um wirklich eine aufsteigende Bewegung herzustellen.

Nun sagte ich Ihnen: zwei Zeitalter haben wir hingehen sehen. Das Zeitalter von Augustinus bis Calvin etwa war ein Zeitalter, welches vorzugsweise alle Seelenkräfte des Menschen, alle Kräfte des Menschen

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zu verinnerlichen suchte. Verinnerlichung war auf allen Gebieten in dieser Zeit zu sehen; äußere Naturwissenschaft wurde weniger ge­trieben, der Blick des Menschen war weniger auf die äußeren Natur­gesetze und -erscheinungen gerichtet. Im Ausgangspunkt des Augu­stinus selber, in dem wir in gewisser Art vorgebildet sehen unsere geisteswissenschaftliche Gliederung des Menschen, in dem finden wir den Gedanken eines Hereinwirkens übersinnlicher Mächte, die sich des Menschen als Werkzeug bedienen. Im weiteren Verlaufe dieser Epoche

- was begegnen uns da für merkwürdige Erscheinungen, die Mystik Meister Eckharts, Susos, Johannes Taulers und vieler anderer. Wenn auch die äußere Wissenschaft in dieser Epoche in den Hintergrund trat, so finden wir in ihr eine andere merkwürdige Art, die Natur mit genia­lischem intuitivem Blick zu umspannen. Wir sehen, wie sich das erhöht in solchen Menschen wie zum Beispiel Agrippa von Nettesheim. Solche Erscheinungen wie Paracelsus, Jakob Böhme treten uns entgegen als die Früchte dieser Vertiefung der menschlichen Seele in jenen Jahrhunder­ten. Solch eine Strömung kann immer nur eine bestimmte Zeit hindurch dauern. Sie hat eine aufsteigende Richtung, eine Kulmination, einen Höhepunkt und eine absteigende Linie. Abgelöst wird in der Regel eine solche Richtung von etwas, was in bestimmter Weise sich wie ein Gegenbild ausnimmt.

In der Tat sind die nächstfolgenden Jahrhunderte wie ein Gegen­bild zu dieser Strömung. Das verinnerlichte menschliche Seelenbild wird nach und nach vergessen. Es treten die Zeiten auf, in denen die Naturwissenschaft so unendliche Triumphe errungen hat. Die großen Erscheinungen eines Kopernikus, Kepler, Galilei treten auf bis zu denjenigen des 19. Jahrhunderts wie Julius Robert Mayer, Darwin und so weiter. Eine Unsumme von äußeren Tatsachen wird herauf-gefördert.

Und doch unterschieden sich die Menschen zu Beginn der neuen Epoche von den späteren. Ein Mensch wie Kepler zum Beispiel, der so bedeutende Wirkungen auf die physikalische Naturwissenschaft gehabt hat, war ein frommer Mann, ein Mann, der tief, tief in seinem Inneren sich mit dem Christentum verbunden fühlte. Und Kepler, der Ent­decker der drei Keplerschen Gesetze, die im Grunde nichts weiter sind

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als in mathematische Formeln gekleidete Zeit- und Raumgesetze, also etwas ganz Mechanisches, oh, dieser Kepler - er verwendete viel mehr Zeit als auf solche Entdeckungen darauf, zu erklären, wie es in der großen Welt damals zugegangen ist, als auf der Erde sich das Myste­rium von Palästina abgespielt hat; wie Saturn, Jupiter und Mars zu­einander gestanden haben, als der Christus Jesus geboren worden ist. Darauf waren des großen Kepler Gedanken gerichtet. Er konnte das­jenige, was er über die Wissenschaft des Sternenraumes rein mathe­matisch zu sagen hatte, der Menschheit geben. Das, was er in seinem Herzen, in seinem tiefsten Herzen trug, blieb sein Eigentum in einem Zeitalter, das dem äußeren Leben nur gedient hat.

Oder nehmen Sie Newton. Wo beriefe man sich nicht auf Newton als den Entdecker der Gravitationsgesetze? Wo würde dann aber auch betont - wenn Haeckel zum Beispiel über die epochemachende Erschei­nung des Newton spricht -, wo würde dann betont, daß Newton so christlich war, daß er in seinen stillsten und heiligsten Stunden in seiner Art einen Kommentar zur Apokalypse geschrieben hat? Den konnte er aber der Menschheit nicht geben. Das rein mechanische Gesetz der Schwere hat er der Menschheit in dem Zeitalter geben können, das ge­widmet ist dem äußeren Zusammenfassen der Naturerscheinungen. Und dieses Zeitalter, das ist eben mit dem letzten Drittel des 19.Jahr-hunderts abgelaufen.

Nun beginnt ein Zeitalter, das notwendigerweise wieder ein Gegen­bild zu dem vorigen darstellen muß. Und die Aufgabe, dieses Gegen­bild vorzubereiten, das da weiter wirken soll in einem solchen Sinne, daß das alles kommen kann, wovon wir oftmals gesprochen haben, das ist die geisteswissenschaftliche Weltanschauung, die wiederum eine Vertiefung der menschlichen Seele bringen muß. Aber es muß jedes Zeitalter anders wirken als die vorhergehenden. Es wäre falsch, ein­fach so zu studieren, wie das von Augustinus bis Calvin richtig war. Wir mögen solche Erscheinungen auf uns wirken lassen, wir müssen aber wissen, daß wir heute, nachdem ein solches Zeitalter der Natur­wissenschaft da war, anders die spirituelle Welt suchen müssen als dazumal. Gibt es denn außer dem, was sich der Mensch im Abstrakten denken kann, noch etwas anderes, woraus man erkennen kann, daß der

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Mensch wirklich in die Notwendigkeit versetzt ist, daß der Mensch gezwungen ist, die Welt in jedem Zeitalter neu zu erfassen?

Wenn man sich heute zum Beispiel in Paracelsus vertieft, ist er wirk­lich für die heutige so triviale äußere Forschung ein unergründlicher Geist, ein Geist, der insbesondere tief hineingeschaut hat in dasjenige, was die Geheimnisse des Heilens, der Medizin sind. Und wer sich ver­tieft in dasjenige, was er zu sagen hatte über die Heilung dieser oder jener Krankheitsform, der wird ganz Gewaltiges, Grandioses aus Para­celsus lernen können. Nehmen wir an, es würde sich ein auf der Höhe, auf der wirklichen Höhe des geistigen Lebens unserer Zeit stehender Arzt so vertiefen, daß er diese Vertiefung praktisch machen wollte, anwenden wollte, was sich aus den Anweisungen des Paracelsus ergeben würde - für gewisse große Dinge würden sich da noch ganz richtige Sachen ergeben; aber manches könnte sich der Arzt der Gegenwart nicht mehr aneignen. Denn wenn er manche Mittel, die dort angegeben sind, anwenden würde, so würde das nichts helfen, weil schon seit dem 16. Jahrhundert die menschliche Natur eine andere geworden ist, weil sich alles in der Welt ändert und alles fortschreitet. Die Dinge draußen gehorchen unserem willkürlichen, in Schritten sich bewegenden Wissen nicht. Sie schreiten vorwärts, und wir haben die Aufgabe, nachzufor­schen mit unserem Wissen, unserer Erkenntnis. Wir müssen neu lernen, so wie Paracelsus gelernt hat. Und wenn wir am treuesten so tun, wie er getan hat, so werden wir für mancherlei in gewisser Beziehung etwas ganz anderes finden. So haben wir in unserer Zeit ganz besondere spirituelle Aufgaben.

Nun möchte ich in einigen großen Zügen charakterisieren, wie es in den Sternen geschrieben ist, daß die Kultur der Menschheit für die nächste Zukunft fortschreiten muß. Nicht in der Hand der Menschen liegt es allein, dieser Kultur eine Richtung zu geben. Die alten An­sichten würden zu dem Umschwung in den wirklichen Verhältnissen eben nicht passen. Die Dinge nehmen ihren Gang, und Geisteswissen­schaft hat die Aufgabe, sich zu sagen, welchen Gang die Dinge nehmen, sie gibt uns die Anleitung, unsere Zeit zu verstehen.

Wir stehen in der Morgenröte eines ganz neuen menschlichen Le­bens und Denkens. Drei Dinge sind im menschlichen Geistesleben von

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besonderer Bedeutung und Wichtigkeit, und diese sind: erstens die Religion, zweitens die Wissenschaft und drittens das Zusammenleben der Menschen überhaupt, die Gefühle und Empfindungen, welche die Menschen füreinander entwickeln, das, was sich in sozialer Beziehung abspielt. Diese drei sind die allerwichtigsten, so daß es von ganz beson­derer Wichtigkeit ist, in den aufeinanderfolgenden Epochen zu ver­folgen, welche Gestalten diese drei annehmen müssen, dasjenige, was als Religion, als Wissenschaft oder soziales Leben in Betracht kommt. Und da gibt es gewisse Forderungen, die der Mensch einfach verstehen muß, die nicht in seiner Hand liegen.

Warum müssen sich denn von Epoche zu Epoche Religion, Wissen­schaft und soziales Zusammenleben ändern? Einfach deshalb, weil sich die menschliche Natur ändert. Wir lernen nicht umsonst, daß die menschliche Natur aus verschiedenen Gliedern besteht. Zu einem bloß theoretischen Aufzählen lernen wir nicht, daß der Mensch besteht aus physischem Leib, Lebensleib und Astralleib mit Empfindungs-, Ver­standes- und Bewußtseinsseele, damit da ein paar Leute etwas zu tun haben und sich diese Einteilungen aneignen können. Wir lernen diese Einteilungen, weil sie eine durchgreifende Bedeutung haben für das menschliche Leben. Und ahnen können Sie diese durchgreifende Be­deutung, wenn Sie zurückdenken, wie zum Beispiel in derjenigen Kul­tur, welche die ägyptisch-chaldäische war, es vorzugsweise ankam auf die Empfindungsseele. Da wirkten die höheren Wesenheiten vor allem auf diese. Und in der griechisch-lateinischen Zeit, in der Zeit, in welche die Entstehung des Christentums fällt, wirkte alles dasjenige, was von den göttlich-geistigen Höhen hereinwirkte in die Menschheit, auf die Verstandesseele. Und heute wirkt das auf die Bewußtseinsseele. Wir verstehen gar nichts von den Beziehungen des Menschen zu den großen Kräften der Welt, wenn wir nicht wissen, wie diese Menschennatur gegliedert ist. Was bereiten wir denn vor, indem wir uns heute der geisteswissenschaftlichen Einsicht hingeben? In unserer Zeit ist es be­sonders die Bewußtseinsseele, welche kultiviert wird. Alles äußere Den­ken und Wissen, alles nützliche Denken, dieses Denken nach dem Nützlichkeitsprinzip, beruht in gewisser Beziehung auf der Ausbildung der Bewußtseinsseele. Aber in diese drängt sich schon etwas wie ein

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eigenes Licht des Geistselbstes hinein. Nun ist das Merkwürdige, daß wir in unserer Zeit zwei nebeneinanderlaufende Strömungen haben, eine, die hinuntersaust in den Verfall, und eine solche, die aufsteigt zu künftiger Blüte. Diejenige, die hinuntersaust in den Verfall, ist noch nicht angekommen in dem Verfall. Sie ist es zugleich, aus der herauswachsen die großen Entdeckungen, die noch eine ungeheure Zukunft haben. Auch das hat seine segensreichen Wirkungen. Gewiß, noch lange wird die Menschheit Segen haben von dem, was doch dem Verfall entgegengeht. Aber die Art des Denkens, welche Luftballone erfindet, ist die des Verfallsdenkens. Und dasjenige Denken, das sich befaßt mit der Menschheitsgliederung, ist das Denken der Menschheits-zukunft.

Aber einen gemeinsamen Übergang zeigen diese zwei doch. Das kön­nen wir auf allen Gebieten sehen. Ich möchte Ihnen jetzt zuallererst ein recht praktisches Beispiel anführen: das Gebiet des Geldverkehrs. Das hat sich im 19. Jahrhundert ganz beträchtlich geändert. Da ist ein ungeheurer Umschwung geschehen. Wenn Sie verfolgen die unmittel­bar vorhergehende Zeit vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, so war das in bezug auf alle Geldspekulation an der Individualität, an der Persönlichkeit haftend. Die rein finanziell-spekulative Genialität der Rothschilds war es, die das Geld überall hineingeführt und wieder zurückgeführt hat nach und von den Geldzentren. Und wenn wir die Geschichte der großen Bankhäuser verfolgen, so haben wir damals überall Musterbilder, wie der Geldverkehr ganz aus der Art des Men-schen heraus vor sich ging, die auf der Bewußtseinsseele, auf dem ein­zelnen Menschen fußte. Das ist anders geworden. Nur redet man noch nicht viel darüber, weil das erst im Anfange ist. Heute herrscht nicht mehr ausschließlich die Bewußtseinsseele im Geldverkehr, heute herrscht etwas von einer Art Zusammenfassung: das Aktienkapital, die Gesellschaft, die Assoziation, dasjenige, was überpersönlich ist.

Versuchen Sie einmal zu verfolgen, was sich heute erst im Anfange zeigt, und was immer mehr kommen wird. Es ist heute fast gleich­gültig, wer als Persönlichkeit da oder dort steht. Was die Menschen hineingearbeitet haben in die Geldzirkulation, das arbeitet schon per­sönlichkeitslos, das arbeitet schon von selber. Da haben Sie in einer

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herabsteigenden Strömung das Übergreifen von der Bewußtseinsseele nach dem Geistselbst.

Hier haben wir es in der Verfallsströmung; und wir haben es in der Strömung des aufsteigenden Lebens da, wo wir dasjenige suchen, was die einzelne tüchtige Persönlichkeit geleistet hat, wo wir suchen, durch Inspiration die Hilfe jener Mächte zu erringen, die aus der geistigen Welt uns die Inspirationen wieder geben werden. Auch da gehen wir hinauf von dem Persönlichen zu dem Überpersönlichen. So gibt es so­wohl in bezug auf die Verfalls- wie auch in bezug auf die aufsteigenden Strömungen für die Zeitalter gemeinsame Charakteristiken. Besonders muß man sich aber hüten, in irgendeinem Zeitalter darauf Rücksicht zu nehmen, was in dem Zeitalter gerade als Autorität auftritt. Solange man nicht spi rituelle Einsicht hat, wird man da sehr fehlgehen können.

Das ist insbesondere auf einem Gebiete der Menschheitskultur der Fall, auf dem Gebiete der materialistischen Medizin, wo wir sehen, wie eben das maßgebend ist, was die Autorität in der Hand hat und immer mehr und mehr darauf Anspruch macht, wo das auf etwas hinauslaufen will, was viel, viel furchtbarer, schrecklicher ist als jemals irgendeine Autoritätsherrschaft des so viel angeklagten Mittelalters. Wir stehen schon heute darinnen, und das wird noch immer stärker und stärker werden. Wenn die Leute so furchtbar spotten über die Gespenster des mittelalterlichen Aberglaubens, dann möchte man wohl sagen: Ja, hat sich denn in bezug darauf etwas besonders geändert? Ist denn diese Gespensterfurcht etwa abgekommen? Fürchten die Leute nicht heute viel mehr Gespenster als dazumal? - Es ist viel schrecklicher, als man allgemein meint, was da vorgeht in der menschlichen Seele, wenn ihr vorgerechnet wird: Da auf der Handfläche sind 60000 Bazillenherde. In Amerika ist ausgerechnet worden, wie viele solcher Bazillen in einem einzigen männlichen Schnurrbart sind. Müßte man sich also nicht doch entschließen zu sagen: Diese mittelalterlichen Gespenster waren wenigstens anständige Gespenster, aber die heutigen Bazillen-gespenster sind zu knirpshaft, zu unanständige Gespenster, als daß sie die Furcht begründen sollten, die zudem erst im Anfange ist, und die da macht, daß die Menschen gerade hier, auf gesundheitlichem Gebiet, in einen Autoritätsglauben geraten werden, der furchtbar ist.

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Da müssen wir sagen, wir sehen überall den Charakter der Über­gangsepoche. Man muß nur die Erscheinungen in der richtigen Weise anschauen, überall sehen wir diesen Charakter.

Nun fragen wir uns: Was sagen uns über die weitere Entwickelung auf diesen drei hauptsächlichsten Lebensgebieten die Sterne, die Lehren und Offenbarungen der Theosophie? Wie muß es in der Zukunft wer­den und wie müssen wir arbeiten, damit in die Bewußtseinsseele das schöpferische, fruchtbare Geistselbst im spirituellen Sinne in der rech­ten Art hinübergeleitet werden kann? Da sagen uns über diese zu­künftige Gestalt die prophetischen Sterne, das heißt die Lehren der Geisteswissenschaft, etwa das Folgende: Religion ist nach der ganzen Art und Weise, wie man versucht hat, Religion in die Menschheits-strömungen hineinzubringen, in den verflossenen Jahrhunderten eine Verquickung von zwei Dingen, von denen das eine im strengen Sinne des Wortes nicht eigentlich Religion genannt werden darf; das andere ist Religion.

Was ist denn in Wirklichkeit Religion? Das ist doch etwas, was wir charakterisieren müssen als eine Stimmung der Menschenseele: die Stimmung für das Geistige, für das Unendliche. Im Grunde können wir sie gut charakterisieren, wenn wir anfangen bei dem Einmaleins dieser Stimmungen, die dann nur bis zum Höchsten hinauf gesteigert werden müssen. Wenn wir über die Wiese gehen und eine offene Seele haben für das, was da grünt und blüht, so werden wir etwas Freudiges empfinden für die Herrlichkeiten, die sich offenbaren durch die Blu­men und Gräser, durch dasjenige, was sich in der Landschaft spiegelt, was in der Tauperle glänzt. Wenn wir eine solche Stimmung auf­bringen, wenn dabei unser Herz aufgeht, dann ist das noch nicht Reli­gion. Das kann erst dann Religion werden, wenn sich dieses Gefühl steigert für das Unendliche, das hinter dem Endlichen ist, für das Gei­stige, das hinter dem Sinnlichen ist. Wenn unsere Seele so fühlt, daß sie die Gemeinschaft mit dem Geistigen empfindet, dann entspricht diese Stimmung demjenigen, was in der Religion lebt. Je mehr wir in uns diese Stimmung für das Ewige steigern können, desto mehr fördern wir die Religion in uns oder anderen Menschen.

Nun aber hat es die notwendige Entwickelung der Zeit dahin gebracht,

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daß dasjenige, was so im Grunde genommen Impulse sein sollen, die das menschliche Empfinden und Fühlen von dem Vergänglichen auf das Unvergängliche hinlenken, verquickt worden ist mit gewissen Ideen und Anschauungen, wie es in dem Reiche des Übersinnlichen ausschaut, wie es da darinnen beschaffen ist. Dadurch aber ist Religion in gewissem Sinne verknüpft worden mit dem, was eigentlich Geistes­wissenschaft ist, mit dem, was eigentlich als Wissenschaft angesehen werden muß. Und wir sehen heute, wie in diesem Kirchenglauben dann Religion in dieser oder jener Form nur aufrechtzuerhalten ist, wenn gleichzeitig ganz bestimmte Lehrsätze aufrechterhalten bleiben. Da­durch wird aber das erzeugt, was man nennen kann das starre dogmati­sche Festhalten an gewissen Vorstellungen über die geistige Welt. Derartige Vorstellungen müßten natürlich fortschreiten, weil der menschliche Geist fortschreitet. Über ein solches Fortschreiten sollte sich das eigentlich richtige religiöse Gefühl am meisten freuen, weil dieses Fortschreiten die Herrlichkeiten der göttlich-geistigen Welt um so größer, bedeutungsvoller zeigt.

Wahres religiöses Gefühl würde nicht Giordano Bruno dem Scheiter­haufen überliefert haben, sondern es würde gesagt haben: Oh, es ist Gott groß, daß er Menschen dieser Art auf die Erde herunterschickt und durch sie solche Dinge offenbart. - Damit wäre neben dem reli­giösen notwendigerweise das Gebiet des wissenschaftlichen Forschens anerkannt worden, das sich sowohl auf die äußere Welt wie auf die geistige Welt erstreckt. Das muß fortschreiten, das muß von Epoche zu Epoche dem Menschengeist, der fortschreitet, angepaßt sein. In bezug auf dieses wissenschaftliche Forschen trat ein großer Umschwung ein, als das 16.Jahrhundert herankam. Vor dem Zeitalter des Koperni­kus, Kepler und Galilei schaute es auf den Lehranstalten und Universi­täten ganz sonderbar aus. Aristoteles ist gewiß ein großer Weiser, aber was er getan hat, war das Größte für seine Zeit. Was das Mittelalter mit ihm gemacht hat, war ein sehr starkes Verkennen seines Geistes, und am Schluß hat man es gar nicht mehr verstanden, keine Ahnung mehr gehabt für das, was er gemeint hat. Dennoch hat man immer nach ihm gelehrt.

Damit Sie sehen, wie sich das Wissen von Epoche zu Epoche nach

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dem Fortschreiten des Menschengeistes ändern muß, damit nicht Miß­verständnisse entstehen, will ich auf ein mit Aristoteles zusammen­hängendes Geschehnis näher eingehen. Aristoteles wirkte aus einer Zeit heraus, in der man noch ein Bewußtsein davon hatte, daß auch ein Ätherleib in der menschlichen Natur vorhanden ist, nicht nur Blut, Nervenstränge und so weiter. Wenn man nun den Ätherleib etwa auf­zeichnen würde, so würde man eine ganz andere Zeichnung bekom­men, als wie die heutigen Anatomen diesen Menschen finden und ihn aufzeichnen. Wie man ihn heute aufzeichnet, darauf hat man in der Zeit, in der Aristoteles geschaffen hat, keinen großen Wert gelegt, denn man kannte noch den ätherischen Menschen. Wollte man den auf­zeichnen, da müßte man ein Zentrum hier sehen, wo das Herz ist, und Strahlen zeichnen, die von da ausgehen, wichtige Strahlen, die aber dann zum Gehirn gehen und zu tun haben mit der ganzen Art und Weise, wie der Mensch denkt. Das Denken wird reguliert, wenn wir auf den Ätherleib sehen, von einem Mittelpunkt aus, der in der Nähe des physischen Herzens ist. Und das hat Aristoteles dargestellt, um das Eigentümliche des Denkens zu veranschaulichen. Später verstand man nicht mehr, was Aristoteles wollte, und man fing an bei dem Worte, das unserem Worte «Nerv» entspricht, das, was im Organismus das Maßgebende für den Organismus des Denkens ist, zu verwechseln mit dem materiellen Nerv. Man glaubte, daß Aristoteles die physischen Nervenstränge meinte mit dem, was er als die ätherischen Strömungen beschrieb. Beim Übergang in die materialistische Zeit verstand man nicht mehr den Aristoteles. So können Sie sehen, daß man etwas ganz Falsches lernte. Man sagte, die Hauptnerven gehen vom Herzen aus. Nun kam die wissenschaftliche materialistische Forschung, wie Koper­nikus, Galilei sie inaugurierten, und da kamen die Menschen darauf, daß die Nerven vom Gehirn ausgingen, nämlich die physischen Stränge. Und da fingen sie an zu sagen: Aristoteles hat unrecht. So waren Geg­ner des Aristoteles Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno. Die mittelalterlichen Aristoteliker hielten nicht etwa an der Lehre des Aristoteles fest, sondern an dem, was sie sich träumten von Aristoteles. So konnte es kommen, daß, als Galilei einem Freunde, der Aristoteliker war, an einer Leiche zeigte, wie die Nerven nach dem Gehirn verlaufen,

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dieser Freund doch lieber dem Aristoteles als seinem eigenen Schauen vertraute. Er glaubte an das, was er sich einbildete von der Lehre des Aristoteles. Wir sehen also, wie dazumal übergeleitet wurde der Strom der spirituellen Wissenschaft bei Aristoteles, der Wissenschaft vom ätherischen Leibe, in die materielle Wissenschaft, deren Verdienste nicht geleugnet werden sollen, die zum Segen und Heile der Menschheit gewirkt hat und noch wirkt. Jetzt aber sind wir in einer Zeit, wo wir herauf müssen ins Spirituelle.

Wir stehen unmittelbar vor einer Zeit, wo die Wissenschaft wieder­um wird verstehen lernen müssen das eigentlich Geistige, wo die Wis­senschaft das wird werden müssen, was man im Okkultismus Pneuma­tologie nennt, das heißt Geistlehre. Was war die Wissenschaft im ver­flossenen Jahrhundert? Die Lehre von abstrakten Ideen und Natur­gesetzen, die keinen Zusammenhang mehr mit dem wirklichen geistigen Leben hatte. Die Wissenschaft steht vor dem Punkte, wo sie Pneuma­tologie werden muß, wo sie zum Geiste zurückkehren muß. Das steht in den Sternen der Theosophie geschrieben. Und da Religion immer die Stimmung bringen muß für das Geistige, so können eigentlich im Grunde genommen nur in denjenigen Zeitaltern Wissenschaft und Religion in Einklang arbeiten, wo die Wissenschaft in der Pneumatolo­gie den Geist hineinarbeitet. Da kann die Wissenschaft die richtige Erklärerin des geistigen Lebens sein und die Stimmung unterstützen, die wiederum in der Religion leben sollte.

Was beginnt, steht so in vollem Gegensatz zu dem, was abgelaufen ist. Nehmen wir zum Beispiel das, was abgelaufen ist in den verschie­denen evangelischen Religionsbekenntnissen: Wie hat man sich be­müht, ja nichts von wissenschaftlichem Denken hereinzulassen in das Gebiet, das dem Glauben gewidmet sein soll. Man denke an Luther und an Kant. Kant sagt, er müsse das Wissen aufheben, damit er für den Glauben an Freiheit, Unsterblichkeit und Gott freie Bahn habe.

Da war die Wissenschaft auf das äußere, sinnlich Physische gerich­tet, da kannte sie kein Interpretieren eines Übersinnlichen, Geistigen. Daher mußte man möglichst unverfälscht bewahren, was überliefert war an heiligen Urkunden. Das hatte seine gute Berechtigung. Jetzt stehen wir vor einem anderen Zeitalter, wo uns Theosophie hineinleitet

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in die geistige Welt, und jetzt werden wir sehen, wie nach und nach eine Zeit herannaht, wo dasjenige, was sich herausbildet, erreicht wer­den soll dadurch, daß gerade durch Theosophie Wissenschaft unter­stützt und erleuchtet wird. Religion und Wissenschaft werden wieder­um zusammenarbeiten im nächsten Zeitalter. Wissenschaft wird etwas werden, was für alle Menschen nach und nach gelten muß. Für jeden Menschen wird es verständlich werden. Daher wird dasjenige, was sich anbahnt als paralleler Verlauf von Religion und Wissenschaft, im um­fassendsten Sinn erzeugen, was man nennen könnte Individualismus in der Religion: Jedes einzelne Herz wird seinen Weg auf individuelle religiöse Art in die geistige Welt hinein finden. Das ist unserem Zeit­alter vorgezeichnet, daß in individuellster, persönlichster Art dasjenige, was gemeinsame Wissenschaft im Geistigen sein kann, als Erklärer, als Führer auf religiösem Gebiet dienen wird.

Wiederum zeigt sich auf merkwürdige Weise, wie auch hier im Ver­fall das persönliche Moment auf etwas Überpersönliches hinweist. Auch die Verfallserscheinungen zeigen das. Und wie zeigt sich dieses Hinweisen auf ein Überpersönliches in gewissen kirchlichen Verhält­nissen? Was war es denn im Grunde, als man in einer gewissen Kirche durch diejenigen, die ihre Hüter sind, appellierte an die Inspiration? Die Dinge müssen durchaus in bezug auf ihren spirituellen Charakter gesehen werden. Manches, was heute insbesondere auf dem Gebiete des religiösen Lebens der verschiedenen Konfessionen sich zeigt, deutet auf dieses Hereinleuchten des Geistselbst in das, was wir Bewußtseinsseele nennen, im aufsteigenden wie im absteigenden Sinne.

Insbesondere zeigt sich das im dritten der drei Gebiete des mensch­lichen Geisteslebens. Da wird sich eine Erkenntnis verbreiten, eine Erkenntnis, von der die heutige Lebenspraxis eigentlich noch gar keine Ahnung hat. Ein Grundsatz dieser Erkenntnis wird sein, daß das Glück eines einzelnen Menschen niemals wird erkauft werden können auf Kosten des minderen Glückes der anderen. Es wird in der Zukunft das persönliche Moment übergeleitet werden in das überpersönliche, und das egoistische in das überegoistische, in dasjenige, was die Menschen verbindet. Nach und nach wird ein Mensch nicht glücklich sein wollen, ohne daß er die anderen in dem gleichen Maße glücklich weiß. Diese

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Stimmung, von der heute das Gegenteil Lebenspraxis ist, bereitet sich vor. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Stimmung zu erzeugen, und das ist die Erkenntnis des wirklichen menschlichen Wesenskernes und seiner Zusammensetzung, wie die Geisteswissenschaft sie uns gibt. Man muß den Menschen kennen, wenn man Mensch sein will.

Diese drei Dinge sehen wir im Ausgangspunkt ihrer Entwickelung. Was soll Geisteswissenschaft? Sie soll uns verstehen lehren alles, was kommen muß. Nun will ich radikal sagen, wie sich die Menschen dazu stellen können. Ich will eine Weile hypothetisch annehmen, daß das­jenige, was heute Theosophie ist und noch eine ganz kleine Strömung darstellt, von denjenigen, die damit in Berührung kommen, als eine Phantasterei und Träumerei angesehen würde, und daß sie nieder-gedrückt würde. Es würden diejenigen, die auf dem Standpunkt der Antisophie stehen, einfach unmöglich machen das Gedeihen der Theo-sophie, denn die Wissenschaft steuert der Antisophie zu. Dann würde man kein Verständnis gewinnen können für dasjenige, was Ihnen ge­schildert worden ist als die notwendige, in den Sternen geschriebene Entwickelung von Wissenschaft, Religion und menschlicher Lebens-praxis. Dann würden die Menschen sich ausschließen von dem Ver­ständnis dieser Dinge. In welchem Falle wären dann die Menschen? Die Menschen wären dann auf der Erde wie eine Herde irgendeiner Tierart, welche in ganz fremde klimatische Verhältnisse geraten wäre, in die sie sich nicht hineinversetzen kann. Die Folge davon wäre, daß die Tiere verkümmern, nach und nach zugrunde gehen. So würden die Menschen alle dem Verfall, der Dekadenz, dem frühzeitigen Untergang anheimfallen. Nicht durch Aussterben etwa. Sie würden vertieren, was viel schlimmer wäre als das Aussterben, so daß nur die niedrigen Lei­denschaften und Triebe und Begierden wirklich noch leben würden; daß die Menschen nur verlangen würden, dies oder jenes zu essen, und all ihr Denken würden die Menschen verwenden, um eben dieses Essen herstellen zu können. Sie würden Fabriken bauen, um das beste Mehl, das beste Brot herzustellen, Schiffe und Luftballone, um von den fern­sten Gegenden her die Früchte zu bringen und diejenigen Produkte zu liefern, die sie genießen wollen. Sie würden ungeheuren Scharfsinn ver­wenden für das «Steigen der Kultur» - das würden sie nämlich Kultur

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nennen. Unendliche Intelligenz, Geisteskraft würden sie dazu verwen­den, aber doch nur, um zuletzt den Tisch zu decken. Man soll das nur überdenken von diesem Gesichtspunkt aus, was die Phrase von der steigenden Kultur bedeutet! Ist nicht das das Wesentliche davon, daß unendliche Geisteskraft darauf verwendet wird? Wenn wir sie nur dazu verwenden, um zu telegraphieren: Ich brauche so und so viele Mehlsäcke -, dann ist große Geisteskraft darauf verwendet, um irgend etwas herzustellen, was zuletzt doch nur dem dient, was man das Tier im Menschen nennen kann. Spiritualität und Intelligenz sind zwei total verschiedene Dinge. Das materialistische Zeitalter führt zu einem Höhepunkt der Intelligenz und intelligenter Kultur. Das hat aber nichts zu tun mit Spiritualität. Nehmen wir an, die Menschen würden so ausgeschaltet sein. Was würden die Götter tun müssen? Sie würden sich sagen: Nun haben wir ein Geschlecht gehabt, das nicht verstanden hat, was Erdenmission ist. Da müssen wir ein anderes Geschlecht hin-untersenden, ein Geschlecht von Seelen, die dann die Erdenmission zustande bringen werden.

Kleine Kreise werden aber schon Verständnis finden für dasjenige, was spirituelles Leben der Zukunft sein muß, und daher wird die Erdenmission durch die Menschen zu Ende geführt werden, und das­jenige, was unsere fünfte nachatlantische, der Bewußtseinsseele ge­widmete Kultur, als sechste ablösen wird, das wird schon von einem kleinen Kreise von Menschen, die sich verteilen werden in die ganze übrige Menschheit, geleistet. Aber das kann nur dann geleistet werden, wenn doch der freie Wille der Menschen eingreift. Denn nachdem ein­mal das Ich eingeschlagen hat in die Menschennatur, muß der Mensch auch den freien Willen für die Entfaltung des Ich entwickeln. Also das hängt ab von jedem Einzelnen, ob er Verständnis entgegenbringen will dem Spirituellwerden, oder ob er dem Abstieg, den heute die Mensch­heit nimmt, zusteuern will.

Lebenspraxis muß entwickelt werden in bezug auf ein Erreichen des Grundsatzes, daß das Glück des Einzelnen nicht auf Kosten des Glückes des anderen erlangt werden kann. Will es der Mensch nicht verstehen, so fördert er die abwärtsgehende, verdorrende, vertierende Entwicke­lung der Menschheit. Heute stehen wir in gewisser Beziehung als Menschen

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vor diesem Entschluß: Geisteswissenschaft zu wollen oder nicht zu wollen, und das heißt, entweder den Aufgang oder den Niedergang der Menschheit zu wollen. Das sollen wir bei allem fühlen, was wir treiben im einzelnen, sollen fühlen, daß wir durch unser Karma hin-gestellt worden sind wie ein neues Material in die Entwickelung der Menschheit, wie diejenigen, die hergeben sollen ihre Kräfte als elemen­tare Kräfte, die sich hinaufarbeiten müssen.

Wenn wir so fühlen, wird schon in uns Theosophie praktisches Empfinden, praktisches Fühlen, und es legt sich in unser Herz das Bewußtsein dessen, was wir eigentlich tun, wenn wir die scheinbar unbedeutende Tätigkeit entwickeln, welche wir in solchen anthropo­sophischen Zweigen entwickeln. Nicht wie eine Liebhaberei, eine Schrulle einzelner, sondern wie das Verständnis für die tiefsten Bedürf­nisse eines neu aufgehenden Zeitalters.

Zeigen wollte ich Ihnen, wie die Dinge ineinandergreifen, damit wir den Fortgang der Menschheit wirklich verstehen können. Denken Sie einmal nach über den Satz, daß der Mensch ein selbstbewußtes Wesen ist, daß er also wissen muß, was er ist, und nur dadurch, daß er sich kennt in seiner Wesenheit, seine Bestimmung in der Welt ausfüllen kann; daß also alle diejenigen, die nichts wissen wollen über das Wesen des Menschen, nicht den Willen haben, sich in die Welt in der rechten Art hineinzustellen. Erinnern Sie sich, wie ein Geist gesprochen hat, der vieles von dem geahnt hat, was als Theosophie heute aufgeht. Johann Gottlieb Fichte hat einmal gesprochen von seinen hohen Ideen in den Vorlesungen «Über die Bestimmung des Gelehrten». Als er eine Vor­rede zu diesen Vorlesungen schreiben wollte, fiel ihm ein, jetzt wird das hinausgehen zu den Menschen, die aber doch nur sagen werden:

Ja, recht schöne Ideen, aber unpraktisch. Wie kann man einführen ins Leben dasjenige, was da gesagt wird? - Doch Fichte war sich durchaus dessen bewußt, daß das Leben fortwährend von Ideen geleitet wird.

Es sei hier auf ein Beispiel hingewiesen. Wer hat den Simplontunnel gebaut? Kein Ingenieur kann heute arbeiten ohne Differential- und Integralrechnung. Leibniz> der die Differential- und Integralrechnung erfunden hat, baut im Grunde alle Tunnels und Brücken in unserer Zeit. Das Geistige ist uberall das Leitende in allem im Leben, und wir

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können lernen aus dem, was Fichte geschrieben hat, lernen, uns zu kräftigen in unserem theosophischen Bewußtsein, wenn die Leute sagen: Ach, das sind so verschrobene Ideen, nichts Praktisches. - Fichte sagt dazu: Daß Ideen nicht sich so unmittelbar ins Leben umsetzen lassen, das wissen wir anderen auch, ebenso wie diejenigen, die uns das entgegenhalten. Vielleicht wissen wir das sogar besser. Daß aber des­halb die anderen überhaupt nichts wissen wollen von Ideen, das beweist bloß, daß die weise Weltenlenkung, die göttliche Weltregierung nicht wird auf sie zählen können. Möge ihnen daher eine gütige Natur, an die sie glauben, zur rechten Zeit Regen und Sonnenschein, eine gute Verdauung und, wenn möglich, auch einige gute Gedanken verleihen!

In gewisser Beziehung können wir uns kräftigen, indem wir uns sagen: wir wissen doch, daß wir pflegen müssen als Theosophen das Verständnis für das, was da kommen muß. Möge den anderen eine gütige Natur das geben, was Fichte sagte, dasjenige aber auch, was sie im Geiste brauchen, dasjenige, wovon sie glauben, daß sie es nicht brauchen. Möge ihnen der Geist immer klügere und klügere Gedanken geben, so daß auch sie Geisteswissenschaft nicht als eine Träumerei ansehen, sondern als wichtigen Impuls für die Menschheit erkennen werden!

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AUSWIRKUNG MORALISCHER EIGENSCHAFTEN AUF DAS KARMA Wiesbaden, 7. Januar 1911

Es ist im Laufe der geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, die uns ja oftmals in ganz besondere Höhen des Daseins führen, vielleicht auch manchmal gut, von unseren geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten aus einige Blicke zu werfen auf das alltägliche Leben, auf das Leben, das uns fortwährend umgibt. Denn wenn man dabei einigen guten Willen und richtigen Blick mitbringt, so kann man gerade von einer Anwendung der Geisteswissenschaft auf das alltägliche Leben die wichtigsten Einblicke tun in die Wahrheit und in die Beweiskraft des­sen, was eben auf diesem Felde gesucht wird.

Unter den bedeutsamsten Lehren, die uns auf geisteswissenschaft­lichem Felde entgegenkommen, ist zweifellos diejenige von der Ver­ursachung des späteren Erdenlebens durch das vorhergehende, das, was wir Karma nennen. Nun denkt gewiß der Theosoph in den meisten Fällen, wo von Karma die Rede ist, an die Ursachen, die für ein Leben in den vorhergehenden Lebensläufen liegen. Da kann dann leicht von den Leuten, die dem geisteswissenschaftlichen Streben noch ganz ferne stehen, der Einwand erhoben werden: Wie sollen solche Dinge bewiesen werden? - Natürlich wissen wir, wie unmöglich, wie kindlich im Grunde genommen ein solcher Einwand ist. Wenn sich der Mensch nämlich die Mühe nimmt, tiefer einzudringen in das, was durch die Geisteswissenschaft gegeben wird, so merkt er, wie wohl begründet alles ist, was über das Karma gesagt werden kann. Aber es ist immerhin auch gut, wenn man hinweist auf die Erfahrungen, Beobachtungen, die schon für den Menschen zugänglich sind, der noch weit entfernt ist von Hellsichtigkeit oder von theosophischen Beobachtungsmethoden sonst. Karma wirkt nämlich nicht bloß, wenn wir es richtig verstehen, von einem Leben ins andere hinüber, sondern durchaus schon in einem Leben, das wir durchmachen zwischen Geburt und Tod. Nur ist natür­lich das, was die Menschen gewöhnlich vom Leben beobachten, tat­sächlich eine so kurze Zeit des Menschenlebens, daß sich da nicht viel

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ergeben kann vom Herüberwirken früherer Ursachen in spätere Wir­kungen. Überblicken wir fünf oder sechs Jahre, so kommt allerdings nicht viel heraus. Aber wenn wir längere Zeiträume auch zwischen Geburt und Tod betrachten, soweit das nur immer möglich ist, so kann sich uns schon vieles von Bewahrheitung des Karma ergeben. Das erweist sich auch an ganz äußeren Dingen.

Ich möchte dies Einleitende nicht als etwas besonders Theosophi­sches vorbringen, sondern nur zeigen, daß auch für die allergewöhn­lichsten Dinge schon größere Zeiträume nötig sind, um auf einen Zu­sammenhang von Ursache und Wirkung zu kommen. Für den, der es sich angelegen sein läßt, das Leben zu beobachten, darf ich wohl darauf hinweisen, daß ich viel Gelegenheit gehabt habe, Kinder zu beobach­ten. Das ist jetzt lange her, daß ich Kinder unterrichtet habe. Aber wenn man vier Buben einer Familie durch viele Jahre hindurch unter­richtet hat, so hat man nicht nur Gelegenheit, diese vier Kinder zu beobachten, sondern auch die Kinder der Bekannten und so weiter. Man hat immer viel Gelegenheit, das, was diese oder jene Kinder tun, oder was mit ihnen getan werden kann, zu registrieren. Nun war dazu­mal eine ganz besondere medizinische Note vorhanden, die ja jetzt, Gott sei Dank, stark im Schwinden ist: man hielt es für nötig, den kleinen Knirpsen, wenn sie recht stark werden sollten, ein Gläschen Rotwein hinzustellen, nicht nur zu einer Mahlzeit, sondern zu mehreren sogar. Man hielt das für etwas ganz Vortreffliches. Ich konnte viele Kinder beobachten, die so mit Rotwein aufgezogen wurden, und andere Kinder, deren Eltern sich geweigert hatten, dieses mitzumachen. Heute sind diese Kinder, die damals zweieinhalb bis vier Jahre alt waren, Menschen, die über dreißig oder gegen vierzig Jahre alt sind. An den Kleinen, die damals zu ihrer Stärkung mit Rotwein traktiert wurden, ist zu beobachten, was für zapplige, nervöse Menschen sie geworden sind. Sie unterscheiden sich sehr deutlich für den, der beob­achten will, von denen, die nicht Rotwein getrunken haben als Kind. Da kommt also schon fast ein Vierteljahrhundert in Betracht, um das beobachten zu können.

So ist es insbesondere wichtig, für die moralischen, ethischen Eigen­schaften des Menschen in bezug auf karmische Auswirkungen längere

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Zeiträume ins Auge zu fassen. Heute möchte ich auf mehrere Eigen­schaften hinweisen, die man verfolgen kann, wie sie auf die Seele, auf das Gemüt einwirken und wie sich schon in einem Leben das Auswirken des Karma recht tätig zeigt. Ich möchte einige gute und einige böse Eigenschaften aufzählen: Neid, Neidhaftigkeit, Lügenhaftigkeit, dann Wohlwollen und das, was wir so häufig finden bei jüngeren Leuten, das Staunen, die Verwunderung, und ähnliche Dinge. Nehmen wir zuerst die schlechten Eigenschaften, Neid und Lügenhaftigkeit.

Nehmen wir an, wir können im Kindesalter Neid, Neidhaftigkeit beobachten. Wir wissen aus geisteswissenschaftlichen Beobachtungen, daß bei dem Menschen in den Gliedern seiner Wesenheit, die ihm ge­wöhnlich nicht bewußt sind, im Astralleib und Ätherleib tätig sind besondere Mächte, im Astralleib die luziferischen Mächte, im Äther-leib die ahrimanischen Mächte, die Gegner der menschlichen Ent­wickelung sind. Alles, was mit dem Astralleib zu tun hat, wie Neid, kommt von den Versuchungen des Luzifer. Alles, was mit dem Äther­leib zu tun hat, wie Lügenhaftigkeit, sind Versuchungen des Ahriman. Bei einem neidischen Kinde ist der Astralleib von Luzifer in einer gewissen Weise erfaßt, da haben die luziferischen Wesenheiten ihre Angriffspunkte. Für Neid und Lüge gilt etwas sehr Bezeichnendes:

Von den primitivsten Menschen an bis zu den entwickeltsten Führern der Menschheit gelten Neid und Lügenhaftigkeit für sehr verwerfliche Eigenschaften. Sobald der Mensch einsieht, er sei neidisch oder lügen-haft, dann taucht in der Seele auf ein Empfinden von dem Verwerf­lichen dieser Eigenschaften. Man will sie sich mit aller Macht ab­gewöhnen. Gerade Neid und Lügenhaftigkeit werden ganz instinktiv als verwerflich erscheinen. Goethe sagt, er müsse sich vieler Fehler zeihen, aber Neid finde er nicht auf dem Boden seiner Seele. Dasselbe sagt Benvenuto Cellini von der Lügenhaftigkeit. - Merkt jemand: Ich bin ein neidischer Mensch, so arbeitet er ganz instinktiv daran, sich diese Eigenschaft abzugewöhnen. Aber sie kann sehr tief sitzen, so tief, daß er wohl streben kann, sich den Neid abzugewöhnen, aber er ist nicht stark genug, moralisch nicht stark genug. Da tritt etwas sehr Eigentümliches ein. Neid ist eine luziferische Eigenschaft. Wenn der Mensch merkt, er hat Anlagen zum Neid und daran arbeitet, sich ihn

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abzugewöhnen, so sagt sich Luzifer: Da ist Gefahr vorhanden, daß dieser Mensch mir entgeht. Luzifer und Ahriman sind dem Menschen gleich feindlich, aber untereinander sind sie gute Freunde. Da ruft Luzifer den Ahriman zu Hilfe, und der wandelt den Neid um in eine andere Eigenschaft. Der Neid erlebt eine Metamorphose, die so her­vortritt in der menschlichen Seele, daß der Mensch, während er früher bei einem anderen Menschen das nicht wollte, jetzt zum Kritikaster wird, der alles mögliche aufsucht bei seinen Mitmenschen, um tadeln zu können. Diese Sucht, zu tadeln, ist nichts anderes als der um-gewandelte Neid. Ist dies der Fall, dann hat einen Ahriman in den Klauen. Dieser verwandelte Neid ist sehr weit verbreitet. Wäre er nicht vorhanden in der Form der Kritikasterei und der Sucht, allerlei Übles über die Menschen zu sagen, so hätten manche Morgen- und Abend-schoppen, manche Kaffeegesellschaften gar keinen Stoff.

Karmisch kommt eigentümlicherweise dasselbe heraus, ob man den Neid ursprünglich oder in umgewandelter Form als Kritikasterei auf­tauchen läßt. Verfolgt man einen in der Jugend neidischen Menschen oder einen Kritikaster bis ins spätere Alter, so wird man sehen, daß Menschen, die in der Jugend zerfressen waren von Neid, dazu kom­men, Unsicherheit im Alter zu haben. Sie gewinnen keinen festen Boden, können in kein Verhältnis zu anderen Menschen kommen, kön­nen sich nicht selber raten, sind froh, wenn sie sagen können: Dies hat mir der oder jener geraten. Dies ist noch in demselben Leben eine kar­mische Folge des Neides oder des umgewandelten Neides.

Lügenhaftigkeit ist eine Eigenschaft des Ätherleibes und rührt von Ahriman her. Wenn der Mensch in einem gewissen Alter gewohnheits­mäßig Lügenhaftigkeit an sich hat, oder wenn er durch schlechte Er­ziehung überhaupt viel lügt, so zeigt sich immer im späteren Lebens­alter eine gewisse Scheuheit, eine Unmöglichkeit, die Augen aufzu­schlagen vor den Leuten. Gewisse sprichwörtliche Regeln auf mora­lischem Gebiete treffen hier sehr gut das Rechte. Wenn man sagt:

Dieser Mensch kann mir nicht in die Augen schauen -, so wirkt sich da Lügenhaftigkeit aus. Scheu und Unselbständigkeit treten als seelische Eigenschaften in demselben Leben auf. Wenn man das Leben ebenso beobachten will, wie der Physiker den äußeren Verlauf der Welt betrachtet,

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so kann man solche Sachen beobachten. Das Leben wird dadurch lichtvoll.

Was aus einer solchen Eigenschaft folgt, bleibt in dem einen Leben seelisch; seelisch bleibt es. Nehmen wir an, wir verfolgen geisteswissen­schaftlich das eine Leben bis in das nächste hinüber. Was als karmische Wirkung seelisch in einem Leben auftrat, gewinnt eine größere Kraft in dem nächsten Leben. So können wir nachweisen, daß die Unselb­ständigkeit, die zunächst als seelische Wirkung von Neid in einem Leben auftritt und die Scheuheit als Wirkung von Lügenhaftigkeit, daß diese organisierend beim Aufbau des Leibes im nächsten Leben werden. Da greifen sie in das Leibliche hinüber.

Jemand, der in einem früheren Leben viel Neid entwickelt hat, wird wiedergeboren als ein Mensch, der schon in der äußeren Leibesorgani­sation das hat, was ihn zum hilflosen Menschen macht. Wer lügenhaft war, tritt so wieder auf, daß er kein rechtes Verhältnis zur Umwelt hat. Er kann nicht geliebt werden von den Menschen seiner Umgebung, er fühlt sich abgestoßen von ihnen, die Liebe stellt sich schwer ein. Geisteswissenschaft ist als Lebenspraxis aufzufassen. Was jetzt gesagt ist, wird unmittelbar Lebenspraxis.

Nehmen wir an, ein solches Kind wird in unserer Umgebung ge­boren. Merken wir an diesem Kinde, daß es nicht in ein Verhältnis zu uns kommen kann, daß es sich scheu zurückzieht, oder daß dieses Kind schwach, blaß ist, so wird sich ein Theosoph sagen: Die Blässe, die Disposition zu allerhand Krankheiten muß zurückgeführt werden auf neidhafte Veranlagung in der vorhergehenden Inkarnation, die Scheu auf Lügenhaftigkeit. Es ist nicht zufällig, daß dieses Kind gerade in unserem Kreis geboren ist, denn eine Individualität kann nur dahin versetzt werden, wo sie hingehört. Es wird gar nicht lange dauern, bis die Menschen das Karmagesetz als Selbstverständlichkeit einsehen wer­den. Die Menschen werden hereingeboren in die Verhältnisse, in die sie gehören. Schwäche und Hilflosigkeit sind die Folge früheren Neides, und wir kommen mit diesem Kinde zusammen, weil es uns beneidet hat. Und mit seinem scheuen Wesen kommt es zu uns, weil wir es sind, die so oft angelogen wurden durch das Wesen in einer früheren Inkarna­tion. Wie sollen wir uns nun verhalten in einem solchen Falle? Da

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braucht nicht lange nachgedacht zu werden, sondern wir sollen uns so verhalten, wie es am moralischsten, am sittlichsten ist auch im gewöhn­lichen Leben.

Ein Mensch, der uns beneidet oder in allen Dingen kritisiert, wird am besten behandelt, wenn wir ihm Wohlwollen, Liebe entgegen­bringen. Das ist das beste Verhalten. Das kann natürlich in unserer unnatürlichen materialistischen Zeit nicht überall durchgeführt wer­den. Aber es ist das beste Verhalten gegenüber einem Kinde, das mit diesen bestimmten Dispositionen in das Leben hineingeboren wird. Wir sagen uns nicht nur: Das Kind hat uns beneidet, hat uns angelogen in einer früheren Inkarnation, sondern wir fassen den festen Entschluß, diesem Kinde besonders viel Wohlwollen entgegenzubringen. Tauchen wir das ein in ein warmes Gefühl. Versuchen Sie, das zu beobachten, und Sie werden finden, daß bei einem solchen Kinde die Wangen sich röten können, daß es stark und kräftig werden kann. Es muß nur ein solches Verhalten immer wiederholt werden. Ebenso ist es mit Lügen­haftigkeit. Einen Menschen, der uns alle Augenblicke anlügt, bekehren wir am besten, wenn wir alles tun, um ihm möglichst viel Empfinden davon beizubringen, was Wahrheitsliebe ist. Verhalten wir uns so einem scheuen Kinde gegenüber, so werden wir finden, daß wir da alles tun, was der Vergrößerung des Konfliktes entgegenwirkt.

So sehen wir, daß wir dem Leben in ungeheuer starkem Maße dienen können. Das ist ein Beispiel, wie Geisteswissenschaft Lebenspraxis wer­den kann. Wir sollen bei so etwas nie außer acht lassen, daß wir die Beweise für Karma fortwährend in den Händen haben können. Aber wir sollen auch nicht außer acht lassen, besonders wenn wir solche Menschen zu erziehen haben, daß wir es in der Hand haben, zu be­weisen: Geisteswissenschaft ist uns in Fleisch und Blut übergegangen.

Wir können auch noch andere Eigenschaften im Lichte der Geistes­wissenschaft betrachten, zum Beispiel das Staunen, die Verwunderung. Aus einem schönen Instinkte heraus haben die alten griechischen Philo­sophen schon gesagt: Die Philosophie nimmt ihren Ausgangspunkt von Staunen, von der Verwunderung. - Was ist dieses Staunen, diese Ver­wunderung? Es gibt ein solches Verhältnis gegenüber den Erscheinun­gen, die uns entgegentreten, daß wir in Verwunderung, in Staunen

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hineinkommen. Dann kommt manchmal anstelle des Staunens etwas anderes, in das sich nicht mehr Staunen und Verwunderung hinein-mischt. Das ist nämlich dann der Fall, wenn wir anfangen, die betref­fenden Tatsachen zu verstehen. Wir wollen jetzt die Frage aufwerfen:

Wie ist es eigentlich mit diesem Staunen, mit dieser Verwunderung? Wir treten einer Erscheinung gegenüber, sie ringt uns Verwunderung ab. Es kann kein Verhältnis sein zum Verstande, zur Intelligenz, denn diese suchen Verständnis, leben sich nicht in Verwunderung aus. Es ist ein viel unmittelbareres Verhältnis. Das Verständnis muß sich mit den einzelnen Teilen befassen; die Verwunderung tritt unmittelbar auf, der ganzen Sache gegenüber. Das kommt daher, daß beim Verständnis das Ich zur Sache in Beziehung steht, beim Erstaunen aber steht der Astral­leib der Sache gegenüber. Der hat nicht das volle Bewußtsein, sondern eine Art von Unterbewußtsein. Wenn der Astralleib eine Beziehung hat zur Sache und diese Beziehung sich noch nicht heraufhebt zum Ich, so tritt Verwunderung ein. Dadurch, daß der Mensch erstaunen kann über eine Sache, ist es möglich, eine unter der Schwelle des Bewußtseins liegende Verbindung mit dem Gegenstand einzugehen. Dies ist in vielen Fällen sehr wichtig, diese unterbewußte Verbindung, wie es für die Philosophie nach der Auffassung der alten Griechen wichtig ist, daß erst Verwunderung da ist.

Es ist gut für die Menschen, daß sie, bevor sie ihre Intelligenz auf eine Sache anwenden, erst ihren Astralleib über die Sache ausbreiten. Dadurch wird eine Gefühls- und Gemütsbasis geschaffen, und in diese wird dann das Verständnis eingetaucht. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir gleich mit dem Verstande abstrakt an die Sache herangehen. Das bewirkt, daß wir auf einer viel breiteren Basis des Verständnisses arbeiten. Ein vollsaftigeres Verständnis ist die Folge. Deshalb ist es so wichtig für den Erzieher, daß er erst das heilige Staunen entwickle gegenüber dem Kinde, gegenüber der einzelnen Individualität, die wie aus dem Dunkel herauftaucht; wenn wir uns offenhalten das, was wir mit der Intelligenz gar nicht überschauen können: die Unendlichkeit einer Individualität. Wir versetzen uns künstlich dieser Individualität gegenüber in die Verwunderung. Sie wird schon kommen, denn es gibt reichlich Gelegenheit zur Verwunderung und zum Staunen einer jeden

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Individualität gegenüber. Diese Gefühle sind nicht verdorben durch unseren engeren Intellekt, sie sind manchmal viel sicherer, reicher, richtiger als das durch den engen Intellekt Erkannte. Die Grundlagen für die auf das praktische Leben anwendbaren Erkenntnisse sind durch Staunen, durch das Gemütsleben zu gewinnen. Etwas sehr Wich­tiges beruht hierauf: das Vertrauen, welches ein Mensch zum anderen Menschen hat. Wie oft kommt es vor im Leben, daß ein Mensch zum anderen Vertrauen oder auch Mißtrauen hat - denn das Negative gilt wie das Positive -, bevor er dem Menschen erst in Begriffen, im All­tagsverstande entgegengetreten ist. Vertrauen und Mißtrauen treten manchmal ganz unmittelbar auf. Wieviele Menschen gibt es, die oft in eine Art Klage ausbrechen: Hätte ich doch meinem ersten Eindrucke getraut! Den wahren Eindruck, den ich vorher geahnt habe, habe ich mir verdorben. - Solche Menschen haben manchmal sehr recht. Aus dem Gemütsleben sollte unser soziales Verhältnis, unsere Beziehung zum Leben herauswachsen. Es gibt Menschen, die nicht viel Anlage dazu haben, dieses Unbestimmte, Ahnungsvolle an den Menschen zu empfinden. Es gibt Menschen, die stundenlang den Blick staunend zum Sternenhimmel richten können, ohne viel Astronomie zu verstehen, und es gibt andere, die wie ein Stock dem Sternenhimmel gegenüber bleiben, bis sie Bücher in die Hand bekommen, durch die sie sich das alles zergliedern können. Das sind die Menschen, welche diese Gemüts-grundlage nicht haben können. Solche Menschen gehen auch wie Stöcke oft an den Menschen vorbei, bis sie genügend Zeit gehabt haben, sich den Menschen zu zergliedern.

Das zeigt sich auch im Verhalten der Geisteswissenschaft gegenüber. Zum Verstande kann man eigentlich nur in der allerersten Jugend sprechen. Später ist es aus dem Grunde unmöglich,.den Goethe angibt:

Man könnte die Menschen nicht von der Unwahrheit ihrer Behauptung überzeugen, weil ihre Ansicht darauf beruhte, daß sie eben das Un­wahre für wahr halten. - Fühlt jemand, in der Geisteswissenschaft liegt etwas, durch das mein ganzes Sehnen erfüllt wird, so findet er immer die logischen Belege, die überall gefunden werden könnten. Die Dinge liegen im Grunde ungemein klar, sie müssen nur im Lichte einer spiri­tuellen Weltanschauung gesehen werden.

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Nehmen wir an, ein Mensch tritt in der Jugend einem Älteren gegenüber mit einer heiligen Scheu, von der er vielleicht gar nicht sagen kann, warum sie sich einstellt. Bemerken wir eine derartige breite Ge­mütsanlage bei einem Menschen, so finden wir, daß solche Menschen lange jung bleiben, überhaupt jung bleiben, daß in ihnen ein junges Herz schlägt, auch wenn die Haare längst grau geworden sind. Sie behalten eine gewisse Beweglichkeit im Leben. Namentlich behalten sie das ganze Leben hindurch die Fähigkeit, rasch sich hineinzufinden in Situationen, geschickt zu sein in allen Verhältnissen. Wer sich in der Jugend so dem Leben aufschließt, vor dem schließt sich in späteren Epochen das Leben immer mehr auf. Er ist immer mehr imstande, in die Dinge hineinzuschauen, erreicht auf leichtere Weise die Möglich­keit, das Geistige zu fühlen hinter den Dingen; er wird immer spiri-tueller. Anders ein Mensch, der die Verstandesseite in der Jugend besonders entwickelt hat. Solche Menschen neigen sehr zu frühzeitiger Greisenhaftigkeit. Das ist nicht Schuld des Einzelnen, sondern das Karma der Gemeinschaft. Derjenige, der ein Verstandesmensch ist, sondert sich immer mehr von der Welt ab, sie wird ihm immer unver­ständlicher. Daher das Kritisieren vieler Menschen über alles, was in ihrer Umgebung ist. In meiner Jugend - sagen sie - war alles schön, jetzt ist alles verdorben. - Dieses Mürrische, dieses mit nichts Zufrie­densein, dieses Sich-Zurückziehen, nur in den Kindheitserinnerungen leben, ist etwas, was zusammenhängt mit der Verstandeshaftigkeit der Seele in der Jugend. Daher können wir nicht genug tun, auf der breiten Basis des Gemütes, namentlich auf der Bildhaftigkeit die Erziehung aufzubauen.

In unserer Zeit segelt die Menschheit im allgemeinen nach der ent­gegengesetzten Seite. Die Kinder werden zum Beispiel nicht angelogen durch das Storchenmärchen. Es ist da nur ein Bild gebraucht, das wahrer ist als das, was die heutigen Menschen den Kindern beibringen wollen, daß nämlich das Kind nur von Vater und Mutter stammt. Das Storchenbild - oder irgendein anderes - weist darauf hin, daß im Kinde etwas ist, was aus Wolkenhöhen herabkommt. Das Kind schaut da in Regionen, die jenseits der Trivialität sind, und baut sich das auf, woraus künftig erst das herauswachsen soll, was spätere Wahrheit ist.

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Das Storchenbild für etwas Unwahres zu halten, ist nur eine Phantasie­losigkeit, eine Ohnmacht, für den Vorgang, der als Reinkarnation den Kindern nicht zu schildern ist, ein passendes Bild zu finden, diesen Vorgang in ein entsprechendes Bild zu kleiden. Aber - wird eingewen­det - die Kinder glauben heute nicht daran. - Das kommt daher, weil die Menschen, die den Kindern so etwas sagen, selbst nicht daran glauben. Sobald man selber nicht an das glaubt, was das Bild aus­drückt, können auch die Kinder nicht daran glauben. Ist es uns selber aber ein Bild für das Reale, Wahre, das dahintersteht, wenn wir Phan­tasie genug haben, die Wahrheit umzusetzen in ein Bild, so werden die Kinder es auch glauben. Und es ist eigentlich schön, dem Kinde zu sagen: Da wird gegeben ein Teil vom Vater und ein Teil von der Mut­ter, ein Drittes aber tragen aus Himmelshöhen andere Wesenheiten herunter, die in ihren Schwingen es tragen, es Vater und Mutter zu­tragend. - Wenn wir das sagen, so ist das Bild sehr zutreffend, und wir reden von einer Wahrheit. Ein Kind, dem wir reiche, bildhafte Vor­stellungen beibringen, wird in bezug auf die Verhältnisse des astrali­schen Lebens gefördert, und wir geben ihm den Segen einer weit in das Alter reichenden Jugendlichkeit mit. Dieses Bildhafte in der Erzie­hungstätigkeit, das vor allen Dingen auch dem Spiel zugrunde liegt, ist so unendlich wichtig. Auch hier ist schon in einem Leben zu sehen, wie Karma wirkt.

So wird Geisteswissenschaft, wenn sie eingreift in die Kultur, in der Art und Weise, wie das Leben gedeiht, heranblüht, ihre Wahrheit zeigen, während der Materialismus seine Unwahrheit daran zeigt, daß das Leben verödet, frühzeitig greisenhaft wird.

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EINIGES ÜBER DAS INNERE DER MENSCHLICHEN SEELE UND IHR VERHÄLTNIS ZUR WELT Frankfurt, 8. Januar 1911

Wir werden heute und morgen abend, in Anlehnung an Goethe, über so mancherlei zu sprechen haben, das den Schüler der Geisteswissenschaft interessieren kann in bezug auf die inneren Angelegenheiten der menschlichen Seele, ihre Entwickelung und ihr Verhältnis zur Welt. Da es an diesen beiden Vorträgen unsere Aufgabe sein wird, die ge­nannten Fragen nur in Anlehnung an Goethe zu betrachten, scheint es mir zweckmäßig, wenn wir jetzt unabhängig von Goethe, so wie wir es gewohnt sind, aus den Quellen der Geisteswissenschaft heraus, einiges über das Innere der menschlichen Seele, über ihre Entwickelung, über ihr Verhältnis zur Welt sprechen. Es wird notwendig sein, daß ich bei Ihnen eine gewisse Bekanntschaft voraussetze mit den Grundelementen des menschlichen Seelenlebens.

Wenn wir die menschliche Seele in ihrer Entwickelung betrachten, dann müssen wir sachlich unterscheiden zwischen der Empfindungs­seele, der Verstandesseele und der Bewußtseinsseele. Wenn wir zunächst von der Empfindungsseele sprechen, so meinen wir nicht nur dasjenige in unserer Seele, was sich durch Wahrnehmung, durch Sinneseindrücke in Verbindung zu setzen vermag mit der äußeren Welt, sondern wir meinen auch den Sitz von allem, was wir nennen können Triebe, Be­gierden, Leidenschaften, auch den Sitz von allem, was Willensimpulse in der menschlichen Seele sind. Am zweckmäßigsten ist es sogar, will man sich eine Vorstellung verschaffen von dem, was eigentlich inner­halb unseres seelischen Lebens die Empfindungsseele ist, daß man sich vorstellt, wie alles Willensartige, alles was uns von innen heraus An-stöße gibt, ein Verhältnis zur Außenwelt zu suchen, das Wesentliche in der Empfindungsseele ist, und wie es an der Empfindungsseele hängt, daß sie die wichtigste Vermittlerin ist auch des Empfangens von außeren Eindrücken des Wahrnehmens. Deshalb wird sie Empfindungs­seele genannt. Wenn der Mensch einen Ton- oder einen Farbeneindruck empfängt, waltet die Empfindungsseele. Auch wenn die Leidenschaften

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aufsteigen, bei Affekten, Zorn, Furcht, Angst, waltet im wesentlichen die Empfindungsseele.

Was wir Verstandes- oder Gemütsseele nennen, arbeitet sich erst heraus aus der Empfindungsseele, ist schon in gewisser Beziehung etwas Abgeklärteres als die Empfindungsseele. In der Verstandesseele sitzen schon die Fähigkeiten, dasjenige in Vorstellungen zu kleiden, was in der Empfindungsseele empfunden ist, dasjenige, was als Instinkte, als Affekte erlebt wird, zu einer menschlicheren Form des Seelenlebens abzuklären. Wenn zum Beispiel Affekte, die sonst nur auf Selbsterhal­tung gehen, abgeklärt werden zum Wohlwollen, ja sogar zum liebe­vollen Verhalten zur Umwelt, haben wir es schon zu tun mit der Ver­standes- oder Gemütsseele. In der Verstandesseele geht uns das Ich auf, der eigentliche Mittelpunkt unseres Seelenlebens.

In der weiteren Entwickelung des Ich, wo wir uns so recht als inner­liche, im Mittelpunkt sich behauptende Menschen fühlen, formen wir unsere Vorstellungen und Gedanken zu großen Ideen, mit denen wir die Natur begreifen, oder zu Pflichtideen oder moralischen Ideen. Bei allem, mit dem wir uns so in Beziehung setzen, sprechen wir von der Bewußtseinsseele. Es sind nicht Scheidewände zwischen den einzelnen Seelengliedern, aber es ist notwendig, daß diese drei Glieder unter­schieden werden, weil ein jedes auf eine andere Art zur Außenwelt in Beziehung steht.

Wenn Sie zunächst die Bewußtseinsseele nehmen, so ist das für uns Menschen vorerst das höchste Seelenglied, aber zugleich das Seelen-glied, das in gewisser Weise sich am meisten von der ganzen übrigen Welt abgesondert hat. Es ist das selbständigste Seelenglied.

Wenn der Mensch sich in die Bewußtseinsseele versenkt, kann er in seinem Seelenleben am meisten einsam sein, sich absperren gegen die äußere Welt. Aber es ist auch das Seelenglied, welches seiner Natur nach am meisten Grenzen aufgerichtet hat gegenüber der Umwelt, so daß es am stärksten dazu veranlagt ist, in Irrtum und Fehler zu ver­fallen. Es ist am meisten aus dem Universum losgelöst. Aber dieses Seelenglied kann doch nur in beschränktem Maße in Irrtum verfallen. Das ist das Wichtigste in dem, was wir Bewußtseinsseele nennen. Sie äußert sich vor allem als logisches Denken, als Begriffszergliederung,

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geht auch als rechnerisches Denken vor, als alles das, was der Mensch in gewisser Beziehung als eine ihm eigene Fähigkeit hat, und was sich nicht bei den Tieren findet.

Die Kräfte der Empfindungs- und Verstandesseele spielen herauf bis in die Bewußtseinsseele. Die Triebe, Begierden und Leidenschaften, die Willensimpulse der Empfindungsseele, die Gefühle und intellek­tuellen Urteile der Verstandesseele dringen da hinein. Aber in der Bewußtseinsseele wird das alles verarbeitet durch das logische Denken. Daher ist es vorzüglich in der Bewußtseinsseele, daß wir uns die Mei­nungen bilden. Und weil die Bewußtseinsseele das Isolierteste ist, sind die Menschen in bezug auf die Meinungen so sehr voneinander ge­trennt. Sprechen wir von dem, was wir gemeinsam einhalten, weil es innerhalb unserer Volksgemeinschaft, unseres Familienkreises ausge­bildet ist, weil es gang und gäbe ist in der Umgebung, so sprechen wir von solchen Dingen, die in der Verstandes- oder Gemütsseele sitzen. Aber auch die Dinge, die erst in der Bewußtseinsseele sitzen, wandern in die Verstandesseele herein, zum Beispiel eine von uns einmal ge­bildete Meinung kann eine gewohnte Meinung werden. Oder eine Fähigkeit kann sich in Geschicklichkeit, in Gewohnheit umwandeln. Dann sind sie in die Verstandesseele herabgestiegen.

Die Bewußtseinsseele ist auch deshalb das Isolierteste, weil der Mensch durch die Bewußtseinsseele unmittelbar die Fühlhörner in die Umgebung streckt. Wenn wir überlegen, was wir tun wollen, leben wir in der Verstandesseele. Wenn wir anschauen, was um uns herum ist, strecken wir durch die Sinne direkt die Fühlhörner der Bewußtseins-seele heraus und kommen wieder zu dem, was uns zu dem isoliertesten Wesen macht. Denn durch das, was uns unsere Sinne bieten, werden wir die isoliertesten Wesen. So isoliert sich der Mensch gerade deshalb, weil er durch die Bewußtseinsseele ganz lokal und temporär sich in Beziehung setzen muß zur Außenwelt. Aber Meinungen haften am intensivsten in der Bewußtseinsseele. Es macht sich zuerst eine Meinung geltend und setzt sich fest in der Bewußtseinsseele. Deshalb ist der Mensch in bezug auf Meinungen ein isoliertes Wesen. In bezug auf Gewohnheiten verstehen sich die Menschen schon besser. Der Mensch ist am selbständigsten, aber auch am isoliertesten in der Bewußtseinsseele,

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daher können wir auch nicht bei einem anderen Menschen so recht Zugang finden zu dem, was Inhalt der Bewußtseinsseele des anderen Menschen ist. Wir wissen ja nicht einmal, ob jeder die Farbe Rot oder Blau in derselben Weise sieht, wie wir selbst.

Aber abgesehen davon, nehmen wir jetzt nur einmal den Inhalt der Bewußtseinsseele an, der in Meinungen besteht. Nehmen wir etwas, was ungeheuer logisch erscheinen mag, wovon wir uns einbilden kön­nen, daß wir diese Meinungen am denkbar logischsten begründen, so kann man mit diesen logischen Gründen bei den Mitmenschen doch nicht viel anfangen. Logische Begründungen wirken eigentlich zu­nächst im äußeren Leben nicht, und es ist sogar das Normale, daß sie nicht wirken. Daher ist es leicht, Menschen im jugendlichen Alter, im Kindesalter zu unseren Meinungen zu bekehren. Später ist das immer weniger der Fall. Denn das Kind stellt uns nicht nur seine Bewußt­seinsseele entgegen, sondern auch die Verstandesseele und die Empfin­dungsseele. Es stellt uns seine ganze Persönlichkeit entgegen. Und das, wodurch wir überzeugen, hängt an allem anderen mehr als an der Bewußtseinsseele. Da wirkt der Wille, das Gefühl hinauf. Wenn die Willensrichtung, die Gefühle, verschieden sind beim Menschen, dann lassen sich die verschiedensten Standpunkte in der logischsten Weise begründen. Dennoch sind die Menschen im gegenwärtigen Menschheits­zyklus so recht selbständig nur in bezug auf die Bewußtseinsseele, weniger in bezug auf die anderen Seelenglieder. Fühlen Sie einmal, wie sich Meinungen bilden: der Mensch ist ganz frei, sich diesen oder jenen Begriffszusammenhang als seine Meinung zu bilden. Weniger frei ist er, wenn der Inhalt der Verstandesseele in Betracht kommt. Da fühlt sich der Mensch gar nicht frei, sonst könnten ihm seine Gefühle und Emp­findungen nicht so manchen Streich spielen. Wir können in unseren Meinungen ganz einig sein mit uns, daß dieses oder jenes uns eigentlich mißfallen müßte, aber das Gemüt spricht anders, läßt uns doch Ge­fallen finden an der Sache. Der Umstand, daß das Gemüt in Zwiespalt sein kann mit den Meinungen, kann uns zeigen, daß der Mensch nicht so frei ist in bezug auf das Gefühl wie in bezug auf die Meinungen. Am stärksten unfrei fühlt sich der Mensch bei alledem, was den Willen und so weiter anbetrifft, bei allem, was in der Empfindungsseele ist. Der

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Zwiespalt ist zuweilen gar sehr groß zwischen den herrlichsten Vor­sätzen, zwischen der Meinung, daß dies oder jenes nicht gut ist, und dem Trieb, dem Affekt zu jenem. Ein drastisches Beispiel ist folgendes:

Ein Lehrer, der ein zorniges Kind hat, sieht in der Verstandesseele ein, daß der Zorn ausgetrieben werden muß. Da es ihm auf gutem Wege nicht gelingt, wirft er ihm das Tintenfaß an den Kopf, er wird selbst zornig. Da haben wir den schönsten Zwiespalt.

Was ist nun im Seelenleben der Fall, was geht da vor sich, daß dieser Zwiespalt zustande kommen kann? Es ist das der Fall, daß wir eigent­lich nur im jetzigen Zustand der Entwickelung in bezug auf die Be­wußtseinsseele selbständig, isoliert sind, daß aber zwischen der Be­wußtseinsseele, an der Grenze zu der Verstandes- oder Gemütsseele hin, ein Einfluß auf die Seele stattfindet, ein Einfluß höherer übermensch­licher Wesenheiten. Und wiederum haben wir an der Grenze zwischen Verstandes- und Empfindungsseele einen solchen Einfluß äußerer Kräfte übermenschlicher Wesenheiten, ebenso zwischen Empfindungs­seele und Empfindungsleib.

Ich schildere jetzt den Zustand, der gerade in unserer Zeit, in un­serem Jahrhundert sich darbietet. Für andere Zeiten ist es anders. Der Mensch kann sich auch sehr leicht überzeugen, daß andere Kräfte hin-einspielen, wo der Wille in Betracht kommt. Wenn wir denken, sind wir mit uns selber. Wir können uns in eine Ecke setzen und sind im Denken mit uns selber. Wenn der Mensch einen Willensimpuls aus­zuüben hat, muß er Hände und Füße bewegen, muß er eine physische Aktion, eine Tat hervorrufen. Gehen Sie von einem Gedanken zum anderen über, so bleibt Ihr Bewußtsein vorhanden. Von dem Übergang, der da vorgeht, hat der Mensch heute zunächst gar keine Ahnung, wenn er zum Beispiel den Gedanken faßt: Ich will die Uhr ergreifen - und wenn er dann diesen Gedanken ausführt. Da haben wir einen ganz anderen Zusammenhang, als beim Übergang von einem Gedanken zum anderen, wo die ganze Folge von dem Bewußtsein verfolgt werden kann. Das ist ein Beispiel dafür, daß andere Kräfte eingreifen, um uns zu Hilfe zu kommen. An der Grenze zwischen Verstandes- und Be­wußtseinsseele greifen Wesenheiten ein, die wir Engel oder Angeloi nennen. Sie sind es, die das verdichten, was sonst nur in Meinungen, in

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Begriffen bewußt erfolgt, die das verdichten zu dem, was man Emp­findungen und was man Gefühle nennen kann. Der Ausdruck «Empfin­dung» schwankt etwas. Das, was innerlich gefühlt, empfunden wird, ist schon eine Verdichtung des Gedankens. Da sind hinter uns Kräfte, die uns helfen.

Gehen wir nun zu der anderen Grenze zwischen Verstandes- und Empfindungsseele. Da haben wir noch höhere Wesenheiten, die ein­greifen. Sie sind es, die den Willen in uns rege machen, die den Ge­danken zum Willen durchkraften: es sind die Erzengel oder Archan­geloi. Wenn wir aber von uns aus zur Umwelt in Beziehung treten, dann sind es die Geister der Persönlichkeit; da spüren wir schon den Widerstand der Welt, wenn wir in ihr Gefüge eingreifen. So sitzen in den Zwischenreichen zwischen den einzelnen Seelenkräften uns füh­rende, uns durchkraftende, geistige Wesenheiten, welche die Aufgabe haben, das in Taten, in Kräfte umzusetzen, was der Mensch, sich selbst überlassen, nur als Gedanken in sich erleben kann.

Nun besteht in der Tat sofort, wenn wir in diese unterbewußten Re­gionen des Seelenlebens eintauchen, die Möglichkeit, daß die Kämpfe, die innerhalb der geistigen Welt stattfinden und stattfinden müssen, auch auf den Schauplatz unseres Bewußtseins einziehen. Da wo die Engelwesen eingreifen, sind auch gleich die luziferischen Wesen, welche die Gegner der Engel sind. Würden nur die Engel eingreifen, so würde unser Gemüt zu dem hingreifen, was das Schöne ist, nur zu dem unserer Menschenwürde Entsprechenden. Die luziferischen Wesen führen uns hin zu dem, womit wir in ruhigem Nachdenken selber nicht einver­standen sind, was uns aber hinreißt. Da wo die Erzengel eingreifen, können auch eingreifen die ahrimanischen Wesenheiten, die uns dazu bringen, daß unser Urteil in Irrtum, unser Wahrheitssuchen in Lüge umgewandelt werden kann. Das logische Meinen ist uns als Menschen frei gegeben. In dem Augenblick aber, wo wir zu Gefühlen, zu Willens-impulsen kommen, wirken andere Wesenheiten hinein, auch solche, die den aufsteigenden Wesen entgegenwirken. Das ist der Punkt, über den sich im Grunde jeder unterrichten sollte, der sich irgendwie mit okkul­ten Forschungen bekannt macht.

Da wo der Mensch heute im normalen Leben steht, ist es schon so

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eingerichtet, daß die den Engeln und Erzengeln entgegenwirkenden Kräfte der luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten bei all ihren Wirkungen doch zum Guten gelenkt werden. Man braucht nicht klüger sein zu wollen als die Weltenlenkung und fragen: Wozu braucht der Mensch die luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten? - Der Mensch könnte nicht so frei sein, wenn ihm in diesen beiden Kräften nicht ein Gegengewicht gegeben wäre zu den Engeln und Erzengeln. Der Mensch muß die Möglichkeit zur Lüge haben, damit er selbständig zur Wahrheit kommen kann. Er soll als selbständiges Wesen sich Wahr­heit erringen, deshalb muß Ahriman da sein. Der Mensch soll Ahriman widerstehen und den Weg zur Wahrheit einschlagen. Dadurch ist der Mensch zu einem selbständigen Wesen geworden, dem der Sinn für Wahrheit innewohnt. Die höchsten Weltenlenker haben die Sache schon so eingerichtet, daß ihren Gegnern Luzifer und Ahriman der Hafer nicht zu hoch wächst. Wohl sind sie da, um den Menschen seiner Freiheit und Bewußtseinsentwickelung wegen bis zu einem starken Maße von unreinen Trieben, Begierden und auch unrichtigen Urteilen zu treiben, die sich aber im Laufe des Karma ausgleichen lassen und die Erdenmission nicht stören können. Das gehört zu den schönsten und tiefsten Einsichten, zu denen es der Mensch durch okkulte Studien und Esoterik allmählich bringt, daß er einsieht: Es wird alles Unwahre und Schlimme zuletzt doch ins Gute umgewandelt werden können.

Es ist nun die Frage sehr naheliegend, die eigentlich jeder stellen muß: Gibt es abgesehen von diesem Umstand einen Grund, weshalb der Mensch durch alle Inkarnationen durchgehen und erst durch jedweden Irrtum zur Vollkommenheit gelangen muß? Ja, es gibt einen Grund. Es würde zu weit führen, zu zeigen, daß der Mensch durch die früheren Erdenleben so geworden ist, daß er nur allmählich heranreifen kann. Jetzt ist er nur selbständig in bezug auf die Bewußtseinsseele. Es wird aber eine Zeit kommen, wo der Mensch trotz allen Hanges zum Irrtum eine feste Richtung im Handeln und Wirken haben wird. Wenn die Menschen das heute noch gar nicht hätten, so würden sie sich in fort­währendem Zwist und Hader befinden. So wie die Menschheit jetzt ist, ist sie reif, sich gerade die Freiheit für die Bewußtseinsseele anzueignen, aber die Menschen sind noch nicht reif, in bezug auf die Verstandesseele

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und Empfindungsseele frei zu werden. Der Fortschritt entsteht dadurch, daß niemals die Entwickelung vollständig gradlinig statt­finden kann. Wir können in allen Kulturen sehen, wie einige Seelen vorauseilen, die Führerschaft übernehmen, das, was andere Seelen sich erst in späteren Zeiten aneignen können, vorausnehmen. Die Menschen­seelen sind heute nur in bezug auf die Bewußtseinsseele dazu reif, frei zu werden. Aber die spirituelle Weisheit führt nach und nach dazu, auch die Verstandes- und die Empfindungsseele frei zu bekommen und zu isolieren, so daß der Mensch nicht mehr auf Überliefertes und Ge­wohntes hinschauen muß, um das Gute zu finden, sondern daß der Impuls zum Guten aus der eigenen Seele strömt. Es ist dies auch eine notwendige Interpretation des Pauluswortes: Nicht ich, sondern der Christus in mir. - Wenn der Christus in den Menschen lebt, werden sie auch in bezug auf Verstandes- und Empfindungsseele frei sein dürfen. Die Menschen haben es ja schon zu einer gewissen Leidenschaftslosig­keit gebracht: in bezug auf die trivialsten logischen Dinge, in bezug auf das Mathematisch-Rechnerische. Da ist Leidenschaft schon so weit heraus aus dem Menschenherzen, daß die Menschen für sich die Wahr­heit finden können. Aber für das, was innerhalb der Verstandes- und Empfindungsseele ist, stimmen die Menschen sehr wohl noch ab, be­trachten sogar das Abstimmen als das Wesentliche, weil da überall luziferische und ahrimanische Kräfte hineinspielen.

Sie werden verstehen, daß mit einer solchen Bewegung, die auf der Grundlage der spirituellen Weisheit aufgebaut ist, und wo die tieferen Kräfte der Menschenseele zur Isolation wachgerufen werden sollen, nicht nur verbunden werden darf die Neugierde nach den spirituellen Welten - das darf im Grunde genommen gar nicht der Impuls sein zur Geistesforschung -, sondern das Gefühl der Verantwortlichkeit. Durch diese Bewegung wird jede Zukunftsfähigkeit der Menschen in unsere Zeit hineingeholt, es wird ein Zukunftskeim aufgerufen, der jetzt im allgemeinen noch nicht reif ist. Das müssen wir uns vor Augen halten und uns klar sein, wie wir sorgsam darauf zu achten haben, daß, auch wenn die Seele schön und sympathisch sein mag innerhalb der spiri­tuellen Bewegung, wir demgegenüber doch wachsam zu sein haben auf ihr drohende Gefahren und das Gefühl der Verantwortung wachrufen

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müssen. Wenn die Seele unreif an spirituelle Dinge herantritt, ist doch Gefahr vorhanden. Diese Gefahr merkt nicht ein jeder. Wer etwas tiefer in der Bewegung steht, der weiß und muß wissen - wenn er nicht zusammenbrechen will unter dem Unerträglichen -, wie er immer auf der Hut sein muß, nur das zu sagen, was nicht einmal oder zehnmal, sondern was hundertmal durch seine Seele gezogen ist! Es ist schwer, in bezug auf Spirituelles die Worte so zu prägen, daß sie adäquat sind. Es muß sich im ganzen Kreise der Anthroposophen eine bestimmte Meinung bilden: die Meinung, daß sie verlangen von denen, welche die Bewegung vertreten, daß sie die Wahrheit in diesem Sinne ernst nehmen. Man darf nicht glauben, daß man als Redner jeden Abend sich nur so einfach hinstellen könne, ohne immer wieder und wieder diese Wahrheiten durch seine Seele ziehen zu lassen, damit sie richtig geprägt sind bis auf das Wort. Die Schwierigkeit, die darin liegt, nur den Mund aufmachen zu können für spirituelle Wahrheiten, ist das eine. Das andere ist, daß diejenigen, die in einer solchen Bewegung stehen, in gewisser Weise sogar darauf zu achten haben, daß dieses Gefühl vor­handen sei bei den Vertretern der Bewegung. Aber auch der, welcher noch nicht tief darinnensteht, hat darauf zu achten, daß seiner Seele nicht dieses oder jenes passiert, und es sollte sich der Mensch immer und immer wieder fragen: Bin ich auch reif, eine spirituelle Bewegung zu vertreten? Muß ich mich nicht so hereinstellen in die Bewegung, daß die Dinge der spirituellen Welt überhaupt noch stärker auf mich wir­ken? - Es soll niemand entmutigt werden, aber jeder soll das Gefühl in sich wachrufen: Wenn ich auch durch den Zwang der Überlieferung und Erziehung das getan habe, was das Gute und Richtige ist, so ist da eine Grenze vorhanden, an der bei Vertretung des Richtigen nicht nur die Engel, Erzengel und Geister der Persönlichkeit stehen, sondern wo auch Luzifer und Ahriman stehen. Immer wieder kann man beobach­ten, daß Menschen, die wahrheitsliebend waren, anfangen zu lügen, wenn geisteswissenschaftliche Wahrheiten auf sie einwirken, weil sie nicht genügend sich gesagt haben: Vor allen Dingen mußt du dich reif machen, mußt du die spirituellen Wahrheiten auf dich wirken lassen, mußt nicht dich sprechen lassen! - Solcher Verantwortung muß man sich bewußt sein. Aber es wäre feige zu sagen: Dann will ich mich

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nicht hineinstellen in die spirituelle Bewegung. Nicht dadurch, daß man der Pflicht ausweicht, die Vorsicht zu beachten, verhält man sich in richtiger Weise, sondern dadurch, daß man diese Pflicht richtig beachtet. Mit dem Gesagten hängt vieles, vieles von dem zusammen, was zu allen Zeiten ein Kennzeichen der fortschreitenden geistigen Bewegung war.

Es gibt ja die großen Lichter, welche die Menschen vorwärtsbringen sollen. Aber wo starke Lichter sind, sind oftmals auch ganz starke Schatten. Daher die nicht immer unberechtigten Anklagen gegen die­jenigen, die herunterbringen sollen die Wahrheiten von der geistigen Welt auf den physischen Plan. Es haben sich in jeder solchen Bewegung zu denen, die nichts wollten, als die spirituellen Wahrheiten hinunter-fließen lassen in die physische Welt, solche gefunden, die nicht gewollt haben Selbstkritik üben, die nicht gewollt haben Hochmut und Eitel­keit zähmen. Das sind solche geworden, wie wir sie so reichlich sehen innerhalb der spirituellen Bewegungen, und denen gegenüber man sagen muß: Leider kann die Außenwelt zwischen solchen Trägern und denen, welche die wahren Träger sind, nicht immer richtig unterscheiden. -Auch das Umgekehrte findet manchmal statt. Gerade unsere geistes-wissenschaftliche Bewegung sollte die Menschen zu freiem Urteilen auf­rufen, sollte hinwegfegen alles, was bloß auf äußeren Autoritätsglauben hin herrscht. Solange in der Gesellschaft noch das Gefühl herrscht, es käme auf den Mund an, durch den gesprochen wird, solange ist noch nicht unser Ideal erreicht. Wir sollen nur hören auf das, was dieser Mund spricht, weil die Dinge uns einleuchten, wenn wir mit Wahr­heitssinn und unbefangener Logik ihm zuhören. Es ist unsere Bewegung im höchsten Maße geeignet, das freie Urteil des Menschen keimen zu lassen und zu entwickeln; aber es geht durch unsere Zeit ein starker Zug, den man nennen kann: Bequemlichkeit in bezug auf den Glauben. Durch die Bequemlichkeit des Glaubens werden der geisteswissen­schaftlichen Bewegung große Hindernisse geschaffen. Dadurch, daß man etwas glaubt, weil es dieser oder jener gesagt hat, wird das freie Urteilen verzögert, das freie menschliche Seelenleben, die Verselbstän­digung auch in bezug auf die Verstandesseele. Es ist so bequem, nicht denken zu brauchen, und irgendeine Wahrheit nur anzunehmen, weil

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sie dieser oder jener gesagt hat; es ist viel bequemer, der Person glauben zu können, als zu prüfen, was die Person sagt.

Ich habe öfter ausgesprochen: Es ist zunächst nur möglich, inner­halb der spirituellen Bewegung Anregungen zu geben. Aber, nehmt alles, was wir in der Geschichte zum Beispiel über Zarathustra finden können: es wird nichts von dem widerlegt werden, was hier über Zara­thustra gesagt wird, wenn man nur wirklich alles nimmt. Geprüft kann werden, und je strenger man prüft, desto angenehmer ist es dem, der in objektiver Weise die spirituelle Bewegung vertreten will. Der Wille zur Prüfung ist das, was er will. Aber es ist unendlich bequemer, zu glau­ben, einfach sich darauf zu berufen: das hat dieser oder jener Hellseher gesagt. - Das ist eine Gefahr für den wirklichen oder sogenannten Hell­seher, wenn er noch nicht wirklich fest steht. Da ist schon eine Ver­suchung, das zu sagen, was die Leute glauben. Er gleitet leicht hinein in dasjenige, in das man überhaupt leicht gleiten kann, wenn es sich um den Aufstieg in die übersinnliche Welt handelt. Man steigt hinauf in eine Welt, in der wirklich nicht so leicht wie in der physischen Welt kontrolliert werden kann. Wenn man kontrollieren will mit dem Ver­stand, daß an den Grenzgebieten Engel und Erzengel eingreifen, so gehört ziemlich viel dazu, um das zu prüfen. Beim Glauben hängt es oft nur von dem Eindruck ab, den man von dem Menschen bekommen hat. Wie leicht die Menschen zu beeinflussen sind in bezug auf den Glauben, ist zu sehen an der Massensuggestion.

Massensuggestion ist etwas, worüber die wunderbarsten Entdeckun­gen erst in der Zukunft gemacht werden können. In früheren Zeiten war das etwas ganz anderes, weil die Bewußtseinsseele noch nicht so frei war. Heute steht der Mensch in der Befreiung der Bewußtseins-seele, steckt aber in der Unfreiheit der Verstandesseele noch ganz drinnen. Wodurch wird suggeriert? Nicht nur durch das, was sym­pathisch oder unsympathisch ist an einer Persönlichkeit; auch dadurch, daß zum Beispiel jemand in ein Amt getreten ist, daß er für fünf Kinder zu sorgen hat und nun sich gezwungen glaubt, im Amt bleiben zu müs­sen. Es ist dem Menschen heute oft lieber zu hören auf alles das, was auf scharlatanhafte Weise aus der übersinnlichen Welt herausgeholt wird, als auf das, was auf gediegener Forschung beruht. Denn das

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erstere hat zweierlei Eigenschaften. Zunächst ist es ungeheuer trivial. Das zum Beispiel, was Schreibmedien niederschreiben, ist meistens so, daß man sich das Betreffende ebensogut selber denken könnte, nur wird es dem Menschen glaubhaft gemacht durch die Art, wie es ihm beigebracht wird. Der Mensch glaubt dann, es spiele etwas hinein aus der geistigen Welt. Gerade durch ihre Trivialität werden diese Dinge dem Menschen angenehm. Oder sie haben die andere Eigenschaft, daß sie so unverständlich sind, daß überhaupt niemand etwas davon ver­stehen kann. Die Dinge, die besonders unverständlich sind, gelten dann oft als besonders mystisch. An den Grenzgebieten von Übersinnlichem und Sinnlichem kann das Scharlatanhafte verquickt werden mit dem, was auf ernster Forschung beruht. Das muß betont werden, daß nur derjenige seine Pflicht erfüllt, der wachsam ist in bezug auf die eigene Seele, der namentlich achtgibt auf alles das, was die Instinkte trüben kann, so daß wir die Angelegenheiten der Menschheit zu fördern glau­ben, während wir nur die eigenen fördern, oder, daß sich unvermerkt in das, was wir sprechen, das Unwahre hineinmischt, die Lüge, die Versuchung Ahrimans.

Nur wer fortwährend wachsam ist in bezug auf all dieses, nur wer sich immer sagt: Trittst du in eine spirituelle Bewegung ein, so ist große Gefahr vorhanden, daß du eitel und hochmütig wirst - nur der kann weiterkommen. Das ist selbstverständlich. Einen Vorwurf darf man dem Menschen deshalb noch nicht machen, nur dann, wenn der Betref­fende gar nichts tut, um diese Eigenschaften herunterzudrängen. Eine ungeheure Versuchung liegt vor, nicht so ganz bei der Wahrheit zu bleiben, wenn man es zu tun hat mit Menschen, die einem glauben. Man kann den Menschen alles mögliche aufbinden, wenn sie auf Au­torität hin glauben. Dann hat man es leicht. - Man darf auch nieman­dem Vorwürfe machen darüber, daß bei Annäherung an die spirituelle Welt in ihm das Lügenhafte auftritt, aber das soll ihn nicht vor sich selbst entschuldigen, sondern er soll alle Anstalten treffen, das heraus-zuwerfen aus seiner Seele. Das ist der Sinn des: Erkenne dich selbst. Man muß die einsamen Stunden suchen, wo man dazu kommt, sich zu sagen: Da droht wieder eine Gefahr, also sei auf deiner Hut. - Wenn man sie nicht hat, diese einsamen Stunden, wenn es einem unangenehm

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ist, sich etwas nicht Gutes gestehen zu können, wenn sie nicht der Aus­gangspunkt sind, um die Fehler zu bekämpfen mit aller Gewalt, dann ist man auf der schiefen Ebene, dann rollt man hinunter, anstatt hin­aufzusteigen.

Das sind solche Dinge, die wir ins Auge fassen müssen, wenn wir unsere Stellung zur okkulten Forschung erkennen wollen, zu der For­schung, die das höchste Gnadengeschenk ist, welches in die physische Welt hineinfließt aus den spirituellen Welten, denen gegenüber wir das größte Verantwortungsgefühl haben sollen.

Die Pflicht, mit einem Teile der Menschheit in die spirituelle Welt hineinzugehen, weil nur dadurch der Fortschritt möglich ist, und zu­gleich das Gefühl der Verantwortlichkeit sollen in uns wach werden, das Gefühl: es ist eine Pflicht, wenn ich einmal die Sache kennen­gelernt habe, daran teilzunehmen. Es wird oft den Vertretern der Geisteswissenschaft vorgeworfen, daß sie nicht genug Rücksicht auf moralische Betrachtungen nehmen. Sie werden oft gemacht, so wie auch heute, damit im Fortgang unserer spirituellen Bewegung, durch welche zu den geistigen Quellen geführt werden soll, auch von den Impulsen, die aus jenen geistigen Quellen kommen, gehört werde.

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DIE BEZIEHUNG DER MENSCHLICHEN WESENSGLIEDER ZUR MENSCHHEITSENTWICKELUNG UND ZUM LEBENSLAUF. GOTTESSOHN UND MENSCHENSOHN München, 11. Februar 1911

Im Verlauf unserer geisteswissenschaftlichen Studien werden wir zu­nächst bekanntgemacht mit der sogenannten Gliederung des Menschen und unterscheiden dann am Menschen seinen physischen Leib, Ather­leib, astralischen Leib, das Ich und so weiter. Nun könnte es vielen scheinen, als ob wir, wenn wir nun wissen: der Mensch besteht aus die­sen Wesensgliedern - dann schon sozusagen auch die Wesenheit des Menschen einigermaßen erfaßt hätten. Un4 viele glauben in der Tat, das Wesentlichste vom Menschen zu wissen, wenn sie nun diese ver­schiedenen menschlichen Wesensglieder aufzählen können, allenfalls noch anzugeben wissen, wie sich das eine oder andere verhält beim Durchgang durch verschiedene Verkörperungen hindurch. In Wirk­lichkeit ist es auf der einen Seite durchaus notwendig, daß man bei der Betrachtung des Menschen von diesen Wesensgliedern ausgeht, sich aber dann klarmacht, daß man damit im Grunde genommen nur etwas sehr Vorläufiges getan hat, wenn man sich damit bekanntgemacht hat. Denn es kommt durchaus nicht bloß darauf an, daß der Mensch nun aus diesen sieben oder neun Gliedern besteht, sondern es kommt auf das Verhältnis dieser verschiedenen Wesensglieder des Menschen an, wie das eine oder andere wiederum zu dem einen oder anderen steht.

Nun ist dieses Verhältnis aber durchaus nicht etwa für alle Men­schen und alle Zeiten gleich, sondern es ist verschieden, und vor allen Dingen ändert sich im Verlauf der Zeiten der menschlichen Entwicke­lung dieses Verhältnis der Glieder zueinander, so daß wir sagen kön­nen: Wenn wir auf die Menschheit blicken in einem Zeitraum, der vier bis fünftausend Jahre hinter uns liegt, so waren diese Glieder anders miteinander verbunden als heute, und in der Zukunft werden sie ganz anders miteinander verbunden sein. Die Art der Zusammenfügung, das Verhältnis der Wesensglieder, das ändert sich im Laufe der Zeit.

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Das Immer-wieder-Erscheinen des Menschen im Verlauf seiner Inkar­nationen hat dadurch seinen bedeutungsvollen Sinn, daß, während der Mensch sozusagen durchmacht seine eigene individuelle Entwickelung von Verkörperung zu Verkörperung, im Verlauf der Erdenentwicke­lung dieser Komplex von physischem Leib, Atherleib, astralischem Leib seine Entwickelung durchmacht in bezug auf das Verhältnis dieser Glieder, so daß der Mensch mit jeder neuen Verkörperung gewisser­maßen auf eine neue Zusammensetzung stößt. - Dadurch erlebt der Mensch immer Neues, daß er auf eine solche verschiedene Zusammen-fügung stößt. Wir brauchen nur in bezug auf einen Punkt zunächst alte Zeiten mit unserer Zeit zu vergleichen und werden dann einen Einblick gewinnen können in das, was gemeint ist.

Wenn wir zurückblickten in das 4. bis 5. Jahrtausend der ägypti­schen Kultur und uns die Menschen betrachteten, so würden wir sehen, daß bei diesen Menschen ein viel loseres Verhältnis von physischem Leib, Atherleib, Astralleib vorhanden war, als es heute der Fall ist. Es waren sozusagen der Astralleib und Atherleib loser nur an den physi­schen Leib gekettet in diesen alten Zeiten, als das heute der Fall ist, und gerade das ist die Tendenz unserer heutigen Entwickelung, daß der Astral- und Atherleib sich immer dichter und dichter, fester und fester mit dem physischen Leib des Menschen verbinden wollen. Das ist sehr bedeutsam, denn indem mit fortschreitender menschlicher Entwicke­lung in die Zukunft hinein der Astralleib und Atherleib die Tendenz haben, immer mehr sich an den physischen Leib zu ketten, hat der Mensch von seiner Seele aus nicht mehr in derselben Art Einfluß auf seinen physischen Leib, wie er das in alten Zeiten hatte. In alten Zeiten waren der Astralleib und der Atherleib freier, in sie wirkten nicht so energisch hinein die Gesetze des physischen Leibes wie heute. Wenn der Mensch ein Gefühl faßte in alten Zeiten, irgendeine Idee, so setzte sich die Kraft dieses Gefühls, dieser Idee in den Astralleib und Atherleib hinein rasch fort, und von da aus war der Mensch in der Lage, weil er Herr war seines Ather- und Astralleibes, auch wiederum von der Seele aus den physischen Leib zu beherrschen. Diese Möglichkeit, von der Seele aus den physischen Leib zu beherrschen, nimmt immer mehr ab, weil sich der Astral- und Atherleib immer mehr hineinsetzen in den

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physischen Leib. Dies hat aber eine andere Folge noch. Es hat die Folge, daß der Mensch im Laufe der Zeiten vermöge seiner natürlichen Be­schaffenheit immer unzugänglicher wird denjenigen Kräften und Mächten, die aus der geistigen Welt auf ihn herunterwirken. Deshalb haben wir in alten Zeiten eine gleichsam natürliche Inspiration und Imagination, ein altes Hellsehen, weil Atherleib und Astralleib freier waren bei den Menschen der alten Zeiten. In diesen freien Astralleib und freien Atherleib strömten die Kräfte der übermenschlichen Hier­archien ein, konnten in den Atherleib und Astralleib hineinwirken. Nun entreißt im Verlauf des Menschheitsprozesses der physische Leib dem eigentlichen Inneren des Menschen den Ather- und Astralleib, nimmt sie für sich in Anspruch, und die Folge ist, daß der direkte Ein­fluß aus den spirituellen Welten immer geringer wird, immer weniger und weniger hereingelangen kann in den Atherleib und Astralleib des Menschen.

Das können wir selbst verfolgen in der äußeren Gestaltung des Men­schen. Wenn wir weit, weit zurückgehen würden in der alten, sagen wir ägyptischen Menschheit, würden wir finden: So wie der Mensch be­schaffen war in seiner Seele, etwa wenn er diese oder jene Leidenschaf­ten oder Triebe hatte, wirkte das fort in den Astralleib und Atherleib hinein, und dieser Astralleib und Atherleib drückten dann die Triebe und Leidenschaften im physischen Leib ab. Daher würden wir finden, daß in sehr alten Zeiten der ägyptischen Kultur, aber überhaupt in den Zeiten der alten Kulturen das Außere des Menschen eine Art Abdruck seiner Seele war. Man konnte an der Stirne lesen, in der Physiognomie lesen, was in der Seele lebte. Es war eine Art von voller Analogie zwischen dem äußeren Physischen und dem Seelischen. Dann kam die Zeit der griechisch-lateinischen Kultur, kam dieses merkwürdige, wie in der Mitte der nachatlantischen Zeit stehende Griechenvolk. Das steht so in der Mitte, daß noch im allgemeinen die Kräfte der spirituel­len Welt zur Seele strömen und sich ausdrücken in der Körperlichkeit. Daher jener merkwürdige Einklang bei den Griechen zwischen der äußeren Körperlichkeit, der Schönheit der äußeren Körperlichkeit und der Schönheit der Seele. Diese schöne Seele war, weil sie frei war vom physischen Leib, dadurch fähig sich zu öffnen nach oben, nach den

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Hierarchien. Die Hierarchien sandten ihre Kräfte herein. Dies drückte sich aus im physischen Leib, und dadurch wurde der ganze physische Leib des Griechen zum Ausdruck der schönen Seele. So finden wir, daß in hohem Maße ein Übermenschliches sich ausdrückte im mensch­lichen Körper in der griechischen Zeit, ein Allgemein-Menschliches.

In der Zukunft nun - und das ist das Wichtige, däß wir uns das in die Seele schreiben - wird das ganz anders werden. In der Zukunft wird der physische Leib des Menschen anspruchsvoller, kettet Astral­und Atherleib an sich, und nur dadurch, daß der Mensch bewußt her­antritt an die spirituelle Welt, aufnimmt die Ideen, Begriffe, Gefühle der spirituellen Welt, wie wir jetzt beginnen in den spirituellen Be­wegungen, kann er selber jene starken Kräfte entwickeln, welche ihm früher von den Hierarchien hereingegossen worden sind in den physi­schen und Ätherleib. Und der Mensch kann gegen die Zukunft hin, wenn er noch Herr bleiben will seines physischen Leibes, starke Kräfte in bewußter Weise aus der spirituellen Welt heraus beziehen, um die widerstrebenden Kraftmassen des Atherleibes zu überwinden, der an den physischen Leib gebunden ist.

Wir können also sagen: In alten vorchristlichen Zeiten wurde den Menschen die Möglichkeit von selbst gegeben, in den physischen Leib hineinzuwirken. In der Zukunft wird den Menschen diese Möglichkeit nur gegeben werden, wenn sie etwas dazu tun. - Dadurch aber wird in der Zukunft der Menschheit immer mehr zutage treten, daß ein Unter­schied deutlich zwischen den Menschen auftreten wird, die sich sträu­ben gegen die spirituellen Lehren und Erkenntnisse, und solchen, die gerne und willig und instinktgemäß herankommen an die spirituellen Erkenntnisse. Wir wissen, daß die letzteren heute noch ein kleines Häuflein bilden. Aber diese Scheidung wird sich vollziehen zwischen solchen Menschen, die immer mehr sich sträuben werden aus Haß und Abneigung gegen das Spirituelle, und solchen, die willig, durch einen gewissen Instinkt zunächst getrieben, an die spirituellen Bewegungen herankommen. Diejenigen Menschen, die sich sträuben, werden das immer mehr in ihrem Antlitz zeigen. Sie werden zeigen, daß sie keine Gewalt haben über ihre Gesten, über ihr Physisches, daß ihr Physisches überall stärker ist als sie selber. Diejenigen, die an die spirituellen

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Lehren herankommen, werden zeigen, daß sie starke Kräfte bekommen, um das widerstrebende Physische zu überwinden.

Das wird sich so ausdrücken, daß die Menschen in bezug auf ihre äußere Bildung und Entwickelung ganz andere Dinge zeigen werden als in alten Zeiten. Zurückgehend noch einmal in alte Zeiten, können wir sagen: Wenn wir zu den Ägyptern hinaufsehen, wie sie vier- bis fünftausend Jahre vor unserer Zeitrechnung waren, dann können wir die Kindheitsentwickelung nach der Geburt so sehen, daß das Kind gar nicht recht menschlich aussah. Es sah aus, wie wenn ein Engel hin-eingefahren wäre, wie wenn es aus der spirituellen Welt heraus seine weichen, das Spirituelle im Physischen unmittelbar ausdrückenden Körperformen erhalten hätte. Und je mehr es heranwuchs, desto mehr wurde es menschlich. Es entwickelte sich herunter zum Menschentum. Ein großer Gleichklang zwischen der ersten und späteren Menschheit war bei den Griechen. Da zeigte sich schon im ersten Kindheitsalter der Abdruck des Allgemein-Menschlichen, und der blieb dann; daher man das Griechenvolk mit Recht als eine Art kindlichen Volkes ansieht. In der Zukunft wird immer mehr die Tatsache auftreten, daß der Mensch und gerade der bedeutendste Mensch als kleines Kind nach der Geburt häßlich ist, richtig häßlich ist im Sinne des griechischen Schön­heitsideals. Aber je mehr der Mensch sich bekanntmacht mit spirituel­len Ideen, desto mehr wird seine Gestalt und Figur etwas Charakteristi­sches bekommen, wird das, was zuerst verschwommene, unbestimmte, ja häßliche Züge sind, beim Kind sich umwandeln, daß man den Ge­sichtszügen anmerken wird: sie sind der Ausdruck der Ideen und Be­griffe aus der spirituellen Welt. Das wird immer mehr so der Fall sein.

Dasjenige, was in der äußeren Menschheit auftritt, zeigt sich manch­mal wie zusammengeschoben in der Kunst. In der Tat ist das Material zu derjenigen Menschheit, die der Zukunft entgegengehen soll, sozu­sagen aus den europäischen Völkermassen heraus genommen, während das Material zu der Menschheit, welche die alte Herrschaft über den physischen Leib gehabt hat, dem Süden entsprang. So haben wir auch in der Kunst, in der griechischen Kunst den Ausdruck des allgemeinen schönen Menschen. Selbst seinen Göttergestalten prägt der Grieche den Ausdruck des schönen Menschen auf, und das setzt sich bis in die

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Renaissance des europäischen Südens hinein fort. Vergleichen Sie eine Madonna von Raffael dagegen mit einer des Nordens, so werden Sie sehen, daß die Kunst vorausnimmt, was wirklich eintritt. Da haben Sie die mehr charakteristische Gestalt, das Charakteristische überwiegt. Die Nachklänge des griechischen Künstlertums wirkten so, wie wenn es das Schöne ohne sein Zutun hätte. Ein starkes Inneres, ein kraftvolles seelisches Inneres ist das, worauf die Menschheit in der nächsten Zu­kunft angewiesen sein wird. Solch einem Zeitalter gehen wir entgegen, und gerade diese Tatsache müssen wir in Zusammenhang bringen mit der anderen, daß diese verschiedenen Wesensglieder des Menschen zu den verschiedenen Zeiten der Menschheitsentwickelung einen verschie­denen Zusammenhang haben. Sie waren früher lockerer, und es streben immer mehr die unteren Glieder dicht aneinander zu kommen.

Nun hängt mit einer solchen Tatsache manches zusammen, was in unserer Zeit dem aufmerksamen Lebensbeobachter sehr greifbar ent­gegentreten kann, zum Beispiel die Unmöglichkeit gewisser Menschen, irgendwie nur noch den Tatsachen der Welt angemessene Begriffe zu fassen. Es gibt heute schon zahlreiche Menschen, welche die Begriffe, die ihnen eingedrillt worden sind, so fest haben, daß es ihnen rein un­möglich ist, später noch einen neuen Begriff aufzunehmen. Woher kommt das? Ein Ätherleib, welcher wenig stark verknüpft ist mit dem physischen Leib, kann immer mehr neue Begriffe aufnehmen, weil er elastisch ist. Ein Ätherleib, der fest mit dem physischen Leib verbunden ist, lernt eine gewisse Summe von Begriffen, dann hat der physische Leib eine bestimmte Form erhalten, die zwingt er dem Ätherleib auf. Und so kommt es, daß viele Persönlichkeiten in unseren gebildeten und gelehrten Kreisen heute das, was sie eingeprägt haben dem Gehirn, in späteren Lebensaltern nicht mehr ändern können und steif und un­elastisch sind in bezug auf ihre Begriffe. Ihr Ätherleib kann nicht mehr heraus, wird nicht mehr losgelassen vom physischen Leib. Es ist dann nur die Stärke und Gewalt und Eindringlichkeit der spirituellen Be­griffe und Ideen, die es möglich machen, daß der Mensch diese Tendenz überwindet. Denn der Mensch muß durch sich hier eine kosmische Tendenz überwinden. Das ist gerade die Mission des Menschen, daß er durch sich eine kosmische Tendenz überwindet.

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Man kann im wesentlichen durch einen Vergleich die Sache klar­machen. Stellen Sie sich einfach eine Pflanze vor, die durchzogen ist von Flüssigkeit und dadurch frisch und grün ist. Stellen Sie sich unter der Feuchtigkeit den Ätherleib vor und unter dem anderen den phy­sischen Leib des Menschen. Dieser physische Leib des Menschen wird mächtig, sagte ich, dadurch daß er den Ätherleib an sich zieht und auch den Astralleib an sich zieht; er bekommt Übermacht. Dadurch werden Äther- und Astralleib ohnmächtig, wie wenn der Pflanze Feuchtigkeit entzogen wird und sie trocken wird, verholzt. Der phy­sische Leib des Menschen beginnt nach und nach zu verholzen, weil die Kräfte des Ätherleibes und Astralleibes verarmen. Ein Gehirn, welches also verholzt, kann nur wenig Begriffe aufnehmen, weil es bei seinen Begriffen bleiben will. Wir müssen uns unseren Astralleib und Äther-leib beleben durch Aufnahme von spirituellen Ideen und Begriffen.

So sehen wir, daß es sich bei der spirituellen Bewegung der Gegen­wart um eine in der Mission des Menschen liegende Notwendigkeit für die Zukunft handelt, etwas, das ebenso notwendig ist wie irgendwelche Ereignisse, die ohne menschliches Zutun über das Menschengeschlecht gekommen sind. Man wird sich gegen solche Wahrheiten allerdings noch lange heftig sträuben, aber all dieses Sträuben wird nichts helfen. Die Menschen werden an der Art und Weise des Kulturganges, wie er immer mehr hervortreten wird in den nächsten Zeiten, wahrnehmen, daß die Sachen so sind. Tatsachen werden es den Menschen beweisen.

Nun ist das nicht nur so für die ganze menschliche Entwickelung, daß dieses Verhältnis der einzelnen menschlichen Wesensglieder sich ändert, sondern auch für das einzelne Menschenleben. Es ist keineswegs dasselbe Verhältnis zwischen Ätherleib und Astralleib und Ich für die erste Kindheit und für das spätere Alter des Menschen. Auch beim Menschen selber, bei der einzelnen menschlichen Entwickelung müssen wir darauf Rücksicht nehmen, daß das Verhältnis sich ändert. Wir haben namentlich als eine sehr wichtige Zeit im Verlauf des mensch­lichen Einzellebens jene Zeit, welche die drei ersten Lebensjahre un­gefähr umfaßt. Im Grunde ist jeder Mensch da ein ganz anderes Wesen als später. Wir wissen, daß diese drei ersten Jahre und die spätere Zeit scharf voneinander abgegrenzt sind durch zwei Tatsachen. Die eine ist

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diese, daß der Mensch erst nach Verlauf dieser Zeit lernt, das Ich zu erfassen, zu sich Ich zu sagen, seine Ichheit zu verstehen. Das andere ist, daß der Mensch, wenn er sich später zurückerinnert, sich nur bis an diesen Zeitpunkt höchstens zurückerinnert, der diesen Zeitraum von dem späteren Leben trennt. Kein Mensch weiß im normalen Zustand irgend etwas, was diesem Zeitpunkt vorangeht. Der Mensch ist da ein ganz anderes Wesen in einer gewissen Beziehung. Und wenn auch wie­derum heutige Psychologen die unglaublichsten Kindereien sagen, müssen wir dennoch an dieser Erkenntnis festhalten, daß in der Tat der Mensch zu einem Bewußtsein seiner Ichheit erst nach Verlauf dieser Zeit kommt. Es gibt heute schon sogar Psychologien, in denen man lesen kann, der Mensch lernte zuerst denken und dann sprechen. Nun, solches Blech, wie es heute geschrieben wird in populären psychologi­schen Schriften, ist nur möglich in einem Zeitalter, in dem diejenigen Menschen, die heute an den offiziellen Stellen Psychologie treiben, als ernsthafte Wissenschafter angesehen werden. Diese Tatsache gehört zu den wichtigsten, daß wir die Scheidung dieser ersten Lebensjahre von den späteren ins Auge fassen und sozusagen die ersten Lebensjahre hin­durch den Menschen als ein ganz anderes Wesen ansehen als später. Später erst tritt das Ich des Menschen, dasjenige, woran alles gebunden ist, auf. Aber kein Mensch sollte behaupten, daß dieses Ich vorher un­tätig war. Es war natürlich nicht untätig. Es wird nicht erst geboren im dritten Jahre; es war da, es hatte nur eine andere Aufgabe als in die Tätigkeit des Bewußtseins einzugreifen.

Was hatte es für eine Aufgabe? Es ist der wichtigste spirituelle Fak­tor bei der Bildung der drei Hüllen des Kindes, des Astralleibes, Äther-leibes und physischen Leibes. Die physische Hülle des Gehirns wird fortwährend umgebildet. Da haben wir fortwährend das Ich an der Arbeit. Es kann nicht bewußt werden, weil es eine ganz andere Auf­gabe hat: es muß erst das Werkzeug des Bewußtseins formen. Dasselbe, was uns später bewußt wird, arbeitet erst an unserem physischen Gehirn in den ersten Lebensjahren. Es ist sozusagen nur eine Änderung der Aufgabe des Ich. Erst arbeitet es an uns, dann in uns. Es ist wirklich ein Plastiker zuerst, dieses Ich, und es ist unsagbar, was dieses Ich an der Formung selbst dieses physischen Gehirns leistet. Ein gewaltiger Künstler

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ist dieses Ich. Aber wer gibt ihm die Kraft? Diese Kraft hat es aus dem Grunde, weil in das Ich in den ersten drei Lebensjahren die Kräfte der nächsthöheren Hierarchie, der Engel einströmen. In der Tat arbei­tet - das ist kein Bild, das ist kein Gleichnis, sondern tatsächlich eine Wahrheit - im Menschen durch das Ich des Menschen Engel, das heißt eine Wesenheit der nächsthöheren Hierarchie. Diese Wesenheit arbeitet in dem Ich und durch das Ich an dem Menschen, ihn plastisch aus­gestaltend. Es ist, wie wenn der Mensch den ganzen Strom des spirituel­len Lebens hätte, als ob er zu den höheren Hierarchien hinaufflösse und da die Kräfte der höheren Hierarchien auf ihn hereinströmten. Und in dem Augenblick, wo er lernt Ich zu sagen, ist es so, als ob etwas von der Kraft abgetrennt würde, wie wenn er dazu berufen würde, etwas zu tun von dem, was der Engel vorher tat.

Damit aber haben wir in den ersten Lebensjahren tatsächlich etwas gegeben, was uns wie ein letzter Nachklang dessen erscheint, was durch das ganze menschliche Leben auch noch in einem gewissen Grade da war in der ersten nachatlantischen Zeit. So wie der Mensch ungefähr in den ersten Lebensjahren ist, so war der Mensch fast sein ganzes Leben hindurch, mindestens die erste Hälfte seines Lebens, unmittelbar nach der großen atlantischen Katastrophe. Das können wir uns deut­lich an der ersten indischen Kultur vergegenwärtigen. Die kindlichsten Menschen in der ersten indischen Kultur waren die großen Lehrer des indischen Volkes, die heiligen Rishis. Ich habe öfter auf sie aufmerksam gemacht. Wenn man sie sich vorstellen würde nach dem Muster eines heutigen Gelehrten, würde man sehr fehl gehen. Wenn ein heutiger Mensch sie treffen würde, würde er sie überhaupt nicht für erhebliche Menschen betrachten. Sie würden ihm einfach kindlich naive Bauern sein. Es gibt vielleicht heute solche Kindlichkeit gar nicht mehr, wie sie bei den Rishis vorhanden war. Dann aber, wenn sie ihre Zeiten hatten, sprach durch sie das, was als Strom der Inspiration hereinströmte, dann sagten sie Dinge, welche die Geheimnisse der höheren Welten waren, weil sie ihr ganzes Leben hindurch eigentlich niemals das Wort Ich im Sinne der heutigen Menschen über ihre Lippen brachten. Sie haben nie Ich gesagt. Sie unterschieden sich also von dem Kind da­durch, daß das Kind das primitive Vorstellen hat. Aber in dieselbe

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Form des Seelenlebens flossen herein die höchsten Weisheitsschätze, wie wenn heute ein Kind in den ersten drei Jahren die größte Weisheit sagen würde. Die sagt es im Grunde nicht - aber vielleicht doch nur für einen Teil der Menschen nicht. Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, daß ich öfter den Satz ausgesprochen habe: Der Weiseste kann viel­leicht am meisten von dem Kinde lernen. - Und wenn tatsächlich der­jenige, der selber in die geistigen Welten hineinschauen kann, das Kind vor sich hat mit dem Strom, der in die geistige Welt hinaufgeht, dann ist das so - verzeihen Sie den trivialen Ausdruck -, dann hat derjenige, der in die geistigen Welten hineinzusehen vermag, in dem Kinde etwas wie einen Telephonanschluß in die geistigen Welten. Durch das Kind spricht die geistige Welt. Die Menschen wissen es nur nicht. Der Wei­seste kann am meisten von dem Kinde lernen. Das Kind spricht nicht, sondern der Engel aus dem Kinde.

Nun ist die Frage diese: Wie verhält sich zum späteren Leben die ganze Konstitution des Menschen dann, wenn sein Ich nicht bloß das vierte Glied ist, sondern zugleich das unterste Glied eines Engels ist? Wir könnten geradezu die Glieder des Engels für diese Zeit anführen, das Kindes-Ich als das unterste Glied des Engels aufzählen. Die Be­ziehungen sind ganz anders als später zwischen den Wesensgliedern. Es fragt sich also, wie verwandelt sich das später beim Menschen? Was geht da später vor? - Es wird so etwas wie die lebendige Strömung ab­geschnürt, der Mensch verliert den lebendigen Zusammenhang mit der geistigen Welt. Daher sind auch in diesen ersten Lebensjahren am Men­schen am intensivsten bemerkbar diejenigen Kräfte, die er aus seinen früheren Inkarnationen mitbringt. Da arbeitet am intensivsten der Wesenskern der geistigen Teile, so die Körperlichkeit herauszugestal­ten, daß sie geeignet ist für die Inkarnation. Wie verhält sich das spätere normale Bewußtsein dazu? So, daß der Mensch heute eben nicht mehr jenen Leib hat, jenen Ätherleib und seine Beziehungen zum phy­sischen Leib, wie sie bei den heiligen Rishis vorhanden waren. Da blieb das ganze Leben hindurch jenes Vererbungsverhältnis für den Äther-leib und Astralleib, welches möglich machte, daß dieses Ich plastisch arbeiten konnte an der äußeren Hülle des Menschen. Heute erben wir schon mit der Geburt einen so dichten und anspruchsvollen physischen

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Leib, daß nur ein geringer Teil der Arbeit von dem Ich geleistet werden kann, der früher geleistet worden ist. Unser physischer Leib ist nicht mehr geeignet für das, was wir in den ersten drei Jahren sind. Wir erben jenen physischen Leib, den wir für die späteren Lebensjahre brauchen, und der ist nicht geeignet, das Auge hinaufzurichten in die geistigen Welten. Das Kind weiß nicht, was herunterströmt, und die Umstehenden erst recht nicht, denn es hat sich der physische Leib ge­ändert, er ist dichter, trockener geworden. Wir werden geboren mit einer Seele, die noch in den ersten drei Jahren in die geistigen Welten hinaufragt, aber wir werden mit einem Leib geboren, der dazu berufen ist, das Bewußtsein, in dem das Ich lebt, unser ganzes übriges Leben hindurch zu entwickeln. Hätten wir nicht diesen dichten physischen Leib, so würden wir allerdings kindlich bleiben vermöge des heutigen Menschheitszyklus. Aber weil wir ihn haben, kann das Zusammen­leben mit der spirituellen Welt während der drei ersten Jahre nicht zum vollen Bewußtsein kommen.

Was muß jetzt eintreten im Laufe der Menschheitsentwickelung? Was ist das einzig Gesunde? Wir können am leichtesten dieses Gesunde aussprechen, wenn wir die beiden Begriffe der alten Zeit gebrauchen für diese zwei Menschen, die in uns leben. Der eine Mensch ist der geistig-seelische in den ersten drei Kindheitsjahren, der nicht mehr recht zum äußeren Menschen paßt, aber kein Ich-Bewußtsein ent­wickeln kann. Diesen Menschen nannte man in alten Zeiten den Gottes-sohn. Und den, der heute seinen physischen Leib so hat, daß das Ich-Bewußtsein darin leben kann, nannte man den Menschensohn. So daß der Gottessohn im Menschensohn lebt. Heute ist es so, daß der Gottes-sohn sich nicht mehr bewußt werden kann im Menschensohn, sondern erst abgeschnürt werden soll, wenn das heutige Ich-Bewußtsein auf­treten soll. Aber des Menschen Aufgabe ist es, den Menschensohn, die äußeren Hüllen, durch bewußte Aufnahme der spirituellen Welt so umzugestalten, so zu überwinden, so sich über das zum Herrn zu machen, daß nach und nach der Menschensohn wiederum ganz durch­drungen wird vom Gottessohn. Wenn die Erde am Ende ihrer Ent­wickelung angelangt sein wird, muß der Mensch bewußt gemacht haben, was er unbewußt von der Kindheit herauf nicht mehr machen

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kann. Mit seinem göttlichen Teil muß er seinen Menschensohn ganz durchdrungen haben. Was muß den Menschen ganz durchdringen und durchgießen, was muß sich in alle Glieder des physischen, Äther- und Astralleibes hineingießen, damit der Mensch seinen ganzen Menschen-sohn mit dem ganzen Gottessohn durchdringt? Da muß - vom Ich durchdrungen, vollbewußt -, was in den drei ersten Lebensjahren lebt, den ganzen Menschen durchdringen, das muß sich ergießen.

Nehmen wir an, es sollte vor uns auftreten wie ein Muster dessen, was der Mensch werden soll, ein Wesen wie ein Ideal. Was muß sich bei diesem Wesen erfüllen? Dasjenige, was als Seele in diesem Wesen drinnen sitzt, kann man nicht brauchen, das kann die äußeren Hüllen nicht durchdringen. Ein gewöhnlicher Mensch der heutigen Entwicke­lung würde nicht das menschliche Erdenideal verwirklichen können, würde es nicht darstellen können. Wir müßten die Seele herausreißen, sozusagen ihn vor uns stehen haben wie er als Menschensohn die Seele herausreißt, und eine solche Seele in diesen Menschen hineinsenken, die wie die Seele in den drei ersten Lebensjahren ist, nur von vollem Ich-Bewußtsein durchdrungen. Auf keine andere Weise könnten wir ein Ideal der Erdenentwickelung vor uns hinstellen als einen Menschen, dem wir ausreißen seine Seele und dem wir eine Seele einpflanzen wie in den drei ersten Jahren, und diese kindliche Seele müßte das volle Ich-Bewußtsein haben. Die müßten wir einpflanzen. Und wie lange würde dann in einem physischen Menschenleben es eine solche Seele aushalten können? Der physische Leib kann nur drei Jahre hindurch eine solche Seele tragen, dann muß er eine solche Seele unterjochen. Also bei einem solchen Menschen muß der physische Leib nach drei Jahren zerbrechen. Es müßte das ganze Karma der Erde so eingerichtet sein, daß der physische Leib nach drei Jahren zerbricht. Denn beim Menschen, wie er heute ist, ist es so, daß das, was in drei Jahren lebt, unterjocht wird. Bleibt es aber, so müßte es umgekehrt den physischen Leib unterjochen und zersprengen. Also ein Ideal dessen, was die Menschen-Erdenmission ist, würde sich nur erfüllen, wenn in einem Menschen physischer Leib, Ätherleib und Astralleib für sich blieben, die gewöhnliche Seelenhaftigkeit herausgerissen würde, die Seelen­haftigkeit der drei ersten Jahre mit vollem Ich-Bewußtsein hineingesenkt

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würde. Dann würde die Seele den Menschenleib zersprengen, aber während dieser Jahre würde es darleben ein volles Musterbild dessen, was der Mensch erreichen kann.

Dieses Ideal ist das Christus-Ideal, und was in der Jordan-Taufe geschehen ist, ist die Realität dessen, was geschildert worden ist. Es wurde tatsächlich dieses vor die Erdenmenschheit hingestellt, was wir als das menschliche Ideal begreifen müssen. Es kann gar nicht anders sein. Was wir da einsehen, ist geschehen. Es ist geschehen, daß durch die Jordan-Taufe die Seele, an die wir gebannt werden während unserer drei ersten Kindheitsjahre, aber nun voll durchdrungen vom mensch­lichen Ich, in vollem Zusammenhang mit der spirituellen Welt nach oben, in einen menschlichen Leib, aus dem die frühere Seele heraus-ging, hineinversetzt worden ist, und daß nach drei Jahren diese Seele aus den spirituellen Welten die Leiber zersprengt hat. So haben wir in den drei ersten Lebensjahren ein schwaches Abbild dessen vor uns, gleichsam ein ganz entblößtes Abbild dessen, was als Christus-Wesen­heit drei Jahre lang im Leib des Jesus auf der Erde gelebt hat. Und wenn wir eine solche Menschenwesenheit in uns selber auszubilden versuchen, die wie die Kindheitsseele ist, aber voll durchdrungen von allem Inhalt der spirituellen Welt, dann haben wir eine Vorstellung jener Ichheit, jener Christusheit, von der Paulus spricht, als er die For­derung an die Menschen stellt: Nicht ich, sondern der Christus in mir -: die mit der vollen Ichheit erfüllte kindliche Seele. Dadurch wird der Mensch so, daß er seinen Menschensohn durchdringen kann mit seinem Gottessohn und imstande sein wird, sein Erdenideal zu erfüllen, zu überwinden alle äußere Wesenheit und den Zusammen­hang wieder zu finden mit der spirituellen Welt.

Wie müssen wir aber werden? Jeder Ausspruch hat einen mehr­fachen Sinn in den religiösen Urkunden. Wir müssen werden wie die Kinder, wenn wir hineinschauen wollen in die Reiche der Himmel, aber mit der vollen Reife des Ich. Das steht uns in Aussicht bis zur Zeit, wo die Erde ihre Mission erfüllt haben wird. Es ist etwas, was uns sehr, sehr eigentümlich berühren kann, wenn wir sozusagen auf der einen Seite darauf blicken, wie im Grunde unser physischer Leib einem Ver­trocknungsprozeß entgegengeht, und sich der Spiritualisierungsprozeß

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hineinsetzt, indem er überwindet das, was der Vertrocknung entgegen-geht gegen die Zukunft hin. Aus den spirituellen Welten heraus muß das Innere so stark werden, daß das widerstrebende Äußere sich in sei­nem Charakter anpaßt. Damit stehen wir als Menschen im Einklang mit unserer Erdenentwickelung. Es sagt uns die spirituelle Wissenschaft über unsere Erde, daß wir längst über den Punkt hinaus sind, wo das mineralische Reich, das den Boden bildet, vom Granit durch Gneis, Schiefer bis zu unserer Ackererde, seine frischen Aufbaukräfte hat, sondern daß das alles in einem fortwährenden Zerstörungsprozeß be­griffen ist. Wir gehen nicht auf einem Boden herum, der in Neubildung begriffen ist, sondern, weil die Erde über die Mitte ihrer Entwickelung hinausgelangt ist, auf einem Boden, der bereits sich auflöst, der bereits in Zerstörung begriffen ist. Wir stehen mit unserer Bildung ganz im Einklang mit unserer Planetenbildung. Wir haben einen physischen Leib in uns, der nach und nach vertrocknet und den wir überwinden, aber wir haben auch in dem Boden etwas, was im Zerfall begriffen ist, und wie sich Täler und Gebirge bilden, ist Zerfall der Erdenrinde.

Die spirituelle Wissenschaft sagt aus: Du gehst über eine zerfallende Erde. Wenn du über ein Gebirge steigst, mußt du dir bewußt sein, daß da etwas zerbrochen, geborsten ist und daß der Bruch nicht ein Fort­bildungsprozeß ist. Über der Mitte der Erdenentwickelung sind wir seit Mitte der atlantischen Zeit hinweg. Seither sind wir auf einer zer­störten Erde, die einst als Leichnam von uns fallen wird. - Es ist eines der schönsten Beispiele, wie diese spirituelle Erkenntnis im vollen Ein­klang steht mit der wirklichen Wissenschaft der Gegenwart. Denn Anthroposophen sollten unterscheiden lernen zwischen dem, was wirk­liche Wissenschaft ist, und alledem, was sich heute durch unzählige populäre Kanäle als Wissenschaft gebärdet, aber nichts ist als eine Summe von Vorurteilen und dergleichen mehr. Wenn man zu den wirklichen Quellen der einzelnen Wissenschaften geht, erlangt man die Einsicht, daß spirituelle Erkenntnis in vollem Einklang mit der Wissen­schaft steht. Hier ist eines der schönsten Beispiele. Denn es gibt keinen gründlicheren Geologen als Eduard Sueß, und es ist gewiß richtig, was ein anderer Geologe sagt, daß das Werk von Sueß «Das Antlitz der Erde», die geologische Epopöe der Erde ist. Es wurde allerdings ganz

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besonders sorgfältig durchgearbeitet. Dieses Werk ist dasjenige, in dem man als in einem monumentalen Werk das finden kann, was man heute, mit aller Vorsicht und ohne durch Theorien sich voreinnehmen zu lassen, auf Grundlage der geologischen Tatsachen behaupten kann. Sueß untersucht nicht etwa, wie es selbst noch Buch oder Humboldt getan haben, nach vorgefaßten Ideen, sondern einfach, was Tatsache ist. Und da ist ja eines interessant, was Sueß über die eigentliche Bil­dung des Erdbodens zu sagen weiß, aus sorgfältigen Tatsachen heraus. Für ihn ist tatsächlich in der Bildung des Erdbodens genau das, was für die spirituelle Wissenschaft der heutige Erdboden ist, nur daß er nichts weiß von der spirituellen Wissenschaft, sondern aus den reinen phy­sischen Tatsachen seine Schlüsse zieht. Für ihn sind Täler dadurch ent­standen, daß gewisse Kräfte so gewirkt haben, daß Fels- und Gesteins-material abstürzte und dadurch Vertiefung entstand, während eine Erhöhung blieb und so weiter. Das alles ist durch Zusammensturz, Überwerfung und Überfaltung gebildet, in dem nur noch die zerstören­den Kräfte wirken. Eine Stelle darf ich Ihnen vorführen aus seinem großen Werk. So werden Sie sehen, wie das hier, wo wir es mit wirk­licher Wissenschaft zu tun haben, im Einklang steht mit dem, was spirituelle Erkenntnis ist. Er sagt an einer Stelle seines Werkes: «Der Zusammenbruch des Erdballes ist es, dem wir beiwohnen. Er hat frei­lich schon vor sehr langer Zeit begonnen, und die Kurzlebigkeit des menschlichen Geschlechtes läßt uns dabei guten Mutes bleiben. Nicht nur im Hochgebirge sind die Spuren vorhanden. Es sind große Schollen hunderte, ja in einzelnen Fällen viele tausende von Fuß tief gesunken, und nicht die geringste Stufe an der Oberfläche, sondern nur die Ver­schiedenheit der Felsarten oder tiefer Bergbau verraten das Dasein des Bruches. Die Zeit hat alles geebnet. In Böhmen, in der Pfalz, in Belgien, in Pennsylvanien, an zahlreichen Orten zieht der Pflug ruhig seine Furchen über die gewaltigsten Brüche.»

Das ist nur gesagt hier, um Ihnen zu zeigen, wie unser Erdenplanet erst im Sinne spiritueller Weisheit diesen Verdorrungs- und Vertrock­nungs- und Zerstörungsprozeß zeigt gleich dem physischen Leibe. Die Menschen, die heute Weltanschauungen aufstellen, gehen nicht zu wirklicher Wissenschaft. Denn es gehört viel dazu, das Riesenwerk von

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Eduard Sueß auch nur durchzustudieren. Aber das würde nichts helfen, wenn man nicht bekannt wäre mit der ganzen geologischen Wissen­schaft der Gegenwart, insofern sie lehrt, ein solches Werk zu lesen. Wo der Mensch an die wirklichen Wissensquellen herangeht, da findet er überall die absoluten Tatsachen.

Hier aber gibt es eine spirituelle Wissenschaft, sie sagt uns: Die Sachen sind so - zum Beispiel über den Fortgang unserer Erdenentwik­kelung -, daß die Erde einst, ehe Organismen waren, sich nicht in jenem phantastischen Zustand befand, wo der Granit feuerflüssig war, sondern wo die ganze Erde durchzogen war von ähnlicher Tätigkeit wie zum Beispiel beim Menschen, wenn er denkt. Dieser Zersetzungs­prozeß wurde einst eingeleitet, und dadurch kam das zustande, daß man sagen kann: Von dem Erdenorganismus fielen wie ein Regen her­aus die chemischen Stoffe, die heute der Organismus nicht mehr ent­hält, also zum Beispiel die Stoffe, aus denen der Granit besteht. Das sickerte herunter, und im wesentlichen waren es diese Zerstörungs­prozesse, die im Verein mit dem Chemismus der Erde jene Möglichkeit hervorriefen, daß der Granit entstand als fester Mutterboden der Erde. - Aber damals wurde schon ein Zersetzungsprozeß eingeleitet, und was heute ist, muß die Folge sein. Unsere mineralischen Prozesse sind Folgen jenes Zersetzungsprozesses, der in gerader Linie fortgeht. Was muß uns die wirkliche Naturwissenschaft zeigen? Daß wirklich jene Prozesse vorhanden sind, die da sein müssen. Überall zeigt sich uns das in der wirklichen Naturwissenschaft. Nirgends widerspricht wirkliche Naturwissenschaft dem, was Geisteswissenschaft fordert, überall ist es nur Bestätigung.

Solche Bestätigung wird der Mensch auch finden in bezug auf Re­inkarnation und Karma. Nur muß die Menschheit einmal hinaus­kommen über all die Theorien, Vorurteile und dergleichen. Die Tat­sachen sind überall zu brauchen, wo sie Tatsachen sind, nicht konfuse Hypothesen wie die Annahme, daß einmal existiert hat, was die geo­logischen Theoretiker als den Zustand der Erde zur Granitzeit denken, ganz abgesehen von den philosophischen Theorien der Gegenwart, in denen wir etwas vor uns haben, was von aller Geistigkeit ziemlich ver­lassen ist. Wir dürfen uns nicht imponieren lassen von solcher Rederei

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wie zum Beispiel, wenn jemand kommt und sagt: Die menschliche Ein­zelentwickelung, die wir begründen auf Reinkarnation und Karma, stammt aus den Unendlichkeiten der geistigen Entwickelung. - Es ist möglich, daß heute ein Mensch weltberühmt werden kann und sagen kann, die menschliche Einzelentwickelung stammt aus der Unendlich­keit der geistigen Entwickelung -, was nichts ist als ausgewalztes Blech, wenn es auch als offizielle Philosophie verkündet wird und an den Namen Wundt gebunden ist. Hier stehen wir in der Tat an der Grenz­scheide zweier Geisteswelten, und dessen müssen wir uns bewußt sein. Das eine ist die tatsächliche, überall die Geisteswissenschaft nur be­stätigende Naturwissenschaft, insofern sie auf Tatsachen fußt. Das andere sind die verschiedenen philosophischen Theorien, Hypothesen und allerlei «geistvolles» Zeug über das, was zugrunde liegen soll den äußeren Vorgängen. Davon soll sich wirklich Geisteswissenschaft streng scheiden. Dann werden wir schon auch sehen, wie es inimer mehr möglich wird zu begreifen, daß dasjenige, was wir uns durch spirituelle Erkenntnis aneignen - diese Zusammensetzung des Menschen und die Beziehungen der Glieder zu den verschiedenen Epochen der Menschheitsentwickelung, auch der einzelnen Menschenentwickelung -uns tief hineinweist in die Geheimnisse der Welt, und daß in so etwas wie einer richtigen Betrachtung der drei ersten Kindheitsjahre, die erste Stufe gegeben ist, um das Mysterium von Golgatha in seiner Wahrheit zu erkennen und ein solches Schriftwort wirklich zu verstehen, wie das ist: So ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnet ihr nicht hinein­kommen in die Reiche der Himmel!

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WEISHEIT, FRÖMMIGKEIT UND LEBENSSICHERHEIT Basel, 23. Februar 1911

Die Geisteswissenschaft gibt Lebenssicherheit und Kraft, wenn sie rich­tig erkannt wird. Wie kann sie sich fördernd ins Leben hineinstellen? Viele Menschen glauben, daß es für ein wirklich gutes menschliches Leben eher störend als fördernd sei, auf diesem Gebiete etwas zu lernen und geistige Erkenntnisse zu sammeln. Wozu braucht man denn eigent­lich so viel Wissenschaft des Geistes, wozu braucht man so vielerlei über die Entwickelung der Erde und eines ganzen Planetensystems zu lernen? Wenn man einfach versucht, sein höheres Selbst in sich zu suchen und dadurch ein guter Mensch zu werden, so ist man im Grunde genommen auch der beste Theosoph. - Anderen, mehr theoretisch an­geregten Geistern, gefällt es zu hören, woraus der Mensch besteht, ihren Intellekt daran zu üben, wie die Menschheit sich durch die verschie­denen Kulturperioden entwickelt hat, regelmäßige Zahlenperioden zu wissen, und sie möchten sobald als möglich solche Dinge lernen, am liebsten recht kurz die wichtigsten Lehren aufschreiben und in einer Art von Katechismus verbreiten können.

Diese beiden Ansichten entsprechen keineswegs dem, was die Gei­steswissenschaft dem Menschen sein kann, und was sie demjenigen wird, der sich gerade durch die Geisteswissenschaft in richtiger Weise ins Leben hineinzustellen vermag. Zunächst ist es gewiß wahr, daß wir aus physischem, Äther-, Astralleib und Ich bestehen. Wenn man aber glaubt, daß damit etwas getan ist, wenn man dies aufzählen kann, so irrt man sich. Man weiß nichts als ein Schema. Erst dann weiß man etwas über den Menschen, wenn man ein solches Wissen auf das Leben anwenden kann. Das kann man aber nicht, wenn man sich nicht klar darüber ist, daß es nicht bloß darauf ankommt, die Namen dieser vier Glieder zu kennen, sondern zu wissen, wie diese vier Glieder im Men­schen verbunden sind. Ob in einem Menschen der Ätherleib mehr mit dem physischen Leib zusammenhängt oder weniger, ob Ätherleib und Astralleib zueinander hinstreben und enge Verbindung miteinander suchen, oder ob sie mehr lose zusammenhängen, darauf kommt es an.

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Wenn wir unser Augenmerk darauf richten, so zeigt sich, daß sich im Lauf der Menschheitsentwickelung auf der Erde dieses Verhältnis der Glieder zueinander ändert. Es war in der Vergangenheit anders und wird in der Zukunft anders werden, als es heute ist. Wenn wir auf den alten Ä gypter schauen in sehr frühen Jahrtausenden der ägyptischen Kultur, also auf uns selbst in früheren Inkarnationen, so finden wir in diesem alten Ägypter einen Menschen, bei dem der Zusammenhang zwischen physischem, Äther- und Astralleib ein lockerer ist. Schauen wir auf den heutigen Menschen, so finden wir einen viel innigeren, dichteren Zusammenhang. Und in der Zukunft ist es so, daß dieser Zusammenhang immer dichter und dichter wird. Damit bekommt der Durchgang durch die verschiedenen Kulturperioden für uns erst einen Sinn. Wenn wir davon sprechen, daß sich der Mensch so und so oft verkörpert, kann man auch fragen: Warum verkörpert er sich denn wieder? - Wir treffen in der Tat dadurch, daß der Zusammenhang der Hüllenglieder immer anders wird, immer wieder eine andere Art von äußerem Menschen an. Als Chaldäer hatten wir tatsächlich ein ganz anderes Leibesgefüge als heute, und in der Zukunft werden wir wieder andere haben. So machen wir andere Erfahrungen, weil wir andere Menschenhüllen haben.

Nun handelt es sich darum, daß wir in richtiger Art uns Vorstellun­gen darüber bilden, wie dieser innere menschliche Wesenskern, der von Verkörperung zu Verkörperung geht, sich eigentlich verhält zu dem, worin wir uns einkleiden, zu dem Astralleib, dem Ätherleib und dem physischen Leib. Die äußere Wissenschaft untersucht im Grunde ge­nommen nur die äußere Hülle. Sie weiß nichts von den tieferen Ge­setzen, die da walten von Inkarnation zu Inkarnation. Aber auch die Gesetze der äußeren Hülle verkennt ihrer eigentlichen tieferen Bedeu­tung nach die äußere Wissenschaft. Davon können wir uns überzeugen, wenn wir solche Zusammenhänge betrachten, an welche die äußere Wissenschaft glaubt, und andere, an welche sie nicht glaubt. Da ist es recht interessant, zu bemerken, daß die Wissenschaft lange Zeit dazu neigte, dem Menschen freien Willen zuzuschreiben. Ich habe aber auch schon darauf hingewiesen, daß die neuere Wissenschaft diesen freien Willen vielfach leugnet. Sie beruft sich auf die äußere Forschung. Diese

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sagt uns: Seht hin einmal auf den Verlauf des äußeren Lebens. Man kann zum Beispiel durch die Statistik feststellen, wie viele Selbstmorde in einer bestimmten Gegend vorkommen. Eine gewisse Regelmäßigkeit der Selbstmorde kann man feststellen. Die statistischen Angaben er­geben, daß so etwas in einer gewissen Regelmäßigkeit verläuft. Es sind einfach so und so viele Menschen verurteilt, Selbstmord zu begehen. Wie könnte man da noch von freiem Willen reden? - Man könnte noch viel weiter gehen und könnte auf die Versicherungstechnik hinweisen. Diese geht darauf aus, zu berechnen und in Formeln zu fassen, wie viele von so und so viel Menschen nach dreißig Jahren noch leben. Also ist es zahlenmäßig bestimmt, wie viele Menschen von den heute geborenen nach dreißig Jahren noch vorhanden sind. Tod und Leben sind in strenge äußere Naturgesetze gebannt.

Das hat die äußere Wissenschaft anerkannt. Aber noch andere Dinge wird sie gezwungen werden anzuerkennen. Schon macht sich geltend, daß Tatsachen zutage gefördert werden, welche die Menschen zwingen werden, geisteswissenschaftlich zu denken. Die Wissenschaft ist im allgemeinen nicht geneigt, sehr rasch etwas Neues aufzunehmen. Sie befolgt da eine eigentümliche Gewohnheit. Man kann große Dekla­mationen darüber vernehmen, daß es im «finsteren Mittelalter» Men­schen gab, welche sich den Entdeckungen des Kopernikus entgegen-stemmten. Seine Lehre mußte sich mit aller Mühe gegen die Finsterlinge der damaligen Zeit durchsetzen. Und die am meisten davon reden, ver­halten sich geradeso nicht nur gegenüber der Geisteswissenschaft, son­dern auch gegenüber solchen Tatsachen der Wissenschaft, die unsere Zeit zwingen, geistige Gesetze zu suchen. Ein Berliner Arzt stellt zum Beispiel gewisse Zahlenverhältnisse im Ablauf des Lebens fest. Dieser Arzt, Wilhelm Fliej', beginnt Aufzeichnungen darüber zu machen, wie in einzelnen Familien die Geburten mit den Todesfällen zusammen­hängen. An einem bestimmten Tage stirbt in einer Familie beispiels­weise eine weibliche Persönlichkeit. 1428 Tage vorher wurde das erste Enkelkind dieser Person geboren, 1428 Tage nach dem Tode der zweite Enkel, so daß wir also hier den Tod der Großmutter haben und sym­metrisch vor- und rückwärts wird je ein Enkelkind geboren. Damit noch nicht genug. In einem Zeitraum von 7 mal 1428 Tagen nach dem

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Tode dieser Person wird ein Urenkel geboren. So daß man, wenn man diese Sache verfolgt, immer auf ganz bestimmte Zahlenverhältnisse kommt; auf Zahlenverhältnisse, welche zuletzt in ganz wunderbarer Weise den Zusammenhang der Todes- und Geburtsfälle feststellen. Fließ hat dies in zahlreichen Fällen herausgefunden.

Aber die Wissenschaft will es heute scheinbar noch nicht anerken­nen, es geht heute noch zu sehr gegen ihre Richtung. Selbst die Besserung der Gesundheitsverhältnisse unterliegt dem Zahlenverhältnis. Die Zahl der Todesfälle durch Tuberkulose in einem bestimmten Zeitraum, ver­glichen mit der Zahl der Todesfälle von Jahrzehnten vorher, findet man geregelt durch bestimmte Zahlen. Die Ärzte sagen, sie hätten die Zahl der Fälle durch hygienische Maßnahmen eingeschränkt. Fließ wies aber nach, daß dies sich nach arithmetischen Verhältnissen be­rechnen lasse. Das ist der heutigen Wissenschaft zwar sehr unbequem, aber sie wird schon gezwungen werden, das Walten einer objektiven Arithmetik anzuerkennen. Sie wird wiederum auf den alten Satz des Pythagoras zurückkommen: Die Zahl ist etwas, was alles beherrscht, was webt und lebt. - Während wir in unserer Seele rechnen, haben längst die höheren Geister gerechnet, um in den Ablauf des Lebens hineinzuversetzen, was den Zahlen entspricht. Der Pythagoräische Satz: Gott treibt Mathematik, indem er das Leben ablaufen läßt -, scheint wieder zur Geltung zu kommen. Aber dadurch würde auf der anderen Seite jene Gesinnung der äußeren Wissenschaft wiederum be­stärkt, welche das Innere des Menschen ohne Anteil an seinen Lebens-schicksalen sein läßt. Wenn es arithmetisch feststeht, wann wir sterben müssen, wenn Geburt und Todesfälle so zusammenhängen, daß sie 7 mal 1428 Tage voneinander entfernt sind, so scheint unser Inneres eingespannt zu sein in äußere gewaltsame Verhältnisse.

Wir müssen scheinbar darauf verzichten, von besonderen Gesetzen, die unser Inneres beherrschen, zu sprechen. Aber man kann schon äußere Gründe anführen, welche uns zeigen, daß die Geschichte doch nicht ganz stimmt. Wenn noch so genau berechnet wird, daß an einem Orte so und so viele Selbstmorde begangen oder so und so viele Dieb­stähle verübt werden, beweist das denn, daß der Mensch einen Dieb­stahl begehen muß? Nach den Formeln der Wahrscheinlichkeit kann

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man berechnen, wie lange die wahrscheinliche Lebensdauer der Men­schen ist. Aber ich glaube nicht, daß irgendein Mensch zugeben wird, daß er an dem Tag, den die Arithmetik ausgerechnet hat, durchaus sterben muß. Für die innere Wesenheit folgt gar nichts durch diese Gesetzmäßigkeit der mathematischen Formeln.

Wie steht es nun damit, wenn Fließ nachweist, daß 1428 Tage zwi­schen Todesfall und zwei Geburten verfließen? Beweist das etwas für die innere Gesetzmäßigkeit unserer Ichheit? Es ist nämlich nicht so ohne weiteres einzusehen, wie das Verhältnis dieses inneren Wesens-kernes ist zu dem äußeren Laufe des Lebens. Wie stimmt das dazu, daß wir unserem Karma folgen, daß wir unserer inneren Ichheit zu folgen haben? Das ist nicht ganz leicht einzusehen. Durch ein Bild soll es ver­ständl ich gemacht werden. Es ist wohl möglich, daß zwei Geschehnisse, zwei Strömungen, zwei Tatsachen, die sehr wohl zueinander in Bezie­hung stehen, unabhängig voneinander fortlaufen. Bedenken Sie das eine: Wenn Sie von hier nach Zürich kommen wollen, fahren Sie im Eisenbahnzug. Wann der Zug geht, das ersehen Sie aber zunächst aus dem Fahrplan, der auch eine Menge von Zahlen enthält. Sie sind also gewissermaßen innig verknüpft mit den Zahlen. Sie fühlen sich ab­hängig in dem, was Sie denken, bestreben, innerlich erleben, von den Zahlen des Fahrplans. Geht aber nicht neben dieser Tatsachenreihe, daß Sie den Fahrplan studieren können, die andere mit Ihrer Seelen-entwickelung zusammenhängende her, daß Sie einsteigen wollen in die Eisenbahn? Indem man den Fahrplan studiert, wird niemals aus den Zahlen zu entnehmen sein, ob Sie gut oder böse, weise oder töricht sind. Ebenso wie es unwesentlich für das Innere unserer Seele ist, wel­cher Fahrplan besteht, ebenso wesentlich ist es für das Karma unseres Lebens, welche Zahlen sich ergeben nach den von Fließ angestellten Berechnungen. Wir steigen ein in den Strom des Lebens, der von Ge­setzen geregelt ist, welche mit unserer inneren Gesetzmäßigkeit nichts anderes zu tun haben als dasjenige, was wir selbst herbeiführen. Wir müssen uns entschließen, in den Zug einzusteigen. Ebenso wahr ist es, daß wir durch die inneren Gesetze des Karma bestimmen müssen, in einen Strom des Lebens einzusteigen, der dann durch die Gesetze der Arithmetik geregelt ist.

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Aus welchem Grunde werden all diese Dinge gesagt? - Weil der Geistsuchende sich immer mehr ein Gefühl dafür aneignen soll, daß das Leben kompliziert ist, daß das Leben etwas ist, was man nicht mit den allerbequemsten Gedanken sollte glauben umspannen zu können. Diejenigen haben sehr unrecht, welche finden, daß man das ganze Leben leicht verstehen kann, wenn man ein paar Sätze aus der Geistes­wissenschaft weiß. Man muß den Willen haben, immer tiefer in diese Zusammenhänge einzudringen. Man muß ein Gefühl davon bekom­men, daß die Gedanken, nach denen die Welt gegliedert ist, auch für den Menschen Geltung haben. Wenn nun gar kein Zusammenhang wäre zwischen den äußeren Gesetzen und dem menschlichen Karma, so würde das ganze Leben auseinanderfallen.

An zwei Tatsachen soll das erwiesen werden. Man bemüht sich in der Geisteswissenschaft, möglichst gute Gleichnisse zu bringen. In ge­wisser Weise hängen doch die Zahlen des Fahrplans mit dem prak­tischen Leben zusammen. Wenn es auch gar nichts mit dem Fahrplan zu tun hat, ob wir überhaupt nach Zürich fahren oder nicht, wenn wir auch gar nichts ersehen von einem Zusammenhang - mit den mensch­lichen Verhältnissen hängt der Fahrplan doch zusammen. Die Men­schen haben ihn so zusammengestellt, daß er nicht allzu ungeschickt den Lebensverhältnissen entspricht. Also ursprünglich ist der Fahrplan dennoch den menschlichen Lebensverhältnissen allgemein angepaßt worden. Etwas ähnliches ist der Fall für unser Karma und den Strom unseres Lebens, der dadurch geregelt ist. Da haben auch die Wesen­heiten der höheren Hierarchien den «Fahrplan» bestimmt nach den Zahlenverhältnissen, welche die Statistik findet, wenn sie mit regel­mäßigen Zahlen aufrückt, so daß diese äußerlich den allgemeinen menschlichen Verhältnissen entsprechen. Der eine findet, wenn er wie­der verkörpert ist, einen bequemen, der andere einen unbequemen Ablauf des Lebens. Es findet nicht in allen Familien dieses Gesetz so statt, daß immer ein Enkelkind 1428 Tage vor dem Tode der Groß­mutter geboren wird. Wenn wir aber bedenken, daß 1428 auch durch 28 teilbar ist - es ist 51 mal 28-, so verstehen wir das Zahlenverhältnis etwas besser. Man wird nicht immer bei diesen Berechnungen die Zahl 1428 erhalten, aber es ergibt sich doch in der Regel zwischen dem Tod

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irgendeines Familienmitgliedes und einer Geburt ein Vielfaches von 28. Das Vielfache möge 13 oder 17 oder sonst wie heißen, die Zahl 28 aber ist darinnen, sie ist regelmäßig eingeordnet. So haben wir nach dem Fahrplan die Möglichkeit, in verschiedene Züge einzusteigen. Und so haben wir nach unserem Karma die Möglichkeit, unser Leben einzu­richten, bequem oder unbequem.

Ich sage das aber nicht nur, um anzudeuten, wie kompliziert diese außeren Verhältnisse sind, sondern ich möchte zugleich darauf hin­weisen, daß wir Menschen aus allen solchen Erkenntnissen eine mo­ralische Konsequenz ziehen können. Und das ist das, was die Geistes­wissenschaft uns als so unendlich Wichtiges gibt. Wir können sagen:

Ich stehe in dieser Welt, ich finde in dieser Welt die Zahlenverhält­nisse, welche zeigen, wie unser äußeres Leben geregelt ist. Lange Zeiten menschlicher Kulturentwickelung hat es bedurft, um dieses heraus­zufinden. Aber wieviel wissen wir eigentlich von dieser Regelmäßig­keit? - Und da müssen wir sagen: Unendlich wenig wissen wir. Lang­sam und allmählich haben wir einiges von der göttlichen Weisheit erkundet. Aber gerade wenn wir die schönsten und wichtigsten Dinge der Weisheit aufnehmen, mahnt sie uns zur Demut. Sie zeigt, wie wenig wir das Leben umspannen können mit den Gedanken, die wir haben. Diese Betrachtung ist dann ein Ansporn dafür, weiter zu streben nach dem Lichte.

Dieses moralische Gefühl, diese Ehrfurcht gegenüber der Welten-weisheit ist dasjenige, was wir erwerben können, und was uns zu bes­seren Menschen macht. Und dieses Gefühl der Weisheit gegenüber erwerben wir uns, das kommt über uns, wenn wir erkennen, daß diese Weisheit uns nahegestanden hat in unserem Zwischenleben zwischen Tod und neuer Geburt. Wenn die Notwendigkeit sich für uns ergibt, zu neuem irdischem Dasein herunterzusteigen, wählen wir, in welchen Zug wir einsteigen müssen, um unser Karma zu erfüllen. Da tritt die Entscheidung an uns heran, und wir entscheiden uns, ob dieses oder jenes Familienband, diese oder jene Eltern zu wählen sind. Aber keine Antwort fänden wir, wenn wir jetzt gefragt würden, welches die bessere Inkarnation für uns sei, ob in dieser oder in jener Familie. Also vor unserer Inkarnation sind wir gescheiter als in unserem physischen

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Dasein, denn damals, vor unserer Verkörperung, haben wir die richtige Wahl getroffen. Diesem Gefühl, daß wir nach der Inkarnation nicht gescheiter geworden sind als vorher, kann kein Stolz entspringen auf das, was wir errungen haben.

Warum sind wir denn so viel gescheiter vor der Geburt, wo wir richtig wählen können? Allein wären wir es nicht, sondern in unserem Leben zwischen Tod und neuer Geburt werden wir durchdrungen von anderen Kräften als in dem Augenblick, da wir ins physische Dasein eintreten. Beim Eintritt ins physische Dasein werden wir durchdrungen von den Stoffen der Erdenreiche, die um uns herum sind, von Sauer­stoff, Stickstoff und so weiter; die nehmen wir in uns auf, die sind dann in unseren Leibeshüllen. Wenn wir den Körper ablegen, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen und zwischen Tod und neuer Geburt leben, werden wir von den Wesenheiten der höheren Hierarchien auf­genommen. Wie wir hier in den verschiedenen Reichen leben, mit Tie­ren, Pflanzen, Mineralien, so leben wir dort mit den Archai, mit Erz-engeln und Engeln. In deren Wesen werden wir eingefügt, wie wir hier eingefügt sind in die physischen Stoffe. Wie diese Stoffe hier ihre Gesetze geltend machen, wie das Eisen im Blute pulsiert nach seinen Gesetzen, so sind die Wesenheiten der höheren Hierarchien zwischen Tod und neuer Geburt in uns tätig, und ihre Weisheit schiebt uns hinein in den richtigen Zug des Daseins. Die Wesenheiten der höheren Hier­archien haben die Weisheit in sich, wie wir die physischen Stoffe in uns haben. Und es ist durchaus gerechtfertigt, wenn Demut dasjenige ist, was als moralische Folge über uns kommt; wenn wir uns recht vor Augen führen, welch einen geringen Teil der erhabenen Weisheit dieser Wesen wir bis jetzt im physischen Leben in uns aufgenommen haben. Zwischen Tod und neuer Geburt werden wir in den Schoß dieser Wesenheiten der höheren Hierarchien hineingebettet, wir müssen uns ihnen hingeben. Dies nicht wollen, hieße dasselbe, wie wenn wir leben wollten, ohne die physischen Stoffe Wasserstoff, Sauerstoff und so weiter in uns aufzunehmen. Absurd wäre es, leben zu wollen ohne volle Hingabe an die Wesenheiten der höheren Hierarchien.

Wer das bedenkt, daß er jene Zeit zwischen Tod und neuer Geburt hingegeben sein muß an die Wesenheiten der höheren Hierarchien,

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wird sich fragen: Welches ist die beste Vorbereitung auf jene Zeit? -Und er wird sich die Antwort geben: Die beste Vorbereitung ist, jetzt schon, zwischen Geburt und Tod, dieses Gefühl der Hingabe an die göttlich-geistige Welt zu entfalten. - Verehrung und Hingabe wird dasjenige, was wir aufnehmen, wenn wir uns in rechter Weise mit den richtigen Gefühlen durchdringen. Demut und Hingabe an die geistige Welt wird alle unsere Empfindungen durchdringen.

Wenn der Mensch anfängt, so zu denken und zu leben, dann findet er auch das Gleichmaß gegenüber der ihn umgebenden Welt. Diese Gedanken regeln und harmonisieren auch seine übrigen Empfindungen. In die Theosophie werden viele Untugenden der äußeren Welt herein­getragen. Sie kommen nicht von der Theosophie her, sondern daher, daß die Menschen sie von draußen hereintragen. Denken wir uns ein­mal einen Menschen, der draußen in der Welt fleißig und emsig war, aber so, daß diejenigen, die in seiner Umgebung leben, sagen: Es ist Ehrgeiz, was ihn emsig sein läßt, er übernimmt sich, er ruiniert seine Kräfte, er achtet nicht darauf, daß dies Arbeiten eine Grenze haben muß. - Nunmehr kommt er an die Theosophie heran. Da begegnet er ganz anderen Ideen, als er sie vorher gehabt hat. Aber diese allgemeine Eigenschaft, die er draußen hatte, kann er auch in die Theosophie hin-eintragen. Da hört er etwa, daß ein gewisses Studium notwendig ist, um die Seele vorwärtszubringen. Nun, so studiert er, aber er studiert so wie ein Student, der seinen Kollegen den Rang ablaufen will. Er sollte lernen, Gleichmaß zu üben in seinen Kräften; er sollte beachten lernen, wieviel er nach den ihm karmisch zugeteilten Kräften leisten kann; er sollte nicht im Übermaß theosophische Studien treiben. So hat er vielleicht gehört, daß es für die spirituelle Entwickelung gut sein soll, kein Fleisch zu essen, und er fragt sich nicht: Ist es auch für meinen Körper gut? - Er enthält sich des Fleisches, um seine Entwickelung zu beschleunigen. Aber wir sollen durch die Theosophie lernen: Ich habe erst zu erforschen, ob mein Karma erlaubt, daß ich gleich die höchsten Regeln befolge. - Ruhige und demütige Beobachtung des eigenen Kar­mas, der eigenen Fähigkeiten und Kräfte eignen wir uns an, wenn wir uns in der richtigen Weise einlassen auf das, was die Geisteswissen­schaft uns geben kann. Gerade diejenigen, die okkult am meisten fortgeschritten

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sind, beobachten die geltende Regel des Gleichmaßes am genauesten. Manchmal geschieht jedoch das Gegenteil: Wenn die äußeren Verhältnisse einer richtigen Schulung widerstreben, so will man sich Zwang antun, man drängt zu dem gesteckten Ziele hin, man rackert sich im Geiste ab, um auf eine Frage, die auftaucht, sogleich eine Antwort zu erhalten. Der Fortgeschrittene tut dies nie. Er wird sich zunächst klarmachen: Diese Frage liegt vor. Dann prüft er sich:

Bist du jetzt in diesem Augenblick fähig, volle Antwort auf die Frage zu erlangen? Warte einmal - so sagt er sich -, ob die Wesenheiten aus der geistigen Welt dir diese Antwort zuteil werden lassen. - Wenn er erst zerren und schieben soll, verzichtet er vorläufig. Er weiß, er muß warten. Er kann warten, weil er von der Ewigkeitsdauer des Lebens durchdrungen ist, und weil er weiß, daß das Karma, das er nicht außer acht läßt, jedem gibt, was ihm werden soll. Dann kommt irgendein Zeitpunkt, da bekommt er einen inneren Wink, und die Mächte der geistigen Welt offenbaren ihm die Antwort. Vielleicht geschieht das nach Jahren, vielleicht erst nach mehreren Inkarnationen. Das charak­terisiert die richtige Gesinnung: Warten können, Geduld, Gleichmaß entwickeln, nichts übereilen.

Wer in richtiger Weise die Lehren der Geisteswissenschaft auf sich wirken läßt, wird durch diese Lehren seine Gefühle und Empfindungen so meistern können, daß sie ihn ein solches Gleichmaß, eine solche Har­monie beobachten lassen. Bei dieser Gesinnung durchdringen wir den Astralleib vom Ich aus so, daß dieser Astralleib die Wahrheiten aus der spirituellen Welt in sich aufnimmt, wenn ich einen trivialen Vergleich gebrauchen darf, wie ein Schwamm das Wasser aufnimmt, in das er eingetaucht ist. Die Geist-Erkenntnis geht allmählich in den Astralleib hinein, und der Astralleib wird von ihr durchdrungen. Wir leben heute in einem Zeitalter, wo es notwendig ist und wo es immer mehr not­wendig wird, daß wir den Astralleib mit spiritueller Weisheit durch­dringen. Immer mehr ändern sich die Zeiten dahingehend, daß der Astralleib des Menschen, der durch die Pforte des Todes schreitet und darnach wieder künftige Inkarnationen antritt, in Finsternis getaucht sein wird, so daß er sich nicht mehr auskennt in der geistigen Welt, falls er jetzt nicht von spiritueller Erkenntnis durchdrungen ist. Wenn er

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aber durchdrungen sein wird von der Geist-Erkenntnis, die wir jetzt aufnehmen, dann wird er zum Lichtquell werden, er wird die Um­gebung durchleuchten. Die Weisheit, die wir hier aufnehmen, wird zum Lichte in der spirituellen Welt.

Wenn wir uns nun fragen, warum die Theosophie erst heute ge­kommen ist, warum sie nicht schon früher da war, müssen wir sagen:

Sie ist deshalb nicht gekommen, weil es früher eine uralte Weisheit gab, die sich dem Menschen einprägte, ohne daß er etwas dazu zu tun brauchte. Sie fand sich wie eine Art von Erbgut, das die Menschen vom alten Monde her bekommen haben. Mit diesem Erbgut konnten sie in die geistige Welt eindringen. Es hielt an bis in die christlichen Zeiten. Dann aber konnte der Mensch nicht mehr länger unmittelbar auf­nehmen, was geistige Weisheit ist. Er muß erst die Seele mit der geistes-wissenschaftlichen Erkenntnis durchdringen, und diese wird dann die Macht sein, welche bewirkt, daß der Mensch in der Zukunft mit dem Licht seiner Seele in die geistige Welt eintreten wird. Die menschheit­lichen Verhältnisse ändern sich eben von Epoche zu Epoche.

Aller Okkultismus weiß, daß es eine Weisheit gibt, die vom alten Monde her kommt und in ihren Resten noch wirkte bis ins 15. und 16 Jahrhundert, so daß die Menschen, wenn sie in die geistige Welt kamen, das Licht erschauten, das ohne ihr Zutun leuchtete. Heute aber können wir von dieser alten Weisheit, die als altes Erbgut in der Menschheit überliefert war, soviel wir wollen mit der Seele aufnehmen - sie leuch­tet nicht mehr, nachdem die Menschen durch die Pforte des Todes ge­gangen sind. Nur die Weisheit, welche die Menschen aufnehmen durch Christus, indem sie sagen: Nicht ich, sondern der Christus in mir -, nur diese Weisheit wird ein leuchtendes Licht sein für den künftigen Durch­gang des Menschen durch die Pforte des Todes. So nehmen wir die durchchristete Geisteswissenschaft auf, um einen Lichtquell im Astral­leib zu haben, wenn wir durch die Pforte des Todes schreiten.

Wenn wir aber diese durchchristete Geist-Erkenntnis aufnehmen, wenn wir unseren Astralleib mit ihr durchdringen, dann bleibt sie nicht bloße Weisheit, dann durchdringt sie unsere Gefühle. Wir lernen, was auf dem alten Saturn, was auf der alten Sonne und dem alten Monde vor sich gegangen ist und was die Aufgabe der Erde ist. Wenn Sie sich

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hineinlesen in die Schilderungen, die in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» gegeben sind, werden Sie empfinden, daß die Schilderung beim Saturn einen ganz anderen Grundton aufweist als bei den anderen planetarischen Zuständen. Bei Schilderung des Saturnzustandes ist es so, daß Sie fühlen können, wie die Verhältnisse in einer gewissen Herbigkeit geschildert sind. Das können Sie in der Seele fühlen, und das ist notwendig. Das Sonnendasein können Sie empfinden, als ob blühendes, sprossendes Leben da wäre. Die Mondenschilderung kön­nen Sie empfinden, als ob ein gewisser melancholisch düsterer Zug die Menge der da gegebenen Begriffe durchzöge. Ein sensitiver Mensch kann das bis in den Geschmackssinn hinein wahrnehmen, bis auf die Zunge.

Toren werden sagen: Die Schilderungen sind ungleich, der Stil ist nicht festgehalten. Wir sollen aber wissen, daß dies notwendig ist, und aus welchem Grunde. Wir müssen wissen, warum eine Melodie von drei bestimmten Tönen notwendig ist, die jeweils erklingen müssen aus den Worten, und wenn wir es wissen, können wir es auch umwandeln in Gefühle und die Gefühle in die Welt hinaussenden. Die Gefühle, die wir so in uns entzünden, verwandeln sich. Das, was da als Weisheit in den Astralleib aufgenommen wird, verwandelt sich in ein freiwilliges Hingegebensein an die Weltverhältnisse, und das ergreift dann unseren Ätherleib. Wenn wir weise sind, bereiten wir den Weg vor. Die Kräfte, mit denen wir heruntersteigen in die nächsten Inkarnationen, formen und durchdringen den Ätherleib. Haben wir den Ätherleib so durch­drungen mit echter, rechter Frömmigkeit, und er wird dann aufgelöst im allgemeinen Weltenäther, so haben wir an das Weltenall einen Ätherleib abgegeben, der von Frömmigkeit durchdrungen ist und der ganzen Welt zugute kommt. Sind wir aber unfromm, materialistisch, dann legen wir einen Ätherleib ab, der zersprengend, zerstörend wirkt, wenn er aufgelöst werden soll im allgemeinen Weltenäther. In dem Maße, wie wir weise sind, dienen wir uns zwar unmittelbar selber, aber indirekt auch der Welt. In dem Maße, wie wir fromm sind, dienen wir der Welt unmittelbar, denn die Frömmigkeit wird der ganzen Welt mitgeteilt. Und Geisteswissenschaft kann nicht nur Weisheit und Frömmigkeit geben, sondern auch Sicherheit und Besinnung auf die

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Lebenskräfte des Leibes. Schon der bewußte Zusammenhang mit der spirituellen Welt gibt solche Lebenskräfte.

Ich habe schon öfter erwähnt, daß Fichte, der an der Pforte der Theosophie stand, etwas von diesen Zusammenhängen wußte. In ihm lebte eine solche Lebenssicherheit, daß er sagen konnte, als er über das Wesen des Menschen sprach: «Ich hebe mein Haupt kühn empor zu dem drohenden Felsengebirge und zu dem tobenden Wassersturz und zu den krachenden, in einem Feuermeer schwimmenden Wolken und sage: Ich bin ewig und trotze eurer Macht! Brecht alle herab auf mich, und du Erde und du Himmel vermischt euch im wilden Tumulte, und ihr Elemente alle schäumet und tobet und zerreibet im wilden Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein nenne - mein Wlle allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trüm­mern des Weltalls schweben. Denn ich habe meine Bestimmung er­griffen, und sie ist dauernder als ihr; sie ist ewig und ich bin ewig wie sie.» - Lebenssicherheit quillt aus dem Bewußtsein, daß der Mensch im Ewigen des Geistes wandelt. Kann ein Mensch schwach werden, der so im Ewigen des Geistes wurzelt? Geist-Erkenntnis ist es, die immer mehr von solcher Kraft in uns hineingießt.

Was erwächst uns aus dieser Kraft? Weisheit gibt dem Astralleib das, wodurch wir immer mehr über die hemmenden Kräfte hinweg­kommen. Frömmigkeit regelt die Kräfte und die richtige Gliederung des Ätherleibes. Was aber so in unseren Leib hineinströmt dadurch, daß wir von unserem Zusammenhang mit dem Ewigen wissen, das ist Lebenssicherheit, und sie teilt sich bis in die Kräfte des physischen Leibes uns selber mit. Wenn wir diese besitzen, dann weichen von uns Maja, Illusion und Täuschung. Illusion ist es, wenn jemand sagt: Unser physischer Leib zerfällt bei unserem Tode nur in Erdenstaub. - Nein. Wie der physische Leib einmal zusammengefügt war, wie der Mensch ihn geformt hat, ist nicht gleichgültig. Wenn eine solche Sicherheit im Ewigen diesen physischen Leib durchzieht, dann geben wir der Erde das zurück, was wir als Sicherheit des Lebens uns angeeignet haben. Wir befestigen unseren Erdenplaneten mit dem, was wir uns während unseres Lebens erwarben. Unsere Lebenssicherheit geben wir durch den physischen Leib der Welt. In dem zerfallenden physischen Leib ist das

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Zerfallende nur Maja. Wer den physischen Leib durch den Tod ver­folgt, sieht, daß der Grad von Lebenssicherheit, den der Mensch wäh­rend des Lebens erworben hat, in unsere Erde hineinfließt.

So befestigen wir im Astralleib, im Ätherleib und im physischen Leib durch Weisheit, Frömmigkeit und Lebenssicherheit dasjenige, was wir als Mensch als unser Bestes erarbeiten können für die ganze Evolu­tion unserer Erde. So arbeiten wir an unserem Erdenplaneten, erwerben wir uns aber auch ein Gefühl dafür, daß der Mensch nicht einzeln, isoliert dasteht, sondern daß das, was er erarbeitet in seiner Seele, Wert und Bedeutung für das Ganze hat. Und wie kein Sonnenstäubchen ist, das die Gesetze des Weltalls nicht in sich trägt, so ist kein Mensch, der nicht durch das, was er tut und läßt, das Weltall aufbaut und zerstört. Wir können ebensoviel dem fortschreitenden Weltprozeß geben, wie wir ihm nehmen, wie wir von ihm herausbröckeln können dadurch, daß wir uns nicht um den Werdegang kümmern, daß wir uns nicht mit Frömmigkeit durchdringen, uns nicht Lebenssicherheit erwerben. Durch diese Unterlassungen wirken wir ebenso an der Zerstörung des Pla­neten mit, wie wir durch die Aneignung von Weisheit, Frömmigkeit und Lebenssicherheit ihn aufbauen. So ahnen wir allmählich, was die Geisteswissenschaft gefühlsmäßig uns werden kann, wenn sie den gan­zen Menschen ergreift.

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DIE ARBEIT DES ICH AM KINDE. EIN BEITRAG ZUM VERSTÄNDNIS DER CHRISTUS-WESENHEIT Zürich, 25. Februar 1911

Wenn man einen öffentlichen Vortrag hält wie den gestrigen über «Geisteswissenschaft und Menschenzukunft» oder einen ähnlichen, so ist man genötigt, sehr deutlich mit der Empfänglichkeit unserer gegen­wärtigen Welt zu rechnen, sehr damit zu rechnen, daß diese Empfäng­lichkeit eine eingeschränkte ist. Man muß sich klar sein darüber, daß in unserer Zeit aus den geistigen Welten herunter allerdings schon Er­kenntnisse fließen, welche der Menschheit als solcher notwendig sind, daß sie aber heute von den wenigsten unbefangen aufgenommen wer­den können. Die meisten Menschen, die nicht entsprechend sich für eine solche Aufnahme vorbereitet haben, würden das Tieferliegende unserer Geisteswissenschaft doch noch wie einen Schock empfinden, wie etwas, was sich phantastisch oder wie ein Traum ausnimmt.

Um so mehr müssen wir uns in bezug auf die wichtigsten Fragen weiter in das vertiefen, was wir unserem Gefühl und unserer Empfin­dung im Verlauf eines längeren Zweiglebens einverleiben konnten. Und da möchte ich darauf hinweisen, daß es notwendig ist, die große Wahr­heit von der Einpflanzung des Ich in die menschliche Natur näher zu betrachten und diese große Wahrheit doch etwas komplizierter anzu­sehen, als man dies gewöhnlich tut.

Wir wissen, daß der Mensch zuerst während der alten Saturnzeit die Anlage zum physischen Leib erhalten hat, während der Sonnenzeit die Anlage zum Atherleib, während der alten Mondenzeit die Anlage zum Astralleib, und daß eigentlich unsere Erdenentwickelung die Aufgabe hat, den übrigen Wesensgliedern das Ich einzuverleiben. Wenn wir am Ende der Erdenentwickelung angelangt sein werden, werden wir erst vollständig durchdrungen sein, so wie es geschehen kann, von der Ich-Natur. Betrachten wir den Erdenmenschen als solchen, können wir sagen, der eigentliche Mittelpunkt seines Wesens, das Zentrale in ihm ist die Ich-Natur. Aber da muß es uns auffallen, daß dieses Ich in den

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verschiedenen Perioden unseres gegenwärtigen Lebens doch in ver­schiedener Art mit uns verbunden ist, nicht inimer in der gleichen Weise. Wir müssen uns überhaupt vorhalten, daß die verschiedenen Wesensglieder noch nicht gekannt werden, wenn wir nur wissen, daß der Mensch aus physischem, ätherischem, Astralleib und Ich besteht. Sehen wir nun, in welcher verschiedenen Weise diese Glieder miteinan­der verbunden sein können, sowohl in den verschiedenen Epochen der Menschheitsentwickelung wie auch im einzelnen Leben des Menschen.

Betrachten wir zunächst das Kind. Wir wissen, daß es verhältnis­mäßig spät lernt, zu sich «Ich» zu sagen. Das ist sehr bezeichnend. Wenn auch eine heutige Psychologie, die Wissenschaft sein will, das nicht begreift, ist es doch tief bezeichnend, weil das Kind zu der Vor­stellung, zu dem inneren Erlebnis des Ich verhältnismäßig spät kommt. In den ersten Lebensjahren, ja bis zu drei oder dreieinhalb Jahren, hat das Kind, auch wenn es uns hie und da das Wort Ich nachplappert, noch kein richtiges Ich-Erlebnis. Da können Sie ein Buch finden, «Die Seele deines Kindes», von Heinrich Lhotzky, in dem der kuriose Satz steht, daß das Kind früher denken lernt als reden. Das ist Unsinn, weil das Kind am Reden das Denken lernt. Der geisteswissenschaftlich Strebende muß vorsichtig werden gegenüber dem, was heute als Wis­senschaft auftritt. Das Kind lernt erst so recht im Ich leben, vom Ich zu wissen, etwa nach dem dritten Jahr.

Es hängt damit noch etwas anderes zusammen, nämlich daß wir uns im normalen Bewußtsein - also nicht im höheren, hellseherischen Be­wußtsein - gar nicht hinter einen bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens zurückerinnern. Denken Sie nach, wenn Sie zurückforschen, werden Sie erkennen, daß die Erinnerung einmal abreißt. Sie reicht nicht bis zur Geburt. Man kann manchmal das, was einem erzählt wird, ver­wechseln mit dem, was man selber erlebt hat, aber der Faden reißt ungefähr an derselben Stelle ab, wo das Ich-Erlebnis auftritt. Als klei­nes Kind hat man es nicht, man bekommt es erst, und dann fängt die dunkelste Erinnerung an.

Nun fragen wir uns: Wenn das Ich-Erlebnis in den ersten drei Jah­ren nicht da war, war da auch das Ich nicht da im Kinde? - Man muß unterscheiden, ob wir von dem, was in uns ist, etwas wissen, oder ob es

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ohne unser Wissen in uns ist. Das Ich ist im Kinde, nur weiß es nichts davon, so wie der Mensch im Schlaf mit dem Ich verbunden ist, aber nichts davon weiß. Es ist, daß wir von etwas wissen, nicht maßgebend dafür, daß etwas da ist. Wir müssen sagen: Das Ich ist da, aber es ist nicht bewußt beim Kinde.

Wie ist es denn mit dem Ich? - Ja, das hat seine eigene Bewandtnis. Wenn Sie das menschliche Gehirn rein physisch untersuchen würden, so würden Sie sehen, daß das Gehirn nach der Geburt im Verhältnis zur späteren Gestalt ziemlich unvollkommen aussieht. Manche von den feinen Windungen müssen erst später ausgestaltet, müssen erst in den nächsten Jahren plastisch ausziseliert werden. Das macht das Ich beim Menschen, und weil es das zu tun hat, deshalb kann es nicht zum Be­wußtsein kommen. Es hat das Gehirn auszubilden als etwas anderes, in feinerer Gestalt so, daß es später denken kann. Das Ich ist sehr arbeitsam in den ersten Jahren.

Wenn nun dieses Ich bewußt wird, dann könnten wir vergeblich an dieses Ich die Frage stellen: Wie hast du es gemacht, daß du dieses Ge­hirn so kunstvoll ausgebaut hast? - Sie werden gestehen, daß das Ich im ganzen Leben zwischen Geburt und Tod nicht zu einem solchen Bewußtsein kommt, wie es das Gehirn herausgestaltet. Dennoch kön­nen wir uns diese Frage stellen. Und da erhalten wir die Antwort, daß das Ich bei seiner Tätigkeit unter der Anleitung der Wesenheiten der höheren Hierarchien steht. Wenn wir einen kindlichen Menschen vor uns haben und ihn hellseherisch betrachten, so ist sein Ich als Ich-Aura wohl da, aber von dieser Ich-Aura gehen die Strömungen zu den höheren Hierarchien, zu den Engeln, Erzengeln und so weiter, und herein strömen die Kräfte der Hierarchien. Wenn daher im naiven Bewußtsein gesagt wird, das Kind ist von einem Engel beschützt, so ist dies eine sehr reale Wahrheit. Später hört dieser engere Zusammen­schluß auf: das Ich erlebt sich mehr in den Nerven und kann seiner selbst bewußt werden. Es ist das eine Art Abschnürung. So haben wir im kindlichen Menschen eine Art «Telephonverbindung», indem das Ich sich fortsetzt in die göttlich-geistigen Hierarchien. Wir müssen geisteswissenschaftliche Aussprüche ernst nehmen. Ich habe einmal gesagt: Der Weiseste kann von einem Kinde viel lernen. - Er kann

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auch aus dem Grunde viel vom Kinde lernen, weil er nicht bloß das Kind selber zu sehen braucht, er sieht auch durch dieses in die geistige Welt hinein, denn das Kind hat den «Telephonanschluß» zur geistigen Welt, der später durchschnitten wird. So daß wir in den ersten drei Jahren ein ganz anderes Wesen vor uns haben im Menschen als später. Wir haben ein kindliches Ich, das plastisch arbeitet unter der Anleitung der Wesen der höheren Hierarchien an der Ausgestaltung der mensch­lichen Denkwerkzeuge. Dann geht es da hinein, kann aber nicht mehr daran arbeiten. Es müssen dann die menschlichen Denkwerkzeuge schon ausgestaltet sein. Sie können sich wohl weiter entwickeln, aber das Ich kann nicht mehr daran arbeiten.

Wir können also schlechtweg den Menschen trennen in den Men­schen, der in den ersten dreieinhalb Jahren vor uns steht, und in den übrigen Menschen. Im Esoterischen nennt man den ersten Menschen den göttlichen Menschen, weil er in Beziehung steht zu den höheren Hierarchien, oder den Gottessohn; den anderen nennt man den Men­schensohn. In diesem ist das Ich darin und bewegt die Glieder und arbeitet, soweit noch gearbeitet werden kann, von innen heraus. So daß wir unterscheiden müssen zwischen Gottessohn und Menschensohn.

Wir haben uns also eine Kluft zu denken zwischen dem Gottessohn und dem Menschensohn. Der Gottessohn, der vorzugsweise tätig ist bis zu dreieinhalb Jahren, enthält alle belebenden Kräfte, das was dem Menschen den Ansporn gibt, immer mehr und mehr Lebenskräfte in seinen Organismus hineinzugießen. Diese Kräfte enthalten auch etwas Aufbauendes, Gesundendes, Belebendes im Verhältnis zum späteren Menschen. Wenn wir im späteren Lebensalter nicht bloß den Menschen haben wollen, der auf seine Sinne angewiesen ist und auf die Werk­zeuge seines physischen Leibes, und sich dadurch mit seiner Umwelt in Verbindung setzt, sondern wenn wir auch im späteren Leben in die geistige Welt hinaufragen wollen, dann müssen wir versuchen, auf eine künstliche Weise etwas von diesen Kräften in uns wachzurufen; wir müssen appellieren an die Kräfte, die in uns sind im ersten Kindesalter, nur mit dem Unterschied, daß wir sie jetzt bewußt wachrufen, während das Kind sie unbewußt wachruft. So sehen wir denn, daß der Mensch in dieser Beziehung eine Zweiheit ist.

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Was kommt in dieser Kraft der ersten dreieinhalb Jahre eigentlich zutage? In diesen Kräften, die da unter der Leitung der höheren Hier­archien arbeiten, kommt das zur Geltung, was aus früheren Inkarna­tionen herüber wirkt. Sie können sich leicht davon überzeugen, wenn Sie den menschlichen Schädel abgreifen. Da finden Sie individuelle Erhöhungen und Vertiefungen. Kein Schädel ist dem anderen gleich, daher gibt es auch keine allgemein gültige Phrenologie. Sie muß in­dividuell zu Werke gehen. Die Kräfte, die im menschlichen Schädel arbeiten, kommen aus früheren Inkarnationen herüber, und sie hören auf, ihre Stoßkraft zu haben, wenn diese dreieinhalb Jahre vorüber sind. In diesen dreieinhalb Jahren ist alles noch biegsam, da kann der Geist noch hineinarbeiten. Später ist alles fest geworden, dann kann er nicht mehr hineinarbeiten.

Was macht es denn nun, daß wir später nicht mehr arbeiten können mit diesen Kräften? Woher kommt es? Es kommt von unserer speziellen Erdenentwickelung. Nachdem das Ich im Leibe seiner selbst bewußt geworden ist, setzt das voraus, daß der Leib festgefügt ist und nicht mehr von den eben charakterisierten Kräften bearbeitet werden kann. Wir haben es mit solchen Kräften zu tun, die dem Menschen als Art-wesen, als Gattungswesen eigen sind, die ihn aufbauen in Menschen-architektur. Wenn wir länger als die dreieinhalb Jahre, welche die an­gemessene Zeit sind, mit den Kindheitskräften im physischen Leibe arbeiten würden, würde dieser physische Leib dies nicht aushalten. Er würde zerreißen, würde zerbrechen, denn es werden nun die Kräfte wirksam, die ihn von der physischen Vererbungslinie her festmachen. Würde die andere Kraft nicht aufhören, so würde er zerbrechen, aus­einandergehen, er würde es nicht aushalten. Wir sinken unter in unseren Menschensohn; der Gottessohn kann nicht mehr aufkommen gegen unseren Menschensohn nach drei Jahren. Aber wir tragen dennoch diesen Gottessohn in uns; es wirken diese Kräfte innerhalb des phy­sischen Leibes das ganze Leben hindurch, nur können sie sich nicht mehr direkt am Aufbau beteiligen. Wenn wir in uns hineinschauen, so finden wir doch die Fortsetzung des Ich, das den «telephonischen An­schluß» hatte. Nur ist der physische Leib zu derb, zu grob, zu verholzt, als daß der Gottessohn weiter plastisch daran gestalten könnte.

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Die besten Kräfte sind in diesen ersten drei bis dreieinhalb Jahren enthalten; wir zehren das ganze Leben davon. Sie werden verdunkelt, aber sie sind in den späteren Jahren doch in der verschiedensten Art vorhanden. Es ist so, wie wenn wir von diesen Kräften durchsetzt wür­den und sie nur nicht unmittelbar ausleben lassen könnten. Wenn wir durch die Geisteswissenschaft Begriffe von den höheren Welten auf­nehmen wollen, so können wir dies um so besser, je mehr wir von dem in uns haben, was in den ersten drei Jahren in uns war, wo das Ich selbstlos in uns war. Je frischer, je biegsamer diese Kräfte sind, je weniger greisenhaft sie bis ins hohe Alter geworden sind, desto mehr eignen wir uns dazu, uns durch diese Kräfte des Geistes umzugestalten. Es ist der Menschheit bestes Teil, was wir in diesen drei Jahren um uns haben. Nur der dichte physische Leib hindert uns leider, diese Kräfte voll zu gebrauchen. Wenn sie jemand in späteren Jahren besonders ent­wickeln kann, so kann er dadurch nicht mehr seinen physischen Körper umändern, er ist nicht mehr so weich wie Wachs. Aber wenn er sie voll gebrauchen kann durch esoterische Weisheit, dann fließt diese Kraft aus durch die Fingerspitzen, und er bekommt die besondere Gabe der Heilung, der Gesundung durch Handauflegen - wenn sie noch wirk­sam sind, jene geistigen Kräfte, die nicht mehr den eigenen Körper umgestalten, die aber, wenn sie ausfließen, segensreich wirken.

Das Ziel der Erdenentwickelung ist, diese besten Kräfte in uns nach und nach zur Geltung zu bringen. Wenn die Erdenentwickelung zu Ende sein wird und wir durch die vielen Inkarnationen durchgegangen sein werden, werden wir uns ganz durchdrungen haben müssen bewußt mit dem, was wir unbewußt haben in den ersten Kindheitsjahren. Es ist ein Unterschied, ob wir diese Kräfte unbewußt haben oder bewußt. Die Menschen werden dann ganz durchdrungen sein müssen von einem solchen kindhaften Bewußtsein. Und es wird dann, weil es nur lang­sam ausdehnen wird seinen Körper, ihn auch nicht zersprengen.

In der Weltentwickelung mußte ein Vorbild gegeben werden für dieses Hereintreten der Kindheitskraft in die Menschheit. Daß dieses Vorbild nicht im Kinde gegeben werden konnte, ist selbstverständlich. Es mußte ein Mensch, der schon ein gewisses Alter erreicht hat, durch­drungen werden in bewußter Weise mit denselben Kräften, die in der

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ersten Kindheit unbewußt den Menschen durchdringen. Würden wir einen Menschen vor uns haben, dem wir sein Ich herausnehmen, ent­fernen, den wir leer machen von diesem Ich, und würden wir dasjenige, was das Kind in den ersten Lebensjahren hat, hineingießen, so würde er das mit dem entwickelten Gehirn zum Bewußtsein bringen. Es wäre das in ihm bewußt, was in den ersten Kindheitsjahren in ihm war. Wie lange erträgt ein Menschenleben auf Erden diese Elemente? Drei Jahre, länger nicht, dann muß er darunter zerbrechen. Wenn es sich nicht um­wandeln kann - beim Menschen wandelt es sich um in der gewöhn­lichen Entwickelung -, dann erträgt es der Menschenleib nicht länger als drei Jahre. Sollte es überhaupt einem Wesen möglich sein, die Kind­heitskräfte bewußt in sich zu tragen, dann muß das Karma dieses Men­schen so eingerichtet sein, daß nach drei Jahren der physische Leib, in den dieses Wesen versenkt ist, zerbricht.

Es ist also denkbar, daß das, was der Mensch durch alle Inkarnatio­nen bis ans Ziel der Erdenentwickelung erlangt, durch ein Vorbild in die Welt gebracht wird, indem ein Mensch in die Welt gestellt würde, der durch seine Leiblichkeit es möglich macht, daß sein Ich entfernt und ein anderes Wesen ihm eingepflanzt wird, welches seinen Inkar­nationen nach den Weg hierzu offen hat. Dann würde der menschliche Leib nicht länger dieses Wesen in sich dulden als drei Jahre. Es würde dann der menschliche Leib zerbrechen seinem Karma nach. Das ist ge­schehen. Wir sehen bei der Johannestaufe im Jordan diesen Menschen-leib, der geeignet war, daß sein Ich, das Zarathustra-Ich, heraustrat. Dann senkte sich ein Wesen in diesen Leib. Die Christus-Wesenheit füllte ihn aus, konnte aber nur drei Jahre darin bleiben. Nach drei Jahren zerbrach es diesen Leib im Mysterium von Golgatha.

Was damals drei Jahre im menschlichen Leib leben konnte, das muß der Mensch hegen und pflegen und nach und nach durch Inkarnationen wesenhaft in seiner Seele lebendig machen, damit es am Ende der In­karnationen voll und ganz in der menschlichen Wesenheit gegenwärtig sein kann. Wir sehen da einen merkwürdigen Zusammenhang zwischen dem Gottessohn im Menschen und dem Christus-Ereignis. Denn alle die Dinge, die wir auf okkultem Felde finden, können von verschie­denen Seiten beleuchtet werden. Solche Beweise, wie sie die gewöhnliche

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Wissenschaft verlangt, können dem Okkultismus nicht genügen. Sie müssen dadurch überzeugend werden, daß Wahrheiten von allen Seiten zusammengetragen werden, die sich gegenseitig halten und tragen. Wir können das Christus-Ereignis wieder von einer neuen Seite kennenlernen, indem wir es heute aus der menschlichen Natur selber abgeleitet haben. Wir haben uns klargemacht, wie wir am besten den Christus begreifen, indem wir die Gesinnung entwickeln, die sich durch solche Wahrheit ergibt. Wir müssen uns klarmachen, daß bei voll ent­wickeltem Menschenleib durch die Jordantaufe ein Wesen im Leibe des Jesus von Nazareth war, welches in jedem Menschenleib weset, aber nur unbewußt, in den drei ersten Jahren des Lebens. Und schauen müs­sen wir da auf die drei Jahre, wo dieses Kind ins Bewußte umgesetzt ist. Dann lernen wir das Christus-Wesen am besten kennen.

Alte Aussprüche haben einen verschiedenen Sinn. Ein solcher Sinn ergibt sich uns auch aus dem Ausspruch: Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht eindringen in die Reiche der Himmel. -Da sehen wir tief hinein in den tieferen Sinn, der manchmal in einzel­nen Sätzen der religiösen Urkunden liegt.

Betrachten wir dieses kindhafte Leben besonders in dieser Zeit, in der es sich nun recht herausentwickelt. Die Wissenschaft weiß heute noch nicht viel von dem, was beitragen kann, den Menschen in seiner wahren Wesenheit zu studieren. Da muß es uns erst einmal klar sein, daß der Mensch sich von Anfang an ganz radikal unterscheidet von allen übrigen Wesen. Wenn Sie etwas Nahestehendes, etwa ein Affen-wesen, betrachten: Es ist diesem von allem Anfang an durch eine eigen­tümliche Gleichgewichtslage eingepflanzt sein Gang; durch die eigen­tümliche Gleichgewichtslage, wie seine Glieder angebracht sind. Der Mensch kann zunächst überhaupt nicht gehen, er muß erst die Gleich­gewichtslage im Leibe erringen. Er muß seine Glieder durch die Arbeit seines Ich in jene Lage bringen, in der er sich aufrechterhalten und gehen kann. So muß dieses Ich in den ersten Kindheitsjahren nicht nur daran arbeiten, das Gehirn plastisch auszugestalten, es muß auch die Gleichgewichtslage erringen, die dem Menschen nicht so von vorne­herein gegeben ist wie den Tieren. Der Mensch muß seine Knochen erst in die Winkelrichtung bringen. die er gemäß seinem Schwerpunkte

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haben muß, um gehen zu können, um seinen Weg zu finden. Dem Tier ist dieses von vorneherein eingepflanzt, bis herauf zum höchsten Tier. Beim Menschen muß dies erst durch die Arbeit des Ich nach und nach errungen werden. Vorher kriecht er oder fällt um. So würde der Mensch an den Boden gefesselt sein, an denselben Ort, wenn sein Ich nicht arbeiten würde in den ersten Jahren seines Lebens.

Wir haben schon gesehen: das Ich arbeitet an seinem Gehirn, zise­liert es so aus, daß wir später erkennende Wesen werden. So daß wir sagen können: Wir eignen uns Erkennung der Wahrheit im Leben da­durch an, daß das Ich sein Werkzeug formt. - Es muß uns klar sein, daß es ein Weiterleben gar nicht geben kann, ohne daß wir es erarbeiten.

Was ferner den Menschen so radikal unterscheidet von allen anderen Wesen, ist seine Sprache. Die Sprache muß auch erst errungen werden durch das Ich. Der Mensch ist nicht veranlagt zu sprechen. Zu dem, wozu der Mensch von vorneherein veranlagt ist, gehört die Sprache nicht. Gewiß, die Kuh sagt Muh; aber das ist noch keine Sprache. Die Erwerbung der Sprache hängt davon ab, daß das Ich unter anderen Menschen-Ichen weilt. Wenn der Mensch auf eine ferne Insel ver­pflanzt wird, lernt er nicht sprechen. Daß wir die zweiten Zähne be­kommen, ist uns angeerbt; daß wir wachsen, ist uns angeerbt. Wir würden auch Zähne bekommen, wenn wir auf einer einsamen Insel wären. Die Sprache aber erwerben wir uns durch das Ich im Kreise des menschlichen Lebens. Diese Unterschiede sind wichtig. So daß in dem, was wir menschliches Leben nennen, die Sprache das Dritte ist, was unser Ich sich aneignet.

Durch die Betätigung dieser Kräfte findet der werdende Mensch den Weg auf Erden, er erkennt die Wahrheit, und er lebt mit der Umwelt das menschliche Leben mit. Wenn das Kind aussprechen könnte, was es so erwirbt, könnte es sagen: Das Ich in mir verwandelt mich so, daß ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. - Denken Sie sich das umgesetzt ins höhere Geistige, Spirituelle: wie muß zu den Menschen ein Wesen sprechen, das mit voll bewußten Kindheitskräften drei Jahre im menschlichen Leibe lebt? Es muß sagen: Ich bin der Weg, die Wahr­heit und das Leben. - In der Tat, indem die Kindheitskräfte auf eine höhere, voll bewußte Stufe heraufkommen, haben wir darin wiederum

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das große Vorbild dessen, was sich im Kinde auf niederer Stufe zeigt. Wie eine Grundwahrheit geht es durch den Christus Jesus. Nicht nur der Ausspruch: Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnt ihr nicht eingehen in die Reiche der Himmel -, kann nicht erfaßt werden, wenn man nicht weiß, was Geisteswissenschaft von dem eigentlichen Zusammenhang mit den belebenden Kindheitskräften zu sagen hat, sondern auch das, was wie ein radikaler Ausspruch klingt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben», begreifen wir am besten, wenn wir das Vorbild sehen in dem, was das Ich erarbeitet im kindlichen Leibe.

Aus solchen Dingen eignen wir uns an, was uns die Möglichkeit gibt, doch wenigstens für die Seele, wenn auch nicht für den Leib, etwas von den belebenden Kräften durchzubringen, die wir wieder brauchen auf der Erde. Der heutige Mensch, sofern er nicht die geistige Welt aner­kennt, hat gar kein richtiges Gefühl für solche Tatsachen. Gehen Sie zu zahlreichen Menschen, die draußen im äußeren Leben stehen, und sagen Sie zu ihnen etwas, wie das, was heute hier gesagt worden ist:

Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht eingehen in die Reiche der Himmel -, so werden Sie sehen, daß die Leute draußen sagen: Nun ja, das sind ganz geistreiche Vergleiche, aber was soll man damit anfangen? - Die Leute werden es nützlicher finden, irgendein Sensationsdrama, wenn nicht Schlimmeres anzusehen. Wer nicht so recht ein Gefühl dafür hat, daß diese Wahrheiten eine Bedeutung haben, wird sie wenig berechtigt finden, weil in dem GefüM für solche Dinge gerade die Kraft liegt, die kindliche Auffassungsgabe hereinzu­tragen in unser Leben. Wenn wir nicht dazu kommen, Sympathie und Enthusiasmus für so etwas zu haben wie den Vergleich des Christus mit der Tätigkeit des menschlichen Ich in den ersten Lebensjahren, wenn wir fähig sind, so etwas für kindisch zu halten, dann haben wir keine Begabung dafür, die ersten Kindheitskräfte wachzurufen. All die ver­trockneten Gelehrten haben so wenig Kraft, die ersten Kindheits­kräfte wachzurufen und dadurch zur spirituellen Welt zu kommen! Wenn wir dafür Enthusiasmus haben, uns mit so etwas zu beschäftigen, dann wirkt das in unserer Seele so, daß wir uns durchdringen mit die­sen Kräften der ersten Kindheit.

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Damit ist aber etwas von dem gegeben, was dem Menschen möglich macht, sein Christentum weitherzig zu erhalten. Habe ich nicht oft gesagt, wir stehen erst im Anfange einer Auffassung des Christus? Da gab es Jahrhunderte hindurch bis ins 12., 13.Jahrhundert ein Christen­tum, das hatte nicht die Möglichkeit, die Bibel zu lesen, es mußte sich halten an die Predigten und an das, was die Geistbeseelten sagten. Dann kam das Christentum, das sich an die Bibel hielt, das sein Wissen von dem bekam, was in der Bibel steht. Und wir sind nicht eingedenk der Christus-Kraft, wenn wir nicht daran festhalten, daß Er wirklich sei­nen Ausspruch wahrgemacht hat: «Ich bin bei euch bis an das Ende der Zeiten.» Christen sind wir, wenn wir darüber klar sind, daß in jedem Zeitalter der Christus, nachdem er sich einmal manifestiert hat, sich wieder manifestieren wird für jeden, der ihn sehen will. Der Christus ist nicht so arm, daß er nur das zu sagen hat, was in den Evangelien niedergelegt ist. Wir dürfen uns nur nicht immer berufen auf die Worte: «Ihr könntet es jetzt noch nicht ertragen», sondern es mache sich die Menschheit reif, den Christus zu erkennen.

Zu solchen Dingen gehört es, daß wir uns in der richtigen Weise zu stellen vermögen zu dem, was durch die Johannestaufe sich ergießt, zu den gesunden, befruchtenden Kräften des Kindheitsalters. Das wäre eine tief befruchtende Idee. Auch wenn kein Mensch etwas wüßte von dem Namen des Christus und von den Evangelien - wir sind durchaus nicht darauf aus, uns am Namen zu halten -, es kommt auf das Wesen an. Anderen überlassen wir es zu sagen: Wer nicht auf Buddha schwört, ist kein richtiger Bekenner. - Nicht am Namen, sondern an die Sache halten wir uns. Das tun wir zum Beispiel, indem wir erkennen, wie in den ersten Lebensjahren Kräfte im Menschen sind, die einmal sich niederließen auf den Leib des Jesus von Nazareth.

Denken Sie, Sie wären auf einer einsamen Insel, wo gar keine Ur­kunde über das Mysterium von Golgatha je hingekommen ist: wenn Menschen da so arbeiten, daß sie durch ihr spirituelles Leben voll-bewußt die Kraft des ersten Kindheitsalters aufnehmen bis ins höchste Alter hinauf, wären sie Christen im wahren Sinne des Wortes. Dann brauchen sie nicht in den Evangelien zu suchen, denn das Christentum ist etwas Lebendiges, und es wird sich weiter und weiter fortentwickeln.

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Das ist etwas, was wir im Unterschied streng festhalten müssen. Dann werden wir immer klarer werden können darüber, wie innig eigentlich zusammenhängt die Christus-Mission mit dem ganzen Erdenwesen. Wir werden uns dann sagen können, diese Christus-Mission ist etwas, was wir am heutigen Menschen selber erkennen können. Die Notwen­digkeit der Durchchristung, des Auslebens des Paulinischen Spruches «Christus in mir» ergibt sich dadurch, daß wir sagen: Wir müssen uns mit der Umwandlung dessen, was in der ersten Kindheit in uns lebt, das ganze Leben durchdringen, dann ist der Christus in uns.

Dies gibt durchaus die Möglichkeit, das Christentum im weitherzig­sten Sinne zu erfassen, und die Perspektive, daß das Christentum ganz andere Formen annimmt. Es werden Zeiten kommen, wo man den Christus ganz anders nennen wird, wo ganz andere Urkunden da sein werden, wo man gar nicht auf die äußere Geschichte hinweisen wird, daß einmal ein solches Wesen da war, sondern wo man aus dem Menschheitsbewußtsein heraus diese Tatsache erkennen wird.

Alles dies bringen wir vor, weil wir gerade mit solchen Dingen immer wiederum zeigen können, wie Geisteswissenschaft in die ganze Gestaltung des Menschheitsfühlens denkbar tief eingreifen kann und zur Lebenspraxis werden muß. Dann wird uns von da aus erst richtig verständlich, was wir in Urkunden finden. Die Urkunden sind für viele Menschen denn doch ein Buch mit sieben Siegeln. Ein heutiger Mensch steht vor uns: am Ende der Erdenzeit ist er so weit, daß er innerlich seine Seele durchchristet hat, heute ist er erst am Anfang sei­ner Arbeit. Aber es lebt der Christus in ihm, und durch alle folgenden Inkarnationen wird er immer mehr und in immer weiterem Sinne in ihm leben.

Wie war es nun, bevor der Christus sich geoffenbart hat auf der Erde? Da war das Ich erst in Vorbereitung. Der Christus ist das, was dem Ich seinen Sinn gibt, so daß früher das Ich nur in Vorbereitung war. Jedesmal, wenn ein Wesen noch in Vorbereitung ist, müssen die Wesenheiten, die ihm vorangegangen sind, ihm helfen. Der Mensch war in Vorbereitung, seinem Ich einen Sinn zu geben, bis zu dem Ereig­nis von Golgatha. Bis dahin mußten ihm andere Wesen helfen, die früher die Menschheitsstufe erreicht haben, nämlich auf dein alten

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Monde. Wir wissen, daß das die Wesen der höheren Hierarchie der nächsten Stufe sind, die Engel. Sie stehen eine Stufe höher als der Mensch. Diese Wesenheiten haben vorzugsweise die Leitung der Menschheit zu übernehmen gehabt, so lange der Mensch noch nicht imstande war, zu Christus hinzublicken und zu sagen: Christus gibt meinem Ich den Sinn. - Daher konnte nicht der Mensch selber sich zu Christus hinführen, sondern er mußte von den Wesenheiten, die seine älteren Brüder sind, dahin geführt werden.

Das gibt die biblische Urkunde mit wunderbarer Genauigkeit wie­der. Nehmen wir den Vorläufer des Christus Jesus, Johannes. Wenn er wirklich der Vorläufer sein soll, kann er nicht das Wesen sein, das in der äußeren Geschichte dargestellt ist, denn er hat noch nicht das Ich in dem Sinne, wie das jetzt dargestellt worden ist. Daher kann man nicht sagen, sein Vorläufer, der Täufer Johannes, ging voran. Merk­würdigerweise beginnt das Markus-Evangelium sogleich mit den Wor­ten des Propheten: «Ich sende meinen Engel vor dir her, der soll dir den Weg bereiten.» Das heißt, es muß etwas beachtet werden, was man so abstrakt in Theologenkreisen wohl sieht, wenn man aber ins Konkrete geht, sehen die Menschen darüber hinweg. Die äußere Welt ist zunächst eine Maja. Wir müssen erst lernen, sie in richtiger Weise anzuschauen, dann ist sie nicht mehr Maja. Wenn die äußeren Ereignisse auf dem physischen Plane von Johannes erzählt werden, so ist das Maja. Wir verstehen sie nicht. Die Bibel sieht die Person des Johannes als Maja an. In Johannes lebt, von seiner Seele Besitz nehmend, ein Engelwesen, das die Menschen zu Christus führt. Er ist eine Hülle für die Offenbarung der Engelwesenheit. Der Engel konnte in ihn hineingehen, weil der wie­dergeborene Elias bereit war, den Engel aufzunehmen. Da sprach der Engel aus ihm, der wurde hingeschickt, der bedient sich nur des Johan­nes als Werkzeug. So genau spricht die Bibel.

So daß wir sagen können: Der Mensch konnte nur dadurch zu dem Ich hingeführt werden, daß diejenigen, welche die Menschheitsstufe auf dem alten Monde vollendet hatten, in der vorchristlichen Zeit die Lenker der Erdenmenschen wurden. Alle alten Menschheitsführer sind dadurch die Lenker geworden, daß Engel durch sie wirkten. Was würde mit dem modernen Menschen geschehen? In vorchristlichen Zeiten

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wirkten die Engeiwesen in sein Wesen, weil der Mensch noch nicht das Ich als Eigenvorbild in sich hatte. Seit sie das Christus-Sonnenlicht haben, können die Menschen ihr Antlitz hinwenden zu Christus, und dadurch zieht wieder eine solche Kraft in ihn ein wie vorher die Engel. So wie er vorher die Engel aufnahm, muß der Mensch heute durch Hingabe an die Christus-Wesenheit den Christus aufnehmen. Hat noch Johannes sagen können: Nicht ich, sondern der Engel in mir ist her-gesandt und benützt mich als Werkzeug, um vorzubereiten -, so muß heute der Mensch sagen wie Paulus: Nicht ich, sondern Christus in mir. - Er soll den Christus so verstehen lernen, wie Geisteswissenschaft ihn lehrt.

Man kann das aussprechen, was zum Beispiel heute über die drei ersten Lebensjahre gesagt worden ist. Die Notwendigkeit zu betonen, daß das kindliche Zeitalter seinen sonnigen Glanz über das ganze Leben ausbreitet, das ist Verchristen eines Menschen. Während die moderne Wissenschaft das Greisenhaftwerden, das Nicht-sich-Durch-dringen mit den Sonnenkräften des Kindesalters, das Vertrocknen-lassen der Gehirnpartien und manches andere bewirkt.

Also nehmen wir von solchen Wahrheiten die Idee mit auf, daß es möglich ist, das Christentum wesenhaft zu erkennen, wenn man absieht von allen Urkunden und nur auf die Betrachtung des Menschen hin­sieht. Wenn man Geisteswissenschaft nicht so anschaut, daß man sagt:

Nun weiß ich, daß der Mensch aus vier Gliedern besteht, aus physi­schem, Äther-, Astralleib und Ich, sondern so, daß es darauf ankommt zu wissen, wie diese einzelnen Glieder in der Menschennatur verbunden sind, dann kann man einsehen, daß das erste Kindheits-Ich verwandt ist einer anderen Wesenheit, daß dieses Ich gleichsam wie eine Hülle ist, und wie es dann nach drei Jahren ganz und gar seine Lage zu den anderen Gliedern, zu der übrigen Menschennatur ändert.

Diese Erkenntnis bekommt einen rechten Wert, wenn sie in uns zur Kraft wird, und wenn wir uns sagen: Wir haben viele Inkarnationen auf Erden in Zukunft durchzumachen; wir wissen, daß wir sozusagen dasjenige, was in uns ist, immer weiter und weiter ausbilden können, zu immer größerem und größerem Bewußtsein bringen können; wissen, daß wir den höheren Menschen, den Gottessohn in uns ganz ausgießen

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können über den Menschensohn, und dadurch von Inkarnation zu In­karnation immer weiter hinaufsteigen können, bis die Erde an ihrem Ziel angekommen sein wird. - Da wird die Erde ein Leichnam werden, wie der einzelne Mensch physisch ein Leichnam wird, und wie im ein­zelnen Menschen der Leichnam zur Erde hinunterfällt und die Seele in die geistige Welt aufsteigt, so wird es auch mit der ganzen Erde sein.

Wenn wir die ganze Erde als den Leib der ganzen Menschheit be­trachten, so können wir sagen: Die Erde stirbt als Leichnam ab, geht auf in der Materie des Weltenraumes, wird zerstäubt, um materiell aufs Neue verwendet zu werden. Der Mensch aber steigt hinauf in geistige Welten, um in den nächsten planetarischen Zustand hinüberzugehen. Und wir sollen uns vor Augen halten, daß dies keine abstrakten Worte sind.

Es ist doch sonderbar, daß es Menschen gibt, die glauben, daß un­sere Erde mit der Sonne und den anderen Planeten einmal ein großer Dunstnebel war und nichts sonst, und daß sich da herausgebildet haben Sonne, Erde, und durch Zusammenschießen der Materie der Mensch, und daß er sich immer so weiter entwickelt und einmal in der Erde begraben sein wird: das Ganze eine sinnlose Episode! Die künftige Kulturgeschichte wird viel Mühe haben, dieses krankhafte Phantasie-gebilde zu begreifen; zu begreifen, wie einmal die menschliche Phanta­sie so krank werden konnte, dies als ernsthafte Vorstellung anzu­nehmen. Eine Kant-Laplacesche Theorie zu geben, bedeutet ganz das­selbe, wie den Menschen erklären zu wollen aus dem Staube, in den er zerfällt bei der Verbrennung. Solche Wissenschaft ist todbringend, sie belebt nicht die lebendige Kraft in unserer Seele. Geisteswissenschaft soll die Kraft beleben, zu höherer und höherer Gestalt uns auszubilden, und uns fähig machen, nicht mit dem Staube der Erde uns zu verbinden, sondern uns hinüber zu entwickeln zu neuem planetarischem Dasein.

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VOM EINFLIESSEN SPIRITUELLER ERKENNTNISSE IN DAS LEBEN St. Gallen, 26. Februar 1911

Wenn wir im Laufe unseres Zweiglebens uns die Begriffe aneignen vom Wesen des Menschen, von der Entwickelung des Menschen, also wenn wir etwa lernen: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, so haben wir zwar gegenüber dem Wissen, das heute in der Welt ist, durchaus etwas gewonnen, allein wir können noch nicht sagen, daß wir mit einem solchen mehr oder weniger theoreti­schen Wissen dasjenige uns angeeignet haben, was Theosophie dem Menschen in Wahrheit eigentlich sein kann. Theosophie wird dann erst das, was sie für den einzelnen Menschen und auch für die menschliche Gemeinschaft sein soll, wenn sie übergeht ins Leben, wenn sie zur Lebenspraxis wird, und bei solchen Gelegenheiten, wo ich selbst die lieben Freunde wiedersehen darf, ergreife ich auch gern einmal die Gelegenheit, aufmerksam darauf zu machen, wie diejenigen Ideen, Welten- und Menschheitsgesetze, die wir sonst uns im Verlaufe des jährlichen Zweiglebens aneignen, ihre große Rolle im menschlichen Leben spielen. So wollen wir denn heute auch eine solche Betrachtung anstellen von dem Einfließen der Theosophie in das Leben.

Es liegt manchmal die Frage auf der Zunge, insbesondere denen, die noch wenig von Theosophie wissen: Ja, es wird gesprochen von Tat­sachen und Wahrheiten übersinnlicher Natur, aber wie kann denn der Mensch, der noch nicht hellseherisch geworden ist, überhaupt viel reden von diesen geistigen Welten, wie etwas wissen von diesen Welten, außer daß man ihm eben diese Dinge erzählt? - Das ist ein sehr ge­bräuchliches Vorurteil, aber es ist recht unbegründet. Allerdings ohne hellseherisch zu sein, kann man zum Beispiel nicht den Astralleib des Menschen sehen, aber was an diesem Astralleib geschieht, das kann man am eigenen Dasein wohl erleben, und da wirkt Theosophie un­gemein.

Ich will einen Fall anführen, wo der Mensch erleben kann, daß er einen Astralleib hat. Sie wissen, daß die Menschen im Alltagsleben

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gewöhnt sind, sehr vieles zu tun, worüber sie nicht nachdenken, daß sie auch gewöhnt sind, vieles zu tun, was gar nicht nach ihrem Sinne ist. Denken Sie nach, wieviel die Menschen vom Morgen bis Abend ge­dankenlos tun, ohne es sich recht voll zu überlegen, ohne mit den Gedanken dabei zu sein; wieviel die Menschen tun so, daß sie nachher sagen: Ganz einverstanden bin ich mit dem nicht, was ich getan. -Können wir da nicht sagen, daß wir dann etwas tun, was wir nur zum Teil bedenken, nur zum Teil mit Gedanken begleiten? Namentlich solche Gewohnheiten liegen unserem Hang zugrunde, die wir von außen aufgenommen haben, die wir nicht hätten, wenn wir uns selbst erzogen hätten.

So schaut das Leben betrachtet im materialistischen Sinne aus, als wenn es gleichgültig wäre, ob wir solche Dinge tun, mit denen wir ein­verstanden sind oder nicht, Dinge, vor denen wir uns rechtfertigen können oder nicht. Für das hellseherische Auge ist es nicht so. Für das hellseherische Auge ergibt es sich, daß bei jeder Tat, bei jeder Hand­lung derjenige Teil, welcher nicht so ist, daß wir uns bezüglich seiner moralisch rechtfertigen könnten, einen Eindruck auf unseren Astral-leib macht. Gleichsam einen Rückschlag bewirkt eine solche Hand­lung auf unseren Astralleib. Und so kann man von einem solchen Men­schen sagen: Der hat so viel Risse, so viel Grübchen in seinem Astral­leib, weil er viele solche Dinge tut, welche er, wenn er darüber nach­dächte, moralisch nicht rechtfertigen würde.

Ich denke hierbei nicht an Berufsangelegenheiten, sondern von Ge­wohnheitshandlungen sage ich das. Da wirkt jeder solcher Einschlag auf den Astralleib, und weil er nicht mehr vergeht, wie er ist, wirkt er weiter auf den Ätherleib, prägt sich wie ein Siegeldruck ab und bleibt da sitzen, so daß der Mensch herumgeht mit Siegelabdrücken in seinem Ätherleib. Bis hierher kann der Mensch, der kein Hellseher ist, sagen, er kann das nicht wissen; aber was hier geschieht, erlebt der Mensch. Die Dinge bleiben in gewisser Weise vorhanden, eigentlich das ganze folgende Leben hindurch, und wirken nun wieder zurück auf den Men­schen, daß er manchmal sagt: Wenn ich nur von dem ganzen Leben nichts mehr wüßte! - Oder er zeigt der ganzen Umgebung einen Miß­mut, und dieses mürrische Wesen wirkt zurück auf seine Gesundheit.

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Es ist außerordentlich wichtig, daß man sich über solche Dinge klar ist, denn es tritt oftmals, beispielsweise in unserem siebenunddreißigsten Jahre, irgend etwas auf, was uns innerlich - ohne äußeren Anlaß -mürrisch macht, verstimmt, melancholisch macht, und das dann auf unsere Gesundheit einen schädigenden Einfluß hat, unser Verdauungs­system zugrunde richtet und dergleichen mehr. Im zwanzigsten Jahr ist vielleicht der Grund dazu gelegt, daß der Eindruck des Astralischen auf den Ätherleib bewirkt worden ist.

So können wir also sagen: Was im Astralleib darin ist, kann nur der Hellseher sehen, was aber im Leben daraus wird, das erlebt der Mensch. Mancher Mensch würde eben nicht mürrisch, mit einer gewissen Halt-und Hilflosigkeit der Seele und mit zerrüttetem Leibessystem herum-gehen, wenn die Menschen sich überlegen würden, daß dasjenige, was nicht gleich als die Folge unserer Handlungen in der sichtbaren Welt wirksam wird, in unseren unsichtbaren Teil hineingeht und dann später sichtbar wird. Ein Mensch, der sagt: Ich will einmal beobachten, ob das, was der Hellseher sagt, richtig ist, kann auf diese Weise wohl ein­sehen und fühlen, daß das wahr ist, was die Hellseher sagen. - Es ist so:

Bei Taten und Handlungen, die wir täglich unternehmen und vor uns nicht rechtfertigen können, haben wir es mit den Folgen zu tun.

Nehmen wir den entgegengesetzten Fall an, daß der Mensch mehr bedenken, sich weitere Gedanken machen kann, als in seine Hand­lungen übergeht. In diesem Fall ist ein jeder Idealist. Er weiß, daß sich Ideale nicht alle verwirklichen lassen, sondern nur ein Teil davon. Wenn wir große Ideen haben, müssen wir zufrieden sein, daß wir nur einen Teil davon ausführen können. Wenn wir imstande sind, uns Gedanken zu machen weit über das hinaus, was uns das Leben ge­stattet, so wirkt auch das zurück auf den astralischen Leib, aber anders, so daß der Mensch ihn mit gesunden Kräften durchsetzt, daß es ihn kraftvoll, innerlich fest und ruhig macht. Wenn zum Beispiel der Mensch um sein zwanzigstes Jahr herum Idealist war und nicht hingehorcht hat auf die Materialisten, wenn er sich Glauben und Ver­trauen zum Idealen bewahrt hat, dann zeigt sich das darin, daß er im späteren Alter nicht durch jeden kleinen Unglücksfall, auch nicht durch Kränklichkeit gleich aus dem Häuschen gerät, daß er fest steht

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und die Dinge mehr an sich vorübergehen läßt, als das bei anderen der Fall ist.

Das also gibt uns Festigkeit und Ruhe, was wir an Gedanken haben, die über das hinausgehen, was uns das Leben an Idealen verwirklichen läßt. Darauf werden schon offiziell Ärzte aufmerksam, aber sie wissen nicht, wie man das real anstellen kann, daß der Mensch in einem recht weiten Ausmaß positive Gedanken haben kann über das, was über das Alltagsleben hinausgeht.

Gewiß gibt es populäre Schriften, die als förderlich für die see­lische Gesundheit angepriesen werden. Darin steht dann, man müsse, um Festigkeit zu haben, innere Ruhe, Gleichmäßigkeit zu haben, mit den Gedanken nicht irrlichtelieren und dergleichen mehr. Für manche sind solche Schriften über die seelische Gesundheit ein ganz guter An­fang. Sehr weit kommt man aber nicht damit, wenn man wirkliche Nahrung für seine Seele haben will. Ganz gut sind solche Schriften von Duboc, Ralph Waldo Trine und so fort, für den Anfang ganz gut. Gegenüber den wirklichen Anforderungen seelischer Gesundheit neh­men sie sich so aus, als ob wir fragen würden: Wie müssen wir in phy­sischer Weise leben, um gesund zu sein? - und darauf die Antwort bekommen: Dann mußt du eine Nahrung zu dir nehmen, die der Ge­sundheit zuträglich ist, eine Nahrung, deren Substanzen in deinen Organismus leicht übergehen können. - Ganz richtig! Aber jeder, der ernsthaft auf die Sache eingehen will, wird fragen: Was ist denn das für eine Nahrung? Nennt mir das doch in genauerer Weise, was ich da zu mir nehmen soll!

Solche Schriften, die sich zur seelischen Gesundheit so verhalten, wie diese Regeln für die physische Gesundheit, mögen für den Anfang ganz gut sein, aber für den weiteren Verlauf des seelischen Suchens ist nicht viel damit zu machen. Dagegen gibt uns die Geisteswissenschaft Gedanken, die in der präzisesten Weise gehalten sind, ganz bestimmte Gedanken, wie sich der Mensch in jedem Zeitalter entwickelt hat, wie er sich in der Gegenwart entwickelt. Das eröffnet sich uns immer mehr aus den theosophischen Weistümern, so daß wir sagen können: Geistes­wissenschaft gibt uns viel Gelegenheit, mit unseren Gedanken weit hinauszugehen über das, was wir verwirklichen können. Daher ist

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Theosophie das, was uns in der Seele zu gefestigten Menschen macht, welche, wenn dies oder jenes in der Umgebung geschieht, was sie aus der Fassung zu bringen droht, aus ihrem Inneren etwas heraufholen können, was ihnen das Gleichgewicht gibt.

Es ist nicht entscheidend, ob etwas, das in unserer Umgebung ge­schieht, an unser Ohr dringt, damit wir gestört werden, sondern es kommt darauf an, ob wir daran Anteil nehmen und dem Vorgang unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Das gilt nicht bloß für Äußerlich­keiten, sondern auch für unsere innere Verfassung, in der wir einmal himmelhoch jauchzend, ein anderes Mal zutode betrübt durch die Welt gehen, wodurch wir unsere moralische und physische Gesundheit unter­graben. Es gibt eine Menge von schmerzhaften Zuständen der Seele, die mit dem Klappern der Mühle verglichen werden können: der Mül­ler, der in der Mühle arbeitet, hört das Klappern nicht mehr. So kann man sich jedem solchen Schmerz, auch dem kleinsten, hingeben, um sozusagen das Klappern seiner eigenen Mühle zu hören, oder man kann seine Aufmerksamkeit abwenden. Man kommt nicht darüber hinweg, wenn man eine leere Seele hat. Das gelingt nur, wenn man einen see­lischen Inhalt hat, aus dem man schöpfen kann.

Nehmen wir ein Beispiel. Von zwei Menschen lebt der eine so: Des Morgens verrichtet er im Büro seine gewöhnliche Arbeit, nachmittags nimmt er sein Schöppchen und pflegt eine kleine Unterhaltung, abends nimmt er noch einmal sein Schöppchen, und dann geht er ins Bett. Ein solcher Mensch wird, wenn irgend etwas vorkommt, was seinen ge­wöhnlichen Lebensgang stört, davon gleich überwältigt werden: er hört das Klappern seiner eigenen Mühle oder seines eigenen Schmerzes. Denn er hat nichts in der Seele, nichts, was er herausholen kann, um das Klappern zu übertönen.

Ein anderer lebt geradeso in seinen Alltagspflichten, nur hat er in sich viele große Gedanken, wie sie uns die Geisteswissenschaft gibt. Die klingen dann aus seinem Inneren heraus, er hört dann das Klappern nicht mehr. Das ist dann nicht so, daß wir uns anstrengen oder lange Zeit verwenden müßten, um es hervorzuholen, sondern ganz von selbst kommt es hervor, dadurch daß wir daran starke Gefühle entwickelt haben. So werden wir unter den Störungen des Lebens weniger leiden

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und immer mehr Trost finden durch das, was sich durch jahrelanges geistiges Streben in der Seele angesammelt hat. Das ist ein Besitz, ein Besitz von besonderer Art, der einzige, den uns niemand nehmen kann. Was wir uns sonst in der Welt erwerben, oder was uns sonst in der Welt zukommt, gehört zu dem, was uns genommen werden kann. Was wir aber für den Geist erwerben, ist der einzige Besitz, der uns nimmer­mehr genommen werden kann.

Man pflegt zu sagen: Der Tod macht alles gleich. - Gewiß, aber ebenso wahr ist, daß sich keine Situation denken läßt, auf die das hier Gesagte nicht in gleicher Weise zuträfe. Da hilft nichts weiter in der Welt, nicht ob man reich ist, ob man der Abkömmling eines reichen Adelsgeschlechtes ist - will man zu diesem geistigen Besitz kommen, so muß man den gleichen Weg machen, ein und denselben Weg machen. Nicht nur der Tod macht alles gleich, es ist das geistige Leben, vor dem alle gleich sind. Das gibt diesem geistigen Leben eine weittragende Bedeutung, denn ihm entquillt etwas, das uns über den täuschenden Sinnenschein emporhebt.

Es mag dagegen jemand einwenden: Mich kann ein Ziegel treffen und ich kann dann ein Krüppel werden, oder ich kann mein Gehirn so verletzen, daß ich idiotisch werde. - Wer aber die Schätze der Theo-sophie sich so zu eigen machen kann, daß er sie in der Seele mit sich trägt, der weiß, daß ein solcher Fall nur ein vorübergehender Zustand ist. Selbst wenn das Gehirn zerbrochen wäre, so wäre das nicht anders, als wenn wir etwas tun wollten und das Instrument zerbricht uns; zum Beispiel als wenn wir einen Nagel einschlagen wollten und der Hammer zerbräche. Da können wir nichts anderes tun, als einen an­deren Hammer nehmen; und so machen wir es mit dem Gehirn auch. Das Bewußtsein kann seine Werkzeuge verlieren, aber in einem neuen Leben können wir sie wieder herstellen, so daß wir uns in unserem Ewigkeitsgefühl nicht stören lassen gegenüber der Unverlierbarkeit dieses geistigen Besitzes. Es handelt sich nicht darum, daß wir etwas wissen, sondern wie es in unser Herz dringt, und es vermag in unser Herz so hineinzudringen, daß wir die Frucht davon behalten und daß es auch über den Verlust dieses Werkzeuges hinwegführt.

Das alles ist ein Zeugnis dafür, daß wir in einer gewissen Beziehung

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sagen können: Es wirkt auf unseren Astralleib, was wir eben charak­terisiert haben. Wie es wirkt, kann nur der Hellseher wissen, aber die Folgen erlebt jeder in seinem alltäglichen Leben. Es wird ein Mensch, der viele Handlungen vollzieht, für die er nicht moralisch einstehen kann, und der dadurch mürrisch wird, in mißlichen Lebenslagen be­sonders leicht dem Schmerz ausgeliefert sein. Kann sich dagegen ein Mensch den gleichen Zwischenfällen gegenüber sagen: Sie sind wenig gegen meine inneren Erlebnisse, die Ideale-, so wird von dieser Gewiß­heit eine gesundende Wirkung ausgehen. Er wird sich dann in allen Fällen an das halten, was als Ewiges in ihm lebt. Wenn in dieser um­fassenden Weise der Geist der Ewigkeit an uns herantritt, wie das in der Theosophie der Fall ist, dann sind wir gesichert für alle Lagen des Lebens.

Nun, meine lieben Freunde, gibt es noch andere Dinge, durch die wir uns wohl überzeugen können, daß das Geistige, das wir aufneh­men, von dem wir uns durchdringen lassen, mit unserem ganzen Lebens-glück, mit unserer Lebenstüchtigkeit im innigen Zusammenhang steht. Wie der Mensch gute Stimmungen haben kann, so kann er auch schlech­ten Stimmungen ausgesetzt sein, die vielleicht durch sein ganzes Leben gehen und ihn niemals froh werden lassen, die das ganze innere Seelen-gefüge beherrschen. Da sagt der Geistesforscher: Solche Stimmungen wirken sich aus in der übersinnlichen Natur des Menschen; im Äther-leib wirken sich solche Stimmungen aus, drücken sich ab auf den phy­sischen Leib und wirken auf das Blut. Dadurch daß eine Stimmung im menschlichen Ätherleib sich auswirkt, wird auf das Blut gewirkt, und die Folge davon ist, daß eine solche Stimmung, die den Menschen nicht froh werden läßt sein ganzes Leben lang, die Blutzirkulation beein­trächtigt, sein Blut schwer macht. Hier haben wir ein solches Beispiel, wo wir sagen können: Die Wirkung dessen, was in der Seele vorgeht, geht in den physischen Leib hinein. Auch der Mensch, der nicht hell­sehend ist, kann das bemerken und kann sich sagen: Ich leide unter meiner Körperlichkeit. Das kommt aus meiner Gesamtstimmung. Könnte ich meine Gesamtstimmung ändern, dann könnte ein heilsamer Einfluß ausgeübt werden auf meine ganze Konstitution.

Man mag nun meinen: es kommt darauf an, daß der Mensch sich

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frei macht vom physischen Leib. Aber es handelt sich nicht darum, daß wir einfach die Forderung aufstellen, er solle erkennen, daß der Körper abhängig ist vom Geiste, sondern um die Realität, daß wir durch die Kraft des Geistes nicht abhängig zu sein brauchen von dem Leibe. Wir werden unabhängig dadurch, daß wir ihn zu einem Instrument unseres Geistes machen.

Nicht der Materialist ist der schlimmste, der an die Lehren des Materialismus glaubt, der da glaubt an die Lehre von «Kraft und Stoff», sondern der ist der schlimmste, der abhängig ist von Kraft und Stoff, so zum Beispiel, wenn er im Winter nur an diesem, im Sommer nur an jenem Orte leben kann, sich ganz vom Stoff abhängig macht, um nicht neurasthenisch zu sein. Darum handelt es sich also nicht bloß, daß man nicht glaubt an diese Lehre von Kraft und Stoff, sondern darum, daß wir unabhängig werden vom Stoff. Was ist das für ein Leben, wenn einer nur im Winter in einer großen Stadt, im Sommer nur auf dem Lande leben kann. Bei einem solchen Menschen hilft das Beten nicht und das Glauben nicht, denn er ist ein Materialist, er ist abhängig von «Kraft und Stoff».

Wenn wir Gedanken, die der geistigen Forschung entstammen, auf uns wirken lassen, zeigt sich uns unser Zusammenhang mit der geistigen Welt. Aber noch etwas anderes sehen wir. Wenn wir recht unglücklich sind, so daß ein anderer nicht fertig werden könnte mit solchem Un­glück, zeigt es sich, daß ein Theosoph damit fertig werden kann. Nehmen wir zum Beispiel an, daß ein Mensch, der achtzehn Jahre alt geworden ist und seinem Vater auf der Tasche gelegen hat, nun erlebt:

der Vater wird bankerott. Da ist er genötigt, zu arbeiten. Das kann er als ein Unglück empfinden. Er wird darüber fünfzig Jahre alt und ist dabei etwas Ordentliches geworden. Da kann er sagen: Gott sei Dank, daß dieses Unglück geschehen ist, sonst würde ich ein Taugenichts ge­worden sein. - Wenn man dann nicht mehr im Unglück steckt, kann man das Unglück als ein Erziehungswerkzeug ansehen. Wir müssen uns sagen können: Wir selbst sind es, die uns durch unser Karma zu diesem Unglück gebracht haben, weil wir es in diesem Leben brauchen zu un­serer Erziehung. Wenigstens wird ein Mensch, der solche Gedanken fassen kann, in unglücklichen Stunden nicht gegen die Weltenlenkung

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murren, sondern deren Weisheit erkennen. Das bereitet uns aber nach und nach Stimmungen, die in ganz anderer Weise wirken als solche, die wir haben, wenn wir uns ganz abhängig von «Kraft und Stoff» fühlen. Jetzt weiß man, daß man abhängt von der geistigen Weltenlenkung. Das teilt sich der Stimmung mit, und dann entzieht man sich durch die Einflüsse auf den Ätherl eib der Abhängigkeit von «Kraft und Stoff». Dann brauchen wir nicht an die Riviera zu gehen, um unsere Stimmung zu erhöhen, sondern unser geistiger Besitz ermöglicht es uns, unsere Werkzeuge so zu gestalten, daß wir vom Äußeren unabhängig sein können.

In den Seelen-Gesundheitsschriften eines Ralph Waldo Trine und anderer findet man nicht, wodurch man diese Stimmung erhält. Hin­eingießen in die Stimmung die Weisheit der Theosophie, das macht uns unabhängig von Stoff und Kraft, das erschließt uns einen Quell, der uns über Raum und Zeit erhebt. Dann entziehen wir uns der Macht der Materie und wirken auf das Instrument unseres Leibes zurück. So eig­nen wir uns nach und nach durch die Geisteswissenschaft Lebens­praxis an. Daran, meine lieben Freunde, glaubt nicht gleich jeder, weil die wenigsten Menschen heute, wo alle so abhängig sind von Stoff und Kraft, angelegt sind, solche Dinge einzusehen. Sie sollten sich durch Erfahrung überzeugen, daß das so ist, denn die Erfahrung wird ihnen immer mehr die Lebensbeweise liefern können. Das ist überhaupt das Ergebnis der Geisteswissenschaft, daß sie in die ganz gewöhnliche äußere Handhabung des Lebens hineinwirkt.

Ich will Ihnen dasjenige, was die Geisteswissenschaft lehrt, durch Beispiele belegen; ich will Ihnen dafür einiges aus den Trivialitäten des Lebens anführen. Wir müssen zum Beispiel dadurch, daß wir jetzt auf dem physischen Plan mit der äußeren Materie leben, in gewissen Fällen die Fähigkeit haben, auch in der äußeren Materie um uns herum überall den Geist wahrzunehmen. Denn Materie ist ja nur ein Trug­bild, Maja, alles ist verdichteter Geist. So daß wir für das gewöhnliche Leben unter den Gegenständen der Materie den Geist zu spüren haben. Wir müssen also zu ihr in ein äußeres Verhältnis kommen können, daß wir gewissermaßen intime Beziehungen einzugehen vermögen mit den Dingen.

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Es gibt Menschen, die sich oft die Hände waschen, und es gibt solche, die waschen sich selten die Hände. Nun, in gewisser Beziehung ist ein gewaltiger Unterschied zwischen den einen und den anderen. Der Mensch ist hinsichtlich seiner verschiedenen Körperteile tatsäch­lich ganz unterschiedlich vom Übersinnlichen durchdrungen. So sind zum Beispiel nicht Brust und Oberschenkel in gleicher Weise vom Ätherleib durchdrungen wie die Hände. Gerade von den Fingern aus gehen mächtige Strahlen des Ätherleibes. Weil das bei den Händen so ist, können wir gerade in den Händen ein wunderbar intimes Verhält­nis zum äußeren Leben entwickeln. Die Menschen, die sich oft die Hände waschen, stehen in feinerer Beziehung zu ihrer Umgebung, sind in feinerer Weise empfänglich für ihre Umgebung, weil durch den im Blut materialisierten Geist die Wirkung ausgeübt wird, daß der Mensch in seinen Händen sensitiver wird.... Dickhäuter in bezug auf die äußere Welt waschen sich nicht oft die Hände. Sehen Sie, wie wenig solche robusten Leute zugänglich sind für die Eigentümlichkeiten ihrer Mitmenschen, während die, welche sich öfter die Hände waschen, geistig in ein intimeres Verhältnis zur Umwelt treten. Würde ein Mensch versuchen, an einer anderen Stelle dasselbe bewirken zu wol­len, zum Beispiel an den Schultern, so würde sich zeigen, daß er, wenn er diese auch so viel waschen würde, neurasthenisch werden würde. Was den Händen gesund ist, ist den Schultern nicht gesund. Der Mensch ist so organisiert, daß er dieses intime Verhältnis zur Umwelt durch die Hände einzugehen vermag.

Es würde auch abträglich wirken, wenn der Mensch geneigt wäre, sich genau so oft das Gesicht zu waschen. Das Gesicht so behandeln, würde auf die Gesundheit nicht fördernd wirken. Bei anderen Teilen des menschlichen Leibes liegt die Sache ganz anders. Menschen, die nicht durch die Geisteswissenschaft ordentlich geschult sind, materia­listisch denkende Ärzte beispielsweise, merken den Unterschied nicht und empfehlen den Kindern kalte Abwaschungen; fanatisch werden solche Dinge betrieben. Man dürfte wissen, daß mit nichts mehr Unfug getrieben wird! Das ist die Grundlage zu sehr viel Neurasthenie, daß man in solch abstruser Weise seine Gesundheit beeinträchtigt. Die Hände vertragen das, der übrige Körper wird dadurch für das Materielle

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empfänglich. Da sehen Sie die Wirkung des Materialismus. Ich spreche hier von der Regel. Da, wo es sich um eine vorübergehende Kur handelt, liegt die Sache anders.

Nicht nur die kleinsten Kinder suchen sie abzuwaschen in systema­tischer Weise - jeden Morgen werden sie gequält -, es beschränken sich die Menschen nicht darauf. Sie laufen in der Sonne herum, um Licht-bäder zu nehmen, um im ganzen das Materielle der äußeren Welt auf sich wirken zu lassen. Wir sollten froh sein, daß wir imstande sind, vom inneren Zentrum nach außen wirken zu können und sollten uns nicht immer abhängiger und abhängiger machen von dem Materiellen. Dieses Sich-Aussetzen mit allen Teilen ist das gleiche, wie wenn der Müller alles tun würde, um das Klappern seiner Mühle ständig zu hören, und nicht zufrieden sein wollte, daß er es nicht mehr hört. Aus-zunehmen sind natürlich wieder die Fälle, wo es sich um eine vorüber­gehende Kur handelt. Wenn das in der Jugend betrieben wird, dann wird der Mensch dadurch geeignet gemacht, jeden geringsten Einfluß in seinem Organismus wirken zu lassen. Er härtet sich ab, das heißt, er härtet sich in einer Weise ab, daß er schließlich ganz «abgehärtet» ist und keine äußeren Einflüsse mehr empfindet.

Derartige Einsichten entspringen nicht einfach nur der gewöhn­lichen Lebenspraxis - das ist ja nicht möglich -, sondern das kann man erst beurteilen, wenn man den ganzen Menschen kennt. Und daß der Mensch ein kompliziertes Wesen ist, und daß in bezug auf seine einzel­nen Glieder die verschiedensten Verhältnisse bestehen zwischen dem physischen, Äther- und Astralleib und so weiter, das können Sie aus sehr einfachen Dingen entnehmen. Heute hat es Ihnen vielleicht etwas spaßhaft geschienen, was im Zusammenhang damit gesagt wurde, daß der Mensch mit seinem Astral- und Ätherleib in ganz besonderer Be­ziehung steht zum physischen Leib. Auf der anderen Seite haben Sie vielleicht gehört, daß die Entfernung oder Krankheit eines bestimmten Organes den Menschen einem Zustand nahebringt, welcher sich wie Idiotismus ausnimmt. Wenn man nun aber den Schilddrüsensaft zum Beispiel vom Schaf einem solchen Menschen eingibt, so wird er wieder aus einem Idioten zu einem denkenden Menschen. Das ist eine be­kannte Tatsache. Richtig beurteilt werden diese Tatsachen erst von der

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Geisteswissenschaft. Denn, warum ist das so? Ja, sehen Sie, das ist des­halb so, weil nicht nur in der Schilddrüse, sondern auch in der weit größeren Zahl der Drüsenorgane Werkzeuge gegeben sind, die aus dem Ätherleib auferbaut sind. Wir brauchen unsere Werkzeuge in der phy­sischen Welt, um etwas anzufangen. Wie wir einen Hammer brauchen, um einen Nagel einzuschlagen, so brauchen wir die Werkzeuge, wozu sie uns gegeben sind. Wenn sie herausgenommen sind, so haben wir das Werkzeug nicht mehr. Das ist aber kein Beweis, daß das Vermögen genommen ist, ihre Wirkung zu ersetzen. Aber wir müssen wissen, daß auch eine solche Wirkung nur dann möglich ist, wenn der Ätherleib in Funktion tritt.

Bei denjenigen Organen, die in Beziehung zum Astralleib stehen, kann nicht in Betracht kommen, daß wir durch Ersatz des Sekretes irgend etwas an den Organen ändern. Ich habe gesehen, daß Leute, die ein defektes Hirn hatten, Schafgehirne oder dergleichen gegessen haben ohne Hebung des Verstandes, weil das Gehirn ein Organ ist, das zum Astralleib in Beziehung steht. Da sehen wir, wie die Geisteswissenschaft hineinleuchtet auch in diese Dinge. Man kann den Menschen nicht ver­stehen, wenn man nicht eingehen kann auf diese höheren, übersinn­lichen Glieder der Menschen, und man weiß dann im Grunde über­haupt nicht, was in Betracht kommt.

Wenn Sie heute medizinische Bücher lesen, wird das so geschildert, als wenn der Mensch seinen Verstand verliert durch die Krankheit oder das Fehlen der Schilddrüse. Nein, er verliert nur die Anteilnahme, das Interesse, er wird stumpf und wendet seinen Verstand nicht an. Man wird nicht dadurch dumm, daß man nicht denken kann. Wenn man kein Interesse hat, bleibt der Verstand doch intakt. Was verlorengeht, ist der lebendige Anteil, den der Mensch nimmt an den Dingen, das Interesse, die Aufmerksamkeit auf die Dinge zu lenken. Derjenige, der kein Interesse hat, lenkt auf nichts seine Aufmerksamkeit, weil ihm das Werkzeug fehlt. Wir geben ihm nicht Verstand mit der Schilddrüse, sondern wir geben ihm ein Werkzeug, um lebendigen Anteil zu nehmen an den Dingen der Welt. Man beurteilt den Menschen ganz falsch, wenn man gar nichts weiß von der übersinnlichen Welt, und ein großer Teil von dem, was gelehrt wird in unseren wissenschaftlichen und

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populären Büchern, steht auf diesem Niveau. Wenn Sie lesen, daß der Mensch durch Verlust der Thyreoiden ein Tor und durch Aufessen von Thyreoidin gescheiter werde, so ist das nicht wahr. Wahr ist, daß seine Aufmerksamkeit geweckt wird. Überall kann an den Folgen eingesehen werden: das, was aus hellseherischer Forschung gesagt wird, ist nicht phantastisch. Wenn auch nicht ein jeder es sehen kann, belegen kann man, daß das da ist, was die Hellseher sehen. Es ist überall da. Ich empfehle Ihnen immer wiederum und wiederum an den Satz zu den­ken: Wenn man an sich nicht einsehen kann, was an hellseherischer Forschung ergründet wird, in der Welt kann man es erleben. - So kann man sich in mittelbarer Weise Beweise verschaffen für das, was geistes-wissenschaftlich mitgeteilt wird.

Nun habe ich Ihnen manches gesagt über die Art und Weise, wie der menschliche Astralleib in bezug auf das Leben seinen Einfluß zeigen kann. Ich habe Ihnen gesagt, wie sich der Ätherleib auf das Leben aus­wirkt. Ich möchte auch jetzt in bezug auf das Ich einiges sagen, woraus Sie die Brücke schlagen können von der theosophischen Theorie zur Lebensrealität. Sie kennen alle die weitverbreitete Erscheinung im Le­ben, welche mit zwei Worten bezeichnet wird, weil sie in zweierlei Weise sich äußert: Tränen vergießen und traurig sein.

Was bedeutet es im menschlichen Leben, eine von außen verursachte Traurigkeit zu empfinden, die sich physisch in Tränen äußert, oder ein inneres Seelenerlebnis zu haben, das sich ebenfalls in Tränen äußert? Der Mensch hat etwas in sich, wodurch er nicht bloß dasjenige erleben kann, was er in seinem eigenen Leibe hat, sondern schon im gewöhn­lichen, normalen Bewußtsein das miterleben, mitfühlen kann, was in seiner Umgebung vorgeht. Wir stecken dann mit darin in unserer Um­gebung, wenn wir traurig sind über diesen oder jenen Verlust, zum Weinen traurig. Was beweist das? Daß wir in uns selber hineinnehmen können, was in unserer Umgebung lebt, und es recht in uns selber im Herzen tragen können. Es bedeutet, daß wir in uns ein Ich haben, das mit unserer ganzen Umwelt in einer geheimnisvoll magischen Verbin­dung steht. Durch diesen magischen Zusammenhang der Menschen mit dem, was nicht in ihnen selber lebt, wird ein Zusammenhang mit dem Äußeren erlebt.

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In zweifacher Weise kann das Ich in sich sein: Erstens auf egoisti­sche Weise; dann kommt es insbesondere darauf hinaus, daß wir uns durch Tränen Erleichterung verschaffen gegenüber dem Schmerz. Weil wir keinen [wahren] Anteil haben wollen. Zweitens kann aber die Traurigkeit auch voll berechtigt sein, weil wir etwas, was in unserer Umgebung lebt, in uns selber hineingießen. Darum bedeuten Tränen am meisten beim Menschen, wenn er traurig sein kann über Dinge, die ihn persönlich möglichst wenig angehen. Es gibt Menschen, die weinen aus bloßem Egoismus, weil sie nicht ertragen können, was in ihrem Leben vorgeht, oder ihren eigenen Verlust nicht tragen können. Wohl, es gibt auch Menschen, die über Dinge weinen, die sie nichts angehen, so daß die Welt sagt: der heult wie ein Schloßhund über eine Stelle in einem Roman oder in einem Drama. Und diese Möglichkeit kann bei ihm einen gewissen Glanz erzeugen, der von seiner Trauer auch auf alle anderen Tränen und andere Traurigkeit ausgehen mag, denn um so größer ist unsere Traurigkeit, je mehr wir über alles andere gerührt werden. Und in seiner Trauer wird der Mensch in gewissem Sinne doch auf unegoistische Weise zu seinem Ich geführt. Was kein Ich hat, kann nicht weinen und nicht traurig sein. Die Behauptung, daß auch Tiere weinen, ist daher im Grunde barer Unsinn. Richtig ist vielmehr, daß die Tiere nicht weinen und nicht traurig sein können wie der Mensch. Traurig scheint der Hund nur, weil ihm nicht alles das zufließt, was er bekam, als der Herr noch da war. Recht haben die Psychologen, welche sagen: Tiere können nur heulen, Menschen aber können weinen. -Denn das Weinen und die Traurigkeit kann der stärkste Beweis dafür sein, daß die Ich-Vertiefung in uns selber ist und daß wir dadurch mit dem, was um uns ist, in Zusammenhang kommen. Daher geschieht eine Verdichtung unseres Ich, was dann in Tränen herauskommt. Weil das so ist, können wir sagen: Im Grunde genommen ist Weinen und Tränen etwas, was mit dem innersten Wesen der Menschennatur zu­sammenhängt.

Wenn der Mensch seinen inneren Halt wiederfindet, dann kann er diesen Zustand am besten dadurch zum Ausdruck bringen, daß das in Tränen übergeht. So sind aus dem Tiefsten heraus gesprochen die Worte im «Faust», nachdem Faust vom Selbstmord zurückkommt und den

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Giftbecher vom Munde nimmt: «Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!» Das Ich spricht in diesem Augenblick. Das drückt sich aus in diesem Wort: Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.

Daher hängt das mit dem innersten Wesen des Menschen zusammen, was wir in Trauer mit unserer Umgebung miterleben. Und was mit dem innersten Wesen zusammenhängt, fordert, daß es der Mensch mit rich­tigem Ernste nimmt und daß wir über das Elend in unserer Umgebung traurig werden können, allerdings niemals durch das bloß vorgestellte Elend. Alle die Dramen, die das Elend lediglich auf die Bühne bringen, können nur unnatürliche Seelenregungen hervorbringen. Alles unwirk­liche Elend auf der Bühne können wir mit unserer Menschenwürdigkeit nur dann verbinden, wenn der Sinn damit verbunden ist, daß der Held, auch wenn er fällt, als Sieger hervorgeht. Die Dramen, die das Elend darstellen, können wir nur ertragen, wenn wir den Sieg des Guten sehen. Dann hat es ein Recht auf unsere Traurigkeit und unsere Tränen, weil es so recht in unser Inneres hineinversenkt die Trauer der Wirk­lichkeit gegenüber.

Ganz anders ist es in bezug auf ein anderes Erlebnis unseres Ich, das wir mit vielen Namen bezeichnen können. Was im Lachen, Lustigkeit, Freudehaben, vielleicht sogar im Witze sich ausdrückt -, in dem Anteil an dem Komischen ist die Sache umgekehrt. Über einen Toren in Wirk­lichkeit zu lachen ist unmenschlich, über das vorgestellte Törichte zu lachen, ist eigentlich unendlich befreiend. Die Torheit soll man erleben, weil sie gesundend wirkt - selbst im Zirkus kann man dieses gute see­lische Heilmittel erleben -, denn es ist wiederum ein Finden des eigenen Ich. Wenn wir imstande sind zu lachen, so erheben wir uns über die Situation. Da werden wir gewahr unseres eigenen inneren Wertes, dadurch erheben wir uns. Etwas ungeheuer Gesundendes liegt in den burlesken Scherzen des Kasperletheaters bis zu den Komikern, die alle möglichen Torheiten begehen, in alle möglichen Widersprüche sich ver­wickeln, während Lachen über Torheit, wenn sie wirklich ist, den Un­menschen verrät.

Merkwürdig zeigt sich das Ich in seinem gesunden Verhältnis zur Umwelt. Dem Elend gegenüber sind wir zum Weinen gestimmt, dem wirklichen, nicht dem dargestellten gegenüber. Umgekehrt beim Lachen

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und beim Scherzen. Da sind wir Unmenschen, wenn wir über die Tor­heiten, die als Natureigenschaften in einem Menschen sitzen, lachen. Aber sie sind gesund und arbeiten an der gesunden Menschenerziehung, wenn wir an dem dargestellten Burlesken und Komischen unsere Freude haben können. Denn das weist auf das gesunde Ich in uns hin.

Da sehen Sie, wie auch das Gesundende in der Umwelt verstanden werden kann, wenn wir bemerken, daß wir auch ein Ich haben. Nun fragen wir: Zeigt sich das in unserer materialistischen Menschheit auch im Verhältnis zur Kunst? Ja, es zeigt sich sehr charakteristisch und eigentlich. Wenn die Menschen wirklich dem gegenüberstehen würden, was zum Beispiel in Hauptmanns oder Sudermanns Dramen dargestellt wird, wie viele würden da ohnmächtig werden! In der Darstellung können sie das gleiche ertragen, das sie im Leben in Traurigkeit ver­setzen und zum Eingreifen bewegen müßte. Das ist auf der Bühne nicht möglich. Woher kommt eine solche Verkehrung der Tatsachen? Daher, weil in unserem materialistischen Zeitalter die Menschen am meisten in der Peripherie leben, wo das Ich sich nicht bewahrheitet. In der Tat kann uns am meisten zur Traurigkeit stimmen, was als das Furcht­barste in der Weltenentwickelung in dem Mysterium von Golgatha geschehen ist, im Leiden, in der ganzen Tragik des Christus Jesus. Und da können wir am meisten zum Frohlocken gestimmt sein, wo der Sieg, der unmittelbar für die Reiche der Ewigkeit dargestellte Sieg des Le­bens über den Tod errungen ist in der Auferstehung. Kein anderer Sieg existiert, wo sich höchstes Halleluja so vereint mit tiefster Traurigkeit, alles Leid in dem Tod auf Golgatha und alle Herrlichkeit der Osterzeit in der Auferstehung - es gibt kein anderes Ereignis, in dem beide, tiefste Traurigkeit und höchstes Frohlocken, so zum Ausdruck kommen.

Daher gibt es keine tiefere Weisheit als diejenige, die Paulus im Hin­blick auf dieses Geschehen verkündet hat: Nicht ich, sondern der Chri­stus in mir! - Da sehen wir, wie wir den richtigen Schwerpunkt finden, um das Ich in uns so fest als möglich zu machen, indem sich das Ich durchdringt mit dem, was die Christus-Offenbarung ist. Indem die Theosophie sich durchchristet, dringt das auch hinein in unser Ich, um uns so die größtmöglichste Lebenssicherheit zu geben, die größte Le­bensstärkung. Denn nur durch das Verständnis des Christus, wie wir es

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durch die Geisteswissenschaft erlangen, bekommen wir in uns den rich­tigen Schwerpunkt.

Wenn also die Theosophie so wirken soll, wie Sie das auch angedeu­tet finden in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß», dann wird der Versuch gemacht, etwas zu geben, was in den Menschen eine solche Festigkeit hineingießen kann, wie in dem Spruch liegt: Nicht ich, son­dern Christus in mir! -, durch den immer mehr der Mensch verwandelt werden kann, so daß in uns jenes Ewigkeitsbewußtsein aufquellen kann, von dem wir sagen können: Was in uns aufgenommen werden kann, kann uns nicht genommen werden.

Dann empfinden wir ein solches Wort wie das, welches Iohann Gottlieb Fichte, der große Erkenner der Theosophie, ausgesprochen hat, fühlen das, was es heißt, was er etwa sagt: Wenn ich fühle und begreife meinen Zusammenhang mit dem Ewigen - und nichts kann uns diesen Zusammenhang mehr vermitteln als die Theosophie -, wenn ich fühle und begreife meinen Zusammenhang mit dem Ewigen - so sagt es Johann Gottlieb Fichte - und wenn wir ebenfalls diesen Zusammen­hang begreifen, stehen auch wir da auf der Erde und sagen mit ihm:

Ich schaue zu euch, ihr Felsen, und zu euch, Berge; stürzet hernieder und begrabet meinen Leib bis auf das letzte Sonnenstäubchen und ver­nichtet alles, was meine physischen Werkzeuge sind - und ich trotze euch, denn ihr seid nicht ewig; ich aber hänge mit dem Ewigen zu­sammen, bin ewig!

So spricht der Mensch, der den Wert der Weisheit des Ewigen be­greift. So redet der Mensch, welcher Theosophie in sich aufnimmt, zu seiner leiblichen, astralischen, ätherischen Gesamtheit, zur Erhöhung seines Daseins, zu seiner Einverleibung in die geistigen Welten, von denen er nur wissen muß, daß er Geist von ihrem Geiste ist. Denn der Mensch ist nicht nur Fleisch vom Fleisch, sondern ist Geist vom Ewig­keitsgeist.

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OSSIAN UND DIE FINGALSHÖHLE Berlin, 3. März 1911

Ansprache nach einer Aufführung der «Hebriden-Ouvertüre» von Mendelssohn

Wir sind eben durch die Klänge dieser Ouvertüre geistig an Schottlands Küste herangeführt worden und haben damit in der Seele einen Zug vollzogen, einen Weg betreten, der im Laufe der Entwickelung der Menschheit von den Geheimnissen des Karma stark berührt wurde. Denn aus ganz anderen Gebieten unserer westlichen Erde wurden einst­mals in die Nähe jener Gegenden, zu denen diese Töne uns hingeleitet haben, und in diese Gegenden selber, gewissermaßen wie durch einen karmischen Zug, Völker verpflanzt. Und geheimnisvolle Schicksale werden uns gemeldet. Gemeldet wird uns - sowohl durch das, was der Okkultismus enthüllt, wie auch durch äußere Dokumente der Ge­schichte - von dem, was diese Völker in weit zurückliegender Vorzeit auf diesem Boden erlebt haben.

Eine Erinnerung an die geheimnisvollen Schicksale jener Menschen wurde, wie in neuer Erweckung, gleichsam wieder wach, als man um 1772 herum ansichtig wurde jener Höhle auf der Insel Staffa, die zu den Hebriden gehört: der Fingalshöhle Erinnert wurde man an ge­heimnisvolle Schicksale der Vorzeit, als man sah, wie die Natur selber auferbaut zu haben scheint etwas, was geschildert wird wie ein wunderbarer Dom. In langen Reihen, aufgerichtet mit großer Regelmäßigkeit, hochaufragende, unzählige Säulen, darüber gewölbt aus demselben Steinwerk eine Decke, unten die Füße der Säulen umspült von dem hineinströmenden, brandenden Meere, das in donnerartiger Musik fortwährend innerhalb dieses Domes wogt und wallt. Von Steingebil­den herabtropfend Wasser, das fortwährend auf die Tropfsteinstümpfe in melodischer, zauberischer Musik aufschlägt. So etwas ist dort vor­handen. Und es mußten jene, die - das auffindend - Sinn hatten für das Geheimnisvolle, das sich auf dem Boden dort einst abgespielt hat, erinnert werden an den Helden, der einstmals als eine der berühmten Individualitäten des Westens hier in ganz eindeutiger Weise Schicksale gelenkt hat, und dessen Taten besungen wurden von seinem Sohne, dem

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blinden Ossian, der wie ein westlicher Homer erscheint: ein blinder Sänger.

Wenn wir zurückblicken auf den Eindruck, den die Kunde hievon auf die Menschen machte, können wir verstehen, daß die Wieder­belebung dieser Gesänge durch Macpherson im 18. Jahrhundert einen mächtigen Eindruck auf Europa machte. Nichts läßt sich mit diesem Eindruck vergleichen. Es horchten auf: Goethe, Herder, Napoleon, und alle glaubten, in diesen Klängen etwas zu vernehmen von dem Zauber uralter Tage. Man muß verstehen, daß eine in den Herzen aufsteigende Geisteswelt, wie sie damals noch vorhanden war, sich hingezogen fühlen konnte zu dem, was da herausklang! Was war es denn?

Wir müssen einen Blick werfen auf die Zeiten, die zusammenfallen mit den ersten Impulsen des Christentums und dem ersten Jahrhunderte nachher. Was geschah da oben in den Hebriden herum, in Irland, Schottland, im alten Erin, das alle die benachbarten Inseln zwischen Irland und Schottland und die nördlichen Teile Schottlands umfaßte? Da haben wir den Kern jener Völker keltischer Abstammung zu suchen, die am meisten altes atlantisches Hellsehen in voller Ursprünglichkeit bewahrt hatten. Die anderen, die nach Osten gewandert waren, hatten sich weiter entwickelt, waren nicht mehr in dem Zusammenhang mit den alten Göttern. Ganz in Persönlichkeit, in Individualität getaucht, haben sich die Möglichkeit des alten Sehertums jene Menschen bewahrt. Menschen, die wie zu einer besonderen Mission nach diesem Boden gelenkt wurden, wo ihnen ein Gebilde entgegentrat - spiegelnd ihr eigenes musikalisches Innere und ganz aus der geistigen Welt selber architektonisch geformt: das, was ich mit einigen Worten eben zu charakterisieren versuchte: die Fingalshöhle Richtig stellt man sich den Vorgang vor, wenn man sich denkt, daß die Höhle gleich einem Zentrum wirkte, widerspiegelnd, was in den Seelen dieser Menschen lebte, die durch ihr Karma hierher getrieben waren wie zu einem Tem­pel, von den Göttern selber aufgebaut. Hier wurden die Menschen vor­bereitet, welche den Christus-Impuls mit voller Menschlichkeit erst später empfangen sollten, und die hier als Vorbereitung etwas höchst Eigentümliches durchmachen sollten.

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Das können wir uns vorstellen, wenn wir bedenken, daß hier gerade jene alte Institution der Völker bewahrt war, durch welche die Stämme geteilt wurden in kleine, familienhafte Zusammenhänge. Was bluts-verwandt war, fühlte sich zusammengehörend, alles andere wurde als fremd, als einem anderen Gruppen-Ich angehörend empfunden. Und wie ein Harmonisierendes ergoß sich über diese einzelnen Gruppen das, was - als der Völkerzug aus der Atlantis nach Osten stattfand - im Westen zurückgebliebene Druidenpriester den Menschen geben konn­ten. Was sie geben konnten, lebte noch in den Barden. Aber was durch diese Barden wirkte, stellen wir uns nur richtig vor, wenn wir uns klarmachen, daß elementarste Leidenschaften zusammentrafen mit der alten Kraft des Hineinschauens in die geistige Welt, und daß die Men­schen, welche als Vertreter ihrer Gruppen gegen andere Gruppen lebensstark, zuweilen wütend und leidenschaftlich kämpften, sahen, wie aus der geistigen Welt heraus Impulse wirkten, die sie in den Kämpfen leiteten. So etwas Zusammenwirkendes von Physischem und Seelischem ist heute gar nicht mehr vorzustellen. Wenn der Held sein Schwert erhob, glaubte er, daß ein Geist aus den Lüften ihn lenke, und in diesem Geist sah er einen Ahnen, der früher schon auf diesem Felde gekämpft hatte und hinaufgegangen war, um von dort aus nun mit­zuwirken. In ihren Schlachtreihen fühlten sie ihre Ahnen wirken, ihre Ahnen von beiden Seiten, und fühlten sie nicht nur, hörten sie auch hellhörend! Das war eine wunderbare Vorstellung, die in diesen Völ­kern lebte: daß die Helden zu kämpfen hatten auf dem Schlachtfelde, ihr Blut zu vergießen hatten, daß sie aber nach dem Tode hinauf­steigen in die geistige Welt, und daß dann ihr Geist als Ton dahin-vibriert, die Luft als Geistiges durchtönt.

Und jene dann, die zwar vertraut waren mit den Kämpfen, aber vorzugsweise sich dahin entwickelten, hinzuhören auf das, was aus den Lüften heraustönte als die Stimme der Vorzeit, die blind wurden für die physische Welt, die nicht mehr sehen konnten das Blitzen der Schwerter, blind waren für den physischen Plan: sie wurden hoch ver­ehrt. Und einer von diesen war eben Ossian. Und indem die Helden ihre Schwerter schwangen, waren sie sich bewußt, daß ihre Taten fort-klingen werden in der geistigen Welt, und daß sich Barden finden werden,

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die das in ihren Liedern bewahren werden. Das war lebensvolle Anschauung bei jenen Völkern.

Das gibt aber auch eine ganz andere Anschauung vom Menschen-tum überhaupt. Das gibt die Anschauung, daß der Mensch verbunden ist mit den geistigen Mächten, die aus der ganzen Natur heraus tönen. Man kann nicht einen Sturm oder den Blitz sehen, kann nicht den Donner hören, das Tosen des Meeres, ohne zu ahnen, daß aus allem Naturwirken heraus Geister wirken, die im Bunde sind mit den Seelen der Vorzeit, mit den Seelen der eigenen Ahnen. Da wird das, was Naturwirken ist, noch etwas ganz anderes. Daher waren eben jene Klänge so bedeutsam, die nun wieder herübertönten und, früher nur in Überlieferung lebend, aufgefrischt wurden durch den Schotten Mac­pherson, so daß sie ein Bewußtsein geben von dem Zusammenhang der Menschen mit den Seelen der Ahnen und mit den Naturerscheinungen.

Man kann verstehen, daß jener Schotte doch in gewisser Weise kon­genial empfunden hat, wenn er schildert, wie dahinstürmt eine Schlacht­reihe, Finsternis vor sich hertreibend, gleich den Geistern, die in die Schlacht ziehen. Es ist in der Tat etwas, was einen großen Eindruck auf das geistige Europa machen konnte. Und die ganze Art der Darstel­lung, wenn auch in etwas freier Dichtung gegeben, weckt in uns das Gefühl für die Anschauung, die in jenen alten Völkern lebte. In ihnen lebte ein lebendiges Wissen, eine lebendige Weisheit von dem Zusam­menhang mit der Geisterwelt und der natürlichen Welt, in welcher die Geisterwelt wirkt.

Aus einer solchen Weisheit heraus wurden die besten Söhne der ver­schiedenen Stämme - das heißt jene, die am meisten den Zusammen­hang hatten mit den Geistern der Vorzeit, die am meisten die Geister der Vorzeit in ihren Taten leben ließen - auserwählt zu einer aus­erlesenen Schar. Und wer die stärksten hellseherischen Kräfte hatte, wurde an die Spitze gestellt. Diese Schar hatte das Kernvolk der Kel­ten gegen die Völker der Umwelt zu verteidigen. Einer von diesen Anführern war der hellseherische Held, dessen Kunde zu uns ge­kommen ist unter dem Namen des Fingal. Wie dieser Fingal in der Verteidigung der alten Götter wirkte gegen die, die sie gefährden woll­ten, das haben alte Lieder, wie sie aus der geistigen Welt heraus gehört

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wurden, alte Lieder des Barden Ossian, seines Sohnes, weitererklingen lassen, sodaß das lebendig blieb bis ins 16., 17. Jahrhundert hinein. Was Fingal vollbracht hat, was sein Sohn Ossian gehört hat, als Fingal auf­gestiegen war in das Geisterreich, was dann die Nachgeborenen aus den Tönen Ossians heraus immer zu ihren Taten beseelen sollte, das war es, was so mächtig noch im 18.Jahrhundert wirkte. Und wir bekommen eine Vorstellung davon, wenn wir vernehmen, wie Ossian in seinen Gesängen seines Vaters Fingal Stimme erschallen läßt. In schwieriger Lage befinden sich die Helden, sie sind fast geschlagen - da kommt neues Leben in die Scharen.

«Der König stand bei dem Stein von Lübar; dreimal erhob er seine schreckliche Stimme. Der Hirsch schrak auf bei den Quellen von Cromla, die Felsen erbebten auf all ihren Bergen. Gleich dem Tosen von hundert Bergströmen, welche hervorbrechen und brausen und schäumen, gleich den Wolken, welche sich sammeln zu einem Gewitter auf dem blauen Antlitz des Himmels, so traf die Söhne der Wildnis rings umher die schreckliche Stimme Fingals. Angenehm war die Stimme des Königs von Morven den Kriegern seines Landes. Oft hatte er sie geführt zur Schlacht, oft kehrte er zurück mit der Beute des Fein­des. , sagte der König,

Jetzt, gleich einer düstern stürmischen Wolke, eingefaßt rings von den roten Blitzen des Himmels, westwärts fliehend vor dem Strahl des Morgens, entfernte sich der König von Selma. Schrecklich ist der Glanz seiner Rüstung. Zwei Speere waren in seiner Hand, sein graues Haar flatterte im Winde. Er blickt oft zurück in die Schlacht. Drei Barden

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begleiten den Sohn des Ruhmes, zu tragen seine Worte zu den Häupt­lingen. Hoch an Cromlas Abhang er saß, winkend mit dein Blitze sei­nes Schwertes. Und wie er winkte, setzten wir uns in Bewegung...

Fingal plötzlich erhob sich in Waffen. Dreimal erscholl seine schreck­liche Stimme, Cromla antwortete ringsum. Die Söhne der Wildnis stan­den still; sie beugten ihre erregten Gesichter zur Erde, beschämt durch die Gegenwart des Königs. Er kam gleich einer Wolke des Regens an dem Tag der Sonne, wenn sie niedrig über den Hügel zieht und die Fel­der erwarten den Schauer. Stille begleitete ihren langsamen Gang, aber der Sturm ist bereit, sich zu erheben. Swaran sah den schrecklichen König von Morven. Er hielt in der Mitte seines Laufes. Finster lehnte er sich an seinen Speer, rollend sein rotes Auge ringsumher. Schweigend und hoch glich er einer Eiche auf dem Ufer von Lübar, die ihre Äste hat verbrannt vor Alters durch den Blitz des Himmels; sie beugt sich über den Strom, das graue Moos flüstert im Winde. So stand der König. Dann wandte er sich langsam zurück zu der ansteigenden Heide von Lena. Seine Tausende ergossen sich um den Helden. Dunkelheit sam­melt sich auf dem Hügel.

Fingal, gleich einem Strahl vom Himmel, schien in der Mitte seines Volkes. Seine Helden versammelten sich um ihn. Er entsandte die Stimme seiner Macht. - Wir erhoben den Sonnenstrahl der Schlacht, die Fahne des Königs. Jeder Held frohlockte in Freude, als sie wogend im Winde flatterte; sie war oben mit Gold verziert, wie die weite blaue Schale des nächtlichen Himmels. Jeder Held hatte seine eigene Fahne dazu, und jeder seine düsteren Mannen.»

So stürmte Fingal in die Schlacht, so wird er geschildert von seinem Sohne Ossian.

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Kein Wunder, daß dieses Leben, dieses Bewußtsein von dem Zu­sammenhang mit der geistigen Welt, das sich hineinsenkt in die Seelen dieser Leute, in die Seelen der alten Kelten, die beste Vorbereitung ist, das persönliche göttliche Element dann in ihrer Art von ihrem Boden aus über das Abendland zu verbreiten. Denn das, was sie in Leiden­schaft erlebt hatten, was sie gehört haben, ausklingend in Melodien der geistigen Welt, bereitete sie vor für jene Zeit, da sie Söhne hervor-brachten, welche später jene Leidenschaften geläutert und gemildert in der Seele zeigten, so daß wir sagen können: Es ist uns, als wenn Erins beste Söhne wieder vernehmen würden die Klänge ihrer alten Barden, die diese einstmals aus der geistigen Welt heraus als die Taten der Vor­fahren gehört haben, aber wie wenn sich in Erins besten Söhnen die alten Schlachtklänge nun auch geformt und geklärt hätten und ge­worden wären zum Worte, welches ausdrücken sollte der Menschheit größten Impuls.

Das klang aus alten Zeiten in Gesängen heraus von den Taten der alten Kelten, die in gewaltigen Schlachten so manches ausgekämpft hatten, um sich vorzubereiten für weitere Taten des geistigen Lebens, wie wir sie wieder erkennen in dem, was des Abendlandes beste Söhne geleistet haben. Das waren die Impulse, die dann in die Seelen der Men­schen des 18. Jahrhunderts hineinflossen, als jene alten Gesänge er­neuert wurden. Das war es, woran sich diejenigen erinnerten, die das wunderbare Münster wieder sahen, das wie von der Natur selber gebaut war und sie sagen ließ: Hier ist eine Stätte vom Karma gewirkt, damit das, was die Barden zu singen hatten von den Taten der Ahnen, von dem, was die Helden zu tun hatten zur Stählung ihrer Kräfte, in einem Echo ihnen widerklinge aus dem Dome, den sie nicht selbst zu bauen brauchten, aus ihrem heiligen Tempel, der ihnen hingebaut wurde von den Geistern der Natur, und der ein Mittel der Begeisterung sein konnte für jene, die ihn sahen.

So können uns die Klänge der Ouvertüre eine Veranlassung geben, auch in unserer Weise wenigstens etwas ahnen zu lassen von den tiefen geheimnisvollen Zusammenhängen, welche denn doch walten in der Geschichte der Menschen, die unserer Zeit vorausgegangen sind fast auf demselben Boden, auf dem wir weiterleben. Und da wir uns vertiefen

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müssen in das, was in uns lebt, und da das, was in uns lebt, nur ein Fortklingen ist dessen, was in der Vorzeit da war, ist jene Ahnung von dem, was einst war und weiter wirkt in der Menschheit, von größter Bedeutung für das okkulte Leben.

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DIE BEDEUTUNG DER GEISTESFORSCHUNG FÜR DAS SITTLICHE HANDELN Bielefeld, 6. März 1911

Oftmals wirft man der Theosophie vor, daß sie im Grunde genommen nicht direkt hinarbeitet auf das moralische Gebiet, ja, daß sie durch manche ihrer Lehren in gewisser Beziehung nicht nur dem Egoismus nicht entgegen, sondern daß sie für den Egoismus arbeite. Die Men­schen, die solches meinen, haben folgende Gedanken. Sie sagen: Theo-sophie zeige, wie der Mensch von Leben zu Leben sein Dasein ent­wickelt, und die Hauptsache dabei ist, wenn auch Rückschläge kom­men, daß der Mensch die Möglichkeit habe, immer höher und höher zu steigen, daß er immer mehr dasjenige lerne, was er in einem seiner Leben wie eine Art Schule durchgemacht hat, in seinen Ergebnissen anzuwenden in einem nächsten Leben. Wer sich ganz in diesen Glauben an des Menschen Vervollkommnung hineinversenkt, wird danach stre­ben, sein Ich immer mehr zu läutern, es so reich zu machen als möglich ist, um immer mehr und immer höher und höher zu steigen. Und, so sagen die Leute, das sei im Grunde genommen doch ein egoistisches Streben. Denn wir Theosophen suchten Lehren und Kräfte aus der geistigen Welt heranzuziehen, um eben unser Ich immer höher zu bringen, es sei also ein egoistischer Grund, der den Menschen zum Handeln treibe. Auch hätten wir Theosophen die Überzeugung, wir bereiteten uns ein schlechtes Karma durch unvollkommene Handlun­gen, und um sich kein solches zu bereiten, werde der Theosoph ver­meiden, dies oder jenes zu tun, was er sonst getan haben würde. Also aus Furcht vor dem Karma tue er es nicht. Wahrscheinlich würde er auch aus diesem Grunde dies oder jenes vollbringen, was er sonst nicht vollbracht hätte, was ja wiederum nur ein ganz egoistischer Antrieb zu einer Handlung wäre. Es gibt eine Anzahl von Leuten, welche sagen:

Die Lehren von Karma und Reinkarnation und das sonstige Vervoll­kommnungsstreben, das aus der Theosophie heraus kommt, führe die Menschen dazu, einen raffinierten höheren Egoismus geistig anzustre­ben. - Eigentlich wäre das ein schwerer Vorwurf, wenn man sagen

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könnte, Theosophie würde die Menschen dazu bringen, sittliches Han­deln nicht aus Mitgefühl und Mitleid zu entwickeln, sondern es wäre dies herrührend aus der Furcht vor Strafe. Fragen wir uns nun, ob ein solcher Vorwurf wirklich berechtigt ist. Da müssen wir uns einmal tief, ganz tief in die okkulte Forschung einlassen, wenn wir einen solchen Vor-wurf gegenüber der Theosophie wirklich gründlich widerlegen wollen.

Nehmen wir an, jemand würde sagen: Hat der Mensch nicht bereits dies Vervollkommnungsstreben, dann wird er durch die Theosophie ja gar nicht dazu veranlaßt, sittliche Handlungen zu begehen. - Ein tieferes Eindringen in das, was uns die Theosophie sagt, kann lehren, daß der Mensch so hineingestellt ist in die Gesamtmenschheit, daß er mit einer nicht moralischen Handlung nicht nur etwas vollbringt, was ihm vielleicht Strafe einträgt, sondern daß er mit einem nicht mora­lischen Gedanken, einer nicht moralischen Handlung oder Gesinnung, etwas im wahren Sinne Widersinniges vollbringt, etwas, was sich nicht vereinigen läßt mit einem wirklich gesunden Denken.

Damit ist viel gesagt. Eine unsittliche Handlung stellt nicht nur eine darauffolgende karmische Strafe in Aussicht, sondern ist im tiefsten Grunde eine Handlung, die man gar nicht begehen dürfte. Nehmen wir an, ein Mensch begeht einen Diebstahl. Der Mensch zieht sich dadurch eine karmische Strafe zu. Wenn man diese vermeiden will, dann stiehlt man eben nicht. Aber die Sache ist noch komplizierter. Fragen wir uns:

Was will derjenige, der lügt oder stiehlt? Der Lügner oder der Dieb wollen sich einen Vorteil verschaffen, der Lügner sich vielleicht über eine unangenehme Situation hinweghelfen. Einen Sinn hat eine solche Handlung nur dann, wenn man das erreicht, daß man sich wirklich einen Vorteil verschafft durch Lügen oder Stehlen. Würde der Mensch nun erkennen, daß er das gar nicht haben kann, daß er sich irrt, daß er im Gegenteil einen Nachteil herbeiführt, dann würde er sich sagen: Es ist ein Unsinn, an eine solche Handlung auch nur zu denken. - Wenn Theosophie immer mehr eindringen wird in die menschliche Zivilisa­tion, dann werden die Menschen wissen, daß es widersinnig, ja, daß es lächerlich ist, zu glauben, man könne sich durch Lügen oder Stehlen dasjenige verschaffen, was man glaubt, sich zu verschaffen. Eines wird nämlich immer mehr und mehr klar werden für alle Menschen, wenn

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Theosophie in sie eindringen wird, daß es im Sinne der höheren Ur­sachen gar nicht ganz gesonderte menschliche Individualitäten gibt, sondern daß neben den gesonderten Individualitäten das ganze Men­schengeschlecht eine Einheit darstellt. Und immer mehr wird man erkennen, daß eigentlich im Sinne einer wahren Weltanschauung der Finger gescheiter ist als der ganze Mensch, denn er bildet sich nicht ein, etwas zu sein ohne den ganzen Menschenorganismus, zu dem er gehört. In seinem dumpfen Bewußtsein weiß er, daß er nicht existieren kann ohne den ganzen Organismus.

Die Menschen geben sich aber fortwährend Illusionen hin. Sie glau­ben etwas Abgesondertes zu sein durch das, was in der Haut einge­schlossen ist. Das sind sie ebensowenig, wie der Finger etwas ist ohne den ganzen Organismus. Der Grund der Illusion ist der, daß der Mensch herumwandern kann und der Finger nicht. Wir sind auf der Erde in derselben Lage, wie der Finger an unserem Organismus. Diejenige Wis­senschaft, die glaubt, daß unsere Erde eine glutflüssige Kugel sei, von einer harten Schale umgeben, auf der wir Menschen herumwandeln, die da glaubt, damit sei die Erde erklärt, diese Wissenschaft steht auf derselben Höhe wie eine Wissenschaft, die glauben würde, der Mensch sei seiner Wesenheit nach nichts weiter als sein Knochenbau, er bestände aus nichts anderem als aus seinem Knochenbau. Denn was da angeschaut wird von der Erde, ist dasselbe wie der Knochenbau beim Menschen. Das andere, das zur Erde gehört, ist übersinnlicher Natur. Die Erde ist ein richtiger Organismus, ein richtiges Lebewesen. Wenn man sich den Menschen als Lebewesen vorstellt, kann man sich sein Blut denken mit den roten und weißen Blutkörperchen; diese können sich nur im gan­zen menschlichen Organismus entwickeln und so dasjen ge sein, was sie sind. Was diese roten und weißen Blutkörperchen für den Menschen sind, das sind wir Menschen für den Erdenorganismus. Wir gehören unbedingt zu diesem Erdenorganismus dazu, wir bilden einen Teil des ganzen Erde-Lebewesens, und wir betrachten uns nur richtig, wenn wir sagen: Als einzelner Mensch sind wir nichts, wir sind erst vollständig, wenn wir uns hineindenken in den Erdenleib, von dem wir nur das Knochengerüst, die mineralische Schale betrachten, solange wir nicht die geistigen Glieder dieses Erdenorganismus anerkennen.

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Wenn nun im menschlichen Organismus sich ein Entzündungs­prozeß bildet, wird der ganze Organismus von Fieber ergriffen, der ganze Organismus wird von Krankheit ergriffen. Übertragen wir dies auf den Erdenorganismus, dann können wir sagen, daß es wahr ist, was der Okkultismus zu behaupten hat: daß, wenn irgendwo auf der Erde eine unsittliche Handlung begangen wird, das für den ganzen Erden-Organismus dasselbe ist, wie für den Menschen eine kleine Eiterbeule am menschlichen Körper, der den ganzen Organismus krank macht. So daß, wenn ein Diebstahl auf der Erde begangen wird, die Wirkung davon ist, daß die ganze Erde eine Art von Fieber bekommt. Das ist nicht bloß vergleichsweise gesagt, sondern es ist tief begründet. Unter allem Nichtmoralischen leidet der ganze Erdenorganismus, und wir können als einzelne Menschen nichts tun an Nichtmoralischem, ohne daß der ganze Erdenorganismus in Mitleidenschaft gezogen wird.

Das ist ein im Grunde genommen sehr einfacher Gedanke, doch wird er schwer von den Menschen erfaßt. Aber die Menschen, die es nicht glauben wollen, sollen es nur abwarten. Man versuche es, solche Gedanken unserer Kultur einzuprägen, man versuche, mit solchen Ge­danken zu appellieren an das menschliche Herz, das menschliche Ge­wissen. Wenn irgendwo unsittliche Handlungen begangen werden, dann sind sie für die ganze Erde eine Art Eiterbeule und machen den Erdenorganismus krank. Und die Erfahrung würde zeigen, daß in sol­chen Erkenntnissen ungeheure moralische Antriebe liegen.

Wenn man noch so viel Moral predigt, das wird den Menschen nichts helfen. Aber solche Erkenntnisse würden den Menschen nicht nur als Erkenntnisse ergreifen, sondern würden, wenn sie sich der Kul­turentwickelung einprägen, wenn sie schon in das kindliche Gemüt gegossen würden, einen ungeheuren sittlichen Impuls geben. Denn alle Moralpredigten haben für das menschliche Gemüt doch nichts ganz Überwältigendes, Überzeugendes. Es ist schon so, wie Schopenhauer sagt, daß Moral predigen leicht sei, Moral begründen aber schwer. Die Menschen haben gegen Moralpredigten eine gewisse Antipathie. Sie sagen: Was mir da gepredigt wird, das will ein anderer, und ich soll mich dem bloß fügen! - Dieser Glaube wird immer mehr überhand­nehmen, je nachdem das materialistische Bewußtsein überhandnimmt.

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Man sagt heute: es gibt Klassenmoral, Standesmoral, und was eine solche Klassenmoral für recht hält, das wird dann der anderen Klasse aufgetragen. Solche Meinung ist in die Gemüter der Menschen hinein­geflossen, und in der Zukunft wird das immer ärger und ärger werden. Das Empfinden wird bei den Menschen immer stärker werden, daß sie alles, was auf diesem Gebiet als richtig anerkannt werden soll, selber finden wollen, daß dies aus ihrem Hang nach objektiver Erkenntnis entspringen solle. Die menschliche Individualität will immer mehr Geltung haben. - In dem Augenblick aber, wo zum Beispiel das Herz einsehen würde, daß es mit krank wird, wenn der Gesamtorganismus krank wird, würde der Mensch das tun, was nötig ist, um nicht krank zu werden. Und in dem Augenblicke, wo der Mensch einsieht, er ist in dem gesamten Erdenorganismus eingebettet, er darf keine Eiterbeule sein an dem Erdenleibe, dann ist ein objektiver Grund da für das Gut­sein. Und der Mensch wird sagen: Wenn ich stehle, will ich mir einen Vorteil verschaffen. Ich tue es nicht, weil ich dadurch den ganzen Or­ganismus, ohne den ich nicht leben kann, krank mache. Ich tue das Gegenteil, und ich verschaffe dadurch nicht nur dem Organismus, sondern auch mir einen Vorteil.

So ungefähr wird sich das moralische Bewußtsein der Menschen in der Zukunft gestalten. Derjenige, der einen moralischen Antrieb aus der Theosophie heraus hat, wird sich sagen: Es ist eine Illusion, wenn man sich durch eine unmoralische Handlung einen Vorteil verschaffen will. Du bist, wenn du das tust, wie ein Tintenfisch, der eine dunkle Flüssigkeit ausspritzt: eine dunkle Aura von unmoralischen Antrieben spritzest du aus. Lügen und Stehlen ist ein Keim von einer Aura, in die du dich hineinsetzest und durch welche du die ganze Welt unglücklich machst.

Man sagt: was um uns herum ist, sei Maja. Aber solche Wahrheiten müssen Lebenswahrheiten werden. Kann man zeigen, daß durch die Theosophie die moralische Entwickelung der Menschheit in der Zu­kunft so wird, daß der Mensch einsehen muß, wie er sich in eine Aura von Illusionen hüllt, wenn er sich einen Vorteil verschaffen will, dann wird das eine praktische Wahrheit, daß die Welt eine Maja oder Illu­sion ist. Der Finger glaubt das in seinem dumpfen Bewußtsein, welches

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ein halb schlafendes, träumendes Bewußtsein ist, er ist so gescheit, daß er weiß: ohne die Hand und den übrigen Körper ist er kein Finger mehr. Der Mensch ist heute noch nicht so gescheit, daß er weiß: ohne den Erdenleib ist er im Grunde genommen nichts. Er muß aber so ge­scheit werden. Der Finger ist also in einem gewissen Vorteil vor dem Menschen. Er schneidet sich nicht selbst ab, er sagt nicht: Ich will das Blut, das in mir ist, für mich behalten oder mir ein Glied abschneiden. -Er ist in Harmonie mit dem ganzen Organismus. Der Mensch muß allerdings ein höheres Bewußtsein entwickeln, um in Harmonie mit dem ganzen Erdenorganismus zu kommen. Im heutigen moralischen Bewußtsein weiß das der Mensch noch nicht. Er könnte sich sagen:

Die Luft atme ich ein; eben war sie draußen, dann ist sie drinnen im Menschenleibe: ein Außeres wird ein Inneres. - Und wenn ich die Atemluft wieder ausatme, dann wird ein Inneres wieder ein Äußeres, und so ist es mit dem ganzen Menschen. Schon das weiß der Mensch nicht, daß er, abgesondert von der ihn umgebenden Luft, nichts ist. Er muß danach trachten, ein Bewußtsein darüber zu entwickeln, wie er in den ganzen Erdenorganismus eingesperrt ist.

Wodurch kann der Mensch wissen: du bist ein Glied des ganzen Erdenorganismus? Die Theosophie bringt den Menschen dazu. Sie zeigt dem Menschen: erst war ein Saturnzustand da, dann ein Sonnen-zustand, dann ein Mondenzustand, überall war schon der Mensch da­bei, wenn auch in ganz anderer Weise, als er heute ist. Dann ist die Erde aus dem alten Mondenzustand hervorgegangen. Langsam ist der Mensch als Erdenmensch entstanden. Er hat eine lange Entwickelung hinter sich, und er soll in Zukunft zu anderen Entwickelungsstufen vor­schreiten. Mit der Erde in ihrer heutigen Form ist der Mensch in seiner heutigen Form entstanden. - Wenn man durch das Studium der Theo-sophie verfolgt, wie Mensch und Erde entstanden sind, dann zeigt sich, wie der Mensch ein Glied ist des ganzen Erdenorganismus. Dann zeigt es sich, wie Erde und Mensch aus einem geistigen Leben nach und nach aufgetaucht sind, wie die Wesenheiten der Hierarchien Erde und Mensch aufgebaut haben, wie der Mensch zu den Hierarchien dazu­gehört, wenn er auch auf der untersten Stufe steht. Und dann zeigt die Theosophie hin auf das Mittelpunktwesen der gesamten Erdenentwikkelung,

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auf den Christus als auf das große Menschenurbild. Und aus all diesen Lehren der Theosophie soll dem Menschen das Bewußtsein ersprießen: So sollst du handeln!

Geisteswissenschaft zeigt uns, wie wir uns fühlen können als ein Glied des gesamten Erdenlebens, Geisteswissenschaft zeigt uns, daß der Christus der Erdengeist ist! Unsere Finger, unsere Zehen, unsere Nase, alle unsere Glieder träumen, daß sie vom Herzen mit Blut versorgt werden, daß sie ohne Zentralorgan nichts wären, denn ohne Herz sind sie nicht möglich. Und Theosophie zeigt dem Menschen, daß in der Zukunft der Erdenentwickelung es eine Torheit wäre, nicht die Idee vom Christus aufzunehmen, denn was das Herz für den Organismus ist, ist der Christus für den Erdenleib. Und so wie das Blut durch das Herz den ganzen Organismus mit Leben und mit Kraft versorgt, so muß dasjenige, was die Wesenheit des Christus ist, sich durch alle ein­zelnen Erdenseelen gezogen haben und es muß für sie Wahrheit werden das Pauluswort: Nicht ich, sondern der Christus in mir! - Hinein­geflossen sein muß der Christus in alle menschlichen Herzen. Und wer sagen wollte: Man kann ohne den Christus bestehen - der würde so töricht sein, wie Augen und Ohren, wenn sie sagen wollten, sie könnten ohne Herz bestehen. Beim einzelnen Menschenleibe muß allerdings das Herz von Anfang an da sein, in den Erdenorganismus ist dieses Herz erst mit dem Christus eingezogen. Für die folgenden Zeiten muß aber dieses Christus-Herzensblut in alle Menschenherzen eingezogen sein, und wer sich nicht in seiner Seele mit ihm vereinigt, wird verdorren. Die Erde wartet nicht mit ihrer Entwickelung, sie kommt zu dem Standpunkt, zu dem sie kommen muß. Nur die Menschen können zurückbleiben, das heißt: sie würden sich sträuben gegen die Aufnahme des Christus in der Seele. Eine Anzahl von Menschen würden in ihrer letzten Erdeninkarnation dastehen und hätten das Ziel nicht erreicht:

sie haben den Christus nicht erkannt, haben nicht Christus-Fühlen, nicht Christus-Wissen in die Seelen aufgenommen. Sie sind nicht reif, gliedern sich nicht der Höherentwickelung an, sie sondern sich ab.

Nicht gleich ist für solche Menschen die Möglichkeit da, ganz zu verfallen, wie Nase oder Ohren es tun müßten, wenn sie sich abtrennen würden vom ganzen Menschenorganismus. Aber das zeigt die okkulte

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Forschung: Diejenigen, die nicht sich durchdringen wollen mit dem Christus-Element, dem Christus-Leben, so wie es nur durch die Theo­sophie erreicht werden kann, sie würden, statt mit der Erde zu neuen Daseinsstufen hinaufzuleben, Verfallsstoffe, Zersetzungsstoffe in sich aufgenommen haben, sie würden zunächst andere Wege einschlagen müssen. Wenn die Menschenseelen in den aufeinanderfolgenden Inkar­nationen den Christus in ihre Erkenntnis, in ihr Empfinden, in ihre ganze Seele aufnehmen, wird die Erde von diesen Menschenseelen ab­fallen, so wie ein Leichnam beim Tode eines Menschen abfällt. Der Erdenleichnam wird abfallen, und dasjenige, was Christus-durch­drungen geistig-seelisch da ist, bildet sich zu neuem Dasein fort und reinkarniert sich auf dem Jupiter.

Und was geschieht nun mit denjenigen Menschen, die nicht den Christus in sich aufgenommen haben? Es wird reichlich Gelegenheit für sie da sein durch die Theosophie, daß sie den Christus erkennen können, daß sie den Christus in sich aufnehmen können. Die Men­schen sträuben sich heute noch dagegen, sie werden sich immer weniger dagegen sträuben. Aber nehmen wir an, am Ende der Entwickelung gäbe es solche Menschen, die sich noch immer dagegen sträuben. Da würde eine Anzahl von Menschen da sein, die nicht mit hinaufgehen könnten zum nächsten Planeten, die nicht das eigentliche Erdenziel erreicht hätten. Diese Menschen würden ein rechtes Kreuz sein auf dem Planeten, auf dem sich die Menschen dann weiterentwickeln werden, denn sie werden zwar nicht mitleben können mit dem eigentlichen rich­tigen Jupiterzustand, sie werden nicht miterleben können, was sich dort entwickelt, aber sie werden doch da sein auf dem Jupiter. Alles, was später materiell ist, ist zuerst geistig da. Dasjenige, was also Menschen jetzt während der Erdenzeit geistig entwickeln an Unmoral, an Wider­setzlichkeit, den Christus in sich aufzunehmen, das ist zunächst seelisch-geistig da. Das wird aber materiell werden, das wird den Jupiter wie ein benachbartes Element umgeben und durchdringen. Und dies wer­den die Nachkommen solcher Menschen sein, die nicht den Christus in sich aufgenommen haben während des Erdenzustandes. Dasjenige, was sich jetzt seelisch als Unmoralität, als Widersetzlichkeit gegen den Christus entwickelt, wird dann materiell, richtig physisch da sein. Und

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während das Physische derjenigen Menschen, die den Christus aufge­nommen haben, verfeinert sein wird auf dem Jupiter, wird das Phy­sische dieser anderen Menschen wesentlich vergröbert sein. Das malt uns die okkulte Forschung vor das Seelenauge, wie diese Zukunft der die Erdenreife nicht erreicht habenden Menschen sein wird.

Jetzt atmen wir Luft. Auf dem Jupiter wird es im wesentlichen nicht Luft geben, sondern der Jupiter wird umgeben sein von einer Substanz, die gegenüber unserer Luft etwas Verfeinertes, Ätherisches sein wird. Darin werden die Menschen leben, welche das Ziel der Erde erreicht haben. Jene anderen, zurückgebliebenen Menschen aber wer­den zu atmen haben etwas wie eine widrig warme, kochende Feuerluft, die wie von Schwüle durchzogen ist, die widrige Dünste in sich trägt. So daß die Menschen, die nicht die Erdenreife erlangten, ein Kreuz sein werden für die anderen Jupitermenschen, denn sie werden verpestend wirken in der Umgebung, in den Sümpfen und dem sonstigen Boden des Jupiter. Die flüssig-physischen Bestandteile der Leiber dieser Men­schen werden etwas sein, was man mit einem Flüssigen vergleichen kann, das fortwährend fest werden will, in sich gefriert, in sich stockt, also daß diese Wesen nicht nur diese fatale Atmungsluft haben werden, sondern auch einen Leibeszustand, so als ob das Blut fortwährend stockte, nicht flüssig bliebe. Der physische Leib selber dieser Wesen­heiten wird aus einer Art schleimiger Substanz bestehen, widriger als die Leibessubstanz unserer heutigen Schnecken, vollbegabt damit, ab­zusondern etwas wie eine Art Kruste, die sie umgeben wird. Diese Kruste wird weicher sein als die Haut unserer heutigen Schlangen, wie eine Art weichen Schuppenpanzers. So werden diese Wesen leben in wenig ansprechender Weise in den Elementen des Jupiter.

Solch ein Bild, wie es der okkulte Forscher voraussehend schaut, nimmt sich schauerlich aus. Aber wehe den Menschen, die wie der Vogel Strauß nicht hinschauen wollen auf die Gefahr und die Augen zu­machen möchten vor der Wahrheit! Denn gerade dies wiegt uns in Irrtum und Täuschung, während ein kühnes Anschauen der Wahrheit die größten moralischen Impulse gibt. Hören die Menschen hin auf das, was ihnen die Wahrheit sagt, dann werden sie fühlen: du lügst - und da wird in ihnen auftauchen das Bild von der Wirkung dieser Lüge auf

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die Menschennatur im Jupiterzustand, das Bild: die Lüge macht schlei­mig, macht verpestende Atemluft für die Zukunft. Und dies immer wieder auftauchende Bild wird ein Grund sein, die Impulse der Seele zum Heil hinzulenken. Denn niemand, der die Folgen der Unmoral wirklich kennt, kann in Wahrheit unmoralisch sein. Die wahren Wir­kungen der Ursachen soll man lehren. Schon die Kinder sollen darauf hingewiesen werden. Es gibt nur Unmoralisches deshalb, weil die Men­schen keine Erkenntnis haben. Nur die Finsternis der Unwahrheit macht Unmoralisches möglich.

Allerdings soll das, was so gesagt werden kann über den Zusammen­hang zwischen Unmoralität und Unwissenheit, kein Verstandeswissen sein, sondern Weisheit. Das Wissen allein macht mit Unmoral, kann sogar, wenn es zur raffinierten Klugheit wird, Schurkerei sein.Während Weisheit so wirken wird auf des Menschen Seele, daß von ihr Wahrheit ausstrahlt, innerste Moralität.

Meine lieben Freunde, wahr ist es: Moral begründen ist schwer, Moral predigen ist leicht! - Moral begründen heißt, sie aus der Weisheit begründen, und die muß man erst haben. Da sehen wir, daß es doch ein recht kluger Ausspruch war von Schopenhauer, als er sagte: Moral begründen ist schwer!

So sehen wir also, wie unbegründet es ist, wenn Leute, die Theo-sophie nicht wirklich kennen, kommen und sagen, sie enthielte keine moralischen Antriebe. Theosophie zeigt uns, was wir in der Welt voll­bringen, wenn wir nicht moralisch handeln; sie gibt Weisheit, von der selber Moral ausstrahlt. Es gibt keinen höheren Hochmut, als zu sagen, man brauche nur ein guter Mensch zu sein, dann wäre alles in Ordnung. Man muß aber erst wissen, wie man das macht, wirklich ein guter Mensch zu sein. Das Gegenwartsbewußtsein ist sehr hochmütig, wenn es alle Weisheit ablehnen will. Die wahre Erkenntnis des Guten er­fordert, daß wir tief hineindringen in die Geheimnisse der Weisheit, und das ist unbequem, denn da muß man viel lernen.

So können wir also entgegnen, wenn die Menschen kommen und uns sagen: Reinkarnation und Karma begründe eine egoistische Mo­ral! - Nein! - Wahre Theosophie zeigt dem Menschen, daß, wenn er eine unmoralische Handlung begeht, es ungefähr dasselbe ist, als wenn

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er sagen würde: Ich nehme ein Blatt Papier, um einen Brief darauf zu schreiben - und er dann ein Streichholz nimmt und das Blatt Papier anzündet. Das wäre ein grotesker Unsinn! In derselben Lage befindet sich der Mensch gegenüber einer unrichtigen Handlung oder bei einer unmoralischen Gesinnung.

Stehlen bedeutet dasselbe für das eigentliche, tiefere menschliche Wesen, als wenn man lügt. Wenn man stiehlt, legt man den Keim hin­ein in das menschliche Wesen, eine schleimige, widrige Substanz zu entwickeln, pestartige Gerüche um sich zu verbreiten in der Zukunft. Nur wenn man in der Illusion lebt, daß der gegenwärtige Moment etwas Wahres ist, kann man eine solche Handlung tun. Mit dem Dieb­stahl legt der Mensch etwas in sich hinein, was gleichkommt einer Zer­schindung der menschlichen Wesenheit. Und wenn der Mensch das weiß, wird er keine unmoralische Handlung mehr begehen können, er wird nicht stehlen können. Wie der Pflanzenkeim in der Zukunft Blü­ten heraustreibt, so wird Theosophie, wenn sie in die Menschenseele gesenkt wird, menschliche Blüten, das heißt menschliche Moral heraus-treiben. Die Theosophie ist der Keim, die Seele ist der Fruchtboden für sie, und Moral ist Blüte und Frucht an der Pflanze des werdenden Menschen.

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APHORISMEN ÜBER DIE BEZIEHUNG VON THEOSOPHIE UND PHILOSOPHIE Prag, 28. März 1911

Bei solchen Betrachtungen, wie sie als «Okkulte Physiologie» in diesen Tagen hier gegeben werden sollten, liegt das Bedürfnis besonders vor, sich mit den verehrten Zuhörern ein wenig über Fragen zu verstän­digen, die nicht ohne Überlegung gerade im Anschlusse an diesen Vor­tragszyklus berührt worden sind, nämlich in unseren beiden öffent­lichen Vorträgen. Wenn Sie sich überlegen, daß diese beiden öffent­lichen Vorträge vor allen Dingen das Ziel hatten, zu zeigen, wie man sich auf dem Boden der Geisteswissenschaft oder Theosophie geradezu sehr wohl bewußt sein müsse der möglichen Einwände, die sich ergeben, und wie man auf der anderen Seite in dem Vertreten der theosophi­schen Wahrheiten durchaus die Berechtigung dieser Einwände aner­kennen soll, wenn Sie sich diese Tendenz der öffentlichen Vorträge überlegen, kann Ihnen daraus nicht nur hervorgehen, was zunächst in dem Inhalt der beiden Vorträge lag, sondern vor allen Dingen eine ge­wisse ganz bestimmte, scharf zu nuancierende Stellungnahme gegen­über dem Gewicht der theosophischen Wahrheiten.

Aus den Schwierigkeiten, die sich ergeben müssen aus einer solchen Lage, wie sie gerade für die Geisteswissenschaft gekennzeichnet worden ist, sollte man aber vor allen Dingen auch das Bedürfnis entweder sich selbst bilden, oder es fühlen, daß in der Vertretung theosophischer Wahrheiten höchste Genauigkeit, möglichste Präzision walte. Das ist etwas, dessen sich derjenige, der aus einer Erkenntnis der entsprechen­den Zusammenhänge heraus diese Dinge zu vertreten hat, sehr wohl bewußt ist, womit er aber trotz alledem, was zum Beispiel in den öffent­lichen Vorträgen hervorgehoben worden ist, dennoch außerordentlich leicht in Kollision mit denjenigen kommt, die von dieser oder jener Seite her auf dem Boden der heutigen Wissenschaft stehen. Denn so sonderbar es erscheinen mag: Theosophie erfordert - einmal zum Ein­kleiden der aus den höheren Welten heruntergeholten Wahrheiten, auf

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der anderen Seite für die Vernunft, zum Belegen und Beweisen aus der gewöhnlichen Vernünftigkeit heraus - das genaueste, präziseste logische Formulieren. Und wer sich diese Aufgabe setzt, präzis und genau logisch zu formulieren, und zu diesem Zwecke alles vermeidet, was etwa Wort­füllsel in irgendeinem Satze, was rhetorische Verbrämung nur sein könnte, der fühlt sehr häufig, wie leicht er mißverstanden werden kann, einfach aus dem Grunde, weil in unserer Zeit nicht überall das intensive Bedürfnis vorhanden ist, die vertretenen Wahrheiten ebenso genau und präzis, wie sie ausgesprochen werden, auch hinzunehmen. Es ist in unserer Zeit die Menschheit selbst da, wo sie sich wissenschaft­lich betätigt, gar noch nicht so sehr gewöhnt an dieses Ganz-genau-Nehmen des Vorgetragenen, es so genau zu nehmen, daß vor allen Dingen auch das gilt, daß man in den Sätzen nicht nur nichts ändern sollte, sondern daß man genau achten sollte auf die Grenze, die durch die Formulierung notwendigerweise mitaufgenommen werden muß.

Es ist ein zunächst etwas leichtes Beispiel, das bei der Fragestellung aufgetaucht ist, wo gefragt worden ist: Wenn das Traumbewußtsein eine Art Bilderbewußtsein ist, wie kommt es denn dann, daß aus die­sem Traumbewußtsein heraus gewisse unterbewußte Handlungen, wie zum Beispiel Nachtwandeln, vollzogen werden können? - Da hat der Fragesteller nicht beachtet, wie ich auch damals schon erwähnt habe, daß mit dem Satze, es seien die Inhalte des Traumbewußtseins etwas Bildhaftes, nicht gemeint ist, sie seien nur Bildhaftes, sondern daß sich selbstverständlich, da nur von einer Seite her der Horizont des Traum-bewußtseins charakterisiert ist, gerade aus der Natur der Charakteristik ergeben könnte: wie unsere Tageshandlungen folgen aus unseremTages­bewußtsein, so könnten gewisse Handlungen weniger bewußter Natur auch folgen aus dem Bilderbewußtsein des Traumes.

Es soll durchaus ohne Anklage gesagt werden, daß das eben Gekenn­zeichnete einer der hauptsächlichsten Gründe ist, warum der Theoso­phie und ihrer Vertretung heute so viele Mißverständnisse entgegen­gebracht werden. Natürlich werden solche Mißverständnisse nicht etwa bloß von den Gegnern der Theosophie entgegengebracht, sondern in einem hohen Maße auch von denjenigen, die Bekenner dieser theosophi­schen Weltanschauung sind. Und vielleicht liegt ein großer Teil der

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Schuld an den Mißverständnissen, welche die Außenwelt der Geistes­wissenschaft entgegenbringt, daran, daß gerade innerhalb der theoso­phischen Kreise nach der gekennzeichneten Richtung hin so viel ge­sündigt wird.

Wenn wir nun unter den anderen Wissenschaften, welche in unserer Zeit Geltung haben, Umschau halten, so könnte vielleicht die allge­meine Empfindung dahin gehen, daß mit Theosophie am meisten Be­ziehungen hätte, was man in unserer heutigen Zeit Philosophie nennt, mit ihren verschiedenen Zweigen. Eine solche Behauptung wäre auch durchaus richtig, und man könnte eigentlich aus der Natur der Sach­lage heraus voraussetzen, daß die nächste Möglichkeit vorliegen würde auf der Seite der Philosophie, den theosophischen Erkenntnissen Ver­ständnis entgegenzubringen. Aber gerade von seiten der Philosophie liegt wieder eine andere Schwierigkeit vor.

Philosophie, wie sie heute, man darf sagen allüberall, gepflegt wird, ist in einem viel höheren Maße als andere Wissenschaften eine Art Spe­zialwissenschaft geworden, als sie vor verhältnismäßig noch kurzer Zeit war. Sie ist eine Spezialwissenschaft geworden und arbeitet, wenn wir ihre praktische Arbeit heute ansehen und uns nicht auf Theorien einlassen, wie sie etwa arbeiten sollte, wesentlich in abstrakten Regio­nen. Und es ist nicht viel Neigung vorhanden, die Philosophie zu der konkreten Auffassung des Tatsächlichen herunterzuführen. Ja, es be­stehen sogar Schwierigkeiten in dem heutigen Betriebe der Philosophie selber, welche sich ergeben, wenn man sozusagen mit diesem philoso­phischen Streben von heute die Welt des Tatsächlichen umfassen will. Eine nach den verschiedensten Richtungen hin mit großem Scharfsinn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Tage hin­ein ausgeführte Erkenntnistheorie ist ja so, wie wir sie heute haben, hauptsächlich aus dem Grunde entstanden, weil diese Schwierigkeiten, aus den abstrakten Höhen des Denkens, des Begriffes herab an die Tat­sachen heranzudringen, gefühlt wurden.

Nun fühlt man gerade bei solchen Vorträgen, wie es diejenigen die­ses Zyklus über «Okkulte Physiologie» sind, daß Theosophie überall genötigt ist, mit dem, was sie geistig als übersinnliche Bewußtseins-inhalte zu geben hat, unmittelbar heranzudringen an unsere tatsächliche

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Welt. Wenn ich trivial reden darf, möchte ich sagen: Theosophie hat es nicht so gut wie die heutige Philosophie, welche sich in abstrak­ten Regionen hält und welche durchaus nicht sehr geneigt sein würde, von vornherein es mit einer Kennzeichnung, sagen wir zum Beispiel des Blutes oder der Leber oder der Milz, also mit solchen Inhalten des Tat­sächlichen aufzunehmen. Es würde diese Philosophie sehr davor zu­rückschrecken, die Brücke von ihren abstrakten Begriffsbildungen zu schlagen nach solchen konkreten, unmittelbar tatsächlichen, an uns herantretenden Ereignissen und Dingen, so daß die Theosophie in die­ser Beziehung gerade gegenüber dem Bewußtsein, welches die Philo­sophie in unserer Zeit erzeugt, sehr leicht angesehen werden kann als eine Geistesbetätigung, die in dieser Beziehung waghalsig ist, die kühn, aber auch ebenso unberechtigt eine Brücke schlägt von dem Geistigsten bis zu dem Allertatsächlichsten herunter.

Nun muß es doch eigentlich interessant sein, einmal zu fragen:

Woher kommt es, daß es - vielleicht gerade aus diesem Grunde - der Philosophie so sehr schwierig ist, an die Theosophie heranzukommen? -Weil diese Philosophie es vermeidet, die gekennzeichnete Brücke zu schlagen!

Für die Theosophie selber ist diese Tatsache in gewissem Sinne eine Fatalität, ist außerordentlich fatal. Denn man stößt mit den theosophi­schen Erkenntnissen, insbesondere dann, wenn man sie herunterführen will bis zur logischen Durcharbeitung, sehr, sehr häufig auf Wider­stände. Gerade auf philosophischer Seite stößt man in dieser Beziehung auf Widerstände. Und zwar ist es sogar sehr oft vorgekommen, daß man weniger auf Widerstände stößt, wenn man sozusagen lustig darauf-los den Menschen sensationelle Beobachtungen aus den höheren Welten erzählt. Das verzeihen sie oftmals verhältnismäßig leicht, denn erstens sind diese Dinge «interessant», und zweitens sagen sich die Menschen:

Nun, insofern wir nicht in diese Welten hinaufschauen können, sind wir gar nicht dazu aufgerufen, irgendein Urteil darüber zu fällen.

Nun ist aber einmal das Bestreben der Theosophie, alles, was in den höheren Welten gefunden werden kann, auch zum vernünftigen Be­greifen herunterzuführen. Gefunden sind die Tatsachen, wenn sie wirklich als solche gelten können, durch übersinnliches Forschen in den

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übersinnlichen Welten. Die Einkleidung, die Form der Darstellung sollte aber unbehindert im Grunde genommen in unserer Gegenwart schon so gegeben werden, daß alles in streng logische Formen gekleidet wird, und daß sogar an gewissen Stellen, wo es heute schon möglich ist, darauf hingewiesen wird, wie die allertatsächlichsten äußeren Vor­gänge uns heute schon überall Bestätigungen für das ergeben können, was wir aus der geistigen Forschung heraus behaupten können. In die­sem ganzen Vorgange, die Erkenntnisse der geistigen Welt herunter­zuholen, sie einzukleiden in logische oder sonstige Vernunftformen und sie so darzubieten in einer Gestalt, welche dem logischen Bedürf­nisse unserer Zeit entgegenkommt, besteht nun heute eine, man darf sagen, wirklich außerordentlich begreifliche Quelle zahlreichster Miß­verständnisse.

Nehmen Sie einmal das Komplizierte, was in diesen Vorträgen über «Okkulte Physiologie» gesagt worden ist, das in seinen Bestimmungen überall nur mit Einschränkungen, mit genauen Angaben der Grenzen Hinzunehmende, nehmen Sie das ganz Komplizierte der in sich ungeheuer beweglichen und variablen Welt des Geistigen und ver­gleichen Sie diese Welt des Geistigen in ihrer ganzen Variabilität, in der Schwierigkeit, etwas uns aus geistigen Welten Herunterkommendes mit groben Begriffskonturen zu umspannen, vergleichen Sie es mit der Leichtigkeit, welche besteht, mit irgendeiner äußeren Tatsache, die durch ein Experiment oder durch sinnliche Beobachtung dargeboten wird, irgendwie fertigzuwerden, sie zu charakterisieren, in einem logi­schen Stil zu beschreiben!

Nun besteht aber heute überall in unserer Philosophie die Tendenz, wo Begriffe erläutert und beschrieben werden, auf gar nichts anderes Rücksicht zu nehmen als auf die Art und Weise, wie Begriffe, Vor­stellungen aus der Welt gewonnen werden, die als die sinnliche Welt vor uns liegt. Es wird die Philosophie sogar in vieler Beziehung sehr schwer fertig, wenn sie genötigt ist, zum Beispiel auf ethischem Gebiete einen anderen Ursprung der Grundbegriffe nachzuweisen als einen solchen, der sich dadurch ergibt, daß die Begriffe an der äußerenWahr­nehmung der physischen Welt gewonnen werden. Wir finden - und das wäre unschwer, aber natürlich nur durch ausführliche Darlegungen

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aus der zeitgenössischen philosophischen Literatur zu beweisen - bei allem, was heute in der Philosophie verarbeitet wird, die Erläuterungen, die Bestimmungen so grob, daß für irgendeine begrifflicheBewußtseins­inhaltlichkeit im Grunde genommen nur darauf Rücksicht genommen wird, daß eine Wahrnehmungswelt um uns herum existiert und daß wir uns auf Grund derselben unsere Begriffe bilden.

Gibt es nun eigentlich einen Anhaltspunkt dafür, daß in den aller­elementarsten Begriffen der Philosophie auch hingewiesen werden könnte auf die Entstehung von Begriffen in unserem Bewußtseins-inhalte von einer anderen Seite her, als von der Seite dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt? Denn, kurz gesagt: es fehlt uns in der zeit­genössischen Philosophie die Möglichkeit, an etwas Ähnliches in der theoretischen Feststellung anzuknüpfen, wie wir es auf Schritt und Tritt pflegen müssen in den theosophischen Auseinandersetzungen. Oder wenn ich mich deutlicher ausdrücken will: Wir haben gewisser­maßen von unserer philosophischen Literatur den Bewußtseinshorizont bestimmt, insofern er Inhalte an Begriffen hat, und es ist überall darauf Rücksicht genommen, wie sich diese Begriffe heranbilden können; und damit wir eine Berücksichtigung für den Inhalt unserer Wahrnehmun­gen haben könnten, ist überall gezeigt, wie diese Begriffe an der äußeren Wahrnehmung gewonnen werden können.

Nun muß die Theosophie ihre Begriffe auf eine ganz andere Weise gewinnen. Sie muß zu übersinnlichen Erkenntnissen aufsteigen, muß nach der anderen Seite in die Realität sich hineinvertiefen und genau bis zu derjenigen Grenze ihre Begriffe herunterholen, bis zu welcher von der anderen Seite her durch die Beobachtungen der sinnlichen Welt die Begriffe gewonnen werden. Wenn wir uns das Feld unserer Begriffe denken, durch die wir uns verständigen, so können wir sagen:

Falls wir Theosophie gelten lassen als etwas Berechtigtes, müssen diese unsere Begriffe von zwei Seiten herkommen, auf der einen Seite von dem Felde der äußerlichen, sinnlichen Wahrnehmung, auf der anderen Seite von dem Feld der übersinnlichen, geistigen Wahrnehmung, aber auf dem Begriffsfelde müssen sich beide treffen. Das heißt, es muß gerade in der theosophischen Darstellung das Bedürfnis bestehen, mit den Begriffen, die aus der geistigen Welt heruntergeholt werden, ein

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solches zu treffen, das angeschlossen werden kann überall an das, was unsere Begriffe erreichen, indem sie sich anlehnen an die äußere sinn­liche Wahrnehmungswelt.

Unsere Erkenntnistheorien sind nun wohl fast ausschließlich von demjenigen Gesichtspunkte aus - mehr oder weniger bewußt oder un­bewußt - gezeichnet, daß unsere Begriffe nur von einer Seite her-genommen werden. Ich will nicht sagen - und jetzt kommt ein Fall, wo man so leicht mißverstanden werden kann -, daß es nicht theo­retisch auch erkenntnistheoretische Grundanschauungen gibt, wo irgendein anderer Ursprung unserer Begriffswelt zugelassen wird. Aber alle positiven Festsetzungen, alles was aufgewendet wird, um unsere Begriffe zu charakterisieren, wird den Beispielen entnommen, in denen Begriffe an der sinnlich-physischen Wahrnehmungswelt gewonnen werden. Man berücksichtigt eben - das ist gerechtfertigt, weil Theo-sophie in weiten Kreisen etwas nicht Anerkanntes ist - den anderen Fall nicht, daß aus den geistigen Welten geistige Tatsachen herunter­geholt werden könnten, die gerade so weit heruntergebracht werden können bis zu Begriffen, als auf der anderen Seite die Wahrnehmungen der physischen Welt heraufgebracht werden bis zu Begriffen. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß wir, wenn wir uns heute von der Theo­sophie zur Philosophie hinüber verständigen wollen, dann auf seiten der Philosophie fast gar keinen vorbereiteten Boden haben, so daß kaum leicht die Art und Weise verstanden wird, wie in der Theosophie die Begriffe gebraucht werden müssen.

Man möchte sagen: Steht man der äußeren sinnlichen Wahrneh­mungswelt gegenüber, so hat man es leicht. Da haben die Dinge und auch die Ereignisse scharfe Konturen, scharfe Grenzen, da ist man also auch imstande, in den Begriffen scharfe Konturen zu geben. Steht man der in sich beweglichen und variablen geistigen Welt gegenüber, so muß man oftmals vieles erst zusammentragen und in den Begriffen Ein­schränkungen oder Erweiterungen machen, um einigermaßen an­nähernd das charakterisieren zu können, was eigentlich gesagt werden soll. Dann aber ist die Erkenntnistheorie, wie sie heute getrieben wird, oftmals am allerwenigsten geeignet, um sich darauf einzulassen, wie solche Begriffe, die in der Theosophie verwendet werden, eigentlich

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zur Realität stehen. Denn indem man, um die Begriffe zu beschreiben und zu bestimmen, immer - mehr oder weniger unbewußt - die Gründe zum Beschreiben nur von einer Seite her nimmt, mischen sich dadurch in alle die Begriffe, die man bildet, auch ohne daß man es so recht weiß, Bestimmungen ein, welche zu solchen erkenntnistheoretischen Begriffen führen, die dann überhaupt nicht zu brauchen sind, um in der Theo­sophie irgend etwas zu erläutern und zu erklären. Dann ist in der Tat der Begriff, der sozusagen von der nichttheosophischen Welt geliefert wird, einfach ungeeignet als Instrument zum Charakterisieren dessen, was durch die Theosophie aus der geistigen Welt heruntergeholt wird.

Nun gibt es einen solchen Begriff, der insbesondere auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie ein furchtbarer Störenfried ist. Ich weiß sehr wohl, daß er als solcher heute noch gar nicht so sehr empfunden wird, hüben und drüben nicht empfunden wird, aber er ist ein Störenfried. Das ist, wenn man von allen feineren Nuancierungen absieht, die in so scharfsinniger Weise im Verlaufe des 19. Jahrhunderts sich heraus­gebildet haben, der Punkt, daß das erkenntnistheoretische Problem so formuliert wird, daß man sagt: Wie kommt eigentlich das Ich mit sei-nem Bewußtseinsinhalt - oder wenn man meinetwillen selbst vermeiden will, so zu sprechen -, wie kommt unser Bewußtseinsinhalt dazu, von uns auf irgendeine Realität bezogen zu werden? - Denn die Gedanken­gänge haben mehr oder weniger, mit Ausnahme von gewissen erkennt­nistheoretischen Richtungen, im 19.Jahrhundert zu einer Erkenntnis­theorie geführt, welche immer wieder und wieder eine große Schwierig­keit dabei empfindet, die Möglichkeit einzusehen: wie das, sagen wir, Transsubjektive oder Transzendente, was also außerhalb unseres Be­wußtseins liegt, in unser Bewußtsein eintreten könnte. Das ist zunächst, ich will sogar zugeben, das Erkenntnisproblem trivial charakterisiert. Aber es ist doch so charakterisiert, daß die Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts gesehen worden sind, wesentlich unter diesen Gesichtspunkt fallen, daß man sich sagt:

Wie kann überhaupt das, was subjektiver Bewußtseinsinhalt ist, irgend­wie heran an das Sein, an die Realität? Wie kann es auch nur bezogen werden auf die Realität? - Denn wir müssen uns klar sein, daß, selbst wenn wir eine außerhalb unseres Bewußtseins liegende Realität voraussetzen,

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dasjenige, was in unserem Bewußtsein auftritt, erst an dieser Realität gebildet wird. So daß also von dem allerersten Element an, das wir in unserem Bewußtsein treffen, alles, was diesen Bewußtseins­horizont ausfüllt, eben Bewußtseinsinhalt ist. Wir haben also in uns den Bewußtseinsinhalt sowie die Möglichkeit, aus diesem Bewußtseins­inhalt sozusagen in das Sein, in die Realität, die unabhängig ist von unserem Bewußtsein, herauszudringen.

Ein bedeutender Erkenntnistheoretiker der Gegenwart hat dieses Problem mit dem prägnanten Ausdruck charakterisiert: Das mensch­liche Ich, insofern es den Bewußtseinshorizont umfaßt, könnte sich nicht selber überspringen, denn es müßte aus sich herausspringen, wenn es in die Realität hineinspringen würde. Dann wäre es aber in der Realität und nicht im Bewußtsein. - Es erscheint also für diesen Er­kenntnistheoretiker nichts erklärt, als nur, daß überhaupt nichts dar­über ausgemacht werden könnte, wie der Bewußtseinsinhalt zur wirk­lichen Realität steht.

Es ist mir vor vielen Jahren einmal darum zu tun gewesen, in meinen erkenntnistheoretischen Schriften zunächst vor dem positiven Fest­stellen des Erkenntnisproblems, insofern es auch der Theosophie zu­grunde liegen muß, die Schwierigkeiten, die sich aus einer solchen eben gekennzeichneten Formulierung ergeben, hinauszuschaffen. Dabei konnte einem allerdings sehr Merkwürdiges passieren. So zum Beispiel gab es in der Zeit, in welcher sich das zugetragen hat, wovon ich spre­chen will, besonders viele Philosophen, die von vornherein davon aus­gingen - etwa ganz ähnlich wie Schopenhauer - zu sagen: Die Welt ist meine Vorstellung -, das heißt, was im Bewußtsein gegeben ist, das ist zunächst Vorstellungsinhalt, und es würde sich darum handeln, eine Brücke zu schlagen von der Vorstellung zu dem, was außerhalb des Vorgestellten ist, zu der transsubjektiven Realität. Nun ist eigentlich für jeden, welcher sich nicht faszinieren läßt durch die angeblichen «Feststellungen, die auf diesem Felde gemacht worden sind», sondern der unbefangen an die Sache herantritt, eine Frage sogleich wie auf­gegeben, und einer großen Menge der erkenntnistheoretischen Literatur gegenüber, namentlich der, welche in den siebziger und in der ersten Hälfte der achtziger Jahre geschrieben worden ist, muß man diese

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Frage aufwerfen: Wenn gegenüber der einfachen Feststellung: Irgend etwas ist in meinem Bewußtseinsinhalt oder irgend etwas ist meine Vorstellung - dieses Vorgestellte selber mehr sein soll als etwas inner­halb des Bewußtseinsinhaltes Liegendes, wenn es selbst eine Geltung für sich haben soll, dann ist damit etwas gesagt, was im Grunde ge­nommen nicht vor der Erkenntnistheorie festgestellt werden darf, son­dern erst, nachdem diese viel wichtigeren erkenntnistheoretischen Grundfragen erörtert worden sind. Denn wir müssen uns zu Recht fragen: Warum dürfen wir überhaupt etwas, was in uns auftritt, «Bewußtseinsinhalt» nennen? Warum nicht «Vorstellung»? Warum haben wir ein Recht zu sagen: Was auf meinem Bewußtseinshorizont auftritt, ist meine Vorstellung? - Die Erkenntnistheorie hat durchaus nicht das Recht, auszugehen von dem Urteil, das Gegebene sei meine Vorstellung, sondern sie hat die Pflicht, wenn sie wirklich auf ihre ersten Anfänge zurückgeht, erst zu rechtfertigen, daß das, was da auf­tritt, der subjektive Bewußtseinsinhalt ist.

Es gibt selbstverständlich mehrere hundert Einwände gegenüber dem, was jetzt gesagt worden ist, aber ich glaube nicht, daß es möglich ist, einen einzigen dieser Einwände lange festzuhalten, wenn man un­abhängig auf die Sachen eingeht. Aber man konnte es erleben, daß ein vielgenannter Philosoph des 19. Jahrhunderts mir eine ganz eigentüm­liche Antwort gab. Als ich ihm diese Auseinandersetzung machte, es müsse doch erst gerechtfertigt sein, daß irgend etwas den Charakter der «Vorstellung» habe, da sagte er: Das ist doch selbstverständlich eine Definition; das liegt doch schon im Worte! Und was in uns ist, das ist unsere Vorstellung. - Er konnte gar nicht begreifen - so sehr waren die Vorstellungen eingewurzelt, welche im Laufe der Jahrhunderte ge­wachsen sind -, daß man mit dieser ersten Definition etwas vollständig Unbegründetes hinstellt. Denn wenn wir überhaupt innerhalb des gan­zen Umfanges der Welt, in der wir drinnenstehen - wobei ich Sie jetzt bitte, diese Zusammenfügung von Worten «die Welt, in der wir drin­nenstehen», herzuholen aus der Welt, wie wir sie im Alltag haben, woraus noch gar nichts behauptet ist -, wenn wir innerhalb dieser Welt irgendeine Feststellung machen wollen, auch die, daß das, was uns so als Welt gegeben ist, «teilweise oder ganz Vorstellung ist», müssen wir

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uns klar sein, daß es überhaupt unmöglich ist, eine solche Feststellung zu machen. Ich will jetzt nicht darüber entscheiden, daß dies eigentlich «Urteile» sind. Wenn wir eine solche Feststellung machen, müssen wir uns bewußt sein, daß sie ohne dasjenige, was wir unsere denkerische Tätigkeit, unsere Gedanken oder Begriffe nennen, gar nicht möglich ist. Kurz, in dem Augenblicke, wo wir überhaupt beginnen irgend etwas nicht so zu lassen, wie es vor uns auftritt, sondern ihm gegenüber eine Feststellung machen, greifen wir ein mit dem Denken in die Welt, die um uns herum ist. Und wenn wir so in die Welt eingreifen, die um uns herum ist, und irgendein Recht haben sollen, etwas als «subjektiv» zu bestimmen, dann müssen wir uns bewußt sein, daß dasjenige, was bestimmt, daß etwas subjektiv ist, nicht subjektiv sein darf.

Denn nehmen wir an, wir hätten hier die Sphäre der Subjektivität

Lin einem Kreis] und es ginge von derselben aus zum Beispiel die Fest­stellung: A sei subjektiv, sei Vorstellung oder was immer -, dann ist diese Feststellung selber subjektiv. Und die Folge davon ist dann nicht etwa - wenn sie subjektiv ist -, daß wir sie gelten lassen dürfen, son­dern daß wir sie nicht machen dürfen, denn sie wäre eine in sich selbst sich aufhebende Feststellung. Wenn subjektiv nur festgestellt werden könnte, was subjektiv ist, so wäre diese Feststellung eine solche, die nicht gemacht werden darf, sondern es müßte empfunden werden, daß es eine sich selbst aufhebende Feststellung ist. Wenn die Feststellung:

«A ist subjektiv» einen Sinn haben soll, so muß sie nicht ausgehen von der Sphäre der Subjektivität, sondern von irgendeiner Realität außer unserer Subjektivität. Das heißt, wenn das Ich überhaupt in die Lage kommen soll, jemals sagen zu dürfen, irgend etwas trage einen subjek­tiven Charakter, sei Vorstellung zum Beispiel, so muß dieses Ich des­halb, weil es das Recht haben soll, etwas als subjektiv zu bezeichnen, selber nicht innerhalb der Sphäre der Subjektivität sein, sondern es muß diese Feststellung des Ich von außerhalb der Sphäre der Subjek­tivität her gemacht werden. Das heißt, wir dürfen nicht eine solche Feststellung, daß etwas subjektiv ist, zurückleiten auf das Ich, insofern es selber subjektiv ist.

Damit aber ergibt sich ein Ausweg aus der Sphäre der Subjektivität heraus, indem uns klar werden muß, daß wir keinen Schritt machen

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können in irgendeiner Feststellung, was subjektiv oder objektiv ist, sondern unterlassen müßten die allerersten Schritte, wenn wir nicht in einer Beziehung über Subjektivität und Objektivität stünden, beides gleichen Anteil an uns hätte. Das führt dann dazu - was jetzt nicht weiter ausgeführt werden kann -, in der Tat anzuerkennen, daß unser Ich nicht in die Subjektivität hereingenommen werden darf, sondern als solches umfassender ist als unsere Subjektivität und daher ein Recht hat, gewisse Inhalte des Gegebenen als «subjektiv» auch abzugrenzen von dem, was objektiv ist.

Es treten sich da zunächst die Begriffe von «subjektiv» und «objek­tiv» entgegen. «Objektiv» ist selbstverständlich ein anderer Begriff als «transsubjektiv». Aber es handelt sich darum, wenn wir solche Voraus­setzungen gemacht haben, ob wir nicht einen Stein des Anstoßes nun wegzuräumen in der Lage sind, der gerade zu den wichtigsten aus der Erkenntnistheorie herkommenden Hemmnissen gehört, wenn nämlich innerhalb der Subjektivität nicht der ganze Umfang unseres Ich ge­funden werden kann. Wenn das Ich der Objektivität durchaus auch teilhaftig sein muß, dann gewinnt die Frage eine ganz andere Gestalt:

Kann irgend etwas in die subjektive Sphäre des Ich hereinkommen? -Sobald man nämlich den ersten Schritt gemacht hat, gewinnen die Fragen eine ganz andere Gestalt. Denn sobald man das Ich selber als der Sphäre der Objektivität teilhaftig bezeichnen darf, muß man in der Sphäre der Objektivität Qualitäten finden, welche mit den Qualitäten des Ich gleichartig sind, denn es muß davon etwas in der Sphäre der Objektivität darinnen sein. Mit anderen Worten: Wir dürfen jetzt unsere Beziehungen voraussetzen zu dem Objektiven und Subjektiven, die im wesentlichen von den mehr oder weniger sogar unbewußten Beziehungen abweichen, die gemacht werden, wenn man sagt, es könne nichts von dem Transsubjektiven in das Subjektive hinüberkommen.

Wenn man so spricht, hat man erstens von vornherein erkenntnis-theoretisch das Subjektive abgeschlossen, hat es so bestimmt, wie es in der Subjektivität nicht bestimmt wird, und auf der anderen Seite hat man einen Begriff verwendet, der nur für eine gewisse Sphäre der Realität Geltung hat, nicht aber für den ganzen Umfang der Realität Geltung haben kann. Das ist der Begriff des «Nicht-herüberkommen-Könnens».

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Viele Erkenntnistheoretiker wenden diesen Begriff an, und er spielt eine große Rolle, etwa wie ein Netz, in welchem man sich selber fängt. Man merkt dabei gar nicht, daß dieser Begriff nur für eine gewisse Sphäre der Realität gilt und aufhört eine Geltung zu haben, wo diese Sphäre aufhört, schon durchaus nicht mehr außerhalb der subjektiven Vorgänge Geltung hat. Am allerwenigsten aber hat er Gel­tung bei dem, was über Subjektivität und Objektivität hinübergeht.

Im Materiellen zum Beispiel gilt der Begriff des Nicht-herüber­kommen-Könnens. Wenn Sie eine Petschaft nehmen, auf der der Name «Müller» stehen soll, und Sie drücken sie ab in heißen Siegellack, dann können Sie sagen: Es kann nichts von der Petschaft hinüberkommen in den Siegellack. - Da haben Sie im groben Sinne etwas, wofür das Nicht-herüberkommen-Können gilt. Von dem Namen «Müller» aber gilt es schon gar nicht, von dem ist restlos alles hinübergeflossen. Denn wenn jemand noch so sehr betonen wollte, was daran alles anders ist als bei der Petschaft, so würde er doch zugeben müssen, daß restlos alles, worauf es ankommt - nämlich auf den Namen «Müller» -, hinüber-gekommen ist. Da haben wir schon die Sphäre überschritten, wo der Begriff des Nicht-herüberkommen-Könnens eine Bedeutung hat. Diese Sphäre hört sofort auf, wo es sich um eine gewisse Stufe des Herauf-gehens ins Geistige handelt, das mit den gewöhnlichen Begriffen in jeder Menschenseele lebt.

Woher ist es denn gekommen, daß dieser Begriff, der in einer ge­wissen feineren Weise bei Kant, ziemlich grobklotzig bei Schopenhauer, dann aber scharfsinnig beschrieben bei den verschiedensten Erkenntnis-theoretikern des 19. Jahrhunderts auftritt, eine solche Bedeutung hat gewinnen können?

Es ist, wenn man auf die ganze Sache eingeht, daher gekommen, daß das, was die Menschen in ihren Begriffen ausarbeiten - man mag das zunächst glauben oder nicht -, doch von der in der menschlichen Psy­chologie begründeten ganzen Art des Denkens abhängt. Nur in einem Zeitalter, in welchem alle Beispiele für unsere Begriffe so charakteri­siert worden sind, daß man immer darauf gesehen hat: Wie werden Begriffe an der äußeren Wahrnehmung gebildet? - hat sich ein solcher Begriff bilden können wie der des «Nicht-herüberkommen-Könnens»,

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indem man immer die Begriffe exemplifizierte an den an der äußeren Wahrnehmung gewonnenen Begriffen. Daher ergibt es sich, daß alles, was wir an der äußeren Wahrnehmung an Begriffen aufnehmen, was nach diesem Stile so recht ein «Begriff» ist wie der des «Nicht-herüber-kommen-Könnens», nicht geeignet ist zur Charakterisierung des Gei­stigen. Würde man nicht einen solchen ungeeigneten, verkappten, man möchte sagen, gründlich maskierten Materialismus in die Erkenntnis­theorie hineingeschleppt haben - denn das ist das Faktum, worauf es ankommt: es ist mit diesem Faktum ein wirklich nicht leicht zu er­kennender Materialismus in die Erkenntnistheorie hineingeschleppt worden -, würde man diesen nicht haben, so würde man sich klar sein, daß Erkenntnistheorie, weil sie für die geistigsten Gebiete gelten muß, auch solche Begriffe haben muß, von denen man sagen kann, sie sind nicht in diesem groben Stile geformt wie der Begriff des Nicht-herüber-kommen-Könnens, sondern in einem feineren Stile, wie es gelten muß für das Geistige, wo überhaupt von dem Draußen und Drinnen nicht gesprochen werden kann, wo nur klar sein muß, daß restlos das eine sozusagen einmal als Äußeres und dasselbe ein anderes Mal als Inneres bezeichnet wird. - Also wir sehen, daß wir hier den Ursprung dieses Begriffes haben.

Ich konnte das nur skizzenhaft andeuten, denn ich müßte sonst über diesen einen Begriff ein ganzes Buch schreiben, das sehr dick werden würde und auch mehrere Bände haben müßte, weil an die Philosophie-geschichte und an die Erkenntnistheorie sich auch metaphysische Ge­biete anschließen müßten, wenn man das behandeln wollte, was diesem Begriff zugrunde liegt. Man kann an dem, wie ein solcher Begriff ge­bildet worden ist, sehen, daß es auch begriffen sein muß, daß er sozu­sagen, weil er ja doch einem tief maskierten Vorurteil entspringt, unbrauchbar sein muß für das, was nun gerade in die geistige Welt hineingehen muß. Da brauchen wir andere Begriffe, die nicht unter diesen, ich möchte sagen, Erkenntnisgewohnheiten gebildet worden sind, unter denen dieser Begriff gebildet worden ist.

Ich habe Ihnen jetzt eine Stunde lang gesprochen in allerabstrak­testen Begriffen. Ich habe mich bemüht, ohnedies die Sache eigentlich nur anzudeuten, und bin mir absolut klar darüber, daß die Einwände,

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die mir selber deutlich vor der Seele stehen, selbstverständlich in man­cher anderen Seele auch auftauchen können. Wenn es sich um eine andere Versammlung handelte als eine theosophische, wo in ähnlicher Weise das getrieben wird, was dem allgemeinen Ziele näher liegt, so bedürfte es vielleicht einer besonderen Rechtfertigung, daß man, man könnte sagen, seine Zuhörer so hintergeht, daß man statt des Gewöhn­lichen, was erwartet wird an Tatsachenmaterial, einmal auch in ab­straktesten - wie wohl manche glauben: vertracktesten - Begriffen spricht. Nun, wir haben schon im Laufe unserer theosophischen Arbeit immer wieder und wieder gesehen, daß Theosophie unter anderem auch das Gute hat, daß man innerhalb der theosophischen Bewegung die «Pflicht zum Erkennen» ausbildet, und daß nach und nach ein un­artiger Begriff unserer Gegenwart überwunden wird, der überall sonst existiert, ein sehr unartiger Begriff, welcher sagt: Das ist ja doch etwas, was über meinen Horizont geht, womit ich mich nicht beschäftigen will, was mir nicht interessant ist!

Für manchen, der sich heute mit philosophischen, mit erkenntnis-theoretischen Grundfragen beschäftigt und manchmal die kleinen Auditorien im Auge hat, welche sich Erkenntnistheorie anhören, könnte es überraschend sein, daß so viele Menschen innerhalb einer Bewegung, die doch nach dem Urteil dieses oder jenes Erkenntnistheoretikers von dem «gründlichsten Dilettantismus» in bezug auf Erkenntnistheorie besessen ist, auch einmal bei einer solchen Versammlung in ziemlicher Anzahl - wir haben an manchem Orte noch größere Zahlen gerade für philosophische Vorträge gehabt, die in die theosophischen eingelegt wurden - die Zuhörer abgeben für ein solches Thema. Wenn man die Sachlage aber gründlicher betrachtet, wird man sich wohl auch sagen dürfen, daß dies gerade eines der besten Zeichen für die Theosophie ist. Erstens wissen die Theosophen nämlich, daß sie alles unbefangen an­hören sollten, was an Einwänden gegen die Theosophie aufgebracht werden könnte, denn sie sind ruhig dabei. Sie wissen ganz genau, wenn sie ein wenig ergriffen sind von der Art und Weise des Ganges der Forschungen in den übersinnlichen Welten, daß zwar die Einwände möglich und berechtigt sind, daß es möglich und berechtigt ist, man­ches als recht «unlogisch» zu bezeichnen, daß man aber auch wissen

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kann, wie manches, was man anfangs als recht unlogisch bezeichnet, wenn man sich nur selbst ein bißchen in der Logik übt, vor allen Dingen eine genaue Logik übt, sich als recht logisch herausstellen kann. Und das andere ist, daß Theosophen es immer mehr und mehr als Pflicht betrachten lernen, Erkenntnisse in ihre Seele hineinzubekommen, wenn es ihnen auch noch so sehr durch Erkenntnistheorie und Logik Mühe macht. Denn wir müssen in die Lage kommen, nicht nur die allgemei­nen theosophischen Darstellungen hören zu wollen, sondern auch mit ernsten philosophischen Begriffen den Begriffsgliederungen nachzu­gehen. Es wird sich die Welt schon einmal mit dem Gedanken bekannt­machen müssen, daß die Philosophie in einem umfänglicheren Sinne, als sie durch ihre heutige Erkenntnistheorie geworden ist, gerade inner­halb der theosophischen Bewegung wird wiedergeboren werden müs­sen. Eifer auch für philosophische Strenge, Eifer für gründliche Begriffe und gründliche Logik wird sich nach und nach, wenn ich das Wort gebrauchen darf, einnisten innerhalb der theosophischen Bewegung. Womit ich durchaus nicht gesagt haben will, daß für den genauer Zusehenden der Grad von Gründlichkeit im allgemeinen schon sehr eingenistet ist. Wir werden uns durchaus noch bescheiden müssen, aber wir sind auf dem Wege dazu.

Je mehr wir uns den guten Willen zum Denkerischen, zur wissen­schaftlichen Gewissenhaftigkeit, zur philosophischen Gründlichkeit auch aneignen können, desto mehr werden wir nicht bloß das, was wir für unsere vergängliche Persönlichkeit wollen, sondern jenes Ziel, das wir für die Menschheit wollen, durch den theosophischen Betrieb er­reichen können. Manches ist heute erst auf der Stufe des allerersten Wollens. Aber auf der anderen Seite zeigt sich auch, daß der Wille, der in vieler Beziehung aufgewendet wird, ein guter ist, und daß in der Empfindung einer solchen Pflicht zur Erkenntnis doch auch etwas liegt wie eine ethische Selbsterziehung, die schon erreicht werden wird durch das Interesse, das wir der Theosophie entgegenbringen. Und daran wird es bald nicht mehr mangeln, daß - wenn keine anderen Hindernisse als die sich finden, welche es heute schon gibt, der Theo-sophie von der Außenwelt die Anerkennung nicht wird versagt werden können. Nicht ist es das Streben nach bloßem Dilettantismus, nach

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einer leicht zu befriedigenden seelischen Gier und Sehnsucht, sondern das Bewußtsein, daß in der Welt ernste Gründlichkeit, philosophische Gewissenhaftigkeit bestehen müsse. Theosophie wird geeignet sein, gerade das philosophische Gewissen der Menschen auch in einer ge­wissen Weise zu schärfen, wenn man nicht bloß verstehen wird, was man als leere Dogmen hinnimmt, sondern was Theosophie als eine reale Macht und Gewalt in der Seele sein kann, als ein Feuerungsmaterial für die menschliche Seele, wodurch diese nach und nach immer mehr und mehr ihre in sich verborgenen Kräfte fühlen kann, wodurch das Be­wußtsein ihrer Bestimmung sie ergreifen kann und so immer fester und fester auf dem Boden stehen kann, auf dem wir stehen müssen: auf dem Boden unserer physischen Welt, und so immer klarer und klarer ohne eine nebulose Mystik in ein Reich der geistigen Welt hinauf­schauen kann, aus dem wir den Inhalt herunterholen müssen, den wir als Menschen der äußeren physisch-sinnlichen Welt geben müssen.

Ob wir das tun oder nicht tun, davon hängt es einzig und allein ab, ob wir der Menschheit eine wirkliche Mission in ihrem Erdendasein zuschreiben.

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ERBSÜNDE UND GNADE München, 3. Mai 1911

Da uns heute das Karma hier zusammenführte, statt der Tatsache, daß eigentlich heute der Kursus in Helsingfors beginnen sollte, dürfen wir eine kleine Betrachtung über einige geisteswissenschaftliche Gegen­stände anstellen, und dann kann sich vielleicht der eine oder andere Wunsch in Form einer Frage an diesen improvisierten Abend an unsere Betrachtung anknüpfen.

Was vielleicht am nächsten liegt heute zu betrachten, werden einige Streiflichter sein, die in unsere spirituelle Bewegung hereinfallen kön­nen, wenn wir von einem gewissen Gesichtspunkte aus unsere mensch­liche Entwickelung einmal im Zusammenhange mit der Erdentwicke­lung betrachten. Manches von dem, was wir wissen, wollen wir - wie wir das schon manchmal gemacht haben - in einer besonderen Weise beleuchten. Es wird Ihnen vielleicht doch öfter manches von dem­jenigen, was auf Sie einen tieferen Eindruck in den religiösen Empfin­dungen der Menschen gemacht hat, in den sonstigen Weltanschauungs­fragen, so vor Augen getreten sein, daß Sie sich fragen mußten: Wie verhalten sich Dinge, die Gegenstände sind des religiösen Empfindens der Menschheit, oder die Gegenstände sind sonstiger Weltanschauungs­fragen, zu unseren tieferen Auffassungen der Weltanschauungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft?

Auf zwei wichtige Begriffe, die öfter vor die Seele des modernen Menschen treten können, möchte ich da von Anfang an deuten, trotz­dem vielleicht diese modernen Menschen glauben, solche Dinge längst abgetan zu haben, auf die zwei Begriffe, die sich gewöhnlich um­schreiben mit den Worten: Sünde und Gnade.

Es wissen ja alle, daß diese Worte «Sünde» und «Gnade» zum Bei­spiel für die christliche Weltanschauung etwas ungeheuer Bedeutungs­volles sind, daß sie da die größte Rolle spielen. Es sind allerdings gewisse Theosophen gewohnt worden, wie sie glauben vom Gesichts­punkte des Karma aus, gar nicht mehr viel über solche Begriffe wie Sünde und Gnade nachzudenken, namentlich auch nicht mehr über den

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erweiterten Begriff von Sünde und Erbsünde nachzudenken. Nun ist dieses Außerachtlassen eines solchen Nachdenkens dennoch insoferne von nicht guten Folgen begleitet, als man dadurch verhindert wird, die tieferen Seiten des Christentums zum Beispiel, überhaupt die tieferen Weltanschauungsfragen, zu erkennen. Diese Begriffe «Sünde», «Erb­sünde», «Gnade» haben in der Tat noch einen weit tieferen Hinter­grund, als man gewöhnlich meint. Und daß man diesen tieferen Hinter­grund in unserer Gegenwart nicht mehr so sieht, rührt einfach davon her, daß fast alle traditionellen Religionen der Welt - fast alle, mehr oder weniger, so wie sie äußerlich existieren - eigentlich ihre wirk­lichen Tiefen ganz verwischt haben, daß kaum in dem, was da oder dort in einem Religionssystem verkündet wird, entfernt noch Ähn­liches von demjenigen ist, was sich hinter den entsprechenden Begriffen verbirgt. Hinter den Begriffen Sünde, Erbsünde, Gnade verbirgt sich in der Tat die ganze Entwickelung des Menschengeschlechtes.

Wir sind gewohnt geworden, diese Entwickelung in zwei Teile zu gliedern, in einen absteigenden Teil, von den ältesten Zeiten der Menschheitsentwickelung bis zu der Erscheinung des Christus auf Erden, und in einen aufsteigenden Teil, der mit der Erscheinung des Christus auf Erden beginnt und bis in die entferntesten Zukünfte hin­ein weitergeht. So gliedern wir also die gesamte Menschheitsentwicke­lung dadurch, daß wir dieses Christus-Ereignis als das größte nicht nur unserer Menschheitsentwickelung, sondern als das größte unserer ge­samten planetarischen Entwickelung überhaupt ansehen. Warum müs­sen wir denn nun dieses Christus-Ereignis als ein so außerordentlich Bedeutsames in die Mitte unserer ganzen Weltentwickelung hinein­stellen? - Aus dem einfachen Grunde müssen wir das, weil der Mensch, wie wir wissen, aus geistigen Höhen in materielle, in physische Tiefen heruntergestiegen ist, und weil er wiederum von den materiellen, von den physischen Tiefen zu geistigen Höhen hinaufsteigen muß. Also mit einem Herunterstieg und einem Hinaufstieg des Menschen haben wir es zu tun. Und wir bezeichnen näher diesen Herunterstieg des Men­schen in bezug auf sein Seelenleben dadurch, daß wir sagen: Wenn wir in recht alte Zeiten zurückblicken, dann finden wir, daß in diesen alten Zeiten die Menschen im Grunde genommen ein dem Göttlichen

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viel ähnlicheres geistiges Leben haben führen können als, sagen wir, jetzt, daß die Menschen gleichsam dem Göttlich-Geistigen näher-gestanden haben, daß in die Seele des Menschen mehr göttlich-geistiges Leben hereingeleuchtet hat.

Nur dürfen wir allerdings nicht außer acht lassen, daß es notwendig geworden ist, daß die Menschheit in die materielle, in die physische Welt heruntergestiegen ist, weil in jenen alten Zeiten, wo die Menschen dem Göttlich-Geistigen nähergestanden haben, zu gleicher Zeit das ganze Bewußtsein unserer Seele ein dumpferes, ein traumhafteres war:

also ein weniger helles, klares Bewußtsein, dafür aber ein mehr von göttlich-geistigen Vorstellungen, von göttlich-geistigen Empfindungen, von göttlich-geistigen Willensimpulsen durchzogenes. Der Mensch ist näher dem Göttlich-Geistigen, dafür aber weniger klarer Mensch, mehr träumendes Kind gewesen. Heruntergestiegen ist der Mensch, indem er sich die für das physische Leben notwendige Urteilskraft angeeignet hat, den Verstand. Er hat sich damit entfernt von den göttlich-geistigen Höhen, ist aber klarer in sich selber geworden, hat mehr den festen Stützpunkt in sich selber gefunden. Nun muß er, um sich wiederum mit diesem inneren Schwerpunkt seines Seelenlebens hinaufzuarbeiten, die­ses mit dem ausfüllen, was geworden ist durch den Christus-Impuls. Und je mehr er es ausfüllt mit diesem Christus-Impuls, desto mehr wird er wiederum hinaufsteigen in die göttlich-geistige Welt und nicht ankommen als ein träumendes Wesen mit unklarem Bewußtsein, son­dern als ein Wesen mit deutlichem, scharf in die Welt hineinschauen-dem Bewußtsein. Das haben wir oft von den verschiedensten Seiten aus so beleuchtet.

Nun, wenn wir etwas näher eingehen auf die menschliche Entwicke­lung, wissen wir wiederum, daß das, was dem Menschen allein die Mög­lichkeit gebracht hat, verstandesklares, helles Hineinsehen in die sinn­lich-physische Welt sich zu erwerben, das Ich des Menschen ist, daß dieses aber als letztes in der menschlichen Entwickelung sich entwickelt hat, daß sich vorher der Astralleib, noch früher der Ätherleib, noch früher der physische Leib in den ersten Anlagen entwickelt hat. So daß wir uns erinnern wollen heute, daß der eigentlichen Ich-Entwickelung vorangegangen ist die erste Entwickelung des Astralleibes. Wenn wir

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mancherlei zusammenhalten von dem, was wir im Laufe der Zeit ge­hört haben, müssen wir allerdings sagen: Uns muß klar sein, daß der Mensch, bevor er seine Ich-Entwickelung durchmachen konnte, eine Entwickelung durchgemacht hat, in der er nur diese drei Glieder hatte:

physischen Leib, Ätherleib, Astralleib. Aber der Mensch war trotzdem schon in die Ich-Entwickelung hineinverlegt. Er lebte in dieser Ent­wickelung, wartete gleichsam auf die spätere Hinzufügung seines Ich. Wenn wir uns dieses richtig vor Augen halten, dann werden wir einen Begriff davon bekommen, daß Dinge mit dem Menschen und seiner ganzen Entwickelung vorgegangen sein müssen, bevor er eigentlich das Ich in sich aufgenommen hat, gleichsam Vor-Ich-Entwickelungs­tatsachen. Das ist sehr wichtig. Denn wenn der Mensch eine Entwicke­lung schon durchgemacht hat, bevor er sein Ich aufgenommen hat, dann können wir das, was damals in seiner Entwickelung lag, ihm nicht in derselben Weise anrechnen, wie wir ihm anrechnen müssen das, was er mit seinem Ich durchgemacht hat.

Wir kennen ja Wesenheiten, von denen wir uns klar sind, daß sie ein Ich im menschlichen Sinne nicht haben. Es sind die Tiere. Sie bestehen nur aus physischem Leib, aus Ätherleib und Astralleib. Daß sie so sind, die Tiere, zwingt uns, ihnen gegenüber etwas ganz Bestimmtes an­zuerkennen, was wir alle tun, widerspruchslos alle tun, wenn wir über­haupt vernünftig denken. Es mag ein Löwe zum Beispiel uns noch so wütig anfahren, in dem Sinne, wie wir von einem Menschen sprechen:

er kann böse sein -, werden wir vom Löwen nicht sprechen: er kann böse sein, er kann eine Sünde begehen, er kann Unmoralisches begehen -so sprechen wir von keinem Tier, daß wir ihm irgendeine Handlung als eine unmoralische anrechnen. Das ist sehr bedeutsam. Denn wenn wir auch nicht darüber nachdenken und das anerkennen, erkennen wir zugleich an, daß der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht, daß das Tier nur den physischen Leib, den Ätherleib und Astralleib hat, der Mensch aber dazu das Ich hat.

Nun hat der Mensch, bevor er das Ich aufgenommen hat, eine Ent­wickelung durchgemacht, wo er als höchstes Glied nur den Astralleib hatte. Ist da nun etwas vorgegangen mit dem Menschen, das wir doch in einem anderen Lichte sehen müssen, als wir die Handlungen der Tiere

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sehen? - Ja. Denn darüber müssen wir uns ganz klar sein: Wenn auch der Mensch einstmals aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib be­standen hat, so wie die heutigen Tiere war er durchaus nicht. Er war nie ein Tier, der Mensch, sondern er hat in anderen Zeiten diese Stufe durchgemacht, wo er aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib be­standen hat, in Zeiten, in denen es Tiere in der heutigen Form noch nicht gegeben hat, in Zeiten, in denen ganz andere Verhältnisse auf der Erde existiert haben. Was ist dazumal aber geschehen mit dem Men­schen? Etwas, was wir so bezeichnen können, daß wir sagen: Nun, der Mensch hat zwar nicht das Ich gehabt, wir können ihm also seine Dinge nicht so zurechnen, wie wir das zum Unterschiede von den Tieren jetzt tun, aber es werden die Tatsachen, die von ihm ausgegangen sind, doch in anderer Weise zu beurteilen sein, als sie heute zu beurteilen sind, da er sein Ich hat. - Dahinein, in dieses letzte Übergangsstadium, wo der Mensch vor dem Tore steht, wo er sein Ich bekommen soll, fällt noch der luziferische Einfluß. Es konnte damals der Mensch noch nicht so beurteilt werden wie heute, aber doch anders als die Tierheit. Luzifer drängte sich also an den Menschen heran. Der Mensch konnte noch nicht sozusagen unter voller moralischer Verantwortlichkeit dem Luzi­fer folgen oder nicht; aber er konnte doch in anderer Weise, als wir das heute beim Tier bezeichnen, von Luzifer sozusagen in seine Netze ge­zogen werden. So daß wir sagen müssen: Die Verführung des Luzifer, diese Versuchung des Luzifer fällt gerade in die Zeit hinein, da der Mensch vor dem Torschluß stand, sein Ich zu erhalten. Es ist also eine Handlungsweise des Menschen, die vor seiner jetzigen Ich-Entwicke­lung liegt, die aber ihre Schatten in diese ganze Ich-Entwickelung hineingeworfen hat. Also wer ist denn eigentlich Sünder geworden? Der Mensch, insofern er ein Ich-Mensch ist, noch nicht. Durch Luzifer ist der Mensch mit einem Teile seines Wesens Sünder geworden, mit dem er heute im Grunde genommen nicht mehr Sünder werden kann. Denn heute hat er sein Ich. Der Mensch ist also mit dem Astralleib damals Sünder geworden. Das ist der radikale Unterschied zwischen irgendeiner Sünde, die wir heute als Mensch auf uns laden, und dem, was damals als Sünde in die menschliche Natur eingezogen ist. Als der Mensch damals der Versuchung des Luzifer unterlegen ist, ist er mit

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seinem Astralleib unterlegen. Es ist das also eine Tat der Vor-Ich-Entwickelung, eine ganz andersartige Tat als alle die Taten, die der Mensch hat tun können, nachdem sein Ich auch nur in den allerersten Andeutungen in seine Natur eingezogen war. So fällt also eine Tat des Menschen vor dem Einzuge des Ich in die menschliche Natur. Aber diese Tat wirft ihre Schatten in alle späteren Zeiten hinein. Vollbringen konnte der Mensch diese Tat, der Versuchung des Luzifer zu folgen, bevor er sein Ich aufnahm, aber sozusagen unter den Einfluß dieser Tat gebracht worden, ist er für alle folgenden Zeiten. Wieso? Nun dadurch, daß dies geschehen iSt, daß unser Astralleib schuldig gewor­den ist vor unserer Ich-Werdung, dadurch ist die Tatsache herbei­geführt worden, daß der Mensch nun in den folgenden Inkarnationen, sozusagen in jeder, tiefer in die physische Welt heruntersinken mußte. Das ist der Anstoß zum Heruntersinken, diese Tat, die noch im Astral­leibe sich abgespielt hat. Dadurch war der Mensch auf eine schiefe Ebene nach abwärts gekommen, dadurch folgt er mit seinem Ich Kräf­ten in seiner Natur, welche aus seiner Vor-Ich-Entwickelung herrühren.

Wie drückten sich denn nun diese Kräfte in der Menschheitsentwik­kelung aus? - Sie drückten sich auf folgende Weise aus. Wir wissen aus früheren Betrachtungen, daß der Mensch bis zum siebenten Jahre un­gefähr seinen physischen Leib entwickelt, vom siebenten bis vierzehn­ten Jahre seinen Ätherleib, vom vierzehnten bis einundzwanzigsten Jahre seinen Astralleib und so weiter. Wir wissen, daß er mit der Ent­wickelung seines Ätherleibes in ein Stadium eintritt, wo er seines­gleichen aus sich hervorbringen kann. Wir wollen jetzt ganz von der gleichartigen Erscheinung im Tierreiche absehen. Wir wissen, daß der Mensch, wenn er seinen Ätherleib entwickelt hat, Menschen seines­gleichen hervorbringen kann. Das ist daran gebunden, daß der Mensch seinen Ätherleib voll entwickelt hat. Wer ein wenig nur nachdenkt

- man braucht nicht Hellseher zu sein, man braucht nur ein wenig nachzudenken -, wird sich sagen: Also muß mit der vollen Entwicke­lung des Ätherleibes auch die Möglichkeit gegeben sein für den Men­schen, die ganze volle Menschheit hervorzubringen, wirklich seines­gleichen hervorzubringen. Das heißt, der Mensch kann nicht dann noch, wenn er sich weiterentwickelt in die Zwanzigerjahre hinein, neue

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Eigenschaften zur Hervorbringung seinesgleichen entwickeln. Man kann nicht sagen, daß der Mensch im dreißigsten Jahre dieser Eigen­schaft, die ihn befähigt, seinesgleichen hervorzubringen, noch etwas hinzufügen würde. Der Mensch hat alle Eigenschaften, die ihn fähig machen, den Menschen hervorzubringen, mit der Entwickelung seines Ätherleibes. Was kommt später noch dazu? Vom Menschen selber kommt durch das, was der Mensch später aufnimmt, nichts mehr dazu. Denn er muß schon die volle Fähigkeit haben, seinesgleichen hervor­zubringen. Er kann nichts mehr hinzu erobern, wenn er den Ätherleib voll entwickelt hat. Was kommt noch dazu? Ja, die einzige Fähigkeit, die sich der Mensch später in bezug auf die Hervorbringung von seines­gleichen erwirbt, ist diese, daß er sich den vollen Umfang seiner Fähig­keit, Menschen seinesgleichen hervorzubringen, verdirbt. Was man nach der vollen Entwickelung des Ätherleibes noch sich erwerben kann, kann nicht die Kraft bereichern, seinesgleichen hervorzubringen, son­dern sie nur schmälern. Und das ist auch der Fall. Eigenschaften, die man sich nach vollendeter Geschlechtsreife erwirbt, tragen nichts dazu bei, das Geschlecht des Menschen zu verbessern, sondern können nur dazu beitragen, es zu verschlechtern. Das rührt von dem Einfluß jenes Impulses her, den ich charakterisiert habe, der ausgeht von der Schuld des Astralleibes. Nachdem der Ätherleib vollständig entwickelt ist, also ungefähr vom vierzehnten Jahre ab, entwickelt sich der Astralleib weiter. Ja, in dem steckt aber der Einfluß des Luzifer! Was da aber wieder zurückgeht in die Entwickelung des Ätherleibes hinein, das kann nur die Möglichkeit hervorrufen, diese Kräfte des Ätherleibes, die darin beruhen, daß er Wesen seinesgleichen hervorbringen kann, weniger fähig zu machen. Das heißt, das, was der Astralleib geworden ist durch jene Versuchung des Luzifer, ist ein fortwährender Grund für eine Degeneration des Menschengeschlechtes, für ein Herunterkommen des Menschen.

Ein fortwährendes Herunterkommen durch die Inkarnationen hin­durch war in der Tat bei den Menschen der Fall. Und je weiter wir hinaufgehen gegen die atlantische Zeit zu, desto mehr würden wir in den physischen Anlagen des Menschen höhere Kräfte finden als in den späteren Zeiten. Wo hinein wurde also dieser Impuls gesteckt, der

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durch die Versuchung des Luzifer im Astralleibe hervorgebracht wor­den ist? In die Vererbung! Die machte er fortwährend schlechter. Die Sünde, welche der Mensch sich erwirbt mit seinem Ich, mag zurück­wirken auf den Astralleib, sie kann sich nur im Karma austragen. Die Sünde, welche der Mensch auf sich geladen hat, bevor er ein Ich hatte, trägt bei zu einer fortwährenden Degeneration, Verkümmerung des ganzen menschlichen Geschlechtes. Diese Sünde wurde vererbbare Eigenschaft. Und so wahr es ist, daß niemand von seinen Vorfahren etwas im höheren Sinne geistig ererben kann - denn keiner wird ge­scheit dadurch, daß er einen gescheiten Vater hat, sondern dadurch, daß er etwas Gescheites lernt; noch niemand hat die Mathematik von seinen Vorfahren ererbt, auch nicht andere Vorstellungen von seinen Vorfahren ererbt -, so wahr es ist, daß wir diese Eigenschaften nicht ererben können, sondern sie durch Erziehung bekommen, so wahr ist es, daß das, was von unserem Astralleib zurückgeht in den Ätherleib, was wir uns so aneignen, daß es zurückwirft auf den Astralleib, nur beiträgt zur Untergrabung der Fähigkeiten des menschlichen Geschlechtes. Und das ist Erbsünde. Da haben wir also wirklich den wahren Sinn des Begriffes Erbsünde. Die ursprüngliche Sünde, welche noch im Astral­leib haftete, pflanzte sich nach und nach fort, so daß sie sich den menschlichen vererbbaren Eigenschaften, die damals schon in der phy­sischen Degeneration des Menschen wurzelten, mitteilte als ein Grund des Herunterstieges der Menschen von ihren geistigen Höhen zu einer physischen Degeneration. So haben wir in der Tat einen fortwährenden Impuls bekommen durch den Einfluß des Luzifer, den man im aller-richtigsten Sinne als Erbsünde bezeichnen muß. Denn es vererbt sich das, was da hineinkam durch Luzifer in den Astralleib, von Geschlecht zu Geschlecht. Es gibt keinen treffenderen Ausdruck für das, was der eigentliche Grund ist des Herunterrückens der Menschheit in die mate­rielle physische Welt, als den Ausdruck: Erbsünde. Nur müssen wir dann diese Erbsünde nicht so auffassen wie andere Sünden des gewöhn­lichen Lebens, die wir uns voll zurechnen, sondern als ein Schicksal des Menschen, als etwas, das notwendigerweise über uns von der Welten-ordnung verhängt werden mußte, weil wir von dieser heruntergeführt werden mußten, nicht nur etwa, um uns schlechter zu machen, als wir

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waren, sondern um uns die Kräfte zu erwecken, uns selber wiederum hinaufzuarbeiten, um in uns selber die Kräfte zu finden, uns hinauf-zuarbeiten. Darum müssen wir diesen Fall der Menschheit als etwas auffassen, was zur Befreiung der Menschheit in das menschliche Schick­sal einverwoben worden ist. Nie hätten wir freie Wesen werden kön­nen, wenn wir nicht heruntergestoßen worden wären. Wir hätten am Gängelbande einer Weltordnung geführt werden müssen, der wir hät­ten blindlings folgen müssen. Wir müssen uns aber wiederum hinauf-arbeiten.

Nun gibt es niemals etwas, was nicht auch seinen entgegengesetzten Pol hätte. Wie kein Nordpol ohne einen Südpol, so kann es nicht eine solche Erscheinung geben wie diese Sünde des Astralleibes ohne den anderen Pol. Das heißt, wir haben, ohne daß wir es uns im gewöhn­lichen heutigen Sinne zurechnen können, ohne sprechen zu können von der moralischen Verfehlung, das Schicksal als Menschen, daß wir Men­schen Luzifer-erfüllt sind. Wir können in gewisser Beziehung nichts dafür, müssen sogar dankbar sein, daß es so gekommen ist. Das ist auf der einen Seite richtig. Wir können nichts dafür. Wir mußten also etwas auf uns laden, für das wir nicht im vollen Sinne verantwortlich sein können.

Dem steht nun etwas entgegen in der menschlichen Entwickelung, was sozusagen sich verhält dazu wie der nördliche Pol zum südlichen Pol. Dieser Sünde, die vererbbar ist in ihrer Folge, die also ein Ein­treten einer Schuld im Menschen ist, ohne daß der Mensch richtig schuldig ist, muß gegenüberstehen die Möglichkeit, wiederum hinauf-zukommen, auch ohne daß es die Schuld des Menschen ist. Wie der Mensch fallen mußte ohne seine Schuld, so muß er auch wieder steigen können ohne seine Schuld, das heißt hier: ohne sein volles Verdienst. Wir sind gefallen ohne unsere Schuld. Wir müssen steigen können des­halb ohne unser Verdienst. Das ist der notwendige andere Pol. Sonst müßten wir unten bleiben in der physisch-materiellen Welt. Wie wir also an den Anfang unserer Entwickelung setzen müssen notwendiger­weise eine Schuld, ohne daß der Mensch schuldig ist, so müssen wir an das Ende unserer Entwickelung ein Geschenk für den Menschen setzen, welches ohne sein Verdienst an ihn herankommt. Diese zwei Dinge

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gehören notwendigerweise zusammen. Wie das der Fall ist, darüber bekommen wir am besten auf folgende Art eine Vorstellung.

Erinnern Sie sich einmal, daß das, was der Mensch als Angehöriger des gewöhnlichen Lebens tut, aus den Impulsen seiner Empfindungen, seiner Affekte, seiner Triebe, seiner Begierden hervorgeht. Der Mensch wird meinetwegen zornig und tut das oder jenes aus dem Zorne heraus, er liebt und tut dieses oder jenes aus der gewöhnlichen Liebe heraus. Es gibt nur ein Wort, das Ihnen bezeichnen kann alles das, was der Mensch so tut. Nicht wahr, Sie werden alle zugeben, daß bei dem, was der Mensch so tut, wenn er leidenschaftlich ist, wenn er zornig ist, wenn er liebt in der gewöhnlichen Weise, etwas ist, was spottet der abstrakten Begriffe, was man nicht definieren kann. Man muß schon ein ganz vertrockneter Gelehrter sein, wenn man alles das, was irgend­einer menschlichen Handlung zugrunde liegt, definieren wollte. Aber ein Wort ist doch da, welches dasjenige bezeichnet, was beim Menschen vorliegt, wenn er irgend etwas im gewöhnlichen Leben tut, und das ist das Wort «Persönlichkeit». Mit diesem Wort umfassen wir sogleich alle die undefinierten Dinge. Wenn wir eines Menschen Persönlichkeit be­griffen haben, dann wissen wir unter Umständen zu beurteilen, warum er diese oder jene Leidenschaft, diese oder jene Begierde und so weiter entwickelte. Das hat alles diesen persönlichen Charakter, was aus unseren Trieben, Begierden, Leidenschaften und so weiter hervorgeht. Da sind wir aber so leicht verstrickt in das physisch-materielle Leben, wenn wir aus unseren Trieben, Begierden, Leidenschaften heraus arbei­ten. Da ist geradezu eingetaucht in das Meer der physisch-materiellen Welt unser Ich. Denn wie unfrei ist es, wenn es dem Zorn, der Begierde, der Leidenschaft, auch der Liebe im gewöhnlichen Sinne folgt. Unfrei ist das Ich, weil es in den Banden ist von Zorn, Leidenschaft und so weiter. Nun, wenn wir unser Zeitalter in Betracht ziehen, so werden wir uns gestehen, daß es jetzt schon etwas anderes gibt, was es im Grunde genommen in alten Zeiten nicht gegeben hat.

Nur diejenigen, welche die Geschichte nicht kennen und alles mit einem Zeitmaße beurteilen, das nicht viel weitergeht als die Nase, kön­nen behaupten, daß in den älteren Zeiten des Griechentums zum Bei­spiel solche Dinge vorhanden gewesen wären, die wir heute zusammenfassen

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mit den Worten, die seit mehr als einem Jahrhundert berühmt geworden sind, mit Worten wie: Freiheit, Gleichheit der Menschen, mit Worten, die wir bezeichnen als sittliche Ideale, mitWorten, wie sie zum Beispiel auch im ersten Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft ent­halten sind, «den Kern eines allgemeinen Bruderbundes der Menschheit zu bilden ohne Unterschied des Glaubens, der Nation, des Standes, des Geschlechtes». Wir folgen als heutige Menschen diesem Ideale. Das war nicht so bei den alten Ägyptern, Persern, überhaupt nicht bei den alten Völkern, in dem Sinn, wie wir davon sprechen. Die Menschen haben eigentlich in diesem jetzigen Zeitalter solchen Idealen zu folgen, aber was der Mensch tut unter den abstrakten Begriffen von Freiheit, Brü­derlichkeit und so weiter, hat eben den Charakter des Abstrakten für die meisten Menschen und läßt sich definieren. Für die meisten Men­schen können in bezug auf das, was sie erfassen von Freiheit, Brüder­lichkeit und so weiter diese Ideale definiert werden, weil sie wenig davon erfassen. Da haben wir, trotzdem die Leidenschaften geschwellt werden, doch bei vielen Menschen etwas vor uns, was so recht die Idee erweckt von etwas Ausgedörrtem. Persönlich können wir diese Dinge noch nicht nennen, es sind abstrakte Ideen. Es ist noch nicht etwas, was das Vollblütige des persönlichen Lebens hat. Und wir bezeichnen solche Individualitäten als sehr hochstehend, bei denen die Idee der Freiheit einen solchen Charakter annimmt, daß sie mit urelementarer Kraft hervorquillt, wie wenn sie aus dem Zorn, aus der Leidenschaft, aus der gewöhnlichen Liebe hervorkäme. Wie nüchtern lassen die Menschen vielfach heute noch die Ideen, die wir als die größten sittlichen Ideale betrachten! Dennoch ist es der Anfang eines großen Werdens. Geradeso wie der Mensch mit seinem Ich in das Meer des Physisch-Materiellen hinuntergetaucht ist, da er sozusagen Persönlichkeit entwickelte, indem er etwas tut unter den Einflüssen von Leidenschaften, Trieben, Begier­den, geradeso muß er nicht bloß mit den abstrakten Begriffen, sondern mit der Persönlichkeit hinaufrücken in diese abstrakten Ideen, die eben noch abstrakt sind. Mit der urelementaren Kraft, mit der wir heute sehen, daß dieses oder jenes aus dem Hasse oder der Liebe im gewöhn­lichen Sinne entspringt, mit der wird dasjenige entspringen, was unter den geistigsten Idealen steht.

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Der Mensch wird hinaufrücken in höhere Sphären mit seiner Per­sönlichkeit. Dazu ist aber etwas notwendig. Wenn der Mensch hin­untertaucht mit seinem Ich in das Meer des physisch-materiellen Le­bens, findet er eben seine Persönlichkeit, da findet er sein heißes Blut, seine wogenden Triebe und Begierden im astralischen Leibe, da taucht er unter in seine Persönlichkeit. Aber nun soll er hinauf in das Gebiet der sittlichen Ideale, und das soll nicht abstrakt sein. Er muß nach dem Geistigen hinauf, und da muß ihm etwas ebenso Persönliches entgegen­pulsen, wie ihm Persönliches entgegenpulst, wenn er mit seinem Ich in sein heißes Blut, in seine Triebe untertaucht. Hinauf muß er, ohne ins Abstrakte zu verfallen. Wie kommt er denn, wenn er hinaufgeht ins geistige, in etwas Persönliches hinein? Wie kann er denn diese Ideale so entwickeln, daß sie persönlichen Charakter haben? Dazu gibt es nur ein Mittel. Da muß der Mensch in den geistigen Höhen eine Persön­lichkeit anziehen können, die innerlich persönlich ist, wie die Persön­lichkeit unten im Fleische ist. Und was ist das für eine Persönlichkeit, die der Mensch anziehen muß, wenn er hinaufsteigen will in das Gei­stige? Das ist der Christus. Geradeso wie einer sagen könnte, der ein entgegengesetzter Paulus ist: Nicht ich, sondern mein astralischer Leib -, so sagt Paulus: Nicht ich, sondern der Christus in mir -, um anzuzeigen, daß dadurch, daß der Christus in uns lebt, die abstrakten Ideen einen ganz persönlichen Charakter annehmen. Sehen Sie, das ist die Bedeutsamkeit des Christus-Impulses. Ohne den Christus-Impuls käme die Menschheit zu abstrakten Idealen, zu allerlei Idealen von moralischen Mächten und dergleichen, zu dem, was heute viele Histo­riker unter den sogenannten geschichtlichen Ideen beschreiben, die nicht leben und nicht sterben können, weil sie eben keine schöpferische Macht haben. Wenn man von Ideen in der Geschichte spricht, so sollte man sich bewußt werden, daß das tote, abstrakte Begriffe sind, die nun wirklich nicht die Geschichtsepochen beherrschen können. Herrschen kann nur das Leben. Und das, wozu der Mensch sich entwickeln soll, ist die Entwickelung zu einer höheren Persönlichkeit. Dies ist die Christus-Persönlichkeit, welche der Mensch anzieht, welche der Mensch in sich aufnimmt.

So geht der Mensch wieder ins Geistige hinauf, indem er nicht bloß

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vom Geiste redet, sondern den Geist aufnimmt in der lebendig persön­lichen Form, wie er ihm entgegenlebt in den Ereignissen von Palästina, in dem Mysterium von Golgatha. So steigt der Mensch unter dem Ein­fluß des Christus-Impulses wiederum hinauf. Durch nichts anderes kommt man darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persön­lichen Charakter immer mehr und mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sich durchziehen wird mit dem Christus-Impuls. Aber wenn wir auf der einen Seite durch die Schuld vor der Entwickelung des Ich dasjenige auf uns geladen haben, was wir die Erbsünde nennen, wenn wir da sozusagen etwas haben, was uns nicht voll angerechnet werden kann, so kann uns im Grunde genom­men auch das nicht angerechnet werden, daß der Christus herein-getreten ist, daß wir den Christus anziehen können. Was wir tun, was wir versuchen, um dem Christus nahezukommen, das gehört schon in unser Ich, das ist schon unser Verdienst. Daß der Christus da ist, daß wir auf einem Planeten leben, wo der Christus gewandelt ist, in einer Zeit leben, nachdem dies geschehen ist, das ist nicht unser Verdienst. Was also ausfließt von dem positiven, dem lebendigen Christus, um uns wiederum hinaufzubringen in die geistige Welt, das ist etwas, was wiederum außerichlich ist, was uns hinaufzieht, ohne daß wir dazu etwas können, ebensowenig wie wir dazu etwas können, daß wir sozu­sagen ohne unsere Schuld schuldig geworden sind. Es kommt uns durch das Dasein des Christus auf Erden die Kraft, wiederum hinaufzu­steigen, ebenso ohne Verdienst, wie das andere ohne unsere Schuld gekommen ist. Denn beide haben es nicht zu tun mit dem Persönlichen, in dem das Ich lebt, sondern mit dem, was dem Ich vorangeht und was dem Ich nachfolgt. Wir haben öfters betont, daß der Mensch sich aus einem Zustand entwickelt hat, wo er nur physischen Leib, Ätherleib und astralischen Leib hatte, und daß der Mensch sich dadurch weiter­entwickelt, daß er seinen astralischen Leib umwandelt und durch diese Umwandlung diesen astralischen Leib zu Manas macht. So wie der Mensch seinen astralischen Leib schlechter gemacht hat durch die Erb­sünde, so macht er ihn wiederum besser durch den Christus-Impuls. Da fließt etwas herein, was den astralischen Leib um ebensoviel besser macht, als er dazumal schlechter gemacht worden ist. Das ist das

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Äquivalent, das ist dasjenige, was man im wahren Sinne die Gnade nennt. Gnade ist das Äquivalent, der Ergänzungsbegriff zum Erb­sündebegriff. So daß das Hereinströmen des Christus in den Menschen, die Möglichkeit, eins werden zu können mit dem Christus, die Mög­lichkeit, sagen zu können wie Paulus: Nicht ich, sondern der Christus in mir-, zugleich alles das ausdrückt, was wir als den Begriff der Gnade bezeichnen.

So dürfen wir sagen: Wir mißverstehen nicht die Karma-Idee, wenn wir davon sprechen, daß es eine Erbsünde und eine Gnade gibt. Denn sofern wir von der Karma-Idee sprechen, sprechen wir von der Re­inkarnation des Ich in den verschiedenen Leben. Karma ist für den Menschen ohne die Anwesenheit des Ich gar nicht zu denken. Soferne wir von Erbsünde und Gnade sprechen, sprechen wir von Impulsen, die unter der Fläche des Karma liegen, die im astralischen Leibe liegen. Ja, wir dürfen sagen, wie das menschliche Karma ist, ist es erst dadurch herbeigeführt worden, daß der Mensch die Erbsünde auf sich geladen hat. Das Karma läuft durch Inkarnationen hindurch, und vorher und nachher stehen Dinge, welche das Karma einleiten und wieder aus­gleichen, vorher die Erbsünde und nachher der volle Erfolg des Christus-Impulses, das Eintreten der vollen Gnade.

So können wir uns sagen: In der Tat, auch von diesem Gesichts­punkte aus betrachtet, hat Geisteswissenschaft gerade in der Gegenwart eine große, bedeutsame Mission. Denn so wahr es ist, daß die Mensch­heit erst vor kurzem dazugekommen ist, überhaupt Ideale anzuerken-nen, in abstrakter Form anzuerkennen, so wahr die Menschen sozu­sagen abstrakte Ideen von Freiheit, von Brüderlichkeit entfalten konn­ten, so wahr ist es, daß die Zeit vor uns stehen muß, wo diese Ideen nicht als abstrakte Ideale bloß, sondern als lebendige Kräfte an uns heranrücken. So wahr es ist, daß die Menschen einen Durchgangspunkt durchgemacht haben da, wo sie abstrakte Ideale fassen konnten, so wahr ist es, daß sie dazu vorschreiten müssen, diese Ideale persönlich auszuleben, daß sie vorschreiten müssen zum Eintritt in den neuen Tempel. Wir stehen davor. Und die Menschen werden gelehrt werden, daß dasjenige, was aus spirituellen Höhen herunterwirkt, nicht bloß Abstracta sind, sondern Lebendiges ist. Wenn sie anfangen werden, das

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zu schauen, was oftmals genannt worden ist als dem Schauen der Men­schen bevorstehend in der nächsten Epoche der Entwickelung, wenn die Menschen anfangen werden, nicht mehr zu denken: Wie bin ich gut! - sondern wenn ihnen vor Augen treten wird aus dem ätherischen Anschauen die lebendige Macht des Christus, den sie schauen werden im Ätherleibe - wie wir wissen, daß das geschieht von der Mitte un­seres Jahrhunderts ab bei einzelnen Menschen -, wenn die Menschen beginnen werden, den Christus als Lebendigen zu schauen, dann wer­den sie wissen, daß das, was sie eine Zeitlang in Form von abstrakten Ideen erschaut haben, lebendige Wesenheiten sind, die da leben inner­halb unserer Entwickelung, lebendige Wesenheiten. Denn der lebendige Christus, der zuerst in physischer Gestalt aufgetreten ist und der sich nur innerhalb derselben dazumal den Menschen mitteilen konnte, daß sie an ihn glauben konnten, auch sofern sie nicht seine Zeitgenossen waren, er wird seine Erscheinung erneuern. Dann wird es keines Be­weises bedürfen, daß er lebt, dann werden die Beweisenden da sein:

diejenigen, welche selber erleben - auch ohne eine besondere Entwicke­lung, in einer Art von reifem Schauen -, daß die sittlichen Mächte der Weltordnung Lebendiges sind, nicht bloß abstrakte Ideale.

So sehen wir, daß unsere Gedanken uns nicht hinaufführen können in die wirklich geistigen Welten, weil sie ohne Leben sind. Erst wenn diese Gedanken uns nicht mehr erscheinen als unsere Gedanken, son­dern als die Bezeugungen des lebendigen Christus, welcher den Men­schen erscheinen wird, dann werden wir diese Gedanken in der rich­tigen Weise verstehen. Dann wird der Mensch ebenso wahr, wie er eine Persönlichkeit wurde, indem er mit dem Ich untergetaucht ist in niedere Sphären, ebenso eine Persönlichkeit sein, wenn er zu den geistigen Höhen hinaufsteigt. Das verkennt der Materialismus von heute. Dieser wird nur leicht verstehen, daß es abstrakte Ideale gibt des Guten, des Schönen und so weiter. Daß es lebendige Mächte gibt, die uns durch ihre Gnade hinaufziehen, das muß erst eingesehen werden. Das wird durch geisteswissenschaftliche Entwickelung eingesehen, das ist das, was der erneuerte Christus-Impuls ist. Wenn wir unsere Ideale nicht mehr bloß als Ideale sehen, sondern durch sie den Weg finden zum Christus, dann setzen wir im geisteswissenschaftlichen Sinn das Christentum

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fort. Dann tritt dieses in ein neues Stadium, dann hört es auf, seine bloße Vorbereitung zu sein. Dann wird das Christentum zeigen, daß es das Allergrößte für alle kommenden Zeiten enthält. Dann wer­den diejenigen, welche glauben, daß das Christentum immer gefährdet ist, wenn Entwickelung in es hineingebracht wird, sehen, wie unrecht sie haben.

Denn das sind die Kleingläubigen, die ängstlich werden, wenn ge­sagt wird: Seht, das Christentum enthält noch größere Herrlichkeiten, als bisher mitgeteilt worden sind! - Und diejenigen, die groß denken vom Christentum, sind die, welche wissen, daß die Worte wahr sind, daß der Christus bei uns ist alle Tage, das heißt, daß er uns immer Neues offenbart und daß es recht ist, wenn bis zum Christus-Quell zurückgegangen wird. Dadurch lebt das Christentum als etwas Grö­ßeres, daß man ihm zumutet, daß es immer neuere und lebendigere Schöpfungen aus seinem Schoße hervorbringt. Diejenigen, die immer sagen: Ja, das steht nicht in der Bibel, das ist nicht wahres Christentum, und Ketzer seien diejenigen, die von etwas anderem behaupten, es sei Christentum - diese sind zu verweisen darauf, daß der Christus auch gesagt hat: «Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.» Das hat er nicht gesagt, um die Menschen darauf hinzuweisen, daß er ihnen etwas vorenthalten will, sondern daß er ihnen immer von Epoche zu Epoche neue Offenbarungen machen will. Und er wird sie machen durch diejenigen, die ihn verstehen wollen. Und diejenigen, welche das leugnen, verstehen auch nicht die Bibel, auch nicht das Christentum. Denn sie verstehen nicht hinzuhorchen auf das, was die christliche Mahnung in diesem Worte ist, das der Chri­stus gemeint hat: Ich habe euch noch vieles zu sagen, bereitet euch aber vor, daß ihr es lernt ertragen, daß ihr Verständnis dafür erhaltet.

Das werden in der Zukunft die wahren Christen sein, welche hören werden wollen, was die Christen als Zeitgenossen des Christus noch nicht tragen konnten. Das werden die wahren Christen sein, welche den Willen haben, von der Christus-Gnade immer mehr und mehr in ihr Herz fließen zu lassen. Das werden die Verstockten sein, welche sich wehren werden gegen die Gnade, die da sagen werden: Nein, geht zurück in die Bibel, nur das, was der Buchstabe enthält und was bisher

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herausgekommen ist, ist wahr. Sie verleugnen die Worte, die im Chri­stentum selber ein zündendes Licht herausentfachen, die Worte, die wir wohl beherzigen wollen: «Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.» Wohl der Menschheit, wenn sie immer mehr und mehr in diesem Sinne tragen wird können. Denn dann wird sie immer reifer und reifer sich machen zum Aufstieg in die spirituellen Höhen. Und dazu soll das Christentum den Weg bahnen.

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DIE MISSION DER NEUEN GEISTESOFFENBARUNG Kopenhagen, 5. Juni 1911

Einleitende Worte zu dem Zyklus

«Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit»

Es wird mir vergönnt sein, in den nächsten Tagen hier über ein mir wichtig erscheinendes theosophisches Thema zu sprechen: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit. Auf den Wunsch unserer Freunde darf ich diesen Vorträgen einige Worte voraussenden, welche sich vielleicht wie eine Art Einleitung oder Vorrede zu dem in meiner Aufgabe liegenden Thema ausnehmen werden.

Es muß dem Theosophen etwas eignen, was man im umfassendsten Sinne Sehnsucht nach wahrer Selbsterkenntnis nennen kann. Denn wer nur ein wenig in das theosophische Leben eingedrungen ist, fühlt, daß aus dieser Selbsterkenntnis heraus geboren werden muß jenes um­fassende Verständnis für ein jegliches menschliches Fühlen und Denken, für ein jegliches andere Wesen, und daß ein solches Verständnis un­zertrennlich verbunden sein muß mit unserer ganzen theosophischen Bewegung.

Es wird so leicht mißverstanden, daß innerhalb unserer deutschen theosophischen Bewegung uns voranleuchtet dasjenige Zeichen, welches Sie kennen als das Signum des Kreuzes mit den Rosen. Es ist leicht, Mißverständnisse zu hegen gerade gegenüber derjenigen geistigen, theo­sophischen Bewegung, welche unter diesem Zeichen des Rosenkreuzes sich in das geistige Leben unserer Zeit hineinleben will, hineinleben will in die menschlichen Herzen und ihr Empfinden, hineinleben will in das menschliche Wollen und seine Taten. Es ist leicht, auf diesem Boden zu einem Mißverständnis zu kommen, weil es für viele, auch gut­meinende Seelen der Gegenwart außerordentlich schwierig einzusehen ist, daß die geistige Bewegung, welche unter diesem Zeichen wirken will, in der Tat durch alle ihre Grundsätze, durch ihr ganzes Fühlen und Empfinden dazu angeregt ist, in der allertolerantesten Weise jedes menschliche Streben und jede Richtung zu verstehen. Das liegt zwar tief auf dem Grunde der Rosenkreuzerbewegung, so daß diese Toleranz

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zunächst weniger ins Auge fallen mag, aber sie gehört zu dieser Be­wegung dazu. Daher werden Sie diese Bewegung leicht auf denjenigen Seiten mißverstanden finden, welche Toleranz verwechseln mit ein­seitiger Toleranz gegenüber der eigenen Meinung, den eigenen Prin­zipien und Methoden.

Man stellt sich diese Toleranz so ungeheuer leicht vor, aber sie ge­hört zu dem Allerschwierigsten, wenn sie sich der Mensch im höchsten Sinne des Wortes erobern soll. Denn ganz leicht kann man glauben, daß derjenige, der etwas anderes sagt als man selber, ein Gegner sei. Leicht kann man auch die eigene Meinung mit dem verwechseln, was allgemein als Wahrheit vertreten wird. Theosophisches Leben aber wird blühen und die richtigen Früchte tragen für das geistige Leben der Zukunft, wenn es ein umfassender Boden sein wird, auf dem wir uns begegnen, in innigem Seelenverständnis begegnen nicht nur mit demjenigen, der glaubt, was wir selber glauben, sondern auch mit dem, der unter Umständen durch seine eigenen Erfahrungen, durch seinen eigenen Lebensweg genötigt ist, vielleicht sogar scheinbar das Ent­gegengesetzte von dem zu vertreten, was wir selber verkündigen. Eine alte Moral, welche ihrer Abendröte entgegengeht, hat gelehrt, Liebe und Toleranz zu üben zwischen denjenigen, welche die gleichen Ge­danken und Empfindungen wie wir selber haben. Theosophisches Leben wird dagegen in seiner Wahrheit immer mehr und mehr in die Herzen der Menschen jene viel tiefergehende Toleranz ausstrahlen, welche es ermöglichen wird, daß wir uns auf dem Boden gegenseitigen Verständnisses, gegenseitiger menschlicher Anregung und mensch­lichen Zusammenlebens auch da finden, wo wir nicht von vornherein in unseren Gedanken und Empfindungen übereinstimmen. Damit ist zu gleicher Zeit ein wichtiger Punkt berührt. Denn was tritt dem, der sich unserer theosophischen Bewegung zuwendet, zuerst entgegen? Wozu ist er veranlaßt, sich zuerst zu bekennen? Obwohl auch diese Erkenntnis in unserer Mitte kein Dogma zu sein braucht, und obwohl es sogar in bezug auf diese Grunderkenntnis Meinungsverschieden­heiten geben könnte, darf doch gesagt werden: Was im umfassendsten Sinne eine allgemeine Erkenntnis von Anfang an ist, wenn irgend jemand an die Theosophie herantritt, das ist die Idee der wiederholten

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Erdenleben und die Lehre vom Hinüberreichen der Ursachen von einem Erdenleben in das andere. Reinkarnation und Karma sind Über­zeugungen, die sich uns von Anfang an aufdrängen. Aber vom ersten Tage an, da diese Wahrheiten unsere Überzeugung werden, bis zu dem Tage, wo wir auch nur einigermaßen unser ganzes Leben, unser ganzes Sein in das Licht dieser Ideen, dieser Wahrheiten stellen, ist ein weiter Weg. Es verfließt lange Zeit zwischen dem Tage, an dem uns diese Überzeugung aufgeht, bis zu dem Tage, da sie vollständiges Leben in unserer Seele werden kann.

Da stehen wir zum Beispiel einem Menschen gegenüber, der uns mit Hohn, vielleicht sogar beleidigend entgegentritt. Aber wenn wir lange schon die Lehre von Reinkarnation und Karma aufgenommen haben, werden wir sagen: Wer hat da das verletzende, das beleidigende Wort gesprochen, das in unser Ohr gedrungen ist und uns mit Hohn über­schüttet hat? Wer hat vielleicht sogar die Hand zum Schlage erhoben? -Und wir werden uns dann sagen können: Wir haben es selber getan! Die Hand ist nur scheinbar die Hand des anderen, denn ich bin es selbst, der durch sein verflossenes Karma den anderen die Hand gegen mich erheben ließ.

Damit ist nur angedeutet, wie lang der Weg sein kann von der ab­strakten, theoretischen Überzeugung von Karma und Reinkarnation bis dahin, wo wir das ganze Leben in das Licht dieses Gedankens zu stellen verstehen. Dann fühlen wir wirklich den Gott in unserer Brust so, daß wir ihn nicht nur als unser eigenes höheres Selbst erleben, das uns lehrt, wie der Mensch an dem Göttlichen mit einem Funken seines Seins teilnimmt. Wir lernen vielmehr dieses höhere Selbst auch so zu fühlen, daß es uns mit einem Gefühl unbegrenzter Verantwortlichkeit durchdringt nicht nur gegenüber dem, was wir tun, sondern auch gegenüber dem, was wir erleiden, aus dem einfachen Grunde, weil das, was wir im jetzigen Zeitpunkt erleiden, nur die notwendige Folge dessen ist, was wir in einer weit zurückliegenden Zeit getan haben.

Und nun fühle man eine solche Gesinnung wie warmes geistiges Lebensblut einer neuen Kultur in unsere Seele eindringen. Man fuhle, wie neue Begriffe von Verantwortlichkeit, neue Begriffe auch von Menschenliebe entstehen, die unsere Seelen erfassen müssen durch das

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theosophische Leben. Man fühle, wie es keine Phrase ist, wenn gesagt wird, daß die theosophische Bewegung in unserer Zeit entstanden ist, weil die Menschheit neue moralische Impulse, neue intellektuelle und geistige Impulse braucht. Und man fühle, daß eine neue Offenbarung auf spirituellem Gebiete nicht deshalb für die Menschheit sich geltend macht und durch das theosophische Leben in unsere Herzen, in unsere Überzeugungen einfließen soll, weil irgendeine Willkür vorliegt, son­dern daß sie einfließen soll, weil zu jenen neuen moralischen Impulsen, zu jenen neuen Begriffen von Verantwortlichkeit, ja, vom Schicksal des Menschen eine solche neue spirituelle Offenbarung notwendig ist. Dann fühlt man wohl auch unmittelbar lebendig, was es für einen zusammenhängenden Sinn in der Welt hat, wenn dieselben Seelen, die in Leibern sitzen, welche heute hier versammelt sind, oft und oft in ver­gangenen Zeiten auf diesem Erdenboden schon verkörpert waren. Nach diesem Sinn muß man sich fragen: Warum immer wieder und wieder? -Dieser Sinn ergibt sich uns dadurch, daß wir durch die Theosophie kennenlernen, wie wir jedesmal, wenn wir in einem neuen Leib durch neugebildete Augen hinausschauen in die Herrlichkeiten der Welt, hinter dem Schleier der sinnlichen Welt die göttlichen Offenbarungen erahnen; oder daß wir durch neugebildete Ohren hinaushören auf das, was sich uns als Göttliches in der Welt der Töne offenbaren kann, und daraus erkennen lernen, wie wir jedesmal in einer neuen Inkarnation Neues auch auf dem Erdenrund erleben können und erleben sollen. Dann fühlt man wohl auch, daß es Menschen geben muß, die durch ihr Karma dazu bestimmt sind, prophetisch vorherzukünden, was nach und nach die ganze Menschheit als Sinn eines Zeitalters ergreifen muß.

Was heute in den Reihen der Theosophischen Gesellschaft und der theosophischen Bewegung durch die Offenbarungen aus der spirituel­len Welt erfaßt werden kann, das muß einfließen in die gesamte menschliche Kultur. Die Seelen, die sich durch die heutigen Leiber hineinleben in die Welt, fühlen sich deshalb zur Theosophie getrieben, weil sie die Notwendigkeit empfinden, dieses neue Element hinzu­zufügen zu dem, was in den verschiedensten Epochen von den Men­schen erobert worden ist aus der geistigen Welt heraus. Da müssen wir

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uns allerdings darüber klar werden, daß wir in einer jeden Epoche aufs neue wieder den ganzen Sinn des Weltenrätsels verstehen müssen, daß wir in einer jeden Epoche in einer neuen Art demjenigen gegenüber­treten müssen, was uns herunterfließen kann durch die Offenbarungen aus den spirituellen Welten.

Unsere Zeit ist eine ganz besondere. Obwohl man oftmals leichten Herzens jede Zeit eine Zeit des Überganges nennt, so gilt trotzdem das, was sonst oftmals Phrase ist, im wahren Sinne des Wortes für unsere Zeit. Es kommt tatsächlich ein Zeitalter herauf, in dem die Menschen viel Neues in bezug auf die ganze Evolution unserer Erde erleben müssen. Über manches werden die Menschen neu zu denken haben. Ja, manches von dem Neuen wird heute noch, man möchte sagen, im alten Stil und im alten Sinne aufgefaßt. Vielen Menschen ist es noch unmöglich, dieses Neue auch schon in einer neuen Art wirklich aufzu­fassen. Oftmals hinkt der Mensch mit seinen alten Begriffen den neuen Offenbarungen nach.

Da sei nur beispielsweise auf eines aufmerksam gemacht. Man hat mit Recht immer wieder und wieder betont, welchen ungeheuren Fort­schritt des menschlichen Denkens es bedeutet, daß seit vier Jahrhunder­ten die Menschen in den physischen Bau des Weltalls eingedrungen sind. Mit Recht wurden auf der einen Seite die großen Errungenschaf­ten und Erfolge hervorgehoben eines Kopernikus, eines Kepler, Galilei, Giordano Bruno und so weiter. Aber auf der anderen Seite möchte ich an ein Wort erinnern, das sich recht klug anhört und etwa folgender­maßen lautet: Nun haben uns die Gedanken des Kopernikus in die Welt räumlich hinausgeführt, und es hat sich gezeigt, daß es so ist, wie es Giordano Bruno geahnt hat: wie unsere Erde ein kleiner Welten-körper neben anderen unzähligen im Raume befindlichen Weltenkör­pern ist. Und auf dieser Erde, sagt man, sollte sich das größte Drama abgespielt haben, das den Mittelpunkt der Evolution bildet, und wir sollten in den Mittelpunkt dieser ganzen Evolution die Geschichte des Christus Jesus stellen? Wie sollte denn ein solches für die ganze Welt bedeutungsvolles Geschehen auf den kleinen Erdplaneten verpflanzt werden, da man doch kennengelernt habe, daß diese Erde eben nur der kleine Planet unter unzähligen Planeten des Daseins ist!

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Das ist ein Gedanke, der gewiß naheliegt, so nahe, daß er sich außer­ordentlich klug und gescheit ausnimmt, wenn man bloß auf den In­tellekt Rücksicht nimmt, aber ein Gedanke, der nicht rechnet mit der Tiefe der spirituellen Empfindung. Sie kommt darin zum Ausdruck, daß am Ausgangspunkte des Christentums der Ursprung dieses Ereig­nisses auf der Erde nicht einmal in einen königlichen Palast oder in irgendwelche Glanzstätten der Erde verlegt wurde, sondern in einen Stall zu armen Hirten. Nicht einmal damit hat das spirituelle Empfin­den also sein Genüge gehabt, dieses Ereignis auf die Erde zu verlegen, sondern sogar in einen verachteten Winkel der Erde. Das nimmt sich dann gegen die Behauptung, daß es nicht mehr anginge, «das größte Drama des Weltgeschehens in einem Provinztheater sich abspielen zu lassen» - dieser Ausdruck ist gebraucht worden -, sehr sonderbar aus. Aber das Christentum hat die Art, dieses größte Drama des Welt-geschehens nicht nur in einem Provinztheater, sondern noch ganz wo­anders spielen zu lassen.

Wir sehen daraus, wie schwierig es ist, den Dingen nachzukommen mit dem richtigen, wahren Empfinden, und wieviel die Menschen wer­den zu lernen haben, um einzusehen, welches die richtigen Gedanken und Empfindungen gegenüber der Menschheitsentwickelung sind. Wir gehen bewegten Zeiten entgegen, das darf für unsere Gegenwart und für die nächste Zukunft gesagt werden. Denn wahr ist es: manches Alte ist abgebraucht, und Neues fließt herein aus der geistigen Welt in die Menschheit. Nicht weil sie so wollen, sondern weil die Geschichte der Menschheit dazu zwingt, sprechen die, welche von der Mensch­heitsentwickelung etwas wissen, davon, daß unser ganzes seelisches Leben im Verlaufe der nächsten Jahrhunderte sich ändern werde, und daß am Ausgangspunkt dieser Anderung die sich richtig verstehende theosophische Bewegung stehen muß, stehen muß in aller Demut, aber mit echtem Verständnisse dessen, was sich für die Menschheit im Laufe der nächsten Jahrhunderte zu vollziehen hat. Denn so wahr es ist, daß die Menschen erst im Laufe der Zeit gelernt haben, mit ihrem Intellekt den Weltenbau so anzusehen wie Kopernikus, Giordano Bruno, Kepler oder Galilei, wie die Menschen erst im Laufe unserer letzten Jahr­hunderte gelernt haben, intellektuell die Welt zu interpretieren, und

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wie früher die Menschenseelen in ganz anderer Weise zu ihrem Wissen gekommen sind, ebenso wahr ist es, daß das intellektuelle Wissen in unserer Zeit für die Menschenseele abgelöst werden wird von einer neuen, einer spirituellen Einsicht. Es drängen jetzt schon die mensch­lichen Seelen in ihren Leibern dazu, nicht mehr bloß intellektuell die Welt anzuschauen. Und wenn nicht durch den Materialismus so viel ins Werk gesetzt worden wäre, um die spirituellen Regungen zurückzu­drängen, so würden solche Seelen, die man förmlich stürmisch nach spirituellen Inhalten begehren fühlt, noch viel mehr in Erscheinung treten, würden sich viel deutlicher die spirituellen Regungen in den Menschen bemerkbar machen, die nur darauf warten, in noch anderer Weise in den Weltenraum hineinzuschauen und in das Dasein, als es bisher der Fall war.

Bevorzugte Geister, denen das zuteil wird, was man als «Gnade» bezeichnet, sehen vor ihrem Geiste oftmals jahrhundertelang voraus, was später allgemeines Schauen der Menschheit werden kann. Öfter wurde von mir darauf hingewiesen, wie etwas, was einmal ein gnaden­erfüllter Mensch, Paulus, in dem Ereignis von Damaskus, als den Im­puls des Christus-Geschehnisses als einzelner erlebte, nach und nach Gemeingut der Menschheit werden wird. Wie Paulus durch eine spiri­tuelle Offenbarung wußte, wer der Christus ist, was der Christus getan hat, so werden die Menschen solches Wissen, solches Schauen wieder erleben. Die Zeit steht unmittelbar bevor, wo eine Anzahl von Men­schen etwas erleben werden wie eine Erneuerung des paulinischen Christus-Ereignisses. Das ist etwas, was zur Evolution unserer Erde gehört: jenes geistige Auge, das sich vor Damaskus dem Paulus geöff­net hat, das hineinschaut in die geistigen Welten und von dorther jene Wahrheit holt, die Paulus nimmermehr geglaubt hatte, als ihm in Jeru­salem über das Christus-Ereignis berichtet worden war - dieses geistige Schauen werden viele Menschen erleben. Daß dieses Ereignis eintreten wird, ist eine geschichtliche Notwendigkeit. Das ist das, was man in Wahrheit die Wiederkunft des Christus im 20. Jahrhundert genannt hat. Der Christus als Individualität wird erkannt werden, wie er sich offenbart hat immer mehr und mehr sich annähernd dem physischen Plan von jenem Augenblicke an, da er im brennenden Dornbusch dem

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Moses erschienen ist wie in einem Abglanz, bis zu jener Zeit, da er drei Jahre auf dem physischen Plan in einem Menschenleibe lebte. Er wird durch ein solches Schauen erkannt werden als der Schwerpunkt der gesamten Erdenevolution.

Ein System hat nur einen Schwerpunkt, eine Waagschale nur einen Aufhängepunkt. Sobald Sie den Waagebalken mehrfach unterstützten, würden Sie gegen die Raumesgesetze der Schwere verstoßen. Sie brau­chen nur einen Punkt, einen Schwerpunkt für ein System. Deshalb anerkennen die Okkultisten aller Zeiten, des Altertums und der Neu­zeit, wenn von dem Schwerpunkt der Erdenevolution im wahren Sinne die Rede ist, dieses Hinwenden der Evolution zu dem einen Punkt, zu dem Mysterium von Golgatha, und das Aufsteigen der Menschheits­entwickelung wieder von diesern Punkte aus. Wahr ist es: es ist außer­ordentlich schwierig, den richtigen Sinn dieses Christus-Ereignisses, des Mysteriums von Golgatha für die geistige Führung der Menschheit anzuerkennen. Denn dazu gehört, daß alles, was wir an Empfindungen und Urteilen mitbringen von dem einen oder dem anderen Welten-bekenntnis her, in uns schweige. Wir müssen ebenso fremd und objektiv den christlichen Erziehungsmethoden gegenüberstehen, welche durch viele Jahrhunderte im Abendlande geherrscht haben, als anderen reli­giösen Erziehungsmethoden der Welt, wenn wir im wahren Sinne das­jenige kennenlernen wollen, was der geistige Schwerpunkt der Erden-evolution ist. Daher wird man es erleben, daß für die nächsten Jahr­zehnte diejenigen, welche die intensivsten Verkündiger des geistigen Schwerpunktes der Menschheitsentwickelung werden, als «schlechte Christen» gelten werden, denen man vielleicht sogar das Prädikat Christ absprechen wird.

Schon die eine Idee ist ungeheuer schwierig zu begreifen, daß der Christus nur einmal vorübergehend drei Jahre in einem menschlichen Leibe verkörpert sein konnte. Diejenigen, welche sich genauer bekannt­gemacht haben mit dem, was die Rosenkreuzer-Theosophie über diese Dinge zu sagen hat, wissen, wie kompliziert der physische Leib jenes Jesus von Nazareth sein mußte, damit er die gewaltige Individualität, welche die Christus-Individualität ist, in sich aufnehmen konnte. Wir wissen, daß nicht ein Mensch, sondern daß zwei Menschen dazu geboren

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werden mußten. Von dem einen erzählt uns das Matthäus­Evangelium, von dem anderen das Lukas-Evangelium. Wir wissen, daß jene Individualität, die in den Leib desjenigen Jesusknaben verkörpert wurde, von dem das Matthäus-Evangelium berichtet, vorher Gewal­tiges für sich erreicht hatte in früheren Erdenleben, und daß diese Individualität mit zwölf Jahren ihren Leib verließ, um einen anderen Erdenleib bis zum dreißigsten Jahre einzunehmen und mit anderen Fähigkeiten in diesem anderen Leibe sich weiter zu entwickeln. Auf diese Weise mußte an der Persönlichkeit, die man als Jesus von Naza­reth bezeichnet, zusammenwirken alles, was in der Menschheit vorher an Großem und Gewaltigem und anderseits an Demütigem erlebt wor­den ist, damit ein Leib fähig war, die Wesenheit aufzunehmen, die im wahren Sinne der Christus genannt werden darf. Ein tiefes Verständnis wird notwendig werden, um die Einzigartigkeit des Christus zu ver­stehen, um zu verstehen, was die Okkultisten meinen, wenn sie sagen:

Wie es in der Mechanik nur einen Schwerpunkt eines Systems geben kann, so kann es auch nur ein Ereignis von Golgatha geben.

Eine Zeit, die vor solchen gewaltigen seelischen Ereignissen steht, wie es jetzt nur andeutend charakterisiert werden konnte, ist ganz besonders geeignet, uns in uns selber Einkehr halten zu lassen. Und unter den mancherlei Aufgaben, welche der wahre Theosoph innerhalb der theosophischen Bewegung heute hat, ist ganz gewiß diese: Einkehr zu halten in die eigene Seele, in das eigene Herz, um sich ein wenig darüber klar zu werden, daß wir nur mit Entsagung den Weg gehen können, der dahin führt, diese einzigartige Wahrheit zu begreifen, von der uns der Okkultismus aller Zeiten in eindeutiger Weise berichtet.

Solche Zeiten, in denen glanzvolle Weisheitslichter und warme Liebesgaben über die Menschheit ausgestrahlt werden sollen, müssen auch etwas bringen, was die Wahrheit des Satzes bestätigt: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten. - Die starken, schwarzen Schatten, die eintreten mit jenen Gaben, von denen eben gesprochen worden ist, das sind die Irrtumsmöglichkeiten. Mit großen Weisheitsgaben, welche in die menschliche Evolution einfließen sollen, ist notwendigerweise ver­bunden, daß das menschliche Herz in solchen Zeiten sehr leicht dem Irrtum ausgesetzt sein kann. Glauben wir daher nicht, daß unfehlbarer

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als in anderen Zeiten die irrende Menschenseele sein wird in den Zei­ten, welche da kommen werden und von denen wir verstehen müssen, daß mehr als in jeder anderen Zeit die menschliche Seele dem Irrtum und den Irrtümern ausgesetzt sein wird. Das ist es, was wie aus grauem Dämmerlichte die Okkultisten aller Zeiten prophetisch vorherverkün­det haben. Wahr ist es, daß in den Tagen der Erleuchtung, auf die wir nur andeutend hinweisen konnten, die leichteste Möglichkeit des Irr­tums, ja, die größte Verirrung Platz greifen kann. Um so notwendiger ist es, klar auf diese Möglichkeit des Irrtums hinzuschauen, sich klar darüber zu sein, daß, weil wir Großes gewärtigen sollen, um so leichter der Irrtum das schwache menschliche Herz befallen kann.

Wenn wir jetzt die geistige Führung der Menschheit ins Auge fassen wollen, müssen wir aus diesem Gedanken der Irrtumsmöglichkeit - aus dem, was mit warnender Hand die Okkultisten aller Zeiten voraus­gesagt haben - die Lehre ziehen: jene höchste Toleranz zu üben, von der heute im Eingange gesprochen worden ist, und uns alles abgewöh­nen, was zu einem blinden Autoritätsglauben gehört, denn ein solcher Autoritätsglaube kann ein starker Versucher sein, kann gerade den Irrtum anregen. Auf der anderen Seite aber müssen wir uns das Herz offen und warm halten für alles, was in einer ganz neuen Weise auf die Menschheit aus den geistigen Welten herabfließen will. Daher wird ein guter Theosoph vor allen Dingen der sein, welcher weiß: Wenn wir innerhalb unserer Bewegung Pfleger jenes Lichtes sein wollen, das in die Menschheitsevolution einströmen soll, so müssen wir Wächter wer­den gegenüber alledem, was an Irrtümern sich gleichzeitig mit diesem Licht einschleichen kann. Fühlen wir auch demgegenüber die ganze Verantwortlichkeit, und haben wir das weite Herz, das wir brauchen, um zu verstehen, daß es noch keine Bewegung auf unserem Erdenrund gegeben hat, in welcher solche weiten, liebevollen Herzen gepflegt wer­den konnten. Lernen wir verstehen, daß es noch immer besser ist, wenn wir von denjenigen bekämpft werden, die glauben, nur in ihrer Mei­nung das Alleinseligmachende zu haben, als wenn wir diese anderen selber bekämpfen. Zwischen diesen beiden Extremen liegt ein weiter Weg. Aber die, welche im Geiste die theosophische Bewegung ergreifen, werden zu leben wissen mit etwas, was wie ein Kernspruch, wie ein

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Motto für alle Spiritualität mit Recht durch alle Zeiten gegangen ist. Wenn Sie auch zuweilen Zweifel überkommen könnte bei dem Ge­danken: Wohl ist starkes Licht vorhanden, aber auch eine große Irr­tumsmöglichkeit, wie sollst du schwacher Mensch dich darin zurecht­finden? Wie sollst du entscheiden können, was von der Wahrheit stammt und was Irrtum ist? - Wenn ein solcher Gedanke in der Brust aufsteigt, können Sie Stärkung und Kräftigung fühlen durch den Leit­spruch: Die Wahrheit wird dasjenige sein, was die höchsten Impulse für die Menschheitsentwickelung abgeben wird, und näher soll mir die Wahrheit stehen als ich mir selber. Verhalte ich mich so zur Wahrheit, und irre ich hier in dieser Inkarnation, so wird die Wahrheit die Kraft haben, mich zu sich zu ziehen in der nächsten Inkarnation. Wenn ich ehrlich irre in dieser Inkarnation, wird sich dieser Irrtum ausgleichen in der nächsten. Besser ist es, ehrlich zu irren, als unehrlich Dogmen anzuhängen. Und das Wort wird vor uns aufleuchten: Nicht durch unser Wollen, wohl aber durch die göttliche Kraft der Wahrheit selbst wird diese Wahrheit siegen. Ist aber das, wozu wir durch irgendwelche Umstände in dieser Inkarnation gedrängt werden, nicht die Wahrheit, ist es der Irrtum, sind wir zu schwach, um zur Wahrheit hingezogen zu werden, dann möge das, wozu wir uns bekennen, nur untergehen, denn dann hat es nicht die Kraft zu leben, soll nicht die Kraft zu leben haben. Wenn wir ehrlich zur Wahrheit streben, dann wird sie der siegende Impuls in der Welt sein. Und ist das, was wir jetzt schon haben, ein Stück Wahrheit, so wird dies nicht durch das, was wir für diese Wahrheit vorbringen können, in uns siegen, sondern durch die Kraft, die ihr selber innewohnt. Ist es aber der Irrtum, dann haben wir auch die Kraft, zu sagen: Es möge dieser Irrtum untergehen.

Wenn wir dieses zu unserem Leitspruch machen, dann werden wir den rechten Standpunkt finden, daß wir uns sagen: Wir können unter allen Umständen das gewinnen, was wir brauchen innerhalb einer spirituellen Bewegung: Vertrauen. Ist es die Wahrheit, was dieses Ver­trauen uns eingibt, so wird diese Wahrheit siegen, mögen ihre Gegner sie auch noch so sehr bekämpfen.

Diese Empfindung kann leben in eines jeden Theosophen Seele. Und wenn wir die Vermittler sein sollen dessen, was uns aus der geistigen

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Welt herabfließt, und was solche Gefühle wachruft im menschlichen Herzen, welche Sicherheit und Kraft für das Leben geben, dann erfüllt sich die Mission der neuen spirituellen Offenbarung, die mit dem, was wir als Theosophie bezeichnen, in die Menschheit gekommen ist und immer mehr und mehr die menschlichen Seelen in eine geistigere Zu­kunft hineintragen wird.

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GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG Wien, 14. Juni 1911

Es gereicht mir zu einer großen Freude, Sie heute auf meiner Durchreise wieder begrüßen zu können und über einiges Theosophisches am heu­tigen Tage mit Ihnen sprechen zu können. Dabei dürfen wir gerade an diesem Orte, wo wir vor etwas mehr als einem Jahr eingehend über ein Thema aus dem Bereich des theosophischen Erkennens und Lebens sprachen, und mancherlei Ideen und Begriffe dabei aufgenommen haben, ein Thema berühren, das mehr dem seelischen Leben des Men­schen, dem inneren Leben des Gemütes nahesteht und doch uns wieder­um hinaufweist und hinaufweisen kann in die Perspektiven, die uns unterrichten werden vom Zusammenhang des Menschen mit den gro­ßen Sternenwelten, mit dem, was wir den Makrokosmos nennen.

Ich möchte heute von einer Anschauung ausgehen, einem Leit­spruch, welcher durch die ganze menschliche Geschichte geht und der uns auf der einen Seite die Sehnsucht des Menschen ausdrückt, seinem höheren Selbst nahezukommen, auf der anderen Seite aber sagt, wie wenig er an sein göttliches Selbst heranlangt. In der griechischen Ge­schichte finden wir Sokrates, wie er herumgeht, lehrend die Menschen, durch einfache Begriffe sie auf die Tugend hinlenkend, auf alles das, was dem menschlichen Gemüt naheliegt. Sokrates, der griechische Weise, wollte den Blick seiner Zeitgenossen von der äußeren Natur wegwenden. Während seine Vorgänger über das dachten, was den gro­ßen Naturerscheinungen zugrunde liegt und sie zu erklären suchten, wird von Sokrates gesagt, daß er den Ausspruch getan haben soll: Was interessiert uns die Natur, die Bäume, die Vögel? Sie können uns nicht lehren, wie wir Menschen besser werden. - Dieser Satz enthält einen Irrtum. Aber darauf kommt es hier nicht an, ob Sokrates einen Irrtum begeht, sondern darauf kommt es an, was er wollte. Er war einer der größten Weisen der Welt, der sogar das, was er wollte, mit seinem Leben bezahlt hat.

Einen Leitspruch gibt es, der von Sokrates erhalten ist. Sein Inhalt fällt jeder Menschenseele auf, die sich selbst erkennen will: er lehrte die

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Tugend, die Moralität. Wenn der Mensch sie wirklich einsehen könnte, würde er danach handeln. Wenn der Mensch von der Moralität abgeht, so kommt das nur daher, daß er sie noch nicht ganz einsieht. Die Tugend ist lehrbar. Das menschliche Herz wendet ein, daß die menschliche Natur schwach sei, daß sie oft gegen die Tugend fehle. Derjenige, welcher diesen Spruch in eine Form geprägt hat, in der er in vielen Herzen lebt, so lebt, daß er ein Ausdruck des tiefsten Bedauerns, der Entschuldigung ist, Paulus, hat diesem Spruch die Form gegeben: Stark ist der Geist, das Fleisch ist schwach. - Viele sehen ein, worin die Tugend besteht und können ihr doch nicht folgen. Dieser Zwiespalt geht durch die ganze menschliche Natur. Man braucht nur diesen Ausspruch in seine Seele zu schreiben, und man hat die Zwiespältigkeit der mensch­lichen Natur aufgezeichnet. Es gibt etwas im Menschen, was über ihn hinausragt: die höhere menschliche Natur ragt über die niedere hinaus.

Durch die Theosophie werden wir gewohnt, die menschliche Natur nicht als etwas bloß Einfaches anzusehen. Die Seele des Menschen er­scheint uns als eine Dreiheit. Es muß hier an die Entwickelung unseres Planeten erinnert werden, an seine früheren Inkarnationen, die er durchlaufen hat und in welchen mit ihm auch der Mensch entwickelt worden ist. Die erste Inkarnation unseres Planeten war der Saturn­zustand. Hier wurde der Keim gelegt zum physischen Körper des Men­schen. Nachdem dieser Zustand lange gedauert hatte, löste sich der Planet auf und erschien abermals, und zwar als Sonne mit den Kräften des Lebensäthers. In diesem Zustand wurde dem physischen Leib der Ather- oder Lebensleib im Keime hinzugefügt. Wieder nach langer Zeit löste sich der Planet auf und erschien abermals, und zwar im Monden­zustand. In ihm wurde dem menschlichen physischen und ätherischen Leib der astralische Leib hinzugefügt. Und nachdem auch dieser Zu­stand durch die Auflösung gegangen war, verkörperte sich die Erde in der Form, die sie jetzt hat. Als viertes Prinzip wurde jetzt dem Men­schen der Keim seines Ichs hinzugefügt.

Saturn, Sonne und Mond ist eine Dreiheit: die Vergangenheit der Erde. Während dieser hat sich die menschliche Dreiheit entwickelt:

physischer Leib, Atherleib, Astralleib. Diese sind Menschenvergangenheit.

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Sein Ich ist die Gegenwart. Seine Zukunft liegt in dem, was es aus der unteren Dreiheit herausarbeitet, was an Durchgeistigung dabei erreicht wird. Indem das Ich den astralischen Leib durchdringt und beherrschen lernt, wandelt es ihn um zum Geistselbst oder Manas. Indem das Ich den Atherleib durchdringt, wandelt es ihn um zum Lebensgeist oder Buddhi. Indem das Ich den physischen Leib durch­dringt, wandelt es ihn um zum Geistesmenschen oder Atman. Dies ist die obere Dreiheit, die Zukunft des Menschen.

Nun ist auch das Ich ein Dreifaches, denn die Seele hat drei Aspekte, drei Grundkräfte, aus denen sie besteht, die von ihr niemals getrennt oder herausgerissen werden können. Diese drei Kräfte sind das, was wir die Empfindungsseele, Verstandesseele, Bewußtseinsseele genannt haben. Sie sind Teile der allmählich zum Bewußtsein sich hindurch-ringenden Individualität. Wir können sie mit den Worten unserer Spra­che auch bezeichnen als Klugheit, Individualität und Moralität. In der Empfindungsseele erfühlen wir das innerlich Seelische; der astralische Leib kann als das Außere der Empfindungsseele betrachtet werden. Aus der Verstandesseele ringt sich das bewußt werdende Ich heraus. Innerhalb der erwachsenden Ich-Kräfte wird die Bewußtseinsseele als das Innere erlebt, das Geistselbst als das Äußere.

Gibt es etwas, was uns andeuten kann, daß wahr ist, was eben gesagt wurde? Um uns diese Frage zu beantworten, nehmen wir Rücksicht auf das, was wir geworden sind durch die Entwickelungsstadien der Menschheit. Wir stehen zwischen der vergangenen niederen Dreiheit und der leuchtenden geistig-seelischen Dreiheit mitten darin. Wir wol­len heute mit Worten, die aus dem unmittelbaren Leben genommen sind, diese Dreiheit bezeichnen, nicht wie in dem Buch «Theosophie», wo sie wissenschaftlich dargestellt ist. Was ist das, was uns bedeuten kann unsere tiefsten seelischen Mängel, unsere seelischen Sehnsuchten und Unbefriedigung, was ist diese Dreiheit, wenn wir auf unsere Klug­heit, Individualität und Tugend sehen, auf all unser Streben, das uns mit Beseligung oder mit Disharmonie erfüllen kann? Das ist diese Drei­heit, die wir bezeichnen können als Glaube, als Hoffnung und als Liebe. Sie sind die drei Grundkräfte der Seele, die nie von ihr genommen wer­den können.

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Glaube - was ist Glaube? Glaube ist eine Seelenkraft, die nie der Menschenseele ganz entrissen werden kann, und sie lebt in jedem Men­schen. Kein Volk hat es gegeben, welches sie nicht gehabt hätte, keine Religion hat es sich nehmen lassen, davon zu sprechen. Die Glaubens-sehnsucht ist es, welche die Welt durchzieht. Immer will die Seele etwas haben, woran sie haften kann. Erhält diese Glaubenssehnsucht keine Befriedigung, dann ist es bös bestellt um die gequälte Seele. Wenn ihr genommen wird, woran sie glauben kann - wie es durch den Mate­rialismus geschieht -, dann geht es ihr so, wie wenn dem menschlichen Körper die Luft zum Atmen entzogen würde. Nur daß der Vorgang des Erstickens des Körpers sehr kurz, jener der Seele sehr lang dauert.

Vielfach liest man Aussprüche, wie: Wissen ist Macht - und der­gleichen. Nun ist im Eingange der Bibel ein eigentümliches Wort ge­funden worden, das bis heute noch nicht richtig gewürdigt wird. Es ist dort die Rede vom Baum der Erkenntnis und von der Frucht des Bau­mes der Erkenntnis, die gegessen wird. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Erkenntnis ist Nahrung, Wissen ist Nahrung für die Seele. Die Seele ißt von dem, was wir als Begriffe aus der Theosophie in uns aufnehmen. Sie ißt von dem, was sie glaubt, und sie hat gesunde Nahrung nur an dem, was die Theosophie ihr bietet.

Glaube, sagen die Wissenschafter und Materialisten, sei ein über­wundener Standpunkt. Ich glaube nur, was ich weiß -, sagt der mo­derne Mensch. Das ist ein Irrtum. Glaube ist kein Verfall in die Ver­gangenheit, denn Glaube und Wissen bilden keinen Gegensatz. Das Wissen aber ist wandelbar und es kann das Glaubensbedürfnis im Her­zen des Menschen nicht befriedigen. Wenn die materielle Wissenschaft behauptet, die Welt sei aus Atomen zusammengesetzt und durch Zufall geworden, dann sagt das Menschenherz ganz richtig: Das kann ich nicht glauben, ich finde keine Befriedigung an dieser Hypothese. - Und weil der Mensch nicht glauben kann, weil er nichts hat, woran er sich mit seinem Glaubensgefühl fest anklammern kann, deshalb ist die menschliche Seele nicht gesund, und diese ungesunde Seele macht den Körper krank. So entsteht Nervosität im heutigen Sinne und wird immer ärger und ärger. So wirkt die Seele auf den Körper und der so gewordene Mensch auf seine Umgebung, welche er herunterzieht und

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krank macht, und auf seine Nachkommen. Daher kommt es, daß die Menschheit mehr und mehr degeneriert, und es wird leider noch immer ärger und ärger werden. Die materialistische Wissenschaft ist es, welche den Menschen «Steine statt Brot» gibt. Die Seele hat keine Nahrung, obzwar der Intellekt überfüllt mit Wissen ist. Und ein solcher Mensch geht dann herum und weiß nicht, was er mit sich anfangen soll, er weiß nicht, woran er festhalten soll, und genau so, wie wenn man ihm die Atemluft nimmt, so erstickt die Menschenseele daran, daß sie keine Nahrung, keine geistige Lebensnahrung hat. Die Theosophie ist deshalb in die Welt gekommen, um die Menschheit mit Nahrung zu versehen.

Wenn wir, um Theosophie zu betreiben, zusammenkommen, tun wir es nicht so wie andere Vereine etwa, die sich mit Literatur, schönen Künsten, sozialen Problemen und dergleichen befassen. Wir treiben Theosophie nicht aus Neugierde, sondern deshalb, um den Glaubens­drang zu befriedigen, um der Seele Nahrung zu geben. Deshalb lassen wir die theosophischen Begriffe, Gefühle und Empfindungen auf un­sere Seele einwirken.

Wenn wir nun dies betrachten im Hinblick auf die Welt- und Menschheitsentwickelung, so müssen wir uns erinnern, daß während des Mondenzustandes der Erde der astralische Leib dem Menschen hin­zugefügt worden ist. Was ist nun dieser astralische Leib? Er besteht aus Kräften, die immer etwas ergreifen müssen, die immer sich irgendwo anhaften müssen. In ihrer Wirkung sind diese Kräfte das, was wir als Glaube, als Glaubenskraft erleben. Der astralische Leib ist der Quell des Glaubens selbst. Er muß daher Nahrung erhalten, soll er sich ent­wickeln, soll er leben. Das Verlangen nach Nahrung ist die Glaubens-sehnsucht. Kann diese Glaubenskraft nicht befriedigt werden, wird dem Glauben eins ums andere entzogen, woran er sich halten könnte, wird ihm nicht gute geistige Nahrung geboten, dann wird der astrali­sche Leib krank und durch ihn auch der physische Mensch. Erhält er aber die Befriedigung aus jenen Begriffen, Vorstellungen und Gefühlen, welche die Theosophie aus der Wahrheit, aus den Tiefen der Welt-erkenntnis schöpft, dann hat er seine ihm zusagende seelische Nahrung, dann hat er seine Befriedigung. Er wird stark, gesund, und der Mensch selbst wird gesund.

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Bis auf das Wort haben sich seit einem Jahrhundert etwa die An­sichten geändert. Vor hundertdreißig Jahren ungefähr nannte man einen Menschen nervös, der ein fester Kerl war, mit starken Muskeln und voll Kraft. Heute ist ein nervöser Mensch ein unzufriedener, schwächlicher Mensch, ein Kranker, einer, dessen Seele unbefriedigt nach dem sucht, woraus sie ihre Nahrung ziehen kann. Aus alldem folgt, daß wir mit Fug und Recht den astralischen Leib den Glaubens-leib nennen können.

Eine zweite Grundkraft ist die Liebe. Niemandem fehlt sie, immer ist sie da, sie kann nicht ausgerottet werden. Wer glauben würde, daß der größte Hasser, der größte Egoist keine Liebe habe, ist im Irrtum. Das zu denken ist durchaus falsch. Die Liebessehnsucht ist immer und immer hier vorhanden. Mag es sich um Geschlechtsliebe handeln oder um Liebe zum Kinde, oder zum Freunde, oder um Liebe zu irgend etwas, zu einem Werke, immer ist sie da. Sie kann nicht aus der Seele herausgerissen werden, weil sie eine Grundkraft der Seele ist. Aber so wie der Mensch die Luft zum Atmen braucht, so braucht er das Liebes­werk, die Liebebetätigung für seine Seele. Ihr Gegner, ihre Behinderung, ist der Egoismus. Was tut aber der Egoismus? Er läßt die Liebe nicht hinauswirken, er preßt sie in die Seele hinein, immer und immer. Und wie beim Atmen die Luft ausströmen muß, damit der Mensch nicht ersticke, so muß die Liebe ausströmen, damit die Seele nicht ersticke an dem, was gewaltsam in sie hineingepreßt wird. Besser gesagt: die Seele verbrennt an dem eigenen Liebesfeuer in sich selbst und geht zugrunde.

Erinnern wir uns nun, daß der Mensch auf der alten Sonne den Ätherkörper in der Anlage bekommen hat, daß dieses Feurige, Licht-volle, Glänzende der Sonne Anlage ist des Ätherleibes. Darin ist nur eine andere Seite der Liebe gegeben, das, was die Liebe im Geiste ist:

Licht ist Liebe. Jm Ätherkörper ist uns also die Liebe und die Liebes-sehnsucht gegeben, und wir können den Ätherkörper mit Fug und Recht nennen den Liebesleib: Licht und Liebe.

Es ist ein wahres Wort: die Liebe ist das höchste Gut. Aber sie kann auch die unheilvollsten Folgen haben. Im alltäglichen Leben sieht man das, und ich erzähle hier ein Beispiel, das erlebt ist. Eine Mutter hat ihr

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Töchterchen sehr geliebt, und aus Liebe hat sie ihm alles hingehen las­sen, was es auch getan hat. Sie hat es nie bestraft, hat ihm jede Laune erfüllt. Eine Giftmischerin ist das Töchterchen geworden, und aus Liebe ist es dies geworden. Liebe muß mit Weisheit gepaart sein, sie muß eine erleuchtete Liebe werden, dann erst kann sie wahrhaft gut wirken. Die theosophische Lehre ist berufen, ihr diese Weisheit zu bringen, ihr diese Erleuchtung zu geben. Und wenn der Mensch in sich aufgenommen hat, was über die Weltentwickelung, über dieses schein­bar so weit, so ferne Liegende gesagt und gelehrt wird, was über den Zusammenhang des Menschen mit dem Makrokosmos mitgeteilt wird, dann wird der Mensch so werden, daß seine erleuchtete Liebe sich dem Nebenmenschen gegenüberstellen wird, um in ihn hineinzusehen, ihn verstehen zu können, und so zur erleuchteten Menschenliebe zu werden.

Wir hören oft sagen, daß das Leben öde und leer sei. Aus diesem Gefühl geht eine Art Mißstimmung sogar über auf den Körper. Das bewirkt die unbefriedigte Liebeskraft. Wenn die Welt unsere Liebe zurückstößt, empfinden wir Schmerz. Wenn wir etwas aus Liebe tun, müssen wir es tun, weil die Seele es braucht, ebenso wie die Lunge die Luft. Nicht aus wissenschaftlicher Neugierde oder um eine wissen­schaftliche Meinung der Welt vorzusetzen - deren haben wir mehr als genug, denn es gibt tausend Fragen, die der Lösung harren -, sondern um der Menschheit Lebenserfüllung zu geben, ist die Theosophie in die Welt gekommen. Wir vereinigen uns noch zu kleinen Kreisen, aber diese Kreise werden in kurzem immer größer und größer werden, und wir werden einstmals die tausend Fragen der heutigen Zeit lösen kön­nen.

Wer wird die soziale Frage lösen? - Die, welche darüber theoreti­sieren und debattieren? Niemals. Die theosophische Weltanschauung und die Liebe werden sie lösen. Und wahrhaftig, so paradox es auch klingen mag, die Menschheit wird in kurzem nicht einmal mehr Kar­toffeln bauen können - denn die Kartoffeln werden heute schon immer schlechter -, sie wird nicht einmal mehr Kartoffeln bauen können ohne die Theosophie! Wie ist das zu erklären? Vieles tut die Menschheit heute instinktiv, aus einem gewissen Instinkt heraus. Dieser Instinkt aber muß immer mehr und mehr verschwinden. Warum? Weil die Zeit

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gekornmen ist, daß er in das Bewußtsein übergeht. Die Menschen wer­den daher den Ackerbau nicht kennen können, ohne die Wahrheiten der Theosophie über die Beschaffenheit der Erde, der in ihr wirkenden Kräfte und so weiter, kennenzulernen.

Die dritte Grundkraft ist die Hoffnung. Die Menschenseele muß hoffen, jedermann weiß das. Unbefriedigt und suchend gehen Men­schen in der Welt herum, und nur zu häufig findet man Menschen, welchen alles schal vorkommt, denen nichts Befriedigung gewährt, denen eines um das andere zwischen den Fingern zerrinnt. Finster sei es um sie, ohne Aussicht, ohne Hoffnung - so sagen sie.

Ein großer Mensch hat gesagt: Tugend ohne Hoffnung ist das größte Verbrechen, die Ewigkeit ohne Hoffnung ist die größte Lüge! - Und doch ist die Hoffnungskraft in die Seele hineingeschrieben, sie ist eine unausrottbare Kraft, und keine Macht wird sie jemals dem Menschen entreißen können. Wenn aber der Menschheit nicht gegeben, sondern genommen wird, woran sie sich emporranken kann, da werden die so beraubten Seelen die Sicherheit, die Stütze, die Festigkeit verlieren, und so werden die Menschen in Unsicherheit zusammenbrechen, sie werden dumm und unsinnig sein. Die theosophischen Grundlehren von Karma und Wiederverkörperung sind Befriedigung für die Hoffnungskraft der Menschenseele. Sie bieten das Dauernde, das, was in die Zukunft führt. Was ist eine Tat, was ist ein Gedanke, ein Wort, das vom Menschen losgerissen gedacht wird? Der Mensch und seine Taten, der Mensch und seine Gedanken gehören zusammen, und es ist unlogisch, eine böse Tat, eine Beleidigung etwa, als gesühnt anzusehen, wenn der Täter sie nicht selbst gutgemacht hat. Das Gesetz der Verursachung spricht hier:

Das Leben des Menschen ist an den Menschen gebunden, und er muß von Verkörperung zu Verkörperung gehen.

Lessing hat als Schlußergebnis seines ganzen Lebens das Buch von der «Erziehung des Menschengeschlechts» hinterlassen. Der Gedanke, welcher der Gipfelpunkt dieses Werkes ist, ist der, daß der Mensch oft und oft wiederkehrt. Was haben die großen Geister, solche Genies wie Lessing, anderes gedacht als die Wiederverkörperungslehre, daß näm­lich die menschliche Seele von Stufe zu Stufe weiter fort sich ent­wickelt, daß sie dasjenige, was sie verursacht hat, weiter erlebt, fort

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und fort. Es wird nur mehr kurze Zeit dauern, bis die Reinkarnations­lehre und die Karmalehre auch in der äußeren Wissenschaft anerkannt werden wird. Und damit wird die Menschheit wieder etwas erhalten, was ihr von der materialistischen Wissenschaft entzogen worden ist:

die Hoffnung.

Warum verstehen wir das Wesen der vergangenen Kulturepochen? Nicht die Literatur und auch nicht die Kunstgeschichte gibt uns das, was die Griechen hinterlassen haben. Viel zu wenig bringen ja beide, es wäre nicht einmal notwendig, davon etwas zu wissen. Wir haben die Errungenschaften der griechischen Kultur in uns, einfach deshalb, weil wir damals selbst gelebt haben, weil wir diese Epoche der Kultur durch­gemacht haben, und wir könnten heute nicht sein, was wir sind, wenn wir damals diese Epoche nicht durchlebt haben würden. Hebbel hat Notizen hinterlassen eines Gedankens, den er dramatisch nicht mehr gestalten konnte. In einer Schule exerzierte ein Professor mit seinen Schülern den Plato. Der wiederverkörperte Plato ist unter den Schü­lern und bekommt vom Professor eine sehr schlechte Note um die an­dere, ja sogar Strafen, weil er - der Plato - den Plato nicht versteht! Auch hier kommt der Reinkarnationsgedanke zum Ausdruck aus der Seele eines Genies.

Wenn die Frucht der Tugend nicht am Menschen hinge, was wäre da die Tugend? Wie könnte Böses gesühnt werden, wenn es der Mensch nicht selbst sühnen müßte! Ewigkeit bliebe eine Lüge, wenn nicht der Mensch selbst an der Ewigkeit hinge, wenn sie ihn nicht selbst anginge. Die Fortdauer durch Verkörperungen und Verkörperungen, das ist es, was die Hoffnung ausmacht, und nur dadurch können die hoffnungs­armen Seelen, die ihre Hoffnungssehnsucht nicht befriedigen können, gesund werden.

Auf dem alten Saturn wurde der Keim des physischen Menschen gelegt. Wie das? Geistig wurde er dort gelegt, in dem nämlich, was fortdauern soll - die Hoffnung. Daher kann der physische Leib der Hoffnungsleib genannt werden mit Fug und Recht. Die Eigenschaft des physischen Leibes ist seine Dichte. Wenn die Wellen des seelischen Lebens immer und immer an den menschlichen Körper schlagen und sich immer mehr und mehr in ihn hineinbohren, dann wird er durchdrungen

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von der Hoffnung, von der Gewißheit, daß sich aus ihm etwas entwickeln wird, das ewig dauert, das unvergänglich ist. Dieses Verlangen nach Befriedigung der Hoffnung, nach einem Fortleben, ist eine Folge der Hoffnungskraft der Seele, und die Nahrung wird ihr entzogen durch die äußere Wissenschaft.

Die Theosophie, ihre Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen geben sie ihr wieder, und das ist die große Mission der Theosophie, die Men­schen wieder stark im Glauben, in der Liebe glücklich und in der Hoff­nung fortdauernd zu machen.

Nehmen wir nur die Wahrheiten, die uns die Theosophie über­mittelt, und geben wir sie der Glaubenskraft der Seele zur Nahrung, dann wird schon von selbst Manas entstehen, die Umwandlung des Astralleibes zu Manas wird sich von selbst vollziehen. Nehmen wir nur die Wahrheiten und geben sie der Liebe zur Nahrung, und Buddhi wird von selbst entstehen. Nehmen wir die theosophischen Wahrheiten und geben wir sie der Hoffnung zur Nahrung und es wird der Geistes-mensch, Atman, von selbst entstehen.

Deshalb allein wird Theosophie gearbeitet und gedacht, nicht aus wissenschaftlicher Neugierde. Unrecht ist es, wenn aus Bequemlichkeit gesagt wird, das brauche ich alles nicht zu wissen. Denn die theosophi­schen Wahrheiten sind aus der Wahrheit selbst geholt, sie sind herunter­geholt aus dem großen All, sie dienen der Menschenseele zur lebendigen Nahrung, so wie das Brot, so wie die Luft. Soll der Mensch, soll die Menschheit nicht ersticken, soll sie ihre Mission vollführen können, muß ihr diese Nahrung gebracht werden und zwar gerade jetzt, weil sie so außerordentlich notwendig ist. Das ist der Zweck des theosophi­schen Studiums, und nicht Wissensdrang, nicht Neugierde oder noch etwas Schlechteres vielleicht.

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DIE SYMBOLIK UND DIE PHANTASIE MIT BEZUG AUF DAS MYSTERIUM «DIE PRÜFUNG DER SEELE» Berlin, 19. Dezember 1911

Wir wollen heute anknüpfen an das zweite unserer Mysterienspiele, an «Die Prüfung der Seele».

Sie werden gesehen haben, daß es sich bei all diesen Darstellungen, hauptsächlich aber bei der «Prüfung der Seele», um den Versuch han­delt, dramatische Vorgänge an unsere geisteswissenschaftliche Welt­anschauung heranzubringen. Insbesondere in dieser «Prüfung der Seele» ist versucht worden, die Wiederverkörperungsidee in ihrem Hineinwirken in das menschliche Seelenleben real zur Darstellung zu bringen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß die Vorgänge in der «Prüfung der Seele» nicht rein ausgedacht sind, sondern tatsächlich den Beob­achtungen des okkulten Lebens in einer gewissen Weise voll ent­sprechen, so daß also die Darstellung in einem gewissen Sinne voll realistisch ist. Was zunächst zur Sprache kommen soll, ist für den heutigen Abend ein Blick auf den Umstand, daß es nötig geworden ist, eine Art Übergang zu schaffen von dem bisherigen Leben des Capesius zu der Versenkung des Capesius in ein vorzeitliches Leben, in eine Zeit, in welcher er selbst eine vorhergehende Inkarnation durchge­macht hat.

Ich habe mich oftmals selber, seit diese «Prüfung der Seele» fertig geworden ist, gefragt, was für Capesius den Übergang bilden kann aus seinem Leben in einer Welt, in welcher er nur dasjenige gekannt hat - wenn auch in einer geistvollen Weise -, was die äußere Sinnes-anschauung und diejenige Anschauung der Welt bietet, welche an das Instrument des Gehirnes gebunden ist, was, sage ich, für ihn den Uber­gang bilden kann aus einer solchen Welt in die Welt, in welche er sich dann versenkt, welche man sich nur durch die okkulten Sinnesorgane erschließen kann? Ich habe mich oft gefragt, warum das Märchen mit den drei Gestalten einen solchen Übergang für Capesius bilden muß. Denn selbstverständlich ist nicht aus irgendeinem Verstandesbegriff

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oder aus irgendeiner Überlegung heraus das Märchen an diese Stelle gestellt, sondern weil es die Phantasie so ergeben hat. Fragen kann man sich höchstens hinterher, warum ein solches Märchen notwendig ge­worden ist? Und es ergaben sich mir in einer Anknüpfung an die «Prü­fung der Seele» Gesichtspunkte, die mir aufklärend erscheinen über­haupt über die Märchenpoesie und über die Poesie im Zusammenhange namentlich mit der anthroposophischen Weltanschauung.

Wenn der Mensch einmal praktisch in sein eigenes Leben die Tat­sache einführen wird, die zum Ausdruck kommt in der Gliederung der Seele in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußt­seinsseele, dann werden sich ihm rein elementar-gefühlsmäßig in bezug auf seine Stellung, sein Verhältnis zur Welt gewisse Empfindungsrätsel ergeben; Rätsel, die sich gar nicht aussprechen lassen in unserer ge­wöhnlichen Sprache und unseren gewöhnlichen Begriffsformen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil wir heute doch in einer zu intellek­tualistischen Zeit leben, um durch das Wort und durch alles, was durch das Wort möglich ist, jene feinen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen, die sich ergeben zwischen den drei Seelengliedern. Das kann man viel eher, wenn man ein Mittel wählt, durch welches die Beziehung der Seele zur Welt selber als eine vieldeutige und dennoch als eine ganz bestimmte und ausgesprochene erscheint. Was durch die ganze «Prü­fung der Seele» hindurch spielt als eine Beziehung aller Vorgänge zu dem, was in den drei Gestalten Philia, Astrid und Luna ausgedrückt ist, das bedurfte eines Ausdruckes in nicht scharfen Konturen, der aber dennoch durch bestimmte seelische Kraftwirkungen etwas hat, was das Verhältnis des Menschen zur Welt anschaulich machen kann. Und das konnte auf keine andere Weise gegeben werden, als indem gezeigt wurde, wie durch die Erzählung dieses Märchens von den drei Gestal­ten in Capesius' Seele hervorgerufen wird ein ganz bestimmter Drang, ein ganz bestimmter Vorgang, der ihn reif macht, nun hinunterzustei­gen in diejenigen Welten, die erst jetzt wieder beginnen, reale, wirk­liche Welten für den Menschen zu werden.

Es soll nun zunächst dieses Märchen zur Darstellung gebracht wer­den, damit dann die Betrachtung an dieses Märchen angeknüpft werden kann.

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Es war einmal ein Knabe,

Der wuchs als armer Förstersleute einzig Kind

In Waldeseinsamkeit heran. -

Er lernte außer seinen Eltern

Nur wenig Menschen kennen.

Er war von schwachem Gliederbau:

Durchscheinend fast war seine Haut.

Man konnte lang ins Aug' ihm schaun;

Es barg die tiefsten Geisteswunder.

Und wenn auch wenig Menschen nur

Des Knaben Lebenskreis betraten,

Es fehlte ihm an Freunden nicht.

Wenn in den nahen Bergen

Erglühte golden Sonnenhelle,

Dann sog des Knaben sinnend Auge

Das Geistesgold in seine Seele ein:

Und seines Herzens Wesen,

Es ward so morgensonnengleich. -Doch wenn durch finstre Wolken

Der Morgensonne Strahl nicht drang

Und düstre Stimmung alle Berge überzog,

Da ward des Knaben Auge trüb

Und wehmutvoll sein Herz - -.

So war er hingegeben ganz

Dem Geistesweben seiner engen Welt,

Die er nicht fremder fühlte seinem Wesen

Als seines Leibes Glieder.

Es waren ihm ja Freunde auch

Des Waldes Bäume und die Blumen;

Es sprachen Geisteswesen aus den Kronen,

Den Kelchen und den Wipfeln -,

Verstehen konnte er ihr Raunen - -.

Geheimer Welten Wunderdinge

Erschlossen sich dem Knaben,

Wenn seine Seele sich besprach

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Mit dem, was leblos nur

Den meisten Menschen gilt.

Und sorgend oft vermißten abendlich

Die Eltern den geliebten Sprossen. -

An einem nahen Orte war er dann,

Wo aus den Felsen eine Quelle drang

Und tausendfach zerstäubend

Die Wassertropfen über Steine sprengte.

Wenn Mondeslichtes Silberglanz

In Farbenfunkelspielen zauberhaft

Sich spiegelt' in des Wassers Tropfenstrom,

Da konnt' der Knabe stundenlang

Am Felsenquell verharren.

Und Formen, geisterhaft gebildet,

Erstanden vor dem Knabenseherblick

Im Wassertreiben und im Mondenlichtgeflimmer

Zu dreien Frauenbildern wurden sie,

Die ihm von jenen Dingen sprachen,

Nach denen seiner Seele Trieb gerichtet. -

Und als in einer milden Sommernacht

Der Knabe wieder an der Quelle saß,

Ergriff der Frauen eine viele tausend Stäubchen

Des bunten Wassertropfenwesens

Und reichte sie der zweiten Frau.

Die formte aus den Tropfenstäubchen

Ein silberglänzend Kelchgefäß

Und reichte es der dritten Frau.

Die füllte es mit Mondessilberlicht

Und gab es so dem Knaben.

Der hatte alles dies geschaut

Mit seinem Knabenseherblick. -

Ihm träumte in der Nacht,

Die dem Erlebnis folgte,

Wie er beraubt des Kelches

Durch einen wilden Drachen ward. -

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Nach dieser Nacht erlebte jener Knabe

Nur dreimal noch das Quellenwunder.

Dann blieben ihm die Frauen fort,

Auch wenn der Knabe sinnend saß

Am Felsenquell im Mondensilberlicht. -

Und als dreihundertsechzig Wochen

Zum dritten Mal verstrichen waren,

War längst der Knabe Mann geworden

Und von dem Elternhause und dem Waldesgrund

In eine fremde Stadt gezogen.

Da sann er eines Abends,

Von harter Arbeit müde,

Was ihm das Leben wohl noch bringen möge.

Es fühlte sich der Knabe plötzlich

Nach seinem Felsenquell entrückt;

Und wieder konnte er die Wasserfrauen schauen.

Und dieses Mal sie sprechen hören.

Es sagte ihm die erste:

Gedenke meiner jeder Zeit,

Wenn einsam du dich fühlst im Leben.

Ich lock' des Menschen Seelenblick

In Ätherfernen und in Sternenweiten,

Und wer mich fühlen will,

Dem reiche ich den Lebenshoffnungstrank

Aus meinem Wunderbecher. -

Und auch die zweite sprach:

Vergiß mich nicht in Augenblicken,

Die deinem Lebensmute drohen.

Ich lenk' des Menschen Herzenstriebe

In Seelengründe und auf Geisteshöhn.

Und wer die Kräfte sucht bei mir,

Dem schmiede ich die Lebensglaubensstärkc

Mit meinem Wunderhammer. -

Die dritte ließ sich so vernehmen:

Zu mir erheb' dein Geistesauge,

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Wenn Lebensrätsel dich bestürmen.

Ich spinne die Gedankenfäden

In Lebenslabyrinthen und in Seelentiefen,

Und wer zu mir Vertrauen hegt,

Dem wirke ich die Lebensliebesstrahlen

Auf meinem Wunderwebestuhl. ---

Es träumt' in jener Nacht,

Die dem Erlebnis folgte,

Dem Manne, daß ein wilder Drache

In Kreisen um ihn her sich schlich -

Und nicht ihm nahen konnte:

Es schützten ihn vor jenem Drachen

Die Wesen, die er einst am Felsenquell geschaut

Und die aus seiner Heimat

Mit ihm zum fremden Ort gezogen waren.

Die Märchenstimmung ist, wie mir scheint, überhaupt etwas, was sich in einer voll berechtigten Weise hineinstellt zwischen die äußere Welt und all das, was der Mensch einstmals in der alten Zeit des ursprüng­lichen menschlichen Hellsehens in den geistigen Welten schaute, was er auch heute noch schauen kann, wenn er sich etwa durch besondere ab­norme Anlagen oder durch ein regelrecht geschultes Hellsehertum zu den geistigen Welten erheben kann. Zwischen dieser Welt und der Welt der äußeren Wirklichkeit und des Verstandes und der Sinne ist die Welt des Märchens vielleicht das allerberechtigtste Zwischenglied. Es scheint mir notwendig, eine gewisse Erklärung zu finden für die ganze Stellung des Märchens und der Märchenstimmung zwischen diesen Welten. Nun ist es außerordentlich schwierig, die Brücke zwischen diesen beiden Gebieten wirklich zu schlagen. Aber da kam es mir vor Augen, als wenn sie durch ein Märchen selber zu schlagen wäre. Und besser als alle theoretischen Erklärungen scheint mir ein sehr einfaches Märchen diese Brücke wirklich zu schlagen, das man etwa so erzählen könnte:

Es war einmal ein armer Bursche. Der hatte eine kluge Katze. Und die kluge Katze verhalf dem armen Burschen, der nichts hatte außer ihr selber, zu einem großen Besitz. Sie bewirkte es nämlich, daß man

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dem Könige hinterbrachte, der arme Bursche hätte einen großen, wun­derschönen, merkwürdigen Besitz, den sogar ein König mit Neugierde betrachten könnte. Und die kluge Katze brachte es dahin, daß der König sich aufmachte und durch allerlei höchst merkwürdige Gegenden fuhr. Überall wurde dem König weisgemacht, durch die Veranstal­tungen der klugen Katze, daß der weite Besitz von Gefilden und von allerlei Baulichkeiten höchst merkwürdigster Art diesem Burschen gehöre. Da kam der König zuletzt auch noch zu einem großen zauber­haften Schloß. Aber er kam für die Verhältnisse, die im Märchen spie­len, etwas spät. Denn schon war die Zeit herangerückt, wo der große Riese oder Troll nach Hause heimkehrte von der Weltenwanderung und wieder hineingehen wollte in den Palast, der eigentlich diesem Riesen gehörte. Der König war eben in dem Palast und wollte sich alles Zauberhafte und Wundersame anschauen. Da legte sich denn die kluge Katze vor die Tür hin, damit der König nicht merke, daß das alles dem Riesen gehöre, dem Troll. Da der Riese heimkehrte gegen die Morgen-stunde, begann die Katze dem Riesen eine Geschichte zu erzählen, von der sie ihm klarmachte, daß er sie anhören müßte. Und sie erzählte ihm mit großer Geschwätzigkeit, wie der Bauer sein Feld pflügt, wie er seinen Acker düngt, wie er dann wieder umpflügen muß, wie er dann die Samen holt, die er in den Acker streuen will, wie er dann die Samen in den Acker bringt. Kurz, sie erzählte ihm eine so lange Geschichte, daß es Morgen wurde und die Sonne aufging. Und da sagte die kluge Katze, jetzt müsse der Riese, der doch noch niemals die goldene Jung­frau im Osten gesehen hat, bleiben und sich die goldene Jungfrau an­sehen, müsse sich die Sonne ansehen. Aber - so ist es nach einem Gesetz, dem die Riesen unterstehen - als der Riese sich umdrehte und die Sonne ansah, da zerplatzte er. Und die Folge war, daß jetzt tatsächlich durch die Hintanhaltung des Riesen der Palast dem armen Burschen zu­gefallen war. Und er hatte nicht nur durch die Machinationen der klugen Katze all den Besitz, den sie ihm vorher nur zugesprochen hatte, sondern er besaß jetzt wirklich den Riesenpalast und alles, was dazu-gehörte.

Man kann sagen: Eigentlich muß man das kleine, anspruchslose Märchen wirklich außerordentlich bezeichnend finden, man möchte

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sagen für die Welthistorik der Märchenstimmung in unserer Zeit. Denn wahrhaftig, wenn wir den Menschen in seiner Entwickelung im Erden-gange betrachten, so sind unter allen Menschen, die sich auf der Erde entwickelt haben, oder von allen Inkarnationen, durch welche Men­schen hindurchgegangen sind, oder unter den gegenwärtig inkarnierten Seelen die meisten das, was man mit dem armen Burschen vergleichen kann. Ja, wir sind im Grunde genommen in unserer Gegenwart, im Ver­hältnis zu den anderen Zeiten, wirklich der arme Bursche und haben nichts als eine kluge Katze. Aber die kluge Katze haben wir ganz zwei­fellos. Denn die kluge Katze ist gerade unser Verstand, unser Intellekt. Und das, was der Mensch gegenwärtig durch seine Sinne besitzt, was er für die äußere Welt hat durch den Verstand, der an das Gehirn ge­bunden ist, ist wahrhaftig im Verhältnisse zu der gesamten kosmischen Welt, zu alledem, was der Mensch durchgemacht hat durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, etwas recht Armseliges. Der arme Bursche sind wir im Grunde genommen alle, und nur unseren Verstand haben wir, der sich ein wenig hermachen kann, um einen gewissen imaginären Besitz uns zuzusprechen. Kurz, wir sind in der gegenwärtigen Lage der arme Bursche, und wir haben die kluge Katze. Aber wir sind nicht bloß der arme Bursche. Wir sind es für unser Bewußtsein. Unser Ich aber wurzelt in verborgenen Tiefen des Seelenlebens. Diese verborgenen Tiefen des Seelenlebens hängen zusammen mit unzähligen Welten und unzähligen kosmischen Geschehnissen. Die alle spielen herein in das Menschenleben. Nur ist der Mensch der Gegenwart ein armer Bursche geworden und weiß von dem allem nichts mehr, kann sich höchstens durch die kluge Katze, durch die Philosophie, allerlei erklären lassen über den Sinn und die Bedeutung dessen, was er mit den Augen sieht oder mit den sonstigen Sinnen wahrnimmt. Und wenn dann der Mensch in der Gegenwart doch von irgend etwas sprechen will, was über die Sinneswelt hinausgeht, wenn er sich irgend etwas verschaffen will, was über die Sinnenwelt hinausgeht, dann tut er es - und er tut es schon seit vielen Jahrhunderten - in der Kunst und in der Dichtung.

Aber gerade unsere Zeit - diese in vieler Beziehung so merkwürdige Übergangszeit - zeigt uns so recht, wie der Mensch doch sich nicht viel hinausfühlt über die Stimmung des armen Burschen, auch wenn er

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Dichtung und Kunst in die gegenwärtige Welt der Sinne hereinstellen kann, wie sie ihm gegeben ist. Denn in unserer Zeit strebten die Men­schen aus einem gewissen Unglauben an die höhere Kunst und an die höhere Dichtung hin zum Naturalismus, zu einer rein äußerlich gehal­tenen Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit. Und wer möchte leugnen, daß unsere Zeit etwas von jener Stimmung hat, die, wenn im Glanze der Kunst und der Dichtung die Wirklichkeit dargestellt wird, doch immer wieder seufzt: Ach, das alles sind doch Scheingebilde, das alles ist doch keine Wahrheit. - Wieviel hat nicht unsere Zeit von einer solchen Stimmung? So daß in der Tat der König im Menschen, der urständet aus der geistigen, aus der spirituellen Welt heraus, gar sehr der Überredung bedarf durch die kluge Katze, durch den Verstand, der dem heutigen Menschen gegeben ist, um einzusehen, wie dasjenige, was der Phantasie erwächst und erwacht in der Kunst, doch in einer ge­wissen Weise wahrer Menschenbesitz ist. Überredet wird der Mensch, der König im Menschen zunächst. Aber das taugt doch eigentlich nicht viel, taugt nur für eine gewisse Weile. Es kommt dann an den Menschen in einer Zeit - wir leben jetzt gerade am Ausgangspunkte dieser Zeit -die Notwendigkeit heran, wieder den Zugang zu finden zu der höheren, geistigen, zu der eigentlichen spirituellen Welt. Es kommt an den Men­schen heran, und überall ist heute zu fühlen, wie an den Menschen dieser Drang herankommt, wieder aufzusteigen in die Sphären der geistigen Welt.

Da muß ein gewisser Übergang eintreten. Und es ist kaum durch irgend etwas anderes dieser Übergang in leichterer Weise zu machen als durch eine sinngemäße Wiederbelebung der Märchenstimmung. Die Märchenstimmung hat wirklich, rein äußerlich gesprochen, das an sich, was es dem Menschen der Gegenwart am allerleichtesten macht, seine Seele vorzubereiten auf das Erleben solcher Ereignisse, die hereinleuch­ten aus höheren, übersinnlichen Welten. Gerade die Art und Weise, wie das Märchen anspruchslos vor uns hintritt und zunächst nicht den Anspruch darauf macht, in irgendeinem Zuge Abbild der äußeren Wirk­lichkeit zu sein, sondern wie das Märchen kühn sich hinwegsetzt über alle äußeren Gesetze der äußeren Wirklichkeit, gibt aus dem Märchen heraus die Möglichkeit, die menschliche Seelenstimmung vorzubereiten

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für das Wiederempfangen der höheren, geistigen Welt. Der grobe Glaube, der für die geistige Welt in der alten Zeit dadurch erreicht worden ist, daß die Menschen noch auf einer primitiveren Stufe stan­den und ein gewisses Hellsehen in ihrer Seele war, muß zerplatzen wie der Riese Troll vor einer äußeren Wirklichkeit. Man kann ihn nur hin-halten durch die klugen Katzenfragen und durch die Katzenerzählun­gen, die man breit über die äußere Wirklichkeit hinspinnt. Gewiß, man kann lange an so klugen Katzenerzählungen spinnen und zeigen, wie da und dort die Wirklichkeit notwendig macht, daß man zu geistigen Erklärungen seine Zuflucht nimmt. Man kann in breiter Philosophie ausspinnen, wie da und dort manche Frage nur durch das Beziehen auf die geistige Welt beantwortet werden kann. Da behält man etwas wie ein Andenken aus alter Zeit. Man hält den Riesen durch das, was aus den alten Zeiten stammt, eine Weile hintan. Aber gegenüber der klaren Sprache der Wirklichkeit wird das, was aus der alten Zeit geblieben ist, nicht standhalten können, das zerplatzt wie der Riese gegenüber der aufgehenden Sonne. Aber diese Stimmung, das Zerplatzen des Riesen, muß man erst kennen. Und hier berühren wir etwas, wodurch die Psychologie des Märchens in einer gewissen Weise gegeben werden kann. Ich kann diese Dinge nicht theoretisch auseinandersetzen, ich kann das Psychologische des Märchens nur durch Seelenbetrachtung auseinandersetzen und möchte dazu folgendes sagen.

Denken Sie sich einmal, es stünden in lebendiger Imagination, wie wir das jetzt auch wieder skizzenhaft in den Vorträgen über Pneumato­sophie geschildert haben, mancherlei von den Gebilden der geistigen Welt vor irgendeiner Seele. Gewiß, wir in dem Gebiet der Anthropo­sophie erzählen vieles aus den geistigen Welten. Das muß lebendig zunächst vor irgendwelcher Seele stehen. Aber es käme nicht viel zu­stande für die äußere Darstellung, wenn man nur das darstellen wollte, was sich da vor die Seele hindrängt, auch vor die hellseherische Seele. Es kommt eine merkwürdige Disharmonie in der Seele heraus, nicht nur wenn man in die grauenvollen Gespinste des gegenwärtigen Ge­dankens hineingeheimnissen soll solche Wahrheiten, wie sie hier in unserem Zweige in den letzten drei Stunden über die Saturn-, Sonnen-und Mondenzustände auseinandergesetzt werden mußten. Da fühlt

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man sich gegenüber den Dingen, die da vor der Seele stehen, überall eingeengt. Und was so einfangen muß die Geheimnisse über die höheren Welten, das kommt sich im Menschen selbst recht trollhaft vor. Ein patschiger, trolliger Riese ist man eigentlich, wenn man die Gebilde der geistigen Welt einfangen will. Und vor der Sonne des Tages muß man dann in einer gewissen Weise freiwillig zerplatzen lassen diese Gebilde, um sie der Stimmung der Gegenwart anzupassen, muß sie sozusagen freiwillig hellseherisch zerplatzen lassen an der äußeren Wirklichkeit, kann aber etwas zurückbehalten. Man kann das zurückbehalten, was der arme Bursche zurückbehält. Was Besitz werden kann von der geistigen Welt für unsere unmittelbare Gegenwartsseele, das ist die Umwandlung, aber die sachgemäße Umwandlung des gigantischen Gehaltes der imaginativen Welt in dem Vieldeutigen einer Märchen­stimmung. Dann fühlt sich wirklich diese menschliche Seele wie der König, der hingeführt wird zu dem, was zunächst dieser Seele gar nicht gehört, was der Armen-Burschen-Seele gar nicht gehört. Sie kommt aber in diesen Besitz dadurch, daß der gigantische Riese zerplatzt, daß man gegenüber der Wirklichkeit die imaginative Welt aufgibt und sie in den Palast, den die Phantasie zimmern kann, hereinbekommt. Während nämlich in den alten Zeiten die Phantasie der Menschen - die Phantasie des armen Burschen - durch die imaginative Welt gespeist worden ist, kann sie das heute gegenüber der Entwickelungsstufe un­serer Seele nicht mehr. Aber dennoch, wenn man zunächst einmal die ganze imaginative Welt aufgibt und das Ganze hereinpreßt in die viel­deutige Märchenstimmung, die sich nicht an die äußere Wirklichkeit hält, dann kann uns etwas in der Phantasie des Märchenspieles zurück-bleiben, was eine tiefe, tiefe Wahrheit ist. Das heißt, der arme Bursche, der eigentlich nichts hat als die Katze, als den klugen Verstand, kann gerade in der Märchenstimmung dasjenige haben, was er braucht für die Gegenwart, damit seine Seele erzogen werden kann, um auf eine neue Weise in die geistigen Welten hineinzukommen.

Daher scheint es mir eine richtige Psychologie des Capesius zu sein, der so ganz aus der Ideenwelt der Gegenwart herausgewachsen ist, daß er aus einer allerdings vergeistigteren Auffassung der gegenwärtigen Welt in die Welt der Märchen hineinkommt, die sich als ein Neues, als

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eine wirkliche Beziehung zur okkulten Welt ihm erschließen soll. So muß denn auch so etwas wie ein Märchen hingestellt werden an der Stelle, die den Übergang bilden soll zwischen dem Stehen des Capesius in der Welt der äußeren Wirklichkeit und der Welt, in die er unter-tauchen soll, um sich selber in einer früheren Inkarnation zu schauen.

Was ich Ihnen jetzt gleichsam rein als ein persönliches Apercu sagte, als etwas, was sich mir ergeben hat als Grund, warum damals gerade der notwendige Einfall kam, dieses Märchen an diese Stelle zu stellen, stimmt mit dem überein, was wir nennen können etwa die Geschichte von der Entstehung der Märchen überhaupt in der menschheitlichen Entwickelung. Es stimmt in einer ausgezeichneten Weise überhaupt zu der Art, wie die Märchen in der Menschheit herausgekommen sind. Wenn wir auf die früheren Zeiten menschheitlicher Entwickelung zu­rückblicken, finden wir überall bei den Völkern in den Urzeiten ein gewisses primitives Hellsehen, ein Hineinschauen in die geistige Welt. Wir müssen daher in jenen Zeiten nicht nur unterscheiden die beiden wechselnden Zustände von Wachen und Schlafen, oder höchstens als einen chaotischen Übergangszustand noch das Träumen, sondern wir müssen noch einen Übergangszustand zwischen Wachen und Schlafen bei den alten Völkern annehmen, der diese Menschen nicht traumhaft, sondern als in eine Wirklichkeit schauend, in die Möglichkeit versetzte, mit dem geistigen Dasein zu leben. Der gegenwärtige Mensch ist mit seinem Bewußtsein in der Welt beim Tagwachen, aber nur mit seinem sinnlichen Bewußtsein und mit seinem Verstande. Er ist arm geworden wie der arme Bursche, der nichts hat als die kluge Katze. Dann aber kann er auch in der geistigen Welt sein, nämlich in der Nacht. Da schläft er aber, da hat er kein Bewußtsein von den geistigen Welten. Zwischen diesen zwei Zuständen hatte der Urmensch noch den dritten, der ihm etwas vor die Seele zauberte wie gewaltige Bilder. Er lebte dann in dem, was der Hellseher, der die Kunst des Helisehens erreicht hat, auch hat, nur daß er es nicht traumhaft und nicht in einem Chaos, sondern in einerwirklichenWelt hat. Aber doch hatte es der alte Mensch so, daß er mit einem klaren Bewußtsein seine Imaginationen umspan­nen konnte. In diesen drei Zuständen lebte der Urmensch. Und wenn er so seine Seele hinaus erweitert fühlte in das geistige All, überall zusammenhängend

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mit geistigen Wesen anderer Art, angrenzend an die Hierarchien, an die geistigen Wesen, die in den Elementen, in Erde, Wasser, Luft und Feuer leben, wenn er so sein Wesen über die engen Grenzen seines Seins hinaus erweitert fühlte, dann fühlte er sich wohl in solchen Zwischenzuständen als der Riese, der aber immer platzte, wenn die Sonne aufging und er in den Wachzustand übergehen mußte.

Diese Schilderungen nämlich sind gar nicht so unrealistisch. Heute, wo man gar nicht mehr das ganze Schwergewicht der Worte fühlt, wird man vielleicht glauben, es wäre mit Zerplatzen nur gedankenlos ein Wort hingestellt, wie man sonst ein Wort an das andere reiht. Aber es entspricht das Zerplatzen bildlich einer Art Tatbestand. Es ist für den alten Menschen so gewesen, wie wenn er sein Wesen in eine ganze Summe von Welten hinauswachsen fühlte, und wenn dann die goldene Jungfrau am Morgen herankam und sein Auge an die äußere Wirklich­keit sich gewöhnen mußte, dann kam ihm der Streif der äußeren Wirk­lichkeit vor wie etwas, was ihm auseinandertrieb, was er vorher schaute, was zum Zerplatzen brachte, was er vorher war. Es entspricht das in einer gewissen Weise tatsächlich einer Art von Tatbestand.

Das aber, was im Menschen wirksam ist, was der eigentliche König in der Menschennatur ist, ließ sich nicht abhalten, etwas hereinzutragen in die Welt der gewöhnlichen Wirklichkeit aus der Welt, in der die Seele eigentlich wurzelt. Und was da hereingetragen wurde, ist eben die Projektion, das Schattenbild des Erlebten in unsere Welt herein, ist die Welt der Phantasie, der wirklichen Phantasie, nicht der phan­tastischen, die einfach die Lappen des Lebens zusammenstellt, sondern der wirklichen Phantasie, die ihren Sitz im Inneren der Seele hat, die zu allen Einzelheiten des Schaffens von innen heraus getrieben wird. Naturalistische Phantastik würde gerade den umgekehrten Weg machen von dem, welcher der Weg der wirklichen Phantasie ist. Naturalistische Phantastik würde da und dort ein Motiv aufgreifen, würde die Modelle zu jeder Kunst auch in der äußeren Wirklichkeit suchen und diese Lap­pen der Wirklichkeit so zusammenfügen, wie es durch eine kombina­torische Phantasie entsteht, wie sie in den Zeiten niedergehender Kunst-perioden einzig und allein vorhanden ist. In derjenigen Phantasie, die ein Schattenbild der Imagination ist, arbeitet etwas, was nicht diese,

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nicht jene einzelne Gestalt hat, was zunächst in äußeren Formen nicht weiß, was sie schaffen soll, wo von innen heraus der Stoff nach dem Schaffen drängt. Dann tritt wie eine Verdunkelung des Lichtprozesses das auf, was sich hingebend als bildhaft nachgestaltende Kunst zu der realen Wirklichkeit neigt. Es ist genau der entgegengesetzte Prozeß zu dem, der im heutigen künstlerischen Schaffen so vielfach zu bemerken ist. Aus einem Zentrum heraus geht alles zu dieser Phantasie, das als ein Geistiges - zunächst einer imaginativen Wirklichkeit - hinter unserer Sinneswirklichkeit steht. Und was da zustande kommt, ist eine Phan­tasiewirklichkeit. Aber es ist tatsächlich dasjenige, was legitim aus den spirituellen Welten in unsere Wirklichkeit hereinwachsen kann, was sozusagen ein legitimer Besitz des armen Burschen werden kann, das heißt des gegenwärtigen Menschen, der auf die Armut der äußeren Sinneswelt beschränkt ist. Und von allen Dichtungsformen am wenig­sten an die äußere Wirklichkeit gebunden ist gerade das Märchen. Gehen wir zur Sage, zum Mythos, zur Legende: überall finden wir, daß die Züge, die nur übersinnlichen Gesetzen folgen, durchtränkt werden in Sage und Mythos von den Gesetzen der realen Wirklichkeit, weil man aus dem Geistigen in die äußere Welt hinausgeht, und daß die Quellen, welche historische Quellen sind oder in irgendeiner Weise mit der Historie zusammenhängen, nun mit der historischen Gestalt in Be­ziehung gesetzt werden. Nur das Märchen läßt sich gar nicht gestalten wie reale Gestalten, es schaltet ganz frei gegenüber den realen Gestal­ten. Es kann alles, was es in der Wirklichkeit gibt, in beliebiger Weise verwenden und hat es verwendet. Daher ist das Märchen der reinste Sproß des alten primitiven Hellsehens, ist etwas wie eine Abschlag-zahlung für das frühere Hellsehen. Mag der Nüchterling, der Pedant, der in allem nur zu einer professoralen Daseinsbetrachtung kommt, es nicht empfinden; er braucht es nicht zu empfinden, aus dem einfachen Grunde nicht, weil er immer bei jeder Wahrheit fragt: Wie stimmt sie zu aller Wirklichkeit?

Eine Gestalt wie Capesius strebt über alles hinaus zur Wahrheit. Er kann nicht zufrieden sein mit der Frage: Wie stimmt eine Wahrheit zur Wirklichkeit? - Denn er sagt sich: Ist eine Wahrheit denn abgetan, wenn man sagt, sie stelle etwas dar, was zur äußeren Welt stimmt? -

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Die Dinge können wahr und wahr und wahr sein und können richtig und richtig und richtig sein und könnten gerade ebensoviel Beziehung zu der Realität haben wie die Wahrheit jenes semmelholenden Dorf­jungen, der ganz richtig gerechnet hat, aber es hatte seine Rechnung keinen Bezug zur Realität, weil er rechnete, er hätte für seine zehn Kreuzer nur fünf Semmeln zu bekommen. Der Semmeljunge machte es ebenso wie der, welcher über die Wirklichkeit philosophiert. Aber man bekam eben in jenem Dorfe auf fünf Semmeln eine drauf, das ist etwas, was mit keiner Philosophie, mit keiner Logik rechnet, das ist eine Wirk­lichkeit. So kommt für Capesius eben nicht in Frage: Wie stimmt die eine oder die andere Idee, der eine oder der andere Begriff zu der Wirk­lichkeit? - Capesius aber fragte zuerst: Was erlebt die Menschenseele bei irgendeinem Begriff, den sie sich zunächst bildet? - Daher erlebt die Menschenseele bei alledem, was nur äußere Wirklichkeit sein kann, Öde, Austrocknung, Anlage zu fortwährendem Absterben in der Seele. Daher braucht Capesius die Auffrischung durch die Märchen der Frau Felicia, braucht gerade das, was im Sinne der äußeren Wirklichkeit am allerwenigsten wahr zu sein braucht, einen Inhalt, der real ist, der aber im gewöhnlichen Sinne gar nicht wahr zu sein braucht. Dieser Inhalt bereitet ihn vor, den Weg in die okkulte Welt zu finden.

Im Märchen ist dem Menschen etwas geblieben, was sich wie ein Nachkomme dessen auslebt, was die Menschen im alten Heilsehen erlebt haben, in einer Form, die gerade dadurch so legitim ist, daß kei­ner, dem sich das Märchen in die Seele ergießt, Anspruch darauf macht, daß seine Züge mit der äußeren Wirklichkeit stimmen. Und in der Märchenphantasie hat der arme Bursche, der sonst nur die kluge Katze hat, einen Palast, der in die unmittelbare Wirklichkeit hereinragt. Daher kann das Märchen für jedes Lebensalter ein wunderbares geisti­ges Nahrungsmittel sein. Wenn wir die geeigneten Märchen dem Kinde erzählen, regen wir die kindliche Seele so an, daß sie nicht allein in der Weise der Wirklichkeit zugeführt wird, daß sie immer nur in der Stim­mung verharrt bei irgendeinem Begriff, der mit der äußeren Realität stimmt. Denn ein solches Verhältnis zur Wirklichkeit vertrocknet und verödet die Seele, dagegen wird die Seele lebendig und frisch gehalten, so daß sie die Gesamtorganisation des Menschen durchdringt, wenn sie

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das, was real im höheren Sinne ist, in den gesetzmäßigen Gestalten der Märchenbil der fühlt, die aber doch die Seele ganz über die äußere Welt hinwegheben. Kräftiger für das Leben, lebendiger das Leben erfassend wird der Mensch, wenn in seiner Kindheit Märchen auf seine Seele gewirkt haben.

Für Capesius sind Märchen die Anreger für die imaginative Er­kenntnis. Nicht was in ihnen enthalten ist, was sie mitteilen, sondern wie sie verlaufen, wie ein Zug sich an den anderen gliedert, das wirkt und webt in seiner Seele. Der eine Zug läßt gewisse Seelenkräfte nach aufwärts streben, ein anderer andere nach abwärts, wieder durch an­dere werden aufstrebende und abwärtsstrebende durchkreuzt. Dadurch kommt er in seiner Seele in Bewegung, dadurch wird herausgeholt aus seiner Seele das, was ihn zuletzt befähigt, hineinzuschauen in die gei­stige Welt. Für viele kann gerade das Märchen das Alleranregendste sein. Deshalb finden wir bei den Märchen, die in früheren Zeiten ent­standen sind, immer etwas, was zeigt, wie Züge des alten hellsehe­rischen Bewußtseins in die Märchenzüge hereinspielen. Die ersten Mär­chen sind nicht so entstanden, daß sie jemand ausgedacht hat, nur die Theorien der gegenwärtigen Märchenprofessoren, welche die Märchen erklären, sind so entstanden. Die Märchen sind nirgends ausgedacht, sind die letzten Reste des alten Hellsehens, die von den Menschen, welche noch die Kräfte dafür hatten, im Traume erlebt waren. Was im Traume gesehen wurde, das wurde erzählt, so wie das Märchen vom gestiefelten Kater, das nur eine Umbildung ist des Märchens, das ich Ihnen heute erzählte. Alle Märchen waren schließlich vorhanden als [etzte Reste des ursprünglichen Hellsehens. Daher kann ein wirkliches Märchen nur entstehen, wenn - entweder bewußt oder unbewußt - in der Seele des Märchendichters die Imagination vorhanden ist, die sich hineinprojiziert in die Seele, sonst ist es nicht richtig. Ein beliebig aus­gedachtes Märchen kann nie richtig sein. Wenn heute noch da oder dort durch irgendeinen Menschen ein wirkliches Märchen entsteht, so ent­steht es auch nicht anders als dadurch, daß in dem Menschen die Sehn­sucht erwacht nach den alten Zeiten, welche die Menschheit einstmals durchgemacht hat. Diese Sehnsucht ist vorhanden, nur schleicht sie sich manchmal in gar verborgene Seelentiefen ein, und der Mensch verkennt

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in dem, was er bewußt schaffen kann, oft sehr, wie vieles aus den ver­borgenen Tiefen des Seelenlebens heraufkommt, und wie vieles nur durch das entstellt ist, was der Mensch mit seinem gegenwärtigen Bewußtsein machen kann.

Da möchte ich doch einmal auch hier darauf hinweisen, daß alles, was in die dichterische Form geprägt werden kann, im Grunde ge­nommen niemals auf Wahrheit beruhen kann, wenn es nicht zurück­geht auf ein sich erfüllendes Sehnen nach dem alten heliseherischen Eindringen in die Welt, oder wenn es nicht irgendwie mit neuem, wirk­lichem Hellsehen zusammenhängt, das ja nicht voll herauszukommen braucht, das in den Seelentiefen verborgen leuchten kann und sich in den Seelentiefen nur abschattieren kann. Deshalb bleibt aber dieses Verhältnis doch vorhanden. Wieviel Leute fühlen heute noch die Not­wendigkeit des Reimes? Wieviel Leute fühlen heute noch da, wo ein Reim auftritt, die Notwendigkeit des Reimes? Es ist heute sogar die Deklamier-Unsitte eingerissen, daß man den Reim womöglich unter­drückt, über diese Form hinüberdeklamiert und nur recht auf den Sinn, das heißt auf das, was der äußeren Wirklichkeit entspricht, Rücksicht nimmt. Aber auch diese Form der Dichtung, der Reim, hängt eng mit einem Stadium der Sprachenentwickelung zusammen, das zu der Zeit vorhanden war, als noch das alte Hellsehen seine Nachwirkungen hatte.

Und zwar hängt der Endreim zusammen mit dem merkwürdigen Seelenzustand, der sich ausdrückt, nachdem der Mensch in die gegen­wärtige Entwickelung eingetreten ist, durch die Kultur der Gemütsseele oder Verstandesseele. Im Grunde genommen ist die Zeit, in welcher die Verstandesseele oder Gemütsseele im vierten nachatlantischen Kultur-zeitraum in die Menschen hineingekommen ist, auch diejenige Zeit, da in der Dichtung die Erinnerung an alte erlebte Zeiten aufdärnmerte, die noch in die alten imaginativen Welten hereinreichten. Diese Erinnerung wird zum Ausdruck gebracht, indem regelmäßig gestaltet wird, was in der Verstandes- oder Gemütsseele aufleuchtet, in dem Endreim, der seine Hauptpflege hat in alledem, was in der vierten nachatlantischen Kulturperiode sich ausgebildet hat.

Dagegen hat alles das, worin sich die Kultur der vierten nachatlan-tischen Kulturperiode hineingesenkt hat, mit dem Christentum und den

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Nachwirkungen des Mysteriums von Golgatha eine ganz besondere Erfrischung erfahren; und in was sich das hineingegossen hat, das war die europäische Empfindungsseele. Innerhalb Europas hat die Empfin­dungsseelenkultur auf einer zurückgebliebenen Stufe gewartet auf eine höhere Kultur, auf eine Verstandesseelenkultur, die von Mittel- und Südeuropa heraufzog. Das dauerte über den vierten nachatlantischen Kulturzeitraum hinaus, damit das, was sich in Mittel- und Südeuropa und in Vorderasien ausgebildet hatte, in das hereinkommen konnte, was in Mitteleuropa noch alte Empfindungsseelenkultur war, und was es aufnahm in die Willensstärke und in die Willensenergie, die haupt­sächlich in der Empfindungsseelenkultur zum Ausdruck kommt. Daher sehen wir, wie in alledem, was Kultureinfluß vom Süden ist, in der Dichtung sich ganz regulär der Endreim einbürgert, und daß in der Willenskultur, in die das Christentum aufgenommen wird, der andere Reim, der Stabreim, die Alliteration, der richtige Ausdruck ist. In dem nordischen und mitteleuropäischen Stabreim fühlen wir den rollenden Willen, der sich in die auf der Höhe der vierten nachatlantischen Kul­turperiode stehenden Kultur hineinergießt, die eine Kultur der Ver­standes- oder Gemütsseele ist.

Merkwürdig ist es, daß Dichter, die dann aus einer ursprünglichen Seelenkraft heraus die Erinnerung wiederbeleben wollen an das, was die ursprüngliche Kraft in einem bestimmten Gebiete war, in einer manchmal ganz unorganischen Weise auf das Frühere zurückweisen wollen. Das ist mit Wilhelm Jordan geschehen, der in seinen «Nibe­lungen» wieder aufdämmern lassen wollte den alten Stabreim, und der eine merkwürdige Wirkung erzielte, als er als Rhapsode herumzog und diesen Stabreim wieder lebendig machen wollte. Die Leute wußten nicht recht, was das sollte, weil der heutige Mensch in unserer intellek­tualistischen Zeit die Sprache nur als Ausdruck für einen Inhalt kennt, nur den Inhalt der Sprache kennt und nicht das, was die Empfindungs­seele im Anfangsreim zum Ausdruck bringen will, was die Verstandes-seele im Endreim zum Ausdruck bringen will. Die Bewußtseinsseele kann eigentlich den Reim in ihrer Art nicht mehr verwenden, da muß der Mensch zu anderen Mitteln greifen. Deshalb wird uns jetzt Fräulein von Sivers [Marie Steiner] den Stabreim in einer kurzen Probe hier zu

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Gehör bringen, um daran zu charakterisieren, wie ein Künstler wie Wilhelm Jordan wirken wollte, der alte Zustände wieder erneuern wollte.

Und es nahten die Nornen, von Niemand gesehen,

Zu geräuschlosem Reigen und machten die Runde

Um diese Verlobten. Ein leiser Lufthauch,

Das war die Meinung der Minneberauschten,

Winde sich murmelnd herein zum Kamine;

Doch hinunter zur Nachtwelt, zu Nibelheims Tiefen,

Und hinauf zu den Wolken zu Walhalls Bewohnern

Erklang nun für andre als irdische Ohren

Vernehmlich wie Seesturm der Nornen Gesang:

Dein eigen ist alles

Dein Heil wie dein Unheil,

Dein Wollen und Wähnen

Dein Sinnen und Sein.

Wohl kommen, gekettet

In ewige Ordnung

Die Larven des Lebens

Die Scharen des Scheins;

Sie ziehen die Zirkel

Sie zeigen die Ziele

Sie impfen den Abscheu

Sie wecken den Wunsch;

Doch dein ist das Dünken

Und wie du geworden

So wirst du dich wenden,

Wir wissen die Wahl.

Es formt unser Finger

Aus ewigem Vorrat

Den Faden des Lebens

Das einzelne Los.

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Wir spinnen und spulen

Und weifen und weben

Den Teppich der Taten

Am Webstuhl der Welt.

Gezogen vor Zeiten

Von uns ist der Zettel,

Dein eigen der Einschlag,

Das Muster, o Mensch!

Doch je schöner dein Schiffel

Die mächtigen Maschen

Zum Bilde verbunden

Je näher der Neid.

Wohl gönnen's die Götter

Des lauteren Lichtes

Allmählich zu mehren

Das menschliche Maß.

Doch die Nachtwelt beneidet

Das Wachstum gen Walhall

Und Teil hat die Tiefe

Am sterblichen Stoff.

Sie mengt in das Muster

Verbotene Bilder:

Da trübt sich die Treue

Da schwindet der Schwur;

Da knüpft sich der Knoten,

Verwirrt das Gewebe

Und schnell dann zerschneidet's

Die Schere der Schuld.

Der Sonnengott senkte

Zum Schoße der Schönsten

Zu lauterstem Streben

Den leuchtendsten Strahl.

Da sandten Versucher

Die Goldesbegierde,

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Die trüglichen Träume -Wir wußten die Wahl!

Dein eigen ist Alles

Dein Heil wie dein Unheil,

Es lenken die Lose

Dein Herz und sein Hang.

Dein Stern war im Steigen,

Nun winkt ihm zur Wende,

Beneideter Sigfrid,

Der Nornen Gesang.

So hallte gen Himmel und nieder zu Hela,

Wie, an Felsen gebrochen, das Brausen der Brandung,

Wie Wettergedröhne die Weise der Drei.

Doch bewußtlos umweift und umwoben vom Schicksal,

Hielten sich herzend der Held und Krimhilde

Und tauschten die Seelen in süßestem Taumel

Mit Lippen, erglühend von Lust und von Glück.

Jordan selbst hat noch wirklich im Vortrage die Stabreime zur Geltung gebracht. Das ist etwas, was der moderne Mensch durchaus als etwas ihm nicht mehr ganz Entsprechendes empfindet. Denn, um das zu fühlen, was Wilhelm Jordan wie eine Art Programm für das angab, was er wollte, müßte man die alte Zeit in der neuen so imaginativ er­leben, wie wenn man geradezu dasjenige, was sich in den letzten Tagen in unserem Versammlungssaal im Architektenhaus abgespielt hat wäh­rend der Generalversammlung, in all die astralischen Strömungen ein­gehüllt empfände, die zum Ausdruck bringen, was da gesprochen wor­den ist. Und dann müßte man das, was sich da in jenenTagen in unserem Erkenntnisimpuls verschiedentlich abgespielt hat, als den bildhaften Ausdruck der Verwirklichung eines Jordan-Wortes empfinden. Dann würde man das richtig empfinden, was er angab als eine Art Programm, durch welches er wieder eine Stimmung heraufbringen wollte, die sich im alten Germanentum abgespielt hat:

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. . . der Sprache Springquell . . .

Bedarf nur der Leitung, um lauter und lieblich

Mit rauschendem Redestrom bis zum Rande

Der Vorzeit Gefäße wieder zu füllen

Und neu zu verjüngen nach tausend Jahren

Die wundergewaltige uralte Weise

Der deutschen Dichtkunst.

Dazu gehört aber etwas: ein Gehör, um die Laute zu empfinden. Das aber hängt innig mit den Imaginationen der alten hellseherischen Zeit zusammen, denn darin urständet noch das Gefühl für den Laut. Was aber ist der Laut? Der Laut selber ist noch eine Imagination, eine ima­ginative Vorstellung.

So lange Sie sagen Licht und Luft und damit nichts anderes meinen als das Helle und das Wehende, haben Sie keine Imagination. Aber die Worte sind selber Imagination. Und wenn man ihre imaginative Ge­walt noch empfindet, dann empfindet man bei einem Worte, wenn prädominiert wie im Worte Licht das 1, ein strahlendes, helles Un­bestimmtes, und bei U wie in Luft ein Erfülltes und sich Erfüllendes. Und weil der Strahl ein dünn Erfüllendes ist, die Luft ein voll Erfül­lendes ergibt, deshalb hat eine Alliteration die Stammverwandtschaft mit dem Erfüllenden. Und es ist nicht gleichgültig, ob man Worte, die Stabreim haben oder keinen, als Licht und Luft zusammenstellt, und es ist nicht gleichgültig, ob man die Namen von drei Brüdern einfach zu­sammenstellt, oder ob man sie so zusammenstellt, daß man spürt, daß der Weltenwille sie selber vereinigt hat, wie Gunther, Gernot, Giselher. Da empfand die Empfindungsseele die alte Imagination im Stabreim.

Und im Endreim würde sich die Gemütsseele in der alten Imagina­tion wiedererkennen. Daher kann auch, wenn die Sprache lebendig gemacht wird, dasjenige, was die Sprache nachwirkt in der Seele, selbst in den Traum noch hineingeheimnissen gewisse Imaginationen, so daß der Mensch manches von dem in den Traum hineinbekommen kann, was auch dem Hellsehen als richtige Charakteristik, zum Beispiel der Elemente erscheint. Es ist nicht immer so, aber zum Beispiel bei den Worten Licht und Luft ergibt sich etwas, was, wenn es gefühlt wird

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und in den Traum hineinwirkt, unter Umständen in der Traumphanta­sie selbst aufsprießen lassen kann etwas von dem, was zur Charakte­ristik der betreffenden Elemente, des Lichtes und der Luft, führen kann. Erst dann wird der Mensch die verschiedenen Geheimnisse der Sprache erkennen, wenn die Sprache auf ihren Ursprung zurückgeführt werden wird, wenn sie nämlich selber auf das imaginative Erkennen zurück­geführt wird. Denn die Sprache entstammt durchaus jenem Zeitalter, in welchem der Mensch eigentlich noch nicht der arme Bursche war, aber auch nicht die kluge Katze hatte, sondern noch in einer gewissen Weise mit dem Riesen der Imagination zusammenlebte und aus des Riesen Gliedern heraus dasjenige empfand, was sich in den Laut als die hörbare Imagination hineingesenkt hat. Wenn der Ton erfaßt wird von der Imagination, sich in sie hineinergießt, um sie als eine Hülle aus­zufüllen, dann wird der Laut daraus, der wirkliche Laut.

Das sind Dinge, die ich Ihnen heute gern ganz anspruchslos und un­zusammenhängend vorbringen wollte. Sie sollten Ihnen zeigen, wie in einer gewissen Weise wiederbelebt werden muß, was der Mensch ver­loren hat und was sich hinübergerettet hat in unsere Zeit, was aber wiedergewonnen werden muß, wie es Capesius gewinnt, damit der Mensch dann in das Zeitalter hineinwachsen kann, das uns doch bevor­steht, und in welchem er wieder der höheren Welten teilhaftig werden kann.

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WEIHNACHTEN - EIN INSPIRATIONSFEST Berlin, 21. Dezember 1911

Innerhalb unseres Arbeitens in der geisteswissenschaftlichen Bewegung blicken wir vorwärts, vorwärts in die Zukunft der Menschheit, und durchdringen unsere Seelen und unsere Herzen mit demjenigen, wovon wir glauben, daß es sich einverleiben soll in die Entwickelungsströmun­gen und in die Entwickelungskräfte der Menschenzukunft. Und auch wenn wir zu den großen Wahrheiten des Daseins aufblicken, aufblicken zu den Kräften, Mächten und Wesen, welche sich uns in der spirituellen Welt als die Ursachen und Urgründe dessen offenbaren, was uns in der äußeren Sinneswelt entgegentritt, auch da sind wir beseligt davon, daß die Wahrheiten, die wir also aus den geistigen Welten herunterholen, allmählich sich einleben sollen und einleben müssen in die Seelen, in die Herzen der Menschen der Zukunft.

So ist denn im größten Teil des Jahres unser geistiger Blick entweder der unmittelbaren Gegenwart oder aber der Zukunft zugewendet. Um so mehr fühlen wir uns gedrungen, an den Merktagen des Jahres, an den Festen, welche wie fixierte Erinnerungen an das, was die Vormenschheit erdacht und ersonnen hat, aus der Zeit und ihrem Wandel zu uns her­einragen, unsere Verbindung mit dieser Vormenschheit zu empfinden, ein wenig uns zu versenken in dasjenige, was aus den Seelen, aus den Herzen der Menschen der Vergangenheit dazu geführt hat, jene Merk-zeichen in den Lauf der Zeiten hineinzustellen, welche uns als die Feste des Jahres erscheinen.

Ist das Osterfest ein solches, das, wenn wir es verstehen, in uns Ge­danken wachruft an menschliche Kräfte und an Überwindungsfähig­keit alles Niederen durch das Höhere, alles äußerlich Physischen durch das Geistige, ist es ein Fest der Auferstehung, der Erweckung, ein Fest der Hoffnung und der Zuversicht an die geistigen Kräfte, die in der Menschenseele erweckt werden können, so ist auf der anderen Seite das Weihnachtsfest ein Fest der Harmonieempfindung mit dem ganzen Kosmos, ein Fest der Gnadenempfindung, ein Fest, das uns immer wieder und wieder den Gedanken nahebringen kann: Wie sich auch

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alles um uns herum erweisen mag, wie auch in den Glauben sich die herbsten Zweifel hineinmischen können, wie sich auch in die kühnsten Hoffnungen die schlimmsten Enttäuschungen hineinmischen können, wie auch um uns herum alle guten Dinge des Lebens wanken können -es gibt etwas in der menschlichen Natur und Wesenheit, das kann uns der richtig verstandene Gedanke des Weihnachtsfestes sagen, das nur vor die Seele lebendig, geisthaft hingestellt zu werden braucht, um uns immerwährend zu offenbaren, daß wir von den Kräften des Guten ab­stammen, von den Kräften des Rechten, von den Kräften des Wahren. -Auf unsere siegenden Kräfte in die Zukunft hin weist uns der Oster­gedanke. Auf den Menschenursprung in urferner Vergangenheit weist uns in einer gewissen Beziehung demnach der Weihnachtsgedanke.

Bei einer solchen Gelegenheit kann man so recht sehen, wie die un­bewußte oder die unterbewußte Vernunft und Geistigkeit der Menschen weit, weit höher steht als das, was der Mensch mit seinem Bewußtsein dann umschließen kann. Wir haben oftmals Grund, dasjenige, was die Menschen aus den verborgenen Seelentiefen in der Vergangenheit fest­gesetzt haben, viel mehr zu bewundern als das, was sie festsetzten aus ihren verstandesmäßigen Gedanken und aus dem, was sie begrifflich erfassen konnten. Wie unendlich weise erscheint es uns, wenn wir den Kalender aufmachen und für den 25. Dezember verzeichnet finden das Geburtsfest des Christus Jesus und dann im Kalender verzeichnet sehen für den 24. Dezember «Adam und Eva». Man möchte sagen: Anschau­lich, vernünftig, geistig konnte einem das vor Augen treten aus dem dumpfen, unterbewußten Schaffen im Mittelalter, wenn da oder dort gegen die Weihnachtszeit die mittelalterlichen Weihnachtsspiele von Leuten dieser oder jener Orte aufgeführt werden sollten. Wenn, wie man sie nannte, die «Singer» zu ihren Weihnachtsspielen zogen, da wurde vorangetragen der «Paradiesbaum». Wie im Kalender «Adam und Eva» vor dem Christ-Geburtstagsfest erschien, so erschien in den mittelalterlichen Weihnachtsspielen der Baum des Paradieses voran-getragen der Truppe, welche zur Aufführung dieser Weihnachtsspiele schritt. Kurz also, es gab einmal etwas, was die tiefen, verborgenen Seelenuntergründe der Menschen veranlaßte, irdischen Menschen-anfang und Jesu-Geburtsfest unmittelbar zusammenzustellen.

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Im Jahre 353 gab es selbst im kirchlichen Rom noch nicht den 25. Dezember als Jesu-Geburtstagsfest. Denn 354 wurde zum ersten Male auch im kirchlichen Rom das Jesu-Geburtstagsfest am 25. Dezem­ber gefeiert. Vorher wurde etwas gefeiert, bei dem man ein ähnliches Bewußtsein hatte wie später an dem Jesu-Geburtstagsfest, nämlich der 6.Januar als der Tag der Erinnerung der Johannestaufe im Jordan, als der Tag, welcher der Gedenktag war des Herunterkommens des Chri­stus aus den spirituellen Höhen und des Sich-Versenkens des Christus in den Leib des Jesus von Nazareth. Das war ursprünglich die Geburt des Christus in dem Jesus, die Erinnerung an den großen geschicht­lichen Augenblick, der uns symbolisch dargestellt wird durch das Wei­len der Taube über dem Haupt des Jesus von Nazareth. Der 6.Januar war der Erinnerungstag an die Geburt des Christus in dem Jesus von Nazareth.

Aber im 4. Jahrhundert war eigentlich für die sich ankündigende materialistische Weltanschauung des Abendlandes längst die Möglich­keit dahin, den großen Gedanken der Durchdringung des Jesus mit dem Christus zu verstehen. Wie ein gewaltiges Licht war zu kurzer Auf­klärung dieser Gedanke vorhanden bei den Gnostikern, die in gewisser Beziehung Zeitgenossen oder unmittelbare Nachfolger des Ereignisses von Golgatha waren und in der Lage waren, daß sie die Tiefe dieser Weisheit von dem «Christus in dem Jesus» nicht in der Weise suchen mußten, wie wir durch das moderne Helisehen diese Weisheit wieder suchen müssen, sondern bei den Gnostikern war es so, daß sie durch das letzte Aufflackern gerade alter, ursprünglicher menschlicher hellsehe­rischer Kräfte das wie im Gnadenlichte geschaut haben, was wir uns wieder erobern müssen über die großen Geheimnisse von Golgatha. Da leuchtete so manches bei den Gnostikern auf, was wir uns wieder erobern müssen, so zum Beispiel besonders das Geheimnis von dem Ge­borenwerden des Christus in dem Jesus von Nazareth bei der Johannes-taufe im Jordan.

Aber wie das alte Helisehen überhaupt, so schwand auch für die Menschheit jenes eigentümliche Aufflammen höchster hellseherischer Kräfte, höchsten Weihnachtslichtes der Menschheit dahin, wie es bei den Gnostikern vorhanden war. Und im 4. Jahrhundert war das abendländische

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Christentum längst nicht mehr imstande, diesen großen Ge­danken zu verstehen. Daher hatte im 4. Jahrhundert das eigentliche Erscheinungsfest des Christus in dem Jesus den Sinn für die abendlän­dische christliche Kultur verloren. Man hatte vergessen, was eigentlich dieses Erscheinungsfest, der 6.Januar, bedeutet. Man mußte für eine Zeitlang, ja bis in unsere Gegenwart herein, unter mancherlei materia­listischem Verstandesschutt die Empfindung gegenüber der Christus-Gestalt in der Menschheitsentwickelung begraben. Und konnte man nicht begreifen, daß ein gegenüber der Menschheit Höchstes sich offen­bart hat in der Johannestaufe im Jordan, so konnte man doch, weil das dem materialistischen Bewußtsein nicht widersprach, noch begreifen, daß jene Leibesorganisation, welche dazu ausersehen war, den Christus aufzunehmen, etwas Bedeutsames war. Daher rückte man die Geist­geburt, die eigentlich in der Johannestaufe im Jordan zutage trat, zu­rück zu der Kindesgeburt des Jesus von Nazareth und setzte das Jesu­Geburtsfest an die Stelle des Erscheinungsfestes.

Aber wenn man das auch in den wenigsten Fällen klar aussprechen mochte, so lebten doch immer bedeutsame Empfindungen, hohe er­habene Empfindungen in dem, was das Weihnachtsfest der Menschheit wurde. Es lebte etwas Bedeutendes immer in der menschlichen Seele auf, wenn das Weihnachtsfest herannahte. Es lebte das auf, was man nennen möchte: Der Mensch kann, wenn er im richtigen Sinne die Welt be­schaut, sich doch gegenüber gewissen Dingen, gegenüber allen Fährlich­keiten und Schicksalsschlägen des Daseins beleben in dem Glauben an die Menschheit, der Mensch kann sich beleben in tiefster Seele an dem Gefühl von Liebe und Frieden gegenüber aller Disharmonie und allem Streit des Lebens.

Das ist etwas, was in Anknüpfung an das Weihnachtsfest, an das Jesu­Geburtsfest immerdar aufdämmert. Denn was war es denn eigentlich, woran man sich erinnerte? Fassen wir das, woran man sich erinnerte, in geisteswissenschaftlichem Sinne auf. Wir wissen, welche bedeutsamen, großen und gewaltigen Veranstaltungen die Menschheitsentwickelung machen mußte, damit das Mysterium von Golgatha in diese Mensch­heitsentwickelung hereinbrechen konnte. Da mußte geboren werden ein Mensch, welcher der wiederverkörperte Zarathustra war, der eine

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der beiden Jesusknaben. Es mußte aber noch derjenige geboren werden, für den das eigentliche Jesu-Geburtsfest das Erinnerungsfest war, es mußte der geboren werden, der seiner Seelensubstanz nach zurück-geblieben war in den geistigen Welten. Solange die Menschheit das alles durchgemacht hat, was sich innerhalb der Vererbung durch die Genera­tionen durchmachen ließ bis zum Mysterium von Golgatha - alle an­deren Menschenseelen waren durch die Generationen gegangen -, so lange hatte man alles das aufgenommen, was sich an zerstörenden Kräften bis in das Blut hineingeschlichen hat. Nur eine einzige Seelen-substanz war in den spirituellen Welten zur ückgeblieben, gehütet von den reinsten Mysterien und den reinsten Kultstätten, war dann aus­gegossen worden in die Menschheit als Seele des zweiten Jesusknaben, desjenigen, den das Lukas-Evangelium schildert, jenes Jesusknaben, an dessen Geburt namentlich alle Erinnerungen und alle Darstellungen des Christfestes, des Weihnachtsfestes anknüpfen.

Zum Menschenursprung hinauf, zur Menschenseele, als diese noch nicht heruntergestiegen war, selbst noch nicht heruntergestiegen war in Adams Natur, erinnerte sich der Mensch zur Weihnachtszeit. Er wollte sagen, daß in Bethlehem, in Palästina, jene Seelensubstanz geboren wurde, die nicht mit teilgenommen hat an dem Abstieg der Menschheit, sondern zurückgeblieben war und zum ersten Male eigentlich in einen Menschenleib einzog, indem sie in den Lukas-Jesusknaben verkörpert wurde.

Man kann an die Menschheit glauben, man kann zur Menschheit Vertrauen haben, so kann die Menschenseele empfinden, wenn ihr Ge­danke sich hinlenken darf zu der Tatsache: Wie auch Streit, wie auch Unglaube, wie auch Disharmonie Platz gegriffen haben innerhalb der Menschheitsentwickelung - und sie haben Platz gegriffen durch alles, was sich in die Menschheit hineinergossen hat von Adams Zeit bis in unsere Gegenwart -, blickt man zurück auf das, was die alten Zeiten «Adam Kadmon» genannt haben, was dann zum Christus-Begriff ge­worden ist, dann entflammt sich in der Menschenseele Vertrauen zur Richtigkeit der Menschenkraft, entflammt sich das Vertrauen in die ursprüngliche Friedens- und Liebesnatur der Menschheit. Daher rückte das unterbewußte Seelische das Jesu-Geburtsfest unmittelbar zusammen

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mit dem Adam-und-Eva-Fest, indem der Mensch eigentlich in dem Christkindlein, das geboren wird, seine eigene Natur sieht, aber seine eigene Natur in ihrer Unschuld, in ihrer Unverdorbenheit.

Warum wurde denn das göttliche Kind durch Jahrhunderte, durch Jahrtausende vor die Menschheit hingestellt als das, was es als am höch­sten zu Verehrendes für die Menschenseele gibt? Aus dem Grunde, weil der Mensch, hinblickend zu dem Kinde - dann, wenn dieses Kind noch nicht so weit gekommen ist, daß es zu sich «Ich» sagen kann -, schauen kann, wissen kann, daß es noch an dem menschlichen Leib arbeitet, an dem Tempel des ewig Göttlichen, und weil der Mensch, der noch nicht «Ich» sagt, noch deutlich das Zeichen seines Ursprunges aus der spiri­tuellen Welt zeigt. Durch diesen Hinblick auf des Menschen Kindes-natur lernt der Mensch volles Vertrauen haben zur Menschennatur. Da, wo der Mensch sich am meisten sammeln kann, wo die Sonne am wenigsten leuchtet und den Erdball wärmt, wo der Mensch nicht mit der Bestellung der äußeren Angelegenheiten beschäftigt ist, da, wo die Tage am kürzesten, die Nächte am längsten sind, wo alle Gelegenheit auf der Erde so ist, daß sich der Mensch am besten sammeln kann, am besten in sich selber gehen kann, da, wo sich ihm aller äußere Glanz, alle äußere Schönheit für eine Weile dem äußeren Blick entzieht, da stellte die abendländische Kulturentwickelung das Geburtsfest des gött­lichen Kindes hin, das heißt des Menschen, der unverdorben die Welt betritt, und durch das unverdorbene Betreten der Welt dem Menschen in der Zeit seiner intensivsten Sammlung das stärkste, das höchste Ver­trauen durch das Bewußtsein seines göttlichen Ursprunges geben kann.

Es ist wie eine Bekräftigung der großen Wahrheit, daß man vom Kinde viel lernen kann, wenn man sieht, daß eines Kindes Geburtstags-fest als ein großes, bedeutsames Vertrauensfest für die Menschheits­entwickelung hineingestellt ist in der Zeiten Lauf. Und so bewundern wir die unterbewußte, die spirituelle Vernunft der Menschen der Vor­zeit, die solche Marksteine hineingestellt haben in der Zeiten Lauf. Wir fühlen uns dann wie Entzifferer von merkwürdigen Hieroglyphen, die gegeben sind durch das Hineinstellen solcher Feste in die Schrift der Zeiten durch die Menschen der Vorzeit, fühlen uns eins mit diesen Men­schen der Vorzeit. Während sonst unser Blick der Zukunft zugewendet

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ist, während wir sonst willig sind, unsere besten Kräfte der Zukunft zur Verfügung zu stellen, allen Glauben an die Zukunft zu kräftigen und zu stärken, versuchen wir gerade an solchen Festtagen in Erinnerungen zu leben, die alte Gedanken wie verkörpert zu uns herübertragen, die uns lehren, daß wir zwar gegenwärtig nur in unserer Art denken kön­nen, was der äußeren Welt im Spirituellen zugrunde liegt, daß aber noch in der Vorzeit - in anderer Art zwar, aber nicht minder richtig, nicht minder grandios und bedeutend - das Wahre, das Erhabene ge­dacht und empfunden worden ist durch das Sich-Einsfühlen mit der Menschheit, mit allem, was die Menschheit zu ihren Höhen tragen soll. Das ist unser geisteswissenschaftliches Ideal, daß man sich eins fühlen kann mit dem, was die Menschheit der Vorzeit geschaffen hat, manch­mal aus den verborgensten Seelentiefen herauf. Dafür sorgen die Feste, sorgen insbesondere die großen Feste, wenn wir nur ihre in der Zeiten Schrift hineingezeichnete hieroglyphische Zeichenbedeutung uns durch die Wahrheiten der Geistesforschung vor die Seele malen können.

Oh, es ist ein wunderbarer Gedanke, der wie mit einer wunderbaren Empfindung in unserer Seele sich vermählt, wenn wir sehen, wie in jenen Jahrhunderten, die auf das vierte folgten, welches das Jesu­Geburtstagsfest zuerst auf den 25. Dezember verlegt hat, sich hinein-gießt in die Seele jener Menschen gerade das Bewußtsein von dem durch die kindliche Natur zu erweckenden Vertrauen, indem in der Malerei, in den Weihnachtsspielen, allüberall sich zeigt, wie vor dem Jesuskinde, vor dem göttlichen Kinde, vor dem göttlichen Ursprung des Menschen sich beugen die Wesen aller Erdenreiche. Es tritt uns entgegen das wunderbare Krippenbild, wie sich die Tiere neigen vor dem Ursprungs-menschen; es gliedern sich daran jene wunderbaren Erzählungen wie etwa diese, daß, als Maria das Jesuskind auf der Reise nach Ägypten getragen hat und die Grenze überschritten worden war, sich ein Baum gebeugt hat, ein uralter Baum vor Maria mit dem Jesusknaben. Daß sich in einer merkwürdigen Weise in der Weihnachtsnacht die Bäume dem großen Ereignis beugen, tritt uns sagenhaft entgegen in den Legen­den fast ganz Europas. Wir könnten nach Elsaß, nach Bayern gehen, überall treten uns die Legenden entgegen, wie gewisse Bäume Früchte tragen in der Weihnacht, wie sie sich neigen in der Weihnacht: alles

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wunderbare Symbole, die ankündigen sollen, wie sich tatsächlich die Geburt des Jesuskindes offenbart als etwas, das mit dem ganzen Leben der Erde zusammenhängt.

Und wenn wir uns an das erinnern, was wir so oft gesagt haben: Wie die uralten spirituellen Strömungen von den Göttern der Menschheit gegeben waren, und wie die Menschen in den Urzeiten hellseherische Einblicke in die göttlich-geistige Welt hatten, wie dieses Hellsehen all­mählich schwand, damit die Menschen zur Eroberung des Ich kommen konnten -, wenn man sich vorstellt, wie da in der ganzen menschlichen Organisation etwas vor sich geht wie ein Abdorren, wie ein Dürr­werden der alten Gotteskräfte, und wie ein Durchsetzen der dürren Gotteskräfte mit neuem Lebenswasser durch den Christus-Impuls, durch welchen sich dasjenige vollzieht, was durch das Mysterium von Golgatha geschah: dann erscheint uns dies in einem wunderbaren Bilde, wenn uns die Weihnachtslegenden erzählen, wie die verdorrten und vertrockneten Rosen von Jericho in der Weihenacht von selbst immer aufsprießen. Das war eine Legende, die wir überall im Mittelalter ver­zeichnet finden, daß die Rosen von Jericho in der Christnacht auf­sprießen und sich entfalten, weil sie sich zuerst entfaltet hatten unter den Schritten der Maria, die, als sie auf der Reise nach Ägypten den Jesusknaben trug, über eine Stelle geschritten ist, wo ein Rosenstrauch gewachsen war. Ein wunderbares Symbol für das, was mit den mensch­lich-göttlichen Kräften geschah, daß selbst so dürre, so leblose Dinge wie Rosen, die man verdorrt am Wege finden kann, die scheinbar tot sind, wieder aufquellen, wieder aufsprießen durch den Christus-Impuls, der eintritt in die Zeitenentwickelung.

Daß dem Menschen so erst gegeben war in Wirklichkeit, was ihm von Ursprung an zugedacht war, das drückt sich aus in dem Jesu­Geburtsfest, in dem Fest der Geburt des Jesuskindleins. Ehe Adam und Eva waren, war zugedacht der Menschheit - so will man sagen in der Weihnachtslegende - dasjenige, was noch in der ganz unverdorbenen göttlichen Kindesnatur des Menschen liegt. Aber in Wahrheit - wegen des Einflusses Luzifers - hat es die Menschheit erst erlangen können, nachdem der ganze Zeitenverlauf sich abgespielt hatte von Adam und Eva bis zum Mysterium von Golgatha.

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Oh, man muß sagen, es erweckt tatsächlich eine tiefe Empfindung in unserer Seele, wenn wir, wie zusammengedrängt, in die eine Nacht vom 24. zum 25. Dezember für unser Nachdenken, für unser Nach­empfinden das haben, was die Menschheit durch die luziferischen Kräfte geworden ist von Adam und Eva bis zur Geburt des Christus in dem Jesus. Wenn wir das empfinden, dann empfinden wir schon genug die Bedeutung dieses Festes und empfinden dann auch, was man damit vor die Menschheit hinstellen konnte.

Es ist, wie wenn die Menschheit, wenn sie die Gelegenheit benützt, diese Marksteine der Zeit als Meditationsstoffe zu nehmen, wirklich einmal gewahr werden kann ihres reinen Ursprunges in den kosmischen Kräften des Universums. Da den Blick hinaufhebend in die kosmischen Kräfte des Universums und ein wenig eindringend durch Theosophia, durch wirkliche spirituelle Weisheit in die Geheimnisse des Univer­sums -, da kann die Menschheit erst wieder reif werden, das zu be­greifen, daß eine höhere Stufe des Geburtsfestes des Jesus das ist, was als Christgeburtsfest einmal begriffen worden ist durch die Gnostiker, das Christgeburtsfest, das am 6. Januar eigentlich gefeiert sein sollte, das Fest der Geburt des Christus in dem Leibe des Jesus von Nazareth. Aber, wie um sich vertiefen zu können in die zwölf universellen Kräfte des Kosmos, stehen die zwölf heiligen Nächte da zwischen dem Christ-fest und dem Fest, das am 6. Januar gefeiert sein sollte, das jetzt das Fest der Heiligen Drei Könige ist, und das eigentlich das charakteri­sierte Fest ist.

Wieder, ohne daß man es so recht gewußt hat in der bisherigen Wis­senschaft, stehen sie da, diese zwölf heiligen Nächte, wie aus den ver­borgenen weisen Seelentiefen der Menschheit festgesetzt, wie wenn sie sagen wollten: Empfindet alle Tiefe des Christfestes, aber versenkt euch dann während der zwölf heiligen Nächte in die heiligsten Geheimnisse des Kosmos! - Das heißt in das Land des Universums, aus dem der Christus heruntergezogen ist auf die Erde. Denn nur, wenn die Mensch­heit den Willen haben wird, sich inspirieren zu lassen durch den Ge­danken an den heiligen kindlichen Gottesursprung des Menschen, sich inspirieren zu lassen von jener Weisheit, welche in die zwölf Kräfte, in die zwölf heiligen Kräfte des Universums dringt, die symbolisch dargestellt

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sind in den zwölf Zeichen des Tierkreises, die sich aber nur in Wahrheit darstellen durch die spirituelle Weisheit - nur, wenn die Menschheit sich vertieft in die wahre spirituelle Weisheit und der Zei­ten Lauf erkennen lernt im großen Weltenall und im einzelnen Men­schen, nur dann wird zu ihrem eigenen Heile die Menschheit der Zu­kunft, durch Geisteswissenschaft befruchtet, die Inspiration finden, die da kommen kann von dem Jesu-Geburtsfest zum Eindringen in die zuversichtlichsten, hoffnungsreichsten Zukunftsgedanken.

So dürfen wir das Weihnachtsfest auf unsere Seele wirken lassen als ein Inspirationsfest, als ein Fest, das uns den Gedanken des Menschen-ursprungs. in dem heiligen göttlichen Menschenursprungskind so wun­derbar vor die Seele führt. Jenes Licht, das in der heiligen Nacht, als Symbol des Menschenlichtes, an seinem Ursprung selber uns erscheint, jenes Licht, das uns in den neueren Zeiten die Lichter des Weihnachts-baumes symbolisieren: es ist zugleich, richtig verstanden, das Licht, das uns die besten, stärksten Kräfte für unsere nach dem wahren, echten Weltenfrieden, nach der wahren, echten Weltenbeseligung, nach der wahren, echten Weltenhoffnung strebenden Seele geben kann.

Fühlen wir uns durch solche Gedanken an die Taten der Vergangen­heit, an die Festsetzungen der Vergangenheit, gekräftigt durch das, was wir immer brauchen an Impulsen für die Zukunft: Weihnachts-gedanken, Erinnerungsgedanken an der Menschheit Ursprung, Ge­danken, zugleich wurzelhaft, um sich zu entfalten zur echten, zur kräftigsten Seelenpflanze, zur echten Menschenzukunft.

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DIE GEBURT DES SONNENGEISTES ALS ERDENGEIST Hannover, 26. Dezember 1911

Wenn wir in dieser Zeit am Tannenbaum die Lichter anzünden, dann ist es der Menschenseele so, als ob ein Sinnbild eines Ewigen vor ihrem geistigen Auge erstünde und als ob dieses Sinnbild in urfernster Ver­gangenheit immer dasselbe hätte sein können. Denn wenn im Herbste die Natur draußen allmählich dahinwelkt, wenn die Sonnenwerke im äußeren Lichte sozusagen schlafen gehen und die Menschenseele die äußeren Organe abwenden muß von dem, was die Offenbarungen der Sinneswelt sind, dann hat diese Menschenseele die Gelegenheit, und nicht nur die Gelegenheit, sie fühlt die Aufforderung, in ihr tiefstes Inneres einzukehren, um zu fühlen, zu empfinden: Jetzt ist die Zeit, da das äußere Sonnenlicht am wenigsten scheint, da die äußere Sonnen-wärme am wenigsten wärmt, die Zeit, da die Seele sich zurückziehen kann in die äußere Finsternis, dafür aber durch die Wege ihres Inneren das innere geistige Licht finden kann. Denn als Sinnbild dieses inneren geistigen Lichtes, entfacht in der Nacht der äußeren Finsternis, erschei­nen uns die Lichter am Weihnachtstannenbaum. Und weil das, was wir so fühlen wie das Hereinscheinen des Geisteslichtes der Seele in die natürliche Finsternis, uns ein Ewiges dünkt, kommt es uns wohl so vor, daß der leuchtende Tannenbaum in der Weihnachtsnacht uns gestrahlt habe in allen Zeiten, die wir zurückwandeln könnten von Inkarnation zu Inkarnation bis in urferne Vergangenheiten.

Der Weihnachtsbaum selber ist jedoch verhältnismäßig jung. Kaum ein bis zwei Jahrhunderte, daß der Weihnachtsbaum ein Symbolum der Weihnachtsgedanken und des Weihnachtsempfindens der Menschen geworden ist. Ein junges Symbolum ist dieser Weihnachtsbaum, aber er verkündigt den Menschen jedes Jahr aufs neue eine große, ewige Wahr­heit. Daher scheint sein Bestand so, als ob er auch in den Zeiten urferner Vergangenheit gewesen wäre. Immerzu klingt uns wiederum, wie vom Weihnachtsbaum selbst als Klang hervorgerufen, was sich in Welten-weiten, in Himmelshöhen an Göttlichem offenbart. Der Mensch kann es fühlen als seiner Seele zuversichtlichste Friedenskräfte, die aus seinem

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guten Willen hervorsprießen. Und so klang es ja auch, der Weih­nachtslegende gemäß, als die Hirten des Kindes Geburtsstätte besuch­ten, dessen Feier heute am Weihnachtstag begangen wird. Da erklang aus den Wolkenhöhen den besuchenden Hirten: Es offenbaren sich aus Weltenweiten und Himmelshöhen die göttlichen Urkräfte und ziehen ein als der Menschenseele zuversichtlicher Frieden, wenn diese Men­schenseele eines guten Willens ist.

Man konnte Jahrhunderte und Jahrhunderte hindurch nicht glau­ben, daß mit dem Weihnachtsfest ein Symbolum in die Welt gestellt ist, welches irgendeinmal einen Anfang genommen habe. Man fühlte die Ewigkeit dieses Sinnbildes. Daher hat auch der christliche Kultus sozu­sagen das Ewig-Dauernde dessen, was als Sinnbild in der Weihnachts-nacht geschieht, in die Worte gekleidet: Uns ist aufs neue der Christus erstanden! - So wie wenn die Seele jedes Jahr aufs neue dasjenige fühlen sollte, wovon man meinte, daß es sich doch nur einmal abgespielt haben könnte. Das Ewige dieses Symbolums, es tritt so urkräftig vor unsere Seele, wenn wir das Symbolum selbst im richtigen Sinne fühlen. Und doch, noch im Jahre 353 unserer Zeitrechnung nach der Erschei­nung des Christus Jesus auf Erden wurde nicht einmal in Rom, in Rom selber, das Jesus-Geburtsfest gefeiert. Denn 354 wurde dieses Jesus­Geburtsfest, wie wir es jetzt feiern, zum ersten Mal in Rom selber ge­feiert - 354. Vorher wurde nicht am 24. beziehungsweise 25. Dezember ein Jesus-Geburtsfest gefeiert. Vorher war als höchste Feier begangen bei denjenigen, die so etwas verstanden wie die tiefe Weisheit des Mysteriums von Golgatha, der 6. Januar: die Erscheinung Christi. Sie wurde wie eine Art Christus-Geburtsfest in den drei ersten christlichen Jahrhunderten gefeiert, und gefeiert als dasjenige Fest, das die mensch­lichen Seelen an das Herabsteigen des Geistes erinnern sollte, den man als den Christus-Geist bezeichnet, in den Leib des Jesus von Nazareth durch die Johannestaufe am Jordan. Was durch die Johannestaufe am Jordan als Geschehen vorgestellt werden konnte, dessen Andenken wurde wie ein Geburtsfest des Christus am 6. Januar gefeiert bis in das Jahr 353. Denn das, was unter allen Mysterien von der Menschheit am schwierigsten zu verstehen ist, das Einkehren der Christus-Wesenheit in den Leib des Jesus von Nazareth, das ist wenigstens als ein ahnungsvoller

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Gedanke noch lebendig in den ersten christlichen Jahrhunderten. Wie empfand man bei denjenigen, die den Geheimnissen des Chri­stentums dazumal nahegestanden waren in den ersten christlichenJahr­hunderten? So etwa empfand man: Da durchwallt und durchwebt der Christus-Geist die Welt, die sich uns durch die Sinne und durch den Menschengeist offenbart. Es offenbarte sich in urferner Vergangenheit dieser Christus-Geist dem Moses, dem er ertönte wie das Geheimnis des menschlichen Ich, so wie es uns aus den symbolischen Lauten hier ent­gegenklingt am Weihnachtsbaum, wenn wir die Laute IAO - Alpha und Omega, vorher das I gesetzt - in unserer Seele klingen lassen. So etwa klang es in der Mosesseele, als im Dornbusch, dem brennenden, der Christus-Geist erschien. Und dann führte derselbe Christus-Geist den Moses dahin, wo er ihn in seiner wahrsten Wesenheit erkennen sollte, was in der Bibel des Alten Testaments ausgedrückt ist dadurch, daß gesagt wird: Es führte Jahve den Moses auf den Berg Nebo, gegen­über Jericho, und zeigte ihm alles das, was noch zu geschehen hat, bevor dieser Geist selber in einem Menschenleibe sich verkörpern könne. -Als dieser Geist dem Moses gegenüberstand, auf dem Berg Nebo gegen­über Jericho, da sagte er ihm: Du aber, dem ich mich geoffenbart habe vorzeitig, du darfst mit dem, was du in deiner Seele trägst, nicht hinein in diejenige Evolution deines Volkes, die erst vorbereiten soll das, was zu geschehen hat, wenn die Zeiten erfüllt sind.

Und nachdem die Evolution die Menschheit vorbereitet hatte, Jahr­hundert über Jahrhundert, da offenbarte sich derselbe Geist, der den Moses zurückgehalten hatte. Er offenbarte sich, Fleisch werdend, Men­schenleib annehmend, in Jesus von Nazareth. Da wurde hinausgeführt die ganze Menschheit von der Stufe der Einweihung, die angedeutet wird durch das Wort Jericho, zu jener Stufe, die angedeutet wird durch das Durchschreiten des Jordan. Da wurde hingestellt durch diejenigen, die in den ersten christlichen Jahrhunderten den eigentlichen Sinn des Christentums verstanden, der im Jordan getauft werdende Jesus von Nazareth, in den sich ergießt der Sonnen-Erdengeist des Christus. Dies wurde als ein Mysterium gefeiert, als die Geburt des Christus, in den ersten christlichen Jahrhunderten. Denn das, wozu wir uns heute durch Anthroposophie wiederum reif machen, wozu wir uns reif machen aus

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der Weisheit der fünften nachatlantischen Kulturperiode, das leuch­tete wie geschaut durch letzte Erbstücke alten Hellsehertums in der Zeit, da sich das Mysterium von Golgatha vollzog, den Gnostikern auf, jenen merkwürdigen Theosophen um die Wende der alten und der neuen Zeit, die auf eine andere Art als wir das Christus-Mysterium durchschauten, aber, indem sie es aussprachen, ihm einen gleichen In­halt gaben. Was sie sagen durften, sickerte durch, und obwohl man in der breiten Öffentlichkeit nicht verstand, was eigentlich geschehen war in dem Ereignis, das symbolisch angedeutet wird durch die Johannes-taufe am Jordan, so ahnte, empfand man, daß dazumal der Sonnengeist als Erdengeist geboren worden ist, daß ein Kosmisches aufleuchtete in einem Erdenmenschen. Und so feierte man in den ersten christlichen Jahrhunderten den 6. Januar als die Geburt des Christus in dem Leibe des Jesus von Nazareth, als die Erscheinung des Christus auf Erden.

Aber immer mehr und mehr ging der Menschheit die Einsicht ver­loren, auch nur die ahnungsvolle Einsicht in dieses tiefe Mysterium. Es kam die Zeit heran, in der man nicht mehr verstehen, nicht mehr be­greifen konnte, daß eigentlich das, was man Christus nannte, nur drei Jahre in einem physischen Menschenleib verweilte. Immer mehr und mehr wird es den Menschen aufgehen, daß es zu den schwerstverständ­lichen, daß es zu den tiefsten Weisheiten gehört, was da drei Jahre in einem physischen Menschenleib einmal durch die ganze Erdenentwik­kelung sich vollzogen hat. Zu schwach wurde für die materialistische Zeit, die da kommen sollte, die sich vorbereitende Menschenseele, um vom 4. Jahrhundert ab das große Mysterium zu verstehen, das erst wiederum von unseren Zeiten an immer mehr und mehr verstanden werden wird. So kam es denn, daß in demselben Maße, als das Christen­tum an äußerer Macht gewann, das innere tiefere Verständnis gerade des Christus-Mysteriums verlorenging, und nicht mehr konnte man der Feier des 6. Januar einen Inhalt geben. Man verlegte zurück um drei­zehn Tage die Geburt des Christus und stellte sie so vor, als wenn sie sich vollzogen hätte mit der Geburt des Jesus von Nazareth gleich­zeitig. Aber gerade an dieser Tatsache tritt uns eines entgegen, das uns immerdar mit tiefer Beseligung, mit tiefer Befriedigung erfüllen muß. Eigentlich ist festgesetzt dieser 24., 25.Dezember als Christi Geburts­tag

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durch den Verlust einer großen Wahrheit, wie wir eben gesehen haben. Dennoch: gewirkt hat der Irrtum im Grunde genommen wie der Verlust einer großen Wahrheit, aber das ist wiederum geschehen mit solcher weisheitsvoller Tiefe, daß wir - obzwar die Menschen, welche alles das festgesetzt haben, nichts davon wußten - doch die unter-bewußte Weisheit bewundern müssen, die da waltete in der Festsetzung dieses Weihnachtstages.

Es waltete göttliche Weisheit auch in dieser Festsetzung. Und wie man die göttliche Weisheit lesen kann draußen in der Natur, wenn man nur richtig zu entziffern versteht, was sich da allüberall offenbart, so kann man ablesen, in der. unbewußten Menschenseele wirkend, gött­liche Weisheit, wenn man eine Tatsache ins Auge faßt. Man schlägt den Kalender auf und findet am 24.Dezember «Adam und Eva» im Kalen­der verzeichnet und darauf folgend das Christi-Geburtstagsfest. Das heißt, der Verlust einer alten Wahrheit hat um dreizehn Tage zurück-verlegt die Geburt des Christus für die Erde, hat sie identifiziert mit der Geburt des Jesus von Nazareth, aber in Zusammenhang gebracht in wunderbarer Weise die Geburt des Jesus von Nazareth mit dem Gedanken an des Menschen Ursprung selber in der Erdenentwickelung bei Adam und Eva. Und wenn man all die dunklen Gefühle, all die wunderbaren Empfindungen, die da in der Menschenseele gegenüber diesem Jesus-Geburtstagsfest walten, ohne daß das Oberbewußtsein des Menschen davon weiß, wenn man diese Gefühle alle in den Tiefen der Menschenseele erforscht: in der Tat, sie sprechen eine wunderbare Sprache.

Als man nicht mehr verstand, was eigentlich aus den Weltenweiten der Menschheit zugeströmt ist - denn das hätte man am 6.Januar feiern müssen -, da verfiel man, wie durch verborgen in den Seelentiefen wir­kende Kräfte, darauf, vor die Menschheit den Menschenseelengeist hinzustellen, wie er sich darstellt, als er noch nicht vollständig durch­gegangen ist durch des Menschen physische Leiblichkeit, wie er dasteht am Ausgangspunkt eines Menschen eben selber, da wo der Menschen­seelengeist erst Besitz ergreift von diesem menschlichen physischen Leib. Das Kind bei seiner Geburt, da die Seele noch nicht in sich auf­genommen hat das, was nur hervorgerufen wird durch die Berührung

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mit der physischen Leiblichkeit, das Kind am Ausgangspunkt des phy­sischen Erdenwerdens steht da, aber nicht bloß das Kind, wie es als Kind für jeden Menschen da ist, sondern das Kind, wie es da war, bevor die Menschen in der Erdenevolution zur allerersten physischen Ver­körperung gekommen sind, was die Kabbala genannt hat «Adam Kad­mon», den Menschen, der aus göttlich-geistigen Höhen herabgestiegen ist mit alldem, was er sich durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit angeeignet hat. Den Menschen in seiner Geistigkeit am Ausgangspunkt des Erdenwerdens, durch das Jesuskind geboren werdend, das stellte eine wunderbare, eine göttliche Weisheit in dem Jesus-Geburtstagsfest nunmehr vor die Menschen hin. Da wo man nicht verstehen konnte, was da aus Weltenweiten, aus Himmelssphären auf die Erde herab kam, prägte sich in die Menschenseelen die Erinnerung an des Menschen Ursprung ein, die Erinnerung an das, was der Mensch war, bevor die luziferischen Kräfte im Erdenwerden an ihn herangetreten sind. Und als man nicht mehr verstand, daß man im höchsten Sinne sagen konnte zu dem, was bei der Johannestaufe im Jordan herunterdrang zur Menschheit: Aus Weltenweiten und Himmelshöhen dringt in Men­schenseelen ein, was sich Göttliches offenbart, um zu wirken als zu­versichtlicher Friede der Menschen, die eines guten Willens sind -, als man nicht verstand dieses Symbolum als Festesfeier vor die Menschen hinzustellen, da stellte man statt dessen eine andere Zuversicht hin: die Zuversicht, daß der Mensch, bevor im Beginne des Erdenwerdens die luziferischen Kräfte gewirkt haben, einmal auch auf der Erde eine Natur hatte, eine Wesenheit, auf die er vertrauen kann.

Wir wissen aus den bisherigen Darstellungen, daß der Jesusknabe, der uns durch das Lukas-Evangelium, nicht derjenige, der uns durch das Matthäus-Evangelium dargestellt wird, es ist, vor dem wir an-betend die Hirten finden, die in ihrer Seele diesen Spruch von der Offenbarung des Göttlichen aus Weltenweiten und Himmelshöhen zum Frieden der Menschenseele, die eines guten Willens ist, vernehmen. Und so trat für die Jahrhunderte, welche das Höhere nicht verstehen konnten, jene Festesfeier ein, die jedes Jahr aufs neue den Menschen daran erinnern soll: Wenn du auch nicht hinausblicken kannst in die Himmelshöhen, um den großen Sonnengeist zu erkennen, du trägst von

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deinem Erdenursprung aus in deiner Kinderseele, solange sie unberührt ist von äußerer physischer Verkörperung, die Kräfte, welche dir die Zuversicht geben können, daß du Sieger werden kannst über alles Niedere, was dir anhaftet durch Luzifers Versuchung. - Daher rückte man dieses Jesus-Geburtsfest an die Erinnerung an Adam und Eva heran, hinweisend darauf, daß man sich vorzustellen habe, es werde an dem Ort geboren, den die Hirten besuchen dürfen, eine Menschenseele so, wie die Menschenseele einstmals war, bevor der Mensch die erste irdische Inkarnation durchschritten hatte.

Für den Gott, dessen Geburt man nicht mehr verstand, wurde des Menschen Geburt hingestellt in diese Festeszeit. Denn aus zwei Quellen entspringt im Grunde genommen das, was den Menschen, wenn noch so sehr seine Kräfte zu sinken drohen, wenn noch so sehr seine Schmer­zen und Leiden überhand zu nehmen scheinen, aus zwei Quellen kommt das, was ihn immerdar befriedigen, beruhigen, durchkraften kann. Die eine Quelle ist diejenige, die wir verfolgen können, wenn wir in die Weltenweiten hinausschauen, die durchwebt und durchströmt und durchleuchtet und durchwärmt sind von dem, was man den göttlichen Geist nennt. Und wenn der Mensch sich dem Gedanken hingeben kann:

Du wirst, wenn du nimmer erlahmen läßt deine Kräfte, dich selber durchdringen können mit der Kraft dieses die Welt durchwebenden Göttlich-Geistigen -, wenn der Mensch diesen Gedanken in seinem Herzen fassen kann, dann faßt er den Ostergedanken, den Gedanken, durch den wir gleichsam aus Weltenweiten saugen Weltenzuversicht. Und die andere Quelle ist diejenige, die aus der dunklen Ahnung her­vorgehen kann: Bevor der Mensch von den luziferischen Kräften am Ausgangspunkt des Erdenwerdens befallen wurde, war er als seelisch-geistiges Wesen noch ergossen in denselben Geist, den er nun erwartet aus Weltenfernen und Raumesweiten im Ostergedanken. - Wenn da der Mensch sich zur Quelle begibt, die er erschauen kann in seines eigenen Wesens Ursprung vor dem Einfluß der luziferischen Kräfte, kann er sich sagen: Was auch über dich kommen mag, was auch dich quälen mag, was auch dich herabziehen mag von den lichten Sphären des Geistigen, in dir ist göttlicher Ursprung einmal gewesen, er muß in dir verblieben sein, wenn er auch noch so sehr sich in deinen Seelentiefen

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verbirgt. Erkennst du diese innerste Kraft deiner Seele, dann eröffnet sich dir die Zuversicht, daß du zu den Höhen emporsteigen darfst und kannst. Und wenn du dir alles das nimmst, was du dir als unschuldvolles, noch von des Lebens Versuchungen befreites Kindliches vor die Seele zaubern kannst, und davon alles das entfernst, was durch die vielen Inkarnationen seit dem Beginn des Erdenwerdens auch die­jenigen menschlichen Seelen schon befallen hat, die durch solche Inkar­nationen gegangen sind, dann erlangst du ein Bild jener Menschenseele, die am Ausgangspunkt des Erdenwerdens war, bevor die irdischen Inkarnationen begonnen haben.

Aber in diesem Falle ist nur eine einzige Seele verblieben, jene Seele, von der uns das Lukas-Evangelium spricht als der Seele des einen Jesus-knaben, jene Seele, welche in derselben Zeit, wo die anderen Menschen­seelen begannen, ihre Verkörperungen durch die Erdenentwickelung zu vollbringen, zurückgehalten wurde in dem geistigen Leben. Eine solche Seele wurde am Ausgangspunkt des Erdenlebens zurückgehalten, auf­bewahrt in den heiligsten Mysterien durch die atlantischen Zeiten, durch die nachatlantischen Zeiten bis in die Zeit der Ereignisse von Palästina. Da wurde sie hingesandt in jenen Leib, der sie aufnehmen sollte und der den einen der Jesusknaben gebären sollte: denjenigen Jesusknaben, den uns das Lukas-Evangelium schildert.

So wurde aus der Feier des Christus-Geburtstagsfestes die Feier des Jesus-Geburtstagsfestes. Wenn wir sie richtig verstehen, diese Feier, dann müssen wir sagen: Ja, das, von dem wir denken, daß es geboren werde sinnbildlich in jeder Weihnachtsnacht, das ist die ursprüngliche Natur der Menschenseele, das ist der Menschen-Kindheitsgeist, wie er am Ausgangspunkt des Erdenwerdens war. Betrachten wir ihn in der Art, wie er am Ausgangspunkte des Erdenwerdens war, so ruft er uns immer zu, daß er dazumal heruntergestiegen ist als eine Offenbarung aus den Himmelshöhen. Und wenn wir ihn in der Menschenbrust fühlen, dann ergießt sich in die Menschenseele das Gefühl des zuver­sichtlichen Friedens, der uns zu unseren hohen Zielen tragen kann, wenn unser Wille ein guter ist. Gewaltig also ist der Ton, der zu uns, wenn wir verständig sind, sprechen kann in der Weihnachtsnacht.

Und warum wurde gerade das Christus-Geburtstagsfest um dreizehn

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Tage zurückversetzt und zum Jesus-Geburtstagsfest gemacht? Da muß man allerdings, wenn man das verstehen will, in tiefe Mysterien der Menschenseele eindringen. Von der äußeren Natur glaubt der Mensch, weil er es mit seinen Augen sieht, daß das, was im Frühling der Sonnenstrahl aus den Tiefen der Erde hervorzaubert, was dieser Son­nenstrahl aus den Tiefen der Erde den Frühling und Sommer hindurch zur schönsten Herrlichkeit entfaltet, daß das immer mehr sich zurück­zieht in die Erdentiefen - das ist die Zeit, in welcher die äußere Erden­sonnensphäre am dunkelsten ist -, daß in den Tiefen der Erde, in den Keimen sich das vorbereitet, was wiederum im nächsten Jahr heraus-treten soll aus diesen Erdentiefen. Ja, vom Pflanzensamen, weil er es sieht, glaubt der Mensch, daß er einen Jahreszyklus durchmacht, daß er hinunterdringen muß in die Erdentiefen, um sich wieder an der Wärme und an dem Licht des Sonnenstrahls im Frühling entfalten zu können. Daß ein solcher Zyklus auch für die Menschenseele selber da sein kann, ja fortwährend da ist, davon merkt der Mensch zunächst nichts. Er merkt es erst, wenn er in die großen Mysterien des Daseins eingeweiht wird. Verbunden, wie die Kraft eines jeglichen Pflanzen-samens mit den physischen Erdenkräften, ist mit den geistigen Erden-kräften unser eigenes Seeleninneres. Und wie der Pflanzensame in die Tiefen der Erde in der Zeit heruntersteigt, die wir die Weihnachtszeit nennen, so steigt in tiefe, tiefe Geistesregionen die Menschenseele in diesen Zeiten hinunter, sich ebenso Kraft holend in tiefen Regionen wie der Pflanzensame zum Blühen im Frühling. Das gewöhnliche Mensch­heitsbewußtsein schaut nichts von dem, was da mit der Seele in der Erde Geistestiefen vorgeht. Für denjenigen aber, dem die geistigen Augen geöffnet werden, für den ist die Zeit der dreizehn Tage und dreizehn Nächte eine tiefe Zeit des geistigen Erlebens.

Ja, parallel mit dem Erleben des Pflanzensamens in der Erde natür­lichen Tiefen geht ein geistiges Erleben in der Erde Geistestiefen -parallel geht es. Und hinuntersteigend kann sich der Seher fühlen, der durch Schulung dies vermag, oder der Seher, dem durch irgendwelche vererbte Seherkräfte dies ermöglicht wird, hindurchdringend kann sich der Seher in solche Geistestiefen fühlen. Schauen kann in dieser Zeit der dreizehn Tage und der dreizehn Nächte der Sehergeist, was alles

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über den Menschen deshalb kommen muß, weil dieser Mensch jene Erdeninkarnationen durchgemacht hat, die, so wie sie sind, durch die Kräfte des Luzifer vom Beginn des Erdenwerdens bis in unsere Zeit geworden sind. Was über den Menschen in der geistigen Welt an Kamalokaleiden dadurch kommen muß, daß Luzifer an ihn herantrat, seitdem der Mensch auf der Erde inkarniert wurde, das ist am deutlich­sten in den großen, gewaltigen Imaginationen zu schauen, welche der Seele entgegentreten können in jenen dreizehn Tagen und Nächten zwischen dem Weihnachtsfest und dem Feste des 6. Januar, der Erschei­nung Christi. Wenn der Pflanzensame da unten seine wichtigste Zeit in den Tiefen hat, hat die Menschenseele ihre tiefsten Erlebnisse in diesen Zeiten. Es schaut die Menschenseele alles das, was der Mensch in geisti­gen Welten erleben muß, weil sie sich entfernte unter dem Einfluß Luzifers von den schöpferischen Mächten der Welt. Das alles schaut die Menschenseele am besten in dieser Zeit. Daher ist sie durch dieses Schauen auch am besten vorbereitet zu der Erscheinung jener Imagina­tion, welche wir die Christus-Imagination nennen können, wo wir gewahr werden, wie der Christus der Besieger des Luzifer wird und damit über die Taten der Menschen richtet, die entspringen aus den Inkarnationen, welche unter dem Einfluß des Luzifer stehen. So lebt die Menschenseele, des Sehers Seele, sich von dem Jesus-Geburtstagsfest bis zum Christi-Erscheinungsfeste hin, so daß ihr das Mysterium Christi aufgeht und sie am tiefsten in dieser Zeit erkennen kann, was mit der Johannestaufe im Jordan gemeint ist.

Es ist merkwürdig, wie überall dahin, wo in den christlichen Jahr­hunderten die Möglichkeit geistigen Schauens in richtigem Sinn drang, auch dieser merkwürdige Zusammenhang drang von dem Schauen der Seherseele in den dreizehn Nächten, in der eigentlichen Winterwende­zeit. Man lernte aus gar mancher Seherseele kennen, die entweder ge­schult war in den Mysterien der neuen Zeit oder die ererbte Seherkräfte noch hatte, man lernte sehen, wie in der finstersten Winterwendezeit die Seele alles das schauen kann, was der Mensch durchzumachen hat durch seine Entfernung von dem Christus-Geist, und wie diesem Men­schen die Ausgleichung werden kann, die Katharsis dadurch, daß das Mysterium der Johannestaufe im Jordan und dann das Mysterium von

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Golgatha sich vollzogen hat, und wie gekrönt sind die Visionen der Seher in den dreizehn Nächten mit dem 6.Januar durch die Imagination des Christus. So ist es richtig, den 6.Januar als den Geburtstag des Chri­stus anzusetzen, richtig, diese dreizehn Nächte als jene die Menschen­seelen-Seherschaft repräsentierende Zeit anzusetzen, wo man alles wahr­nimmt, was der Mensch durchmachen muß durch das Leben in den In­karnationen von Adam und Eva bis zu dem Mysterium von Golgatha.

Es war mir interessant, diesen Gedanken, der Ihnen nur mit etwas anderen Worten entgegenströmt aus so mancherlei Vorträgen, die über das Christus-Mysterium gehalten worden sind, bei meinem letzten vor­jährigen Aufenthalt in Kristiania schön verkörpert zu sehen in einer Sage und Legende: der sogenannten Traumlegende, die merkwürdiger­weise in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Norwegen aufgetaucht ist und in das Volk sich eingelebt hat, welche allerdings auf frühere Zeiten zurückführt. In ganz wunderbarer schöner Weise erzählt uns jene Legende, wie Olaf Ästeson gleichsam durch natürliche Kräfte ein­geweiht wird, indem er am Weihnachtsabend einschläft, durch die drei­zehn Tage bis zum 6.Januar schläft und alle die Schauer dessen durch-macht, was der Mensch durchleben muß durch die Inkarnationen vom Erdenbeginn bis zum Mysterium von Golgatha. Und wie Olaf Ästeson dann schaut, als er sich nähert der Zeit des 6.Januar, das Eingreifen des Christus-Geistes in der Menschheit, dem der Michael-Geist voran­gegangen war. Ich hoffe, wir werden bei einer anderen Gelegenheit noch in diesen Tagen dieses Gedicht von Olaf Ästeson Ihnen vorführen können, damit Sie sehen, wie da heute noch lebt, ja geradezu wieder auflebt das Bewußtsein solcher Seherschaft in den dreizehn Tagen. Nur die eine charakteristische Strophe vom Anfang sei angeführt:

So höre meinen Sang!

Ich will dir singen

Von einem flinken Jüngling:

Es war das Olaf Ästeson,

Der einst so lange schlief!

Von ihm will ich dir singen.

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Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend,

Ein starker Schlaf umfing ihn bald,

Und nicht konnt' er erwachen,

Bevor am dreizehnten Tag

Das Volk zur Kirche ging.

Es war das Olaf Ästeson,

Der einst so lange schlief!

Von ihm will ich dir singen.

Und das geht dann weiter, bis er geführt wird in seinem Traum der dreizehn Nächte durch all das, was der Mensch in der heute geschilder­ten Weise zu durchleben hat infolge der Versuchung des Luzifer. Anschaulich wird geschildert, wie Olaf Ästeson durch alle die Gefilde geht, wo die Menschen das erleben, was wir so oft bei unseren Erzäh­lungen von Kamaloka schilderten, wie hereinströmt in dieses geschaute Kamaloka der Christus-Geist, geführt von Michael.

So wird sich für die Menschen immer mehr und mehr mit dem, was wir den im Geist kommenden Christus nennen, die Möglichkeit eröff­nen, wirklich auch zu erkennen, wie die geistigen Kräfte walten und weben, wie das, was wir Feste nennen, nicht willkürlich festgesetzt worden ist, sondern festgesetzt worden ist durch die den Menschen so oft unbewußte, aber durch die Geschichte waltende Weltenweisheit. Diese Weltenweisheit hat an den Anfang der dreizehn Tage gesetzt das Jesus-Geburtstagsfest Wenn uns andererseits das Osterfest immer er­mahnen kann daran, daß wir in uns die Kräfte finden werden aus der Betrachtung der Weltenweiten und Raumesweiten, Sieger werden zu können über alles Niedrige, so sagt uns der Weihnachtsgedanke, daß wir in uns finden können, wenn wir das Symbolum dieses Menschen­ursprunges verstehen, dieses Menschen-Gottesursprunges, das Sym­bolum, das uns als das Jesuskind am Weihnachtstag entgegentritt. Dieser Menschenursprung ruft uns immerdar zu: Mensch, du kannst in dir die starken Kräfte finden, die mir das geben, was man im wahren Sinne des Wortes den Seelenfrieden nennen kann. - Denn der Seelen-frieden ist nur vorhanden, wenn er zuversichtlicher Friede ist, das heißt,

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wenn er die Kraft darstellt, daß der Mensch immerdar weiß: In dir lebt etwas, was dich hinaufführen kann und muß, wenn du es nur rich­tig in dir zur Geburt bringst, zu göttlichen Höhen, zu göttlichen Kräf­ten. - Die Lichter hier, Symbole sind sie uns für jenes Licht, das in unserer eigenen Seele erglänzt und erglüht, wenn wir das fassen, was uns symbolisch das Jesuskind in der Weihnachtsnacht aus seinem Un­schuldsdasein kündigt: die innersteWesenheit der Menschenseele selber, die da ist unschuldig, kraftvoll, friedlich für unseren Lebensweg zu den höchsten Erdenzielen. Und wenn wir von diesen Lichtern unserer Seele sagen lassen: Ja, du Menschenseele, wenn du jemals schwach wirst und glaubst, du könntest sie nicht finden, die Erdenziele, so denke an des Menschen Gottesursprung und werde gewahr in dir die Kräfte, die da sind zugleich die Kräfte höchster Liebe. Und bei höchster Kraftentwik­kelung werde gewahr in dir die Kräfte, welche dir immerdar Zuver­sicht und Sicherheit geben in all deinem Wirken, in all deinem Leben jetzt und in fernsten Zukunftszeiten.

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HINWEISE

Dem in dem vorliegenden Band enthaltenen Vortrag Bielefeld, 6. März 1911, stellte Marie Steiner anläßlich seiner Veröffentlichung im «Nachrichtenblatt» (Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder. Beilage zur Wochenschrift «Das Goetheanum») folgendes Geleitwort voran, das sinngemäß auch für andere Vorträge des Bandes Gültigkeit hat:

Bielefeld gehörte 1911 zu den kleineren Zweigen, die, im Vergleich mit den früher begründeten, nur selten das Glück hatten, Dr. Steiner zu intimeren Vortragsveran­staltungen in ihrer Mitte haben zu können. Doch war es oft so, daß die selten be­suchten Zweige wie einen Extrakt alles dessen erhielten, was Dr. Steiner in den größeren Zentren in vielen Vorträgen auseinanderlegte. Es konnte dann das an einem solchen Abend Vorgetragene eine besondere Intensität haben; etwas wie ein starkes geistiges Fluidum konnte entstehen, das lange nachwirkte, auch inmitten der sich überstürzenden Fülle nachfolgender Ereignisse und neu erhaltener geistiger Gaben. So besonders bei den Vorträgen über das Christus-Ereignis. - Leider haben die meisten Nachschriften aus jener Zeit den Charakter von Notizen, da sie nur den halben und manchmal nur einen viertels Text bringen. Aber man kann die zwischen den Zeilen liegende Substanz in sich eindringen fühlen. Für den Kenner der Sprechweise Dr. Steiners ist es nicht allzu schwer, sich manches zu rekon­struieren, und immer wieder hat man Gelegenheit, über die Mannigfaltigkeit neu auftretender Gesichtspunkte zu staunen.

Die ungeheuren Irrtümer, in welche die Theosophische Gesellschaft verfallen war bei ihrem Versuch, die Bedeutung des Christus-Ereignisses zu vermindern, sie andern avatarischen Erscheinungen gleich- oder unterzustellen, hatte eine rein­liche Scheidung der beiden Geistesströmungen auch nach außen hin nötig gemacht. Dies konnte nur dadurch erreicht werden, daß der Name, den Dr. Steiner seiner christlich esoterischen Geisteswissenschaft gab - ein schon ursprünglich für sie ge­brauchter -, nun sozusagen ein offizieller wurde. Als die Loslösung von der Theo­sophischen Gesellschaft nicht mehr zu umgehen war, wählte er, statt des viel­geliebten Wortes »Theosophie», für das er, um ihr Ansehen zu heben, als Vor­tragender mit der ganzen Kraft seines Einsatzes eingetreten war, und das ja auch in früheren Jahrhunderten eine im Abendland für die Wissenschaft des Geistes gebräuchliche Bezeichnung war, nun das Kennwort «Anthroposophie». Es sollte dadurch eine Identifizierung der von ihm vertretenen Geistesströmung mit der von der Theosophischen verhindert werden. Dies war eine von den äußeren Um­ständen damals auferlegte Notwendigkeit. Innerlich besteht zwischen den beiden Bezeichnungen kein Widerspruch, höchstens eine nähere Charakterisierung; denn die wahre Anthroposophie führt zur wahren Theosophie und umgekehrt. Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden Weltenwortes, als Lösung der Welt-rätsel, ist Inhalt auch der Theosophie. Indem er sein Bewußtsein zum Göttlichen erhebt, taucht er zugleich in das Göttliche unter. Menschliches und göttliches Be­wußtsein, Anthroposophie und Theosophie werden Eines.

Folgende Vorträge sind in Zeitschriften veröffentlicht worden:

Frankfurt, 8.Januar 1911: im «Nachrichtenblatt» 1944, 2l. Jg. Nrn. 30-31.

München, 11.Februar 1911: im «Nachrichtenblatt» 1935, 12. Jg. Nrn. 43-47.

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Basel, 23. Februar 1911: im «Nachrichtenblatt» 1947, 24. Jg. Nrn. 23-27 (irrtümlich

22. Februar).

Zürich, 25. Februar 1911: in «Die Menschenschule» 1954, 28. Jg. Nr.12.

Berlin, 3. März 1911: im «Nachrichtenblatt» 1938, 15. Jg. Nr.32.

Bielefeld, 6. März 1911: im «Nachrichtenblatt» 1944, 21. Jg. Nrn. 42-45 (irrtümlich 5. März).

München, 3. Mai 1911: im «Nachrichtenblatt» 1949, 26. Jg. Nrn. 42-44.

Wien, 14. Juni 1911: im «Nachrichtenblatt» 1947, 24. Jg. Nrn. 36-39.

Hannover, 26. Dezember 1911: in «Das Goetheanum» 1936> 15. Jg. Nrn. 51-52.

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke Rudolf Steiners sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

14 Augustinus, 354-430. Vgl. das Kapitel «Augustinus und die Kirche» in «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums», Bibl.-Nr.8, Gesamtausgabe 1959, ferner Vortrag Dornach 22. Mai 1920, in «Die Philosophie des Thomas von Aquino», Bibl.-Nr. 74, Gesamtausgabe 1967.

Johannes Calvin, 1509-1564. Vgl. Vortrag Dornach 7. Oktober 1917, in «Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finster­nis», Bibl.-Nr. 177, Gesamtausgabe 1966; Vorträge Dornach 18. Oktober und 2. November 1918, in «Geschichtliche Symptomatologie», Bibl.-Nr. 185, Ge­samtausgabe 1962.

17 die Mystik Meister Eckharts, Susos, Johannes Taulers: Siehe «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung», Bibl.-Nr. 7, Gesamtausgabe 1960.

Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Jakob Böhme: Siehe a.a.O.; zu Paracelsus und Böhme siehe auch die Vorträge Berlin 26. April und 3. Mai 1906, in «Die Welträtsel und die Anthroposophie», Bibl.-Nr. 54, Gesamtausgabe 1966.

Keplersche Gesetze: 1. Die Planeten bewegen sich in Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. 2. Der Leitstrahl oder Radiusvektor (Verbindungs­linie zwischen dem Mittelpunkt der Sonne und dem des Planeten) überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. 3. Die Quadrate der Umlaufszeiten verhal­ten sich wie die Kuben der mittleren Entfernungen von der Sonne.

18 Kommentar zur Apokalypse: «Observations upon the Prophecies of Daniel and the Apokalypse of St. John», London 1733.

24 Aristoteles: Vgl. Vortrag Berlin 3. Juli 1917, in «Menschliche und menschheit-liebe Entwicklungswahrheiten», Bibl.-Nr. 176, Gesamtausgabe 1964; Dornach 22. Mai 1920, in «Die Philosophie des Thomas von Aquino» (s. o.).

26 Kant sagt: In der Vorrede zur 2. Auflage der »Kritik der reinen Vernunft», Riga 1787: «Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung über­schwenglicher Einsichten benehme... Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen...»

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27 in gewissen kirchlichen Verhältnissen: Die Nachsehrift ist an dieser Stelle lückenhaft.

28 auf dem Standpunkt der Antisophie: Siehe »Theosophie und Antisophie», Vor­trag Berlin 6. November 1913, in «Geisteswissenschaft als Lebensgut», Bibl.-Nr.63, Gesamtausgabe 1959.

31 Fichte sagt dazu: wörtlich: »Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht dar­stellen lassen, wissen wir anderen vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredelung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten, und ihnen zur rechten Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte und dabei - kluge Gedanken ver­leihen!» Vorrede zu «Über die Bestimmung des Gelehrten», 1794.

32ff. Auswirkung moralischer Eigenschaften auf das Karma: VgL Vorträge Bremen

26. November, und München 11. Dezember 1910, in «Wege und Ziele des gei­stigen Menschen», Bibl.-Nr. 125, Gesamtausgabe 1973.

33 daß ich Kinder unterrichtet habe: Siehe «Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28, Ka­pitel VI.

34 Goethe sagt: Gedichte, Sprichwörtlich:

Ich Egoist! - Wenn ich's nicht besser wüßte!

Der Neid, das ist der Egoiste;

Und was ich auch für Wege geloffen,

Auf'm Neidpfad habt ihr mich nie getroffen.

Benvenuto Cellini, 1500-1571, Goldschmied und Bildhauer. Selbstbiographie Neapel 1758. Übersetzung aus dem Italienischen von Goethe, Tübingen 1803. Cellini betont darin mehrfach seine Wahrheitsliebe, so im III. Buch, 8. Kapitel, und im IV. Buch, 7. Kapitel, ,wo er von sich als einem «beständigen Freunde der Wahrheit und Feind der Lüge» spricht.

37 das Staunen, die Verwunderung: Vgl. Vortrag Breslau 3. Februar 1912, in »Er­fahrungen des Übersinnlichen. Die Wege der Seele zu Christus», Bibl.-Nr. 143, Gesamtausgabe 1970.

haben die alten griechischen Philosophen schon gesagt: Plato, Theaet. p. 155 D; Aristoteles, Metaph. 1, 2.

42 Einiges über das seelische Innere.... Diesem Vortrag stellte Marie Steiner bei seiner ersten Veröffentlichung im «Nachrichtenblatt» (s. o.) das folgende Ge­leitwort voran:

»Den Erinnerungen nachgehend, die uns mit unsern abgeschiedenen Freunden verbinden, greifen wir einen jener so bedeutsamen Vorträge Rudolf Steiners aus dem Jahre 1911 heraus, der uns in der Nachsehrift von Clara Michels erhalten ist. Wie so manche, die in den seltener besuchten oder neueren Zweigen der Gesellschaft gehalten wurden, gibt er eine überaus lebendige, grundlegende Anschauung

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von der Art des Zusammenwirkens der menschlichen Wesensglieder, um dann die in jener kritischen Zeit besonders aktuellen Probleme zu berühren. Durch dasjenige, was damals in Adyar an trüben und unklaren Ereignissen vor sich ging, war es notwendig geworden, bei den Zuhörern der Vorträge ein Ver­ständnis zu erwecken für das Eingreifen geistiger Wesen oder höherer Indivi­dualitäten in eine irdische Seele. Handelte es sich doch darum, auf diesem Wege ein allmähliches Verständnis für die einmalige Bedeutung des Mysteriums von Golgatha, und eine Einsicht zu gewinnen der Verirrungen, in welche man, von Adyar aus, die europäischen Christussucher hineinverstricken wollte.

Viele dieser Vorträge sind leider nur in Notizen erhalten; andere, wie die von Agnes Friedländer festgehaltenen, der wir dadurch doch sehr zu Dank ver­pflichtet sind, in besonders gegen ihr Ende zu stark gekürzten Nachschriften. Clara Michels konnte stenographieren, wenn sie auch nicht viel Gelegenheit hatte, sich darin zu vervollkommnen. Die auf das Wesen der Bodhisattvas hinweisenden Worte Rudolf Steiners finden wir hauptsächlich in den Vorträ­gen von 1910, doch auch noch in solchen des Jahres 1911, wie in dem zu Pfing­sten herausgegebenen über ,Buddha und Christus. Die Sphäre der Bodhisattvas> [siehe «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», Bibl.-Nr. 130, Gesamtausgabe 1962]. Der nun erscheinende Frankfurter Vor­trag gibt vor allem einen Einblick in die Art des Wirkens in der menschlichen Seele der Hierarchien und der ihrer Sphäre entstammenden, aber zurückge­bliebenen Geister.»

42 in Anlehnung an Goethe: 8. Januar 1911 «Goethes geheime Offenbarung (exo­terisch)», 9. Januar 1911 «Goethes geheime Offenbarung (esoterisch)«; von beiden Vorträgen liegen keine Nachschriften vor. Siehe hierzu die zum gleichen Thema gehaltenen Vorträge Berlin 22. und 24. Oktober 1908, in «Wo und wie findet man den Geist?», Bibl.-Nr. 57, Gesamtausgabe 1961.

49 des Pauluswortes: Gal. 2, 20.

67 Wir müssen werden wie die Kinder: Vgl. Matth. 18, 3.

68 Eduard Sueß, 1831-1914, Geologe, Paläontologe, Professor in Wien, Präsident der Wiener Akademie, 1873-1896 Abgeordneter im Reichsrat. Wien verdankt ihm die erste Hochquellwasserleitung.

69 wie es selbst noch Buch oder Humboldt getan haben:

Leopold von Buch, 1774-1854, stellte die Lehre auf, daß die Gebirge durch plötzliche Erhebung des Bodens infolge der im Erdinneren wirksamen Feuer­tätigkeit entstanden seien (Plutonismus). »Gesammelte Schriften», herausgeg. von Ewald, Roth, Eck, Dames, 4 Bde., Berlin 1867-1885.

Alexander von Humboldt, 1769-1859, lernte während seiner Studien an der Bergakademie Freiberg 1791 Buch kennen, blieb mit ihm befreundet und schloß sich in der Folge Buchs Anschauungen über die Bildung der Erdober­fläche an. «Gesammelte Werke» 12 Bde., Stuttgart 1889, 15 Bde. 1903-1920.

an einer Stelle seines Werkes: »Das Antlitz der Erde», Erster Band, XII. Ab­schnitt, «Die Kontinente. Zusammenbruch der Lithosphäre»; S. 778.

71 Wilhelm Wundt, 1832-1920, Philosoph und Psychologe.

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74 Wilhelm Fließ, 1858-1928, Mediziner, wurde durch seine Lehre von der Perio­dizität des Lebens bekannt. Hauptwerke: «Vom Ablauf des Lebens», Jena 1906; «Vom Leben und vom Tode», Jena 1909; «Das Jahr im Lebendigen», Jena 1918. - Vgl. Vortrag Berlin, 9. November 1911, in «Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung», Bibl.-Nr. 61, Gesamtausgabe 1962.

82 Nicht ich, sondern der Christus in mir: Siehe Hinweis zu S. 49.

84 als er über das Wisen des Menschen sprach: «Einige Vorlesungen über die Be­stimmung des Gelehrten», 1794, Schluß der dritten Vorlesung.

86 einen öffentlichen Vortrag ... wie den gestrigen: Zürich, 24. Februar 1911:

«Geisteswissenschaft und Menschheitszukunft», in Gesamtausgabe vorgesehen für Bibl.-Nr. 69.

87 Heinrich Lhotzky, 1859-1930, Pfarrer in den deutschen Kolonien in Südruß­land, lebte seit 1901 als freier Schriftsteller in Ludwigshafen am Bodensee. Das erwähnte Buch, 1. Aufl. 1904, erreichte eine Gesamtauflage von 300000.

93 Winn ihr nicht werdet wie die Kindlein: Siehe Hinweis zu S.67.

94 Ich bin der Wig: Job. 14, 6.

96 Ich bin bei euch: Matth. 28, 20.

Ihr könnt es jetzt noch nicht ertragen: Job. 16,12.

97 Christus in mir: Siehe Hinweis zu S. 49.

98 lch sende meinen Engel vor dir her: Mark. 1,2; Mal. 3,1.

104 Julius Duboc, 1829-1903. »Der Optimismus als Weltanschauung», Bonn 1881; «Die Tragik vom Standpunkte des Optimismus», Hamburg 1885.

Ralph Wildo Trine, 1866-1958, Schüler Emersons, dessen Lehre er in volks­tümlichen Schriften verbreitete. «The Winning of the Best», 1912; «My Philo­sophy and my Religion«, 1921.

105 was ihnen das Gleichgewicht gibt: Die Nachschrift ist mangelhaft.

110 Schilddrüsensajt: Das bekannteste Schilddrüsenpräparat ist Thyreoidin, ein Bestandteil der getrockneten, pulverisierten Schilddrüse von Schlachttieren. Es wird vor allem bei Wachstumsstörungen der Schilddrüse (Myxödem), Fallsucht, Kropf und Kretinismus angewendet.

114 die Wirte im «Faust»: «Faust« 1, Nacht, 784.

116 Gerhart Hauptmann, 1862-1946.

Hermann Sudermann, 1857-1928.

Beide Dichter namhafte Vertreter des Naturalismus. Vgl. »Vorspiel» und «Zwi­schenspiel» in »Die Pforte der Einweihung« von Rudolf Steiner, Dornach 1956.

die Paulus... verkündet hat: Siehe Hinweis zu S. 49.

117 welches Johann Gottlieb Fichte i ausgesprochen hat: Siehe Hinweis zu S.84.

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118 Fingalshöhle: Eine der größten und schönsten Naturmerkwürdigkeiten Europas. Die Wände der 113 m langen Grotte bestehen aus Reihen von sechseckigen, 17 m hohen Basaltpfeilern. Sie tragen ein gewaltiges, 70 m langes Gewölbe. Nach der Sage der Bergschotten und der Hebridier war die Grotte der von Rie­sen erbaute Palast des durch die Lieder Ossians berühmten Helden Fingal.

Ossian, keltischer Barde des 3. Jahrhunderts. Nach den Gedichten, die seinen Namen tragen, Sohn des Königs von Alba (Hochschottland) Fingal, im Alter erblindet. Der älteste Hinweis auf die Lieder Ossians findet sich in dem «Buch von Leinster», einer Handschrift des 12. Jahrhunderts. Man nimmt an, daß die Gesänge Ossians in der Form, wie sie Macpherson vorlagen (siehe den folgen­den Hinweis), aus dem 11. Jahrhundert stammen, daß sie aber ihrem Inhalt nach weit älter sind und in der Tat auf uralte Schlachtgesänge und Sagen zu­rückgehen, die nach Bardenart von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wur­den. Die in Ossians Gesängen geschilderten Sitten, Gebräuche und Rechtsord­nungen entsprechen bis ins einzelne den zur Zeit Macpherson noch nicht be­kannten Ergebnissen, die neuere Forschungen über Charakter und Lebensweise der alten Gälen zutage gefördert haben. Es gab nur Jagd und Viehzucht, aber noch keinen Ackerbau, der König hielt in offener Halle Hof, Fürstentöchter hatten Grotten zur Wohnung. Auf die Eroberungszüge der Normannen zwi­schen 350 und 500 wird kein Bezug genommen, dagegen auf den Einfall des Normannenkönigs Suaron (siehe unten) in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts.

119 James Mac pherson, 1736-1796, schottischer Gelehrter. Auf mehreren Reisen durch die schottischen Hochlande sammelte er alte keltische Texte, die er in den Jahren 1760-63 unter dem Titel «Fragments of ancient poetry collected in the Highlands», »Fingal», »Temora» und schließlich 1765 in einer Gesamtausgabe als »The works of Ossian» veröffentlichte. Die Lieder und Epen, die Macpher­son in letzter Stunde rettete, lebten damals noch im Volksmund und waren teil­weise auch in einigen Handschriften erhalten. Schon bald nach ihrem Erschei­nen wurde ihre Echtheit in gehässiger Weise angezweifelt. Soweit Macpherson über Urtezte verfügte, übergab er diese der Highland Society in Edinburgh, die sie in zwei Großoktavbänden herausgab («Dana Oisein mhic Finn», Lon­don 1807).

Es horchten auf: Goethe, Herder, Napoleon:

Goethe übersetzte schon in Straßburg 1771 aus den Dichtungen Ossians die »Gesänge von Selma», die er teilweise in seinem Roman «Die Leiden des jungen Werther» (erste Fassung 1774, zweite Fassung 1782-86) übernahm. Goethes Übersetzung aus »Temora» wurde im «Jahrbuch des Freien Deutschen Hoch­schulstifts» 1908 (Faksimile und Druck der deutschen Version) veröffentlicht. In »Dichtung und Wahrheit», Dritter Teil, Zwölftes Buch und Dreizehntes Buch werden die Ossianischen Dichtungen dreimal in verschiedenen Zusam­menhängen erwähnt.

Herder bringt in seinen »Stimmen der Völker in Liedern» zu Beginn des Drit­ten Buches »Nordwestliche Lieder» aus «Temora» die Gesänge »Fillans Er­scheinung und Fingals Schildklang» und «Erinnerung des Gesanges der Vor­zeit», ferner in der Übersetzung von Goethe «Darthulas Grabgesang». In sei­ner Abhandlung «Über Ossian und die Lieder alter Völker. Auszug aus einigen Briefen» (aus «Deutsche Art und Kunst« 1773) sowie in zwei Rezensionen in Nicolais «Allgemeiner Deutscher Bibliothek» wendet sich Herder gegen eine

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Übertragung der Dichtungen Ossians in Hexametern, wie sie der Jesuitenpater Denis veröffentlicht hatte («Die Gedichte Ossians, eines alten celtischen Dich­ters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis», Wien 1768). Durch eine Übertragung in das klassische Versmaß verlören die Gesänge den Charakter des Bardentones. In den «Horen», 1795, zehntes Stück, erschien Herders Aufsatz »Homer und Ossian». Homer »blühte mit einem jungen Volke auf», schreibt Herder, während er Ossian als «die letzte Stimme der Heldenzeit für die schwächere Nachwelt» bezeichnet.

119 Napoleon stellte Ossian über Homer (siehe u. a. Egon Friedell «Kulturgeschichte der Neuzeit», Bd. II, München 1928, S. 332).

unter dem Namen des Fingal: Find Mac Cumaill oder Fionn Mac Chumail, historischer Fürst in Irland, gestorben 273 n.Chr., wurde in der Überlieferung seines Volkes zu einer mythischen Gestalt, ähnlich wie König Arthur. Sein Sohn hieß Ossin (Ossian). Mit den irischen Einwanderern kam die Überlieferung zu den Hochschotten.

122 «Der König stand bei dem Stein von Lübar . . » . «Die Gedichte Ossians» . Aus dem Gälischen von Christian Wilhelm Ahlwardt (1812). 1. Bd. Leipzig 1861, S.isiff, in freier Wiedergabe.

Selma: Hauptstadt von Morven (Nordschottland).

123 Swaran (Suaran): Normannischer König von Westgotland, gestorben 240.

Fillan: Sohn des Fingal und der Klatho, fiel im Kampf gegen Kathmor und wurde von Ossian in eine Höhle gelegt, über der sein Geist jetzt schwebte.

129 wie Schopenhauer sagt: Motto zu der «Preuschrift über die Grundlage der Moral, nicht gekrönt von der königlich dänischen Societät der Wissenschaften zu Kopenhagen, am 30. Januar 1840».

132 das Paulus-Wirt: Siehe Hinweis zu S.49.

137 »Eine okkulte Physiologie», Bibl.-Nr. 128, Gesamtausgabe 1971.

in unseren beiden öffentlichen Vorträgen: «Wie widerlegt man Theosophie?« und «Wie verteidigt man Theosophie?», Prag 19. und 25. März 1911. Von bei­den Vorträgen sind nur ungenügende Notizen erhalten. Siehe dafür die beiden Vorträge Berlin, 31. Oktober und 7. November 1912, zum gleichen Thema, in «Ergebnisse der Geistesforschung», BiM.-Nr. 62, Gesamtausgabe 1960.

145 Ein bedeutender Erkenntnistheoretiker der Gegenwart: Otto Liebmann, 1840 bis 1912, in seinem Werk «Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grundprobleme der Philosophie», 3. Aufl., Straßburg 1900, S.28. WörtHch heißt es: «Gerade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt aus der Sphäre seines subjektiven Vorstellens hinaus kann, gerade deshalb, weil es nie und nimmermehr mit Üherspringung des eigenen Bewußtseins, unter Emanzi­pation von sich selber, dasjenige zu erfassen und zu konstatieren imstande ist, was jenseits und außerhalb seiner Subjektivität existieren oder nicht existieren mag, gerade deshalb ist es ungereimt, behaupten zu ,wollen, daß das vorgestellte Objekt außerhalb der subjektiven Vorstellung nicht da sei.«

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146 ein vielgenannter Philosoph des 19. Jahrhunderts: Eduard v. Hartmann, 1842 bis 1906.

148 daß unser Ich nicht in die Subjektivität hereingenommen werden darf: Vgl. CarI Unger, Schriften, Erster Band, Stuttgart 1964, «Das Ich und das Wesen des Menschen».

154 daß eigentlich heute der Kursus in Helsingfors beginnen sollte: Siehe «Aus dem Leben von Marie Steiner-von Sivers», Dornach 1956, S.62 f.

165 So sagt Paulus: Siehe Hinweis zu S.49.

169 daß der Christus bei uns ist alle Tage: Siehe Hinweis zu S. 96. daß der Christus auch gesagt hat: Siehe Hinweis zu S. 96

171ff. Im Anschluß an die Generalversammlung der Skandinavischen Theosophi­schen Gesellschaft schickte Rudolf Steiner den Vortrag vom 5. Juni dem Zyklus »Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» voraus. Die drei Vor­träge dieses Zyklus wurden von ihm zur Schrift umgearbeitet; siehe das Ver­zeichnis der Schriften auf S. 255.

177 im brennenden Dornbusch: 2. Mos. 3.

183: vor etwas mehr als einem Jahr: Siehe »Makrokosmos und Mikrokosmos. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen», Bibl.-Nr.119, Gesamtausgabe 1962.

Sokrates, 469-399 v. Chr., wegen angeblicher Gottlosigkeit zum Tode durch den Giftbecher verurteilt. Seine Kunst, durch Fragen die im Menschen verbor­gen liegenden Kräfte und Erkenntnisse zu entbinden = Entbindungs­kunst der Hebamme), ist durch Platos Dialoge überliefert; er selbst hinterließ keine Aufzeichnungen.

185 Innerhalb der erwachsenden Ich-Kräfte: In der Fassung, in welcher der Vor­trag im «Nachrichtenblatt» 1947, 24. Jg. Nr.37 erschien, ist an dieser Stelle ein Zitat aus dem Buch »Theosophie» eingefügt. Dieses Zitat findet sich in keiner der vorliegenden Nachschriften. Es hat folgenden Wortlaut: »Das Ich lebt in der Seele. Wenn auch die höchste Äußerung des der Bewußtseinsseele an­gehört, so muß man doch sagen, daß dieses Ich, von da ausstrahlend, die ganze Seele erfüllt und durch die Seele seine Wirkung auf den Leib äußert. Und in dem Ich ist der Geist lebendig. Es strahlt der Geist in das Ich und lebt in ihm als in seiner Hülle, wie das Ich in Leib und Seele als seinen Hüllen lebt. Der Geist bildet das Ich von innen nach außen, die mineralische Welt von außen nach innen. Der ein Ich bildende und als Ich lebende Geist sei >Geistselbst> ge­nannt, weil er als Ich oder als Selbst des Menschen erscheint . . . Das Geistselbst ist eine Offenbarung der geistigen Welt innerhalb des Ich, wie von der andern Seite her die Sinnesempfindung eine Offenbarung der physischen Welt inner­halb des Ich ist. In dem, was rot, grün, gelb, hart, ,weich, warm, kalt ist, erkennt man die Offenbarungen der körperlichen Welt; in dem, was wahr und gut ist, die Offenbarungen der geistigen Welt...»

190 Lessing hat als Schlußergebnis . ..»: «Die Erziehung des Menschengeschlechts», Berlin 1780.

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191 Hebbel hat Notizen hinterlassen: «Nach der Seelenwanderung ist es möglich, daß Plato jetzt wieder auf einer Schulbank Prügel bekommt, weil er den Plato nicht versteht.» Neues Tagebuch Nr.1336 in: «Hebbels Werke», herausg. von Th. Poppe, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin/Leipzig/Wien/Ssuttgart o. J., 9. Teil: Tagebücher I, S. 202.

193 Der Vortrag begann mit folgenden Worten: «Am heutigen Abend soll nicht etwa eine Fortsetzung der Vorträge gegeben werden, die hier in diesem Zweige als eine Art Unterbau zu einer späteren Betrachtung des Markus-Evangeliums gegeben worden sind. In eine Betrachtung des Markus-Evangeliums jetzt ein­zutreten, würde zu sehr herausfallen aus den Betrachtungen der letzten Abende, würde sich jetzt auch sehr schwer bewerkstelligen lassen. Daher werden wir heute eine Episode einfügen, was uns aber in bezug auf mancherlei von dem, was wir in den letzten Tagen und auch im Herbst gehört haben, wichtig sein kann.» - Bei den genannten Vorträgen handelt es sich um den Zyklus «Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums», Bibl.-Nr. 124, Gesamtausgabe 1963.

198 f. ein sehr einfaches Märchen: Rudolf Steiner hält sich in großen Zügen an die

Fassung, die Ludwig Laistner dem Märchen vom gestiefelten Kater in seinem

Werk «Die Rätsel der Sphinx. Grundzüge einer Mythengeschichte«, Berlin

1889, Bd. 1,S. 26 f., gegeben hat.

202 Vortrai·gen über Pneumatosophie: «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumato-sophie», Bibl.-Nr. 115, Gesamtausgabe 1965.

in den letzten Stunden: Siehe vorigen Hinweis.

210 Wilhelm Jordan, 1819-1904. «Nibelunge«, Erstes Lied, Sigfridsage, 10. Gesang

213 als eine Art Programm: In der Ausgabe von 1925 findet sich an dieser Stelle folgende Fußnote: In die Sprache der Geisteswissenschaft umgesetzt könnte man sagen: Jordan wollte instinktiv in der Bewußtseinsseele dichterisch auf­leben lassen, was die Empfindungsseele dereinst als ihre naturgemäße Form ent­wickelt hat.

Generalversammlung: 10. Dezember; die Besprechungen 12., 14., 15. Dezember. 228 im Dornbusch: Siehe Hinweis zu S. 177.

es führte Jahve den Moses auf den Berg Nebo: 5. Mos. 32, 48-52.

236 bei einer anderen Gelegenheit: Siehe den Vortrag «Das Traumlied des Olaf Ästeson», Hannover, 1. Januar 1912, in «Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt», Bibl.-Nr. 158, Gesamtausgabe 1968. 240 was der Christus Jesus sagt: Siehe Hinweis zu S. 96.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.