GA 125

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Wege und Ziele des geistigen Menschen

Lebensfragen
im Lichte der Geisteswissenschaft

Vierzehn Vorträge
gehalten zwischen dem 23. Januar und 27. Dezember 1910
in verschiedenen Orten

GA 125

1973

Inhaltsverzeichnis

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NOVALIS UND DIE GEISTESWISSENSCHAFT Straßburg, 23. Januar 1910 zur Einweihung des Novalis-Zweiges

Es war durch die Verhältnisse geboten, daß eine Anzahl unserer Freunde hier in Straßburg neben dem bereits bestehenden Zweige einen zweiten begründeten, welcher den bedeutsamen Namen «Novalis-Zweig» tra­gen soll. Es haben unsere Freunde aus anderen Orten, die sich in liebevoller Weise heute in Straßburg eingefunden haben, durch ihren Be­such bezeugt, wie sie dafür Verständnis haben, daß in einer Stadt auch Zweige nebeneinander bestehen können, und daß die Mannigfaltigkeit des Arbeitens auf verschiedenen Feldern nicht auszuschließen braucht dasjenige, was wir die Harmonie und Eintracht nennen müssen, die zu herrschen hat unter all denjenigen, welche sich als Glieder unserer über den Erdkreis verbreiteten Gesellschaft betrachten. Und so soll denn auch dieser Zweig der großen Strömung eingefügt sein, die wir als die geisteswissenschaftliche bezeichnen.

Sie haben, meine lieben Freunde vom Novalis-Zweig, einen bedeut­samen Namen gewählt, um eine Signatur, ein Zeichen für Ihre Arbeiten zu haben. Der Name Novalis gehört einer Persönlichkeit an, welche zuletzt, also in ihrer letzten Inkamation, gewirkt hat erst im 18. Jahr­hundert; einer Persönlichkeit, deren ganzes Wesen durchströmt, durch­geistigt ist von dem, was wir als geisterkennenden Sinn, als Spiritualität betrachten. Und Sie haben damit von vorneherein gezeigt, daß Ihnen Geisteswissenschaft etwas unmittelbar Lebendiges sein soll, das Sie überall da suchen, wo es gefunden werden kann, nicht bloß in dieser oder jener Zeit, sondern wie es lebt durch alle Zeiten hindurch, und wie es sich durch die eine oder durch die andere Persönlichkeit auf vielerlei Arten in die Welt ausgießen kann. Gerade an Novalis können wir er­sehen, wie Streben nach Geist-Erkenntnis dasjenige ist, was unser ge­wöhnliches alltägliches Leben durchdringen und durchweben kann. Freilich, wollten wir hinweisen auf die Quellen des theosophischen Geistes bei Novalis, dann müßten wir hineinleuchten in frühere Inkarnationen dieses hehren Geistes, und aus diesen früheren Inkarnationen

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würde uns klar werden, wie sich herübergelebt hat aus früheren Verkörperungen in die des Novalis dasjenige, was nur im tiefsten Sinne theosophisches Geistesleben sein kann. Aber auch, wenn wir bloß jenen Novalis, der kaum dreißig Jahre alt geworden ist und der am Ende des 18. Jahrhunderts gelebt hat, wenn wir nur jene eine Inkarnation be­trachten, dann schon kann uns an ihm klar werden, wie Geist-Erkennt­nis nicht etwas ist, was den Menschen hinaufbringt in eine träumerische, phantastische Welt, was ihn abzieht und entfernt von der unmittel­baren Wirklichkeit, sondern in der mannigfaltigsten Weise können wir gerade bei Novalis sehen, wie Wirklichkeitsgeist, wie das reale Leben seinen Wert und wahren Inhalt dadurch erhält, daß man es mit Gei­steswissenschaft durchdringt.

Novalis stammt aus einem mitteldeutschen Adelsgeschlecht, in dem zwar eine gewisse, ich möchte sagen, materialistische Frömmigkeit - denn auch eine solche gibt es - vorhanden war, aber nicht eigentlich dasjenige, was man bezeichnen kann als Sehnsucht des Herzens nach wirklichem, lebendigem Geiste. Um nun das Karma des Novalis in der richtigen Weise zu erfüllen, geschah es, daß der Vater des Novalis, der alte Hardenberg, noch in seinem späteren Alter - wenn er auch nicht von spirituellem Leben durchdrungen wurde, doch aber dadurch, daß er in die Herrnhuter Sekte, eine pietistische Sekte, hineinkam - nach einer gewissen Seite hin mit frommen Regungen durchsetzt wurde. Und aus diesem mitteldeutschen Adelsmilieu - wie gesagt, das immerhin soviel vom Geiste hatte, daß selbst der alte Hardenberg im späteren Le­ben, wenn auch sektiererisch, zu einer gewissen Frömmigkeit im Geisti­gen kommen konnte -, aus dem wuchs unser Novalis heraus. Er wuchs hinein - nicht in das, was ihm beschert war nach dem Willen seiner Familie, denn das wäre irgendeine militärische oder diplomatische Stellung gewesen -, er wuchs hinein in eine große Zeit; in jene Zeit, in wel­cher auf dem Lehrstuhle der mitteldeutschen Universität Thüringens große, gewaltige Geister gewirkt haben.

So konnte er noch in jener Zeit in Jena Schiller Geschichte vortra­gen hören. Mögen die Geschichtslehrer der heutigen Zeit sagen: Schiller stand als Historiker nicht auf gelehrter Höhe. - Dasjenige, was Geschichte im Leben sein soll, ein Durchströmen der ganzen menschlichen

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Entwickelung mit geistigem Leben, das war es, was von Schiller in die­jenigen Seelen hineinkam, welche ihn in Jena als Geschichtslehrer hö­ren konnten. Eine große Persönlichkeit vor allem sprach aus Schiller. Aus dieser Persönlichkeit sprach Geist, sie weckte den Geist.

Und noch ein anderer Lehrer war da, als Novalis jung war, ein Lehrer, der nicht nur durch die große Energie seines Geistes Lebens­dinge auf philosophischem Gebiete schuf, die dem ganzen Menschen­geschlecht angehören, aber heute noch wenig verstanden werden. Fichte wirkte damals, als Novalis sich hineinlebte in das Leben. Er wirkte so, daß sein ganzes Gebaren, das Gebaren des Fichte, etwas Geistiges hatte. Män kann das als Äußerlichkeit betrachten. Wer einen Sinn da­für hat, wird es nicht äußerlich betrachten, daß Fichte, wenn er des Abends im dunklen Saale Vorlesung hielt und auf seinem Pulte die Kerze brannte, erst die Kerze auslöschte, indem er sagte: So, meine Herren Hörer, jetzt ist das physische Licht ausgelöscht, jetzt soll nur das Geisteslicht in diesem Raume leuchten.

Im rechten Moment die Beziehung des Geistigen zum Physischen nicht nur vor die Seele, sondern auch vor die Augen hingezaubert, das bedeutet für so empfängliche Seelen wie Novalis etwas Ungeheures. Eine solche Seele kann dadurch fähig werden, einen durch nichts zu er­schütternden Glauben an das Geistesleben zu erhalten. Es durchströmt die Seele mit einer edlen Empfindung, die dann für das Leben bleibt, wenn gerade ein Novalis in eine solche Umgebung hineinkommt. Nicht kann man sagen, daß Novalis schwärmerisch veranlagt war. Diejeni­gen, die glauben, er sei ein Schwärmer gewesen, verstehen Novalis nicht. Nein, derjenige Geist, der in Novalis lebte, sagte - man kann es heute in seinen nachgelassenen Schriften lesen -: Anders ist der Schlafzustand des Menschen, anders der Wachzustand. Wenn der Mensch wach ist, dann sind in ihm vereinigt die innere Seele - so nannte man im damaligen Sprachgebrauch das, was man heute Astralleib nen­nen würde - mit dem äußeren Leib. Der Leib genießt die Seele. - Ein schönes Wort, das Novalis gebrauchte, um die Beziehung zwischen physischem und Astralleib auszudrücken. Und gelockert ist die Seele vom Leibe im Schlaf - so sagte Novalis -, und der Leib verdaut die Seele, wenn der Mensch schläft. Das ist wiederum ein schöner, kurzer,

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prägnanter Ausdruck für ein Verhältnis, das uns auch entgegentritt in der Geisteswissenschaft. Schön ist es, wenn Novalis einmal den Ausspruch in seine Notizen hineinschreibt: Wir sind immer umgeben von einer geistigen Welt. Überall, wo wir sind, sind geistige Wesen um uns. Es kommt nur auf den Menschen an, sein Selbst so hinauszuver­legen, daß er ein Bewußtsein erhält von den geistigen Wesenheiten, die uns überall umgeben, wo wir sind. - Wieder ist schön bei ihm, wie er tiefes Verständnis für den Gang der esoterischen menschlichen Ent­wickelung zeigt und schreibt: In den alten Zeiten versuchte man durch Abtötung des Leibes, durch Kasteiung und so weiter die Seele hin-aufzuführen in eine höhere Entwickelung. In neuerer Zeit muß an deren Stelle die Stärkung der Seele treten: Energie der Seele. Die Seele muß durch Stärkung Macht gewinnen über den Körper, darf nicht dadurch schwächer werden, und muß dann eine gewisse Herr­schaft ausüben.

So könnten wir über Novalis stundenlang fortreden. Wir würden zwar nicht einen Geist finden, der sich in Worten und in Lehren aus­drückt, wie wir sie heute in der Geisteswissenschaft geben können, aber einen Geist, der mit seinen Worten genau dieselbe Sache ausdrückt. Er war kein Schwärmer, kein Phantast. Trotzdem seine lyrische Poesie den höchsten Schwung nahm, den wir uns denken können, und uns hinauf in höchste Empfindungswärme führt, war Novalis - und das gilt für ihn, der nicht dreißig Jahre alt geworden ist - ein praktischer Geist, der auf der Bergakademie studiert hat, durch und durch Mathe­matiker, der Mathematik empfunden hat als ein großes Gedicht, nach dessen Linien die göttliche Geistigkeit die Welt gedichtet hat, der sich aber praktisch erwiesen hat für alles, was ein Bergingenieur braucht. Novalis war ein Geist, der trotz dieser Praxis für sein Gefühlsleben, für sein Herz umzusetzen wußte unmittelbar ins Leben das, was bei ihm theosophische Gesinnung war. Wahrhaftig, was wir kennen als seine Beziehungen zu Sophie von Kühn, das darf nicht als etwas auf­gefaßt werden, was mit Sinnlichkeit zusammenhängt. Er liebte ein Mädchen, das mit vierzehn Jahren starb. Er fing eigentlich erst an, sie so recht glühend zu lieben, als sie bereits tot war. Er fühlte, er lebt jetzt in dem Reich mit, in welchem sie seit ihrem Tode ist. Er beschloß, ihr nachzusterben.

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Sein ferneres Leben war ein Mitleben mit einer physisch toten Persönlichkeit. Das alles zeigt uns, in was Novalis hineinge-wachsen ist durch den starken Zug seines spirituellen Wesens.

Wir können an Novalis sehen, wie man als Mensch im Grunde ge­nommen nur eine Eigenschaft zu haben braucht, um für diese Geistig­keit, die uns die Geisteswissenschaft bringen soll, Sinn zu haben. Eine Eigenschaft braucht man nur, und diese eine Eigenschaft wird dem Menschen so schwer. Weil sie dem Menschen so schwer wird, deshalb kommen die Leute nicht leicht zur Geisteswissenschaft. Wenn diese eine Eigenschaft genannt wird, dann kommt es den Menschen vor, wie wenn alle sie hätten. Dennoch ist es diese Eigenschaft, deren Fehlen die Menschen nicht zur Geisteswissenschaft kommen läßt: Wahrhaftigkeit, im tiefsten Seelengrunde ehrliches Gestehen dessen, was wirklich ist. Scheinbar haben sie so viele Menschen - nach ihrer eigenen Meinung. Dennoch, gerade Novalis gibt uns ein Beispiel, wie nur ein Moment der wirklichen Ehrlichkeit da zu sein braucht, und wie ein Mensch durch diesen einen Moment der Ehrlichkeit sich gestehen müßte, was die Gei­stigkeit der Welt dem Menschenherzen sein kann. Des Novalis Vater hatte einen gewissen Zug zur Geistigkeit; sonst hätte er sich nicht der Sekte der Herrnhuter angeschlossen. Aber so frei und ehrlich war seine Seele nicht, wie dies hier gemeint ist. Daran hinderte ihn das, was in seiner Seele aus der äußeren physischen Welt heraus lebte. Die physische Welt mit allen ihren Vorurteilen ließ ihn nicht in die geistige Welt hin-aufkommen. Aber sein Sohn hatte diese Wahrhaftigkeit. Was war selbstverständlicher, als daß der Vater gar keine Ahnung haben konnte von dem, was in diesem Sohn lebte? Die physische Welt mit ihrem Trennenden, Disharmonischen, ihrem Unwahrhaftigen, das hier eine Scheidewand aufgerichtet hat zwischen dem, was der junge Novalis wirklich war, und dem, was der alte Hardenberg sein wollte, was er aber wegen fehlender wirklicher innerer Wahrhaftigkeit nicht sein konnte, die physische Welt mit all dem, was sie aus dem Menschen macht, ließ ihn, solange Novalis lebte, nicht dazu kommen, seines Sohnes Bedeutung einzusehen. Einige Wochen war der Sohn tot, da war der alte Hardenherg in seiner Herrnhuter Gemeinde. Man sang in der Gemeinde ein Lied: «Was wär' ich ohne dich gewesen, was würd'

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ich ohne dich nicht sein.» Und dieses Lied, das gesungen wurde - der alte Hardenberg hatte es noch nicht gehört, aber es entzündete sich in diesem Augenblicke alles, was er an Geist in seiner Seele hatte. Hin­gegeben war er dem großen Eindruck dessen, was aus diesem Liede ausströmt, erfüllt war in diesem Augenblicke seine ehrlich gewordene Seele von dem Weltengeist, von dem spirituellen Leben. Und als die Versammlung zu Ende war, fragte der alte Hardenberg jemanden, von wem dieses Lied sei, das ihn so tief ergriffen hatte. Da sagte man ihm:

Das ist ja von Ihrem Sohn. - Es war erst notwendig, daß für einen Augenblick alles vergessen werden konnte, was der physische Plan brachte, und da lebten in ihm einen Augenblick, ohne zu wissen von dem, der es hingebracht hatte, die reine Wahrhaftigkeit, die reine Ob­jektivitat, nicht die Vorurteile des physischen Planes. So würde Geist den Geist finden, wenn wir, ohne das, was die Hemmnisse des phy­sischen Planes sind, Seele der Seele gegenüberstehen würden. In dem Augenblick, in dem der Mensch rein der Wahrheit hingegeben die Seele des anderen und die Seele der Welt finden kann, in jedem solchen Augenblicke muß er durchdrungen sein von dem, was man theoso­phische Spiritualität nennen könnte.

Das was man theosophische Spiritualität nennen kann, liegt nicht bloß in irgendeiner Theorie, in irgendeiner Lehre, obwohl wir niemals vergessen dürfen, daß für uns Menschen, die wir zum Denken geboren sind, eine Lehre unerläßlich ist, es liegt aber der Wesenskern des Theo­sophischen nicht in der Lehre. Derjenige, der etwa betonen wollte, daß die Lehre überflüssig sei, und daß es nur darauf ankomme, dasjenige zu pflegen, was man allgemeine Bruderliebe nennt, dem muß immer wieder und wieder eingeschärft werden, daß durch das Predigen der allgemeinen Bruderliebe nirgends in der Welt diese allgemeine Bruder-liebe erreicht werden kann. Wenn wir nur von Liebe predigen, dann ist das für den Kenner des Lebens ebenso, als ob wir einem Ofen sagen:

Lieber Ofen, es ziemt sich für dich, für deine Ofenliebe, das Zimmer warm zu machen. - Aber das Zimmer bleibt kalt, und wenn wir noch so oft von Liebe predigen. Wenn wir ihm aber Heizmaterial, Holz und Feuer geben, dann verwandelt sich Holz und Feuer in ihm in Wärme, und er macht das Zimmer warm. Das Brennmaterial für die Menschenseele

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sind die großen Ideale, die großen Gedanken, welche wir aufneh­men können, durch die wir den Zusammenhang der Welt anerkennen, durch die wir die Geheimnisse von Menschenschicksal und Menschen­leben lernen können. Sie sind nicht solche Gedanken, die uns nur theo­retisch erfüllen, sondern solche, die uns innerlich warm machen, und das Ergebnis der theosophischen Weisheit ist die Liebe. Und ebenso gewiß, wie der Ofen das Zimmer durch Heizung und nicht durch Predigen warm macht, ebenso gewiß wird die richtige Lehre von den großen Gedanken, welche die Welt durchwirken, die Seele liebend machen. Denn das ist das Geheimnis der wirklichen Weisheit, daß sie sich in der Seele durch ihre eigene Kraft in Liebe umwandelt. Wer den Weg von Weisheit zur Liebe noch nicht gefunden hat, zeigt nur, daß er noch nicht weit genug in der Weisheit gekommen ist. Wer aber glauben wollte, daß die Gedanken, die wir aufnehmen über die Evolution der Welt, die Evolution der Menschen, über Karma und so weiter für den Menschen unbeträchtlich seien, sollte sich immer wieder und wie­derum in seiner Seele klarmachen, daß das nicht bloß menschliche Ge­danken sind, daß es nicht bloß Gedanken sind, die wir zuerst denken, sondern daß diese Gedanken, welche in unsere Seele dringen, es sind, nach denen die göttlichen Geister die Welt erbaut haben.

Nicht unsere Gedanken treten uns in der Geisteswissenschaft vor das geistige Auge, sondern die Gedanken der göttlichen Baumeister, der göttlichen Geister der Welt. Was die Götter der Welt vor der Erschaf­fung der physischen Welt bei sich gedacht haben, das denken wir in der Geisteswissenschaft nach und erforschen so dasjenige, was aus den göttlichen Wesen hineingeflossen ist in das Wirken und Werden der Welt, der wir angehören. Dasjenige aber, was die Götter gedacht ha­ben, ist geistiges Licht. Und wer nicht denken will, was die Götter ge­dacht haben, gibt damit, wenn er es auch nicht weiß, sich selber nicht die Richtung nach dem Licht, sondern nach der Finsternis. Die einzig mögliche Grundlegung für eine wirkliche Entwickelung der mensch­lichen Seele ist diejenige, in der wir von dem ausgehen, was die gött­lichen Gedanken der Welt sind. Uns sind von den Geistern der Welt die Fähigkeiten nicht dazu gegeben worden als Anlagen, daß wir sie brach liegen lassen. Sie sind uns dazu gegeben worden, daß wir sie entwickeln.

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Und da in diesem Entwickelungszyklus der Menschheit das Denken unsere wichtigste, hervorragendste Fähigkeit ist, müssen wir vom Denken ausgehen. Aber wir dürfen nicht beim Denken stehen­bleiben. Das aber führt uns allmählich dazu, Geisteswissenschaft in Gesinnung umzusetzen, daß wir die Geheimnisse verstehen lernen, wie Erkenntnis zu Charaktereigenschaften, zu Gemütseigenschaften führt. Richtig verstandene Erkenntnis führt zu Charakter-, zu wirklichen Gemütseigenschaften.

Wir können uns das an einem einzelnen Beispiel klarmachen, kön­nen es uns daran klarmachen, daß wir Menschen aufeinanderfolgende, immer neue Verkörperungen, Inkarnationen durchmachen. Wozu wä­ren diese Inkarnationen, diese wiederholten Erdenleben, wenn sie nicht dazu da wären, den Menschen nach und nach immer vollkommener und vollkommener zu machen? Wir müssen von unserer gegenwärti­gen Inkarnation zurückblicken zu früheren Inkarnationen und müssen uns sagen: Was wir gegenwärtig geworden sind, sind wir dadurch ge­worden, daß eine Inkarnation hindurch nach der anderen immer wie­derum diese oder jene Eigenschaften unserer Seele eingefügt worden sind, daß unsere Seele immer von neuem und immer von neuem Kräfte aufgenommen hat, Erlebnisse gehabt hat, Erfahrungen gehabt hat. Was in einer Inkarnation dieser Seele eingebaut wird, das kommt dann in der folgenden Inkarnation heraus.

Wir sind jetzt so geworden, wie wir in den vorhergehenden In­karnationen zubereitet worden sind. Aber dann können wir einen Augenblick stehenbleiben und sagen: Wir blicken nicht nur zurück in die Vergangenheit, sondern wir blicken auch hinauf in die Zukunft, zu späteren, vollkommeneren Lebensläufen. Was wäre dieses mensch­liche Leben durch diese vielen Verkörperungen hindurch, wenn wir uns nicht sagen könnten: Je weiter wir uns in die Zukunft hinein ent­wickeln, desto höhere Stufen wird das erreicht haben, was heute als unser Ich in uns selber sitzt.

Was wir noch werden können, vermögen wir nur zu ahnen, denn sonst wären wir es schon. Fähigkeiten, immer höher zu steigen, müs­sen wir uns zuschreiben. - So müssen wir aber scheu und ehrfürchtig in die Zukunft blicken; müssen uns sagen, wenn wir auch heute schon

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dieses oder jenes erkennen können, in der Lage sind, schon heute, dieses oder jenes zu erleben in der Welt: Mit den größeren Fähigkeiten, die wir erlangen können, werden wir noch vieles andere erleben und er­kennen können.

Wie unmöglich ist es demjenigen, der einen solchen Gedanken, wie er jetzt ausgesprochen worden ist, in seine Seele schreibt, wie unmög­lich ist es ihm, sich zu sagen: Ich kann heute darüber entscheiden, was wahr oder falsch ist, ich kann letztlich richten über das Wahre oder Falsche. - Einzig und allein geziemt es ihm zu sagen: Wenn ich heute schon entscheiden könnte, dann wäre es unmöglich, daß noch höhere Fähigkeiten in Zukunft in mir auftreten könnten. - Das aber in Gesin­nung umgesetzt, gibt uns in jedem Augenblick unserer Entwickelung die große Bescheidenheit, die wahre, würdevolle Demut, die wir brau­chen, um wahrhaft Mensch zu sein. So wandelt sich die Erkenntnis von Reinkarnation um in eine Empfindung, eine Charaktereigenschaft: in würdevolle Demut, in wahre Bescheidenheit.

Man könnte es so ausdrücken: Wer heute erkennt, daß er durch folgende Inkarnationen durchgeht und immer höhersteigt in seiner Ent­wickelung, der müßte ein Tor sein, wenn er sich sagte, er sei vollkom­men; oder sich sagte: Es ist nicht nötig, daß ich heute lerne, denn ich werde es morgen noch ganz anders erleben. - Es verwandelt sich Er­kenntnis in wirkliche Charaktereigenschaft. Und richtig betrachtet, verwandelt sich jede geisteswissenschaftliche Erkenntnis in eine Cha­raktereigenschaft. Wir können aber doch einsehen: Sollten wir aüf irgendeiner Stufe unseres Daseins unsere Kräfte nicht anwenden kön­nen, dann würden uns diese Kräfte aus geistigen Welten heraus nicht gegeben worden sein. Sollten wir warten wollen, bis die Welt auf ihrer Vollendungsstufe angekommen ist, in der Meinung, erst müßten wir so vollkommen sein, daß wir abschließend erkennen und erleben kön­nen, dann würden nicht verschiedene Inkarnationen von uns zu durch­laufen sein. Das heißt, wir müssen uns klar sein, daß wir in jeder Inkar­nation unsere Erkenntniskräfte anzuwenden haben. Wir dürfen nicht sagen: Erkennen wollen wir erst in der folgenden Inkarnation, oder am Ende unseres Daseins. - Die Kraft, die wir haben, sollten wir trotz der Demut und Bescheidenheit anwenden.

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So stellt sich neben die Demut und Bescheidenheit ein berechtigtes menschliches Selbstgefühl hin, das direkt aus unserem Durchdrungen-sein mit dem Göttlich-Geistigen fließt und das uns sagt: Zwar wird unsere Erkenntnis erst vollkommen sein, wenn wir eine hohe Stufe er­reicht haben, aber gerade dadurch können wir sie vollkommen machen, daß wir schon heute unserer Menschenwürde uns bewußt werden und schon heute unsere Kraft anwenden. - So wird unser Charakter etwas bekommen, was man mit einer Waage vergleichen kann. Wir können auf die Waagschale legen auf der einen Seite Demut, Bescheidenheit, auf der anderen Seite berechtigtes Selbstgefühl, Kühnheit im Urteilen, und können sagen: Eine Stufe in der Erkenntnis, im Selbstbewußtsein haben wir erlangt. - Kurz, wir werden finden, daß immer, wenn Sie es nur versuchen in Ihre Gefühle einzuführen, was Geisteswissenschaft lehrt, die Lehren oder Theorien der Geisteswissenschaft sich in unserer Seele umwandeln, weil sie Gedanken der göttlichen Geister enthalten, sich umwandeln in unserer Seele in unseren Charakter, unser Wollen, unser Fühlen. Das kann uns zeigen, daß in der Geisteswissenschaft die Lehre, die Theorie zwar nicht die Hauptsache ist, daß sie aber sozu­sagen für die Entwickelung der menschlichen Seele das Brennholz ist; daß sie dasjenige ist, was höhere Eigenschaften gerade in unserer Seele hervorbringen soll. Und wer diese Eigenschaften ohne Erkenntnis ver­langt, lebt in der schlimmsten der Täuschungen, in der Selbsttäuschung, jener Selbsttäuschung, welche in die menschliche Evolution dadurch hineingekommen ist, daß im Laufe der Erdenentwickelung auch andere Wesen hineingekommen sind, mitgewirkt haben an unserer Evolution. Wesenheiten, die nicht etwa bloß schädlich waren, sondern auch nütz­lich. Aber so nützlich sie uns auch waren, indem sie uns Freiheit und Selbstgefühl gebracht haben, so müssen wir uns doch klar sein, daß gerade diese Gaben der sogenannten luziferischen Wesenheiten: Frei­heit und Selbstgefühl, nicht ins Extreme, ins Radikale ausarten dürfen, denn dann werden sie zu Stolz und Hochmut. Und Stolz und Hochmut gegenüber der Erkenntnis führen diese Erkenntnis in die Finsternis hinein. Erkenntnis ist Entgegennahme des göttlichen Lichtes, der gött­lichen Gedanken. Ablehnung der Erkenntnis ist etwas, was in die Fin­sternis führt, und was auch nicht zu höheren Eigenschaften der Seele

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führen kann. Wenn wir so Geisteswissenschaft betrachten, dann wer­den wir sie erkennen als eine der wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit. Wir werden sie erkennen als etwas, was wir nicht bloß um unserer selbst willen treiben, sondern weil wir uns unserer Pflicht für die Menschheit und für die Entwickelung bewußt sind.

Wir leben heute in keiner ganz unwichtigen Zeit; wir leben in einer wichtigen Zeit. Es wird zwar oftmals gesagt von den Leuten, die in dieser oder jener Zeit leben, daß sie in einer Übergangszeit leben. Alle Zeiten der menschlichen Entwickelung sind schon Übergangszeiten ge­nannt worden, aber nicht alle sind solche bedeutsamen Übergangszei­ten. Von unserer heutigen Zeit aber kann man in Wahrheit sagen, sie ist eine Übergangszeit. Inwiefern ist das der Fall? Da machen wir uns den Charakter einer anderen Übergangszeit klar. Eine Übergangszeit war es zum Beispiel für die menschliche Entwickelung damals, als der Vorgänger unseres Christus Jesus, der Täufer Johannes, aufgetre­ten ist. Als der Täufer Johannes aufgetreten ist, sagte er den Leuten, was dann in bedeutungsvollen Worten von dem Christus Jesus später wiederholt worden ist: «Ändert eure Gesinnung, die Reiche der Him­mel sind nahe.»

Was bedeutet das? Wir verstehen, was das heißt, wenn wir uns er­innern, daß die Menschen, indem sie sich von Verkörperung zu Ver­körperung entwickelt haben, verschiedene Eigenschaften ihrer Seele durchgemacht haben. In alten Zeiten unserer Vergangenheit haben die Menschen noch nicht die Eigenschaften und Seelenfähigkeiten ge-habt, die sie heute haben. Es war für alle Menschen in alten Zeiten möglich, dumpfes, dämmerhaftes, traumhaftes Hellsehen zu entwik­keln, hineinzuschauen in die geistige Welt. Es gab für alle Menschen die Möglichkeit, nicht nur das Physische zu sehen, sondern hineinzuschauen in die geistige Welt. Aber die Menschen hatten - in jener Zeit, als dieses Hellsehen allgemein war - noch nicht etwas, was sie heute haben: das klar entwickelte Selbstbewußtsein. Die Menschen konnten damals noch nicht zu sich in klarer Weise «Ich bin» sagen. Das Feststehen im Zen­trum des Inneren konnte nur dadurch errungen werden, daß für eine Weile das alte Hellsehen verschwand. Die Menschen mußten gleich­sam das Abgeschlossensein von der geistigen Welt in Kauf nehmen, um

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hier auf dem physischen Plan ein deutliches Selbstbewußtsein zu ent­wickeln. Später wird sich wiederum dieses Hellsehen zusammen mit dem Selbstbewußtsein entwickeln, so daß die beiden Eigenschaften zu­sammen wieder auftreten und die Menschen sie wieder haben werden. Wir können also zurückblicken in eine Zeit ferner Vergangenheit. Da war es für die Menschen wenigstens für gewisse Zeiten so, wenn sie un­aufmerksam waren auf das Physische, wenn sie die Augen schlossen und vom Physischen abwandten, und die Ohren unaufmerksam ließen für die Töne, daß sie dann in die geistige Welt hineinsahen und eine un­mittelbare Überzeugung von dem Dasein der geistigen Welt gewinnen konnten. Diese Eigenschaften schwanden, dafür aber kam immer mehr die Fähigkeit des Denkens, die Fähigkeit des Selbstbewußtseins, des Schlüsseziehens, des selbständigen Urteilens, das was unser heutiges Tagesbewußtsein ausmacht. Der Zeitpunkt kann ungefähr angegeben werden, wann es nach und nach eintrat, daß die alten hellseherischen Fähigkeiten vollständig aus den Menschheitsfähigkeiten verschwan­den. Vor dem Jahre 3101 ungefähr waren auf unserem Erdenrund fast noch alle Menschen mit dämmerhaftem Hellsehen begabt. Dann, von diesem Jahre an, nahm es immer mehr und mehr ab, wurde immer schwächer. Damit aber wuchs das Ich-Bewußtsein, das Selbstbewußt­sein, das Urteilen, das Schließen, das selbstbewußte Denken heran. Es wurde also gleichsam das Licht der Geistigkeit dunkel, und dasjenige, was des Menschen Ich ist, das dämmert auf, das wurde heller und im­mer heller. Im Inneren wurde es heller, aber in der Geistigkeit wurde es dunkler. In diesem Jahre beginnt das, was die orientalische Philoso­phie das Kali Yuga nennt, das dunkle, schwarze Zeitalter. Da war etwas, was sozusagen zu einer Krisis, zu einer Entscheidung gekommen war in der Zeit, da als Vorläufer der Täufer Johannes und dann der Christus Jesus auftraten. Diese mußten der Menschheit sagen: Ihr müßt jetzt lernen, daß Geistigkeit vorhanden ist, trotzdem ihr mit keinem geistigen Auge die Geistigkeit seht. Ihr müßt lernen, daß die Reiche der Himmel da sind. Ihr müßt es begreifen aus eurem Ich her­aus. - Daher mußte der Christus sich in einen physischen Leib hinein verkörpern, denn nur auf dem physischen Plan konnte das Selbstbe­wußtsein während des Kali Yuga die Geistigkeit wahrnehmen.

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Damals war eine Übergangszeit. Die alten Fähigkeiten waren dahin­geschwunden. Hätten die Menschen dazumal den Ruf des Täufers, des Christus Jesus nicht gehört, dann wären sie auf dieser Stufe in Verfall geraten, nicht weitergekommen. Diejenigen, die diese Stimmen gehört haben, mußten den Gott erkennen, der bis ins Physisch-Fleischliche hineinstieg. Sie haben begriffen, daß die Reiche des Himmels bis ans Ich nahegekommen sind.

Christus war drei Jahre in dem physischen Leibe des Jesus von Na­zareth auf der Erde. Das war die Zeit, in der die Menschen nur mit dem physischen Auge sehen konnten, wenn ein Gott zu ihnen herunter-stieg.

Wir leben heute wiederum in einem Übergangszeitalter, in einer Krisis. Ungefähr im Jahre 1899 ist das Kali Yuga abgelaufen gewesen. Lind jetzt entwickeln sich in den Menschen, trotzdem die Menschen es nicht wissen, neue Eigenschaften. Auf natürliche Weise entwickeln sich neue Eigenschaften in der menschlichen Seele. Es ist kein Beweis für das Gegenteil, daß so viele Menschen nichts davon wissen. Hundert Jahre nach Christus schrieb noch Tacitus von einer unbekannten Sekte der Christianer; und in Rom erzählte man, nachdem der Christus Jesus siebzig bis achtzig Jahre vorher das Mysterium von Golgatha voll­bracht hatte, noch von einer Sekte, die in einer Nebengasse hausen sollte und von einem gewissen Jesus geleitet würde. Es waren aber vor unzähligen Menschen die wichtigsten Ereignisse vorübergegangen. Wenn die Menschen etwas nicht wahrnehmen, ist das kein Beweis dafür, daß dieses Wichtigste, Maßgebendste und Unvergleichlichste nicht da ist. Seit 1899 ungefähr entwickeln sich unbemerkt in den Men­schen Fähigkeiten, welche in der Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, etwa 1933 bis 1937 herauskommen werden. Dann wer­den bei einer ganzen Reihe von Menschen, weil die Zeit herbeigekom­men ist, diese Seelenfähigkeiten auftreten; es werden Fähigkeiten von ätherischem Hellsehen aufkommen. Die werden da sein. Geradeso wie es Menschen mit auf die höchste Spitze getriebenem Ich-Bewußtsein gab, als der Christus Jesus da war, so wird es in unserem Jahrhundert Menschen geben, die nicht nur mit physischem Auge sehen werden, sondern die als natürliche Entwickelung erleben, was aus geistigen

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Stufen hinunterstrebt, so daß aus ihrer Seele geistig-seelische Fähig­keiten hervortreten, daß sie in das ätherische Dasein hineintreten. Und das Glück dieser Menschen wird sein, die neue Welt zu verstehen, die sie sehen werden. Eines ist wahr und als wahr für unsere Seele wichtig, daß der Christus Jesus gesagt hat: «Ich bin bei euch bis ans Ende un­seres Erdenzyklus.» Er ist da. Er ist seit jener Zeit innerhalb unseres Erdenumkreises. Und wenn die geistigen Augen geöffnet sein werden, werden sie ihn sehen, wie Paulus bei dem Ereignis vor Damaskus ihn gesehen hat. Das ist es, was eintreten wird ungefähr 1933, daß er ge­sehen werden wird als eine ätherische Wesenheit, als eine Wesenheit, die zwar nicht heruntersteigt bis zum physischen Dasein, aber im Ätherleibe gesehen werden kann, weil eine gewisse Anzahl Menschen dann hinaufsteigen wird zum Äthersehen. Aber unwissend werden die Menschen sein, wenn sie nicht durch die Geisteswissenschaft vorberei­tet sind für das, was sie sehen werden. Deshalb leben wir in einer Über­gangszeit, weil wir hineinwachsen in ein neues Sehen.

Die Geisteswissenschaft hat die verantwortungsvolle Aufgabe, die Menschen auf den großen Moment vorzubereiten, wo der Christus zwar nicht im fleischlichen Leibe erscheinen wird - denn nur einmal war er im fleischlichen Leibe -, aber da ist er, und in der Form wird er wie­derkommen, daß diejenigen, deren Augen geöffnet sein werden, ihn sehen werden in der Welt, die nur den hellsichtigen Augen sichtbar ist. Die Menschen werden zu ihm hinaufwachsen. Das wird das Wieder­kommen des Christus sein: ein Hinaufwachsen von Menschen in die Sphäre, in welcher der Christus ist. Aber unverständig würden sie da­stehen, wenn sie nicht durch die Geisteswissenschaft auf diesen großen Moment vorbereitet würden. Diese Vorbereitung muß eine ernste sein, denn sie ist verantwortungsvoll. Die Menschheit ist darauf vorzube­reiten, daß mehr gesehen werden wird, als was bisher gesehen worden ist, wenn die Menschen diese Fähigkeit nicht in die Finsternis hinein­führen und zum Verdorren bringen. Denn so könnte es auch geschehen, daß das ganze 20. Jahrhundert vorbeigehen würde, ohne die Erfüllung dieses Zieles zu bringen. Die verantwortungsvolle Aufgabe haben wir, daß wir durch die Geisteswissenschaft die Menschen auf den großen Moment vorbereiten. Aber wir haben die Menschen spirituell vorzubereiten,

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ihnen begreiflich zu machen, daß nur der Geist dem Christus begegnen wird mit dem geöffneten geistigen Auge. Ein materialistischer Sinn könnte glauben, daß der Christus wiederum in einem fleischlichen Leibe erscheinen würde. Das würde aber nicht spiritualistisch sein, sondern materialistisch. Wenn wir Menschen das glauben würden, so würden wir nicht den Willen haben, uns bis zu seinem Geist hinaufzu­arbeiten. Deshalb werden sich in der Zeit gerade gewisse Prophezeiun­gen aus der Apokalypse erfüllen. Rechnend und bauend auf den mate­rialistischen Geist werden Individuen im physischen Leibe auftreten, die dann sagen werden, sie seien der verkörperte Christus. Und zum Opfer werden ihnen die fallen, welche nicht durch die Geisteswissen­schaft zur richtigen Erkenntnis geführt sind, denn groß wird die Maja und ungeheuerlich die Möglichkeit der Selbsttäuschung sein. Die Ver­suchungen werden ins Riesengroße wachsen. Nur eine sich ihrer Ver­antwortlichkeit bewußte Geist-Erkenntnis wird die Menschen zum Verständnis dessen bringen, was da geschehen soll.

Das waren Betrachtungen, die zeigen sollten, wie Spiritualität durch die Geisteswissenschaft in der einzelnen Menschenseele wirken soll, und daß Geist-Erkenntnis eine Zeitaufgabe ist, weil wir auch von den heu­tigen Zeiten sagen können: Es steht uns Wichtigstes bevor. Aber weil auch Wichtigstes in der Finsternis von der Menschheit ganz übersehen werden könnte, weil der große Augenblick vorübergehen könnte, ohne daß die Menschen ihn sehen, deshalb muß Geisteswissenschaft in rich-tiger Weise wirken. Das mit unserem Geiste durchdringen, was uns von der Geist-Erforschung übermittelt wird, das wird in jedem Zweige die Spiritualität geben, welche wir brauchen, um unsere eigene Seele im­mer höher zu entwickeln, um der Menschheit immer höhere und höhere Dienste zu leisten.

Versuchen wir öfters nachzudenken, daß, wie für die Zeit Christi, so auch für unsere Zeit das Wort gilt: Ändert den Sinn, denn die Zeiten sind nahe herbeigekommen. - Hat es damals geheißen «die Reiche der Himmel sind nahe», dann müssen wir heute prophetisch in die nächste Zukunft hineinblickend sagen: Denn das Menschen-Ich ist nahe den Reichen der Himmel. - Bereiten wir uns vor durch richtige Geistes­wissenschaft, daß wir würdig hineintreten in das Reich, das uns fordert.

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Und wir selber können nur gedeihen, wenn wir den Weg finden zu den Reichen der Himmel. Wenn wir das, was wir auf Erden als Erlebnisse haben, verarbeiten und wieder das, was wir erleben im hö­heren geistigen Dasein, erstehen lassen, es darbringen als ein großes Opfer am Altar des göttlichen Daseins, dann erfüllen wir in Würde un­sere Bestimmung als Mensch im vollsten Maße. Lassen Sie das, was Sie hier arbeiten, durchdrungen sein sowohl von dem Geiste des Novalis wie von dem Geiste der Geisteswissenschaft selber, der vor unsere Seele getreten ist, und Sie werden sehen, daß Ihre Arbeit im guten Sinne verlaufen wird. Denn wenn unsere Arbeit von solcher Gesinnung durchdrungen ist, dann fließt, während wir in unseren Zweigen ver­sammelt sind, dasjenige ein, was wir das Licht der Meister der Weis­heit und des Zusammenklanges der Empfindungen nennen. Wir sind niemals ohne die Hilfe dieser vorgerückten Individualitäten, wenn wir in richtiger Gesinnung in einem unserer Zweige vereinigt sind. Solcher Geist vereinige Sie! Solcher Geist, der zu gleicher Zeit der Geist der Meister der Weisheit ist, durchseele Sie! Wirken Sie in diesem Geiste, und Ihre Arbeit wird ein Teil der großen geisteswissenschaftlichen Ar­beit sein, Ihr Wirken wird ein Teil der Gesinnung sein, die durch den ganzen Erdkreis gehen soll.

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DIE PHILOSOPHIE HEGELS UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DER GEGENWART Hamburg, 26. Mai 1910

Keine anthroposophische, sondern eine rein philosophische Betrachtung soll heute angestellt werden. Aber sie kann in einem anthroposophischen Kreise deshalb gepflegt werden, weil zwar der Gegenstand der Gei­steswissenschaft aus den Erfahrungen in der übersinnlichen Welt herausgeholt werden soll, weil aber bei der Zusammenarbeit dieser Er­fahrungen zu einem umfassenden systematischen Weltbild ein scharfes und in jedem einzelnen Punkte gewissenhaftes, wohl auch geschultes Denken notwendig ist. Und wenn schon ein nicht geschultes Denken in der äußeren Wissenschaft recht viel Unheil anrichtet, so wird ge­rade in der anthroposophischen Bewegung mehr noch als durch un­richtige Beobachtungen dadurch Unheil angerichtet, daß bei vielen das Interesse für die übersinnlichen Dinge nicht Hand in Hand geht mit einem gleich starken Interesse für das logische Denken. Und dieses rein logische Denken kann gerade durch eine Betrachtung des Denkens von Georg Wilhelm Friedrich Hegel ganz besonders geschult werden. Von einer solchen Betrachtung aus wird auch ein gewisses Licht verbrei­tet werden können über unsere Gegenwart, in der man zwar ab und zu von einem Zurückgehen auf Hegel spricht, von der man aber nicht sa­gen kann, daß die denkerischen Voraussetzungen, die sie hat, einem Ver­ständnis für Hegel entgegenkämen. Hegel ist mit seinem ganzen Den­ken herausgewachsen aus jener Zeit, die das intensivste Interesse daran hatte, die Grundlagen aller Erkenntnis und alles Seins aus gewissen höchsten Gesichtspunkten herzuleiten. Und es ist kein Zufall, sondern eine tiefe Notwendigkeit, daß Hegel in einer Zeit lebte, in der auf den verschiedensten Gebieten diese höchsten Grundlagen gesucht wurden.

Hegel ist geboren am 27. August 1770 in Stuttgart. Er trat als Zög­ling ein in das für die Entwickelung des deutschen Geisteslebens in die­ser Zeit so besonders wichtige Tübinger Stift (1788-1793>, wo er ein Mitschüler war des ihn lange, lange Zeit weit überragenden, überleuch­tenden Schelling und des tief veranlagten und bald - wenri auch nicht

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gerade durch seine tiefe Veranlagung veranlaßt - in geistige Umnach­tung sinkenden Hölderlin. Sie bildeten gewissezinaßen ein Kleeblatt:

der tief veranlagte, in mystischem Helldunkel suchende Hölderlin, der mit einer scharfen denkerischen Energie und einer übersprudelnden Phantasie begabte Schelling und der etwas schwerfällige, seine Gedan­ken schwer aus der Seele bohrende Hegel. Schelling und Hegel wirkten später wieder zusammen an der Universität in Jena, die gerade damals eine Blütestätte geistigen Lebens war. Schelling riß seine Zuhörer hin durch den gewaltigen geistigen Schwung, mit dem er die denkerischen Probleme behandelte, er riß auch die hin, die nicht aus Gefühl und Ge­müt heraus einzudringen suchten in die Fragen des Daseins. Schelling wies hin auf etwas, was in der menschlichen Erkenntnis über alles Den­ken hinausgeht, auf die, wie er sagte, intellektuelle Anschauung, die ein ursprüngliches Vermögen sein sollte, in die Untergründe des Daseins hineinzuschauen. Hegel war sein Genosse als Dozent (1801-1806>. Auch damals noch war sein Denken schwerfällig, weil jeder Gedanke von ihm so geprägt sein sollte, daß er nie mehr umschloß, als er bedeu­ten sollte. Und wegen dieser langsam bohrenden Schwerfälligkeit des Denkens wird Hegel anfangs gar nicht leicht verstanden.

Es kam nun die traurige Zeit von 1806. In dieser Zeit unternahm Hegel, wie er sich selbst ausdrückte, die eigentlichen großen Entdek­kungsreisen seines Geistes. Unter dem Kanonendonner von Jena hat er dann sein erstes aus einer eingehenden ungeheuer tiefen Sammlung des Geistes hervorgehendes Werk, die «Phänomenologie des Geistes», ab­geschlossen. Es ist dies ein Werk, wie es die gesamte Weltliteratur sonst nicht aufzuweisen hat. Hegel wollte dadurch sich vor allem selbst klar­machen, welche Erlebnisse die Seele haben kann, wenn sie von den so­zusagen untergeordneten Gesichtspunkten hinaufsteigt zu dem Höch­sten, zu dem, was Hegel die Selbsterfassung des Geistes in sich nennt. Man lebt zunächst in einer dumpfesten Verbindung mit der Außenwelt, wo einem jedes Dieses oder Jenes, jeder Baum und jedes Haus etwas ist, mit dem man zusammenlebt, jede Meinung etwas ist, in dem man lebt. Erst wenn man nachdenkt über das Dieses und Jenes, dann ent­steht die Wahrnehmung. Von der Wahrnehmung kommen wir dann durch das Denken zu einem Selbstgefühl zunächst, zu einer dunkeln

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Ahnung des Selbst. Dann erst kommen wir zum ersten Aufleuchten eines wirklichen Bewußtseins. Aber das Ich ist hier sozusagen noch verzaubert mit seiner Umgebung. Es arbeitet sich heraus aus dieser Verzauberung durch den Inhalt, den es nur aus sich haben soll, dadurch daß es immer mehr das wegläßt, was mit der Außenwelt zu tun hat, was mit ihr zusammenhängt. So kommt dann das Selbstbewußtsein zu­stande und damit die Durchwirkung, die Durchwebung des Selbstbe­wußtseins mit dem Geiste. Es wird selbst Geist, der sich in sich er­faßt, wird in sich selbst bewußtwerdender Geist. Und wenn der Mensch nun zurückblickt, so erkennt er, was sich da als Geist in sich erfaßt, er erkennt die Idee, die er gleichsam aus der Verzauberung der Außen­welt herausgeholt hat. Er erkennt, daß er früher in dem Widerspruch von Subjekt und Objekt steckte, daß er aber jetzt in der Überwindung von Subjekt und Objekt in der sich selbst erfassenden Idee, die nicht nur Subjekt ist und nicht nur Objekt ist, das erfaßt, was Hegel die absolute Idee nennt. So war Hegel durch eine ungeheure Anstrengung des Denkens zur Begründung des sogenannten absoluten Idealismus gekommen.

Mannigfach waren nun Hegels Lebensschicksale nach seiner Jenaer Dozentur. Er wirkte eine Zeitlang als politischer Redakteur in Bam­berg (1807-1808), dann als Gymnasiallehrer und Gymnasialdirektor in Nürnberg (1808-1816) und wurde so durch mannigfache äußere Erfahrungen der realistisch denkende Geist, als der er uns später ent­gegentritt. Von Nürnberg wurde Hegel für kurze Zeit an die Univer­sität Heidelberg berufen, wo er 1817 seine «Enzyklopädie der philoso­phischen Wissenschaften» herausgab. Über die Aufnahme des Werkes hätte Hegel wohl das sagen können, was ihm die Legende als Aus­spruch, den er kurz vor seinem Tode getan haben soll, zugeschrieben hat: Von allen meinen Schülern hat mich nur ein einziger verstanden, und der hat mich mißverstanden.

Es ist in der Tat ein höchst merkwürdiges Gefühl, etwas so unge­heuer Tiefes in den Strom der Welt versenkt zu haben und gleichzeitig zu sehen, wie so völlig alle Vorbedingungen zur Aufnahme des Tiefen fehlten. Nur von Hegels Standpunkt aus kann etwas wie ein Gerippe dessen gezeichnet werden, was diese «Enzyklopädie» sein sollte. Ich bitte

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aber nun, wenn ich jetzt im Sinne Hegeis spreche, mich nicht etwa als einen Hegelianer anzusehen. Hegel handelte es sich darum, den in der «Phänomenologie des Geistes» gewonnenen Standpunkt, welchen er erreicht hatte, durch ein sich jenseits von Subjekt und Objekt auf den Standpunkt der Idee stellen - diesen Standpunkt nun auszuführen, wenn ich so sagen darf, um von ihm aus den ganzen Umfang mensch­lichen Denkens und Wirkens einmal zu überschauen.

In der absoluten Idee dürfen nach Hegel die Begriffe von Subjekt und Objekt, von Erkennen und Meinen und dergleichen nicht enthal­ten sein. Über alle diese Gegensätze ist die Idee hinaus. Hegel will diese Idee so erfassen, als ob sie in ihrer Reinheit dargestellt werde, diese Idee, die zwar in Subjekt und Objekt wirkt, aber über beide hinaus­geht. Diese Idee ist wohl im Menschen, in der äußeren Welt, in Geist und Natur zu finden, aber sie ist eben über beide hinaus, sie liegt jen­seits von Geist und Natur. Man darf also im Sinne Hegels die Idee nicht zunächst abstrakt fassen, etwa wie einen abstrakten Punkt. Sie ist vielmehr ein in sich Volles, was aus sich als Idee einen reichen In­halt heraussprießen läßt, so wie etwa im Pflanzenkeim implicite die ganze Pflanze mit all ihren einzelnen Teilen liegt. So soll nach Hegel die Idee aus sich einen Inhalt sprießen lassen, der unabhängig von Geist und Natur ist, der also, wenn er angewendet wird, auf beides ange­wendet werden muß. Man gewinnt also, bevor man sich auf die Be­deutung von Geist und Natur einläßt, einen Standpunkt über beiden und sieht dann in der Natur eine Manifestation der Idee und sieht ebenso ein Ausleben der Idee im Geistigen. Wir müssen also einen Standpunkt gewinnen, auf dem die Idee so entwickelt wird, als ob der Mensch gar nicht dabei wäre. Der Mensch überläßt sich dann dem ur­eigenen Prozeß der sich in sich selbst und aus sich selbst entwickelnden Ideenwelt. Dieser Standpunkt ergibt das, was man in Hegels Sinne die Wissenschaft der Logik nennen kann. Da hat man es dann nicht mit ei­nem Subjekt und Objekt zu tun, wie die aristotelische Logik, sondern mit einer Selbstbewegung der über Subjekt und Objekt stehenden Idee.

Für jedes Denken, das sich nur den Dingen der äußeren Welt über­lassen will, ist es schwer, sich in die streng geschlossenen Kolonnen der Hegelschen Begriffe einzuleben. Man fühlt dann etwas wie Gewalt,

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die einem angetan wird, man fühlt sich hineingesteckt in ein Ideen­system, das so ganz und gar nichts mit dem sonstigen alltäglichen Ver­nunftraisonnement gemein hat. Die Idee soll denken, nicht ich: das ist das Gefühl, welches man hat. Darum lassen sich die Menschen auch meist gar nicht ein auf die Hegelsche Ideenwelt. Tut man es aber doch, nun, so mag man Hegel vielleicht da und dort korrigieren - das ist ge­rade bei Hegel besonders leicht -, aber darauf kommt es nicht an, son­dern es kommt darauf an, daß der Mensch durch das Studium Hegels eine ganz ungeheure Selbstzucht des Denkens durchmacht, weil man an nichts so sehr wie gerade an der Hegelschen Logik lernen kann, wo ein System menschlicher Begriffe, überhaupt ein Begriff auftreten darf. Ein Begriff kann in seiner ganzen Tragweite nur erkannt werden, wenn man ihn nur denken kann an einer bestimmten Stelle eines ganzen Begriffsgewebes. Um sich das nun klar zu machen, beginnt Hegel mit dem leersten Begriff, dem Begriff des Seins, der gewöhnlich hingestellt wird, ohne daß man sich eigentlich bewußt wird, wo man ihn eigent­lich hinstellt. Nun soll dieser Begriff bei Hegel ganz leer sein. Wir müssen also schon hier gleich beim Eintritt in Hegels Logik absehen von allen späteren Inhalten, welche dieser Begriff bekommen hat, also schon hier eine große Selbstzucht des Denkens anwenden. So wird also der Begriff des Seins eigentlich nicht vom Menschen aufgestellt, er stellt sich vielmehr vor den Menschen hin, nachdem der Mensch alle anderen Begriffe aus ihm herausgeworfen hat.

Nun will Hegel die Methode der Begriffsentwickelung finden, das heißt, der eine Begriff muß sich aus einem anderen entwickeln. So muß der Begriff des Seins, wenn wir ihn recht betrachten, sich sofort über sich erheben. Wenn wir den abstrakten Begriff des Seins auf ein Ding anwenden, so ist er schon nicht mehr rein. Er bezieht sich dann schon auf ein Dieses oder Jenes. So kommen wir dazu, zu erkennen, daß das Sein ein Nichts ist, wohlgemerkt nur innerhalb des Begriffs. Durch die in sich selbst lebende Dialektik hat man so aus dem Sein herausgezogen den Begriff des Nichts.

Hat man sich nun selbst diszipliniert im Denken, so erzieht man sich schon an dieser Stelle der Hegelschen Logik ein Denken an, das in Hegels weiteren Erörterungen über Sein und Nichts nur stets so angewandt

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wird, wie es sich eben jetzt ergeben hat. Sein und Nichts bringen nun ein drittes hervor: das ist das Werden. Damit wir aber das Werden erfassen können, muß es zum Stillstand gebracht werden. So sprießt an vierter Stelle aus dem Begriffe des Werdens der Begriff des Daseins hervor. Nur so darf in der weiteren Hegelschen Logik der Begriff des Daseins gebraucht werden, als ein Sein, das sich in ein Nichts umgekehrt hat, das mit diesem zusammen das Werden hervor­gebracht hat, welches, zum Stillstand gebracht, das Dasein erzeugt hat. Und in dieser Methode geht Hegel weiter. Er kommt zum Begriff des Einen und Vielen, er kommt zum Begriff der Quantität und Qua­lität des Maßes und so weiter.

So haben wir im ersten Teil der Hegeischen «Enzyklopädie» einen Organismus der Idee. Nur wenn wir alles andere vorher erfaßt haben, können wir dann zum Begriff des Zweckes kommen, der am Ende der Hegeischen Logik steht. Durch eine solche absolute Logik wird in der Tat eine ungeheure Selbstzucht des Geistes erreicht, die wenigstens als Ideal einmal vor unsere Zeit hingestellt werden muß. Dadurch lernt man, nur dann einen Begriff auszusprechen, wenn man seinen Inhalt vollständig im Bewußtsein hat. Man darf dann in seinen Begriffen nichts haben, als was man sich irgendeinmal im Leben als Entwickelung des Begriffes klargemacht hat. Innerhalb der Hegelschen Logik tauchen dann wieder als spätere Begriffe auf Subjekt und Objekt, Erkennen, Wesen, Kausalität, die man nun eben klar bewußt hat.

Nachdem Hegel so das vollständige System der Begriffe aufgestellt hatte, konnte er darstellen, wie sich die Begriffe sozusagen in der Ver­zauberung zeigen. Der Begriff kann nicht nur im Subjekt sein, denn dann hätte alles Reden über die Natur keinen Sinn. Unsere Begriffe liegen vielmehr den Naturerscheinungen zugrunde, sie haben diese gemacht. So ist es beim Begriff unwesentlich, ob er außen oder innen auftritt. Uns verbirgt er sich draußen. Die Natur ist der Begriff oder die Idee in ihrem Anderssein, wie Hegel sagt. Wer von der Natur etwas anderes aussagt, überschreitet das, was er sicher weiß. Es ergibt sich also eine solche Naturphilosophie, eine solche Naturwissenschaft, die die Entwickelung der Idee draußen sucht, nachdem sie zuerst an sich selbst, in ihrem reineren Dasein, in der Logik gesucht worden ist.

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Die Idee lebt sich zunächst in den untergeordneten Erscheinungen aus, da wo der Begriff sich am meisten verbirgt, so daß wir versucht sein könnten, überhaupt von ideenlosen Naturerscheinungen zu spre­chen. So etwas geschieht in der Mechanik. Aber auch schon innerhalb der mechanischen Erscheinungen bringt Hegels Denkdisziplin ein Dop­peltes zur Unterscheidung. Er unterscheidet die gewöhnliche Mecha­nik, wie sie den Erscheinungen von Stoß, Kraft, Materie zugrunde liegt, die, wie er sagt, relative Mechanik, von der absoluten Mechanik; das heißt, er hält es für unzulässig, die gewöhnlichen Begriffe der re­lativen Mechanik auf die Himmelskörper anzuwenden. Erst wenn man den Begriff der absoluten Mechanik ausbildet, findet man die Idee, welche in der Himmelsmechanik liegt. Von dieser Unterscheidung aber findet man in der heutigen Wissenschaft nichts. Daher die Polemik Hegels gegen Newton, der gerade am meisten die Begriffe der rela­tiven Mechanik ohne weiteres auf die Begriffe der absoluten Mechanik übertragen hat.

Vom Begriff der absoluten Mechanik geht Hegel fort zum Begriff des wirklichen Organismus. Drei Glieder des Organismus erkennt er:

Erstens den geologischen Organismus. Damit darf in seinem Sinne das ganze Erdengebilde nicht so begriffen werden, daß die Gesetze eines kleinen Gebietes auf den ganzen Erdkreis ausgedehnt werden, wie das die heutige Geologie tut. Hegel sieht in jedem Gebirge, in jeder geologischen Form gleichsam einen starr gewordenen Organismus.

Zweitens den pflanzlichen Organismus, an dem der Begriff gleich­sam in Gleichgültigkeit für die Idee, in Gleichmäßigkeit für die Idee sich zeigt.

Drittens den tierischen Organismus, der schon in gewissem Sinne das Dasein der Idee in der Außenwelt darstellt.

Damit ist das Scheinen der Idee, gleichsam die verzauberte Idee, im Erdendasein erschöpft. Aus diesen verzauberten Ideen wächst nun der Mensch heraus. Er muß zunächst aus seinen natürlichen Merkmalen begriffen werden. Damit beschäftigt sich die Anthropologie. In seiner Wahrnehmung findet sich der Mensch gleichsam dumpf im äußeren Dasein, aber wenn er zum Bewußtsein kommt, von da zum Selbstbe­wußtsein, so entreißt er sich in einer gewissen Beziehung dem äußeren

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Dasein. Hier tritt nun nach der Anthropologie die «Phänomenologie des Geistes» ein. Innerhalb dieser Phänomenologie erfaßt sich der Mensch endlich selbst als Geist. Damit erkennt er sich als subjektiven Geist, indem er sich zunächst aus der Naturverzauberung losringt. Nach und nach erscheint ihm wieder die Idee selbst. Das, was sie war im ersten, allerersten Begriff des Seins, springt jetzt hervor. Nachdem so der Mensch die Idee in ihrem An-sich-Sein in der Logik, in diesem Außer-sich-Sein in der Natur erkannt hat, begreift er sie jetzt da, wo sie an und für sich ist.

Nun macht dieser zunächst subjektive Geist sich zum objektiven Geist. Die Idee stellt heraus, was sie an sich ist, in dem, was die geisti­gen Einrichtungen sind: Ehe, Familie, Recht, Sitte. Das alles schließt sich zusammen im Staat. Was sich im Staate als objektiver Geist her­ausstellt, als Realisierung der Idee, was sich im Wechselspiel von Staat zu Staat findet, das ist Weltgeschichte. So ist die Weltgeschichte das Dasein der Idee nach ihrem Durchgang durch den subjektiven Geist.

Und es erhebt sich die Frage: Können wir am Ende den Kreis schlie­ßen wie eine sich in den Schwanz beißende Schlange, das heißt, können wir wieder zur absoluten Idee kommen, zu einer Realisierung der Idee, wo sie subjektiv und objektiv wieder überwindet? Die absolute Idee kann in ihrer absoluten Realität zunächst vorbereitend erscheinen, so daß sie nicht verzaubert, verborgen ist wie in der Natur, sondern so, daß sie durch die Erscheinung hindurchleuchtet. Das ist der Fall in der Kunst. Jenseits der Weltgeschichte schafft sich also Hegel in der Kunst die erste Realisierung der absoluten Idee. Aber hier hat sie noch etwas von objektiver, von äußerer Nuance an sich. Sie kann aber auch so wirken, daß sie nicht mehr eine Nuance des Äußerlichen, aber eine Nuance des Innerlichen hat. Das ist der Fall in der Religion. Sie ist also die Realisierung der absoluten Idee auf der zweiten Stufe.

Aber die Idee kann auch die Nuance der Äußerlichkeit, welche sie in der Kunst, die Nuance der Innerlichkeit, welche sie in der Religion noch hat, überwinden. Das tut sie im Erfassen von sich selbst, da, wo sie sich selbst in sich fängt, in der Philosophie im Hegeischen Sinne.

So ist denn der Kreis in sich geschlossen. Es gibt auf dem ganzen

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Gebiet der Geschichte nichts, was so in sich geschlossen ist wie das Hegelsche System.

Einzelne Teile führte er nun später wieder besonders aus; wie die Rechtsphilosophie (1821>, ein Gebiet, auf dem ganz besonders wohl-tätig ein streng diszipliniertes Denken wirkt. Und in der Vorrede zu den «Grundlinien der Philosophie des Rechts» tut nun Hegel einen merk­würdigen Ausspruch: Wenn die Vernunft die Idee erfaßt, muß alles be­griffen werden dadurch, daß man die Idee, das heißt, das Wirken der Vernunft in den Dingen sieht. - Alles Wirkliche ist also vernünftig im Hegelschen Sinne. Dieser Satz ist natürlich mit der Willkür des ge­wöhnlichen Raisonnements sofort zu widerlegen, wenn man nicht Rücksicht nimmt auf Hegels Gedankenzusammenhang.

Wenn wir uns so Hegels Philosophie skizzenhaft vor die Seele stel­len, haben wir den Grundnerv seiner Philosophie in dem ganz unge­heuer disziplinierten Denken erkannt.

Hegel lehrte dann diese Philosophie von 1818 bis 1831 in Berlin, wo er am 14. November 1831 starb, dem Todestage von Leibniz, der einmal die gerade entgegengesetzte Philosophie hingestellt hatte. Bei Hegel steht im Mittelpunkt der Philosophie die Idee, die ganz bei sich selbst bleibt. Bei Leibniz zerstreut sich die Idee in die ungeheure Summe der Monaden. Nur eine einzige Monade aber, welche die prästabilierte Harmonie enthält, müßte, wenn sie sich entwickelt, den Weg der Hegelschen absoluten Idee nehmen. So liegt Hegels System in der Ent­wickelung einer einzelnen Monade. Hegel hat das strengste monistische, Leibniz das strengste monadologische System aufgestellt. Solange wir nun in Hegels Gedankenkolonnen bleiben, sind wir in einem streng geschlossenen Kreislauf des Geistes. Wir kommen über ihn hinaus, wenn wir Hegels System an der Monadologie messen. Es ist in der Tat einem Denker so gegangen, daß bei ihm Leibnizens Monadologie den Monismus Hegels sprengte. So ging es Schelling.

Nachdem er seit 1814 verstummt war, wurde er 1841 nach Berlin berufen, zehn Jahre nach Hegels Tod, und versuchte nun über Hegel hinauszugehen, mit dem er früher zusammengearbeitet und 1802 bis 1803 das «Kritische Journal der Philosophie» herausgegeben hatte. Es waren eigentümliche Vorlesungen, welche er nun in Berlin hielt.

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Nur auf eine Weise ist es möglich, über Hegel hinauszukommen, nur, indem man da von außen ein Loch bohrt, wo bei Hegel sich das Ich erfaßt in der «Phänomenologie des Geistes>. Aber auch in Leib­nizens Monade bleibt man stecken, wenn man da nicht auch an der selben Stelle das Loch bohrt. Wenn man hier einsetzt, dann kommt man hinaus über das Ich, das nur sich selbst erfaßt, dann kommt man zu übersinnlichen Erfahrungen, die wirklich über das hinausge­hen, was Hegel in seinem System begreift. Und so machte es in der Tat Schelling. Er begann Theosophie zu lehren, wirkliche Theosophie, allerdings in abstrakter Form, und er hatte denselben Erfolg, den heute ein Mensch haben würde, welcher Theosophie an einer Universität leh­ren wollte.

Eine Triplizität des Weltgrundes, eine dreifache Potenz, lehrte Schelling: erstens das Sein-Können; zweitens das reine Sein; drittens die Zusammenfassung. So bildete er das vor, was heute im dreifachen Logos gesucht wird. Und nun suchte Schelling die Geheimnisse der alten Mysterien zu erkennen in seiner «Philosophie der Mythologie». Er suchte das zu lehren, was wir heute - bereichert durch seither mögliche übersinnliche Erfahrungen - erforschen, etwa das, was in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache> über die antiken Mysterien gesagt ist. Dann erstrebte Schelling eine Würdigung der christlichen Mysterien in seiner «Philosophie der Offenbarung», welche das Christentum in theosophischem Sinne zu erhellen sucht. Diese Vor­lesungen konnte Schelling überhaupt nur deshalb halten, weil er früher mit anderen Anschauungen schon einmal auf einem Katheder gestanden hatte. Um so mehr wurde jetzt gegen Schelling gewütet. Mit großem Horror wird heute in allen Lehrbüchern und sonstigen Geschichten der Philosophie diese letzte «theosophische Periode» Schellings darge­stellt, wo er, nachdem er schon früher die Verrücktheit seiner «intellek­tuellen Anschauung» aufgestellt hatte, nun ganz und gar verrückt wurde - wie sie meinen.

Mit diesem Übergang von Hegel zu Schelling war nun aber gleich­zeitig ein Zeitalter heraufgekommen, das ganz unter dem Banne der Naturwissenschaft lebte. Und seitdem erleben wir ein merkwürdiges Schauspiel, durch dessen Beobachtung wir erkennen werden, warum

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Theosophie, Geisteswissenschaft, gerade heute so aufgenommen wer­den muß, wie sie aufgenommen wird.

Keiner kann gewiß die Tatsachenergebnisse mehr bewundern als ich, und doch muß das folgende gesagt werden. Die Entdeckung der pflanz-lichen und tierischen Zelle durch Schwann und Schleiden in den drei­ßiger Jahren war eine große Errungenschaft, aber kleine Meinungen schlossen sich an. Es kam die Kraft- und Stofflehre, welches alles Gei­stige nur als Schaumblasen physischer Vorgänge ansah. Die schlimmste Blüte dieser Denkart war das strenge System, in das Büchner in seinem Buche «Kraft und Stoff» den theoretischen Materialismus faßte. Zu be­wundern bleibt dabei freilich der kühne Mut Büchners. Die anderen Forscher haben eben einfach nicht den Mut gehabt, ihre Gedanken so zu Ende zu denken.

Aber auch feinere Geister gingen andere Wege als Hegel und Schel­ling unter dem Zwange der Naturwissenschaft, so zum Beispiel Her­mann Helmholtz, der sich wirklich große Verdienste auf dem Gebiete der Psychophysik, der Sinnesphysiologie, der physiologischen Optik, der Tonlehre erworben hat. Seine Entdeckungen führten ihn durch die Eigenart, mit der experimentiert wurde, und durch die suggestive Ge­walt der Experimente, nicht etwa durch das Denken dazu, Hegel ab­zulehnen, so daß er sagte: Wenn ich Hegel aufschlage und lese ein paar Sätze von seiner «Naturphilosophie», so ist das ja der reine Unsinn.

Und wiederum wurde ein feiner, auch denkerisch geschulter Geist in seinen Gedanken nicht verstanden, Julius Robert Mayer, welcher das Gesetz von der Erhaltung der Kraft entdeckte. Sein Gesetz hatte in der Tat eine gewaltige physische Bedeutung, und diese wurde auch gewürdigt. Aber Mayers Gedankengänge über das mechanische Wär­meäquivalent in seiner Schrift über «Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel» (1845), wurden nie verstan­den. Helmholtz las man lieber, er war viel leichter verständlich. So las man lieber seine Schrift von den «Wechselwirkungen der Naturkräfte> (1854), in der er, ausgehend von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, die Berechtigung des Mayerschen Gesetzes nachwies.

Dazu kamen nun die Errungenschaften des Darwinismus, und ein so kühner Geist wie Haeckel, der aber jeder denkerischen Kultur abgeneigt

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ist und der in der Hegeischen Philosophie daher nichts wie ein Begriffsgestrüpp sehen konnte, ein so mutiger Geist war also dazu be­rufen, die naturwissenschaftlichen Tatsachen auszubauen im Sinne der äußeren, materiellen Entwickelungsgeschichte. So ward er der Begrün­der des materialistischen Darwinismus der sechziger und siebziger Jahre. Dagegen erhob sich keine philosophische Denkrichtung. Die Welt konnte damals nicht mehr von der Philosophie erfaßt werden, für sie gab es nichts als ein Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaft.

So wurde ein so bedeutender Denker wie Eduard von Hartmann, der in seiner «Philosophie des Unbewußten» (1869) den materialisti­schen Darwinismus sozusagen vor das Forum einer geistigen Philo­sophie zog, als Dilettant, welcher von Naturwissenschaft keine Ahnung habe, verschrien. Viele Gegenschriften erschienen, darunter auch eine höchst geistvolle anonyme: «Das Unbewußte vom Standpunkte der Philosophie und Deszendenztheorie» (1872). Haeckel sagte von dieser Schrift, sie sei so vortrefflich und zeige so gründlich die Fehler der Phi­losophie Eduard von Hartmanns, daß er selbst (Haeckel) sie geschrie­ben haben könnte, und Oscar Schmidt, der Biograph Darwins, be­dauerte lebhaft, daß der geschätzte Kollege nicht aus seiner Anonymi­tät heraustrete. Da erschien eine neue Auflage dieser Schrift, und als Verfasser nannte sich Eduard von Hartmann selbst.

So hatte die Philosophie in der denkbar gröbsten Weise einmal den Tatsachenbeweis geliefert, daß sie sehr wohl die Naturwissenschaft verstehen kann, wenn auch ein geschultes Denken sie zu ganz anderen Ergebnissen als denen des Materialismus führt. Es handelt sich in die­sem Kampfe eben durchaus nicht nur um Satz gegen Satz, sondern um Kulturkräfte, die sich einander gegenüberstehen.

Feinere Geister bewahrten sich immer das Verständnis für beide, für Philosophie wie für Naturwissenschaft. Aber sie konnten durch die herrschende Suggestionsgewalt der Naturwissenschaft nur im engsten Kreise gehört werden. So konnte die außerordentlich feine, große Ge­sichtspunkte gebende Geschichte der Philosophie, «Die Hauptprobleme der Philosophie», von Vincenz Knauer, nur in engstem Kreise verstan­den werden. Ja sogar nicht einmal das, was die enge Herbartsche Philosophie

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vorbrachte gegen den äußeren Materialismus, vermochte zu wirken. So kam es denn, daß ein streng logischer, wenn auch an der Scholastik geschulter Geist, der in sich selbst die Brücke zur natur-wissenschaftlichen Methode bauen wollte, das nicht einmal in sich selbst konnte. So ging es Franz ßrentano, der die naturwissenschaftliche Methode mit streng logischem Denken verbinden wollte in seiner «Psy­chologie vom empirischen Standpunkte», deren erster Band 1874 er­schien. Aber seine Gedankenselbstzucht drang nicht durch, er stand selbst innerlich doch zu sehr unter dem Zwange des naturwissenschaft­lichen Materialismus. Er wurde mit sich selbst nicht fertig, und so er­schien der für den Herbst angekündigte zweite Band zunächst nicht. Und heute lebt Brentano als alter Herr in Florenz, und der zweite Band ist noch immer nicht erschienen.

Wie furchtbar kämpfend dieser Zwiespalt in der einzelnen Seele wirken konnte, davon war ich selbst Zeuge. Ich sah, wie das Metho­dische in der Denkschulung geradezu seine Macht verlor durch die Suggestion der Naturwissenschaft. Es war bei einer feierlichen Sitzung der Wiener Akademie in den achtziger Jahren, bei der ich anwesend war, als Ernst Mach einen Vortrag über die Ökonomie in der Auffas­sung der Naturerscheinungen hielt. Er fand in der Tat keinen Weg, die Naturerscheinungen in seiner Methode zu fassen. Man fühlte bei jedem Satze schmerzlich, wie alle Denkmethode verschwand, wie alles zu-sammenschrumpfte zu dem Prinzip der kleinsten Kraftaufwendung auf das Naturerkennen. So wurde das Denken aus der Herrscherstellung, die es bei Hegel hatte, zu der denkbar geringsten ökonomischen Bedeu­tung hinabgedrückt.

So blieb Hegel gleichsam selbst ein verzauberter Geist, und auch ein Kuno Fischer konnte ihn nicht erlösen. Es bewährte sich die Wahrheit dessen, was Rosenkranz in der Einleitung zu seiner Hegel-Biographie gesagt hatte: Wir Philosophen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind im besten Falle nur die Totengräber der Philosophen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und damit meinte er - Biographen.

Einen neuen Aufschwung in der Methode des Denkens schienen dann die auf Kant zurückgehenden Arbeiten von Otto Liebmann, Zel­ler und so weiter zu bringen. Liebmann schrieb eine der scharfsinnigsten

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Abhandlungen, welche auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie überhaupt geschrieben worden sind. Er versuchte mit allen Mitteln eine transzendentale Erkenntnistheorie zu begründen, aber er kam schließ­lich doch zu einer Art Erkenntnistheorie, die man grob bezeichnen kann als etwas, was dem Hunde gleicht, der sich um sich selbst dreht. Er kam nicht über den Anfangspunkt seiner Erkenntnistheorie hinaus.

Und so wuchs dann herauf der heutige Zustand. Es kam die bedeu­tende Aufstellung der Wärmetheorie durch Clausius> die zurückwirkte auf die Sinnesphysiologie und diese letzten Endes wieder auf die Er­kenntnistheorie. Auch hier also wieder ein Bann der Philosophie unter die Naturwissenschaft.

So kamen diejenigen nicht zu Worte, welche in Anknüpfung an die alte Denkschulung sprachen. Wohl versuchte in den achtziger Jahren ein Forscher, ausgehend von Kant, die Erkenntnistheorie wirklich wei­terzuführen, aber man hörte ihn nicht. So ließ er unter dem Zwange der Verhältnisse dies Gebiet ganz liegen und ging zur Ästhetik über. Erst 1906 veröffentlichte er - es ist Johannes Volkelt - wieder eine kleine erkenntnistheoretische Arbeit über «Die Quellen der Gewißheit unserer Erkenntnis». Die Bedingungen für eine wahre Erkenntnistheo­rie waren so wenig wie für ein wahres Verständnis Hegels vorhanden.

Unsere Zeit findet sich weit mehr befriedigt etwa durch eine Spen­cersche Enzyklopädie, die um ganz wenig und ganz äußerlich über die Naturwissenschaft hinausgeht. Und als da gar die Anschauung vom kleinsten ökonomischen Maß, wie sie Mach aufgebracht hatte, wieder zurückkam von der neuen Welt im Pragmatismus eines William James, wurde sie begeistert als etwas Neues aufgenommen. Allerdings geben die strengen Kolonnen der Hegelschen absoluten Logik und das gänz­lich unphilosophische Raisonnement des Pragmatismus eine recht merk­würdige Zusammenstellung.

Aber das Gute kann nicht ganz, es kann nur zeitweise unterdrückt werden. Da, wo ein mißverstandener Kantianismus sich nicht wie Mehltau auf das Denken legen konnte, sozusagen aus den Kräften des Volkes heraus, regte sich ein gesundes Denken. So brachte der russi­sche Philosoph Solowjow in der Tat neue bedeutende methodolo­gische Ansätze dadurch, daß er auf einer jungen Volkskraft fußt, die,

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wenn Sie wollen, es nicht einmal zu einer rechten Kultur gebracht hat, nicht aber auf einer alten wie Franz Brentano. Auch der Franzose Boutroux führte in die Entwickelungsgeschichte einen neuen brauch­baren Begriff ein. Aber solche Bestrebungen bleiben unberücksichtigt. Unter der Asche glimmt das Wahre gleichsam fort. Es kann über­wuchert werden durch Vorurteile und Impotenz, aber als Selbstzucht des Gedankens wirkt es doch heimlich fort. Und gerade derjenige, der die Geisteswissenschaft vertreten zu müssen glaubt, muß darauf hof­fen, daß diese Selbstzucht des Denkens der Geisteswissenschaft den Weg bahnen wird. Er muß den Weg finden zur Hegelschen strengsten Logik und kann nur so fest fundieren auf dem Fundamente des Ge­dankens das, was er in oft lockeren Gebilden aus höheren geistigen Welten herunterholen muß. So gibt es denn auf dem Gebiete des Übersinnlichen, wenn wir so sagen dürfen, nichts, was ein streng ge­schultes Denken ablehnen müßte. Schärferes, selbsterzogenes Denken wird den Übergang, die Brücke finden, die von dem letzten höchsten Produkte des physischen Planes, dem Denken, hinüber zum Übersinn­lichen führt.

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WEGE UND ZIELE DES GEISTIGEN MENSCHEN Erster Vortrag, Kopenhagen, 2. Juni 1910

In diesen drei Tagen soll ein bestimmtes Thema behandelt werden. Es soll über die Wege gesprochen werden, welche die Seele des Menschen in der Gegenwart nehmen kann im Sinne geisteswissenschaftlicher Weltanschauung, über die Ziele des theosophischen Lebens. Dazu wird im heutigen Vortrag eine Art Einleitung gegeben werden. Morgen und übermorgen wollen wir dann in das eigentliche Innere unserer Betrach­tung eindringen. Heute wollen wir sozusagen den Standpunkt mehr von außen her einnehmen und uns zunächst einmal die Fragen vorle­gen: Ist dasjenige, was wir als geisteswissenschaftliche Weltauffassung empfinden, etwas, was durch das Belieben einzelner Persönlichkeiten herbeigeführt worden ist, oder liegt es in der Zeitenseele selbst begrün­det? Haben wir etwas vor uns, was mit den tiefsten Bedürfnissen unse­rer Epoche zusammenhängt? - Am besten kommen wir der Beantwor­tung dieser Fragen nahe, wenn wir uns klar sind, daß alle diejenigen, welche aus den verschiedensten Lebensberufen zur Geisteswissenschaft kommen, ob reich oder arm, ob stark oder schwach, suchende Seelen sind. Alle sind sie suchende Seelen, welche nicht immer genau wissen, was sie suchen, aber empfinden, daß sie etwas suchen. Seelen sind es oftmals, welche die verschiedensten Wege gegangen sind und dasjenige auf sich haben wirken lassen, was die Gegenwart geben kann. Seelen, welche gesucht haben, ihre Sehnsuchten auf diesem oder jenem Gebiete der Kunst zu befriedigen, Seelen, die sich in dem umgesehen haben, was Wissenschaft geben kann; Seelen, welche mehr oder weniger dun­kel, mehr oder weniger hell nach manchem mühevollem Suchen gefühlt haben, daß sie nicht in der Gegenwart finden können, was mit dem Suchen der Seele zusammentrifft. Solche Seelen werden vielfach durch das berührt, was die geisteswissenschaftliche Bewegung geben kann, und sagen: Ja, hier lebt ein Impuls, der anders ist als sonstwo, anders, als was aus dem Leben um mich herum stammt.

Was empfinden solche Seelen, oder was konnten sie empfinden, wenn sie mit dem in Berührung kommen, was man heute Theosophie

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nennen kann? Wir dürfen nicht glauben, daß diese suchenden Seelen, welche den Weg zur Geisteswissenschaft finden, die einzigen sind, wel­che suchen. Sie sind gewählt oder sie wählen sich selbst aus einer großen Schar von suchenden Seelen. Wer auf das hinhört, was aus dem tiefsten Bedürfnis unserer Zeit gesprochen wird, wird sehen, daß es viele Seelen gibt, welche sagen: Wir lechzen nach Mitteln, die großen Welträtsel ge­löst zu erhalten, und wir können nicht finden, daß alles das, was die Überlieferung gebracht hat, alles das, was die moderne Wissenschaft zu sagen hat, diese Rätsel lösen können.

Hören wir einen Augenblick dem zu, was diese Seelen, die besten unter ihnen zu sagen haben. Ungefähr folgendes sagen sie, und mit die­sen Worten, die aus hunderttausenden solcher suchenden Seelen heraus-strömen, treffen wir etwas wie das sehnende Herz unserer Zeit: Wir blicken zurück in ferne Zeiten und sehen, wie von Jahrhunderten zu Jahrhunderten, von Jahrtausenden zu Jahrtausenden einander gefolgt sind die verschiedenen Vorstellungen über Gott und Natur, wie sie sich abgelöst haben und zum Kampf geführt haben zwischen ihren Vertre­tern. Vieles ist bis auf uns gekommen, Millionen von Menschen beken­nen sich zu solchen Vorstellungen, hängen ihnen in aufrichtigem Wahr­heitsgefühl an, aber ebensoviele können aus solchem Wahrheitsgefühl heraus sich nicht mehr zu dem bekennen, was überliefert ist, fühlen sich aus Liebe zur Wahrheit gezwungen, die alten Anschauungen fahren zu lassen.

Wie war es in grauer Vorzeit? Da blickten zum Beispiel die Men­schen auf den Strom, der von der Höhe zu den Ebenen ging, sahen auf die segensreiche Wirkung dieses Stromes und fragten sich: Was spricht zu uns aus dem Brausen dieses Stromes? Was ist es, was in diesem Strome wirkt? - Und sie fanden darin etwas, was sie auch in sich selber fan­den. Sie fanden, daß ihm zugrunde liegt ein geistiges Etwas, ein gött­liches Wesen, fanden im fließenden Strom eine göttlich-geistige Macht, welche belohnte, welche dem Menschen zuführte, was er brauchte zu seinem Wohle. In dem Wehen des Windes, in dem Rollen des Donners, in dem Zucken der Blitze fanden sie eine geistige Wirksamkeit gleich derjenigen, welche dem Fließen des Stromes, dem Rauschen der Mee­resbrandung zugrunde liegt. Sie sahen darin etwas, wovon sie sagten:

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Verwandt mit dem, was in meiner Seele lebt, ist däs Murmeln des Baches, das Toben des Sturmes. Mögen sie auch anders sprechen, es ist doch etwas Ähnliches da, und ich fühle, daß ich das verstehen kann.

So ähnlich fühlten die, welchen Moses die Tafeln des Gesetzes her­unterbrachte. Sie fühlten, daß daraus ein Wesen zu ihnen sprach, un­endlich größer als der Vater einer Familie, aber verwandt war dennoch das, was aus dem Donner und was aus dem ehrwürdigen Haupt der Familie sprach. Den Geist fühlten sie durch. Ein lebendiges Band emp­fanden sie zwischen dem, was in ihnen lebte als Schmerz und Freude, und der Außenwelt. Ein Band, das dieser Mensch der Vorzeit ver­stehen konnte.

So sprechen die Besten. Und gehen Sie da hin, wo ernste Wissen­schaft spricht, nicht triviale Oberflächlichkeit, dann können Sie fol­gendes hören: Unsere Vorfahren haben zu geistigen Mächten aufge­schaut. Nicht nur haben sie rieselndes Wasser, wehenden Wind, Feuer des Blitzes geschaut. In diesen Naturmächten haben sie geistige Wesen­heiten gesehen, Gnomen, Undinen, Sylphen, Salamander. Wie wir auch über diese Menschen denken mögen, Verständnis gewannen sie bei ihren Zeitgenossen, jene Menschen, welche hineindichteten in die Außen­welt ihren Glauben, aus dem sie Kraft und Festigkeit schöpften.

Und nun fügen die besten dieser suchenden Seelen hinzu: Wir kön­nen nicht mehr an Gnomen, Undinen, Sylphen, Salamander, an gei­stige Wesen der Natur glauben. Denn man hat uns gelehrt, daß eherne Gesetze bis ins kleinste Atom wirken. Und als einen Aufbau davon müssen wir uns die äußere Welt denken. Nicht mehr können wir sie beleben, so wie unsere Vorfahren sie belebt haben, können nicht mehr Opferzeremonien und Kulthandlungen entfalten, welche unsere Stim­men hinaufschicken, können nicht mehr sagen, wenn Schmerz uns durchwühlt: Tröste dich, denn das Leben in der geistigen Welt wird dir desto mehr Trost geben. - Und eine große Anzahl von Menschen sagt: Unsere ganze Welt ist anders geworden. Man baut nicht mehr auf solches, worauf früher gebaut wurde. Wenn früher einem Men­schen zum Beispiel ein rostiges Eisen in den Arm eingetrieben worden wäre, hätte er bei geistigen Wesen Trost gesucht. Heute tun wir besser, zum Arzt zu gehen und Mittel der äußeren Medizin zu benutzen. Damit

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behandeln wir heute, was früher behandelt worden ist mit dem, was in der Seele lebt.

Dem wird entgegengehalten: Aber ohne den Glauben an einen Geist können wir nicht sein, wir können nicht ohne ihn auskommen. Ein Geist waltet in allen Gesetzen, wirkt im Donner wie im Atom. - Und es braucht nur jemand über die ärgsten Trivialitäten des Materialismus hinaus zu sein, um sich dieser Einsicht nicht verschließen zu können. Wenn so von suchenden Seelen das Wort Geist ausgesprochen wird, was ist damit gemeint? Was ist Geist? Wo hat er seine Wurzeln? Wie kommt der Mensch dazu, sich eine Vorstellung von Geist zu machen?

Eine sonderbare Anschauung wird heute verbreitet. In Amerika wird von einer neuen Religion gesprochen. Diese will nur einen Gott anerkennen, der in den Naturgesetzen wirkt, bis ins Atom hinein. Einen Gott, der Menschengestalt hat, kann sich heute kein Mensch denken - sagt der Vertreter dieser Lehre, aber ohne göttlichen Geist können wir nicht auskommen. Und so kommt diese Persönlichkeit zu einem merkwürdigen Ausspruch: Gesetze der Chemie genügen nicht. Wo aber den Inhalt für eine Vorstellung Gottes hernehmen? - Und so hören wir folgendes: Wir müssen uns den Geist, der in den Natur­gesetzen waltet, so denken, daß er mit den edelsten Eigenschaften der menschlichen Seele ausgestattet ist. - Man ist also nicht bereit, sich einen Gott vorzustellen, der mit menschlichen Eigenschaften ausgestat­tet ist, aber man möchte doch etwas haben, was dieser Gottesidee einen Inhalt gibt.

Und hier haben wir das Resultat: Wir können gar nicht anders, wir können nicht anderswoher den Inhalt der Gottesvorstellung nehmen als aus dem Menschen heraus. - Und weiter macht der Vertreter die­ser Weltanschauung darauf aufmerksam, daß in früheren Zeiten gött­liche Wesenheiten verehrt wurden, die Inspiratoren waren, die den Menschen mit ihrer Kraft erfüllten und zu einer Aufgabe hindrängten. Jetzt können wir natürlich nicht mehr glauben, daß es übersinnliche Wesenheiten gibt, die als Inspiratoren wirkten. Die Zukunft aber wird vorgeschrittene Helfer verehren, reichere Geister, die den ärmeren etwas zu geben haben.

Sie sehen, anstelle des Früheren werden dennoch Gefühle hingesetzt,

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welche sich an diejenigen klammern, die Trost geben können. Nach jedem Erdbeben zum Beispiel wird es solche geben, welche den vielen Trost geben, die ihre Nächsten verloren haben. Menschliche Liebe wird es geben, wenn es nicht mehr die übersinnlichen Helfer gibt.

Merken Sie nicht, daß auch hier ein sonderbarer Widerspruch vor­liegt? Wir sollen auf diejenigen hinblicken, die Trost spenden. Aber wo nehmen denn diese das in ihrer Seele her, was sie brauchen, damit sie Trost und Liebe spenden können? So finden wir bei den Besten, daß zwar gesucht wird, aber daß die Seele sich vor ein Leeres gestellt fühlen muß.

Und wie ist es mit der Wissenschaft? Wird dort Trost gefunden in dem, was uns die Wissenschaft gebracht hat? Wir wollen voll aner­kennen die segensreichen Wirkungen der Wissenschaft, aber eines dür­fen wir nicht vergessen. Wieviel von den rein physischen Schmerzen, welche der Mensch seit der Vorzeit auszustehen hatte, werden denn gelindert? Kräftiger und gesünder ist die Menschheit seither sicher nicht geworden. Gewiß, es gibt viele Mittel, welche lindern. Aber auf einen Widerspruch muß hier aufmerksam gemacht werden. Die äußere Wis­senschaft glaubt, daß nichts verlorengehen kann. Zum Beispiel beim Reiben wird die Kraft als Wärme wirksam. Was verschwindet, tritt wieder als andere Kraft auf. Anästhetische Mittel lindern den Schmerz, und die Menschen reden, als ob der Schmerz verschwunden wäre. Hier liegt ein Widerspruch mit jenem einfachen Gesetz vor. Verschwindet der Schmerz, so tritt er doch an einer anderen Stelle auf. Man lindere noch so viele äußere Schmerzen, sie verwandeln sich in Seelenschmer­zen. Und der Mensch weiß nicht, daß solches mit der Linderung von äußeren Schmerzen zusammenhängt. Das hindert nicht, daß wir den­noch tun sollen, was sich unserer Einsicht zur Beseitigung des äußern Schmerzes aufdrängt, aber die Zusammenhänge müssen wir erkennen lernen und uns auf geistigem Gebiet nicht Illusionen hingeben.

Sie ahnen nicht, die suchenden Seelen, daß der Mensch, der heute in das äußere Leben hineingestellt ist, zum Beispiel in das machtvoll sich entwickelnde Gebiet der Industrie, der Technik, wohl hingerissen werden kann von dem, was sich seinen Augen darbietet. Aber diejeni­gen, die tiefer hineinschauen, wissen: Dieser Rausch, dieser Enthusiasmus

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ist mit etwas zu bezahlen. - Sie wissen, daß die Seelen immer öder und öder werden, immer weniger die Antwort auf die Rätsel des Da­seins fühlen. Gewiß sollen wir in alle Gebiete hineintragen, was äuße­res Leid lindern kann, aber wir sollen nicht vergessen, daß wir, auch wenn wir die äußere Physis sättigen, die Seele immer mehr verhungern lassen können, der Seele durch ungestillte Sehnsucht immer mehr Leid zufügen. Das ist die Stimmung, die denjenigen überkommt, der nicht nur liebend in das Menschengetriebe hineinblickt, sondern der den Gang überschaut, den die Zukunft nimmt.

Viel wird von Zielen geredet, die sich der Mensch setzen kann. Über dem Rausch, der seine Seele überkommt, wenn der Strudel des heuti­gen äußeren Lebens ihn erfaßt, merkt er nicht, daß diese Seele eine suchende bleiben muß. Und warum? Nur den tiefsten Untergrund allen Zwiespaltes im heutigen Empfinden wollen wir uns vor die Seele stel­len. Wenn wir uns in den Finger schneiden und diesen mit den besten uns bekannten Mitteln wieder zur Heilung bringen, so wissen wir:

Dieselben Naturgesetze walten in ihm wie im Umkreis. Wir sind her­ausgebildet aus der ganzen Natur, aus den Gesetzen, die um uns herum herrschen. Aber zugleich fühlen wir die Notwendigkeit, in uns noch etwas anderes zu sehen. Wir sehen, daß aus des Menschen Auge Geist blitzt, aus seiner Hand Geist spricht, aus seiner Stimme Geist ertönt. Und indem wir das erkennen, fühlen wir uns auch noch als Träger des Geistes. Zwar fühlen wir, daß wir aus der Umwelt heraus entstanden sind, aber nicht allein aus ihr. Was beherrscht diese Umwelt? Physische Gesetze, chemische Gesetze, das, was man heute als eherne Naturge­setze kennt. Das langt nicht hin, um den Geist zu erklären. Was Phy­sik, Chemie, Biologie geben, reicht dazu nicht hin.

Wo hat das seine Wurzel, was als Geist angesprochen werden kann? Darinnen ist er, in uns selbst, aber heimatlos, wurzellos. Die chemische Zusammensetzung des Blutes können wir begreifen, können genau den Verbrennungsprozeß erfassen, der in uns stattfindet, und alles das, was in der Außenwelt den physischen und chemischen Gesetzen unterliegt. Doch sobald wir die äußere Natur entgeistet sehen, ist alles wurzellos. Wir können nicht sagen: Wie das Blut den Gesetzen der Blutzirkulation unterliegt, ebenso folgt irgendein Geistiges den Gesetzen der Umwelt.

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Darin kann ein Geist nicht gefunden werden, so sagt sich die suchende und irrende Seele der Gegenwart. Von dorther kann mir nicht die Ant­wort kommen auf die Fragen, die mich quälen. Von woher wird sie mir kommen?

Nun sehen wir, wo das Übel liegt. Wir sehen, daß die Vorstellungen über die äußere Welt immer klarer werden. Aber nun will der Mensch mit seinem Geiste, mit seiner Seele in etwas wurzeln. Die Seele kann nicht anders, als das wollen. Sie kann nicht fliehen vor sich selbst in ein ödes physisch-chemisches Dasein. Da tritt nun der Zwiespalt ein. Die Seele hat das Bedürfnis, sich ein geistiges Wesen vorzustellen, aber nirgends in der äußeren Welt kann sie finden, was ihren heutigen Vorstellungen über ein geistiges Wesen entspricht. Daraus entsteht eine tiefe Unwahrheit. An Sylphen, Salamander, Undinen und Gnomen kann der heutige Mensch nicht glauben. Das aber, was ihm Befriedi­gung geben könnte, ist nicht vorhanden. Inhaltlos steht die Seele da.

Je tiefer das empfunden wird, desto unwahrer wird, wenn man nur von Geist redet. Entweder findet man Geist, oder man muß ihn künst­lich hineinlegen. Es mag manchem so scheinen, als ob das eben Gesagte zuweit abliege vom täglichen Empfinden. Aber überall werden wir Seelen finden, deren Schmerz aus diesem Grunde herrührt. Diesem großen Suchen will das entgegenkommen, was die Geisteswissenschaft bringt. Ihr Bestreben will es sein, eine Brücke zu schlagen zwischen der Seele selbst und demjenigen, was draußen ist, sei es, daß die Seele dem Toben des Sturmes zuhört, oder den lieblichen Bewegungen der Mee­reswellen zuschaut. Der Mensch ist nicht mehr imstande, aus den Eigen­schaften des Menschen heraus Götter zu idealisieren, die hinter Luft und Wasser wirksam sind. Verbieten muß man sich, anthropomor­phisch ein Abbild von sich zu sehen in dem, was man als göttliche We­senheit bezeichnet. Das ist die Erkenntnis der heutigen Zeit. Aber das andere ist die Ohnmacht der suchenden Seelen. Von der einen Seite wird ihr gesagt: Wenn du einen Gott finden willst, darfst du ihn nicht mit menschlichen Eigenschaften ausgestalten. Andererseits ergibt sich als Resultat, daß wir nicht in der Lage sind, uns einen Ersatz zu schaf­fen. Weil diesen suchenden Seelen etwas fehlt, was diese wie selbst­verständlich sich ergebende Tatsache rechtfertigen würde, stehen

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sie ratlos da. Wo finden sie den festen Grund, der ihnen Sicherheit gibt?

Nur dadurch ist das möglich, daß der Mensch sich wieder das Recht erwirbt, Geistiges zu erforschen, daß er tiefer hineinblickt in sein In­neres. Dem früheren Menschen genügte weniger; dem heutigen genügt das Frühere nicht mehr. Die Geisteswissenschaft sagt dem heutigen Menschen: Du hast den falschen Weg eingeschlagen. Sind die Eigen­schaften, die der Mensch bis jetzt gefunden hat, alle Eigenschaften? Gibt es nicht tiefere Untergründe? Finden wir nicht im Verborgenen etwas, wovon wir sagen können: Ja, dieses könnte verwandt sein mit dem, was ich als das Göttliche empfinde?

Es muß etwas geben, was tiefer gegründet ist als alles, was der Mensch bis jetzt von sich erkannt hat, was ihm das Recht gibt, mensch­lich-seelische Eigenschaften auf Göttliches überzuführen. Wie aber den Weg zu den im eigenen Inneren verborgenen Untergründen finden?

Da verweist uns die Geisteswissenschaft auf jene Wege, die früher nur wenige Menschen gegangen sind. Heute brauchen viele den Hin­weis auf jene Wege. Zwei Wege gibt es; nämlich erstens den Weg der Mystik und zweitens den Weg des Okkultismus im wahren Sinne des Wortes.

Betrachten wir diese zwei Wege. Was ist der Weg der Mystik? Um das zu verstehen, brauchen wir uns nur einen gewissen Augenblick vor unsere Seele zu rücken. Sie alle wissen, daß wir in der Geisteswissen­schaft davon sprechen, daß der Mensch im Schlaf nicht dasselbe Wesen ist wie im Wachen. Beim Einschlafen geht das Innere des Menschen heraus und beim Aufwachen steigt es wieder hinunter in den physi­schen Leib und den Ätherleib. Man beachtet im allgemeinen nicht, daß dabei noch etwas Besonderes vorgeht. Sehen wir je das, was hinunter­steigt, von innen? Es geht dann eine gewaltige Veränderung im Men­schen vor. Im Augenblick, da er hinuntersteigt, sieht er seinen Äther-leib und seinen physischen Leib nicht von innen. Er würde sonst sehen, daß seine Leiblichkeit Illusion und Maja ist. Als gewöhnliche Men­schen sehen wir die Umwelt und dasjenige von uns, was wir von außen ansehen können. Was in ihm wirkt und lebt, davon sieht der Mensch nichts. Er sieht nur das Äußere, das er auch an Steinen und Mineralien

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sieht. Denn abgelenkt wird sein Blick auf die äußere Welt, sobald er in seine niederen Leiber hineinsteigt. Diejenigen, welche ein bewußtes Aufwachen erstrebt haben, waren die Mystiker. Ein bewußtes Hin­untersteigen in den äußeren Menschen erlebten sie. All die Bilder des inneren Lebens, welche die Mystiker kennen, sind das, was der Mensch schauen kann, wenn er den Blick abwendet von der äußeren Welt, von dem, was sonst seinen Blick gefangen nimmt. Der Mystiker erlebt, was der Mensch ist, wenn er sich von innen anschaut. Da sieht er zum Bei­spiel nicht, wie das Blut umläuft, sondern er sieht, daß das Blut der Träger göttlichen Wirkens ist; er sieht, daß das Blut ein Schatten der geistigen Wirklichkeit ist. Das ist es, was der Mystiker erlebt: den geistigen Motor seines eigenen Wesens statt der äußeren Maja.

Was uns die Mystiker erzählen, ist wahr. Hören wir, was sie be­richten: Dieses Hinuntersteigen ist verknüpft mit dem, was wir An­fechtungen, Versuchungen nennen, Aufwachen selbstsüchtiger Triebe. Lesen Sie die Beschreibungen dessen, was die Seele an niederen In­stinkten zu entfalten fähig ist. Wir müssen durch eine ganze Schichte hindurch von Leidenschaften, Begierden, selbstsüchtigen Regungen, deren wir uns kaum noch für fähig hielten. Das alles muß überwunden werden, wenn wir in die tiefen Schichten unseres eigenen Wesens hin­unterdringen wollen. Daß unser Blick von unserem eigenen Inneren zunächst abgelenkt wird, ist weise eingerichtet, denn der Mensch ist nicht reif, bewußt in sein eigenes Inneres hinunterzusteigen. Bekämp­fen muß er alles das, was sich in ihm aufbäumt, wenn er den Weg der Überwindung des eigenen Egoismus beschritten hat. Dann erst findet er den wahren Menschen, der im kleinsten Raum, im Ich-Punkt, zu­sammengezogen ist. Da erst sind wir ganz in uns selber, erkennen uns in Gut und Böse, sehen, was der Mensch wirklich ist, wenn er sich jen­seits der Schicht befindet, die aus seinen Instinkten und Begierden ge­bildet ist, und wenn er alledem entwachsen ist, was ihm durch Erzie­hung und Konvention anerzogen worden ist. Durch diese Schicht müs­sen wir hindurch, wenn wir in unser Inneres dringen wollen.

Noch einen anderen Weg gibt es, um den Geist und uns selbst zu erkennen. Er ist nicht leicht zu betreten und vor den Unreifen ge­schützt, weil er ebenfalls seine Gefahren in sich schließt. Neben dem

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wichtigen Moment des Aufwachens gibt es noch den für die Betrach­tung der menschlichen Wesenheit gleichfalls bedeutsamen Moment des Einschlafens. Betrachten wir ihn genauer. Im Moment des Einschlafens geht der Mensch in die geistige Welt über, in die Welt abseits der phy­sischen Wirklichkeit. Sein Bewußtsein hört auf, es verlöscht. Der Nor­malmensch hat in bewußter Weise keine geistige Welt um sich. Wenn er unreif in die geistige Welt eindringen würde, so würde in ausgespro­chenstem Maße für ihn geistig das geschehen, was in der physischen Welt Geblendetsein ist. Geblendet würde er durch den unmittelbaren Anblick des durch die äußere Welt ergossenen Geistigen werden.

Wiederum ist es nötig, den Menschen so stark zu machen, daß er von diesem durch die äußere Welt ergossenen Geist nicht geblendet werde. Das geschieht durch den okkulten Weg. Durch diesen findet er sein Ich, nicht im Engsten zusammengedrängt im eigenen Inneren, sondern über die ganze äußere Welt ergossen, eins mit dieser äußeren Welt. Das ist der okkulte Weg.

Indem der Mensch beide Wege zu gehen lernt, den Weg der Mystik und den okkulten Weg, tritt ihm eine bedeutsame Tatsache vor das Auge. Laßt ihn den Punkt aufsuchen, wo er am meisten komprimiert, am meisten zusammengedrängt ist in seinem eigenen Inneren, und laßt ihn ergossen sein über die ganze Außenwelt, dann erlebt er zuletzt das eine Große, das Gewaltige. - Was du erlebst, wenn du in die Tiefen deines eigenen Selbst hinuntersteigst und wenn du dich ins Unendliche ergießt, ist dasselbe: Mystik und Okkultismus, sie gehen nach entge­gengesetzten Richtungen, und sie führen zu demselben Ziel. Der Mensch entdeckt etwas, was in ihm geschlummert hat, was verzaubert ist in der Außenwelt, was gefunden werden kann im Tiefsten der eigenen Seele und draußen in der Welt der Erscheinungen. Er findet das, was als Geist hinter den Erscheinungen lebt, und er findet das Geistige in sich selber, wenn er sich mit dem mystischen Erkenntnisweg und mit dem okkulten Erkenntnisweg verbunden hat. Das ist dann die Brücke, durch welche der Abgrund überbrückt werden kann, vor dem die su­chende Seele von heute steht, wenn sie erkennt, daß sie selbst etwas an­deres ist als die Welt der Erscheinungen draußen und sich mit ihren Ei­genschaften nicht verbinden kann mit dem, was sie draußen umgibt.

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Heute gibt es die Möglichkeit, einen Weg zu finden, der zeigt, wie das, was in uns lebt, doch dasselbe ist wie das, was in der Außenwelt lebt. Die suchenden Seelen, die außerhalb unserer Bestrebungen ste­hen, kennen ihn noch nicht. Den Weg zeigt die Geisteswissenschaft. Ein Wegweiser für dieses Ziel will die theosophische Weltanschauung sein. Sie wird Antwort geben auf die Fragen, welche von den blutenden, ringenden Seelen von heute gestellt werden. Die Fragen werden hinein-tönen zu den Fenstern der Gegenwart, und die Geisteswissenschaft wird die Antwort geben. Das verleiht ihr ihre innere Berechtigung und zeigt, daß sie nicht willkürlich aus einigen Köpfen entsprungen ist, sondern aus den Bedürfnissen der Zeit. Die Geisteswissenschaft wird wieder Mittel und Wege angeben, um den Einklang zu finden zwi­schen dem, was in der Umwelt und was in der menschlichen Seele lebt. Sie wird uns dazu führen, die in der Natur waltenden Gesetze nicht als leere Abstraktionen, sondern als Gedanken göttlich-geistiger We­senheiten zu erkennen. So wird sie wieder den Geist in der äußeren Welt entdecken. Daß die Seele das heute nicht kann, macht ihre Leere und Öde aus. Trost, Hilfe und Kraft kann ihr nur durch ein Aufsuchen der Wege und Ziele des geistigen Menschen werden. Das zeigt, wie tief berechtigt dieses geisteswissenschaftliche Streben ist.

Wenn wir die Geisteswissenschaft in ihren tiefsten Quellen ver­stehen, werden wir der Seele Nahrung geben, nach der sie lechzt, wer­den ihr Quellen geistiger Wirksamkeit erschließen, und, weil alles Äußere Ausdruck des Geistigen ist, im Laufe der Zeit auch Gesundheit. Aus dem Sehnen und Suchen der heutigen Zeit werden der Geisteswis­senschaft ihre Ziele gegeben.

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WEGE UND ZIELE DES GEISTIGEN MENSCHEN Zweiter Vortrag, Kopenhagen, 4. Juni 1910

Wenn man von den Wegen und Zielen des geistigen Menschen spricht, wird einem immer wieder die Frage entgegentreten: Warum soll man daran denken, solche besonderen Wege zu gehen? Warum werden wir durch die Geisteswissenschaft darauf hingewiesen, uns derartige Ziele zu stellen? - Was wir als Antwort zu geben haben, muß sich für uns in Empfindung und Gefühl verwandeln. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß in der menschlichen Wesenheit und Natur Kräfte schlummern, welche zur Entwickelung streben, welche entfaltet wer­den können. Jeder Mensch hat in sich außer dem Menschen, der in der physischen Welt sieht und hört, einen höheren Menschen. Dieser ist als eine Art Samen keimhaft vorhanden. Das bringt uns die Geisteswissen­schaft immer eindringlicher zum Bewußtsein. Es ist ein Mensch, von dem das gewöhnliche Bewußtsein nicht viel weiß.

Wir müssen uns folgendes klar zur Empfindung bringen: Was wir jetzt überschauen können, das ist unser gewöhnlicher alltäglicher Mensch. Derjenige aber, der in uns schlummert, der als Same in uns veranlagt ist, ist ein geistiger Mensch. Ob dieser sich entwickelt oder nicht, hängt von unserem gewöhnlichen Menschen ab. Wir können mit den Kräften unseres gewöhnlichen Menschen den Boden vorbereiten, wir können ihn aber auch unbebaut lassen und uns nicht um ihn küm­mern. Dann versäumen wir unserem geistigen Menschen gegenüber un­sere Pflicht. Durch die Geisteswissenschaft selber, durch das, was sie uns als Lehren und Mitteilungen geben kann, können wir für diesen höheren Menschen den Boden bereiten. Wenn wir diese Einsicht in Empfindung und Gefühl verwandeln, wird uns das die Antwort auf die Frage geben: Ist es nicht ein höherer Egoismus, uns in dieser Art mit uns selbst zu beschäftigen? - Solange wir nichts von Geisteswissen­schaft erfahren haben, ist es unser Karma, zu warten. Haben wir aber einmal von dem in uns schlummernden höheren Menschen gehört, ist es unsere Pflicht, dasjenige zu tun, was seine Kräfte zur Entwickelung bringen kann, um unsere Aufgaben in der Welt besser zu erfüllen. Wir

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können also hier nicht von Egoismus sprechen, sondern nur von Ver­pflichtung unserem geistigen Menschen gegenüber.

Dies ist der richtige Standpunkt des Theosophen gegenüber dem äußeren Leben. Theosophie gibt uns eine Anzahl von Mitteilungen, welche durch die Geistesforschung gewonnen sind. Doch deshalb braucht nicht jeder, welcher Theosophie leben will, ein Geistesforscher zu sein. Je mehr wir den Weg unserer inneren Entwickelung gehen kön­nen, desto besser ist es. Aber bevor wir selbst Resultate auf dem Gebiete der Geistesforschung erzielen, müssen wir uns ihre Inhalte von anderen erzählen lassen. Wenn wir uns genügend lange Zeit die Frage vorgelegt haben, bestätigt uns das äußere Leben die Mitteilungen der Geistesfor­scher. Haben wir diese Mitteilungen durch gesunde Logik begriffen, so ist uns die Möglichkeit gegeben, zu höheren Welten aufzusteigen. Ver­nunft und Logik sind dazu die sichersten Führer.

Die Frage kann entstehen: Wie sollen wir diese Mitteilungen ver­wenden? Wie uns zu ihnen verhalten? - Nehmen wir die Wahrheit, welche wir als das Gesetz von Karma bezeichnen. Es besagt, daß wir in späteren Erdenleben Ereignisse finden, die auf frühere Inkarnationen zurückweisen. Je mehr wir ein solches Gesetz der geistigen Forschung im Leben anwenden, um so mehr werden wir sehen, wie wahr es ist. Wie wir in der Sinneswelt niemals ein Dreieck finden, dessen Winkel nicht in der Totalsumme 180 Grad ergeben, so müssen uns die Ver­hältnisse des Lebens immer bestätigen, was in der geistigen Forschung als Gesetz erkannt wird. Und wenn die karmischen Wirkungen uns nicht übereinstimmend erscheinen, so wird dies allenfalls der gering­fügigen Abweichung entsprechen, die sich beim Ausmessen eines Krei­ses mit Hilfe des Planimeters ergeben mag. Das Resultat wird viel­leicht das eine Mal 361 Grad ergeben und das zweite Mal 359, aber das hebt nicht das Gesetz in sich selber auf. Ebensowenig wird das Gesetz der Schwerkraft umgestoßen, weil man durch einen Stoß das Lot einer Fallmaschine zur Seite schwingen läßt. Das beweist nur, daß ein anderes Resultat erreicht wird, wenn eine neue Kraft hin­zutritt.

Die Geistesforschung zeigt ferner, wie uns innerhalb des Lebens zwischen Geburt und Tod Wiederholungen vorangegangener Zeitabschnitte

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entgegentreten. Was wir uns zum Beispiel in der ersten Kind­heit zwischen dem dritten und siebenten Jahr aneignen, tritt uns in seiner karmischen Auswirkung im höchsten Lebensalter entgegen. Un­tersucht man, wie jemand seine erste Kindheit zubringen durfte, wird man in seinem Alter einen merkwürdigen Zusammenhang mit diesen Kindheitsjahren entdecken. Wenn er, statt unter dem äußeren Zwange gewisser Regeln gestanden zu haben, gesunde Bedürfnisse entwickelt hat, wird sich sein Alter anders gestalten. Vielfach pfropft man aber hinein, stopft hinein in die kindliche Seele, was man für richtig hält. Darauf kommt es jedoch nicht an, sondern das Kind muß das Bedürf­nis bekommen, aus freiem Antrieb dies oder jenes zu tun. Es stellt sich dann heraus, daß der Mensch sich im Alter seine Gesundheit erhalten kann, daß er sich bis in seinen letzten Lebensabschnitt Frische und in­nere Kraft bewahrt.

Es gibt indessen noch viel bedeutsamere Zusammenhänge. Aus der Schrift der Menschen können Sie viel von dem erfahren, wie sich ihre Vergangenheit gestaltet hat.

Während des Alters von sieben bis vierzehn Jahren ist es nötig, daß der Mensch nicht zum vorzeitigen Gebrauch seiner Vernunft er­zogen wird. Die Autorität muß bewirken, daß Wahrheit uns da als solche erscheint. Wenn wir die Menschen bewundern können, die uns in diesem Lebensabschnitt umgeben, kommt uns dies in unserem vor­letzten Lebensabschnitt merkwürdig zustatten. Andächtiges Hinauf­schauen zu Naturwundern, Stimmung zum Gebet sind segensreiche Faktoren für später. Frohe Anerkennung der Autorität kommt zurück, gewandelt in einer Weise, die selbstverständlich macht, daß ein solcher Mensch Autorität hat. Andacht, die Kinder in diesem Zeitabschnitt zu entwickeln imstande sind, hat zur Folge, daß sie zu Menschen werden, die ohne etwas zu tun, bloß in der Gemeinschaft anderer zu sein brau­chen, um wie segnend zu wirken. Die Hand, die sich niemals in An­dacht mit der anderen falten konnte, wird nie segnen können. Wer niemals gelernt hat, die Knie zu beugen, wird nie segnen können. Wenn Sie ein solches Gesetz durchdrungen haben, werden Sie es bestätigt finden. Auf diese Weise kann man die Wirkung des Karmagesetzes bereits im Zeitraum eines Menschenlebens verfolgen. So liefert uns das

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Leben überall Beweise für eine auf allen Gebieten wirkende Gesetz­mäßigkeit.

Es können natürlich Umstände eintreten, welche das Gesetz ka­schieren. In der Physik kennen wir zum Beispiel das Gesetz des Falles. Denken wir uns einen Gegenstand, der in einem beliebigen Augenblick ohne Stütze, ganz sich selbst überlassen sich durch den Raum bewegt. Infolge des erwähnten Gesetzes wird sich dieser Gegenstand mit zu­nehmender Schnelligkeit der Erde nähern, bis er auf die Erde stößt. Der Gegenstand wird sich nach ganz bestimmten Gesetzen in der Rich­tung nach dem Mittelpunkt der Erde zu bewegen, er wird fallen. Den­ken wir uns weiter, daß plötzlich der im Fallen begriffene Gegenstand von einem horizontal gerichteten Schlag getroffen wird. Der naive Beobachter, der an der betreffenden Stelle der Erde die Ankunft des infolge des Gravitationsgesetzes senkrecht fallenden Gegenstandes er­wartet, wird in diesem Falle vergebens warten. Der Gegenstand bleibt weg. Ist darum das Gesetz des Falles aufgehoben? Durchaus nicht. Durch den horizontal geführten Schlag ist nur eine neue Kraft hinzu-getreten, und der Gegenstand bewegt sich unter deren Wirkung nun­mehr in einer Kurve, welche dem Resultat der Schwerkraft und der später hinzugekommenen Kraft ganz gesetzmäßig entspricht, der Erde zu. An der Stelle, wo der Gegenstand unter diesen Umständen den Bo­den trifft, wird sein Fallen von einem beliebigen Beobachter als etwas ganz Zufälliges, Unberechenbares betrachtet. Dem ist aber nicht so. Die Gesetzmäßigkeit ist vollständig und unbestechlich.

Dasselbe gilt in vollem Maße für das Karmagesetz, obwohl wir ihm nur selten in allen seinen zusammengesetzten und verwickelten Wir­kungen folgen können. Darum ist der Mensch stets geneigt, an sei­nem Karma zu zweifeln. Aber wie uns auch die äußere Maja verwirrt, wir sollen uns nur von dem belehren lassen, was Gesetz in unserer Seele geworden. Viele, welche in sich die Kräfte des Geistigen entwickeln wollen, werden es nicht für leicht halten, denn immer drängt sich das Leben, das physische, hinein. Da braucht nur etwas in unserem Dasein ein Hemmnis zu sein, wie leicht werden wir uns durch verkehrtes Ur­teil etwa zu Beleidigungen hinreißen lassen, ohne an die Folgen unseres Handelns zu denken. Wir geben einem Menschen einen Schlag und

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wissen nicht, daß wir die Hand gegen uns selbst erhoben, denn dieser Schlag wird uns zu seiner Stunde wieder treffen. Überall wirkt das Karmagesetz. Alles was uns im Leben trifft, geschieht unter dem Ge­setz des Karma. Aber dadurch, daß wir dieses Gesetz bloß als eine Lehre, als Theorie betrachten, werden wir noch nicht Theosophen.

Es gibt zwei Gefühle, welche wir uns aneignen müssen, wenn wir an unserem geistigen Menschen arbeiten wollen. Auf der einen Seite mussen wir uns sagen: Alles an uns kann noch vollkommener sein, nirgends ist eine Grenze im Aufsteigen. - In jedem Augenblick muß das Gefühl der Unvollkommenheit uns anspornen, höher und höher steigen zu wollen auf der Leiter der Vollkommenheit, die keine höchste Sprosse kennt. Das müssen wir uns immer wieder vor die Seele führen, sonst kommen wir in unserer Arbeit an unserem geistigen Menschen keinen Schritt weiter. Andererseits sollen wir uns sagen: Noch ein zweiter Schritt ist notwendig. - In jedem Augenblick sollen wir fühlen, daß eine unendliche Möglichkeit zur Vervollkommnung in uns liegt. Wir sollen unseren verborgenen Menschen so groß als möglich machen. Das ist ein scheinbarer Widerspruch, und der Mensch muß ihn als solchen fühlen. Zwischen diesen beiden Punkten, dem Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und dem Streben, den verborgenen Men­schen so groß als möglich zu machen, liegt die Entwickelung einge­schlossen.

Derjenige, der als Mystiker strebt, der in sein eigenes Innere hinein-steigt, der durch eine innere Vertiefung vorwärts will, muß durch den ersten Punkt hindurchgehen. Er muß sich die Demut aneignen. Die beste Regel, welche ein Mystiker sich setzen kann, ist die: sich alles, was ihm im eigenen Inneren entgegentritt, so unvollkommen wie mög­lich zu denken, ganz und gar abzusehen von der eigenen Persönlichkeit. Denn wer in sein eigenes Innere hineinsteigt, muß darauf vorbereitet sein, furchtbare Dinge zu erleben. Geschichten tragischen Erlebens spielen sich in der inneren Welt des Menschen ab, der sich in die Tiefen seines eigenen Wesens wagt. Ein Tauler, ein Eckhart, ein Paulus kön­nen davon Kunde geben. Und wie war die Hilfe, welche diese gegen die Gefahren suchten? Paulus sagt: Nicht ich, sondern der Christus in mir will handeln. - Nehmen Sie mit sich den Meister, das Ideal, aber

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empfinden Sie daneben, daß die Egoität ausgetrieben werden muß. Nicht von ihrem eigenen Ich sollte alles gefühlt, gewollt und ausge­dacht sein. Ihr unwürdiges Ich mußte hinausgetrieben werden. Dieses Gefühl ist sehr ähnlich dem Schamgefühl beim gewöhnlichen Men­schen. Ein anderer sein wollen, ein anderes in die eigene Seele hinein-organisieren wollen, das ist der Weg der Mystik.

Und was gehört zum Weg des Okkultismus? Der Weg der Okkul­tisten führt in die Außenwelt. Will der Mensch den okkulten Weg verfolgen, muß er so leben, daß er sich allmählich gewöhnen lernt, wenn er während des Schlafes aus seinem Körper herausgetreten ist, die höhere Welt zu ertragen. Er muß sich ein Gefühl aneignen, ins Un­endliche sich zu vervollkommnen. Aber auch hier kommt ihm eine Gefahr entgegen, wie dem Mystiker, wenn er in sein eigenes Innere hinuntersteigt. Die Gefahren, welche den Mystiker treffen, durften wir nennen; der Mystiker selbst berichtet darüber. Von den Wegen des Okkultisten wird nicht erzählt. Ein jeder muß sich selbst mit dieser Gefahr bekanntmachen.

Wenn wir in unser eigenes Innere blicken, so wäre es schlimm, wenn wir nicht gelernt hätten, uns als eine Einheit zu empfinden, die ausge­gossen über unser ganzes Wesen ist. Dieses Sich-halten-Können an eine Einheit wird durch jede Leidenschaft, die uns überkommt, zerrissen. Zorn, Neid, Haß zerstören unsere Kraft, den Blick auf die Einheit richten zu können. Und am schlimmsten ist es, wenn wir nicht gelernt haben, uns zu konzentrieren, wenn wir bald hierhin, bald dorthin ge­trieben werden. Fest und unbeeinflußt müssen wir lernen, uns als Ein­heit zu fühlen.

Suchen wir aber als Okkultist den Weg in die Außenwelt, so müs­sen wir unsere Persönlichkeit, wie sie eben charakterisiert wurde, aus­scheiden. Hier darf man nicht eine Einheit suchen, welche der ganzen Außenwelt zugrunde liegt. Denn wenn wir uns in die geistige Welt hin­auswenden, treffen wir auf eine unendliche Mannigfaltigkeit von We­sen und Verhältnissen. Wollte der Okkultist versuchen, in die All-einheit einzudringen, welche hinter der ganzen manifestierten Welt liegt, so würde er zugrunde gehen. Denke man sich den Tropfen einer roten Flüssigkeit, und dieser Tropfen würde hineingegossen in ein

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großes Bassin mit Wasser. Flüssig, wie der Tropfen ist, würde er sich sofort in der Wassermasse auflösen, er würde zerfließen. So ergeht es dem ungefestigten Ich, wenn es in die Welt der Alleinheit eintreten will. Wir dürfen nicht wagen, allein dort eindringen zu wollen, denn wir verlieren uns, wie der rote Tropfen sich in der Wassermasse verliert. Wenn wir in das Astralreich eintreten wollen, werden wir auf eine Vielheit hingewiesen. Bei der Vielheit müssen wir anfragen, bei den Wesen, die höher stehen als wir, bei denen, die stufenweise selbst eine höhere Entwickelung durchgemacht haben, bei den Hierarchien jener Welt. Wir dürfen nichts überspringen wollen, denn eine Vermessen­heit würde es sein, gleich bis zum Höchsten vordringen zu wollen. Wir müssen stufenweise lernen, mit Hilfe der höheren Wesen zu studieren, wenn wir die Alleinheit begreifen wollen. Der Hochmut zum Höchsten vordringen zu wollen, bringt sicher zu Fall. Wir müssen nicht aus un­seren monotheistischen Vorstellungen heraus uns verleiten lassen zu glauben, daß wir, wenn der Schleier, der uns von der geistigen Welt trennt, zur Seite gleitet, nur eine einzige göttliche Alleinheit sehen. Es ist die Vielfältigkeit, in welche wir schauen, und auf die Vielfältigkeit müssen wir unseren Blick richten.

Aber wie sollen wir uns zurechtfinden? Pythagoras hat gesagt: Su­chet die Vielfältigkeit nicht mit euren Augen, Ohren und Sinnen, su­chet sie durch die Zahl! - Gerüstet mit der Zahl, sollen wir uns der Vielfältigkeit nähern. Wie der Mystiker das Ideal der höheren Ver­vollkommnung in sein Inneres gießen muß, so muß der Okkultist an die Zahl appellieren. Und hier ist eine Eigenschaft absolut notwendig, nämlich die Sicherheit. Wir müssen uns sicher fühlen. Denn wenn der Mensch schwankt, was ist er da? Ein Irrlicht, ein flackerndes Licht, und die Welt ist ein Labyrinth. Wir brauchen einen Ariadnefaden, um zurückfinden zu können. Die Zahl macht uns fest, sie müssen wir im Auge haben. - Wenn du in die geistige Welt eintreten willst, mußt du aus dir selbst heraustreten, du mußt zunächst in das Chaos des Vielen gehen. - Wie finden wir den Faktor? Wo ein ordnendes Prinzip? Durch die Zahl, durch die Gesetzmäßigkeit der Zahl finden wir es. Wir müs­sen in das Wesen der Zahl eindringen und ihren wirklichen Wert ken­nenlernen. Die Zahl allein kann uns in dem Labyrinth zum Führer

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werden. Die Zahl kann uns vieles lehren, und gewissen Zahlen liegen tiefe Geheimnisse zugrunde.

Nehmen wir die Zahl Zwei. Alles was ins Leben tritt, offenbart sich in der Zweizahl. Rechts nicht ohne Links, Licht nicht ohne Dunkel. Alles was nach außen sich manifestiert, steht unter der Zweizahl. Die Zweizahl ist die Zahl der Offenbarung, die Zahl der Manifestation.

Die Dreizahl ist die Zahl der Gesetzmäßigkeit des Seelischen: Den­ken, Fühlen und Wollen. Insofern etwas sich im Seelischen organisiert und gliedert, steht es unter der Dreizahl. Wo die Dreizahl sich als ein Gesetzmäßiges enthüllt, liegt ein Seelisches zugrunde. In unzähligen Beziehungen können wir die Dreizahl finden. In den drei Logoi haben wir die drei Grundkräfte, die auf etwas Göttlich-Seelisches zurück­weisen.

In bezug auf alles Zeitliche gilt die Siebenzahl: Saturn, Sonne, Mond, Erde, Jupiter, Venus und Vulkan, welches die sieben aufein­anderfolgenden Evolutionszustände bezeichnen.

Wo wir etwas gleichzeitig zusammenwirken sehen, bekommen wir die Zwölfzahl: die zwölf Götter, die zwölf Apostel und so weiter. Hiermit hängt auch die Reduktion der Fixsterne auf die zwölf Zei­chen des Tierkreises zusammen. Die Zwölfzahl lehrt uns noch eine an­dere Gesetzmäßigkeit. Denken wir an den Materialismus. Ist der Ma­terialismus falsch? Er braucht es nicht zu sein, solange der Mensch ihn nicht in das Seelische hineinträgt. Will man Materialist sein, so muß man dem Vitalismus huldigen, dann lernt man das materielle Leben begreifen. Einen anderen Gesichtspunkt muß man aber für das See­lische und für das Geistige wählen. Wollen wir die Welt in ihrer Fülle begreifen, so müssen wir in der Lage sein, uns auf verschiedene Stand­punkte zu stellen. Wir müssen den praktischen Geistesweg gehen.

Nun hört man wohl einen Menschen den Grundsatz aussprechen:

Du mußt dir ein gewisses System machen, wenn du in die höheren Welten eindringen willst. - Das ist aber der schlechteste Weg, den man gehen kann. Man soll dagegen erst aus seiner eigenen Persönlichkeit heraustreten: von dem Mittelpunkt, den diese Persönlichkeit in ihrem Dasein einnimmt, bis an den Horizont unseres physischen Daseins, und erst hier im Horizont sollen wir uns auf einen bestimmten Standpunkt

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stellen, zunächst den materialistischen, und diesen von innen heraus, von dem einen Gesichtspunkt betrachten, wodurch wir, wie schon er­wähnt, das materielle Leben kennenlernen. Dann erst können wir um den Horizont herumschreiten und uns zwölf verschiedene Gesichts­punkte wählen. Das ist der einzige Weg, der zur eigentlichen Erkenntnis führen kann. Der praktische Okkultist muß sehr selbstlos werden, ehe er den Horizont im Kreise abschreiten kann. Dadurch, daß er zwölf­mal sein persönliches Ich vergessen muß, erhält er die Einheitlichkeit im Äußeren wie im Inneren.

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WEGE UND ZIELE DES GEISTIGEN MENSCHEN Dritter Vortrag, Kopenhagen, 5. Juni 1910

Wenn man aus dem alltäglichen Bewußtsein heraus den Menschen fragt: Was ist es, was man das Ich nennen kann? - so würde einem die Antwort werden, dieses Selbstbewußtsein müßte man innerhalb der Grenzen suchen, welche die Haut umschließt. Unsere Auffassung kann bewiesen werden durch den Umstand, daß der Sitz der Seele im Kopf und im Herzen zu suchen ist. Aber im Sinne der Geisteswissenschaft ist das anders, nur ist dies nicht leicht zu erkennen.

Man kommt der geistigen Wirklichkeit näher, wenn man versucht, die übersinnlichen Tatsachen sich klar zu machen. Mit den Begriffen und Worten, die sich der Mensch ohne diese Forschungen macht, kommt er der Wahrheit nicht näher. Man wird einen guten Begriff bekommen, wenn man an ein einheitliches Bild anknüpft.

Denken wir an einen Schiffer, der das Meer befährt. Da bildet alles Außerliche das Wesentliche, das Bestimmende; da kommt es für die Leitung des Schiffes darauf an, ob das Meer still oder bewegt ist, ob im Meere Inseln auftauchen, ob der Himmel sich bewölkt und an­deres mehr. Auf alle diese äußeren Tatsachen hin ergreifen sowohl Ka­pitän wie Matrosen ihre Maßnahmen, alle äußeren Tatsachen sind das Wesentliche für sie. Nun könnte mancher meinen, wenn das Schiff in den Hafen eingelaufen ist, ruhe es, da wäre alle Arbeit für eine Zeit­lang aus. Das ist aber nicht so. Da beginnt eine andere Arbeit. Da ver­richtet das Schiff nicht mehr die Arbeit, sondern es wird an dem Schiff gearbeitet. Es wird ausgebessert, was während der Fahrt gelitten hat. Der Schiffsraum wird mit neuer Ladung gefüllt und so weiter. So kann die Fahrt und das Stilleliegen des Schiffes im Hafen verglichen wer­den mit dem Menschenleben, mit dem Leben während des Tages und dem Leben während der Nacht. Nur gibt es einen einzigen Unter­schied, und das ist der, daß der Mensch sich um die Nachtarbeit nicht kümmert. Das Schiff muß während der Hafenarbeit für die Weiter­fahrt durch Arbeiter und Matrosen brauchbar gemacht werden. Alles aber, was während der Tagesarbeit den Menschen durch die Sinne zum

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Handeln treibt, hört nachts auf zu wirken. Unsere Sinne, die während des Tages in unserem Körper die Arbeit ausgeführt haben, ruhen wäh­rend der Nacht. Die Arbeit des Tages ruht wie das Schiff im Hafen. Und doch geht im Menschen eine Arbeit vor, die ihn fähig macht, eine neue Tagesarbeit zu beginnen.

Dadurch kommen wir dem Begriff näher, was das eigentliche Gei­stige im Menschen ist. Es wird nicht umschlossen von der Haut des Menschen, sondern es reicht über den physischen Menschen hinaus. Das eigentlich Geistige erstreckt seine Fühlhörner in den Menschen hinein, es sendet das Wesentliche, das Geistige in den Menschen hinein.

Wo sitzt das eigentliche Ich im Menschen? Außerhalb des Men­schen, um den physischen Menschen herum findet man den geistigen Menschen, den übersinnlichen Ich-Menschen. Und wenn wir die menschliche Aura betrachten, die wie ein Ei geformt ist, so wird das Ich-Bewußtsein am wirksamsten in der Schale, in dem aurischen Ei zur Geltung kommen. Diese Tatsache führt erst zur richtigen Lösung des Problems.

Ich habe auf zwölf Punkte im Horizont hingewiesen. Sie muß der Okkultist kennen. Sie existieren dort, selbst wenn sie nicht von einem jeden erkannt werden. Diese zwölf Punkte senden ununterbrochen ihre Kräfte in den Menschen hinein; er wird von diesen zwölf Punkten aus in den verschiedenen Punkten seiner Aura angegriffen. Nur dadurch, daß sein Ich ihn umgibt, ist er imstande, die kosmischen Kräfte eins mit sich zu machen. Der Mensch muß fühlen, daß er dem Weltall an­gehört. Dadurch kommt er in die Wahrnehmungsfähigkeit hinein, und dadurch wird es ihm möglich, sich die mit den genannten Punkten korrespondierenden Auffassungsfähigkeiten anzueignen. Er ist einge­bettet in diese zwölf Punkte. Die göttlich-geistigen Kräfte wirken durch diese Punkte auf den Menschen herein. Wenn Sie das ins Auge fassen und betrachten können, werden Sie die Wege und Ziele des gei­stigen Menschen begreifen.

Der Mensch muß dieses Gefühl in sein Leben einfügen können. Durch Geisteswissenschaft wird er bekannt werden mit einer Summe von Kräften, durch welche er diese Umwandlungen in sich selbst voll­bringen kann. Denken wir einmal an das ganz alltägliche Leben. Da

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hastet einer durch die Welt hin, und vieles kommt ihrn in den Weg, über das er nachdenken könnte, was er verarbeiten könnte in seinem Geiste, aber er bemüht sich nicht im geringsten, das Erlebte in Arbeit umzusetzen oder auch nur tiefer darüber nachzudenken. Nur «erle­ben» will er und von einer Sensation zur anderen jagen.

Eine andere Sorte Menschen gibt es, die durchs Leben gehen, ohne im mindesten auf die äußere Welt achtzugeben. Sie grübeln und spe­kulieren über ihre eigenen Gedanken. Was um sie her vorgeht, bemer­ken sie nicht; immer und immer grübeln sie. Beide Extreme sind dem Menschen nicht zum Heil. Aber es gibt eine Mitte und das ist die: Alles Erlebte mit eigenen Gedanken zu durchweben. Dieser Mittelzustand ist der heilsamste für den Menschen der Außenwelt.

Nehmen Sie an, ein junger Mann bereitet sich zum Examen vor. Er hat fleißig gearbeitet, die Examenszeit kommt heran und mit ihr die Examensangst. Immer wieder tritt dem jungen Menschen vor Augen, daß an dem Examenstage gerade das gefragt werden könnte, worin er sich am wenigsten fest fühlt, das, was er nicht sicher weiß. Das arbeitet in seinen Gedanken. Das Examen ist glatt gegangen, es ist ausschlag­gebend für das ganze Leben. Es ist das Tor zu seinem ferneren Leben. Nun kann es kommen, daß er im weiteren Verlauf seines Daseins von einem Traum verfolgt wird, und in diesem Traum taucht die Examens-angst seiner Jugend in ihm auf, alles, was er damals nicht zu wissen glaubte. Innig verbunden ist die Seele damit, und der okkulte Beob­achter sieht das Gewebe, das im Traum gesponnen wird. Was da ein­gewebt wird, hat gar nicht zum Leben, das verflossen ist, beigetragen. Der Okkultist weiß aber, daß es im nächsten Leben zu nützlichen Kräften werden kann.

Es kann auch anders kommen. Vom fünfundvierzigsten Jahr ab hört der Traum auf. Der sich selbst Beobachtende findet heraus, daß ganz neue Charaktereigenschaften zutage treten. Da kann es zum Bei­spiel erlebt werden, daß er in vorgeschrittenen Jahren über weit mehr Mut verfügt, als er je in seiner Jugend besessen hat. Die Angstzustände seiner Jugend und der damit verbundene Wille, sie zu besiegen, haben im inneren Menschen ihre stille Arbeit getan; nach fünfundvierzig Jahren haben sich diese Kräfte verwandelt in umgekehrte Kräfte. Im

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Inneren des Menschen webt und arbeitet stets etwas, und was da arbei­tet, ist der astralische Leib. Er arbeitet so lange im Ätherleib, bis sich das Erlebte in den Ätherleib eingesponnen hat und wirklich zu einer Eigenschaft geworden ist. Unter gewöhnlichen Verhältnissen tritt es erst im nächsten Leben als Eigenschaft auf, aber es können auch ganz abnorme Fälle, wie der eben genannte, vorkommen.

So verarbeitet der Mensch seine äußeren Erlebnisse, und ebenso verhält es sich mit den außersinnlichen Verhältnissen des Lebens, die fordern, daß wir sie mit dem Ich verarbeiten sollen. Wie arbeitet der geistige Mensch in bezug auf seine äußeren Verhältnisse? Die äußeren Verhältnisse treten an uns heran, von innen heraus aber wird das Ge­webe gesponnen, das unsere Fähigkeiten umwandelt. Wir weben dem Menschen ein, was aus dem Ewig-Geistigen stammt. Zu dem Äußeren müssen wir hingehen, das Geistige aber kommt an uns heran.

Nehmen wir an, daß der Mensch aus dem einen oder anderen Grunde Interesse für eine Sache faßt, zum Beispiel, daß er einen Baum näher betrachten will. Er muß sich dann dem Baume nähern, er muß zu dem Baume hingehen, um zu einem Resultat zu gelangen. Mit gei­stigen Resultaten ist das aber anders. Diese kommen zu uns, wir müs­sen ihr Kommen abwarten.

Das Wesentliche bei äußeren Erfahrungen ist, daß sie vergänglicher Art sind. Aber diejenigen, die auf dem Wege der Tlieosophie zu uns kommen, stehen auf geistigem Grunde. Sie weben wir als etwas Un­vergängliches in unser Inneres ein. Zu dem Äußeren müssen wir hin­gehen, das Geistige aber muß an uns herankommen, und je mehr wir uns fähig machen, das Geistige in uns aufzunehmen, um so mehr kommt aus den geistigen Welten zu uns herangewogt und wird unser Eigentum. Die Menschen, welche als Dichter unter uns leben und etwas geschaf­fen und hervorgebracht haben, sind immer solche, die in vergangenen Zeiten das Übersinnliche in sich einfließen haben lassen. Wir müssen lernen, mehr nachzudenken. Logisch und vernünftig müssen wir den­ken können und dann unsere Seele ganz still machen. Dann werden wir nicht umsonst zu warten haben. Es wird in unsere Seele das entspre­chende Geistige einströmen, zu dem wir selbst den Weg gebahnt ha­ben. Wir müssen lernen, die erwartungsvolle Stimmung einzuhalten.

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Nicht das, worüber wir grübeln, ist das Beste. Wir sollen durch unser Gedankenarbeiten, nicht durch uns selbst alles erlangen wollen. Nur durch scharfes Denken und darauf folgendes Warten können wir un­seren Geist befruchten. Es muß zu uns einströmen, wenn wir die rich­tigen Vorgänge beobachten gelernt haben, und diese Vorgänge müssen zusammenwirken mit Denken, Fühlen und Wollen.

Drei Glieder unseres Seelenlebens gibt es: Denken, Fühlen und Wollen. Ein Mensch sieht eine Rose. Durch sein Gedankenleben er­kennt er sie als eine solche. Er bewundert die Form und die Farbe; da­durch werden gewisse Gefühle in ihm wachgerufen. Er streckt seine Hand aus, um die Rose zu greifen, und drückt dadurch einen Willens­akt aus. Auf welche Weise der Mensch nun aber diese Eigenschaften be­handelt, davon hängen wichtige Resultate ab, die für sein ganzes Leben ausschlaggebend sein können.

Zum Beispiel: Ein Mensch begegnet einem anderen, der ihm eine ausgesprochene Antipathie einflößt. Er sieht, daß er sich von dem anti­pathischen Menschen nicht befreien kann, und das Gefühl, das ihm durch den Zwang bereitet wird, macht ihn zornig. An diesem Vor­gang sind beteiligt Denken, Fühlen und Wollen.

Im täglichen Leben kann man oftmals beobachten, wie verschieden diese Vorgänge verlaufen. Der Zorn des einen ist schnell verflogen, er mag sich nicht lange mit derartigen Gefühlen tragen, und die besseren Gefühle gewinnen in ihm die Oberhand. Ein anderer hingegen trägt seinen Zorn den ganzen Tag mit sich herum, er findet nicht die Elasti­zität, ihn abzuschütteln. Der erste Mensch, der seine Erregungen schnell bekämpft, wird ein seelisch gesunder Mensch bleiben, er wird vielleicht ein hohes Alter erreichen. Der andere, der bei jeder Nichtigkeit in Zorn gerät und lange diesen Zorn mit sich herumträgt, wird früh altern. Die steten andauernden Erregungen werden an seinem Körper zehren.

Ein Sprichwort sagt: Man soll den Zorn nicht mit in seinen Schlaf nehmen. - Da fangen die Affekte an der Seele zu weben an, und wir weben die Leidenschaften in den Menschen hinein. Was wir aus dem Geiste heraus erleben, das wird auf unsere Seele wirken, und es ist ein wesentlich Verschiedenes, ob unsere Erfahrungen nur Theorie bleiben oder ob sie auf das Gefühl übergehen.

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Nehmen wir an, ein Mensch nimmt viel Geistiges in sich auf, und das Aufgenommene dringt in den Menschen ein. Wirklich fruchtbrin­gend wird es für den geistigen Menschen erst dann sein, wenn er das Aufgenommene mit Enthusiasmus und Liebe umfaßt. Da erst wird die Arbeit auch eine Arbeit des inneren Menschen, da saugt er das Geistige heraus und macht es zu einem Teil seines geistigen Ich. Das Gefühl ist es, das uns hilft, das geistig Erworbene zu unserem Eigentum zu machen.

Der Mensch lebt in seiner Aura, und wenn die theosophischen Wahr­heiten vom geistigen Menschen aufgenommen werden, kommt die Aura in starke Bewegung. Das Ich ist der Motor dieser Bewegung. Wie stellt sich dieser Vorgang dem heliseherischen Auge dar? Wenn die Liebe und der Enthusiasmus für die großen geistigen Gedanken den Men­schen ergreifen, wird in der Aura alles lebendig, und das Resultat die­ses höheren Gedankenlebens ist so, daß es reinigend auf die Aura wirkt. Alles materielle Wünschen und Sinnen, das in der menschlichen Aura zum Ausdruck kommt, ballt sich zu Kugeln zusammen, und die Kugeln verdichten sich bei zunehmender geistiger Arbeit mehr und mehr, wer­den kleiner und kleiner, bis das reinigende Licht des geistigen Denkens sie aufgelöst und vertrieben hat.

Wenn das hellseherische Auge einen Menschen beobachtet, welcher einem Sonnenaufgang zusieht, können ähnliche Erscheinungen beob­achtet werden. Da geht bei der andächtigen Freude, welche der Mensch an dem Naturschauspiel fühlen kann, in der Aura des Schauenden ein Ähnliches vor. Solange ein solcher Mensch das Schöne auf sein Inneres wirken läßt, so lange ist die Wirkung dieses Vorganges eine auflösende in der Aura, und viel Schlechtes wird in Gutes verwandelt. Das Sich-Freuen- und Sich-versenken-Können wirkt reinigend auf die Seele, und in solchen Augenblicken ist die Seele imstande, Geistig-Neues in sich aufzunehmen, weil der Strom der höheren Kräfte einen Eingang ge­funden hat.

Aber es kann auch das Gegenteil stattfinden. Wenn ein Mensch ein großes Naturschauspiel, das auf ihn gewirkt hat, in seinen Ge­danken nicht nachklingen läßt, wenn nichts von all der Schönheit in ihm haften bleibt und er sich nach flüchtigem Genuß anderen Dingen

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zuwendet, kann das Folgende eintreten: In der Aura eines solchen Menschen ballt sich alles zusammen. Eine geistig-seelische Aufgabe, die ihm in den Weg trat, ist achtlos beiseite gelegt worden und arbeitet sich jetzt im Dunkeln aus. Da kann es kommen, daß die Lüge in sein Inneres Eingang findet. Die Fähigkeit ausarbeiten, nachklingen zu lassen und nachfühlen zu können, das ist die Arbeit des geistigen Menschen.

Wenn wir alle das lernten, würde die Geisteswissenschaft zu Wegen und Zielen führen, die weithin Segen schafften. Wenn nur Verstandes-arbeiten getrieben würden, wenn Streit und Zwietracht unter den Theosophen herrschten, würde wenig Schlechtes in Gutes verwandelt werden. Das Karmagesetz wird dem Menschen zeigen, auf richtige Weise zu arbeiten.

Wer mit Enthusiasmus die Theosophie empfinden kann und Trost aus ihr zu schöpfen versteht, für den sind die höheren Geisteswissen­schaften segenbringend, denn sie bringen Trost und Kraft in alle Ver­hältnisse. Keiner geht ohne Trost aus diesen Wissenschaften fort. Je größer unsere Ziele, um so mehr wird unser Streben von Idealen durch­drungen sein, und der Mensch trägt sie hinaus in die Welt. Wir treiben Geisteswissenschaft und durchweben mit ihr unseren inneren Men­schen. Sie durchdringt uns, und wir können sie unter andere hinaus-tragen.

Wir müssen an diesen Zielen arbeiten, soviel wir vermögen. Wir ha­ben kein Recht, die Wege und Ziele des geistigen Menschen unbeobach­tet zu lassen. Es ist unsere Pflicht, das Seelische in die physische Welt einzuweben. Der Mensch ist das Eingangstor, das einzige Geistestor in der physisch-materiellen Welt, in welche der Himmel einfließen soll. Lösen können wir das Blei des Materialismus dadurch, daß wir die gei­stigen Wahrheiten eindringen lassen. Erst dadurch, daß der Mensch ar­beitet an der Menschheitsentwickelung, trägt er zum Leben und nicht zum Tode bei. Die Wege und Ziele des geistigen Menschen gehen, heißt:

die Aufgabe verfolgen, das Übersinnliche zum Seelischen zu machen.

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DER HEUTIGE STAND DER PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT München, 26. August 1910

Wenn ich heute den Versuch machen will, mit einigen skizzenhaften Strichen auf den gegenwärtigen Stand von Philosophie und Wissen­schaft hinzuweisen, so liegt der Grund darin, daß im weitesten Um­kreis geisteswissenschaftlicher Anschauungen nicht überall Klarheit darüber herrscht, wie man als Anthroposoph sich in ein richtiges Ver­hältnis zu dem setzen kann, was sonst in der Gegenwart existiert an geistigen, an wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich habe ein paarmal in die Kurse geisteswissenschaftlicher Vorträge Philosophisches eingefügt, anknüpfend an Spezialgebiete. Ich habe im speziellen über die Philo­sophie Hegeis und ihren Zusammenhang mit der Gegenwart gespro­chen. Ich möchte heute das Thema etwas ausgedehnter nehmen und im allgemeinen über die gegenwärtige Lage von Philosophie und Wissen­schaft sprechen. Da ich Ihnen das Thema angekündigt habe und die Teilnehmer an meinen Kursen schon über die Gestalt unterrichtet sind, die solche philosophischen Einstreuungen haben, so werden Sie sich nicht wundern, wenn ich von vornherein sage, daß ich mir in bezug auf Popularität keinen besonderen Zwang auferlegen werde. Ich will mehr das Gefühl hervorrufen, wie man als streng wissenschaftlicher Mensch die Beziehungen von der Geisteswissenschaft zu anderen geistigen Be­strebungen der Gegenwart finden kann. Daß schließlich auf dem Ge­biet der theosophischen Literatur nicht viel Bewußtsein davon vorhan­den ist - was in einem Vortrag, wie der heutige es ist, gesagt werden muß -, das ist ja nicht zu verwundern. In der Regel sind die theoso­phischen Schriftsteller nicht eigentlich Philosophen und kennen gar nicht jene Schwierigkeiten, die dem Philosophen erwachsen, wenn er mit seinem wissenschaftlichen Grundcharakter an das geisteswissen­schaftliche Feld herantreten will.

Natürlich kann ich nur einzelne Dinge herausgreifen, aber ich will sie so herausgreifen, daß Sie, wenn ich zu Ende gekommen bin, ein Gefühl haben können, wie das angedeutete Verhältnis etwa zu denken

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ist. Da will ich zunächst sagen, daß es auf eine empfängliche Seele von vornherein einen gewissen Eindruck machen kann, wenn auf dem Feld der Geisteswissenschaft gesprochen wird von übersinnlichen Erkennt­nissen, von dem Hinaufschreiten der seherischen Forschung zur über­sinnlichen Erkenntnis. Demjenigen, der da glaubt, aus den Voraus­setzungen der Philosophie der Gegenwart heraus an diese Dinge her­anschreiten zu müssen, dem kann und muß aber sogleich, wenn über­haupt von so etwas die Rede ist, der Gedanke kommen, daß die Ein­wendungen, welche die Philosophie gegen mancherlei zu machen hat, was sie unmittelbare Erfahrung, unmittelbare Wahrnehmung nennt, in derselben Weise gelten müssen auch für alles das, was wir sozusagen auf geisteswissenschaftlichem Felde produzieren. Solange wir zum Bei­spiel unsere seherischen Erlebnisse in solche Worte kleiden, daß wir beim Aussprechen - vielleicht bemerken Sie es gar nicht - uns räumlicher oder zeitlicher Vorstellungen bedienen, sobald uns nachgewiesen werden kann, daß wir das tun, sobald wir nicht in der Lage sind, unsere Termi­nologie so auszugestalten, daß wir an den entsprechenden Stellen nicht versteckterweise Raum- und Zeitvorstellungen in unsere Feststellungen hineinfügen, so lange kann immer ein Kantianer oder irgendein anderer Erkenntnistheoretiker der Gegenwart kommen und einwenden - ent­weder in der alten Form oder in den verschiedenen Formen, welche diese Theorien in der neueren Zeit angenommen haben -, daß erkennt­nistheoretisch feststehe, Raum und Zeit selber seien bloße Kategorien oder Formen unseres Vorstellens. Wenn wir auch unsere seherischen Ergebnisse in solche Formen einkleiden, die von Zeit und Raum her-genommen sind, gäben wir dennoch schon dadurch etwas, was an un­sere Vorstellungsfähigkeit gebunden ist. Also im Grunde - ich weiß, daß der Ausdruck hier anfechtbar ist - drückten wir doch dann mit allen unseren seherischen Ergebnissen nur etwas Subjektives aus. Das ist ein möglicher Einwand, der immer gemacht werden kann. Ich will ihn erwähnen als ein Beispiel von zahlreichen anderen Einwänden, die aus erkenntnistheoretischen Voraussetzungen heraus mit Recht for­muliert werden können.

Wenn wir solche Einwände uns als Geisteswissenschafter selber sachgemäß machen können, dann haben wir erst das volle innere Recht

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errungen, gewisse Aufstellungen zu machen. Das begründet nicht, daß wir uns nicht aus dem inneren Wahrheitssinn heraus gewissen Mittei­lungen hingeben sollen. Das sollen wir, denn der innere Wahrheitssinn kann uns in richtiger Art führen. Aber gegenüber der Geistesbewegung der Gegenwart sind wir erst dann gewappnet, wenn wir uns solche Einwendungen selber machen und - wenigstens innerhalb unserer eige­nen Ausarbeitung - diese Einwände bewältigen können.

Wir müssen zwischen zweierlei Einwendungen einen Unterschied machen. Gewiß, die Einwände gegen die Geisteswissenschaft werden nur so hageln von allen Seiten. Wenn wir in der Lage sind, was da her­anhagelt, selber zu wissen, selber ausmachen zu können, und dann ein-fach mit dem, was wir darüber zu sagen haben, nicht gehört werden, dann liegt die Schuld an den anderen, dann können wir es abwarten -wie wir es auch müssen -, bis die Menschen reif geworden sind, unsere Aufstellungen zu verstehen. Tragen aber unsere Aufstellungen den Cha­rakter des Dilettantismus gegenüber den geistigen Bewegungen der Ge­genwart, dann liegt die Schuld an uns, wenn wir nicht in der entspre­chenden Weise unser Lehrgebäude festigen können. Dazu müssen wir imstande sein: zu unterscheiden zwischen dem, wobei die Schuld an uns ist - und sie ist auf vielen, vielen Gebieten lediglich an uns, sie liegt in der theosophischen Literatur, liegt in der Leichtigkeit, mit der man­cher glaubt, in das geisteswissenschaftliche Feld sich hineinfinden zu sollen -, wir müssen also unterscheiden zwischen dem, wobei die Schuld uns trifft, und dem, wo wir ruhig abwarten können, weil wir uns ge­nau das sagen können, was die geistigen Bewegungen der Gegenwart von ihrem Standpunkt aus einzuwenden haben. Wenn wir aber so etwas wollen, dann müssen wir vor allen Dingen uns selber klar sein, worin eigentlich die Unzulänglichkeit der geistigen Bewegungen der Gegen­wart liegt. Wir müssen uns ein wenig fragen können, wie sich diese Geistesbewegungen der Gegenwart entwickelt haben.

Sie wissen aus meinen Vorträgen, daß ich nicht gern meine Meinun­gen zu Markte trage. Die Meinungen eines einzelnen haben im Grunde eigentlich wenig Wert. Ich bin immer bestrebt, auch auf dem Felde der Geisteswissenschaft, rein die Tatsachen durch sich selber sprechen zu lassen. Deshalb möchte ich auch heute nicht Theorien, die in Meinungen

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wurzeln, vortragen, sondern die Tatsachen sprechen lassen. Ich möchte eine Tatsache vorführen, an welcher wir uns veranschaulichen können, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die denkerische Unzu­länglichkeit heraufentwickelt hat, in gewisser tieferer Art hineinzu­dringen in das, was das Denken doch geben kann, wenn es nur genügend eindringlich, wirklich scharf, wirklich durch seine Voraussetzungen gegebene Konsequenzen zieht. Die Theosophie erweist sich oft so matt­herzig gegen die Einwände, die ihr gemacht werden, weil ihre denke­rischen Waffen stumpf geworden sind.

Wenn wir bloß vom Denkerischen sprechen - ich weiß alles, was eingewendet werden kann gegen das, was jetzt gesagt wird, aber die Sache wird sich für jeden, der in die Geistesentwickelung des 19. Jahr­hunderts eindringt, doch so darstellen -, wenn wir vom rein Den­kerischen zunächst ausgehen, dann müssen wir sagen, daß in bezug auf die Schärfe des Denkens, in bezug auf Gedankenkristallisation in der Seele ein gewisser Höhepunkt philosophischer Entwickelung doch durch Hegel erreicht worden ist. Man mißversteht Hegel, wenn man so leichtfertig über ihn redet, wie es seine Gegner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan haben. Sie haben sich vorgestellt, daß He­gel darauf ausgehe, alles aus dem reinen Gedanken an Inhalt heraus­zuspinnen, was er über die Welt zu sagen hat. Sie haben nur nicht be­rücksichtigt: Hegel erhebt nirgends die Prätention, daß das mensch­liche Subjekt irgend etwas von wirklichem Weltinhalt aus dem reinen Gedanken herausheben wolle. Man muß berücksichtigen: Hegel steht durchaus auf dem Standpunkt, daß der Gedanke selbst, der innerlich lebendige Gedanke, der regsame und produktive Gedanke es ist, der aus sich heraus den Welteninhalt holt, und daß wir mit unserem Er­kenntnissubjekt nichts anderes sind als der Schauplatz, auf dem der Gedanke arbeitet. Wenn wir die Sache so, wie sie sich tatsächlich im Verlauf des geistigen Lebens darstellt, nehmen, so müssen wir sagen:

In dieser Tendenz Hegels liegt seine ganze monumentale Größe. Aber auch: es liegt die ganze Schwäche der Hegelschen Philosophie darin. Die Größe darin, daß Hegel für jeden, der sich wirklich mit ihm durch­dringen will, in einer vorher schier ungeahnten Weise der Lehrer für eine Disziplin des Denkens werden kann, wie wir sie uns auf keinem

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anderen Weg erwerben können. Gerade der Theosoph sollte sich diese starke Disziplin des Denkens aneignen. Kommt doch eine Unsumme von Irrtümern, von unrichtigen Überzeugungen einfach dadurch zu­stande, daß unser Denken es nicht bis zur kristallenen Klarheit einer denkerischen Disziplin bringen kann, wie man durch das Hegelsche System sie lernen kann. Man kann sich durch das Hegelsche System er­ziehen. Man sollte sozusagen in jedem Vortrag, wo man die Verant­wortung gegenüber Erkenntnis und Wahrheit fühlt, von den Ergeb­nissen solcher denkerischen Disziplin durchdrungen sein. Man sollte sich angewöhnen, an keiner Stelle ein Wort zu gebrauchen, das nicht seinem vollen Umfang und Inhalt nach von uns zuerst empfunden und erlebt worden ist. Wenn man, vordringend durch das, was manchem so abstrakt, so trocken und nüchtern erscheint, vordringend durch die Hegelsche Logik, sich diese Disziplin des Denkens einimpft, dann kommt man dazu, niemals zu sprechen von dem Wort Sein, Werden, Dasein, als an solchen Stellen, wo in dem gesamten Gefüge des Vor­trags diese Worte eingefügt werden dürfen, weil man zuerst den gan­zen Werdegang des Inhaltes solcher Begriffe, von den einfachsten, leersten Begriffen bis zu den inhaltsvollsten verfolgt hat. Von dieser inneren Disziplin des Gedankens ist im Grunde genommen auch der philosophisch Vortragende von heute und die ganze heutige Literatur ungeheuer weit entfernt. Ich könnte Ihnen leicht den Nachweis führen, daß in weltberühmten philosophischen Büchern der Gegenwart die Autoren nicht einmal in der Lage sind, über drei Zeilen hin prägnant und genau den Inhalt eines Begriffes festzuhalten und nach drei Zeilen bereits einen Begriff, den sie vorher gebraucht haben, in ganz anderer Art wieder gebrauchen. Daß dann eine innere Verworrenheit des gan­zen Gebäudes eintreten muß, welches unsere Gedanken darstellt, er­scheint ganz selbstverständlich. Es wäre, wie gesagt, ein leichtes, Ihnen das an weltberühmten philosophischen Büchern der Gegenwart nach­zuweisen.

Nun haben die Gegner Hegels geglaubt, ihn in leichter Art aus dem Felde schlagen zu können dadurch, daß sie dieses Weben und Wesen des Gedankens auf dem Schauplatz unseres Erkenntnissubjektes nicht ver­standen haben, sondern daß sie geglaubt haben - was Hegel nie eingefallen

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ist -, er wolle den Welteninhalt sozusagen aus dem unmittelbaren Gedankeninhalt des Erkenntnissubjektes herausspinnen. Daß das nicht sein kann, daß man niemals irgendeinen substantiellen Erkenntnisin­halt aus dem jeweiligen Erkenntnissubjekt, wenn dieses nur in Begriffen bleibt, herausspinnen kann, dessen muß man sich nur klar sein. Daher mußte die Hegelsche Philosophie in bezug auf den produktiven Fort­gang des Geisteslebens - und das ist ihre Schwäche - eben aus dem Grund unproduktiv bleiben, weil ihr Grundgedanke, daß der Gedanke selbst es ist, der aus sich herausarbeitet, richtig sein kann, weil aber daraus nicht folgt, daß das Erkenntnissubjekt selber den objektiven Welteninhalt herausproduzieren müsse. Wodurch ist nur möglich, daß das Erkenntnissubjekt Erkenntnisinhalt aus sich heraus gewinnt? Das ist nur möglich, wenn das Erkenntnissubjekt sich selber befruchtet, sich selber fähig macht, Erkenntnisinhalt zu produzieren. Aber dieses Sich-Befähigen kann niemals auf dem Plan des bloßen Denkens er­folgen. Durch das bloße Denken gewinnt man eine Art Überschau, eine Art größere Rückschau über das, was der Menschengeist im welthisto­rischen Werdegang produziert hat. Man kann von einem gewissen Mittelpunkt aus Umschau über die produzierten Gedanken halten. Man kann aber nicht neuen Erkenntnisinhalt gewinnen. Das fühlten die Gegner Hegels. Nur hatten sie ihre Gegnerschaft durchaus von falschen Voraussetzungen aus genommen. Darauf beruht es aber, daß mit dem bloßen Hegeltum zweierlei erreicht ist: eine schier unermeß­lich großartige Disziplin des Denkens, daß aber nicht erreicht wer­den kann produktiver Erkenntnisinhalt. Mit anderen Worten: die He­gelsche Philosophie kann durch sich selber nicht produktiv fortwirken. Hier liegt es, wo die produktiven Erkenntniskräfte einsetzen müssen, wo auch das bis zur Gedankenhöhe heraufgehobene Erkenntnissubjekt Hegels sich entschließen muß, einströmen zu lassen, was Sie zum Bei­spiel als Befruchtungsmittel des Erkenntnissubjektes in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt finden.

So möchte ich sagen: Wenn man ausgeht vom unmittelbar sinn­fälligen Dasein und von jener Bearbeitung, welche der menschliche Verstand mit diesem vornimmt, kommt man bis zu jener Höhe, die man bezeichnen kann als das Leben und Weben des Erkenntnissubjektes

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in dem Bereich des Gedankenplanes. Dann aber ist ein weiterer Fortschritt nur möglich, wenn von der anderen Seite herein, von der dem sinnenfälligen Dasein entgegengesetzten Seite herein, die Befruch­tung durch jene Mittel kommt, welche in diesem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt sind. Sie finden nun in der Literatur, mit welcher ich versuchte, auf diese Dinge nach und nach hinzuweisen - zunächst wie vorbereitet durch meine vorher­gehenden Schriften, zusammengefaßt zuletzt in meiner «Philosophie der Freiheit» -, einen Weg, den man nehmen kann von der äußeren Sin­neswahrnehmung, von der äußeren Bearbeitung des Daseinsmaterials bis herauf zum Schauplatz des Gedankens. Sie finden da auch noch die Eigentümlichkeiten sowohl des Schauplatzes des Gedankens wie auch die Tragweite des reinen Denkens für das Erkenntnissubjekt charakte­risiert. In den folgenden Schriften, die auf dem eigentlich geisteswis­senschaftlichen Gebiet liegen, finden Sie die andere Seite der Welt mit ihren die Erkenntnis befruchtenden Kräften charakterisiert. Sie fin­den erkenntnistheoretisch charakterisiert die seherische Forschung, die Tragweite der seherischen Forschung, welche also gleichsam von der anderen Seite her zufließt.

Wollten wir uns die Sache zeichnen, so könnten wir sagen: Wenn wir uns den Gedankenplan mit dem Erkenntnissubjekt auf diesem Ge­dankenplan charakterisieren, so fließt von der Seite der Sinneswahr­nehmung alles das, was an äußerem, sinnenfälligem Daseinsmaterial durch die Sinne gewonnen werden kann. Innerhalb des Gedankenpla­nes spüren wir das Hegelsche Selbst weben, das, was man die Dialektik des reinen Denkens nennt. Dann aber müssen wir, wenn wir bloß diesen Weg nehmen, stehenbleiben. Wir müssen abwarten, bis wir in der Lage sind, von der anderen Seite her dasjenige in uns einfließen zu lassen, was wir auf dem Wege empfangen können, der durch meine Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» charakterisiert ist. So sehen Sie, daß sich diese Dinge zusammenschließen, und daß das Hegelsche System für einen gewissen Zeitpunkt ein wunderbares Resümee des Menschengeistes war, daß aber, als dieses gegeben war, ganz sachgemäß das einmal eintreten mußte, wozu sich das Hegelsche System nicht erheben kann. Der Plan steht fix, wo das Erkenntnissubjekt

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stehen muß; der kann nicht heraufgehoben werden, der kann nur beschrieben werden von der anderen Seite mit dem, was ebenso erkenntnistheoretisch sichergestellt werden kann. So daß wir nicht einseitig bleiben, sondern uns die Möglichkeit aneignen, die strikte er­kenntnistheoretische Methode auch da einzusehen, wo die bloße Sinn­lichkeit verlassen wird.

Wenn wir das alles ins Auge fassen, können wir fragen: Wie kommt es denn, daß sich die Philosophie selber so abgeneigt zeigt, auf jene lo­gischen Formen einzugehen, durch welche ebenso festgestellt werden kann das, was von der anderen Seite kommt, wie erkenntnistheoretisch festgestellt werden kann dasjenige, was von der einen Seite kommt? -Das kommt davon her, daß diese Philosophie des 19. Jahrhunderts und in das 20. Jahrhundert herein bis jetzt versäumt hat, den Schritt zu machen, der aus dem richtig verstandenen Hegeltum heraus hätte ge­macht werden sollen. Und so kommt es, daß diese Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts keinen Anschluß finden konnte an das, was jen­seits des Gedankenplanes liegt. Allerdings ist der tiefere Grund darin zu suchen, daß die Hegelsche Philosophie von der weiter sich fortent­wickelnden Philosophie wenig verstanden worden ist. Denn wenn man sich zum reinen Gedankenplan herauferhebt, dann ist es ganz unum­gänglich - weil man an der Grenze der übersinnlichen Welt steht-, daß man auch jene logischen Begründungen fühlen kann, die als etwas Be­rechtigtes das Einfließen der übersinnlichen Welt erkennen lassen. Das können Sie so recht fühlen, wenn Ihnen in den gar nicht genug zu schätzenden Vorträgen unseres lieben Dr. Unger entgegentritt dieses Erheben der menschlichen Erkenntniskraft zum reinen Gedanken und dann das Hereinleuchtenlassen der höheren Welten. Daher muß betont werden: Es gereicht zum größten Segen, daß wir in der Lage sind, eine solche Kraft unter uns zu haben, wie Dr. Unger es ist, der auf diesem spirituell-philosophischen Gebiet in der Lage ist, die Erkenntnistheorie des reinen Denkens des Erkenntnissubjektes, welches als Ich auf dem Gedankenplan liegt, im einzelnen auszuarbeiten, auszuführen. Und so haben Sie gerade in diesen Vorträgen das gegeben, was Ihnen Anhalts­punkte geben kann, um Festigkeit zu gewinnen im Verhalten zwischen der Geisteswissenschaft und den anderen geistigen Bestrebungen.

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Wenn Sie diese Philosophie verfolgen, die zum Teil schon in Dr. Ungers Ausführungen gewonnen ist, zum Teil noch gewonnen wer­den wird, und wenn auf dem eingeschlagenen Wege weitergeschritten wird, dann werden Sie sehen, daß diese Philosophie als Philosophie einen ganz anderen Charakter tragen wird als das, was heute als zeit­genössische Philosophie existiert. Ein wirklich nicht unbeträchtlicher Denker hat erst vor kurzem von letzterer etwas gesagt, was im Grunde gar nicht angefochten werden kann. Wenn man unbefangen den Blick auf das schweifen läßt, was in Deutschland und anderen Ländern zu­tage gefördert wird, dann sieht man, daß es sich wirklich bewahrheitet, was dieser Denker gesagt hat, nämlich: wir hätten heute eine Metaphy­sik ohne transzendentale Überzeugung, eine Erkenntnistheorie ohne objektive Bedeutung, eine Logik ohne Inhalt, eine Psychologie ohne Seele, eine Ethik ohne Verbindlichkeit und eine Religion ohne Ver­nunftgrundlage. Das ist eine Charakteristik unserer Zeit aus der un­mittelbaren Empfindung eines nicht unbeträchtlichen Philosophen der Gegenwart. Wie gesagt, ich möchte Tatsachen sprechen lassen, sprechen lassen das, was geschieht. Ob gesagt werden muß, daß er nicht Lust hat, sich auf den geisteswissenschaftlichen Weg zu begeben, oder ob er es nach seinen Gedankensuggestionen nicht kann, mag dahingestellt bleiben - aber gesagt werden muß, daß so derjenige denken kann, der voll im zeitgenössischen Getriebe steht, der aber aus dem Element des Denkens heraus nicht den Ausweg finden kann zu einem übersinnlichen Inhalt. Da müssen gewisse denkerische Voraussetzungen erfüllt wer­den, wie sie sich eigentlich heute in keiner anderen Philosophie finden als in dem, was ich versuchte in meinem Buch über «Wahrheit und Wissenschaft» zu begründen, in dem, was in der «Philosophie der Frei­heit» gegeben ist und in den sorgfältig ausgeführten Gedankenoperatio­nen Dr. Ungers. Da ist aus dem geisteswissenschaftlichen Feld heraus der Ansatz zu einer tatkräftigen Philosophie gegeben, welche es ver­meidet, überall das Theosophische hineinzumischen in ihre Ausfüh­rungen, welche streng philosophisch sein will und gerade durch diese strenge Wissenschaftlichkeit ihre Aufgabe in die Zukunft hinein er­füllen wird.

Nun fragen wir uns aber: Woher kommt es denn, daß, nachdem

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geglaubt worden ist, das Hegeltum abgetan zu haben, das Denken des 19. Jahrhunderts sich in allen Kulturländern nicht aufschwingen konnte zu einer solchen philosophischen Verarbeitung des Denkerischen in un­serem Erkenntnissubjekt - woher kommt das? Es kann nicht meine Auf­gabe sein, auf die tiefen kulturhistorischen Gründe einzugehen - an manchen Stellen tue ich das -, ich möchte heute auf dem Gebiet des rein philosophischen Charakterisierens bleiben. Das kommt daher, daß sich Tatsachen vollzogen haben, daß dem, der den Gang des Geistes­lebens der fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger Jahre aufmerksam verfolgt, nicht entgehen kann, wie im Grunde genommen nur auf ei­nem einzigen Gebiet in der Geistesentwickelung des 19. Jahrhunderts das Denken selber stark geblieben ist, wie es sonst überall zu stumpf ge­worden ist, um die in ihm selbst gelegenen Konsequenzen jeweilig zu ziehen. Nur auf einem einzigen Gebiet fordert auch dem strengen Den­ken des Geistesforschers die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts die höchste Achtung ab, und dies ist kein anderes als die Mathematik. Alles, was auf dem Umfang des mathematischen Gebietes geleistet worden ist, trägt doch die Spuren eines scharfen, durchdringenden Denkens in sich. Daher konnte auch der, welcher zum Beispiel seine naturwissenschaftlich theoretischen Studien etwa in der theoretischen Physik und Chemie gegen das Ende des 19. Jahrhunderts machte, so sehr das Gefühl haben: an den Mathe­matikern liegt es nicht, was uns da überliefert wird an komplizierten Formeln, die man hat absolvieren müssen, wenn man beispielsweise an die Wärmelehre herangetreten ist, an die Vibrationstheorie, an die Clausiussche Theorie und so weiter. Wenn man das durchgemacht hatte, es philosophisch in sich hatte, hatte man das Gefühl: an den Mathematikern liegt es nicht - die Mathematik ist ein wunderbares Instrument geworden, um alles in fein ziselierten Systemen auszuarbei­ten; stumpf waren aber die denkerischen Waffen. So konnte man das Gefühl haben, wenn man mit den mathematischen Formeln auf den verschiedenen Gebieten der Physik und Chemie arbeitete. Soweit man rein innerhalb des Mathematischen bleibt, fühlt man überall Sicher­heit. Sobald man zur philosophischen Charakteristik dessen kommt, was man eigentlich berechnet, ist der Boden überall schwankend. So

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erwies er sich aus den Köpfen derer heraus, die dazumal philosophisch sprachen. Da war nichts anderes zu spüren als der reinste philosophi­sche Dilettantismus, der sich besonders dann zeigte, wenn Naturfor­scher anfingen zu philosophieren, wie etwa Du Bois-Reymond in seinen «Sieben Welträtseln» oder in seinem Vortrag «Über die Grenzen des Naturerkennens». Das ist aber nicht besser geworden. So dürfen wir denn sagen: Wir haben die eigentümliche Erscheinung erlebt, daß das Denkerische, so wie es notwendig von der Geisteswissenschaft verlangt werden muß, stark und exakt nur innerhalb der Mathematik geblieben ist. - Die strengen Anforderungen an das Denken werden heute nicht befriedigt auf irgendeinem anderen Gebiet der Forschung - die stren­gen Anforderungen, die wir vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus stellen - als auf dem mathematischen Gebiet.

Nun möchte ich mich hier nicht auf gewisse Beiträge einlassen -auf die Charakteristik derselben -, die gerade vom mathematischen Standpunkt aus auch auf das Erkenntnisgebiet gebracht werden kön­nen. Ich will nur auf das Symptomatische dieser Dinge hinweisen, dar­auf hinweisen, daß gerade auf dem Gebiet, das sich seine wunderbarste innere Stärke bewahrt hat, auf dem mathematischen Gebiete, am klar­sten hervorgetreten ist, wie das Denken des 19. Jahrhunderts durch sich selbst reif ist, die Hülle zu sprengen, welche das menschliche Er­kenntnissubjekt gegenüber der übersinnlichen Welt abschließt. Und wenn es auch nur Hypothesen sind, manchmal waghalsig behauptet, die rein rechnerisch betrieben worden sind, so müssen wir das, was auf mathematischem Gebiet geschehen ist, doch so nehmen, daß es ein Aus­druck ist für die Sehnsucht des menschlichen Erkennens, hinaus aus der sinnlichen Welt. Und da haben wir gerade auf mathematischem Gebiet diese Sehnsucht sich verwirklichen sehen. Hat doch überhaupt die Ma­thematik in ihren Formen, wo man sie Geometrie nennt, seit dem alten Euklid gewisse Dinge für unerschütterlich gehalten! Wer konnte denn zum Beispiel glauben, daß es irgend etwas Unerschütterlicheres gibt als den Satz: Die drei Winkel des Dreiecks sind gleich 180 Grad -, oder den anderen Satz: Wenn Sie hier eine gerade Linie haben und neben dieser einen Punkt, so können Sie im Sinne der Euklidischen Geometrie durch diesen Punkt nur eine einzige Parallele zu der Geraden

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ziehen. - Das heißt im Sinne der Euklidischen Geometrie ist die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich 180 Grad, und in ihrem Sinn kann man nur eine einzige Parallele zu dieser Geraden ziehen. Das folgt aus den Voraussetzungen der Euklidischen Geometrie. Wer könnte nun glauben, daß das anders sein könnte! Dennoch, und das ist das Be­deutsame - wie gesagt, ich könnte gegen das Inhaltliche manches Pro und Kontra sagen, aber ich gehe nur auf das Symptomatische daran ein, auf die Sehnsucht: heraus aus dem sinnlichen Gebiet; ich will nur charakterisieren-, da ist das Eigentümliche, daß wir im 19. Jahrhundert andere Geometrien haben heraufsteigen sehen, als die Euklidische ist. Also es versuchte die innere Schärfe des Denkens mit dem, was man denkerisch bei der Herausmeißelung geometrischer Wahrheiten zu­grunde legt, es versuchte dieses Denken aus sich selber heraus zu kristal­lisieren eine Geometrie - oder Geometrien, die für etwas anderes gel­ten als für unseren gewöhnlichen Sinnesraum, denn für diesen gilt es, daß man die drei Winkel eines Dreiecks als zusammen 180 Grad an­sprechen muß, daß man durch einen Punkt neben einer Geraden nur eine Parallele ziehen kann. Und wir haben im 19. Jahrhundert Geo­metrien bekommen, die nicht für unseren Sinnesraum nur gelten wol­len, nein. Die Riemannsche und die Lobatschewskijsche Geometrie sind zwei wirkliche Geometrien, herausgeboren aus dem menschlichen Denken nach strengen mathematischen Gesetzen.

Im Sinne der Lobatschewskijschen Theorie sind die drei Winkel eines Dreiecks zusammen stets kleiner als 180 Grad, im Sinne der Rie­mannschen stets größer als 180 Grad. Im Sinne der letzteren können Sie auch durch einen Punkt keine einzige parallele Gerade zu einer anderen Geraden ziehen, im Sinne der ersteren zwei Geraden. Und diese Dinge sind nicht etwa so leicht zu nehmen. Denn wenn der Mathematiker in gewissen Formeln, durch die man jedes spezielle Verhältnis ausdrücken kann, das in der Lobatschewskijschen Theorie gegeben ist, eine ge­wisse Konstante gleich Null setzt, so bekommt er die Euklidische Geo­metrie als einen Spezialfall der Lobatschewskijschen Geometrie. Sie können die Euklidische Geometrie herausschälen aus der Lobatschews­kijschen Geometrie.

Ich will nicht darauf hinweisen, daß mit den Ergebnissen des seherischen

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Forschertums die Festsetzungen weder der einen noch der an­deren der beiden Geometrien stimmen. Sie sind nur ein Beweis, daß die Gedankenoperationen hinausführen können über das Gebiet, das zunächst unseren Raum umschließt. Aber das muß man sagen: Wenn man diese Geometrien in ihrer Tragweite einsieht, so kann man sich Vorstellungen davon machen, daß ganz andere Tatsachenzusammen­hänge vorhanden sind als in der Sinneswelt. Denn letztere drückt sich letztlich in den Formeln der Geometrie aus. Gelten nun für eine Welt andere Formeln als die der Euklidischen Geometrie, so ist diese Welt eine andere Welt als unsere. Und wir können sagen: Mit der Riemann­schen und der Lobatschewskijschen Geometrie ist die Sehnsucht der Geometer gegeben, über die Sinneswelt hinauszukommen, gedanklich etwas zu erfassen, was gar nicht im Bereich der sinnlichen Welt liegt. Deshalb sind diese Nichteuklidischen Geometrien symptomatisch be­deutsam für unser Jahrhundert.

Und nicht minder bedeutsam ist, daß der Franzose Poincare' diese verschiedenen Theorien sehr geistvoll erkenntnistheoretisch verarbei­tet hat. Dadurch allerdings kommt man, wenn man bei der bloßen Ver­wertung dieser außereuklidischen Festsetzungen bleibt, ohne den Schritt machen zu wollen ins Gebiet der Geisteswissenschaft, eben zu dem, wozu Poincaré gekommen ist: in allen unseren geometrischen Feststel­lungen nichts anderes zu sehen als Formeln, die unser Erkenntnisver­mögen hat, um in möglichst bequemer Weise die Tatsachen zu umfas­sen. Und das ist bei Poincaré sehr klar herausgearbeitet. Und auch der Deutsche hat Gelegenheit, durch die verdienstvollen Übersetzungen dieser Bücher, die der Münchner Mathematiker Lindemann besorgt hat, sich eine Erkenntnis zu verschaffen von der Bedeutung dessen, was der ganzen Sache eigentlich zugrunde liegt.

So müssen wir sagen, wenn wir darauf auch nur hindeuten können, daß wirklich in unserer Zeit auf einem Gebiete die Schärfe des Den­kens sich doch ausgelebt hat und daß diese Schärfe des Denkens cha­rakteristisch genug in solchen Versuchen - mögen sie dem einzelnen mit Recht öde und auch noch so hypothetisch erscheinen - gegeben ist: eine Erkenntnissehnsucht aus der uns unmittelbar vorliegenden Welt hinaus.

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Es ist überhaupt nützlich, wenn man wenigstens jene Strenge kennt, welche sich der Mensch durch mathematische Schulung aneignen kann. Denn alles, was mit Berechtigung auf geisteswissenschaftlichem Gebiet produziert wird, muß, insofern ein denkerisches Element dabei in Be­tracht kommt, von diesem streng disziplinierten Denken durchtränkt sein. Das mag hinter den Tatsachen verschwinden; aber wer geistes-wissenschaftlich produziert, sollte sich bewußt sein, daß dieses Den­ken im Hintergrunde stehen sollte. Sonst wird Geisteswissenschaft etwas sein, das leicht von dem, der außer dem Geistigen lebt, zu Tode getreten werden kann. Und man wird nicht überall sagen können, daß böser Wille vorliegt, wenn wir nicht verstanden werden. Das muß nämlich auf geisteswissenschaftlichem Gebiet immer mehr und mehr hervortreten, daß wir an unser eigenes Denken die Anforderungen stel­len, die, man möchte sagen, der strengste Mathematiker an sich stellt. Dadurch, daß uns die seherische Forschung zu Gebote steht, werden wir davor geschützt sein, gleichsam in den Wind hinein mathematische Gebäude zu bauen. Ich sage das, weil eben auch manches Kontra gegen das Gebäude der Riemannschen und Lobatschewskijschen Geometrie zu sagen ist. Ich wollte nur die Erkenntnissehnsucht charakterisieren. Daß es aber nützlich wäre, mit mathematischem Gefüge bekannt zu sein, das versuchte ich in meiner «Philosophie der Freiheit» zu zeigen. Darin ist ein Kapitel, das ich nennen möchte «Über den Lustwert des Lebens». Bis zu dem Augenblick, in dem ich dieses Kapitel über den Lustwert des Lebens geschrieben hatte, sprach man in philosophischen Kreisen viel von der Lustbilanz des Lebens, und man setzte in eine scheinbar mathematische Formel, welche die Lustbilanz geben sollte, die Tat­sachenwelt so ein, daß man meinetwillen alle Lust eines Lebens sum­mierte zu einem a und alle Unlust desselben Lebens zu einem b, und die Differenz etwa die Lustbilanz nannte, den Überschuß von Lust über Unlust. Man hat, wenn man Lust und Unlust so in eine Formel bringt, eine Differenz gewählt, dasjenige gewählt, was man die mathematische Formel der Subtraktion nennen kann. Das Wesentliche in jenem Ka­pitel ist, daß ich gezeigt habe, wie es unmöglich ist, Lust und Unlust so zusammenzufassen, daß sie in ein Verhältnis von Minuend und Sub­trahend gebracht werden. Was man da herausbringt, wird mit der wirklichen

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Erfahrung niemals stimmen. Ich habe gezeigt, daß man den Lustwert nur dann bekommt, wenn man es so macht: Wenn man das a dividiert durch das b, dann gibt das c als Quotient den Lustwert

(c=a/b).

Wenn Sie gewissenhaft die Tatsachen des Lebens erforschen, werden Sie das überall bewahrheitet finden. Um das zu können, was in abstrak­ter Weise über eine Tatsache des Lebens in dieser Formel ausgedrückt ist, muß man wenigstens ein wenig das überschauen, was aus mathe­matischem Gefüge folgen kann.

Nehmen Sie einmal die Frage: Wodurch kann denn der Lustwert -wenn die Formel so liegt - zur Null werden, wodurch kann, mit an­deren Worten, der völlige Überdruß am Leben entstehen? - Durch keine andere Tatsache, als wenn der Bruch zu seinem Nenner - in sei­nem b - ein Unendliches hat. Denn indem Sie einen Quotienten bilden, können Sie nur eine Null kriegen, wenn im Nenner Unendlich steht, solange im Zähler auch nur 1 steht. Das heißt, es stimmt diese Voraus­setzung in ganz anderer Weise mit den Tatsachen des Lebens. Letzteres zeigt Ihnen - wenn sich der Mensch auch Illusionen hingibt - überall eine gewisse Lebenslust. Sie ist vorhanden, wo Leben überhaupt ist.

So sehen wir, wie es nützlich sein kann, in richtiger Weise arithme­tische Formeln anzuwenden. Wenn Sie die falsche Formel der Differenz anwenden, dann können Sie leicht irgendeinen Überschuß der Unlust bekommen und können sagen: Der Lebensüberdruß ist als eine Größe berechtigt. Da sehen Sie auch, wie nützlich es ist, sich die strenge ma­thematische Logik gleichsam zum Ideal machen zu können.

Wenn wir von der Mathematik absehen und auf die verschiedenen Einzelgebiete der Philosophie blicken, dann müssen wir sagen: Wir finden überall - suchen Sie auf dem Gebiet der Logik, wenn sie auch einige Befruchtung wieder von mathematischer Seite her durch die Wahrscheinlichkeitstheorie erlangt hat - die Unmöglichkeit, daß das in sich geschlossene Denken seine eigenen Konsequenzen zieht. Und dabei möchte ich Sie auf das wichtigste Faktum in der Entwickelung -an einem Beispiel in der Entwickelung unseres geistigen Lebens das 19. Jahrhundert hindurch - hinweisen, auf ein geisteswissenschaftliches

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Faktum, das sich mit einer gewissen Tragkraft im geistigen Leben um die Mitte des 19. Jahrhunderts zugetragen hat.

Dazumal hat Julius Robert Mayer, dann unabhängig von ihm Helmholtz das gefunden, was man seither die Lehre vom mechanischen Wärmeäquivalent genannt hat, von der sogenannten Erhaltung der le­bendigen Kraft. Nun hat, bald nachdem das geschehen war, Helmholtz auf diese Theorie von der Erhaltung der lebendigen Kraft eine andere gebaut, die dann auch weithin angenommen worden ist, die heute noch vielen als unanfechtbar gilt: diese nämlich, daß in dem Wechselspiel von der lebendigen Kraft im Weltall fortwährend Umsetzungen statt­finden von irgendwelchen anderen, sagen wir von Verrichtungen in den weltführenden lebendigen Kräften, seien es die Kräfte des Magnetis­mus oder der Elektrizität, seien es andere rein mechanische Kräfte -die Umsetzung solcher Kräfte in Wärme. Nun ist es im Sinne des so­genannten Carnotschen Satzes niemals möglich, in vollständiger Weise den Umwandlungsprozeß von Kraft in Wärme unter Aufrechterhal­tung desselben Kraftquantums zu vollziehen. Man muß sagen: Es ist niemals möglich, alle Wärme wieder zurückzuverwandeln in lebendige Kraft. - Wollte ich übrigens diesen sogenannten zweiten Hauptsatz der Wärmetheorie beschreiben, so müßte ich ein paar Vorlesungen darüber halten. Ich will aber heute nur charakterisieren. Es kommt dabei nicht darauf an, daß alles einzelne, was Sie sich darüber aneignen können, auch hier gesagt werde. Im Sinne des zweiten Hauptsatzes der mecha­nischen Wärmetheorie und im Sinne dessen, was in den: fünfziger Jah­ren des vorigen Jahrhunderts Hermann Helmholtz daraus gemacht hat, liegt es also, daß bei allen Prozessen unseres Daseins zuletzt bei der Umwandlung von Wärme in Kraft ein Wärmequantum da sein muß, das nicht mehr zurückverwandelt werden kann in eine andere Kraft. Infolgedessen müssen alle unsere physikalisch-mechanischen Prozesse zuletzt so verlaufen, daß ihre Kräfte sich in Wärme umsetzen. Und da immer ein Rückstand von Wärme bleibt, so müssen diese Prozesse endlich in ein Ziel auslaufen, welches darin besteht, daß alle andere Kraft in Wärme umgewandelt worden ist, daß sozusagen alle leben­digen Kräfte zuletzt in Wärme umgewandelt sein werden. Wir würden damit das gegeben haben, was wir den Wärmetod unserer Erde nennen

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können. Da könnte natürlich kein anderer Prozeß erfolgen, wenn alles in Wärme umgewandelt wäre. So läuft sozusagen das physikalische Denken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in dieses Gesetz ein, läuft ein in die Aussage, die, wenn man das, was dazumal physikalisch gedacht werden konnte, zu Rate zog, eigentlich ganz richtig war: sie läuft ein in die Konstatierung des Wärmetodes unserer Erde. Und der einzige Trost, den Helmholtz fand, war der: Es ist noch lange hin, und keiner hat sich zu fürchten, daß ihn so bald der Wärmetod treffen werde. Und alles, was wir verfolgen können, zeigt uns in so geringem Maße diesen Prozeß, daß wir hoffen können, es werde noch durch Jahrmil­lionen das Leben flott so fortgehen, ohne daß die Erde der Wärmetod treffen werde. - Für denjenigen, der in der Erkenntnis gründlicher vor­geht, bleibt das eben nur ein philiströser Trost.

Ich habe aber damit nur charakterisieren wollen, was ich an zahl­reichen anderen Beispielen charakterisieren könnte: wie sozusagen aus dem Fortgang des wissenschaftlichen Denkens bis dahin - der Vortrag, in welchem Helmholtz die Sache darlegte, ist etwa 1852 gehalten wor­den - die Konfiguration des Denkens zu gewissen Resultaten hat kom­men müssen.

Gegen diesen Vortrag wandte sich dazumal (1856) ein Hegelianer:

Karl Rosenkranz. Dieser ließ nun an Waffen alles das auffahren, was er aus dem Arsenal der Hegelschen Philosophie hat gewinnen können. Und derjenige, der Karl Rosenkranz, den innigen, man darf sagen, herzlich innigen Hegelianer etwas genauer kennt, weiß, daß Karl Ro­senkranz doch nicht so leicht zu nehmen ist, als man ihn sehr häufig nehmen will. Er ließ auffahren alles, was er aus dem Arsenal der He­geischen Schule aufbringen konnte. Wir haben also da die andere Strö­mung, die nämlich, welche in der Gedankenlinie erfolgte. Diese lief in dieser Richtung, wie ich es habe zeigen wollen. Wozu das physika­lische Denken gekommen ist, kann bei Helmholtz gezeigt werden; wohin das philosophische Denken gelangt ist, bei Rosenkranz. Da se­hen wir, daß wichtige Einwendungen gegen die mechanische Wärme­theorie gemacht werden. Rosenkranz rügt, daß Helmholtz eigentlich nur nach Analogien denke. Sein Gesetz müsse man abstrahieren von den Prozessen, die sich an der Uhr, an der Windbüchse oder an anderen

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Dingen vollziehen. Es ist richtig für die Dampfmaschine, daß von le­bendigen Kräften, die wir hervorrufen, etwas an die Umgebung ver­lorengeht, was nicht wieder zurückgebracht werden kann. Solange wir von solchen, ich möchte sagen, von allen Seiten mit endlichen Um­gebungen versehenen Vorgängen ausgehen, so lange ist bei dem, was wir da gewinnen, nicht fernzuhalten, daß solche Resultate erzielt werden, wie sie Helmholtz erzielt hat in seiner Abhandlung über die mecha­nische Wärmetheorie. Da weist dann Karl Rosenkranz mit Recht dar­auf hin, wie es durchaus nicht folgt, sobald wir über die unmittelbaren Erdenverhältnisse hinausgehen, daß keine Möglichkeit vorhanden wäre, daß die in den Weltenraum hinauserstrahlte Wärme in derselben Weise verlorengehen müßte wie bei der Dampfmaschine. Ganz andere Tat­bestände könnten da vorliegen. Ich kann heute nicht eingehen auf das, was die Philosophie zu sagen hat, wo sie auf die Wärmetheorie zu spre­chen kommt. Da erst liegt jener sichere Boden, den ich Ihnen charak­terisieren konnte in den Vorträgen, die ich jetzt über die biblische Schöpfungsgeschichte gehalten habe. Der Hegelianer blieb unfrucht­bar, weil er den Übergang zu diesem Boden nicht finden konnte. So blieb ihm die Wärme auch nichts anderes als ein innerer Erzitterer. Den­noch, mit den Begriffen, die einfach gegeben sind, wenn man im streng disziplinierten Denken von der sogenannten endlichen Mechanik, die nur für die unmittelbare Umgebung gilt mit all ihren Formeln, ein­schließlich der Formel

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- all diese Formeln gelten für unsere unmittelbaren Verhältnisse -, wen­det er sich zur absoluten Mechanik. Hegel hat im Aufsteigen seines wissenschaftlichen Systems den Gang durchgemacht von der sogenann­ten endlichen Mechanik zur absoluten Mechanik, die er anwendet auf die Bewegung der Himmelskörper. Da verwandeln sich die Formeln, so daß man einfach die Formeln, die man an der Dampfmaschine ge­winnt, an unseren gewöhnlichen Wärmeverhältnissen im Helmholtz­schen Sinne gar nicht anwenden dürfte auf die Prozesse, die größere Entitäten des Raums umfassen. Aber um solch einen Gedanken schon einzusehen, die Möglichkeit einzusehen, daß man von einer endlichen

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Mechanik zu einer absoluten aufsteigen kann, dazu gehört eine inner­lich sich selbst dirigierende Logik, die eben der Philosophie des 19. Jahrhunderts und auch Karl Rosenkranz fehlte. Denn durch seine gan­zen Einwendungen hindurch geht die immerwährende starke Sugge­stion, der er auch hingegeben ist, welche ausgeht von den überwältigen­den naturwissenschaftlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts: die kriegen vieles Denken unter. - Dazu gehört wirklich sich selbst dirigie­rendes Denken, wenn man durch diese naturwissenschaftlichen An­schauungen durchstechen will. Ich könnte leicht nachweisen, daß bis in das Gesetz von der sogenannten Erhaltung der Materie hinein, das eine so große Rolle spielt, das Richtige nur bekannt werden kann, wenn man das innere Gefüge des Denkens kennt. Ich könnte den Nachweis führen, daß dieses Gesetz, wie es heute in der Physik vorhanden ist, nichts anderes ist als ein Hinausprojizieren von eigenen Denkgesetzen in den Raum, wobei das Denken noch dazu mit stumpfen Waffen arbeitet. Wir sehen hier dasjenige, was wir auf geisteswissenschaft­lichem Gebiete heute kennen: daß in höheren Gebieten objektiv uns erscheint, was in uns selbst ist - ich will gar nicht sprechen von der Er­haltung der Kraft -, daß in weiterem Sinn noch gilt, was ich selber jetzt angeführt habe in bezug auf die Erhaltung der Materie. So sehen wir, wie durch die Suggestion der naturwissenschaftlichen Feststellun­gen, denen gegenüber man auf rein tatsächlichem Boden bleiben sollte, auf diesem Gebiete das denkerische Element des Menschen sich stumpf erwiesen hat, weil die Philosophie nicht in der Lage war, die Decke zu durchstechen, die gebildet wird nicht aus der naturwissenschaft­lichen Tatsachenforschung, sondern aus der Auslegung der erforschten Tatsachen. Geisteswissenschaft steht voll auf dem Boden der natur-wissenschaftlichen Tatsachen. Ich würde es als einen der größten Män­gel der Geisteswissenschaft ansehen, wenn sie nicht Hand in Hand gehen wollte mit einer wirklichen naturwissenschaftlichen Tatsachen-forschung. Aber etwas anderes ist die Auslegung der erforschten Tat­sachen. Wenn uns die Naturforscher das erzählen, was sie im Labora­torium zustande bringen an Tatsachenobjekten, dann müssen wir dankbar ihre Feststellungen entgegennehmen, dann nehmen wir die Aussprüche der Natur selber entgegen, und leugnen wir sie, dann sind

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wir in einem Unsinn befangen. Geben wir uns ihnen nicht hin, dann zeigen wir, daß wir keinen Wahrheitssinn haben. Wollten wir aber auch die sogenannten monistischen Erwägungen nehmen und uns aufdrän­gen lassen, daß das Tatsachen sind, dann würden wir die Meinungen der Menschen als Tatsachen nehmen. Das geschieht aber dadurch, daß sich die Meinungen der Menschen tückisch, möchte ich sagen - aber kei­nen trifft die Schuld als Fanatiker -, in die populäre Literatur einge­schlichen haben. Wir können um eine Mark zwanzig nicht nur natur­wissenschaftliche Tatsachen überliefert erhalten, sondern auch die Mei­nungen, die so auftreten, als wenn sie Tatsachen wären, die sozusagen so unterstrichen sind, daß, wenn der Mensch nicht an sie glaubt, er nicht an die naturwissenschaftlichen Ergebnisse glaubt. Man kann aber an letzteren festhalten und trotzdem sagen, daß die Auslegungen nichts anderes sind als Interpretationen, von stumpfen Denkerwaffen vorge­nommen.

Ebenso wie dieses Denken in bezug auf die einfachsten physikalisch-chemischen Dinge stumpf ist, so muß sich natürlich um so mehr dieses Denken stumpf erweisen, wenn höhere Gebiete in Betracht kommen, etwa die der Physiologie. Die Zeiten sind längst vorüber, wo ein so geistvoller Anatom wie der alte Hyrtl seinen Schülern das anatomische Gefüge des Menschen in den ersten Jahren ihres medizinischen Stu­diums lebendig machen konnte. Wir haben es heute mit einem Betriebe zu tun, der sich vor allen Dingen einer Sache gar nicht bewußt ist. Um diese Sache zu charakterisieren, möchte ich ihr ein etwas anderes Kleid geben.

Es wäre im Sinne dessen, was ich selbst als geisteswissenschaftliche Bewegung ansehen muß, mein dringendster Wunsch, daß diejenigen, welche eine physiologisch-ärztliche Vorbildung haben, sich soweit mit den Tatsachen der Geisteswissenschaft bekanntmachen, daß sie in be­zug auf ihren Tatsachencharakter die Ergebnisse der Physiologie ein­mal durcharbeiten können. Ich werde selbst im nächsten Frühling nur höchstens die Grundlinien dieser geisteswissenschaftlichen Physiologie ziehen können. Da muß viel gearbeitet werden. In unserer physiolo­gischen Literatur liegt das wunderbarste Material vor, das man nur kennen muß, aber man muß daneben auch die Grenzgebiete ken­nen,

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und man muß wiederum kennen, wie die Physiologie beeinflußt wird von einer wahren Psychologie, die heute sehr im Schutt begra­ben liegt. Da wäre es eine Sehnsucht der Geistesforschung, daß die physiologisch Gebildeten unter uns die streng exakte Umschau hiel­ten über gewisse physiologisch-anatomische Ergebnisse der letzten Zei­ten. Allerdings, wer das Tatsachenmaterial kennt, weiß, daß auf ge­wissen Gebieten, die man dann gerade brauchen würde, noch nichts getan ist. Das kann aber dann derjenige mit leichten Mitteln tun, der sich das aneignet, was auf diesem Gebiete schon geleistet ist; der es sich aneignet so, daß er es sich produktiv aneignet. Dann wird er, wenn er zu gleicher Zeit von Geist-Erkenntnis durchdrungen ist, nicht in die Lage kommen, eine solche Grundlage der Physiologie zu schaffen, wo man gleichsam in der Zergliederung des Organismus ein jedes Organ als gleichwertig betrachtet. Was ist das Wesentliche, das die heutige Physiologie nicht hochkommen läßt? Das ist es, daß man den Organis­mus zergliedert. Man hat Herz, Lunge, Leber und so weiter; man stu­diert sie alle, als wenn sie als gleichberechtigte organische Glieder ne­beneinander lägen. Das ist aber nicht der Fall. Alle diese einzelnen Glieder haben verschiedene Antezedenzien ihrer Werte. Und man hat in einem Stück Leber nicht dieselbe Materie in der Hand, die man in einem Stück aus dem Herzmuskel und dergleichen hat. Da handelt es sich darum, daß man zu dem, was der rein äußere Sinnesbestand gibt, einen gewissen Faktor hinzufügt, den ich nicht anders bezeichnen kann als eine gewisse objektive Wertigkeit des betreffenden Organes. Dies wird sich ergeben für den Physiologen, wenn er einmal die Arbeit un­ternimmt, genau ein Organ in dem vollgestalteten menschlichen Orga­nismus zu vergleichen mit einer wirklichen Embryologie. Da wird er darauf kommen, daß die Embryologie heute so einseitig arbeitet, weil sie gewissermaßen nur einen aufsteigenden Prozeß verfolgt und nicht einen damit parallel gehenden absteigenden. In der richtigen Weise geht man erst vor, wenn man in jedem Stadium der embryologischen Ent­wickelung etwas herausbringt, worin wie in einer mathematischen Funktion enthalten ist ein Faktor der Dekadenz und ein anderer Fak­tor der Produktivität. Und wenn man in die Lage kommt, das, was man so an Feststellungen der Wertigkeit gewonnen hat, anwenden zu

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können auf das Organ in seiner Vollgestaltigkeit im Organismus, wenn man nicht einfach nebeneinanderstellt Herz und Leber als gleichwer­tige Organe - sie sind von einer verschiedenen qualitativen Wertig­keit -, dann wird man vor dem Augenblick stehen, wo gerade die groß­artigen Ergebnisse unserer physiologischen Tatsachenwelt das größte Licht empfangen werden.

Was ich so für die Physiologie charakterisiert habe, könnte ich Ihnen für die Biologie, für die Geschichte und Kulturgeschichte charakteri­sieren. Da sehen Sie ein Arbeitsfeld, das vor uns liegt, das bebaut wer­den muß. Da sehen Sie lebendig die Lage der gegenwärtigen Philoso­phie und Wissenschaft gegenüber dem, was wir, ich möchte sagen, durch die Gunst der Verhältnisse, durch unser Menschheitskarma an positi­ven Ergebnissen haben. Rund um uns herum sind durch die Tatsachen-forschung die schönsten Ergebnisse. Wer sich mit diesen Tatsachen be­kanntmacht, erblickt einen wunderbaren Werdegang. Woran es fehlt, das ist die scharfe Eindringlichkeit, die Energie des philosophischen Denkens, das doch erst, wenn es angewendet wird - aber mutvoll ange­wendet wird auf die Tatsachen -, dann diese Tatsachen in ihrem rich­tigen Licht darstellen kann. Das lag erkenntnistheoretisch ausgespro­chen in meiner grundlegenden erkenntnistheoretischen Schrift «Wahr­heit und Wissenschaft». Da finden Sie hingewiesen auf jene Art von Erkenntnistheorie, welche damit rechnet, daß unsere Erkenntnistheo­rie nicht ohne objektive Bedeutung bleibt, sondern so auftreten muß, daß in den erkenntnistheoretischen Ergebnissen Befruchtung unseres Erkenntnissubjektes liegt, so daß dieses untertauchen kann in das, was uns durch die sonstige Lage der Wissenschaft gegeben ist. Wenn wir aus den Anfängen, die sich aus unserer geisteswissenschaftlichen Bewe­gung herausentwickeln sollten auf diesem Gebiete, auf allen Gebieten der Wissenschaft in der richtigen Weise mit Ernst und Würde arbeiten, wenn wir nicht bei einem gewissen theosophischen Dilettantismus blei­ben, sondern uns streng hineinversenken in das, was auch wissenschaft­lich gegeben ist, werden wir dazu kommen - statt, wie es wirklich heute der Fall ist, eine Metaphysik ohne transzendentale Überzeu­gung zu haben -, eine Metaphysik zu haben, welche durch die Waffen, die ihr geprägt werden von einer produktiven Erkenntnistheorie, eindringt

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durch das äußere Feld der Sinnlichkeit in das Übersinnliche. Dann wird sie eine Überzeugung haben, weil sie ruhen wird auf einer Erkenntnistheorie, weil sie das menschliche Erkenntnissubjekt wird befruchten können. Logik wird ihren Inhalt bekommen, weil die Denk-gesetze sich als Weltgesetze ergeben werden. Es wird Ethik auch das haben können, was man Verbindlichkeit wird nennen können, weil das produktive Erkennen sich in unsere Impulse ergießt. Wir werden eine Ethik mit Verbindlichkeit haben. Dann werden wir auch das haben, was nicht eine Psychologie ohne Seele, sondern eine Psychologie mit der Seele ist, denn auf die Fragen nach der Seele und ihrem Schicksal in der Welt geht doch die menschliche Erkenntnissehnsucht.

Das sollte ein schwacher Versuch sein, Ihnen zu zeigen, wo wir ei­gentlich stehen, wenn wir den Blick schweifen lassen von dem, was wir spirituell in uns fühlen können, zu dem Umkreis des Erforschten, des wissenschaftlich um uns Bestehenden. Wenn ich alles einzelne, was wissenschaftlich besteht, Ihnen charakterisieren wollte, müßte ich viele Vorträge halten. Aber es wird sich im Laufe der Zeit noch mancherlei ergeben. Ich wollte nur zeigen, welche Tendenz in unserer Geisteswis­senschaft liegen kann, wenn die in ihr liegenden Möglichkeiten nicht bloß aus egoistischen Gründen - um die allernächsten persönlichen Ziele zu befriedigen - gesucht werden, sondern wenn sie gesucht wer­den, um mitzuarbeiten an dem Geist, an dem Kulturprozeß der Mensch­heit.

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ÜBER SELBSTERKENNTNIS anknüpfend an das Rosenkreuzermysterium «Die Pforte der Einweihung» Basel, 17. September 1910

Die meisten der Anwesenden wissen, daß wir uns in München be­müht haben, außer der Wiederholung der vorjährigen Vorstellung des Dramas «Die Kinder des Lucifer» ein Rosenkreuzermysterium aufzu­führen, das mancherlei von dem in der verschiedensten Weise sich dar­zustellen bemüht, was mit unserer Bewegung zusammenhängt. Dieses Rosenkreuzermysterium soll auf der einen Seite gewissermaßen davon eine Probe sein, wie in Kunst ausfließen kann das, was alles anthro­posophische Leben bewegt. Auf der anderen Seite aber soll auch nicht vergessen werden, daß dieses Rosenkreuzermysterium vieles von un­seren geisteswissenschaftlichen Lehren in einer solchen Weise enthält, wie man es vielleicht erst im Laufe der Jahre herausfinden wird. Und namentlich ist nicht mißzuverstehen, daß, wenn man sich einigermaßen Mühe geben würde, die Dinge zu lesen, die darin liegen - nicht zwi­schen den Zeilen, sie sind schon, wenn auch auf spirituelle Weise, in den Worten -, wenn man also sich Mühe geben würde, das Rosenkreuzer­mysterium so aufzufassen, daß man diese Dinge in den nächsten Jahren aufsuchen würde, dann wäre es auf viele Jahre hinaus nicht nötig, daß ich irgendwelche Vorträge halten müßte. Es würde sich darin vieles von dem finden, was ich sonst über irgendein Thema vortrage. Es wird sich aber praktischer gestalten, wenn wir es gemeinsam heraus­suchen, als wenn dies ein einzelner tut. In gewisser Weise ist es gut, daß auch in solcher Form vorhanden ist, was in der Geisteswissenschaft lebt.

So möchte ich heute, anknüpfend an das Rosenkreuzermysterium, über gewisse Eigentümlichkeiten der menschlichen Selbsterkenntnis sprechen. Dazu ist aber nötig, daß wir uns daran - charakterisierend -erinnern, wie im Rosenkreuzermysterium die Individualität im Leibe des Johannes Thomasius wirkt. Daher möchte ich, daß dieser Vortrag, der über Selbsterkenntnis handeln soll, mit einer Rezitation derjenigen Partien aus dem Rosenkreuzermysterium beginnt, welche die Selbst­erkenntnis des Johannes bedeuten.

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Zweites Bild

Gegend im Freien, Felsen, Quellen; die ganze Umgehung ist in der Seele des Johannes Thomasius zu denken, das Folgende als Inhalt seiner Meditation; später Maria.

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

Johannes: So hör' ich sie seit Jahren schon,

Die inhaltschweren Worte.

Sie tönen mir aus Luft und Wasser,

Sie klingen aus dem Erdengrund herauf,

Und wie ins kleine Samenkorn geheimnisvoll

Der Rieseneiche Bau sich drängt,

So schließt zuletzt sich ein

In dieser Worte Kraft,

Was von der Elemente Wesen,

Von Seelen und von Geistern,

Von Zeitenlauf und Ewigkeit

Begreiflich meinem Denken ist.

Die Welt und meine Eigenheit,

Sie leben in dem Worte:

O Mensch, erkenne dich!

(Aus Quellen und Felsen tönt es: 0 Mensch, erkenne dichl)

Und jetzt! - es wird

Im Innern mir lebendig fürchterlich.

Es webt um mich das Dunkel,

Es gähnt in mir die Finsternis;

Es tönt aus Weltendunkel,

Es klingt aus Seelenfinsternis:

O Mensch, erkenne dich!

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

Es raubt mich jetzt mir selbst.

Ich wechsle mit des Tages Stundenlauf

Und wandle mich in Nacht.

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Der Erde folge ich in ihrer Weltenbahn.

Ich rolle in dem Donner,

Ich zucke in den Blitzen.

Ich bin. - 0 schon entschwunden

Dem eignen Wesen fühl' ich mich.

Ich sehe meine Leibeshülle;

Sie ist ein fremdes Wesen außer mir,

Sie ist ganz fern von mir.

Da schwebt heran ein andrer Leib.

Ich muß mit seinem Munde sprechen:

«Er hat mir bittre Not gebracht;

Ich habe ihm so ganz vertraut.

Er ließ im Kummer mich allein,

Er raubte mir die Lebenswärme

Und stieß in kalte Erde mich.»

Die ich verließ, die Arme,

Ich war sie eben selbst.

Ich muß erleiden ihre Qual.

Erkenntnis hat mir Kraft verliehn,

Mein Selbst in andres Selbst zu tragen.

O grausam Wort!

Dein Licht verlöscht durch eigne Kraft.

O Mensch, erkenne dich!

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

Du führst zurück mich wieder

In meines eignen Wesens Kreise.

Doch wie erkenne ich mich wieder!

Mir ist verloren Menschenform.

Ein wilder Wurm erschein' ich mir,

Aus Lust und Gier geboren.

Und klar empfinde ich,

Wie eines Wahnes Nebelbild

Die eigne Schreckgestalt

Bisher verborgen mir gehalten hat.

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Verschlingen muß mich eignen Wesens Wildheit.

Ich fühle als verzehrend Feuer

Durch meine Adern rinnen jene Worte,

Die mir so urgewaltig sonst

Der Sonnen und der Erden Wesen offenbarten.

Sie leben in den Pulsen,

Sie schlagen mir im Herzen;

Und selbst im eignen Denken fühle ich

Die fremden Welten schon als wilde Triebe lodern.

Das sind des Wortes Früchte:

0 Mensch, erkenne dich!

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch. erkenne dich!

Da, aus dem finstern Abgrund, -

Welch Wesen glotzt mich an?

Ich fühle Fesseln,

Die mich an dich gefesselt halten.

So fest war nicht Prometheus

Geschmiedet an des Kaukasus Felsen,

Wie ich an dich geschmiedet bin.

Wer bist du, schauervolles Wesen?

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

Oh, ich erkenne dich.

Ich bin es selbst.

Erkenntnis schmiedet an dich verderblich Ungeheuer

(Maria tritt ein, wird von Johannes zunächst nicht bemerkt.)

Mich selbst verderblich Ungeheuer.

Entfliehen wollt' ich dir.

Geblendet haben mich die Welten,

In welche meine Torheit floh,

Um von mir selber frei zu sein.

Geblendet bin ich wieder in der blinden Seele:

0 Mensch, erkenne dich!

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

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Johannes: (wie wenn er zu sich käme, erblickt Maria. Die Meditation geht in innere Realität über)

O Freundin, du bist hier!

Maria: Ich suchte dich, mein Freund;

Obwohl bekannt mir ist,

Wie lieb dir Einsamkeit,

Nachdem so vieler Menschen Meinungen

Die Seele dir durchflutet. Und weiß ich auch,

Daß ich durch meine Gegenwart dem Freund

In dieser Zeit nicht helfen kann,

So drängt ein dunkles Streben

In diesem Augenblick mich doch zu dir,

Da Benedictus' Worte dir statt Licht

So schweres Leid

Aus deines Geistes Tiefen lockten.

Johannes: Wie lieb mir Einsamkeit!

Ich habe sie so oft gesucht,

In ihr mich selbst zu finden,

Wenn in Gedankenlabyrinthe mich

Der Menschen Leid und Glück getrieben hatten.

O Freundin, das ist nun vorbei.

Was Benedictus' Worte erst

Mir aus der Seele holten,

Was durch der Menschen Reden

Ich erleben mußte,

Gering nur scheint es mir,

Vergleich dem Sturm ich dies,

Den Einsamkeit mir dann gebracht

In dumpfem Brüten.

0 diese Einsamkeit!

Sie hetzte mich in Weltenweiten.

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Entrissen hat sie mich mir selbst.

In jenem Wesen, dem ich Leid gebracht,

Erstand ich als ein andrer.

Und leiden mußte ich den Schmerz,

Den ich erst selbst bewirkt.

Die grausam finstre Einsamkeit,

Sie gab mich dann mir selber wieder.

Doch nur, zu schrecken mich

Durch meines eignen Wesens Abgrund.

Mir ist des Menschen letzte Zuflucht,

Mir ist die Einsamkeit verloren.

Maria: Ich muß das Wort dir wiederholen:

Nur Benedictus kann dir helfen.

Die Stützen, die uns fehlen,

Wir müssen beide sie von ihm erhalten.

Denn wisse, auch ich kann länger nicht

Ertragen meines Lebens Rätsel,

Wenn nicht durch seinen Wink

Die Lösung sich mir zeigt.

Die hohe Weisheit, daß stets über alles Leben

Nur Schein und Trug sich breitet,

Wenn unser Denken seine Oberfläche bloß ergreift,

Ich habe sie recht oft mir vorgehalten.

Und immer wieder sprach sie:

Du mußt erkennen, wie dich Wahn umfängt,

So oft es dir auch Wahrheit dünkt,

Es könnte schlimme Frucht erstehn,

Wenn du erwecken willst in andern Licht,

Das in dir selber lebt.

In meiner Seele bestem Teil ist mir bewußt,

Daß auch der schwere Druck,

Den dir, mein Freund,

Das Leben hat gebracht an meiner Seite,

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Ein Teil des Dornenweges ist,

Der zu dem Licht der Wahrheit führt.

Erleben mußt du alle Schrecken,

Die aus dem Wahn erstehen können,

Bevor der Wahrheit Wesen sich dir offenbart.

So spricht dein Stern.

Doch auch erscheint mir durch dies Sternenwort,

Daß wir vereint die Geisteswege wandeln müssen.

Doch such' ich diese Wege,

So breitet sich vor meinem Blicke finstre Nacht.

Und schwärzer wird die Nacht durch vieles noch,

Was ich erleben muß

Als Früchte meines Wesens.

Wir müssen beide Klarheit in dem Lichte suchen,

Das wohl dem Aug' entschwinden,

Doch nie erlöschen kann.

Johannes: Maria, ist dir denn bewußt,

Was meine Seele eben durchgerungen?

Ein schweres Los fürwahr

Ist dir geworden, edle Freundin.

Doch ferne liegt ja deinem Wesen jene Macht,

Die mich so ganz zerschmettert hat.

Du kannst in hellste Wahrheitshöhen steigen,

Du kannst die sichern Blicke

In Menschenwirrnis richten,

Du wirst in Licht und Finsternis

Dich selbst bewahren.

Mir aber kann ein jeder Augenblick

Mich selber rauben.

Ich mußte in die Menschen untertauchen,

Die sich vorhin in Worten offenbarten.

Ich folgt' dem einen in die Klostereinsamkeit,

Ich hörte in des andern Seele

Felicias Märchen.

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Ich war ein jeder,

Nur selbst erstarb ich mir.

Ich müßte glauben können,

Daß Nichts der Wesen Ursprung sei,

Wenn ich die Hoffnung hegen sollte,

Daß aus dem Nichts in mir

Ein Mensch je werden könne.

Mich führt aus Furcht in Finsternis

Und jagt durch Finsternis in Furcht

Der Weisheit Wesenswort:

O Mensch, erkenne dich!

(Aus Quellen und Felsen tönt es: 0 Mensch, erkenne dich!)

(Der Vorhang fällt)

Neuntes Bild

Dieselbe Gegend wie im zweiten Bild. Johannes, später Maria.

(Es tönt aus Felsen und Quellen: 0 Mensch, erlebe dich!)

Johannes: 0 Mensch, erlebe dich!

Ich habe sie drei Jahre lang gesucht,

Die mutbeschwingte Seelenkraft,

Die Wahrheit gibt dem Worte,

Durch das der Mensch, sich selbst befreiend, siegen

Und sich besiegend, Freiheit finden kann:

O Mensch, erlebe dich!

(Aus Felsen und Quellen tönt: 0 Mensch, erlebe dich!)

Sie kündigt sich im Innern an,

Nur leise fühlbar meinem Geistgehör.

Sie birgt in sich die Hoffnung,

Daß wachsend sie den Menschengeist

Aus engem Sein in Weltenfernen führt,

So wie geheimnisvoll sich weitet

Das kleine Samenkorn

Zum stolzen Leib der Rieseneiche. --

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Es kann der Geist in sich beleben,

Was in der Luft und was im Wasser webt,

Und was den Erdengrund gefestigt.

Es kann der Mensch ergreifen,

Was in den Elementen,

In Seelen und in Geistern,

In Zeitenl auf und Ewigkeit

Des Daseins sich bemächtigt hat.

Es lebt das ganze Weltenwesen in dem Seelensein,

Wenn solche Kraft im Geiste wurzelt,

Die Wahrheit gibt dem Worte:

O Mensch, erlebe dich!

(Aus Felsen und Quellen tönt: 0 Mensch, erlebe dich!)

Ich fühle - wie es tönt in meiner Seele,

Sich regend kraftverleihend.

Es lebt in mir das Licht,

Es spricht um mich die Helligkeit,

Es keimt in mir das Seelenlicht,

Es schafft in mir die Weltenhelle:

0 Mensch, erlebe dich!

(Aus Felsen und Quellen tönt: 0 Mensch, erlebe dich!)

Ich finde mich gesichert überall,

Wohin mir folgt des Wortes Kraft.

Sie wird mir leuchten in der Sinnesdunkelheit

Und mich erhalten in den Geisteshöhen.

Sie wird mich mit dem Seelensein erfüllen

Für alle Zeitenfolgen.

Ich fühle Weltensein in mir,

Und finden muß ich mich in allen Welten.

Ich schau' mein Seelenwesen

Durch Eigenkraft belebt in mir.

Ich ruhe in mir selber.

Ich blicke nach den Felsen und den Quellen;

Sie sprechen meiner Seele eigne Sprache.

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Ich finde mich in jenem Wesen wieder,

Das ich in bittre Not gebracht.

Heraus aus ihm ruf' ich mir selber zu:

«Du mußt mich wieder finden

Und mir die Schmerzen lindern.»

Das Geisteslicht, es wird mir Stärke geben,

Das andre Selbst im eignen Selbst zu leben.

O hoffnungsvolles Wort,

Du strömst mir Kraft aus allen Welten zu:

O Mensch, erlebe dich!

(Aus Felsen und Quellen tönt: 0 Mensch, erlebe dich!)

Du läßt mich meine Schwachheit fühlen

Und stellst mich neben hohe Gottesziele;

Und selig fühle ich

Des hohen Zieles Schöpfermacht

In meinem schwachen Erdenmenschen.

Und offenbaren soll sich aus mir selbst,

Wozu der Keim in mir geborgen ist.

Ich will der Welt mich geben

Durch Leben meines eignen Wesens.

Empfinden will ich alle Macht des Wortes,

Das mir erst leise klingt;

Es soll mir wie belebend Feuer sein

In meinen Seelenkräften,

Auf meinen Geisteswegen.

Ich fühle, wie mein Denken dringt

In tief verborgne Weltengründe;

Und wie es leuchtend sie durchstrahlt.

So wirkt die Keimkraft dieses Wortes:

0 Mensch, erlebe dich!

(Aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erlebe dich!)

Aus lichten Höhen leuchtet mir ein Wesen,

Ich fühle Schwingen,

Zu ihm mich zu erheben.

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Ich will mich selbst befrei'n

Wie alle Wesen, die sich selbst besiegt.

(Aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erlebe dich!)

Ich schaue jenes Wesen,

Ich will ihm gleich in Zukunftzeiten werden.

Der Geist in mir wird sich befrei'n

Durch dich, erhabnes Ziel.

Ich will dir folgen.

(Maria kommt hinzu.)

Das Seelenauge haben mir erweckt

Die Geisteswesen, die mich aufgenommen.

Und sehend in den Geisteswelten

Erfühle ich in meinem Selbst die Kraft:

O Mensch, erlebe dich!

(Aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erlebe dich!)

O meine Freundin, du bist hier!

Maria: Mich trieb meine Seele hierher.

Ich konnte deinen Stern erschauen.

Er strahlt in voller Kraft.

Johannes: Erleben kann ich diese Kraft in mir.

Maria: So eng sind wir verbunden,

Daß deiner Seele Leben

Sein Licht in meiner Seele leuchten läßt.

Johannes: 0 Maria, so ist dir bewußt,

Was sich mir eben offenbarte?

Mir ist des Menschen erste Zuversicht,

Mir ist die Wesenssicherheit gewonnen.

Ich fühle ja des Wortes Kraft,

Die überall mich leiten kann:

0 Mensch, erlebe dich!

(Aus Felsen und Quellen: 0 Mensch, erlebe dich!)

(Vorhang fällt)

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In den beiden Bildern: «0 Mensch, erkenne dich» und «0 Mensch, erlebe dich» treten vor unsere Seele zwei Stadien, zwei Entwickelungs­stufen der Entfaltung unserer Seele.

Nun bitte ich Sie, es durchaus nicht sonderbar zu finden, wenn ich sage, daß ich eigentlich nichts dagegen habe, dieses Rosenkreuzermyste­rium so zu interpretieren, wie ich in unseren Kreisen auch schon bis­weilen andere Dichtungen interpretiert habe. Denn in gewissem Sinne darf wohl gesagt werden, daß uns an diesem Rosenkreuzermysterium in lebendiger, unmittelbarer Weise vor die Seele treten kann, was ich öfters in Anknüpfung an andere Dichtungen gesagt habe, die ich inter­pretieren durfte. Ich habe niemals zurückgehalten zu sagen: So wenig die Pflanze, die Blume weiß, was derjenige, der die Blume betrachtet, darin findet, so ist dennoch das in der Blume enthalten, was er darin findet. - Ich führte aus, als ich die Dichtung des «Faust» interpretieren sollte, daß der Dichter beim Niederschreiben nicht notwendig unmit­telbar alle Dinge selber gewußt, selber empfunden hat in Worten, die dann später darin gefunden worden sind. Ich kann die Versicherung geben, daß nichts von dem, was ich hinterher an dieses Mysterium an­knüpfen werde, und von dem ich doch weiß, daß es darin ist, mir be­wußt war, als die einzelnen Bilder gestaltet wurden. Die Bilder wuch­sen so aus sich heraus wie die Blätter einer Pflanze. Man kann gar nicht solch eine Gestalt vorher dadurch hervorbringen, daß man zuerst die Idee hat und diese dann in die äußere Gestalt umsetzt. Es war mir immer recht interessant, wenn so Bild für Bild geworden ist, und Freunde, welche die einzelnen Szenen kennengelernt haben, sagten, es sei merkwürdig, daß es doch immer anders komme, als man es sich vor­gestellt habe.

So steht dieses Mysterium da wie ein Bild der Menschheitsevolution in der Entwickelung eines einzelnen Menschen. Ich betone, für das konkrete Gefühl ist es ausgeschlossen, in Abstraktionen sich zu hüllen, um Anthroposophie darzustellen, weil eine jede Menschenseele anders ist als die andere und im Grunde, da sie ihre Entwickelung selbst er­lebt, auch anders sein muß. Bei alldem, was als allgemeine Lehre ge­geben wird, können wir nur Richtlinien empfangen. Daher kann man die vollständige Wahrheit nur dann geben, wenn man an eine individuelle

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Seele anknüpft, an eine Seele, die ihre menschliche Individuali­tät mit aller Eigentümlichkeit darstellt. Wenn daher jemand Johannes Thomasius so betrachtet, daß er das, was im Konkreten von ihm gesagt wird, umsetzen würde in Theorien der menschlichen Entwickelung, so würde er etwas ganz Falsches machen. Wenn er glaubte, er werde ganz genau dasselbe erleben, was Johannes Thomasius erlebt hat, so würde er sich sehr irren. Denn das, was Johannes Thomasius in großen Rich­tungslinien zu erleben hat, gilt für jeden Menschen, aber um es so in seiner ganzen Eigenart zu erleben, dazu muß man eben Johannes Tho­masius sein. Und jeder ist in seiner Art ein «Johannes Thomasius».

So ist alles in ganz individueller Weise dargestellt. Dadurch ist aber auch in Anknüpfung an die besondere Gestalt in so wahrer Weise wie nur möglich das gegeben, was die Entwickelung des Menschen in seiner Seele ist. Dazu mußte auch diese breite Basis geschaffen werden, daß Thomasius erst auf dem physischen Plan gezeigt wird, daß auf einzelne Seelenerlebnisse hingewiesen wird, so auf jenes, das bedeutsam sein muß, wo er in einer Zeit, die nicht zu fern ist, ein Wesen, das ihm in treuer Liebe ergeben war, verlassen hat. Das geschieht oft, aber dieses individuelle Ereignis wirkt anders auf den, der bestrebt ist, eine Ent­wickelung durchzumachen. Es ist eine tiefe Wahrheit, daß der, der eine Entwickelung durchmacht, Selbsterkenntnis nicht durch Hineinbrüten in sich selbst erlangt, sondern durch Untertauchen in einzelne Wesen­heiten. Wir müssen durch Selbsterkenntnis erfahren, daß wir aus dem Kosmos herkommen. Nur dann können wir untertauchen, wenn wir uns in ein anderes Selbst verwandeln. Wir werden zuerst in das ver­wandelt, was uns im Leben einmal nahe war.

Es ist ein Exempel des Erlebens des eigenen Selbstes im anderen, wenn Johannes zuerst, da er tiefer in sein Selbst gekommen ist, mit die­sem in Selbsterkenntnis untertaucht in ein anderes Wesen, in das Wesen, dem er bitteren Schmerz gebracht hat. So sehen wir, wie in dieser Selbst­erkenntnis Thomasius untertaucht. Theoretisch sagt man: Willst du die Blüte erkennen, so mußt du hinuntertauchen in die Blüte. - Aber am besten ist die Selbsterkenntnis zu erlangen, wenn wir in die Begeben­heiten untertauchen, in denen wir auf andere Weise selber darin gestan­den haben. Solange wir im eigenen Selbst sind, machen wir die äußeren

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Erlebnisse durch. Wahrer Selbsterkenntnis gegenüber wird das Ab­straktion, was wir anderen Wesen nachdenken.

Für Thomasius wird zunächst das, was andere Menschen erlebt haben, ein Eigenerlebnis. Da war einer, Capesius, der seine Erlebnisse geschildert hat. Diese Erlebnisse sind so, daß man erkennen kann, wie sie im Leben darin stehen. Aber Thomasius nimmt anderes auf. Er hört zu. Sein Zuhören aber ist - später wird es im achten Bild charakteri­siert - ein anderes. Es ist so, wie wenn mit dem gewöhnlichen Selbst der Mensch gar nicht dabei wäre. Eine andere, tiefere Kraft zeigt sich da, wie wenn er selber es wäre, der in die Seele des Capesius hineinkriecht und das erlebt, was da vorgeht. Daher wird es so unendlich bedeutsam, daß er da sich selbst entfremdet wird. Es ist von Selbsterkenntnis nicht zu trennen, daß man sich losreißt von sich selbst und im anderen auf­geht. Deshalb ist es für Thomasius so bedeutsam, daß er, nachdem er diesen Reden [im ersten Bild] zugehört hat, sagen muß:

Ein Spiegelbild des vollen Lebens,

Das mich so klar mir selbst gezeigt.

Die hohe Geistesoffenbarung

Hat mich dazu geführt, zu fühlen,

Wie eine Seite nur des Menschen

So mancher in sich birgt,

Der ganz sich glaubt als Wesenheit.

Die vielen Seiten zu vereinen

In meinem eignen Selbst,

Betrat ich kühn den Weg,

Der hier gewiesen ist.

Er hat ein Nichts aus mir gemacht.

Warum hat er ein Nichts aus ihm gemacht? Weil er durch Selbsterkenntnis untergetaucht ist in diese anderen Wesen. Das Brüten ins eigene Innere macht den Menschen stolz, hochmütig. Wahre Selbsterkenntnis führt zunächst dadurch, daß wir untertauchen in fremdes Selbst, zu dem Leid. Johannes folgt [im ersten Bild] den Menschen so; daß er dem Capesius zuhört und in dieser anderen Seele die Worte der Felicia erfährt. Dem Strader folgt er in seine Klostereinsamkeit. Das ist die

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Abstraktion zunächst. Da ist er noch nicht dahin gekommen, wozu er jetzt [im zweiten Bild] durch den Schmerz geführt wird. Die Selbst­erkenntnis vertieft sich in der Meditation im inneren Selbst. Und das, was im ersten Bild gezeigt worden ist, zeigt die vertiefte Selbsterkennt­nis [im zweiten Bild], die aus der Abstraktion das Konkrete vorstellt. Und die gewöhnlichen Worte, die wir durch Jahrhunderte als Merkworte des Delphischen Orakels ertönen hören, gewinnen ein neues Leben für den Menschen, aber zunächst ein Leben der Entfremdung von sich selbst.

Johannes geht als Sich-selbst-Erkennender in allen äußeren Wesen unter. Er lebt in Luft und Wasser, in Felsen und Quellen, aber nicht in sich selber. All die Worte, die man nur von außen tönen lassen kann, sind eigentlich Worte der Meditation. Und schon wenn der Vorhang aufgeht, haben wir uns die Worte vorzustellen, die bei jeder Selbst­erkenntnis viel lauter ertönen, als man es auf der Bühne darzustellen in der Lage ist. Dann taucht der Selbsterkennende unter in die ver­schiedenen anderen Wesen; dadurch lernt er die Dinge kennen, in die er untertaucht. Und dann tritt ihm dasselbe Erlebnis, das er schon früher gehabt hat, in furchtbarer Weise vor Augen.

Das ist durchaus tiefe Wahrheit, daß diese Selbsterkenntnis, wenn sie in dieser Weise verläuft, wie es eben charakterisiert worden ist, da­zu führt, uns ganz anders anzuschauen, als wir uns vorher angesehen haben. Sie führt uns dazu, daß wir sozusagen unser Ich als fremdes Wesen empfinden lernen.

Für den Menschen ist eigentlich seine äußere Hülle das Nächste. Mit dieser wird der Mensch in unserer Zeit sich viel mehr verbunden fühlen, wenn er sich in den Finger schneidet, als wenn etwa ein falsches Urteil des Nebenmenschen ihm wehe tut. Wieviel mehr tut es dem heutigen Menschen weh, wenn er sich in den Finger schneidet, als wenn er ein falsches Urteil hört! Und dennoch schneidet es nur in seine Leibeshülle. Daß wir aber das fühlen, daß wir unseren Leib fühlen wie ein Werk­zeug, das ergibt sich erst in Selbsterkenntnis.

Der Mensch kann seine Hand schon annähernd als Werkzeug fühlen, wenn er einen Gegenstand ergreift. Aber dasselbe lernt man fühlen mit diesem oder jenem Teil des Gehirns. Dieses innerliche Fühlen des Gehirns

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als Instrument stellt sich ein auf einer gewissen Stufe der Selbst­erkenntnis. Da lokalisiert sich das einzelne. Wenn wir einen Nagel einschlagen, wissen wir, daß wir das mit einem Werkzeug tun. Wir wissen aber auch, daß wir diese oder jene Gehirnpartie dazu benützen. Dadurch, daß die Dinge uns objektiv fremd werden, lernen wir unser Gehirn als etwas von uns Abgesondertes kennen. Selbsterkenntnis för­dert diese Objektivität unserer Hülle, und dann ist uns zuletzt unsere Hülle so fremd, wie uns unsere äußeren Werkzeuge fremd sind. Da­durch beginnen wir wirklich in der Außenwelt zu leben, wenn wir an­fangen, unser Leibliches als ein Objektives zu fühlen.

Weil der Mensch nur seine Leibeshülle fühlt, ist er sich nicht klar darüber, daß eine Grenze ist zwischen der Luft da draußen und der Luft in seiner Lunge. Trotzdem sagt er, da drinnen sei dieselbe Luft wie draußen. Wenn wir den Stoff der Luft nehmen, dann ist er drinnen und draußen. So ist es mit allem, mit dem Blut, mit allem, was leiblich ist. Leiblich kann er aber nicht innen oder außen sein, das ist nur Maja. Gerade dadurch, daß das leibliche Innere ein Äußeres wird, setzt es sich wahrheitsgemäß in die übrige Welt und den Kosmos fort.

Der Schmerz des Sich-fremd-Fühlens sollte dargestellt werden in der ersten heute rezitierten Szene. Schmerz des Sich-fremd-Werdens dadurch, daß man sich findet in allem Äußeren. Die eigene Leibeshülle des Johannes Thomasius ist wie ein Wesen, das außer ihm ist. Dafür aber, daß er den eigenen Leib draußen fühlt, sieht er herankommen den anderen Leib, den Leib des Wesens, das er verlassen hat. Das kommt an ihn heran, und er hat gelernt, mit den eigenen Worten dieses Wesens zu sprechen. Es sagt zu ihm, sein Selbst hat sich zu ihm erweitert:

Er hat mir bittre Not gebracht;

Ich habe ihm so ganz vertraut.

Er ließ im Kummer mich allein,

Er raubte mir die Lebenswärme

Und stieß in kalte Erde mich.

Dann aber erst kommt der Vorwurf lebendig in die Seele, wenn das fremde Leid, mit dem wir unser eigenes Selbst verknüpft haben, aus­gesprochen werden muß, weil das eigene Selbst in ein anderes Selbst

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untergetaucht ist. Das ist eine Vertiefung. Da ist Johannes wirklich in dem Leid, weil er es verursacht hat. Er fühlt sich darin ausgeflossen und wieder aufgewacht. Was erlebt er da eigentlich?

Wenn wir alles zusammennehmen, finden wir, daß der gewöhnliche, normale Mensch ein ähnliches nur erlebt in dem Zustand, den wir Kamaloka nennen. Der Einzuweihende muß das, was der normale Mensch in der geistigen Welt erlebt, schon in dieser Welt erleben. Er muß das, was Kamaloka-Erlebnisse sind, was sonst außerhalb des phy­sischen Leibes erlebt wird, innerhalb des physischen Leibes erleben. Da­her sind alle Eigenschaften, die man als Kamaloka-Eigenschaften auf­nehmen kann, als Erlebnisse der Initiation da. So wie Johannes unter-taucht in die Seele, der er Leid gebracht hat, so muß der normale Mensch im Kamaloka in die Seelen untertauchen, denen er Schmerz gebracht hat. Wie wenn ihm eine Ohrfeige zurückgegeben wird, so muß er Schmerz empfinden. Diese Dinge sind nur mit dem Unterschied behaf­tet, daß der Initiierte sie im physischen Leib erlebt, der andere Mensch nach dem Tode. Wer sie hier erlebt, lebt in ganz anderer Weise dann im Kamaloka. Aber auch das, was der Mensch im Kamaloka erleben kann, kann so erlebt werden, daß er sozusagen noch nicht wirklich frei geworden ist. Und das ist eine schwierige Aufgabe, völlig frei zu werden. Der Mensch fühlt sich wie gefesselt an die physischen Ver­hältnisse.

In unserer Zeit gehört es zu den wichtigsten Entwickelungserleb-nissen - in der griechisch-lateinischen Zeit war es noch nicht so, es ist erst jetzt besonders wichtig geworden -, daß der Mensch erleben kann, wie unendlich schwierig es ist, von sich loszukommen. Daher ist ein wichtiges Initiationserlebnis ausgedrückt in den Worten, wo sich Jo­hannes an den eigenen niederen Leib gefesselt fühlt, wo sein eigenes Wesen ihm erscheint wie ein Wesen, an das er angeschmiedet ist:

Ich fühle Fesseln,

Die mich an dich gefesselt halten.

So fest war nicht Prometheus

Geschmiedet an des Kaukasus Felsen,

Wie ich an dich geschmiedet bin.

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Das ist etwas, was mit Selbsterkenntnis verbunden ist, ein Geheimnis der Selbsterkenntnis. Wir müssen es nur im richtigen Sinn auffassen.

Die Frage nach diesem Geheimnis könnte auch so geschildert wer­den: Sind wir eigentlich dadurch, daß wir Erdenmenschen geworden sind, daß wir in unsere Erdenhüllen untergetaucht sind, bessere Men­schen geworden, oder wären wir bessere Menschen, wenn wir in unse­rem Inneren allein sein könnten, wenn wir einfach die Hüllen abwerfen könnten? Die Triviallinge, die dem geistigen Leben gegenübertreten, können leicht fragen: Wozu erst untertauchen in den Erdenleib? Das einfachste wäre, man bliebe oben, dann würde man nicht die ganze Misere haben, unterzutauchen.

Wozu haben uns die weisen Mächte des Schicksals untergetaucht? Empfindungsgemäß kann man da wenig erklären, wenn man sagt, an diesem Erdenleib haben göttlich-geistige Kräfte durch Jahrmillionen und Jahrmillionen gearbeitet. Wir sollten gerade dadurch, daß es so ist, mehr aus uns machen, als wir Kräfte haben. Unsere inneren Kräfte reichen nicht hin. Wir können nicht jetzt schon so viel sein, wie die Götter gemacht haben, wenn wir bloß das sein wollen, was wir in unse­rem Inneren sind, wenn wir nicht korrigiert werden durch unsere Hül­len. Das Leben stellt sich so dar: Hier auf Erden ist der Mensch versetzt in seine Leibeshüllen; diese sind von Wesen durch drei Welten zube­reitet. Der Mensch soll erst das Innere heranbilden. Zwischen Geburt und Tod ist er ein böses, im Devachan ist er wieder ein besseres Wesen, aufgenommen von göttlich-geistigen Wesen, die ihn mit ihren eigenen Kräften durchgießen. Später, in der Vulkanzeit, wird er dann ein voll­kommenes Wesen sein. Jetzt auf Erden ist er ein Wesen, das dieser oder jener Lust frönt. Das Herz zum Beispiel ist so weise eingerichtet, daß es Jahrzehnte standhält gegen die Anstürme, die der Mensch gegen es richtet mit seinen Exzessen, zum Beispiel mit dem Kaffee. So, wie der Mensch heute durch eigene Kraft sein kann, zieht er nun durch Kama­loka. Da soll er kennenlernen, was er durch eigene Kraft sein kann. Und das ist wahrhaft nichts Gutes. Der Mensch kann, wenn er sich selbst bezeichnen soll, sich nicht bezeichnen mit dem Prädikat der Schönheit. Da muß er sich schon so bezeichnen, wie dies Johannes [im zweiten Bild] tut:

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Doch wie erkenne ich mich wieder!

Mir ist verloren Menschenform.

Ein wilder Wurm erschein' ich mir,

Aus Lust und Gier geboren.

Und klar empfinde ich,

Wie eines Wahnes Nebelbild

Die eigne Schreckgestalt

Bisher verborgen mir gehalten hat.

Unser Inneres wird wie elastisch ausgespannt in unsere Leibeshüllen und verbirgt sich uns. Wir lernen uns tatsächlich kennen wie eine Art wilder Wurm, wenn wir die Initiation kennenlernen. Und daher sind diese Worte nun aus tiefster Empfindung heraus geschöpft, die Worte der Selbsterkenntnis, nicht der Selbstbebrütung sind:

Ich bin es selbst.

Erkenntnis schmiedet an dich verderblich Ungeheuer

Mich selbst verderblich Ungeheuer.

Im Grunde genommen sind beide dasselbe, einmal als Objekt, das an­dere Mal als Subjekt.

Entfliehen wollt' ich dir.

Aber dieses Entfliehen führt den Menschen gerade nur zu sich selbst. Und dann kommt jene Gesellschaft, die da auftaucht, in der wir

darinnen sind, wenn wir wirklich in uns hineinblicken. Diese Gesell­schaft, die wir in uns finden, sind unsere eigenen Begierden und Lei­denschaften, das, was früher nicht bemerkt wurde, weil jedesmal, wenn wir in uns hineinblicken wollten, der Blick abgelenkt wurde auf unsere Umgebung. Denn im Vergleich zu dem, in das wir so hineinblicken wollten, ist die Welt eine wunderschöne Welt. Da, in der Illusion, der Maja des Lebens, hört man auf, in sich hineinzusehen. Wenn aber die Menschen allerlei dummes Zeug um uns herum reden, und wenn es uns zuviel geworden ist, dann fliehen wir in die Einsamkeit. Und dies ist für gewisse Stufen der Entwickelung sehr wichtig. Da kann und soll man sich sammeln. Das ist ein gutes Mittel der Selbsterkenntnis. Aber es gibt dennoch Erlebnisse, daß wir in Gesellschaften kommen, daß wir

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nicht mehr einsam sein können, daß gerade da jene Wesen auftreten -in uns oder außer uns, das ist einerlei -, die uns nicht einsam sein lassen. Dann kommt jenes Erlebnis, das man haben soll. Diese Einsamkeit bringt eben die schlimmste Gesellschaft:

Mir ist des Menschen letzte Zuflucht,

Mir ist die Einsamkeit verloren.

Das sind wirkliche Erlebnisse. Aber lassen Sie sich die Intensität, die Stärke dieser Erlebnisse nicht selber eine Anfechtung sein. Glauben Sie nicht, wenn solche Erlebnisse in starker Intensität vorgeführt werden, daß man Angst und Furcht haben soll. Glauben Sie nicht, daß das bei­tragen soll, jemanden abzulenken, selbst unterzutauchen in diese Fluten. Man erlebt sie nicht gleich in dieser Stärke wie Johannes, weil er es zu bestimmtem Ziele so erleben sollte, in gewisser Weise sogar verfrüht. Die reguläre Selbstentwickelung geht einen anderen Gang. Deshalb ist das als individuell aufzufassen, was bei Johannes tumultuarisch ein­tritt. Weil er diese Individualität ist, die Schiffbruch gelitten hat, kann bei ihm, da er diese Gesetze durchmacht, alles viel tumultuarischer er­folgen. Er lernt sie so kennen, daß sie ihn tief aus dem Gleichgewicht bringen. Aber dadurch, daß es hier für Johannes geschildert ist, sollte eines erweckt werden, nämlich das Gefühl, daß mit irgendwelchen tri­vialen Phrasen wahre Selbsterkenntnis nichts zu tun hat, daß wahre Selbsterkenntnis nicht anders kann, als zuerst durch Schmerz und Leid zu führen.

Dinge, die vorher eine Erquickung für Menschen sind, gewinnen ein anderes Antlitz, wenn sie auf dem Felde der Selbsterkenntnis auftre­ten. Einsamkeit können wir uns erflehen, gewiß, wenn wir auch schon Selbsterkenntnis gefunden haben. Aber in gewissen Momenten der Selbsterkenntnis kann Einsamkeit das sein, was wir verlieren, wenn wir sie in unserer vorher bekannten Weise suchen, in Momenten, wo wir dann ausfließen in die objektive Welt, wo der Einsame gerade die schwersten Schmerzen erleidet.

Dieses Sich-Hinausergießen in andere Wesenheiten müssen wir in richtiger Weise empfinden lernen, wenn wir das, was in das Drama gelegt ist, fühlen wollen. Es ist ein gewisses ästhetisches Gefühl durchgeführt,

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alles darin ist spirituell-realistisch. Wer realistisch denkt - ein echt ästhetisch fühlender Realist -, empfindet gewisse Schmerzen bei einer unrealistischen Darstellung. Auch das, was auf einer gewissen Stufe große Befriedigung geben kann, kann auf anderer Stufe eine Quelle des Schmerzes sein. Das hängt von dem Weg der Selbsterkennt­nis ab. Ein Shakespeare-Drama zum Beispiel, etwas also, was schon eine große Leistung der Außenwelt ist, kann ein Quell der ästhetischen Befriedigung sein. Aber ein gewisser Moment der Entwickelung kann eintreten, wo man nicht mehr davon befriedigt sein kann, weil man sein Inneres zerrissen fühlt, wenn man von Szene zu Szene geht, weil man keine Notwendigkeit mehr sieht, daß eine Szene an die andere gereiht ist. Man kann dies als unnatürlich empfinden, daß eine Szene neben die andere gestellt ist. Warum unnatürlich? Weil nichts zwei Szenen zusammenhält als der Schreiber Shakespeare und der Zuschauer. In der Szenenfolge ist ein abstraktes Prinzip der Kausalität, nicht ein konkret Wesenhaftes. Das ist das Charakteristische der Dramen Shake­speares, daß nichts angedeutet ist, was sie karmisch durchwirkt und zusammenhält.

Das Rosenkreuzerdrama ist realistisch geworden, spirituell-rea­listisch. Es stellt große Anforderungen an Johannes Thomasius. Ohne daß er in irgendeiner wichtigen Eigenschaft aktiv mittut, ist er auf der Szene. Er ist es, in dessen Seele sich alles abspielt, und was da geschil­dert wird, ist die Entwickelung der Seele, das reale Erlebnis dessen, was in der Entwickelung der Seele erlebt wird.

Die Seele des Johannes spinnt realistisch das eine Bild aus dem an­deren Bild heraus. Da sehen wir, daß realistisch und spirituell einander nicht widersprechen. Materialistisches und Spirituelles brauchen sich nicht, aber können sich widersprechen. Aber es braucht sich auch Rea­listisches und Spirituelles nicht zu widersprechen, und es kann etwas spirituell Realistisches von einem Materialisten ganz bewundert wer­den. Die Dramen Shakespeares können in bezug auf ein ästhetisches Prinzip durchaus realistisch gedacht werden. Aber Sie können auch begreifen, daß eine Kunst, die Hand in Hand geht mit Geisteswissen­schaft, zuletzt dahin führt, daß für den, der sein Selbst im Kosmos er­lebt, der ganze Kosmos zu einer Ich-Wesenheit wird. Dann können wir

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es auch nicht ertragen, daß ihm irgend etwas entgegentritt im Kosmos, was nicht in Beziehung steht zur Ich-Wesenheit. Die Kunst wird in dieser Beziehung etwas lernen, was sie zum Ich-Prinzip kommen läßt, weil der Christus uns zuerst einmal das Ich gebracht hat. Auf den ver­schiedensten Gebieten wird sich dieses Ich ausleben.

Aber noch in anderer Weise zeigt sich dieses konkrete Menschliche in der Seele und das Wiederum-Verteiltsein draußen. Wenn einen damals jemand gefragt hat: Welche Person ist Atma, welche ist Buddhi, welche Manas? - Es wäre eine gräßliche Kunst, eine fürchterliche Kunst, wenn man die Darstellung so interpretieren müßte: Diese Gestalt ist eine Personifikation von Manas. - Es gibt theosophische Unarten, die sich bemühen, alles in dieser Richtung auszulegen. Von dem Kunstwerk, das sich so interpretieren lassen müßte, könnte man sagen: Armes Kunstwerk! - Gegenüber Shakespeares Dramen jedenfalls wäre dies grundfalsch und lächerlich.

Solche Dinge sind Kinderkrankheiten der theosophischen Entwicke­lung. Man wird sie sich schon abgewöhnen. Aber es ist doch notwendig, daß auf diese Dinge auch einmal aufmerksam gemacht wird. Es könnte sogar vorkommen, daß sich jemand daran macht, die neun Glieder der menschlichen Natur in der Neunten Symphonie Beethovens aufzu­suchen.

Und dennoch ist es in gewisser Weise richtig, daß das, was einheit­liche menschliche Natur ist, sich wiederum verteilt auf verschiedene Menschen. Ein Mensch hat diese besondere Seelenfärbung, ein anderer jene. So können wir Menschen vor uns sehen, die verschiedene Seiten der menschlichen Gesamtnatur darstellen. Aber das muß realistisch ge­dacht sein, muß aus der Natur des Menschen heraus kommen. Wie uns Menschen in der Welt entgegentreten, darin stellen sie die verschiede­nen Seiten der menschlichen Natur dar. Und indem wir uns durchent­wickeln von Inkarnation zu Inkarnation, werden wir eine Totalität. Wenn das betreffende Faktum, das zugrunde liegt, dargestellt werden soll, dann muß das ganze Leben aufgelöst werden.

So ist im Rosenkreuzermysterium das, was in gewisser Weise Maria darstellen soll, aufgelöst in den anderen Figuren, die als Begleiter um sie herum sind, die mit ihr eine Ichheit ausmachen. Man kann insbesondere

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Eigenschaften der Empfindungsseele in der Philia sehen, Eigen­schaften der Verstandes- oder Gemütsseele in Astrid, Eigenschaften der Bewußtseinsseele in Luna. Daraufhin sind schon die Namen geprägt. Alle Namen sind so, daß sie für die einzelnen Wesenheiten ganz wesen­haft geprägt sind. Nicht nur in den Worten, sondern in der Art, wie die Worte gesetzt sind, namentlich wo wirken soll das Spirituelle im Devachan, im siebenten Bild, da ist das, was die drei Gestalten der Philia, Astrid und Luna charakterisieren soll, genau abgestuft. Das, womit da das siebente Bild beginnt, ist eine bessere Charakteristik von Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele, als man sonst in Worten geben kann. Da kann man den Menschen zeigen, was Emp­findungsseele, was Verstandesseele, was Bewußtseinsseele ist. In der Kunst kann man die Stufen zeigen in der Art, wie diese drei Gestalten dastehen. In der menschlichen Wesenheit fließen sie ineinander. Werden sie voneinander gelöst, dann stellen sie sich so dar, wie Philia sich hineinstellt in das Weltenall, wie Astrid sich hineinstellt in die Ele­mente, wie Luna ausfließt in Selbsttat und Selbsterkenntnis. Und weil sie sich da so hineinstellen, ist in der Devachanszene alles enthalten, was im wahren Sinne Alchimie ist. Die ganze Alchimie ist darin. Man muß sie nur nach und nach herausfinden.

Sie ist aber nicht nur in dem abstrakten Inhalt gegeben, sondern in dem Weben und Wesen der Worte. Deshalb sollen Sie nicht nur hören, was gesagt wird, und namentlich nicht bloß, was der einzelne spricht, sondern wie die Seelenkräfte im Verhältnis zueinander sprechen. Die Empfindungsseele schiebt sich hinein in den Astralleib, wir haben es mit webender Astralität zu tun. Die Verstandesseele schiebt sich hinein in den Ätherleib, wir haben es also mit webender Ätherwesenheit zu tun. Wir sehen, wie sich wie mit innerer Festigkeit die Bewußtseinsseele in den physischen Leib hineinergießt. So ist das, was seelenhaft wirkt wie Licht in der Seele, in den Worten der Philia gegeben; was ätherisch ob­jektiv wirkt, so daß man den wahren Dingen gegenübersteht, das ist in Astrid gegeben; was innere Festigkeit gibt, so daß es mit dem physischen Leib verbunden ist, das ist in Luna gegeben. Das müssen wir erfühlen. Hören wir die Seelenkräfte im siebenten Bild:

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Philia: Ich will erfüllen mich

(Empfindungsseele) Mit klarstem Lichtessein

Aus Weltenweiten,

Ich will eratmen mir

Belebenden Klangesstoff

Aus Ätherfernen,

Daß dir, geliebte Schwester,

Das Werk gelingen kann.

Astrid: Ich will verweben

(Verstandesseele) Erstrahlend Licht

Mit dämpfender Finsternis,

Ich will verdichten

Das Klangesleben.

Es soll erglitzernd klingen,

Es soll erklingend glitzern,

Daß du, geliebte Schwester,

Die Seelenstrahlen lenken kannst.

Luna: Ich will erwärmen Seelenstoff

(Bewußtseinsseele) Und will erhärten Lebensäther.

Sie sollen sich verdichten,

Sie sollen sich erfühlen,

Und in sich selber seiend

Sich schaffend halten,

Daß du, geliebte Schwester,

Der suchenden Menschenseele

Des Wissens Sicherheit erzeugen kannst.

Ich mache darauf aufmerksam, daß wir haben bei der Philia: «Daß dir, geliebte Schwester ...», daß wir bei Astrid in das Dumpfere, in das Dichtere hineinkommen: «Daß du, geliebte Schwester...», «Daß

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dir ...», «Daß du...». Und jetzt haben wir es bei Luna verwoben mit dem noch schwerer Wiegenden: «Der suchenden Menschenseele». Da ist das Uso verwoben mit den benachbarten Konsonanten, daß es noch festere Dichtigkeit erlangt.

Das sind die Dinge, die man tatsächlich charakterisieren kann. Auf das Wie kommt es an, das muß festgehalten werden. Vergleichen wir die Worte, die Philia weiter spricht:

Ich will erbitten von Weltengeistern,

Daß ihres Wesens Licht

Entzücke Seelensinn,

Und ihrer Worte Klang

Beglücke Geistgehör

mit den ganz anders gearteten, die Astrid spricht:

Ich will die Liebesströme,

Die Welt erwarmenden,

Zu Herzen leiten

Dem Geweihten

so ist gerade da, wo diese Worte durchgeführt sind, das innere Weben und Wesen des devachanischen Weltelementes durchgeführt.

Wir müssen uns klarmachen an solchen Dingen, und deshalb er­wähne ich es, daß, wenn Selbsterkenntnis anfängt aufzugehen in äuße­rem Weltenweben und Weltenwesen, es darauf ankommt, alle Ein­seitigkeit aufzugeben, und daß wir fühlen lernen, wie wir sonst nur in Philisterart erleben können, was in jedem Punkte des Daseins vor­handen ist. Das macht uns Menschen zu starren Wesen, daß wir an den Punkt im Raume gebannt sind und glauben, mit Worten Wahrheiten aussprechen zu können. Aber Worte sind das, was weniger gut die Wahrheit aussprechen kann, weil es an den physischen Klang gebunden ist. Wir müssen, ich möchte sagen, den Ausdruck mitfühlen. Daher kommt es darauf an, daß ein solcher wichtiger Vorgang wie der Selbst­erkenntnisvorgang des Johannes Thomasius nur so richtig erlebt wer­den kann, wenn er dann die Selbsterkenntnis mutvoll erringt und ergreift.

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Das ist der nächste Akt, nachdem die Selbsterkenntnis uns nieder­geschmettert hat, daß wir anfangen, das, was wir draußen gelernt haben, indem wir den Kosmos als uns verwandt begriffen haben, nach­dem wir das Wesen der Wesen erkannt haben, in uns jetzt hereinzuneh­men, daß wir uns mutvoll erkühnen, das zu leben, was wir erkannt haben. Nur die Hälfte der Sache ist es, daß wir untertauchen wie Jo­hannes in ein Wesen, dem wir Leid gebracht haben, das wir in die kalte Erde hinuntergestoßen haben. Denn wir empfinden jetzt anders. Wir fassen Mut, den Schmerz auszugleichen. Dann tauchen wir unter in dieses Leben und sprechen im eigenen Wesen anders. Das wird zunächst dasjenige, was uns im neunten Bild entgegentritt. Während im zweiten Bild das Wesen dem Johannes zurief:

Er hat mir bittre Not gebracht;

Ich habe ihm so ganz vertraut.

Er ließ im Kummer mich allein,

Er raubte mir die Lebenswärme

Und stieß in kalte Erde mich

rief dasselbe Wesen im neunten Bild, nachdem Johannes sich da erlebt hatte, wohin jede Selbsterkenntnis drängt, ihm zu:

Du mußt mich wieder finden

Und mir die Schmerzen lindern.

Das ist die andere Seite: erst das Niederschmetternde, dann das Aus­gleichende des Erlebens. Da ruft ihm das andere Wesen zu:

Du mußt mich wieder finden.

Es könnte das anders nicht dargestellt werden, dieses Heraufheben des Erlebens der Welt, dieses Sich-Ausfüllen mit dem Erleben der Welt. Wahre Selbsterkenntnis im Auftauchen innerhalb des Kosmos könnte nicht geschildert werden, wenn nicht mit den Worten, mit denen Jo­hannes aufwacht. Selbstverständlich muß sie so beginnen, im zweiten

Bild:

So hör' ich sie seit Jahren schon,

Die inhaltschweren Worte.

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Dann, nachdem er untergetaucht ist in den Erdengrund, nachdem er mit dem Erdengrund vereinigt ist, entsteht in der Seele die Kraft, die Worte so entstehen zu lassen. Das ist das Wesentliche im neunten Bild:

Ich habe sie drei Jahre lang gesucht,

Die mutbeschwingte Seelenkraft,

Die Wahrheit gibt dem Worte,

Durch das der Mensch, sich selbst befreiend, siegen

Und sich besiegend, Freiheit finden kann.

Das sind die Worte: «0 Mensch, erlebe dich!» im Gegensatz zu den Worten im zweiten Bild: «0 Mensch, erkenne dich!» So tritt uns im­mer wiederum dasselbe Bild entgegen. Während das eine Mal das Bild hinunterführt:

Die Welt und meine Eigenheit,

Sie leben in dem Worte:

0 Mensch, erkenne dich!

ist es dann umgekehrt. Das wechselt. Das Bild gibt den Seelenvorgang wieder.

So haben Sie auch gehört das furchtbar niederschmetternde Wort:

Maria, ist dir denn bewußt,

Was meine Seele eben durchgerungen?

Mir ist des Menschen letzte Zuflucht,

Mir ist die Einsamkeit verloren.

Dann wird im neunten Bild gezeigt, wie das Wesen erst Zuversicht und dann Sicherheit gewinnt. Das ist die Kongruenz. Nicht Konstruktionen, sondern selbstverständliche Erlebnisse müssen es sein. Dadurch sollen wir fühlen, wie in einer solchen Seele, wie der des Johannes Thomasius, Selbsterkenntnis sich abklärt zum Selbsterleben. Wir sollen auch fühlen, wie sich verteilt dieses Erlebnis des Johannes Thomasius auf einzelne Menschen und damit seine eigene Erkenntnis über die gesamten Men­schen, in denen sich in den einzelnen Inkarnationen ein Teil seiner We­senheit ausprägt. Zuletzt steht da im Sonnentempel eine ganze Gesellschaft,

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alle wie ein Tableau, und alle zusammen sind ein einzelner Mensch. Auf alle sind Eigenschaften eines einzigen Menschen verteilt; es ist im Grunde genommen ein einzelner Mensch. Aber ein pedanti­scher Mensch müßte sagen: Es sind ja zu viele Teile, es müßten neun statt zwölf sein. - So schafft aber die Wirklichkeit nicht, daß sie im Einklang steht mit den Theorien. Und dennoch steht sie mehr im Ein­klang mit der Wahrheit, als wenn man in regulärer Weise die einzelnen Glieder der menschlichen Wesenheit aufmarschieren ließe.

Versetzen wir uns jetzt in diesen Sonnentempel. Da sind die einzel­nen Menschen, die so hineingestellt worden sind, wie sie wirklich kar­misch zusammengehören, wie Karma sie im Leben zusammengestellt hat. Aber wenn wir uns jetzt den Johannes hier denken

#Bild s.119

und uns eines jeden einzelnen Charakter so gespiegelt denken in der Seele des Johannes und jeden Menschen als Seeleneigenschaft des Jo­hannes - was ist denn dann, wenn wir das als Realität fassen, ge­schehen? Da hat Karma tatsächlich wie in einem Knotenpunkt diese Menschen zusammengebracht. Nichts ist absichtslos, zwecklos, ziellos, sondern was einzelne Menschen getan haben, bedeutet nicht nur ein Einzelereignis, es bedeutet jeder ein Seelenerlebnis des Johannes Tho­masius. Es spielt sich alles zweimal ab: im Makrokosmos und im Mikro­kosmos der Seele des Johannes. Das ist seine Initiation. Wie Maria zum Beispiel zu ihm selber steht, so steht ein wichtiges Glied seiner Seele zu

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einem anderen Glied der Seele. Das sind absolute Kongruenzen, streng durchgeführt. Was äußerliche Handlung ist, ist in Johannes innerlicher Entwickelungsvorgang. Es will da geschehen, was der Hierophant aus­drückt im dritten Bild:

Es formt sich hier in diesem Kreise

Ein Knoten aus den Fäden,

Die Karma spinnt im Weltenwerden.

Er hat sich geformt. Und dieser so recht geschürzte Knoten zeigt, wozu alles führt. Auf der einen Seite absolute Realität, wie Karma spinnt, aber nicht ein zweckloses Spinnen. Wir haben den Knoten als den Initiationsvorgang in der Seele des Johannes, und wir haben das Ganze so, daß doch noch eine menschliche Individualität steht über all diesen

Menschen: der Hierophant, der eingreift, der die Fäden lenkt. Wir brauchen nur an den Hierophanten und sein Verhältnis zu Maria zu denken.

Aber gerade daran können wir ersehen, daß dieser Vorgang etwas ist, was Selbsterkenntnis erleuchten kann, an dieser Stelle im dritten Bild. Ein Spaß ist dieses Heraussteigen aus dem Selbst nicht. Ein ganz realer Vorgang ist es, ein Verlassenwerden der menschlichen Hüllen von der inneren Kraft. Dann bleiben diese menschlichen Hüllen übrig und werden ein Kampfplatz für untergeordnete Mächte. Wo Maria den Strahl der Liebe zum Hierophanten herunterschickt, das kann nicht anders dargestellt werden als: Da unten der Leib, der ergriffen wird von der Macht des Widersachers und das Gegenteil sagt von dem, was da oben vorgeht. Da oben strahlt ein Strahl der Liebe herunter, da unten entsteht ein Fluch. Das sind die kontrastierenden Szenen: Im Devachan, wo Maria schildert, was sie wirklich getan hat, und im dritten Bild, wo sich unten beim Verlassen des Leibes das Fluchen der dämonischen Mächte gegen den Hierophanten abspielt. Da haben wir zwei sich ergänzende Bilder. Es würde wirklich ganz schlimm werden, wenn man sie erst so konstruieren müßte.

So habe ich dem heutigen Vortrag eine Seite dieses Mysteriendramas zugrunde gelegt, und ich hoffe, daß wir gerade daran einige besondere

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Charakteristika anknüpfen konnten, wie sie der Initiation zugrunde liegen.

Es darf der Umstand, daß manches scharf betont werden mußte, wenn wirkliche Vorgänge der Einweihung dargestellt werden sollen, Sie nicht mutlos, kleinmütig machen gegenüber dem Streben nach der geistigen Welt. Die Schilderung der Gefahren hat nur den Zweck, den Menschen zu stählen gegenüber den Gewalten. Die Gefahren sind da, die Schmerzen und Leiden stehen uns bevor. Es wäre wahrhaftig ein schlechtes Streben, wenn wir nur sozusagen in der bequemsten Weise hinaufrücken wollten in die höheren Welten. So bequem, wie in mo­dernen Eisenbahnzügen sich hinrollen zu lassen, wie die äußere mate­rielle Kultur es in bezug auf das äußere Leben macht, läßt es sich noch nicht machen in bezug auf das Erreichen der geistigen Welten. Nicht mutlos machen soll das hier Geschilderte, sondern gerade durch das Sich-Bekanntmachen in gewisser Weise mit den Gefahren der Initiation soll der Mut gestählt werden.

Gerade wie bei Johannes Thomasius, den seine Neigung unfähig ge­macht hat, den Pinsel zu führen, sich das umsetzt in Schmerz, dann aber Schmerz in Erkenntnis, so wird alles, was Leid und Schmerz erregt, sich in Erkenntnis umsetzen. Wir müssen diesen Weg aber ernsthaft suchen. Dies können wir nur, wenn wir einmal versuchen, uns vor Augen zu führen, daß doch die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten nicht so ein­fach sind. So tiefe Lebenswahrheiten sind das, daß man niemals fertig werden kann damit, sie genau zu fassen. Gerade das Beispiel im Leben gestattet uns, die Welt zu erfassen, und noch viel genauer kann man sprechen über die Bedingungen der Entwickelung, wenn man die Ent­wickelung des Johannes darstellt, als wenn man überhaupt die Ent­wickelung eines Menschen darstellt. In dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist die Entwickelung dargestellt, wie sie bei jedem Menschen sein kann, also einzig die Möglichkeit, wie sie real sein kann. Wenn man Johannes Thomasius darstellt, schildert man einen einzelnen Menschen. Aber dadurch beraubt man sich der Möglichkeit, die Entwickelung im allgemeinen zu schildern.

Ich hoffe, Sie werden möglichst Veranlassung nehmen, zu sagen, daß ich im Grunde genommen die Wahrheit doch noch nicht gesagt habe.

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Wir haben zwei Extreme und müssen die Abstufungen zwischen beiden finden. Ich kann immer nur einige Anregungen geben. Diese müssen dann weiterleben in den Herzen und Seelen.

In den Anregungen, die ich über das Matthäus-Evangelium gab, habe ich gesagt: Suchen Sie sich nicht zu erinnern an den Wortlaut, sondern suchen Sie, wenn Sie hinausgetreten sind in die Welt, in Herz und Seele zu schauen, was da die Worte geworden sind. Suchen Sie nicht nur zu lesen in Zyklen, sondern auch wirklich ernstlich in Ihrer Seele zu lesen.

Dazu muß aber erst etwas von außen gegeben werden, muß erst etwas hineingegangen sein. Das andere wäre ein Selbstbetrug der Seele. Verstehen Sie das in der Seele zu lesen, und Sie werden sehen, daß, was von außen geklungen hat, in viel anderer Weise noch innen klingen wird. Das würde erst das richtige anthroposophische Bestreben sein, wenn jedesmal das, was gesprochen wird, auf so viele Arten verstan­den würde, als Zuhörer da sind.

Niemals kann derjenige, der über Geisteswissenschaft sprechen will, versuchen, nur auf eine Art verstanden zu sein. Er möchte auf so viele Arten verstanden sein, als Seelen da sind. Anthroposophie verträgt dies schon. Aber eines ist notwendig. Ich sage das nicht, um etwas Nebensächliches zu sagen. Eines ist nötig, daß jede einzelne Art des Verstehens richtig und wahr ist. Individuell kann sie sein, aber wahr muß sie sein. Manchmal besteht das Individuelle der Auffassung darin, daß das Gegenteil dessen, was gesagt wird, aufgefaßt wird.

So müssen wir uns, wenn wir von Selbsterkenntnis sprechen, auch das vor Augen führen, daß es nützlicher ist, so zu sprechen, daß wir die Fehler in uns und das Wahre außer uns suchen.

Es wird nicht gesagt: Suche in dir selbst das Wahre! - Das Wahre findet man in der Tat draußen. Man findet, daß es ausgegossen ist in die Welt. Wir müssen durch Selbsterkenntnis von uns frei werden, müssen durch solche Seelenstadien durchgehen. Einsamkeit kann ein ganz schlechter Gesellschafter sein. Aber wir können auch unsere ganze Schwäche fühlen, wenn wir die Größe des Kosmos, aus dem wir ge­boren sind, in unserer Seele nachfühlen. Dann aber fassen wir Mut. Erkühnen wir uns, das, was wir erkennen, zu erleben.

Dann werden wir finden, daß in der Tat aus dem Verlust der letzten

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Zuversicht unseres Lebens heraussprießen wird des Lebens erste und letzte Zuversicht, jene Zuversicht, die uns, indem wir uns im Kosmos wiederfinden, uns selbst überwinden und uns aufs neue finden läßt:

O Mensch, erlebe die Welt in dir!

Dann hast du dich,

Über dich selbst hinausschreitend,

Erst recht in deinem wahren Selbst gefunden.

Fühlen wir diese Worte als Erlebnisse, dann werden sie uns Etappen der Entwickelung.

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EINIGES ÜBER DAS ROSENKREUZERMYSTERIUM «DIE PFORTE DER EINWEIHUNG» Berlin, 31. Oktober 1910

Der Sonne Licht durchflutet

Des Raumes Weiten,

Der Vögel Singen durchhallet

Der Luft Gefilde,

Der Pflanzen Segen entkeimet

Dem Erdenwesen,

Und Menschenseelen erheben

In Dankgefühlen

Sich zu den Geistern der Welt.

Mit diesem Kinderliede wurde eingeleitet, wie diejenigen von Ihnen wissen, welche die Aufführung des Rosenkreuzermysteriums in Mün­chen mitgemacht haben, der Inhalt dieses Mysteriums. In dieser Stunde soll sich einiges Geisteswissenschaftliche vor uns entwickeln in An­knüpfung an dasjenige, was in diesem Mysterium liegt, man könnte auch sagen, Leben bekommen hat.

Es ist, wenn ich das andeuten darf, ein langer geistiger Prozeß, wel­cher zu diesem Mysterium geführt hat. Wenn ich ihn überdenke oder überschaue, so gehen sozusagen seine Keime zurück in das Jahr 1889. Es sind nicht etwa ungefähr, sondern mit einer in solchen Dingen beob­achtbaren Genauigkeit einundzwanzig Jahre, die mich selbst auf den Keim dieses Rosenkreuzermysteriums zurückführen. Und es ist für mich sehr genau zu verfolgen, welche Wege in diesen dreimal sieben Jahren diese Keime durchgemacht haben, und zwar, ich darf wohl sagen ohne mein besonderes Zutun, indem sie ein ihnen eigenes Leben in diesen dreimal sieben Jahren geführt haben. Es ist so merkwürdig, solche Keime auf ihrem Wege bis zu dem, was man Gestaltung nennen kann, zu verfolgen. Sie machen einen Weg durch, den man nennen könnte einen Gang in die Unterwelt. Da brauchen sie sieben Jahre, um hinabzusteigen. Dann kommen sie wieder zurück, und zu diesem Hinaufsteigen

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brauchen sie wieder sieben Jahre. Sie sind dann dort an­gekommen, wo sie ja im Grunde genommen dem Menschen gegenüber waren, als sie ihren Abstieg begonnen haben, und gehen dann in einer entgegengesetzten Seite sieben Jahre nach der anderen Seite, man könnte sagen, die nach der Höhe geht. Das gibt zweimal sieben plus sieben Jahre, das sind einundzwanzig Jahre. Dann konnte mit einiger Aussicht, daß das Richtige, was mit diesen Keimen gemeint ist, auch wirklich in Gestalt übergehen kann, an die Gestaltung herangetreten werden. Und wenn ich mir dessen nicht bewußt wäre, daß ein eigener Organismus, der ein Leben von dreimal sieben Jahren wirklich in sich geführt hat, in dem Rosenkreuzermysterium lebt, so würde ich es gar nicht wagen, irgendwie weiter davon besonders zu sprechen. So aber fühle ich mich nicht nur berechtigt, was ja nicht in Frage käme, sondern in einer gewissen Weise verpflichtet, auch von demjenigen zu sprechen, was nicht nur zwischen den Zeilen, nicht nur in den Personen, nicht nur in dem Was und Wie, sondern was auch in vielen Dingen gerade dieses Rosenkreuzermysteriums, ich möchte nicht einmal sagen, lebt, son­dern leben muß.

Es ist von mir schon da und dort seit der Münchner Aufführung dieses Rosenkreuzermysteriums ausgesprochen worden, was ja wahr ist, daß über viele, viele Dinge, die es auf dem Gebiete des Esoterischen, des Okkulten gibt, nicht mehr von mir gesprochen zu werden brauchte, daß von mir keine Vorträge mehr nötig wären, wenn alles das auf die Seelen der lieben Freunde und mancher anderer Menschen wirken würde, unmittelbar aus dem Rosenkreuzermysterium heraus, was in demselben liegt. Und in Worten, wie man sie in den Vorträgen in der Regel gebraucht, hätte ich vieles, vieles zu reden, nicht nur Tage, Wo­chen, Monate, sondern jahrelang, wenn ich das umschreiben wollte, was durch das Rosenkreuzermysterium gesagt sein sollte und gesagt sein kann. Alle die Dinge, die Sie - und gegenüber okkulten Dingen ist es gewiß berechtigt, so zu sprechen - in einer Art von stammelnden Sprache finden in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höhe­ren Welten?», was da enthalten ist als eine Beschreibung des Weges hinauf in die höheren Welten, das alles verbunden mit dem, was in der «Geheimwissenschaft im Umriß» in einer anderen Form gesagt werden

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durfte, ist im Grunde genommen viel intensiver, lebensrealer und wirk­licher, weil viel individueller, in dem Rosenkreuzermysterium zu fin­den. In einer solchen Schrift wie zum Beispiel «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» kann man das, was über die mensch­liche Entwickelung gesagt werden soll, doch nur so bringen, daß es gewissermaßen anwendbar ist auf jede menschliche Individualität, die daran geht, in gewisser Weise die Schritte hinaufzulenken in die höhe­ren Welten, auf jede menschliche Individualität. Dadurch gewinnt eine derartige Schrift bei aller Konkretheit dennoch einen abstrakten Cha­rakter, man möchte sagen, einen halb theoretischen Charakter. Denn das eine müssen wir festhalten: Entwickelung ist nicht Entwickelung überhaupt! - Es gibt keine Entwickelung an sich, keine Entwickelung im allgemeinen; es gibt nur die Entwickelung des einen oder des an­deren oder des dritten, des vierten oder des tausendsten Menschen. Und so viele Menschen in der Welt sind, so viele Entwickelungsprozesse muß es geben. Daher muß die wahrste Schilderung des okkulten Erkenntnisweges im allgemeinen einen Charakter haben, der in einer gewissen Weise sich nicht deckt mit einer individuellen Entwickelung. Will man Entwickelung, so wie sie sich erschaut in der geistigen Welt, wirklich hinstellen, so kann das nur geschehen, wenn man die Entwickelung eines einzelnen Menschen gestaltet, wenn man in die Individualität umsetzt, was für alle Menschen wahr ist. Liegt in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gewissermaßen der Anfang des Entwickelungsgeheimnisses eines jeden Menschen, so liegt in dem Rosenkreuzermysterium das Entwickelungsgeheimnis eines ein­zelnen Menschen, des Johannes Thomasius.

So war ein weiter Weg von alledem, was okkulte Entwickelungs-gesetze sind, bis herunter zu einem einzelnen, wirklich realen Menschen. Und bei diesem Entwickelungsprozeß, bei diesem Wege mußte sich etwas fast ganz umkehren, was in den «Erkenntnissen der höheren Welten» enthalten ist, und was dort Theorie werden kann. Wenn es nicht Theorie werden soll, ganz besonders wenn es Kunst werden soll, muß es sich völlig umkehren. Denn ganz besondere Gesetze sind die der Kunst. Und wie es Naturgesetze gibt, so gibt es Gesetze der Kunst, die man nicht etwa mit dem gewöhnlichen menschlichen Bewußtsein

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handhabt, denn dann kommt nur etwas ähnliches wie stroherne Alle­gorien heraus. Die Kunstgesetze müssen gehandhabt werden, wie die Natur selbst ihre Gesetze handhabt, wenn sie einen Menschen, ein Tier oder eine Pflanze entstehen läßt. Ist das, was wir über die Welt wissen können, von der einen Richtung her angeschaut, daß wir in die Welt hinschauen und sie uns ihre Gesetze und Geheimnisse enthüllt, so ist das, was in der Kunst und in jeder Kunst zutage treten muß, etwas, was von der anderen Seite durch den entgegengesetzten Sinn in das be­treffende Kunstwerk hineingelegt werden muß. Daher wäre die denk­bar schlechteste Interpretation eines Kunstwerkes die, welche dar­auf ausginge, Begriffe und Ideen, Gesetze, die man von sonst irgend­woher weiß, in eine Dichtung zu bringen. Und der würde nicht künst­lerisch prägen, der abstrakte oder symbolische Begriffe in irgendein Kunstwerk hineinbringen würde. Daher würde es zu den schlechtesten Methoden gegenüber Kunstwerken der Vergangenheit gehören, in de­nen wirklich okkulte Kraft gewirkt hat, wie zum Beispiel im «Faust», wenn wir Begriffe und Ideen, die wir kennen, wieder in den Kunstwer­ken suchen würden. Eine solche Unart hat eine Zeit in der theoso­phischen Bewegung in der furchtbarsten Art grassiert. Ja, ich weiß mich zum Beispiel noch zu erinnern an etwas, was im vorigen Jahr stattge­funden hat, als wir Schurés Drama «Die Kinder des Lucifer » aufführ­ten, wie der Verfasser dieses Dramas, der im besten Sinne des Wortes ein Künstler ist, entsetzt war, als jemand mit der Frage an ihn heran-trat: Bedeutet diese Gestalt «Atma», bedeutet jene Figur «Buddhi», diese Gestalt «Manas», diese «Kama Manas» und so weiter? - Diese Art von Allegorisieren würde bei einem künstlerischen Prozeß unmöglich sein. Daher muß sie unmöglich sein bei einem Erklären, bei einem In­terpretieren. Deshalb darf auch gesagt werden, daß nicht darüber nachzudenken ist: Was ist etwa im anthroposophischen Begriff der Johannes Thomasius? - Auf diese Frage gibt es nur die eine Antwort:

Er ist als die Hauptgestalt dieser Dichtung nichts anderes als Johannes Thomasius. Gar nichts anderes ist er als diese lebendige Figur des Jo­hannes Thomasius, in die nichts anderes hineingelegt ist als das Ent­wickelungsgeheimnis eines einzelnen Menschen, nämlich des Johannes Thomasius. - Sobald man von den einzelnen Gestalten im allgemeinen

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spricht, bleibt eines weg. Es bleibt weg, was in den Worten des Dramas angedeutet ist in den Zeilen: «Es formt sich hier in diesem Kreise ein Knoten aus den Fäden, die Karma spinnt im Weltenwerden.» - Keine Entwickelung vollzieht sich an irgendeinem Punkte des Menschheits-daseins, ohne daß in dieser Entwickelung rings herum die Fäden sich knoten, welche Karma spinnt im Weltenwerden. Und keine individuelle Entwickelung kann man zeichnen, ohne zu zeigen, was alles in der okkulten Umgebung spielt, das heißt in der physischen Umgebung, aber wie man sie sieht mit den Kräften, die hinter der physischen Umgebung sind. Daher muß Johannes Thomasius hineingestellt werden in die menschliche Umgebung, aus der seine Entwickelung herauswächst, in die reale physische Menschenwelt.

Und deshalb mußte wohl das Drama eine doppelte Einleitung ha­ben. Die erste Einleitung zeigt, wie sich gegenüber der Außenwelt die Welt ausnimmt, in welcher sich für Johannes Thomasius zusammen-knüpfen die Fäden, die Karma spinnt im Weltenwerden. Man könnte fragen: Mußte das gezeigt werden, mußte gerade in dem «Vorspiel» gezeigt werden, wie diese Welt von außen sich ansieht? - Das mußte gezeigt werden. Und es wäre nicht alles getan, wenn es nicht gezeigt worden wäre. Es mußte gezeigt werden, weil die Welt, in welcher Kar­ma seine Knoten spinnt, eine andere ist in der Zeit zum Beispiel des fünften Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung, eine andere dreihun­dert Jahre vor unserer Zeitrechnung, wieder eine andere tausend Jahre seit dem Beginn unserer Zeitrechnung und eine andere auch wieder in unserer Gegenwart. Auch die exoterische Außenwelt ist immer eine an­dere, und sie hängt mit ihrem Karma zusammen, mit dem, was Umge­bung wird für den, der sich entwickelt. So wird der Kreis gezogen von außen nach innen. Und im Inneren ist dann der kleine Kreis, in dem Johannes Thomasius selber steht. Das ist das Zweite. In der Außenwelt sind es triviale Wogen, die da schlagen; in dem kleineren Kreis Wogen, welche hoch aufbranden. Aber sie können sich nur zeigen in ihrem Hochaufschäumen in der Seele des Johannes Thomasius selber. Des­halb werden wir zuerst auf den physischen Plan geführt. Der physische Plan wird uns so gezeigt, daß sozusagen auf die Fäden hingedeutet wird, die innerhalb des physischen Planes überall Karma spinnt.

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Wer mit okkultem Blick in irgendeinen physischen Kreis hinein­schaut, findet überall, daß Fäden gehen von Mensch zu Mensch, die sich in der merkwürdigsten Weise verschlingen. Da sind Menschen, die scheinbar im Leben wenig miteinander zu tun haben. Zwischen Seele und Seele aber spinnen sich die wichtigsten, die wesentlichsten Fäden. Das alles verknotet sich. Und das alles muß nach und nach so gezeigt werden, daß sozusagen klar hingedeutet wird auf irgendeinen Knoten. Das andere Mal kann es nur subtil, nur andeutungsweise gezeigt wer­den, weil es im Werden ist. Diese verschiedenen Nuancen mußten an­geschlagen werden, wo die Sache auf dem physischen Plan spielt, wo wir in einer rein physischen Umgebung sind, wo zusammenkommen Leute aus den verschiedensten Interessenkreisen. Äußerlich reden sie dies und das. Indem sie äußerlich reden, sind sie aber Manifestanten des Karma. Alle die Personen, die uns auf dem physischen Plan zuerst entgegentreten, sind karmisch miteinander verbunden. Und das ist das Wesentliche: wie sie karmisch verbunden sind. Da ist kein einziger erdachter Fall; alles ist okkult begründet. Alles Fäden, die leben kön­nen. Und sehr merkwürdig sind diese Fäden.

Die Merkwürdigkeit dieser Fäden können Sie ahnen, wenn Sie solche Gestalten zusammenstellen wie Felix Balde und Frau Balde auf der einen Seite und Capesius und Strader auf der anderen Seite. Es ist nicht das Wichtigste, was sie im Inhalt ihrer Worte sagen; das Wichtigste ist, daß es diese Personen sagen. Und diese Personen sind lebendige Per­sonen, keine Personen, die erdacht sind. Sie sind mir zum Beispiel sehr wohl bekannt. Ich meine mir bekannt nicht ausgedacht, sondern stehend und lebend. Sie sind real, und besonders auch die mir so sehr ans Herz gewachsene Figur des Professor Capesius ist eine aus dem Leben ge­griffene Figur. Und es ist unsere Welt. Daher mußte hineinspielen das merkwürdige Ereignis, das durch die Seherin Theodora sich darstellt, die zeitweilig in die Zukunft sehen kann und das merkwürdige Ereignis voraussieht, das noch vor Ablauf des 20. Jahrhunderts kommen wird als das nächste Christus-Ereignis. Das ist etwas, was karmisch gedeutet werden kann. Falsch wäre es, wenn auf andere Ereignisse ebenso klar gedeutet würde. Dann wird jener karmische Bezug, der besteht zwischen Frau Balde und Professor Capesius, angedeutet in dem sonderbaren

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Bezug, den die Märchenerzählungen der Frau Balde auf Cape­sius haben. Karmische Fäden sind angedeutet, die deshalb entstehen in dem Herzen des Strader zu der Seherin Theodora, da er durch sie be­sonders ergriffen wird. Das alles sind Fäden, die okkult liegen hinter dem, was sich äußerlich auf dem physischen Plan abspielt. Wie ge­sponnen auf einen Punkt hin sind vom Karma diese Fäden. Dieser eine Punkt ist Johannes Thomasius. Da treffen sie sich. Und innerhalb der Erzählung auf dem physischen Plan leuchtet ein Licht auf in der Seele des Johannes Thomasius, ein Licht, das eben furchtbare Wogen schlägt in seiner Seele, das aber zu gleicher Zeit seine esoterische Entwickelung entfacht als eine ganz bestimmte individuelle, als die Durchkreuzung seines eigenen Karma mit dem Weltenkarma. Daher sehen wir, welchen Eindruck es auf ihn macht, was da um ihn herum auf dem physischen Plan vorhanden ist; wie das Große in seiner Seele, das Unbewußte, hinaufdrängt zu den höheren Welten.

Nun darf diese Fahrt in die höheren Welten nicht steuerlos beginnen. Sie muß gelenkt und geleitet werden. Da tritt dann hinein in alle diese Verhältnisse derjenige, den Sie geschildert sehen als den eigentlichen Führer dieses Kreises, aber zu gleicher Zeit als den Wissenden der Wel­tenverhältnisse, als den, der durchschaut den Knoten, den Karma spinnt im Weltenwerden, da tritt Benedictus dazu. Und er wird zum Führer. Das Karma, das in Johannes Thomasius arbeitet, das arbeiten würde vielleicht durch Jahrtausende oder Jahrtausendjahrtausende, das wird in einem ganz bestimmten Moment angefacht durch eine karmische Be­ziehung zwischen Benedictus und Johannes Thomasius, welche sich in der Szene im Meditationszimmer leise zeigt. Da stehen wir an dem Punkt, wo ein vom Karma zur Entwickelung bestimmter Mensch hin­aufstrebt in die höheren Welten. Und damit er nicht als ein Blinder hinaufstrebt, wird er in der richtigen Weise durch Benedictus geführt. Was damit gemeint ist, soll sich zeigen, wenn jetzt gerade einige der in Betracht kommenden Stellen vorgetragen worden sind.

Es folgte die Rezitation der genannten Szene: Drittes Bild; Benedictus, Johannes, Maria, Kind.

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Maria: Ich bringe euch das Kind,

Es braucht ein Wort aus eurem Munde.

Benedictus: Mein Kind, du sollst fortan

An jedem Abend zu mir kommen,

Zu holen dir das Wort,

Das dich erfüllen soll,

Bevor das Seelenreich des Schlafes du betrittst.

Willst du es so?

Kind: Ich will es so gern.

Benedictus: Erfülle dein Gemüt an dieseni Abend,

Bis dich der Schlaf umfängt,

Mit dieses Wortes Kraft:

«Es tragen Lichtgewalten

Mich in des Geistes Haus.»

(Das Kind wird von Maria hinausgeführt.)

Maria: Und nun, da dieses Kindes Schicksal

In Zukunft fließen soll

Im Schatten eurer Vaterhuld,

Erbitten darf des Führers Rat

Auch ich, die Mutter ihm geworden,

Wenn nicht durch Blutesbande,

So doch durch Schicksalsmächte.

Ihr wieset mir den Weg,

Den ich es führen sollte

Von jenem Tage an, da ich es fand

Von seiner unbekannten Mutter

Mir vor die Tür gelegt.

Und wunderwirkend zeigten

Sich an dem Pflegling alle Regeln,

Nach welchen ich ihn führen durfte.

Zutage traten alle Kräfte,

Die in dem Leibe und der Seele keimten.

Es zeigte sich, wie eure Weisung

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Entsprossen war dem Reiche,

Das dieses Kindes Seele barg,

Bevor sie baute ihres Leibes Hülle.

Erwachsen sahen wir die Menschenhoffnung,

Die heller strahlte jeden neuen Tag.

Ihr wißt, wie schwer des Kindes Neigung

Ich erst gewinnen konnte.

Es wuchs heran in meiner Pflege,

Und mehr nicht als Gewohnheit

Verband erst seine Seele mit der meinen.

Es stand zu mir, empfindend,

Daß ich ihm reichte, was ihm nötig war

Für Leibeswohl und Seelenwachstum.

Es kam die Zeit, in welcher

Im Kindesherzen sich erzeugte

Die Liebe zu der Pflegerin.

Ein äußrer Anlaß brachte solche Wandlung.

Es trat in unsern Kreis die Seherin.

Das Kind war gern um sie,

Und manches schöne Wort

Erlernte es in ihrem Zauberbann.

Da kam ein Augenblick, in dem Begeisterung

Erfaßte unsre wundersame Freundin,

Und schauen konnte unser Kind

Der Augen glimmend Licht.

Erschüttert bis ins Lebensmark

Empfand die junge Seele sich.

Sie kam in ihrem Schreck zu mir.

Von dieser Stunde an

War mir das Kind in Liebe warm ergeben.

Doch seit bewußtes Fühlen

Von mir empfing die Lebensgaben,

Und nicht der Trieb allein,

Seit wärmer dieses junge Herz erbebte,

Sobald sein Blick den meinen liebend traf,

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Verloren eure Weisheitsschätze ihre Fruchtbarkeit.

Verdorren mußte vieles,

Was schon gereift dem Kinde.

Erscheinen sah ich an dem Wesen wieder,

Was an dem Freunde furchtbar sich erwiesen.

Ich bin mir immer mehr ein dunkles Rätsel.

Du kannst mir wehren nicht die bange Lebensfragc:

Warum verderb' ich Freund und Kind,

Wenn liebend ich das Werk versuch'

An ihnen zu verüben,

Das mich die Geistesweisung

Als gut erkennen läßt im Herzen?

Du hast mich an die hohe Wahrheit oft gewiesen,

Daß Schein sich breitet an des Lebens Oberfläche,

Doch muß ich Klarheit haben,

Soll ich ertragen dies Geschick,

Das grausam ist und Böses wirkt.

Benedictus: Es formt sich hier in diesem Kreise

Ein Knoten aus den Fäden,

Die Karma spinnt im Weltenwerden.

0 Freundin, deine Leiden

Sind Glieder eines Schicksalsknotens,

In dem sich Göttertat verschlingt mit Menschenleben.

Als auf dem Pilgerpfad der Seele

Erreicht ich hatte jene Stufe,

Die mir die Würde gab,

Mit meinem Rat zu dienen in den Geistersphären,

Da trat zu mir ein Gotteswesen,

Das niedersteigen sollte in das Erdenreich,

Um eines Menschen Fleischeshülle zu bewohnen.

Es fordert dies das Menschenkarma

An dieser Zeiten Wende.

Ein großer Schritt im Weltengang

Ist möglich nur, wenn Götter

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Sich binden an das Menschenlos.

Es können sich entfalten Geistesaugen,

Die keimen sollen in den Menschenseelen,

Erst wenn ein Gott das Samenkorn

Gelegt in eines Menschen Wesenheit.

Es wurde mir nun aufgegeben,

Zu finden jenen Menschen,

Der würdig war, des Gottes Samenkraft

In seine Seele aufzunehmen.

So mußte ich verbinden Himmels-Tat

Mit einem Menschenschicksal.

Mein geistig Auge forschte.

Es fiel auf dich.

Bereitet hatte dich dein Lebenslauf zum Heilesmittler.

In vielen Leben hattest du erworben dir

Empfänglichkeit für alles Große,

Das Menschenherzen leben.

Der Schönheit edles Wesen, derTugend höchste Forderung,

Du trugst als Geisteserbe sie

In deiner zarten Seele.

Und was dein ewig Ich

Ins Dasein durch Geburt gebracht,

Es ward zur reifen Frucht

In deinen jungen Jahren.

Zu früh nicht stiegest du

Auf steile Geisteshöhen.

Und so erstand dir nicht

Der Hang zum Geisterland,

Bevor du voll erfaßt

Der Sinne unschuldvolle Freuden.

Erkennen lernte deine Seele Zorn und Liebe,

Als ihrem Denken jeder Trieb

Zum Geist noch ferne war.

Natur in ihrer Schönheit zu genießen,

Der Künste Früchte pflücken,

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Erstrebtest du als deines Lebens Reichtum.

Du durftest heiter lachen,

Wie nur ein Kind kann lachen,

Das von des Daseins Schatten

Noch nichts erfahren hat.

Du lerntest Menschenglück verstehn

Und Leid beklagen in den Zeiten,

Da deinem Ahnen selbst nicht dämmerte,

Zu fragen nach des Glückes und des Leides Wurzeln.

Als reife Frucht von vielen Leben,

Betritt das Erdensein die Seele,

Die solche Stimmung zeigt.

Und ihre Kindlichkeit ist Blüte,

Nicht Wurzel ihres Wesens.

Nur diese Seele durfte ich erkiesen

Zum Mittler für den Gott,

Der Wirkenskraft erlangen sollte

Durch unsre Menschenwelt.

Und nun begreife, daß dein Wesen

Sich wandeln muß zum Gegenbild,

Ergießt aus dir es sich in andre Wesen.

Der Geist in dir, er wirkt in allem,

Was für das Reich der Ewigkeit

An Früchten reifen kann im Menschenwesen.

Ertöten muß er darum vieles,

Was nur dem Reich des Zeitenseins gehören soll.

Doch seine Todesopfer

Sind Saaten der Unsterblichkeit.

Dem höhern Leben muß erwachsen,

Was aus dem niedern Sterben blüht.

Maria: So also steht's mit mir. ----

Du gibst mir Licht,

Doch Licht, das mir die Kraft des Sehens raubt

Und mich mir selbst entreißt.

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Bin ich denn eines Geistes Mittler nur

Und nicht mein eigen Wesen,

Dann dulde ich nicht länger

Die Form an mir,

Die Maske und nicht Wahrheit ist.

Johannes: 0 Freundin, was ist dir!

Es schwindet deines Blickes Licht,

Zur Säule wird dein Leib,

Ich fasse deine Hand,

Sie ist so kalt,

Sie ist wie tot.

Benedictus: Mein Sohn, du hast der Proben viel erfahren,

Du stehst in dieser Stunde vor der stärksten,

Du schaust der Freundin Leibeshülle,

Vor meinem Blick jedoch

Entschwebt ihr Selbst in Geistersphären.

Johannes: 0 sieh! die Lippen regen sich. Siespricht----

Maria: Du gabst mir Klarheit,

Ja, Klarheit, die in Finsternis

Mich hüllt nach allen Seiten.

Ich fluche deiner Klarheit,

Und dich verfluche ich,

Der mich zum Werkzeug

Der wilden Künste formte,

Durch die er Menschen täuschen will. -

Ich habe keinen Augenblick bisher

An deiner Geisteshöhe zweifeln können,

Doch jetzt genügt der eine Augenblick,

Aus meinem Herzen mir zu reißen jeden Glauben.

Erkennen muß ich, daß sie Höllenwesen sind,

Die Geister, welchen du ergeben bist.

Ich mußte andre täuschen,

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Weil du erst mich getäuscht!

Ich will dich fliehn in Fernen,

Wohin von dir kein Laut mehr dringt,

Und die doch nah genug,

Daß meine Flüche dich erreichen können!

Des eignen Blutes Feuer,

Du hast es mir geraubt,

Um deinem falschen Gott zu geben,

Was mein sein muß.

0 dieses Blutes Feuer,

Es soll dich brennen!

Ich mußte glauben

An Trug und Wahn.

Und daß es möglich wurde,

Zum Truggebilde mußtest du

Mich selbst erst machen!

Ich mußte oft erleben,

Wie meines Wesens Wirkung

Ins Gegenbild sich wandelte.

So wandle jetzt,

Was Liebe war zu dir,

In wilden Hasses Feuer sich.

Ich will in allen Welten

Nach jenem Feuer forschen,

Das dich verzehren kann.

Ich flu---- ach----

Johannes: Wer spricht an diesem Ort?

Ich schau die Freundin nicht!

Ich schau ein grausig Wesen.

Benedictus: Der Freundin Seele schwebt in Höhen,

Sie ließ ihr sterblich Scheinbild

An diesem Ort zurück uns nur.

Und wo ein Menschenleib

Vom Geist verlassen wird,

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Ist Raum, den sich

Des Guten Widersacher sucht,

Um einzutreten in das Reich der Sichtbarkeit.

Er findet eine Leibeshülle,

Durch die er sprechen kann.

Es sprach ein solcher Widersacher,

Der mir zerstören will das Werk,

Das mir obliegt

Für vieler Menschen Zukunft

Und auch für dich, mein Sohn.

Und könnt' ich halten jene Flüche,

Die unsrer Freundin Hülle eben sprach,

Für andres als Versucherlist,

Du dürftest mir nicht folgen.

Des Guten Widersacher war an meiner Seite;

Und du, mein Sohn,

Hast stürzen sehn in Finsternis,

Was zeitlich ist an jenem Wesen,

Dem deine ganze Liebe strahlt.

Weil Geister dir so oft

Aus ihrem Mund gesprochen,

Ersparte dir das Weltenkarma nicht,

Den Höllenfürsten auch

Durch sie zu hören.

Nun darfst du erst sie suchen

Und ihres Wesens Kern erkennen.

Sie soll dir Vorbild jenes höhern Menschen sein,

Zu dem du dich erheben sollst.

Es schwebet ihre Seele in die Geisteshöhen,

Wo Menschen ihres Wesens Urform finden,

Die in sich selbst sich gründet.

Du sollst zum Geistgebiet ihr folgen,

Und schauen wirst du sie im Sonnentempel.

Es formt sich hier

In diesem Kreise

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Ein Knoten aus den Fäden,

Die Karma spinnt

Im Weltenwerden.

Mein Sohn, da du bis jetzt gehalten dich,

Wirst du auch weiterdringen.

Ich sehe deinen Stern im vollen Glanze.

Es ist nicht Raum im Sinnensein

Für Kämpfe, welche kämpfen Menschen,

Die nach der Weihe streben.

Was Sinnensein an Rätsel hat,

Die mit Verstand zu lösen,

Was solches Sein erzeugt in Menschenherzen,

Es mag durch Liebe oder Haß entstehen

Und sich entladen noch so schauervoll:

Dem Geistessucher muß es werden

Ein Feld, auf das er unbeteiligt

Den Blick von außen richten kann.

Ihm müssen Kräfte sich entfalten,

Die nicht auf diesem Feld zu finden sind.

Du mußtest dich durch Seelenprüfung ringen,

Die dem nur werden kann,

Der sich gerüstet

Für solche Mächte findet,

Die Geistes-Welten angehören.

Und wärest du von diesen Mächten

Nicht reif befunden zum Erkenntnisweg,

Sie hätten dir das Fühlen lähmen müssen,

Bevor du wissen durftest,

Was dir bekannt nun ist geworden.

Die Wesen, die in Welten-Gründe schauen,

Sie führen Menschen,

Die zu den Höhen streben,

Zuerst auf jenen Gipfel,

Wo es sich zeigen kann,

Ob ihnen Kraft gegeben,

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Bewußt zu schauen Geistessein.

Die Menschen, welchen solche Kräfte eigen sind,

Sie werden aus der Sinnenwelt entlassen;

Die andern müssen warten.

Du hast dein Selbst bewahrt, mein Sohn,

Als Höhenkräfte dich erschütterten,

Und als dich Geistesmächte

In Schauer hüllten.

Und kraftvoll hat dein Selbst sich durchgekämpft,

Auch als in eigner Brust die Zweifel wühlten

Und dich den dunklen Tiefen überliefern wollten.

Du bist mein wahrer Schüler

Erst seit der inhaltvollen Stunde,

Wo du an dir verzweifeln wolltest,

Wo du dich selbst verloren gabst,

Und wo die Kraft in dir dich dennoch hielt.

Ich durfte dir an Weisheitsschätzen geben,

Was Kraft dir brachte,

Dich selbst zu halten,

Auch da du selbst an dich nicht glaubtest.

Es war die Weisheit,

Die du errungen,

Dir treuer als der Glaube,

Der dir geschenkt.

Du bist als reif befunden.

Du darfst entlassen werden.

Die Freundin ist vorangeschritten,

Du wirst im Geist sie finden.

Ich kann dir noch die Richtung weisen:

Entzünde deiner Seele volle Macht

An Worten, die durch meinen Mund

Den Schlüssel geben zu den Höhen.

Sie werden dich geleiten,

Auch wenn dich nichts mehr leitet,

Was Sinnesaugen noch erblicken können.

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Mit vollem Herzen wolle sie empfangen:

Des Lichtes webend Wesen, es erstrahlet

Durch Raumesweiten,

Zu füllen die Welt mit Sein.

Der Liebe Segen, er erwarmet

Die Zeiten fol gen,

Zu rufen aller Welten Offenbarung.

Und Geistesboten, sie vermählen

Des Lichtes webend Wesen

Mit Seelenoffenbarung;

Und wenn vermählen kann mit beiden

Der Mensch sein eigen Selbst,

Ist er in Geisteshöhen lebend.

0 Geister, die erschauen kann der Mensch,

Belebet unsres Sohnes Seele.

Im Innern lasset ihm erstrahlen,

Was ihm durchleuchten kann

Die Seele mit dem Geisteslicht.

Im Innern lasset ihm ertönen,

Was ihm erwecken kann

Das Selbst zu Geistes Werdelust.

Geistesstimme

(hinter der Bühne): Es steigen seine Gedanken

In Urweltgründe.

Was als Schatten er gedacht,

Was als Schemen er erlebt,

Entschwebet der Gestaltenwelt,

Von deren Fülle

Die Menschen denkend

In Schatten träumen,

Von deren Fülle

Die Menschen sehend

In Schemen leben.

(Die Musik setzt ein, während der Vorhang langsam fällt.)

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Das waren die Töne, mit denen unser lieber Freund Arenson musi­kalisch zum Ausdruck gebracht hat, was aufsteigt in der Dichtung als ein Widerklang aus den höheren Welten in des Johannes Thomasius' Seele, nachdem er an dem großen Erlebnis, das im Meditationszimmer vorgeführt wird, sich fähig erwiesen hatte, wirklich in die höheren Welten hinaufzusteigen, daß er als reif aus diesem Erlebnis hervor­gegangen war. In den Worten, in denen ausgeklungen hat, was rezitiert worden ist, haben wir etwas zu sehen, was in durchaus realer Weise hereintönt aus der geistigen Welt in eine Seele, die bis zu einem ge­wissen Grade, wenn wir so sagen dürfen, die Prüfung bestanden hat. Das Schwergewicht wird zuweilen leise angedeutet in Worten, in denen mehr liegt, als man zuerst vielleicht glaubt.

Man muß sich zunächst klar sein, daß aus den Fäden des Welten­karmas ein Knoten gesponnen wird, der eine Tatsache großartigster, gewaltigster Art in ihrer Wirksamkeit an heiliger Stätte vor den Jo­hannes Thomasius hinstellt. Was geschieht denn eigentlich?

Johannes Thomasius muß erleben, daß eine Seele, mit der er, wie sich in der Devachanszene später zeigen wird, karmisch auf eine wun­derbare Weise verbunden ist, unmittelbar vor ihm in die geistigen Welten hinaufsteigt. Es ist ein welthistorischer Moment, wo eine solche Seele in die geistigen Welten hinaufsteigt. Es kann natürlich jetzt nicht auf alles hingewiesen werden, was mit einem solchen Moment ver­bunden ist. Aber es ist eine durchaus reale Tatsache, die jeder, der mit dem okkulten Leben bekannt ist, in ihrer furchtbar gewaltigen, licht-vollen und schattenvollen Gestalt kennt. Und ein solcher kennt auch von ihr, was dann in der physischen Welt geschieht, wenn die Erschüt­terung eintritt, daß eine Seele in die geistigen Welten unmittelbar, nicht etwa mit gelassenem Gang des eigenen Karma, sondern durch das Wel­tenkarma herausgefordert, in die geistige Welt verschwindet. Das sind Momente, die für die Evolution der Menschheit wichtig sind. Aber das sind auch diejenigen Momente, in welchen wirkliche, real vorhandene versucherische Mächte, die aus der geistigen Welt ebenso hereinschauen in unsere physische Welt wie die guten Mächte, die Kraft haben, ver­lassene physische Hüllen zum Schauplatz ihrer Versucherlist und Ver­sucherkraft zu gewinnen. Das sind die Angriffspunkte; da werden sie

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gleichsam losgelassen. Und dann treten die Verhältnisse auf, in denen sich Maja in der furchtbarsten Weise zeigt. Gegenüber den kleinen Täu­schungen des Karma kann der Mensch, der vielleicht nicht weit ist, der Versuchung nicht widerstehen; aber gegenüber den großen Täuschungen des Karma, wenn es etwas vorführt, von dem man auf einer gewissen Entwickelungsstufe auch nicht mehr ganz glauben kann, daß es so sein könnte, schrickt eine Seele zurück, die nicht durch gewisse Abgründe des Lebens gegangen ist. Man kann sich vorstellen, daß manche viel­leicht sagen werden, sie hätten es auch ausgehalten, was da im Medi­tationszimmer vorgegangen ist. Sie sollten aber nur einmal da hinge-stellt werden! Die Wirklichkeit ist noch etwas ganz anderes als das, was wir denken. In der Wirklichkeit spielen noch andere Kräfte. Wer das nicht glaubt, soll sich nur vorstellen, ob er jemals eine wirkliche Erfah­rung gemacht hat von einem Menschenleib, der von seiner Seele ver­lassen worden ist. Die Menschen kennen nur Menschenleiber, die be­seelt sind. Da spielen eben noch andere Kräfte. Und um diesen Kräften standzuhalten, mußte Johannes Thomasius gerade vor diesen Punkt im Weltenkarma hingeführt werden.

Nun handelt es sich um zweierlei. Johannes Thomasius mußte zuerst das durchmachen, was man gewöhnlich das Kamaloka nennt. Das ist diejenige Welt, in der uns das, was wir selber sind, sozusagen wie in einem Spiegelbilde erscheint. Das ist wieder etwas, was ausgesprochen leichter sich ausnimmt, als wenn es in Wirklichkeit auftritt. Und tritt es in Wirklichkeit auf, so sagt uns nicht ein im Raum beschränktes Bild, was es ist, sondern dann raunt es uns das aus allen Gebieten der Welt zu. Dann ist die ganze Welt wir. Deshalb hören Sie in der Szene, wo dargestellt ist, wie Johannes Thomasius in die Tiefen seiner Seele hin­untersteigt, wo er unter Felsen und Quellen ist, daß nicht irgendein einzelnes Spiegelbild, das er beschwört, aus seiner Seele zu ihm spricht, sondern da tönt es ihm aus allem zu, aus Felsen und Quellen, aus der ganzen Umgebung. Und zwar werden in einem solchen Moment die Worte, die so zahm durch die Weltentheorien, durch die philosophischen und geisteswissenschaftlichen Werke gehen, zu furchtbaren Gewalten. Denn sie ertönen aus der ganzen Welt, wie reflektiert von überallher aus dem unendlichen Raum und sich fangend in den einzelnen Geschehnissen

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der Natur. «0 Mensch, erkenne dich!» So ertönen sie, wenn sie gehört werden, nachdem sie Jahre und Jahre in der Seele gelebt haben. Dann steht die Seele in ihrer Einsamkeit, in ihrer großen Verlassenheit sich selbst gegenüber. Nichts ist da als die Welt. Aber diese Welt ist sie selber. Und in dieser Welt ist das darinnen, was sie selber ist, die Seele; auch das, was ihr Karma ist, alles, was sie verübt hat. - In einer Dich­tung kann nur einzelnes herausgegriffen werden. Eine alte Tat, das Verlassen einer Persönlichkeit, tritt auf. Aber in aller Lebendigkeit tritt es vor Johannes Thomasius' Seele. Ich kann nur einzelne Worte anführen.

In diesem Zusammenhang verliert Johannes Thomasius, was er ver­lieren muß: das Vertrauen zu sich selber, zu seiner Kraft, selbst dazu, in der Einsamkeit Heilung zu finden für das, was ihm auf dem physischen Plan so ungeheure Qualen verursacht, wenn er es aus dem physischen Plan heraus vernimmt. Deshalb diese Worte, die ich Sie bitte so zu nehmen, wie sie eben genommen werden sollen, als die Seele sprengend und ganz erfüllend. Als Johannes Thomasius aus allen Welten hört die Worte «0 Mensch, erkenne dich!», da antwortet seine Seele, als ob sein Ich nicht dabei wäre:

So hör' ich sie seit Jahren schon,

Die inhaltschweren Worte.

Sie tönen mir aus Luft und Wasser,

Sie klingen aus dem Erdengrund herauf,

Und wie ins kleine Samenkorn geheimnisvoll

Der Rieseneiche Bau sich drängt,

So schließt zuletzt sich ein

In dieser Worte Kraft,

Was von der Elemente Wesen,

Von Seelen und von Geistern,

Von Zeitenlauf und Ewigkeit

Begreiflich meinem Denken ist.

Die Welt und meine Eigenheit,

Sie leben in dem Worte:

0 Mensch, erkenne dich!

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Was aber gewaltig beantwortet wird: «0 Mensch, erkenne dich! »Dann kehrt sich das ganze Innere um:

Und jetzt! - es wird

Im Innern mir lebendig fürchterlich.

Es webt um mich das Dunkel,

Es gähnt in mir die Finsternis;

Es tönt aus Weltendunkel,

Es klingt aus Seelenfinsternis:

0 Mensch, erkenne dich!

(Es tönt aus Quellen und Felsen: 0 Mensch, erkenne dich!)

Sie müssen sich denken das Mitgehen des Selbstes mit dem Weltprozeß. Sonst stehen wir da, gehen mit den Stunden und verfolgen nicht, was sich da vollzieht. Wir wissen es nicht, glauben in unserem Inneren zu sein. Dies aber vollzieht sich wissend. Wissend folgt er allen elemen­tarischen Gewalten, geht mit des Tages Stundenlauf und wandelt sich in Nacht.

Der Erde folge ich in ihrer Weltenbahn.

Ich rolle in dem Donner,

Ich zucke in den Blitzen.

Das alles gibt ihm den Eindruck: Ich bin. - Das ist der Moment, wo das Ich-bin zum Dämon der eigenen Seele wird. Dayor verstummt alle Selbstbehauptung des Menschen. Und kaum hat man es versucht aus­zusprechen, das Ich-bin, dann sagt die eigene Seele:

... O schon entschwunden

Dem eignen Wesen fühl' ich mich.

Dann tritt das eigene Wesen in einer beschränkten Weise, in begrenzter Gestalt auf:

Ich sehe meine Leibeshülle;

Sie ist ein fremdes Wesen außer mir,

Sie ist ganz fern von mir.

Da schwebt heran ein andrer Leib.

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Jetzt kann er nicht nur mit seinem Munde sprechen, sondern mit dem Munde des anderen Menschen. Da ist der Mensch, dem er ein Unrecht getan hat:

Er hat mir bittre Not gebracht;

Ich habe ihm so ganz vertraut.

Er ließ im Kummer mich allein,

Er raubte mir die Lebenswärme

Und stieß in kalte Erde mich.

Nun wieder zurück in den eigenen Leib:

Die ich verließ, die Arme,

Ich war sie eben selbst.

Ich muß erleiden ihre Qual.

Erkenntnis hat mir Kraft verliehn,

Mein Selbst in andres Selbst zu tragen.

Damit ist ein Weg begonnen, der dann noch gekennzeichnet wird mit den Worten, die am Schlusse dieser Szene andeuten sollen, wie die Welt und wie die Einsamkeit wirkt. In der Welt wirkt alles, was von außen strömt, in der furchtbarsten Weise. Von innen wirkt das, was von in­nen kommt, so daß die Einsamkeit das Bevölkertste wird, was es ge­ben kann. Das ist eine Prüfung, die angestellt ist zu dem Zweck, der angedeutet ist in den Worten, die Ihnen vorgelesen worden sind:

Die Wesen, die in Welten-Gründe schauen,

Sie führen Menschen,

Die zu den Höhen streben,

Zuerst auf jenen Gipfel,

Wo es sich zeigen kann,

Ob ihnen Kraft gegeben,

Bewußt zu schauen Geistessein.

Die Menschen, welchen solche Kräfte eigen sind,

Sie werden aus der Sinnenwelt entlassen;

Die andern müssen warten.

In dem Augenblick, vor dem wir hier stehen, würde das Bewußtsein verlorengehen, und Johannes Thomasius würde zurückgeworfen werden

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in die Sinneswelt, wenn er nicht standgehalten hätte in der Szene, die ich angedeutet habe, wo er gegenübersteht dem eigenen Selbst. Da kamen zwei Dinge in Betracht: Das eigene Selbst, soweit es weiß, hat wenig Kraft, das nimmt ihm das Selbstvertrauen. Aber was ewiges Ich ist in ihm, wovon er noch nichts weiß, das hat die große Kraft. Das hält ihn aufrecht und läßt ihn hinwegkommen über das, was er im Medi­tationszimmer als die Entseelung der Maria erlebt. Dann braucht er nur durch die Worte des Benedictus, durch die Kraft dieser Worte hin­aufgeführt zu werden.

Und in den Worten, die Ihnen vorgelesen sind, müssen Sie ein Ge­heimnis von Worten sehen. Was damit gemeint ist, kann nicht so wie vieles andere einfach hingeschrieben werden. In diesen Zeilen liegen tatsächlich Weltenkräfte bis auf die Laute hin. Und da können die Laute nicht eigentlich geändert werden. Da ist tatsächlich in diesen Worten gegeben ein Öffnen des Tores gegenüber der geistigen Welt. Deshalb sind diese Worte tatsächlich so zu nehmen, wie sie eben hier gesagt sind. So etwas kann man nicht in einer beliebigen Weise zusam­mensetzen, wie zum Beispiel diese Zeilen:

Des Lichtes webend Wesen, es erstrahlet

Durch Raumesweiten,

Zu füllen die Welt mit Sein.

Der Liebe Segen, er erwarmet

Die Zeitenfolgen,

Zu rufen aller Welten Offenbarung.

Und Geistesboten, sie vermählen

Des Lichtes webend Wesen

Mit Seelenoffenbarung;

Und wenn vermählen kann mit beiden

Der Mensch sein eigen Selbst,

Ist er in Geisteshöhen lebend.

Dann erst kann aus der anderen Welt in die Seele hereintönen, was hereintönen soll. Aber das alles sind, wie gesagt, nur einzelne Andeu­tungen.

Dann wird Johannes Thomasius nun wirklich in die geistige Welt

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entrückt. Er kann aber nicht unmittelbar in die geistige Welt hinauf, in die jeder hinauf muß. Er muß durch die astralische Welt durch. Da haben Sie dann im vierten Bilde eine Darstellung der astralischen Welt so, wie sie eben wieder ngerade Johannes Thomasius erleben muß nach seiner besonderen individuellen Vorbedingung. Es ist nicht eine allgemeine Schilderung der astralischen Welt, sondern eine Schilderung dieser Weit in der Art, wie sie Johannes Thomasius erleben muß an besonderen Beispielen. Diese astralische Welt ist anders als die physi­sche. Da ist es möglich, daß wir einen Menschen, dem wir begegnen, so sehen, wie er vor mehreren Jahrzehnten war, oder wir sehen einen jungen Menschen so, wie er in Zukunft sein wird. Das sind alles Reali­täten. In Ihrer Seele sind Sie heute noch derselbe, der Sie als Kind von drei Jahren gewesen sind. Was Sie in der astralischen Welt sehen, ist gar nicht das, was einem das äußere physische Menschenbild zeigt. Das physische Menschenbild verbirgt in jedem Augenblicke dasjenige, was vorher berechtigt war und was nachher berechtigt ist. Da muß vor allen Dingen der Blick in die astralische Welt so wirken, daß wir die erste Maja der Sinneswelt überwinden und die Zeit in ihrer illusionären Kraft durchschauen. Daher sieht Johannes Thomasius denjenigen, den er als Capesius auf dem physischen Plan kennengelernt hat, in der astralischen Welt so, wie er als Jüngling war, und den er in der physi­schen Welt als Strader kennengelernt hat, sieht er so, wie er sein wird als Greis. Was heißt das? Johannes Thomasius kennt den Strader, wie er jetzt ist in der Sinneswelt mit den Kräften, die jetzt in seiner Seele sind auf dem physischen Plan. Aber da drinnen ist die Vorbedingung für das, was er sein wird nach Jahrzehnten. Das muß man auch er­kennen, wenn man einen Menschen erkennen will. Also die Zeit reißt sich auseinander. Die Zeit ist wirklich ein recht elastischer Begriff, wenn man in die höheren Welten hinaufkommt. Johannes Thomasius kennt von der physischen Welt her den Capesius alt und den Strader jung. Nun stehen sie in der astralischen Welt nebeneinander: Capesius jung und Strader alt. Da wird die Zeit nicht etwa nach vorwärts und rückwärts gedehnt, sondern es ist so, daß der eine in seiner Jugend, der andere in seinem Alter dargestellt wird. Das ist eine durchaus reale Tatsache.

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Damit aber ist etwas anderes verbunden, das sich tatsächlich zeigt und dem die Menschen heute wie mit Kinderspott begegnen, daß unsere Seelenerlebnisse noch mehr sind, als wir gewöhnlich von ihnen denken, daß nicht ungestraft etwas Böses oder Gutes in der Seele erlebt wird, so zum Beispiel wenn wir Schlimmes oder auch nur Unrechtes denken, daß dies in die Tiefen der Welt hineinstrahlt und wieder zurückstrahlt, und daß wir in einem Zusammenhange stehen in unseren Seelenerlebnissen mit den elementaren Kräften der Natur. Das ist kein Bild. Das ist im okkulten Sinne eine Wirklichkeit, wenn zum Beispiel Capesius geführt wird vor den Geist der Elemente, der jeden Menschen in sein Dasein hineinführt. Da ist es tatsächlich so, daß Capesius auch vor dem steht, was mit diesem Geist der Elemente verknüpft ist. Und verknüpft ist damit, daß, wenn wir irgend etwas in der Seele erleben, dieses mit den elementaren Gewalten der Natur im Zusammenhange steht. Da zeigt sich vor Johannes Thomasius, daß Capesius in seiner tiefsten Seele, und Strader auch, die Widerkräfte der Elemente erregen können. Daher folgt Blitz und Donner in dieser Welt auf dasjenige, was sie selber in ihren Seelen im Stolz oder im Hochmut, in Irrtum oder in Wahrheit oder Lüge erleben. In der physischen Welt ist das, was ein Mensch an Irrtum oder an Lüge in seiner Seele hat, etwas höchst Merkwürdiges. Da steht zum Beispiel ein Mensch vor uns, in seiner Seele leben Irrtum und Lüge, er steht vielleicht ganz unschuldig vor uns. Aber in dem Augenblick, wo der astralische Blick sich auf ihn richtet, toben Stürme, die sonst nur in den furchtbarsten Entladungen der Elemente der Erde im Bilde sich darstellen. Das alles hat Johannes Thomasius zu durchleben. Und auch das, was sich ihm schon in der astralischen Welt von den merkwürdigen Zusammenhängen zeigen kann, die noch nicht von ihm erkannt wurden, als sie ihm auf dem physischen Plan entgegentraten.

Was sich in diesem Rosenkreuzermysterium an Bezeichnungen fin­det, ist nicht zufällig. Bezeichnungen, wie zum Beispiel die andere Ma­ria und so weiter, deuten alle auf bestimmte Verhältnisse hin, so daß die eine und die andere Maria nicht bloß die beiden Marien sind, sondern als die Marien zu allen anderen Personen sich darstellen. Und die an­dere Maria, die geheimnisvolle Naturfigur, enthüllt für Johannes Thomasius

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jene Seele, welche unter der gewöhnlichen, bewußten Seele lebt, und die durchaus unhörbar, unvernehmbar bleibt, solange der Mensch nur in der physischen Welt lebt. Aber Sie dürfen diese Verhältnisse und Figuren nicht als Symbole nehmen. Bei alledem ist wieder die andere Maria absolut, gerade wie die erste Maria, eine reale Figur, eine Reali­tät. Und nur als das sind sie zu nehmen, was sie sind.

Was Johannes Thomasius erlebt hat, ist alles vor dem Auge seiner Seele vorübergezogen. Er hat die astralische Welt erlebt. Das kann er sich jetzt ins Bewußtsein bringen, da er sagt:

So finde ich im Seelenreich

Die Menschen wieder, die bekannt mir sind:

Den Mann, der von Felicias Geschichten sprach -

Nur konnt' ich hier ihn schauen,

Wie er in jungen Jahren war;

Und jenen, der als junger Mann

Zum Mönche sich bestimmt -

Als alter Mann erschien er mir.

Der Geist der Elemente war bei ihnen.

Das alles hat Johannes Thomasius durchgemacht, was sozusagen die Zeiten vernichtet vor seinem Blicke. Und wozu ist er jetzt reif gewor­den? Er ist reif geworden, den Blick hineinzutun in die astralische Welt. Ist die astralische Welt irrtumfrei? Nein, das ist sie nicht. In dieser astralischen Welt kann aber eines für den Menschen zur Gewiß­heit werden. Und eines wird für den Menschen in der astralischen Welt, wenn er sie rein betritt, nicht schuldvoll, zur Gewißheit, näm­lich, daß es eine höhere Welt gibt, die in die astralische Welt hereinscheint wie die astralische Welt in die gewöhnliche physische Welt. Es fragt sich nur, ob er sie so sehen kann, wie sie in Wirklichkeit ist. Die Menschen, die da in der Welt herumwandeln, sind nur selber eine Art von Trugbild, so daß sie selber jeder hinter sich etwas haben, was sie in die höhere Welt hineinführt, daß sie sich abheben von etwas ganz anderem, was sie vielleicht gewesen sind in längst oder weniger lange verflossenen Zeiten, was sie werden in der Zukunft. Aber gewisse Irr­tümer zeigen einem die astralische Welt, in die man sehr verflochten

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ist in der Sinneswelt, nicht. So zum Beispiel zeigen sie nicht das Ver­hältnis der großen Kräfte des Daseins, das Verhältnis von Wille, Liebe und Weisheit. Das ist ein so schwer zu Erkennendes in seiner Wahrheit, daß es sich noch lange, lange in der astralischen Welt verhüllt. Da ist es nicht so leicht dahinterzukommen. Und da setzen sich Verhältnisse, die Irrtümer in der Sinneswelt sind, noch fort in die astralische Welt hinein.

Dieses Zusammenwirken - auch das kann jetzt nur angedeutet wer­den - von Wille, Weisheit und Liebe geschieht in der physischen Welt durch die Menschen. In den höheren Welten geschieht es durch die­jenigen Wesen, welche ihre Kräfte hereinsenden, wenn auf dem physi­schen Plan die Kräfte der okkulten Wesenheiten in Menschenseelen tauchen. Das geschieht durch die Initiierten in jenen Tempeln, in denen die menschlichen Repräsentanten sind für die einzelnen Weltenmächte, in jenen Tempeln, in denen es die Menschen schon so weit gebracht haben, daß sie verzichtet haben, den ganzen Menschen auf einmal dar­stellen zu wollen, wo sie sich darauf beschränken, eine Kraft darzu­stellen. Da walten dann die Repräsentanten. Aber da, wo der Mensch in die astralische Welt hineinblickt, zeigt sich ihm jene heilige Stätte, wo die Repräsentanten der Willens-, Weisheits- und Liebesmächte sind, gerade in einem majaerfüllten Bilde. Und da spinnt sich ein furcht­bares Gewebe zwischen Täuschung der Sinneswelt und der astralischen Welt.

Und jetzt müßte ich wochenlang reden, wollte ich erklären, wie es sich verhält mit jener Gestalt der höheren Mächte, die als der Initiierten für die Willensmächte sich darstellt, der auf dem physischen Plan dem Johannes Thomasius entgegentritt und sich eigentlich wie ein Trivial­ling auf dem physischen Plan ausnimmt. Da kann die Frage entstehen:

Sollen gerade durch einen solchen die Urkräfte des Willens hereinwirken? - Und sie tun es doch. Aber man wird es begreifen können, daß gerade durch einen vielleicht weniger entwickelten Menschen das­jenige hereindringen kann an solcher Kraft, was Offenbarung der Wil­lensmächte sein soll, wie der Strahl der Weisheit hereinkommen kann durch einen solchen Menschen wie Benedictus. Man muß nämlich fol­gendes begreifen. Wenn wir jetzt hier eine erblühte, wunderbar ge­wachsene Blume haben und daneben ein Samenkorn legen, dann kann

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es sein, daß das Samenkorn, wenn es ausgewachsen ist, eine noch viel schönere Blume abgeben wird. Die Blume wird man jetzt schon für sehr vollkommen halten, aber in Wahrheit ist der Weltenrealität nach das Samenkorn etwas viel Vollkommeneres. Daher stehen sich gegen­über Benedictus, der große Träger der Weisheit, und daneben der Mensch, der sich auf dem physischen Plan in einer merkwürdigen Weise benimmt gegenüber allem, was von den geistigen Welten gesprochen wird, indem er es alles in einer merkwürdigen Weise abweist. Da, wo er in dem Kreise von Menschen über die geistigen Welten reden hört, sagt er wie ein Mensch, der nichts von geistigen Welten hören will: «Ich finde nicht die Brücke, die von Ideen zu Tatenn wahrhaft führen könnte!» Er ist ein Mensch, der ganz woanders das findet, was zu Ta­ten führt, und dem das Reden vom Geiste nur leere Worte sind. Diesem Menschen könnten Sie, so wie er jetzt auf dem physischen Plan lebt, alles Schönste von Geisteswissenschaft erzählen, leere Worte sind es für ihn. Und wertvoll ist es für ihn, wenn die Räder der Maschinen gehen. Und als er durch die andere Maria hört von der Geisteskraft, die sich mit ihr verbunden und in ihr die Gefühls- und Liebeskräfte entzündet hat, um diese oder jene Tat zu tun, ist er wieder derjenige, der alles das abweist und einfach sagt: Das kommt daher, weil sie ein gutes Herz hat! - Er bleibt ganz auf dem physischen Plan und so recht ein Trivial­ling des physischen Planes, aber ein energischer, tatkräftiger Willens-mensch ist er. Deshalb sagt er:

Wenn diese Frau des Guten vieles leistet,

So liegt dazu der Trieb

In ihrem warmen Herzen.

Es ist gewiß dem Menschen nötig,

Wenn Arbeit er geleistet hat,

Erbauung zu empfangen von Ideen,

Doch wird allein die Zucht des Willens

Im Bunde mit Geschick und Kraft

Bei allem echten Lebenswerk

Der Menschheit vorwärtshelfen.

Wenn Räderschwirren

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Mir in die Ohren tönt,

Und wenn zufriedner Menschen Hände

An Kurbeln ziehen,

Dann fühle ich die Lebensmächte.

Das ist der Willensmensch, der Tatenmensch. Und wenn Sie ihm tage­lang mit Worten reden könnten vom Geiste, so würde er sagen: Damit kann man nicht einmal eine einzige Kurbel drehen, und wovon sollten erst die Leute essen! - Also kann man tagsüber an Kurbeln drehen, und wenn man dann ein freies Stündchen hat, mag man zum Amüse­ment vom Geist reden! Das sind die noch nicht aufgegangenen Samenkräfte. Aber es sind gute Kräfte. Es sind Kräfte, die sehr wichtig sind und durch die Willensmächte hereinstrahlen in die Welt. Man darf da­bei nicht theoretisch vorgehen, wenn Menschen von geistigen Welten hören und es verschieden aufnehmen, denn da ist furchtbar schwer durchzukommen. Wer nicht begreift, daß im Samen so etwas gesehen werden muß wie ein Gegenbild zu solchen eben charakterisierten Men­schen, der erlebt eine solche Illusion, wie sie in dem unterirdischen Tem­pel dargestellt ist. Das ist eine astralische Maja. Während es Wirk­lichkeit ist, was Johannes Thomasius erlebt in der Szene mit Capesius und Strader, wo er sie in anderen Lebensaltern sieht, ist im fünften Bilde eine Maja, eine Fata Morgana der geistigen Welt geschildert, die sich zunächst auf die Seele abladen muß, durch die durchgegangen werden muß. Daher müssen Sie das fünfte Bild als etwas nehmen, was nur dadurch gerechtfertigt ist, daß sich in die Maja gleich hineinmischt Realität.

Diese ganze Szene würde gar nichts zur Entwickelung des Johannes Thomasius beitragen, wenn sie sich nicht zum astralischen Erlebnis ver­hielte wie die Begriffe und Ideen der physischen Welt zu unserem Welt­verständnis. Was die Wissenschaft für den physischen Plan ist, das ist der Majatempel für die astralische Welt. So wenig ein Begriff etwas ist, was man essen kann, so wenig ist der Majatempel etwas Wirk­liches, was in der geistigen Welt wurzelt. Aber es müssen die Begriffe in der Welt leben, damit Weltverständnis wirklich eintreten kann. Und nur so kann hereinspielen aus einer anderen Welt, was nun doch

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wieder eine tiefe Aufklärung gibt für Johannes Thomasius, indem er jetzt erkennt, wie ein bestimmter Knoten im Weltenkarma sich dadurch spinnt, daß Felix Balde eingesehen hat, daß er nicht im einsamen Wel­tenwandern die Schätze seiner Seele vergraben soll, sondern sie hintragen muß zum Tempel.

Dann ist erst für Johannes Thomasius die Möglichkeit gegeben, so­zusagen viel realere Verhältnisse in der geistigen Welt zu sehen, unter anderen auch jene Verhältnisse, die feinerer und intimerer Art sind, zum Beispiel das Hereinragen der astralischen Welt in die physische Welt, das dann stattfindet, wenn so etwas geschieht wie die Inspiration eines Menschen wie Capesius durch jemanden, der selber eigentlich nicht weiß, wieviel er in seiner Seele hält. Nicht weiß in dem Myste­rium dies die Frau Balde. Bei einem Menschen, der Verstand hat und aus dem Verstande heraus wirkt, geht alles durch den Verstand durch. In dem Verstande liegt gar nicht, was uns ein Kraftwissen über die Welt geben kann. Das liegt alles außerhalb des Verstandes. Bei einem Menschen, der viel Verstand hat, kann eine Kraft, die aus der geistigen Welt kommt, durch den Verstand gehen und dann weitergehen. Dann wird er in schönen Theorien von der geistigen Welt sprechen können. Aber der Verstand macht nichts aus für den inneren okkulten Grad, für den Inhalt der Seele. So kann das, was von Theorien kommt, auch ohne durch den Verstand zu gehen, in die Seele gelangen und so auf einen Menschen kommen, der Empfänglichkeit hat für den Quell und kann dort dasjenige aufrufen, was zum Beispiel Capesius auf dem physischen Plan schildert. Das ist gezeigt, wo er sagt, was ihm diese Frau eigentlich ist, die draußen einsam mit Felix Balde lebt, wo er sagt, daß er gern zuhört, wenn sie spricht, und daß sie dann tiefste uralte Weisheit spricht. Es ist wichtig, daß wir voll fassen, was Capesius er­zählt. Auf dem physischen Plan gibt es eine Frau, der er gern zuhört, die mit ihrem Munde Sachen spricht, die von okkulten Quellen voll sind. Sie kann es nicht in besondere Worte kleiden. Wenn es aber in die Ohren des Capesius kommt, dann kann er so sprechen:

Berühren muß ich,

Will davon ich erzählen,

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Ein Ding, das wahrlich wunderbarer mir erscheint

Als manches, was ich hier gehört,

Weil mehr zu meiner Seele sprechend.

Ich könnte kaum an andrem Orte

Die Worte aus dem Munde bringen,

Die hier so leicht mir werden.

Für meine Seele gibt es Zeiten,

Wo sie wie ausgepumpt und leer sich fühlt.

Es ist mir dann, als ob des Wissens Quelle

In mir erschöpft sich hätte;

Als ob kein Wort ich finden könnte,

Das wert zu halten wäre

Gehört zu werden.

Es gibt so etwas. Solche Menschen, wenn sie auch noch so viel wissen, fühlen sich dann, als ob es nicht mehr weitergehen könnte.

Empfind' ich solche Geistesöde,

Dann flüchte ich in dieser guten Leute

Erquickend stille Einsamkeit.

Jetzt geht ihm selber die Seele auf, weil da für ihn das Tor in die okkulte Welt hinein ist.

Und Frau Felicia erzählt

[n Bildern wunderbar

Von Wesen, die im Traumeslande wohnen

Und in den Märchenreichen

Ein buntes Leben führen.

Es ist der Ton der Rede

Wie Sagenweise aus den alten Zeiten.

Ich frage nicht, woher sie ihre Worte hat.

Ich denke dann an eines nur mit Klarheit,

Wie meiner Seele neues Leben fließt,

Und wie hinweggebannt

Mir alle Seelenlähmung ist.

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Wie so etwas in der Realität ist, das sieht auf dem physischen Plan Johannes Thomasius, der dabei ist, der aber erst in die astralische Welt hineinschauen muß, um es sich erklären zu können. In dem astralischen Bilde erscheint ihm daher gerade Frau Balde, die er jetzt sieht, wie sie in der Gestalt der physischen Welt ist. Und sie gibt dem Geist der Ele­mente eines ihrer Märchenbilder, wie sie Capesius Hunderte erzählt hat. Jetzt kommt aber das Wechselspiel zu dem, was unter der Schwelle des Bewußtseins vorgeht.

Sie erzählt dem Capesius die Märchen. Und hat sie eines erzählt, was sie selber nicht versteht, dann gehen in seiner Seele die Kräfte auf, welche seine Seelenlähmung hinwegbannen, dann kann er wieder seinen Hörern etwas erzählen. Das klingt dann ganz anders als das, was Frau Felicia erzählt hat. Da spielen geheime Kräfte aber auch bei Capesius. Wenn man diesen nachgeht, findet man ihren Ursprung in der astrali­schen Welt. Dort ist dann zu schauen, wie sie Gegenströmungen her­vorrufen. Und ein solches Echo, wie die Worte der Frau Felicia her­vorrufen in der Seele des Capesius, rufen sie hervor überall dort, wo elementarische Gewalten sind. Auch für unser Gehirn gibt es so etwas. In unserem Gehirn lebt ein kleiner Geist, der vielleicht die wunder-barsten Sachen ausdenkt. Wenn wir suchen, wie er aus dem Makro-kosmos heraus ist, finden wir etwa das Erdgehirn. Das denkt die Ge­danken in ganz anderer Größe, als sie im kleinen Menschengehirn erscheinen. In seinem eigenen Gehirn sieht der Mensch manchmal nicht, was er eigentlich behauptet. Aber grotesk nimmt es sich aus, wenn es sich widerspiegelt in dem Riesen-Erdgehirn. Das muß sich auch ab-spiegeln. Daher jene Beziehung, die besteht zwischen German, der auf dem physischen Plan erscheint und dann als Geist des Erdgehirns.Auch darüber müßte man lange sprechen. Aber wenn man mit dem astra­lischen Blick sehen würde, was sich im einsamen Häuschen abspielt, wenn Frau Felicia ihre Märchen erzählt, und wenn man dann schauen würde bis auf den Geist des Erdgehirns, dann würde man manches Geheimnis sehen, zum Beispiel wie dieser Geist des Erdgehirns ein Ironiker ist, manchmal ein Spötter ist. Und er muß zum Spott angelegt sein, denn er hat viel zu lachen über das, was die Menschen tun.

Künstlerisch ist es berechtigt, daß er in dem Augenblick, wo er deplaciert

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ist, auch auftritt in der Rolle, die er so oft spielen muß, und sich in seiner wahren Gestalt zeigt. Da sehen wir denn nach der Szene, wo Frau Balde vor dem Geist der Elemente eines ihrer Märchen erzählt hat, eine abnorme Wirkung auf den Geist des Erdgehirns, der das Mär­chen in ganz andere Worte übersetzt. Frau Balde erzählt:

Es war einmal ein Wesen,

Das flog von Ost nach West

Dem Lauf der Sonne nach.

Es flog hin über Länder, über Meere;

Es sah von seiner Höhe

Dem Menschentreiben zu.

Es sah, wie sich die Menschen lieben

Und hassend sich verfolgen.

Es konnte nichts das Wesen

In seinem Fluge hemmen;

Denn Haß und Liebe schaffen

Das gleiche stets vieltausendfach.

Doch über einem Hause,

Da mußt' das Wesen halten.

Darinnen war ein müder Mann.

Der sann der Menschenliebe nach

Und sann auch über Menschenhaß.

Ihm hatte schon sein Sinnen

Ins Antlitz tiefe Furchen eingeschrieben.

Es hatte ihm das Haar gebleicht.

Und über seinem Kummer

Verlor das Wesen seinen Sonnenführer

Und blieb bei jenem Mann.

Es war in seinem Zimmer

Noch, als die Sonne unterging,

Und als die Sonne wiederkam,

Da ward das Wesen wieder

Vom Sonnengeiste aufgenommen. -

Und wieder sah es Menschen

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In Lieb' und Haß

Den Erdenlauf verbringen.

Und als es kam zum zweiten Mal,

Der Sonne folgend über jenes Haus,

Da fiel sein Blick

Auf einen toten Mann.

Und der Geist des Erdgehirns tönt das wider, durchaus unberechtigt natürlich:

Es war einmal ein Mann,

Der zog von Ost nach West;

Ihn lockt der Wissenstrieb

Hin über Land und Meer.

Er sah nach seinen Weisheitsregeln

Dem Menschentreiben zu.

Er sah, wie sich die Menschen lieben

Und hassend sich verfolgen.

Es sah der Mann sich jeden Augenblick

An seiner Weisheit Ende.

Doch wie stets Haß und Liebe

Die Erdenwelt regieren,

Es war in kein Gesetz zu bringen.

Er schrieb viel tausend Einzelfälle,

Doch fehlte alle Überschau.

Es traf der trockne Forscher

Auf seinem Weg ein Lichteswesen;

Dem war das Dasein schwer,

Da es in stetem Kampfe war

Mit einer finstern Schattenform.

Wer seid ihr denn,

So frägt der trockne Forscher.

Ich bin die Liebe,

So sagt das eine Wesen;

In mir erblick' den Haß,

So sprach das andre.

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Es hörte dieser Wesen Worte

Der Mann nicht mehr.

Als tauber Forscher zog fortan

Von Ost nach West der Mann.

Diese Dinge sind durchaus Erfahrungen der astralischen Welt. Durch sie muß Johannes Thomasius durch, um hinaufzukommen in die geistige Welt.

Und für heute will ich nur kurz sagen, daß für Johannes Thomasius notwendig ist ein realer Zusammenhang mit der geistigen Welt, der schon in der physischen Welt angesponnen worden ist, um in die gei­stige Welt selbst hinaufzukommen. Und das ist, wie Sie nnachher ver­nehmen werden, der Zusammenhang aus jenem Inkarnationen umfas­senden Karma, das sich erst enthüllt im devachanischen Schauen. Da müssen aber wirklich die devachanischen Elemente spielen. Daher bitte ich zu beachten, daß in dem Weben und Leben des devachanischen Meeres alles darinnen lebt. Da kann man nicht nur schildern, sondern da kann man nur immer annähernd dieses oder jenes andeuten. Wenn man aber real schildern will, muß man weitergehen. Man glaube nicht etwas zu wissen, wenn man von höheren Welten spricht, und nennt die Worte: Empfindungsseele, Verstandesseele, Bewußtseinsseele, womit gemeint sein sollen Philia, Astrid und Luna. Es sind diese drei Gestal­ten nicht etwa Personifikationen jener drei Seelenglieder oder Symbole für dieselben. Wenn Sie hinhören auf die Vokale, mit denen diese drei Gestalten ihre eigenen Beschäftigungen charakterisieren, und wenn Sie hinhorchen auf das, was in den Vokalen lebt, so können Sie verfolgen, wie in der Folge der einzelnen Vokale, der einzelnen Worte das gegeben ist, was man sich in einer ganz anderen Weise als Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele klarmachen kann. Und wenn Sie irgend etwas herausnehmen, ist es nicht mehr das Ganze. Daher ist es wichtig, auf die Worte hinzuhorchen, um einen Begriff zu bekommen von dem devachanischen Element der Bewußtseinsseele, zum Beispiel wenn Luna die Worte sagt:

Ich will erwärmen Seelenstoff

Und will erhärten Lebensäther.

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Sie sollen sich verdichten,

Sie sollen sich erfühlen,

Und in sich selber seiend

Sich schaffend halten,

Daß du, geliebte Schwester,

Der suchenden Menschenseele

Des Wissens Sicherheit erzeugen kannst.

In der Bewegung der Worte liegt in der Schilderung des Devachans das, was man sonst auf keine Art aussprechen kann. Darauf muß auch geachtet werden. Man ist nämlich in die Notwendigkeit versetzt, wenn man von höheren Welten spricht, dies auf mehrfache Art zu sagen. Und was ich nie theoretisch sagen könnte über Empfindungsseele, Ver­standesseele und Bewußtseinsseele, das können Sie aus dem vernehmen, wenn Sie es verstehen wollen, was in der Charakteristik der drei Ge­stalten: Philia, Astrid, Luna enthalten ist. Aber Sie werden es gut ver­stehen, daß diese drei nicht Symbole oder Allegorien sind für Empfin­dungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele. Wenn Sie sich fra­gen: Was sind diese drei? - so ist die Antwort: Es sind Personen, die da leben: Philia-, Astrid- und Luna-Menschen. Das muß immer fest­gehalten werden.

Wie nun das Karma sich zuletzt zusammenschlingt und sich im Bilde zeigt, was als Mikrokosmos in der Menschenseele Johannes Thomasius erlebt, das konnte bei der Münchner Aufführung in dem ganzen Schluß-bilde gezeigt werden. Wie Karma wirkt, so standen die einzelnen Per­sonen an ihren Plätzen. Wer der einen Person näherstand, hatte dem­entsprechend seinen Platz. Wenn Sie sich das real gespiegelt denken in die Seele des Johannes Thomasius hinein, dann haben Sie ungefähr das, worüber man nur sehr schwer sprechen kann, was in dieser Szene des siebenten Bildes, dem Geistgebiet, darinnen steckt.

Es folgte die Rezitation des siebenten Bildes durch Mane von Sivers (Marie Steiner), eingeleitet und ausklingend durch die Musik von Adolf Arenson.

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DIE WEISHEIT DER ALTEN URKUNDEN UND DER EVANGELIEN. DAS CHRISTUS-EREIGNIS Nürnberg, 13. November 1910

Wenn wir zurückblicken auf die Menschheitsentwickelung, zunächst so weit zurück, als es uns die Geschichte gestattet, so tritt uns etwas sehr Eigentümliches entgegen. Was uns da entgegentritt, können wir an den verschiedensten Erscheinungen prüfen. Wir können vor allen Dingen - und wir werden heute noch sehen, wie im Grunde genommen das, was jetzt gesagt werden soll, Anwendung findet auf jedes menschliche Herz, auf jede menschliche Seele - diese Menschheitsentwickelung prüfen an den verschiedenen Urkunden, Überlieferungen und Schriften, die uns erhalten sind. Wenn wir zu dem zurückgehen, was die einzelnen Völ­kerschaften des Altertums sich an Vorstellungen bildeten über die Ent­stehung der Welt, über das Verhältnis des Menschen zur Welt, über die Quellen des Sittlichen und des Guten, so finden wir, daß diese Vor­stellungen in Sagen, in Mythen, in Legenden niedergelegt sind. Wir finden solche Sagen, Mythen, Legenden in mehr oder weniger schöner, großartiger, gewaltiger oder auch weniger bedeutender Gestalt bei den verschiedensten Völkern des Erdkreises. Der heutige Mensch ist so sehr geneigt, diese Mythen, Sagen und Legenden als Dichtungen zu behan­deln und zu sagen: Das haben Völker in ihreni Kindheitszeitalter aus­gedacht, weil sie noch nicht die Quellen der heutigen Wissenschaften hatten. - Sie haben sich allerlei Vorstellungen gemacht, wie die Welt entstanden ist, im Sinne der Griechen durch ihre Götter, im Sinne der alten Germanen durch ihre Götter, meinetwillen im Sinne der ameri­kanischen Völker, deren Sagen uns erst die letzte Zeit gebracht hat und die übereinstimmen mit dem, was man bei anderen Völkern findet. Wenn wir hören, wie Quetzalcoatl und Vitzliputzli bei den mittel­amerikanischen Völkern eine Rolle spielen, ähnlich, nur primitiver wie andere gewaltig ausgebildete Gestalten bei anderen Völkern, so sehen wir, daß bei allen solchen Völkern sich Sagen und Mythen finden. Und wie schon erwähnt wurde, ist der moderne Mensch leicht geneigt

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zu sagen: Das sind Dichtungen, phantastische Ausbildungen des Men­schengeistes, der auf diese Weise sich hat erklären wollen, wie die ver­schiedenen Wesenheiten der Welt, die verschiedenen Naturerscheinun­gen entstanden sind.

Unter den mancherlei Urkunden finden wir nun eine gewaltige, die eine größere Anzahl von Ihnen erst vor kurzem mit mir betrachtet hat, eine gewaltige Urkunde, die Genesis, den Beginn des Alten Testaments. Und wir haben ja in München gesehen, welche unendliche Tiefen in dieser Genesis liegen. Für manchen von Ihnen ist nun auch schon aus der Geist-Erkenntnis heraus gesprochen worden über die verschiedenen Evangelien, die letzten der Urkunden dieser Art. Solche finden wir er­halten, stammend aus den verschiedenen Zeiten, in denen unsere vor­hergehenden Inkarnationen verlaufen sind, die wir in früheren Erdenleben mitgemacht haben. Der in der Geisteserkenntnis Vordringende muß es begreifen lernen, daß er in den Zeiten da war, in denen man, sagen wir, von Zeus und Hera und Kronos und anderen Göttern ge­sprochen hat, gesprochen hat über die Naturerscheinungen in anderer Weise als heute, in solcher Form eben, wie es in Mythen, Sagen und Märchen enthalten ist. Das alles müssen wir uns vor Augen halten. Und wir müssen uns fragen: Wie verhält es sich denn nun eigentlich mit unseren Seelen, die solche Dinge aufgenommen haben, welche jetzt - für die meisten Menschen gewissermaßen, ohne daß sie wissen, was sich dazumal in ihnen abgeladen hat - in ihren Seelen wieder her-vorkommen?

Nun, ich will Ihnen ganz einfach schildern, wie es mit diesen Ur­kunden demjenigen geht, der zunächst beginnt, sie hinzunehmen als Sagen, Mythen, Dichtungen, der aber dann in die Geisteswissenschaft eindringt und diese als ein Instrument benützt, um diese Urkunden immer mehr und mehr zu begreifen.

Mit dem Alten Testament zum Beispiel, das die meisten heutigen Menschen vielleicht lesen wie recht schöne Zusammenstellungen von allerlei Bildern über die Weltentstehung, geht es ihm so, daß er sich nach und nach sagt: In diesen Dingen, die da in einer so merkwürdigen Weise wiedergegeben sind, ist eine unendliche Weisheit enthalten. - Und immer mehr kommt er darauf, daß in den einzelnen Worten und

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Wendungen und Sätzen Dinge enthalten sind, wenn man sie richtig versteht, auf die uns die Geistesforschung heute ganz selbständig wie­derum führt. Es gibt vielleicht kein wirksameres Mittel, um die Schät­zung solcher Urkunden immer größer werden zu lassen, als ein wenig einzudringen in die Geisteswissenschaft. Denn die subtilsten Entdek­kungen, die man auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft machen kann, die gewaltigsten Dinge, die mit aller Mühe durch geisteswissenschaft­liche Forschung wiedergefunden werden, entdeckt man hinterher in irgendeinem Bibelwort, sagen wir der Genesis.

Nun zeigt sich aber ein gewisser Unterschied zwischen dem Alten Testament und allen anderen Sagen und Mythen und Urkunden. Das muß man festhalten. Nehmen Sie die Sagen der Griechen, der alten Germanen, selbst das, was in den Veden der Inder enthalten ist, was in den persischen Urkunden enthalten ist, nehmen Sie alles dieser Art. Gegenüber dem Alten Testament gibt es einen gewaltigen Unterschied. Dieser Unterschied stellt sich dem unbefangen Prüfenden so dar, daß er in allen übrigen Urkunden in sagenhafter Weise dargestellt findet die Rätsel der Naturerscheinungen, die Rätsel alles dessen, was sich auf die Naturerscheinungen bezieht, auch auf den Menschen, insofern er eine Art natürlichen Daseins hat, insofern die Naturgewalten den Menschen zu diesem oder jenem drängen, daß aber in dem Alten Testa­ment einzig und allein ihm entgegentritt, daß der Mensch von Anfang an als sittlich-seelisches Wesen gefaßt ist, nicht als bloßes Naturwesen. Und alles, was da erzählt wird, geht davon aus, daß der Mensch in die Entwickelung als sittlich-seelisches Wesen hineingestellt wird. Was die heutige Wissenschaft nach dieser Richtung sagt, ruht auf sehr schwan­kendem Grunde. Das ist alles in nichts zerfallend, wenn man die Dinge wirklich geistgemäß betrachtet. Es ergibt sich also ein durchgreifender Unterschied, so daß man sagen kann: Durch alles andere, was uns sonst in der Welt an Urkunden gebracht wird, zeigt sich uns, daß die Men­schen gewaltige Offenbarungen hatten von irgendeiner Seite her, ge­waltige Offenbarungen, die in dieser sagenhaften Form, wie die Mythen sie haben, ausgesprochen wurden, die aus dem Grunde tiefer Weisheit heraus entstanden sind, die sich aber nicht beziehen auf die sittlich-see­lischen Mysterien des Menschen. Das also ist unter allen Umständen klar.

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Nun tritt wiederum ein großer Unterschied auf, wenn man mit allen übrigen Urkunden dieser Art das Neue Testament vergleicht. Da herrscht ein ganz anderer Geist als in allen übrigen Urkunden, auch als im Alten Testament. Wie könnte man diesen Unterschied fassen, wenn man vom anthroposophischen Gesichtspunkt an die Sache her­antritt? Dieser Unterschied wird uns klar werden, wenn wir uns erst eine andere Erscheinung vor die Seele rücken.

Wir denken uns einmal einen Menschen, der niemals von Geistes­wissenschaft etwas gehört hat, der aber ganz herausgeboren ist aus den wissenschaftlichen oder aus den sonstigen sogenannten vernünftigen Erziehungen der Gegenwart, der also nicht die Gelegenheit hat, die alten Urkunden mit Geisteswissenschaft zu durchdringen. Wir können uns ihn vorstellen, vielleicht gar nicht gelehrt oder auch sehr gelehrt -der Unterschied macht nicht viel aus -, wir denken ihn uns der Geistes-wissenschaft fernstehend und nehmen an, er trete dann an diese alten Urkunden heran, an die griechischen, persischen, indischen, germani­schen Urkunden und so weiter, er trete heran mit alledem, was ihm das moderne Denken geben kann. Wenn er nun wirklich gar keinen Hauch von dem verspürt, was Geistesforschung ist, so tritt eine eigentüm­liche Erscheinung auf. Je nachdem er mehr oder weniger geneigt ist, poetisch oder nüchtern zu sein, wird allerdings ein Unterschied auf­treten, aber im ganzen, dürfen wir sagen, zeigt sich eine Erscheinung. Ein solcher Mensch kann niemals in Wirklichkeit heute noch die alten Urkunden verstehen, er kann nicht eindringen in die Art und Weise, wie da die Weisheit gegeben wird. Wir erleben die allergroteskesten Beispiele auf diesem Gebiete. Man braucht nur hinzuweisen auf die allerneuesten Versuche, solche alten Urkunden zu erklären. Da gibt es gerade heute wiederum ein Büchlein, das eigentlich durch seine Lä­cherlichkeit interessant ist, in dem ein umfassender Versuch gemacht wird, alle Mythen bis herauf zu den Evangelien, von den ersten Ur­kunden der primitivsten Völker an, zu erklären. Es ist ein Büchelchen, das gerade durch seine groteske Art, ja durch seine grotesk törichte Art, die Dinge aufzufassen, außerordentlich interessant ist. «Orpheus» heißt das Büchelchen. Es ist von Salomon Reinach, der in Frankreich als Forscher auf diesem Gebiet berühmt ist. Er ist gerade unter den

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Gelehrten ein bezeichnendes Beispiel für einen Mann, der auch nicht einen Hauch von dem Weg verspürt hat, wodurch man in solche Dinge eindringen kann. Da wird auf alles eine bestimmte Methode angewen­det, und es wird alles wegdekretiert. Alle Dinge sind nur symbolisch. Hinter Hermes, Orpheus und anderen stehen keine wirklichen Wesen­heiten. Diese Gestalten sind nur Symbole und Allegorien. Es schickt sich gar nicht, unter anständigen Menschen das zu wiederholen, was als Deutung dieser Symbole gegeben wird; es wird da so gesprochen, daß man es nicht wiedergeben möchte. Auf diese Weise kann alles, was an Realitäten in den Mythen lebt, wegbewiesen werden, und so wird da die Realität der Demeter und der Persephone wegdekretiert, weg-bewiesen. Alle diese Namen seien nur da als Symbole. Das wird nach einer Methode gemacht, nach der man Kindern leicht den Beweis vor­führen könnte, daß, wenn schon achtzig Jahre vergangen wären, nie­mals in Frankreich im Beginn des 20. Jahrhunderts ein Mann des Na­mens Salomon Reinach gelebt hat, sondern daß die zeitgenössische Kultur unter dem Namen Salomon Reinach zusammengefaßt hat, was in seinem Buch vorliegt. - Das ließe sich wunderbar beweisen. Dennoch machen solche Dinge heute außerordentlich viel Aufsehen. Und nach derselben Methode wird jetzt auch in Deutschland der Beweis geführt, daß Jesus niemals gelebt hat, was in den letzten Zeiten ebenfalls großes Aufsehen gemacht hat.

Wenn wir uns nun fragen: Was ist denn der wirkliche Grund, daß man heute ohne Geisteswissenschaft nicht in die Sachen eindringen kann - und es ist eine Tatsache, daß man ohne sie nicht eindringen kann -, was ist der wirkliche Grund? - Wenn man diesen Grund ein­sehen will, muß man schon etwas tiefer in die Menschheitsentwicke­lung hineinschauen. Man muß eine Weile zurückblicken in diese Mensch­heitsentwickelung. Dann bietet sich einem dar, daß man sich sagen muß: Solche Wissenschaften, wie sie die Menschen heute haben, solche Wissenschaften, wie sie sie in den elementarsten Schulen lehren über die Sonne und anderes, hatten die Alten gewiß nicht. Solche Wissen­schaften, die mit dem Verstand, mit der Vernunft begriffen werden. -Das ist etwas, wozu die Menschheit erst vorgedrungen ist. Und unsere Seelen haben ganz gewiß, wenn sie in früheren Inkarnationen geboren

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waren, nicht solche Wissenschaften aufnehmen können, denn das gab es nicht, das war der Kultur nicht einverleibt. Aber je weiter wir zu­rückgehen in der Entwickelung, desto mehr finden wir - ob wir jetzt die Gründe dafür, die wir für viele von Ihnen öfters auseinandergesetzt haben, da oder dort suchen -, daß die Menschen eine Weisheit in ganz anderer Form als heute gehabt haben, eine Weisheit über die geistigen Dinge, welche die Menschen von hente nicht fähig sind, in ihrer wissen­schaftlichen Form auszusprechen. Aber Weisheit beherrschte die See­len, lebte in den Seelen. Sie war eben da. Vor allen Dingen hatten die eingeweihten Führer der Menschheit diese Weisheit, und es kann hi­storisch nachgewiesen werden, wenn man anthroposophischen Geist hat, daß über die gesamte Menschheit der Erde eine Uroffenbarung, eine Urweisheit ausgegossen war, die sich nach den verschiedenen Ab­stufungen der Entwickelung da oder dort so und so ausgelebt hat. Wenn jemand mit einem wirklich anthroposophischen Geist die Geschichte betrachtet, so findet er diese Uroffenbarung. Nur ist noch etwas not­wendig dazu. Der gewöhnliche jetzige wissenschaftliche Menschen-geist muß, wenn er in all diese Urkunden ihrem wahren Sinne nach eindringen will, allerdings noch eine Vorbereitung durchmachen - ich erzähle jetzt einfach eine Tatsache -, eine Vorbereitung, die ihn be­fähigt, in den Geist jener alten Schriften einzudringen. Diese besteht darin, daß er die Urkunden studiert, die man heute unmittelbar studie­ren kann. Das sind die Evangelien, das sind die Paulinischen Briefe. Man kann durch das, was da geschildert ist, unmittelbar an die Ur­offenbarung in den alten Urkunden herandringen und kann diese ver­stehen. Das ist eine merkwürdige Tatsache. Würde aber ein Geistes-forscher nach den Vorurteilen der heutigen Zeit eine gewisse Abneigung haben, an diese Evangelien heranzutreten - er könnte ja sagen: Das ist eine Religion unter vielen -, dann würde sich zeigen, daß er doch nicht zurechtkommt mit dem, was die anderen Urkunden sind. Überall bliebe für ihn ein unverständlicher Rest. Tritt er aber, sei es auch nur im Geiste, an irgendeine Erscheinung der Ereignisse von Palästina heran, läßt er sich von ihnen gleichsam inspirieren, dann kann tatsächlich ein Strahl der Erleuchtung von den Evangelien über die Dinge in den an­deren Urkunden ausgehen. Das ist eine Tatsache, und das kann man als

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eine Erfahrung machen. Und dann gesteht man sich wohl, daß diese Evangelien und die Paulusbriefe zum richtigen Zurückgehen in die früheren Zeiten eigentlich notwendig sind. Man kann sie nicht igno­rieren, nicht außer acht lassen. Man braucht gar nicht, wenn man nur wirklich in den geistigen Urkunden, in der Akasha-Chronik lesen kann, an die geschriebenen Evangelien heranzugehen - über die Ereignisse von Palästina muß man aber gehen. Sonst bleiben gewisse Dinge in bezug auf das Vorhergehende immer unklar. Also nicht auf das geschriebene Wort wollte ich positiv hinweisen, sondern auf die Ereignisse, wie sie sich uns in der Wirklichkeit dargestellt haben in der Menschheitsent­wickelung. Das ist eine sehr, sehr wichtige Tatsache.

Ich möchte auf diese Tatsache noch von einer anderen Seite her ein wenig Licht werfen. Halten wir fest, was ich gesagt habe: Man kann über das Christus-Ereignis nicht hinwegschreiten, wenn man verstehen will, was als eine Uroffenbarung der Menschheit gegeben ist, sonst strauchelt man irgendwo. Wenn ich beschreiben soll, wie sich die Sache eigentlich darstellt, so muß ich folgendes sagen: Nehmen wir an, der heutige Geistesforscher forscht in der Vergangenheit, und er hat keinen Sinn - auf den Sinn kommt es sehr viel an - für das Christus-Ereignis, er geht an dem Christus-Ereignis vorüber und geht an die anderen, früheren Ereignisse der Entwickelungen heran, dann wird er überall, wirklich überall finden, daß er unsicher wird. Nehmen wir aber an, es läge uns ein solcher Geistesforscher vor, der vor dem Christus Jesus geboren ist und gelebt hat und der schon sehr weit gekommen war in bezug auf die Hellsichtigkeit und auch sonst weit entwickelt war, der in einer gewissen Weise schon vor der Christuszeit reif gewesen wäre, die ganze Vergangenheit so zu überschauen, daß er bereits damals durch das Christus-Ereignis hätte gehen können, weil er seiner Zeit voraus war. Nehmen wir an, er hätte fünf oder sechs Jahrhunderte vor Chri­stus gelebt, wäre reif gewesen wie ein heutiger Geistesforscher, zurück-zugehen über den Christus und zu den früheren Ereignissen zu kom­men, dann können wir uns förmlich fragen: Wie würde sich ein solcher Geistesforscher ausnehmen müssen, um nicht den luziferischen oder ahrimanischen Gewalten zu verfallen? - Nehmen wir an, ein solcher würde es eigentlich brauchen, über das Christus-Ereignis zu gehen,

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aber dieses Christus-Ereignis sei noch nicht da gewesen, als er gelebt hat. Da würde es sich für einen solchen herausstellen, daß er entweder sich leichten Herzens beruhigen würde mit dem, was sich ihm ergibt, was er sehen kann - er würde dann allerlei Dinge reden, die nicht ganz stimmen -, oder aber er würde an den Punkt kommen, wo er sich sagt: Jetzt fehlt mir etwas, ich finde etwas nicht, indem ich den Blick zurückwende, ich finde etwas nicht, was ich auf meinem Wege brau­che. - Und weiter würde er sich gestehen: Hier werde ich unsicher. Ich muß etwas suchen, was ich brauche, aber es ist auf der Erde noch nicht da, es ist in der Erdenentwickelung nicht zu finden.

Ich habe Ihnen da sozusagen aus der Theorie heraus eine Persön­lichkeit des 5., 6. Jahrhunderts vor Christus gemalt, die etwa reif ge­wesen wäre, den Christus Jesus schon bei der Rückschau zu finden. Aber weil dieser noch nicht auf der Erde da war, ist er als irdische Tatsache für ihn nicht aufzufinden. Für mich wurde diese Theorie vor kurzer Zeit recht stark eine Realität. Und zwar war es, als ich in die­sem Jahr unseren Zweig in Palermo besuchen konnte. Als ich auf dem Schiff gegen Palermo zu fuhr, war mir mit einem Schlage eines klar:

Irgendein Rätsel wird sich dir lösen, das sich dir nur durch den unmit­telbaren Eindruck hier an diesem Orte leicht lösen kann. - Und das hat sich auch sehr bald gelöst. Die Persönlichkeit, von der ich Ihnen eben theoretisch gesprochen habe, trat mir in der ganzen Atmosphäre Siziliens - ich möchte sagen im ganzen Astralleib Siziliens - sofort ent­gegen. Sie war da, ganz lebendig. Es lebt sozusagen in der ganzen Atmo­sphäre Siziliens diese Persönlichkeit fort, die vielfach als eine rätsel­hafte erscheint. Es ist die des Empedokles. Dieser alte griechische Phi­losoph hat im 5. Jahrhundert vor Christus auf Sizilien gelebt. Er war, wie auch der äußere Historiker weiß, ein in die verschiedensten Dinge tief Eingeweihter und hat gerade in Sizilien großartige Leistungen voll­bracht.

Wenn man nun zunächst geistig den Blick auf ihn richtet, so stellt sich diese Persönlichkeit merkwürdig dar. Indem man auf die Ent­wickelung des Empedokles zurückblickt, ihn verfolgt in dem, was er als Staatsmann, als Architekt, als Philosoph getrieben hat, wie er um­hergezogen ist, wie er seine begeisterten Schüler gehabt hat, wie er sie

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in die verschiedenen Geheimnisse der Welt eingeweiht hat, wenn man ihn geistig so verfolgt, nicht an der Hand der äußeren Geschichte, dann entdeckt man, daß das eine Persönlichkeit war, die unendlich viel von dem wußte, was erst die heutigen Menschen an wissenschaftlichem Wis­sen haben. Einen ganz modern gearteten Geist hatte diese Persönlich­keit, eine moderne Aura. Empedokles war in der Tat so weit, daß er nach dem Ursprung der Welt gefragt hat. Und er wäre wirklich auch so weit gewesen, daß er nach dem, wie alles geworden war, den Chri­stus auf dem Wege der Rückschau hätte finden müssen. Der war aber noch nicht da gewesen, den konnte man dazumal noch nicht auf der Erde finden, er fehlte noch auf der Erde. Unter diesen Erlebnissen wurde Empedokles schwankend, und gerade das bildete ein eigentüm­liches Verlangen in ihm aus, und dieses Verlangen verwandelte sich in ihm - in ganz anderer Art als bei den Triviallingen der heutigen Zeit -in eine Leidenschaft, die Welt materialistisch anzusehen. Luzifer trat an ihn heran. Man muß sich nur lebendig vorstellen, wie das geschah. Er war ein moderner Geist, dabei in die verschiedensten Geheimnisse eingeweiht, hellsichtig in hohem Grade. Durch sein modernes Denken war er geneigt, die Welt materialistisch anzuschauen, und es gibt auch so ein materialistisches System von ihm, in dem er die Welt ungefähr darstellt wie der heutige materialistische Chemiker durch Zusammen-mischen und Entmischen der Elemente. Nur unterscheidet er bloß die vier Elemente. Je nachdem sie sich mischen, dachte er, bilden sich die verschiedensten Wesenheiten. Diese Anschauung erzeugte in ihm eine mächtige Leidenschaft, dahinterzukommen, was denn hinter diesen materiellen Elementen, was in der Luft, was in dem Wasser steckt.

Wenn man heute durch die Akasha-Chronik zurückblickt und in Luft und Wasser und Feuer und Erde schaut, so findet man ätherisch den Christus darin. Empedokles konnte ihn nicht finden. Für ihn ent­stand ein ungeheurer Drang, in Luft und Wasser und Feuer und Erde etwas zu finden, dahinterzukommen, was darinnen ist. Und man sieht diese Persönlichkeit, wie sie von diesem mächtigen Drange ergriffen wird, doch hineinzudringen in das, was die materiellen Elemente sind. Und das führt ihn endlich dazu, tatsächlich eine Art Opfer zu bringen. Denn es ist keine bloße Sage: er hat sich in den Atna gestürzt, um sich

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mit den Elementen zu vereinigen. Die luziferische Macht, der Drang, mit den Elementen fertig zu werden, das trieb ihn zu dieser körperlichen Vereinigung mit den Elementen. Dieser Tod des Empedokles lebt fort in der geistigen Atmosphäre Siziliens. Das ist ein großes Geheimnis die­ses merkwürdigen Landes.

Und nun denken wir uns diese Seele des Empedokles, die auf diese Weise den Leib abgelegt hat, indem sie ihn verbrennen ließ. Sie wird wiedergeboren in späterer Zeit, wo der Christus schon da gewesen ist. Da ist ein ganz anderer Fall für diese Seele gegeben. Früher hat sie sich gleichsam den Elementen hingeopfert, dann ersteht sie wieder neu, aber indem sie jetzt zurückblickt, erblickt sie den Christus. Und es er-steht alles elementarische Wissen neu. Was diese Seele gewußt hat, er-steht in einer ganz neuen Form. Die Persönlichkeit des Empedokles ist tatsächlich später wiedergeboren worden. Es ist mir nur in diesem Au­genblick nicht gestattet zu sagen, unter welchem Namen. Aber wenn man die spätere Wiederverkörperung des Empedokles, die mehr im Norden geschah, wenn man diese Gestalt, wie sie später lebt von der Wende der mittleren zur neueren Zeit, vergleicht mit der des Empe­dokles, der sich in den Ätna gestürzt hat, dann stellt sich einem leben­dig vor Augen der Riesenimpuls, der dadurch gekommen ist, daß da­zwischen das Christus-Ereignis auf der Erde da war.

Was so bei irgendeiner Persönlichkeit auftritt, das vollzieht sich aber für jede Seele, auch für alle Ihre Seelen. Wenn auch alle diese Seelen nicht den mächtigen Drang verspürt haben, den Empedokles verspürt hat, so haben sie doch gegen die Zeit herein, in der das Chri­stus-Ereignis heranrückte, mit gewissem Unbehagen in die Vergangen­heit zurückgeschaut, weil sie sich nicht auskennen konnten, weil immer mehr die Zeit heranrückte, in der das alte Wissen dahinschwand. Wenn wir in die frühere Zeit zurückgehen, so finden wir, daß diejenigen, welche die Tradition des alten Wissens bewahrten, vor das Volk hin-traten; daß sie erzählten - stellen wir uns das einmal vor die Seele -gewaltige Erzählungen, wie sie meinetwillen in der griechischen Sage erhalten sind, wie sie mitgeteilt wurden den alten Griechen. Das war aber nur ein Anlaß dazu, daß die alten Griechen, wenn sie, sagen wir, in einem besonderen Zustand waren - was dazumal noch in größerem

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Maße eintrat als jetzt-, die Wahrheit dieser Sagen empfanden, und daß diese Sagen ihnen den Ruck gaben, hineinzusehen in die geistige Welt. Aber diese Veranlagung verlor sich bei den Menschen. Es kam so, daß jene innerliche Kraft, hinaufzublicken in die geistige Welt, gerade in dem Maße verlorenging, als die Verstandeswissenschaft heranrückte. Sie können es nachrechnen, können es in jedem kleinen Handbuch nach­lesen, wie wenig weit unsere Anschauungen, die heute, ich möchte sagen, schon die Kinder, wenn auch nicht mit der Muttermilch, so doch mit der Schulmilch einsaugen, zurückgehen. Ein paar Jahrhunderte vor den Beginn der christlichen Zeitrechnung gehen sie zurück. Da ist ein gewaltiger Einschnitt. Wenn die Menschen weiter zurückgehen und die alten Urkunden verstehen wollen, dann können sie es nicht mehr; da erscheinen sie ihnen nurmehr als Dichtungen, als Sagen, als Mythen. Das ist etwas, was man wirklich genauer ins Auge fassen sollte. Es wird immer mehr solche Menschen geben, welche, ohne vererbt irgendwelche Anlagen mitzubringen, um alte Urkunden zu verstehen, die alten Ur­kunden nicht verstehen werden. Man wird zu der Ansicht kommen, daß hinter alledem, was als Wissenschaft gilt, sich ein großes Feld des Irrtums ausbreitet, weil die meisten Gebildeten die Meinung haben, daß man jetzt glücklich weiß, wie sich die Erde bewegt, und daß man frü­her in dem, was man darüber gesagt hat, nur Unsinn gesagt hat. Also es ist das ja schon da; man geht bezüglich der Erdbewegung nur zurück bis zur Kopernikanischen Ansicht. Das ist ein etwas spätes Beispiel. Aber selbst mit der Geometrie geht man nur bis Euklid zurück. Vor dieser Zeit sieht der moderne Mensch schwarze Finsternis auf die­sem Gebiet. Es findet also der moderne Mensch die Weisheit, die Uroffenbarung nicht, er findet keinen Weg, da hineinzudringen.

Wenn man dies nun wirklich als eine Tatsache hinnimmt, dann kann sich - und das kann sich schon bei dem einfachsten Gemüt durch eine gesunde Empfindung herausstellen -, dann kann sich etwas, was aus den allerhöchsten anthroposophischen Studien sich ergibt, zu einer Grundüberzeugung verdichten. Der Mensch muß doch dazu kommen, sich zu sagen: Dies ist nicht die wahre Gestalt, in der ich die Welt er­blicke. - Wenn das die wahre Gestalt wäre, dann brauchte er eigentlich gar nicht zu forschen. Dann wäre überhaupt keine Forschung notwendig,

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dann müßte die Welt sich so ergeben, wie sie ist; aber so nimmt sie die moderne Forschung auch nicht hin. Es gäbe keinen Kopernikanis­mus, wenn man das, was die Sinne darbieten, roh hinnehmen würde. Da widerspricht auch die äußere Wissenschaft der Sinneserfahrung. Wenn man weitergeht, wird man sehen, daß man nicht stehenbleiben kann bei dem, was die Sinne geben, was die äußere Erfahrung der phy­sischen Welt gibt. Das muß unter allen Umständen korrigiert werden vom Menschen, auch von der äußeren Wissenschaft. Das gesteht man sich vielleicht gewöhnlich nicht, aber wahr ist es doch. Sobald man sich selbst versteht - auch nur als gewöhnlicher Denker mit dem, was man heute lernt -, muß man sich sagen: Alles geht darauf aus, die Sinnes­täuschung zu durchschauen, sonst gäbe es keine Wissenschaft, gäbe es kein Nachdenken. - Wenn dem aber so ist, dann gibt es eigentlich et­was, was uns recht leicht verstehen läßt, wozu die Welt sich nach und nach heranentwickelt. Wenn wir die Sache ein wenig im anthroposo­phischen Licht betrachten, so wird sich das bestätigen. Wenn man sich also sagt: Es gab eine Urweisheit, die Menschen waren so, daß ihnen eine Urweisheit gegeben war, die sie zwar nur in Bildern schauten, aber es gab eine solche Urweisheit, nur ging mit der Weiterentwickelung der Menschheit immer mehr das Verständnis derselben verloren, immer weniger und weniger begriffen die Menschen diese Urweisheit, dann ist auch wiederum ganz klar: in dem Maße begriffen sie sie weniger, als die Wissenschaft, als sich der Verstand, die Vernunft entwickelten.

Nun können wir fragen: Was wird also zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten sein? - Stellen wir uns die Sache vor, stellen wir uns einen vorchristlichen Menschen vor, der unter gewissen Voraussetzun­gen gelebt hat. Er wird den Blick in die Welt gerichtet haben, wird die verschiedensten Dinge gesehen haben, aber außerdem war in der Seele dieses Menschen die Möglichkeit, hinter diese Dinge zu schauen. Diese Anlage war noch da. Also es war für ihn eine Tatsache, daß hinter jeder Blume ein Ätherleib ist. Das war für ihn eine Tatsache. Aber diese Fähigkeit ging nach und nach verloren. Sie ging verloren, weil Ver­nunft, Verstand, wie sie heute herrschen, diese Fähigkeit verbannen. Die läßt sich nicht vereinigen mit der anderen Fähigkeit, das sind zwei feindliche Gewalten. Es ist einmal so - das ist eine gemeinsame Erfahrung

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aller wirklichen Geistesforscher -, daß Verstand, Nachdenken im gewöhnlichen Sinne, versengend, verbrennend wirken auf das, was initiiertes Anschauen der Dinge ist. So daß auch in der Geschichte in dem Maße, als Verstand, Vernunft im gewöhnlichen Sinne eingetreten sind, die Wissenschaft der alten Geistesschau verlorengegangen ist und damit das Verständnis für die alte Überlieferung. Da mußte also eine Anzahl von Jahrhunderten vergehen, da mußte jetzt anstelle des Men­schen, den ich Ihnen geschildert habe, ein anderer treten, und der mußte sich vielleicht sagen: Das wäre natürlich ein schlimmes Vorur­teil, wenn man glauben würde, daß die Wahrheit so sei, wie sie die Welt sinnlich darbietet. Da muß überall die menschliche Vernunft hinzukommen. - Es war der Glaube an die menschliche Vernunft maßgebend. Sie muß erst die Dinge, wie sie sind, zergliedern, sie muß sich über die Sinneserscheinungen hermachen und diese logisch begreifen.

Ein solcher Mensch würde vielleicht gesagt haben: Das ist der Vor­zug des Menschen vor den übrigen Geschöpfen der Erde, daß er Ver­nunft hat, daß er Ursache und Wirkung begreifen kann, so wie sie hin­ter den Sinnesdingen sind. Er kann sie erschließen, er kann dadurch, daß er Vernunft hat, sich mit der Sprache verständigen von einem Menschen zum anderen. - Denn das konnte man bald einsehen, daß die Sprache eine Tochter der Vernunft ist. Und es könnte ein solcher Mensch sagen: Das Höchste ist natürlich die Vernunft. - Und wenn wir uns ihn recht anschaulich machen wollten, so müßten wir uns einen Menschen denken, der sagt: Also, Mensch, traue deiner Vernunft nur, zergliedere alles mit deiner Vernunft, dann wirst du auf das Wahre kommen. - Nehmen wir an, es würde ein solcher Mensch gekommen sein. Ich schilderte Ihnen einen solchen, wie er sich Ihnen theoretisch ergeben kann, aber diesen Menschen hat es sehr stark gegeben. Eine cha­rakteristische Figur dieser Art ist Cicero, der kurz vor Christus gelebt hat. Den brauchen Sie nur vorzunehmen, so werden Sie sehen, daß er ganz genau so denkt, nämlich: Vernunft kann alles begreifen. Es ist nicht wahr, daß die Welt so ist, wie sie den Sinnen sich darbietet; aber die Vernunft kann alles begreifen. - Und gerade bei diesen Leuten, die kurz vor Christus aufgetreten sind, ist ein unbesieglicher Glaube an

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die Vernunft da. Sie nennen die Vernunft den Gott selber, der in den Dingen waltet. So tut es Cicero.

Nehmen wir aber einmal an, irgend jemand kommt hinter die Ge­heimnisse dieses Ganzen. Nehmen wir an, jemand schaut unbefangen dieser ganzen Sache zu, schaut zu, wie sich das alles nach und nach er­gibt. Wie würde er dann die ganze Zeit beschreiben? Nehmen wir an, ein Jahrhundert vor Christus würde ein tief Einsichtiger der ganzen Sache zuschauen. Wie müßte sich die ganze Geschichte für ihn dar­stellen? Nun, er würde sagen: Da sehen wir zwei Strömungen in der Menschheit. Die eine ist im Untergang: die alte hellsichtige Kraft. Da­für tritt die Vernunft auf. Sie rottet aus und vertilgt im Menschen die Möglichkeit, in die geistige Welt hineinzuschauen. Tiefe Finsternis wird sich gegenüber der geistigen Welt ausbreiten. Da meinen zwar diejenigen, die an die Autorität der Vernunft glauben, daß sie durch ihre Vernunft hinter die Dinge kommen können. Diese Menschen ver­gessen ganz, was denn diese Vernunft ist, von der sie reden. Diese Ver­nunft ist doch lediglich an das Gehirn gebunden, sie kann sich keines anderen Instrumentes bedienen als des Gehirns, sie gehört also zur phy­sischen Welt, sie muß daher die Eigenschaften der physischen Welt tei­len. - Eine solche Persönlichkeit würde also sagen: Pocht nur auf eure Vernunft und sagt, ihr könnt mit ihr das begreifen, was hinter den Dingen ist, denn die Dinge seien an sich selber nicht wahr, aber denkt daran, daß diese Vernunft selber diesen Dingen angehört. Ihr seid physische Wesen unter den anderen, eure Vernunft gehört der physi­schen Welt an. Und wenn ihr glaubt, daß die Vernunft just das ist, durch das ihr hinter alles andere kommen könnt, so zieht ihr euch den Boden selbst unter den Füßen weg.

So würde eine solche Persönlichkeit gesprochen haben. Und weiter würde sie gesagt haben: Gewiß, die Menschen neigen dahin, immer mehr und mehr Vernunft zu gebrauchen, immer mehr auf den Ver­stand zu pochen. Aber indem sie das tun, bauen sie sich eine Mauer vor die geistige Welt, denn sie gebrauchen ein Instrument, das auf die gei­stige Welt gar nicht anwendbar ist, das in der physischen Welt beschlos­sen ist. Und dennoch entwickelt sich die Menschheit gerade nach der Ausbildung dieses Instrumentes hin. - Und vielleicht würde diese Persönlichkeit,

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wenn sie den Gang der Ereignisse genau gewußt hätte, auch noch gesagt haben: Wenn die Menschen überhaupt wiederum zur gei­stigen Welt zurückkommen, dann muß die Möglichkeit eintreten, daß sie sich nicht bloß ihrer Vernunft, dieses nur für die physische Welt wir­kenden Werkzeuges bedienen wollen, sondern daß ein Anstoß kommt, der sie fähig macht, wiederum hinaufzukommen, ein Anstoß, der die Vernunft selber hinauftreibt in die geistigen Welten. Das kann aber nicht anders geschehen, als wenn etwas im Menschen stirbt, was in ihm den festen Glauben auf die bloße Alleinherrschaft der Vernunft be­gründet. Das muß sterben.

Wir haben uns also den Menschen zu denken immer mehr und mehr in die materielle Welt herunterkommend, das Gehirn immer mehr aus­bildend. Wenn der Mensch so ganz abhängig würde von seiner Ver­nunft, dann könnte er aus ihr gar nicht heraus. Denn dann würde ihm sein physischer Leib vorgaukeln: Nur fort mit allem, was unser Erden-verstand nicht erfassen kann. - Das ist aber der physische Leib, der, indem er sich in feiner Weise ausbildet, den Menschen betäubt, so daß der Mensch nicht einsehen kann, daß er dabei in der physischen Welt bleibt. Malen Sie sich das aus, so werden Sie einsehen, daß da der Mensch eigentlich wie in einer Schlinge gefangen ist. Er kann gar nicht durch sich selbst heraus. Die bisherige Menschheitsentwickelung hat den Menschen dahin gebracht, daß er gar nicht aus sich heraus kann, daß er der Gefahr entgegengeht, durch die physische Leiblichkeit nach und nach vollständig überwältigt zu werden. Was kann da überhaupt dem Menschen helfen? Wenn in der Zeit, in welcher die Vernunft auf diesem Standpunkt angekommen ist, in welcher die Möglichkeit entsteht, daß die Vernunft umgestimmt wird, so daß in ihr ersterben kann, was sie blendet, dann muß dies ersterben. Es muß aber einen Impuls geben, wo­durch ein für allemal dasjenige, was den Menschen in dem bloßen Glauben an die Vernunft überwältigen könnte, überwunden wird. Fühlen Sie die Gewalt dieses Impulses, fühlen Sie, daß der Sinn der Menschheitsentwickelung so war. Die Leiblichkeit hatte sich so ent­wickelt, daß sie den Menschen überwältigt hätte, und der Mensch wäre dahin gekommen, zu glauben, er müsse innerhalb der physischen Welt bleiben und könne doch hinter die Maja kommen - gar nicht bedenkend,

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daß er mit der Vernunft selbst in der Maja ist-, wenn nicht etwas gekommen wäre, das ihn herausreißt, sobald er es aufnimmt, und das dem Verfallen in das Physische entgegenwirken kann, das wirklich bis hinein in den Ätherleib wirkt, so daß dieser die Möglichkeit hat, das zu töten, was zu solchem Irrtum führt. Sonst wäre der Mensch in der Schlinge seiner ihn überwältigenden Leiblichkeit geblieben.

Und jetzt wollen wir absehen von einem Menschen, der so gespro­chen hätte beim Herannahen des Christus Jesus. Jetzt wollen wir sehen, wie ein gegenwärtiger Mensch die Sache ansehen kann, irgend­einer von uns. Er kann sich sagen: Betrachte ich unbefangen, wie die Menschen sich entwickelt haben, wie immer stärker und stärker die Vernunft geworden ist, dieses Instrument, das der Maja angehört, so muß ich unbedingt im Irrtum sein, wenn ich mich nur dem Gang der Weltentwickelung überlasse. Dieser ist, wenn ich nicht aufnehme den Impuls, daß derjenige Teil ersterben kann, der mich zu solchem ver­führt, so gerichtet, daß ich nicht aus der Vernunft herauskomme. Was muß da geschehen sein? Ich muß zurückblicken können auf eine Zeit, in welcher dieser Impuls hereingekommen ist. Ich muß etwas finden, was auf ein Ereignis in der historischen Entwickelung der Menschheit hindeutet, dahin wirkend, daß der fortlaufende Gang der Entwicke­lung im materialistischen Sinne umgestülpt worden ist. Blickte ich heute in mein Inneres und fände nicht so etwas, was sonst müßte ich denn da finden? Da würde ich die Vernunft immer weiter und weiter kommen sehen bis auf einen Punkt im Beginne unserer Zeitrechnung, wo sie gerade anfängt zu wirken. Aber weiter? Da wird es finster, da wird es schwarz, da brauche ich ganz etwas anderes. - Dann aber wird es lichter, denn da muß jeder auftreffen auf den Christus. Es muß jeder, wenn er überhaupt an die Möglichkeit glauben will, daß er fortschrei­tet, daß in den folgenden Inkarnationen in ihm etwas sein kann, was ihn aufwärts treibt, was ihn nicht überwältigt sein läßt von der Maja, es muß jeder beim Zurückschauen auf den Christus treffen. Das kann ihm den Aufstieg geben.

Nehmen wir an, die Evangelien wären nicht da, dann kann man sagen: Wir brauchten sie nicht als Anthroposophen, wir brauchten keine Evangelien, wir brauchten nur den Gang der Menschheitsentwickelung

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unbefangen zu betrachten und uns zu fragen: Was würde aus jedem Menschen, könnte er nicht zurückblicken auf ein Ereignis, in welchem der ganze Sinn der früheren Entwickelung auf die andere Seite gedreht worden ist? - Dann müssen wir auf den Christus treffen, wenn wir in der Entwickelung zurückgehen. Der Anthroposoph muß ihn finden können, und der initiiert Erkennende findet ihn unter allen Umständen.

Das ist ein Geheimnis des Christentums. Die Urkunden, man kann sie anfechten, gewiß, es sind auch keine historischen Dokumente. All die gescheiten Leute, Jensen und andere, die in trivial gelehrter Weise die Evangelien wegdekretieren, als bloße Sagen ansehen, haben eine gewisse Berechtigung für sich, weil sie sich bloß auf die äußere Ver­nunft berufen. Aber in dem Augenblick, wo wir Anthroposophen sind, können wir sagen: Wir brauchen gar keine Evangelien, wir brauchen bloß die Tatsachen, die uns die Geisteswissenschaft selber gibt, und wir finden beim Rückgang durch die Menschheitsentwickelung den leben­digen Christus, wie ihn Paulus gefunden hat durch das Ereignis von Damaskus. Das ist vorausgenommen, was wir auch haben können, wenn wir in anthroposophischem Sinn den Christus aufsuchen. Denn schließlich war Paulus in einer ähnlichen Lage wie ein moderner An­throposoph, der die Evangelien nicht anerkennen will. Die Evange­lien waren zu seiner Zeit noch nicht dä, aber er hat nach Jerusalem gehen können. Was er dort hörte, was später in den Evangelien be­schrieben wird, das hat ihn nicht überzeugt, sonst wäre er nicht von Jerusalem fortgegangen. Also braucht auch einen heutigen Menschen gar nichts zu überzeugen, was darin steht. Er muß nur in der Lage sein, durch die Anthroposophie so etwas zu erleben, was Paulus erlebt hat. Dann ist es ein Ereignis von Damaskus, dann hat er den Christus-Beweis ganz ohne alle Dokumente, wie es bei Paulus auch der Fall ist.

Es ist nun ganz natürlich, daß damit hingewiesen wird auf Tiefes in der Menschheitsentwickelung, auf außerordentlich Tiefes in der Menschheitsentwickelung. In einer gewissen Beziehung besteht das für jeden, auch für den einfachsten Menschen, was für den wiedergebo­renen Empedokles im 15., 16. Jahrhundert da war, der zurückschaute in frühere Zeiten und dann sah, was er früher nicht hat sehen können.

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Früher war er so unsicher geworden, daß er sich in den Ätna stürzte. Im 15., 16. Jahrhundert sah er zurück und das, was ihm dazumal durch nichts erklärlich war, erklärte sich nun durch das Christus-Prinzip. Und dadurch wurde er eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten der späteren Zeit.

So stellt sich die Sache für jeden Menschen ohne Dokumente einfach im Rückgang dar. Später werden alle Menschen zurückblicken in frü­here Inkarnationen ünd werden genau unterscheiden können: das sind Inkarnationen, die vor, und das sind Inkarnationen, die nach dem Christus liegen. Und was die einfache Seele heute instinktiv fühlt, wenn sie die Evangelien liest, wird dann in Form eines Wissens auf­treten. Das macht den Unterschied der Evangelien von den anderen Ur­kunden, daß sie die nächsten Urkunden sind, die man verstehen muß. Das ist ein großer, schöner, gewaltiger Durchgangspunkt: die Evan­gelien. Wenn wir da durchschreiten, da wird es licht, während sich sonst die Finsternis ausbreitet.

Es ist in der Tat so. Dem modernen Menschen geschieht es zuweilen, weil ja das Christentum erst im Anfang seiner Entwickelung steht, daß ihm der Forschungsfaden ausgeht gegenüber früheren Dingen. Wenn er aber zurückkehrt zu einer Erscheinung im Christusleben, dann ist er inspiriert, dann wird es hell. Und was der Geistesforscher findet, das kann ja auch der einfache Mensch erfahren. Er kann einen Abglanz in bezug auf sein Gemüt durchmachen von dem, was ich eben ausein­andergesetzt habe. Er kann so recht bedrückt sein durch menschliche Schwächen und Fehler, aber er muß sich natürlich sagen: Was ich heute bin, bin ich geworden durch all die Generationen. - Denn würde er das leugnen, dann sollte er auch gleich behaupten, daß er sein eigener Vater und seine eigene Mutter gewesen ist. Es ist also etwas, was zurückführt auf die übrige Menschheit, und der Mensch kann sich recht bedrückt fühlen von mancherlei Fehlern, Krankheiten, Schwächen, die er hat. Es gibt aber immer die Möglichkeit, sich zu erheben, auch für das ein­fachste Gemüt. Ich sage das nicht im orthodoxen Sinn. Was es für den Geistesforscher gibt, das gibt es auch für das einfachste Gemüt. Wenn es sich so recht schwach fühlt, die Evangelien nimmt und liest, so wird Kraft aus den Evangelien fließen, weil aus ihnen die Kraft des Wortes

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fließt, das in den Ätherleib geht. Die Evangelien sind Kraftworte. Das ist etwas, was nicht bloß zum Verstande spricht, sondern was in tiefere Seelenkräfte hineingeht, was gar nicht bloß auf diesen in der Maja be­findlichen Verstand baut, was vielmehr in tiefere Kräfte geht und den Verstand sozusagen über sich trösten kann. Das ist die große Kraft der Evangelien, die für jeden einzelnen Menschen da ist, und das ist das Gewaltige an diesen Urkunden; dadurch unterscheiden sie sich von allen anderen. Diese Tatsache kann man auch leugnen, dann aber wird man zu einer Leugnung der Fortschrittsmöglichkeit der Menschen über­haupt kommen.

Hier wird auf eine Tatsache hingewiesen, die nicht ohne weiteres leicht zu verstehen ist. Da können Sie auch begreifen, was notwendig war, um jenen Menschen vorzubereiten, den ich zunächst hypothetisch vor Ihre Seele gestellt habe, der etwa ein Jahrhundert vor unserer Zeit­rechnung vorhergesagt hätte: es müsse einer kommen, der den Impuls gibt, welcher den Umschwung bringt.

Das mußte eine bedeutsame Persönlichkeit sein. Sie wurde auch ge­nügend vorbereitet. Man versuchte seit langer Zeit in den Kreisen derer, die da wissen, die Möglichkeit herbeizuführen, daß sozusagen wenigstens einige die herannahende Zeit begreifen, dasjenige begreifen, was sich da vorbereitet: was auf der einen Seite die Menschen in die Schlinge führt, und was auf der anderen Seite die Menschen wiederum hinaufführt durch die Erscheinung des Christus. Das wurde prophetisch gelehrt. Und derjenige, der etwas mehr als ein Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausersehen war, prophetisch das zu lehren in Kreisen, die dies verstehen konnten, war ein Eingeweihter der Essäergemeinde, die jenen Kreisen nahe war, in die Christus hineintrat, und der ver­kündete: es werde der kommen, der die Menschheit wiederum aufwärts führt. Derjenige, der dieses innerhalb der Essäergemeinde lehrte, war eine sehr bedeutende Individualität. Die äußere Geschichte kennt ihn eigentlich wenig, aber er ist sagenhaft überliefert wenigstens bei ein­zelnen Schriftstellern, so daß er nicht eine bloß mythologische Figur ist oder nur aus der Geisteswissenschaft heraus genannt wird. Er hat hundert Jahre vor Christus gelebt, hat auch Aufzeichnungen machen lassen durch einen seiner fünf bis sechs Schüler. Einer der Schüler dieser

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Persönlichkeit, die auf Christus hinwies, die ihn voraus verkündete, wußte, um was es sich handelt. Es hatte jene Persönlichkeit einen Schü­ler, der Matthäus genannt wurde, der das aufzeichnete, was die Ge­heimnisse über den Christus sind. Die Persönlichkeit aber war Jeshu ben Pan dira. Dafür, daß er solches gelehrt hat, mußte er auch das ent­sprechende Martyrium erdulden. Er ist in seiner Gegend gesteinigt und nach der Steinigung - tot - aufgehängt worden. Dieser Jeshu ben Pan­dira - man darf ihn nicht verwechseln mit Jesus von Nazareth -, der der große Vorverkünder des Christus war, hatte aufzeichnen lassen, was er wußte, und diese Urkunde kam dann in die Hände desjenigen, der sie da hineinfügte mit ihren Geheimnissen in das Evangelium, das wir das Evangelium nach Matthäus nennen. Das ist eine wichtige, eine hervorragend wichtige Tatsache, einzusehen: erstens die Notwendig­keit des Christus-Impulses, dann, geisteswissenschaftlich-historisch, wie Jeshu ben Pandira in gewisser Weise sogar bildlich vorlebt - indem er zuerst gesteinigt und dann gleichsam hinterher gekreuzigt wird -das, was dann als das Christus-Mysterium von Golgatha sich vollzieht. Christus ist ja nicht gesteinigt, sondern gekreuzigt worden. Und in die­sem Tode geschieht das Wunderbare, daß dazumal, in dem Moment, in welchem das Blut aus den Wunden floß, in die Erdatmosphäre dasje­nige überging, was dann denen, die in ihren Ätherleib bei der Rück­schau dieses Ereignis aufnehmen, die durchschreiten durch dieses Er­eignis, die gleichsam hineinschauen in das Grab des Christus, das bringt, daß sie, indem sie durch diesen Punkt schreiten, in eine lichtvolle Ver­gangenheit hineinkommen. Dagegen wird sich ohne dieses Ereignis Finsternis verbreiten über alles, was vorher lag.

Denken Sie nach über das, was heute gesagt worden ist. Ich hatte die Aufgabe, Ihnen dieses anzudeuten. Es ist ein so umfassendes Thema, daß nur Andeutungen gegeben werden konnten. Aber ich habe die An­deutungen so gehalten, daß, wenn Sie prüfen, was Sie wissen und ken­nen und im Herzen tragen, Sie darauf kommen werden, wie sehr durch das Leben und durch das eigene Seelische sich das bewahrheitet, was ich heute zu Ihnen habe sprechen müssen.

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DIE PHANTASIE ALS VORSTUFE HÖHERER SEELENFÄHIGKEITEN Leipzig, 21. November 1910

Während ihres schönen, für das neuere Geistesleben so bedeutsamen Freundschaftsbundes tauschten Goethe und Schiller die Werke aus, an denen sie arbeiteten, und als Schiller von Goethe Teile des «Wilhelm Meister» erhielt, schrieb er an Goethe, überwältigt von dem Eindruck des Kapitels, das er soeben empfangen hatte: «Soviel ist indes gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn.»

Damals mochte dies vielleicht sonderbar klingen, aber für uns heute ist das nicht mehr der Fall. Wir versetzen uns in Schillers Seele und er­langen Aufschluß über die Wahrheit seiner Worte, wenn wir sie an dem bedentungsvollen Brief messen, den Schiller an Goethe kurz nach Be­ginn ihrer Freundschaft geschrieben hat. Beide hatten sich in ihren Ge­sprächen über Natur- und Weltanschauung verbreitet. Schiller bringt nun in dem erwähnten Brief zum Ausdruck, wie Goethe seine Anschau­ung nicht auf spekulativem Wege gewinnt, sondern in der Allheit der Erscheinungen der Welt ein Notwendiges sucht. In Goethes Intuition liege alles beschlossen, und er habe wenig Ursache, von der Philosophie zu borgen, die nur von ihm lernen könne.

In Goethes Art, die Welt anzuschauen, in seiner inneren Haltung, aus der heraus er seine Werke geschaffen hat, sieht Schiller also etwas, was den Menschen ganz besonders tief in die Geheimnisse des Daseins einführt. Wenn man prüft, was zwischen Goethe und Schiller an Ge­danken und Meinungen spielt, sieht man Schiller aufgehen in Goethes Phantasie, in der inneren Wahrheit von Goethes Phantasie. Schiller schrieb damals die «Briefe über die ästhetische Erziehung des Men­schen», in denen er darlegt, wie der Mensch durch Entwickelung zum Vollmenschentum gelangen kann, das in jedem Menschen als der hö­here Mensch veranlagt ist. In Goethes Art, seine Phantasie ausstrah­len zu lassen, fand Schiller etwas, was den Menschen zum Vollmen­schen macht, er sah darin einen Weg, sich hineinzuleben in dasjenige,

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was den Menschen zum wahren Zusammengehen mit den Urgründen der Dinge bringen kann.

Wenn man große Geister so über Phantasie reden hört, nimmt es sich anders aus, als wenn heute über Phantasie geredet wird. Jetzt, da man sie in Gegensatz zur objektiven Beobachtung stellt, ist es, als ob die Phantasie etwas Willkürliches wäre, was den Menschen dazu brächte, in beliebiger Weise Dinge zusammenzustellen. (Lücke im Ste­nogramm.)

Wenn wir bedenken, daß Goethe als Naturforscher sozusagen Fach­mann war, so haben seine folgenden Aussprüche doppelten Wert: Der Mensch strebt danach, die Geheimnisse der Natur zu ergründen und sehnt sich nach ihrer würdigen Auslegerin, der Kunst. Die Kunst und das Schöne sind Manifestationen geheimer Naturgesetze, die ohne sie nie ergründet werden könnten. Wenn die Phantasie die Vorstellungs­weise, die nur aus Gefühlen und Impulsen heraus spielt, mit anderen Errungenschaften der menschlichen Seele vermischt, müssen wir zu­gestehen, daß sie manchmal von der Wahrheit wegführt. Sie ist nichts für Wissenschaft und Forschung. Doch als Vorläuferin höherer Er­kenntnisfähigkeiten zeigt sie den Weg für verborgene Zusammenhänge zwischen den Dingen, die man ohne sie nicht sehen würde. Aber für gewisse Gebiete des Lebens ist es absolut nötig, daß das, was die Phan­tasie kombiniert, durch Forschung in strengen äußerlichen Beweisen belegt, bewahrheitet wird.

Demnach scheinen die Worte Goethes oder die Stellung Schillers es notwendig zu machen, daß wir bei Goethe feststellen, wie er in der Phantasie etwas sieht, was Wahrheitsgehalt bietet, im Gegensatz zu einem willkürlichen, regellosen Spiel, das wir als phantastisches Spiel der Vorstellungen bezeichnen können. Wenn wir wissenschaftlich for­schend die Gesetze der Natur zu ergründen suchen, zwingen unsere Be­obachtungen uns zu unserem Urteil. Bei der Phantasie ist das nicht so. Gewisse Vorstellungen oder Gedanken müssen doch durch innere Not­wendigkeit verbunden sein, wenn sie wahrheitsberechtigt sein sollen. Es muß etwas da sein, was sie von Gedanken zu Gedanken nach innen in einer bestimmten Richtung führt.

Wenn wir große denkende Geister von solchen Wahrheiten reden

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hören, ist es wohl gestattet, an ihre Erkenntnisse den Maßstab der Methoden zu legen, deren sich die spirituelle Forschung bedient und die zu den oft besprochenen Wahrheiten führen. Die Methoden sind die sogenannten hellsehenden, die Mitteilungen über die Tatsachen und Wesenheiten der geistigen Welt ermöglichen. Bei ihrer Darstellung werden wir auch die niederen Formen des Hellsehens berühren, aber höchstens streifen, denn sie können nie zu wirklichen Zielen führen. Dagegen werden wir die Methode und Tragweite des höheren, durch sachgemäße Schulung erzielten Hellsehens zum Gegenstand unserer Betrachtung machen.

Manche, die nur das niedere Hellsehen kennen, das etwa als Som­nambulismus auftritt, halten es für Krankheit. Da gibt es Zustände, in denen der Mensch sein Seelenleben von Bildern aus anderen Welten ausgefüllt hat. Es ist eine Art von Schlaf, vielleicht so geringen Grades, daß der Laie ihn für vollständiges Wachsein hält. Wenn ein solcher «Hellseher» in dem schlafähnlichen Zustand Bilder wahrnimmt, so bieten diese manchmal Absonderliches, Staunenerregendes. Sie können prophetischer Natur sein. Ein solcher Mensch kann Aussagen machen über Krankheitszustände, bevor sie eingetreten sind, oder, was dem Laien noch staunenswerter scheint, er weiß genau anzugeben, was da­gegen hilft und so weiter. In derartigen Zuständen hat der betreffende Mensch eine andere Welt vor sich. Wer das leugnet, hat nicht geforscht. Was durch solches niederes Hellsehen gewonnen wird, ist aber nicht Gegenstand unserer heutigen Betrachtung, sondern das, was auf dem Weg geschulten Hellsehens erworben wird.

Jeden Schritt macht der angehende Hellseher bewußt, mit strenger Kontrolle seiner selbst. Die Frage ist nur diese: Wie haben wir uns den Werdegang eines solchen Hellsehers vorzustellen? Wollen wir das We­sentliche definieren, so können wir es durchaus vergleichen mit den Mitteln der äußeren Forschung. In der Wissenschaft sucht der For­scher die Geheimnisse der Natur mit Hilfe von Instrumenten zu er­gründen. Auch der geschulte Hellseher arbeitet mit einem Instrument, sogar mit einem sehr komplizierten Instrument, ohne das er nichts er-Forschen kann. Sein Instrument ist eben er selbst - nicht im Alltags-zustand, sondern erst, wenn er durch die geisteswissenschaftlichen Methoden

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sein Erkenntnisvermögen in eine andere Seelenkonstellation umgewandelt und sich neue geistige Organe geschaffen hat, wenn er also aus eigenen Erlebnissen aussagen kann. Es kann nicht sein, daß die äußeren Sinne die Erkenntnisse erschöpfen. Mit jedem neuen Or­gan bildet sich ein neuer Inhalt der Umwelt. Es können um uns ver­borgene Welten sein. Für den geschulten Hellseher wird die sonst ver­borgene Welt ebenso wirklich wie die äußere. Wie nach der Operation dem Blindgeborenen, so strömt dem Hellseher eine ganze Welt ent­gegen, die sein Erlebnis ist.

Man darf nicht glauben, daß dies durch äußerliche Mittel erreicht werden kann. Ich kann natürlich nur andeuten, wie das geschieht. Später hoffe ich Ihnen noch mehr sagen zu können, auf welche Weise so geforscht wird. Der Mensch wird am treuesten beobachten, wenn er das, was die Sinneswelt ihm sagen wird, unbeeinflußt von subjektiver Wirkung aufnimmt. Es kommt darauf an, daß der Mensch nur der Natur Gelegenheit gibt, damit sie sich ausspricht. Je weniger sub­jektive Kombination dabei im Spiel ist, um so besser ist es. Der Mensch kann nicht umhin, über die Außenwelt nachzudenken, aus der er die Wahrnehmungen gewinnt, aber es ist durchaus nicht der Fall, daß alle seine Begriffe, Ideen, Vorstellungen aus der Außenwelt in ihn hinein­strömen. Das Wesentliche schöpft er doch aus seinem eigenen Inneren heraus. Das zeigt sich zum Beispiel an der Art und Weise, wie neuzeit­liches Denken auf den Bau des Sternensystems gekommen ist. Wohl haben Kopernikus und Galilei dasselbe gesehen, was sich dem äußeren Auge von jeher dargeboten hat. Die Gesetze aber sind erst von ihnen aufgestellt worden. Kopernikus hat zu dem alten Beobachtungsmate­rial neue Kombinationen hinzugetragen und dadurch das Wesentliche getan. Das gilt auch für den orthodoxen Darwinismus. Vor Darwin und Haeckel wurde Ähnliches beobachtet, aber sie sind mit neuer Gei­stesverfassung an die Dinge herangetreten. Wir müssen uns klarmachen, daß Begriffe und Ideen nicht das sind, was von außen in uns einströmt, sondern etwas, was der Mensch selbst hervorbringen muß. Wenn Sie auf das Meer hinausfahren, wo Sie kein Land sehen, scheint das Him­melsgewölbe in Form eines Kreises auf der Oberfläche des Meeres zu ruhen. Warum sich die so verhält, werden Sie erst verstehen, wenn Sie

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in Ihren Gedanken den Kreis um den Punkt in der Mitte herum zu konstruieren vermögen. So können Sie sich alle Gesetze klarmachen, und dann muß die Wirklichkeit damit übereinstimmen. Nie hätte Kepler den Lauf der Planeten finden können, wenn nicht vorher ellip­tische Bahnen in seinem Geist aufgetaucht wären.

So tragen wir unsere Ideen zu den äußeren Dingen, die uns sagen:

Was du gedacht hast, vollbringen wir. - Und so kommen Sie dazu, ein­zusehen, daß dasselbe, was in Ihrer Seele lebt, dieser äußeren Sinnes-welt als Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt. Nun denken Sie sich einmal, daß der Mensch versucht, einen Gedanken festzuhalten, welcher in sei­ner eigenen Seele konstruiert ist. Wenn der Mensch es fertigbringt, ab­zusehen von aller äußeren Beobachtung und seine ganze innere Auf­merksamkeit auf den Gedanken zu richten, so vollzieht sich ein see­lischer Vorgang, den man als Konzentration bezeichnet. Die Men­schenseele muß sich zuerst an etwas halten, was nur in der Seele lebt und daran in aller inneren Strenge festhalten. Nun genügt das natür­lich nicht einmal, sondern es muß oft und oft wiederholt werden. Wirk­sam ist jedoch nicht, was der Mensch an Gedankenbildern festhält, die von außen kommen.

Nun liegen Erfahrungen auf diesem Gebiete vor, es stehen Rat­schläge zur Verfügung, durch welche Konzentration die Seelenkräfte am besten entwickelt werden. Es gibt gewisse Kernsätze. Man braucht nicht von vornherein von ihrer Realität überzeugt zu sein. Je größer die Vorurteilslosigkeit ist, desto besser ist es. Eine Anweisung sagt zum Beispiel: Erfülle deine Seele mit einem bestimmten Inhalt, gib dich einzig diesem Seeleninhalt hin. Du brauchst nicht daran zu glauben, mußt es aber in dir wirken lassen, dich darauf konzentrieren, und du wirst finden, daß du in deiner Seele durch den Inhalt eine Wirkung er-zielst. Es mag sein, daß die äußere Wahrheit auf den Satz nicht an­wendbar ist; das ist gleichgültig, es kommt auf die wirkende Kraft in der Seele an. Du wirst sehen, es stellen sich innere Erlebnisse bei steter Wiederholung ein.

Von besonderer Wirksamkeit sind symbolische Bilder. Besonders möchte ich an eines erinnern: das tief bedeutsame Symbolum vom schwarzen Kreuz mit den Rosen. Wir wollen uns da den abstrakten Sinn

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des Rosenkreuzes vor die Seele führen, Goethes «Stirb und Werde», die Forderung nämlich, daß wir uns beim Entwickeln der Seele erheben müssen über die Dinge der sinnlichen Welt, so daß sie um uns ver­schwindet, abstirbt. Wessen Seele leer bleibt, ist nur ein «trüber Gast auf der dunklen Erde». Wenn es dir gelingt und du ganz sicher bist, daß aus den verborgenen Tiefen deiner Seele etwas Höheres erwächst, dann bist du in höheren Welten neu geworden. Absterben im Kreuz, auf­erstehen in den Rosen - das liegt in dem Symbol des Rosenkreuzes. In der mineralischen, in der pflanzlichen Welt lebt überall ein Geistiges, und die Ahnung läßt empfinden, daß das zugrunde liegende Geistige des Physischen Ursprung ist. Die äußere Welt ist letzten Endes nur die Physiognomie einer geistigen Welt. Die Menschenseele ist wie der Stahl oder Feuerstein; sie zaubert aus sich in dem Menschenseelenleben gött­lich-geistigen Inhalt. Es handelt sich darum, das richtige Symbol zu finden. Es kann jemand sagen: Ihr mögt gut spintisieren, was das Rosenkreuz bedeuten soll. Dem Forscher ist das gleichgültig. Wenn wir in der Physik ein Naturgesetz konstatieren, so sagt uns das etwas, erklärt die Wissenschaft. Das Rosenkreuz sagt uns nichts. -Darauf kommt es aber nicht an. Am wirkungsvollsten ist es, wenn Symbole vieldeutig sind. Man versetzt sich in eine reine, innere Seelen-tätigkeit, und indem man sich an das Symbol anlehnt, um eben von etwas auszugehen, konzentriert man sich in der Seele auf dieses Symbol.

Betrachten wir, was da bewußt die Seele tut; darauf kommt es an. Was im Menschen wirkt, sind Kräfte, die geeignet sind, Schlummern­des wachzurufen, Erlebnisse, die erst die Gewährleistung geben, daß es sich um eine innere Wirklichkeit handelt, wenn der Mensch zu dem Gefühl kommt: Eigentlich ist das Kreuz nur eine Art Brücke gewesen. Jetzt habe ich in meinem Seelenleben etwas empfangen, etwas ganz anderes, was in meiner Seele aufsteigt, ein Erlebnis, wie ich es nicht durch Äußeres erhalten kann. - Zunächst weiß der Schüler nicht, ob er eine Fata Morgana oder Wirklichkeit vor sich hat. Es kommt dar­auf an, weitere Fähigkeiten zu entwickeln, denn auch das eben Be­schriebene ist noch ein Umweg für den Hellseher, es sind Bilder. Auf dem weiteren Übungsweg stellt sich die Empfindung ein. Es kommt

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darauf an, was sich in den Bildern ausspricht. Wenn Sie auf Ihr Auge drücken oder elektrischen Strom hineinleiten, kann ein Lichtschein aufglimmen, bedingt durch die innere Konstellation des Auges. So un­gefähr ist es, wenn die Bilder auftreten; sie zucken durch die Seele wie geistige Blitze. Sie wissen, wenn Sie einem Gegenstand gegenübertre­ten, daß er nicht durch Ihr Auge hervorgebracht wird, aber sich Ihrem Auge mitteilt. Das tritt ebenso ein im Geistigen. Der Schauende weiß jetzt ebenso sicher, daß er den Gegenstand nicht gemacht hat, daß der Gegenstand sich ihm durch seine inneren Organe ausspricht. In der Tat - wie jetzt die Bilder erlebt werden, sprechen sich objektive Tat­sachen aus. Wie man äußerlich Phantasie und Wahrnehmung unter­scheidet, so ist es notwendig, daß der Schauende bei seinen gesunden Sinnen erhalten werde, denn auf kaum einem Gebiet sind Verwechs­lungen so leicht möglich wie auf dem des inneren Erlebens. Deswegen muß anderes parallel damit gehen.

Würde der Schauende nur das eben Geschilderte üben, so könnte er ein Wahnsinniger werden, der glaubt, durch seine Persönlichkeit den Schein für Wirklichkeit vorzaubern zu können. Es ist notwendig, daß der Mensch lernt, im Erleben der höheren Geisteswelt auf alles zu ver­zichten, was mit seinen Wünschen und Neigungen zusammenhängt. Psychologisch verhält sich der gegenwärtige Mensch anders. Wohl korrigiert er die äußeren Sinneseindrücke, aber dabei spricht allzu leicht Gefühl und subjektive Neigung mit. Einem Erleben der geistigen Wirklichkeit muß der Verzicht auf jeden Wunsch vorangehen, daß etwas so oder so sein könne. Erst wenn jede Sympathie ausgeschaltet ist, kann man objektives Geistiges erleben.

Wesentlich ist noch etwas. Für diejenigen, die auf den Weg zum FIellsehen fachmännisch, nicht dilettantisch geführt werden, die so schauen lernen, daß es der Wahrheit entspricht, ist es von großem Wert, daß sie nicht ohne bestimmte Vorbedingungen den Weg antre­ten. Es ist ein schwieriger Weg. Man muß deshalb vorher Wahrheiten aufgenommen haben, Mitteilungen von solchen, die schon geforscht haben. Man kann auch mit geringerer Kenntnis den Weg beschreiten, aber dann bleibt die Seelenwelt arm, ihr Inhalt drängt sich wie fixe Vorstellungen zusammen. So kommen jene Hellseher zustande, die

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dann zum Beispiel glauben, sich mit Gott vereinigt zu haben, ihn be­schreiben und so weiter. Wenn derartige Hellseher die höheren Welten beschreiben, nehmen sich ihre Schilderungen trivial aus. Wer aber mit den erprobten Erfahrungen des Geistesforschers an die höheren Wel­ten herantritt, dem erscheint ein mannigfaltiger Welteninhalt, und alles Äußere erweist sich dagegen nur als ein kleiner Ausschnitt der großen Welt. Der Mensch, der sich diese Erfahrung zu eigen macht, weiß, daß ihn nicht betrügt, was er da erlebt. Er kann mit der gleichen Sicherheit wie in der äußeren Sinneswelt geistig wahrnehmen. Das ist geschultes Hellsehen.

Was hat nun zu geschehen, damit diese höheren Sinne entwickelt werden? Der Mensch ist für die Geisteswissenschaft nicht nur äußerer physischer Leib, sondern er hat für das höhere Schauen auch noch den sonst unsichtbaren Ätherleib und den Astralleib, den Träger von Lust und Leid. Sie wissen, was der Schlaf für die Geistesforschung darstellt. Da ist der physische und der Ätherleib im Bett liegen geblieben, wäh­rend der astralische Leib und das Ich von außen auf den physischen Leib wirken. Beim Erwachen kehrt der astralische Leib in den phy­sischen und ätherischen Leib zurück, und die Sinneswelt taucht von neuem auf. So ist der Schlaf ein Heraustreten von Astralleib und Ich aus dem physischen Leib. Wodurch kann nun der Mensch die Sinnes-welt hören und sehen? Mit Augen und Ohren, sonst wäre die Welt farblos, lichtlos, tonlos. Tritt der astralische Leib aus dem physischen Leib heraus, so ist er wohl in der geistigen Welt, besitzt aber keine Or­gane. Hätte er solche Organe, so könnte er die geistige Umwelt wahr­nehmen, wie er im Physischen seine Umgebung wahrnimmt. Soll der Mensch also die geistige Welt wahrnehmen, so müssen ihm geistige Sinne erwachsen. Das geschieht durch jene methodische Schulung des Seelenlebens. Wenn bei einem solchen, nach geistigen Methoden ge­schulten Menschen der Astralleib herausgeht, so ist dieser in einer ganz anderen Lage als unter gewöhnlichen Umständen. Es ist so, als ob das, was vorher eine chaotische Masse im Astralleib war, sich gliedert und Organe bildet. Was früher nebelhafte, rauchige Masse war, wird schön geformt. Das dauert lange. Seit alten Zeiten nennt man diesen Vor­gang Katharsis, die Reinigung oder Läuterung. Das Innere des Menschen

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ist dann gereinigt von Trieben, Begierden und Leidenschaften. Das ist die erste Stufe.

An diese erste schließt sich eine zweite Stufe an. Kehrt der Mensch am Morgen in seine physisch-ätherische Hülle zurück, so haben die äußeren Organe die stärkeren Kräfte, sie übertönen die feinen neuen Töne in den inneren Organen. Diese sind zwar immer vorhanden, aber so lange schwach, als sie von den Kräften des Ätherleibes in den Sin­nesorganen übertönt werden. Später lernt der Mensch die inneren Or­gane handhaben, so daß er neben den Sinneswahrnehmungen auch die Geisteswahrnehmungen erblickt. Diesen Vorgang nennt man die Er­leuchtung. Photismos. Das sind durchaus reale Vorgänge, die erlebt worden sind.

Schritt für Schritt, in jeder Einzelheit wendet der Mensch die an­gegebene Methode an, um sich zu einem Wahrnehmungsinstrument aus­zubilden. Daß er seinen inneren Menschen mit Organen versieht, soll also durch die Schulung bewirkt werden. Wie die Natur den äußeren Menschen vollkommen gemacht hat, so wird der Entwickelungsweg fortgesetzt, und vom Menschen selbst wird weitergeführt, was die Natur angefangen hat. Wenn der Mensch auf solche Weise Einblick ins Geistige gewinnt, verdankt er dies dem Umstand, daß sein innerer Mensch Herrscher über physischen und Ätherleib geworden ist. Der Mensch ist sein eigener Herr geworden. Zunächst erlangt er die Herr­schaft über seinen Ätherleib. Beim geschulten Hellseher geht dies so vor sich, daß der Ätherleib dem Astralleib seine Kräfte anpaßt, er wird elastisch. Stellt sich das Hellsehen in krankhaften Zuständen ein­mal von selbst ein, rührt das von anderem her. Es fällt zwar unter die gleichen Gesetze, ist aber unkontrollierbar. Wenn in gewisser Weise auf den Menschen gewirkt wird, oder wenn er krank ist, kann der Ather­leib teilweise oder ganz frei werden vom physischen Leib; er kann ge­lockert werden. Das ist nicht normal. Dann hat der Mensch einen Ätherleib, der nicht so angefesselt ist an seinen physischen Leib, wie dies beim normalen Verbundensein der Fall ist, und der deshalb leicht zu handhaben ist. Dagegen stärkt der Geistesschüler den Astralleib und verhilft ihm dadurch zur Herrschaft über den Ätherleib. Im Krankheitsfall kann ein Teil des Ätherleibes frei werden, der dann

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vom astralischen Leib gehandhabt wird. Solche Menschen können da­durch, daß der Zustand auf denselben Prinzipien beruht, mitunter rich­tige Einblicke in die geistige Welt bekommen, aber sie sind nicht zuver­lässig. Nicht auf diesem Wege werden die strengen Resultate der Gei­stesforschung erreicht.

Man hört manchmal die Frage: Wie kann ein Krankheitsprozeß außersinnliche Wahrnehmungen hervorbringen? - Gesundheit und Er­kenntnis brauchen nicht gleiche Wege zu gehen, darin liegt kein Wi­derspruch, aber auch keine Empfehlung. Jedenfalls sehen wir, worauf das beruht, was dem Menschen Tatsachen der höheren Welt ins Blick­feld führt. Wie wir uns an der umliegenden Welt erfreuen, so finden wir in der geistigen Welt das, was uns erst die sinnliche Welt erklär­lich macht. Die Mitteilungen des Geistesforschers beruhen auf Vor-gängen, die er erlebt hat. Indem er das erzählt, vermittelt er Tatsachen einer Welt, die auch vom gewöhnlichen Verstand verstanden werden können, während unsere Seelenwelt sonst von dem bestimmt wird, was im Physischen vorgeht. Daß zum Beispiel das Bild der Rose auf mich wirken kann, ist dadurch möglich, daß die Rose ihre Kräfte auf mich einströmt. So ist es auch auf geistigem Gebiet. Es erlebt der ge­schulte Hellseher in seinem Seelenleben die geistige Außenwelt. Er sagt sich: Die Sinneswelt ist gesetzmäßig bestimmt durch Wesenheiten, de-ren Wirken und Walten sich mir eröffnet. Daß eine Blüte mir in dieser Weise entgegentritt, aus dem Geistigen heraus gearbeitet, aus geistigen Untergründen, sehe ich. Ich muß im Seelenleben Opfer bringen, um die Welt der höheren geistigen Wesenheiten auf mich einströmen las­sen zu können. - Denken Sie sich, daß diese Welt da ist und wirkt, daß der Mensch in sie eintreten könnte. Um ihn herum ist diese Welt, die der Hellseher sieht. Sie wirkt auf den Menschen als bestimmende Kraft, die er zwar nicht sieht, die aber auf eine ihm unterbewußte Weise auf ihn einströmt. Der Hellseher ist nicht damit zufrieden, den Menschen nur zu sehen, wie er im Äußeren gestaltet ist. Auch die Phantasie kann als Seelenkraft wirken, die von den geistigen Welten befruchtet wird.

Da haben wir den realen Grund der Phantasie und begreifen Schil­lers Ausspruch, der das, was auf diese Weise geschaffen wird, charak­terisiert. So können wir es begreifen, daß Goethe sagt: Es gibt eine

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Phantasie, die eine innere Bestimmtheit hat. - Es gibt eine Phantastik, die kombiniert, und es gibt die Phantasie, die befruchtet ist von den Kräften, die der Hellseher schaut. Schiller konnte damals nach seiner ganzen Lebenslage nichts von der Geisteswissenschaft ahnen, aber er ahnte und fühlte, daß es berechtigt ist, wenn Goethe der Phantasie die Fähigkeit zuschrieb, gewisse Geheimnisse zu ergründen.

Mag uns der Verstand noch so viele äußere Tatsachen liefern, die echte Phantasie kann viel wahrer sein. Der Mensch ist veranlagt, hin­aufzusteigen in die Welten des Geistigen, denn in jedem Menschen schlummern die entsprechenden Fähigkeiten. Jeder Mensch, wenn auch durch viele Leben hindurch, wird es erreichen. Bis dahin kann er sich durch die Kunst befruchten lassen, in der nicht bloß die Sinneswelt zum Ausdruck kommt, sondern der schaffende Geist selbst, der durch das Medium der Phantasie gegangen ist. Sie ist das äußere Abbild des­selben. So dürfen wir sagen, daß dem Menschen Phantasie und Hell-sehen als Anteil am geistigen Leben, als großes Ziel gesetzt sind, als etwas, was manche schon erreicht haben, und was allem anderen Da­sein übergeordnet ist. Das geschulte Hellsehen führt den Menschen in die höheren Welten. Seine Stellvertreterin in der sinnlichen Welt ist die Phantasie. Deshalb kommt ihr unter den menschlichen Seelen-kräften eine hervorragende Bedeutung zu. Die Phantasie ist der Statt­halter des Hellsehens in der sinnlichen Welt.

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LEBENSFRAGEN IM LICHTE VON REINKARNATION UND KARMA Bremen, 26. November 1910

Wir wollen heute einmal in dieser Zweigversammlung den Ausgangs­punkt von einigen Lebensfragen nehmen, die das unmittelbare Men­schenleben berühren. Dann wollen wir ein wenig zu höheren spirituel­len Gesichtspunkten aufsteigen. Ich möchte von zwei menschlichen Eigenschaften ausgehen, zwei menschlichen Fehlern oder Untugenden, die als etwas Unsympathisches empfunden werden, als etwas, was des Menschen Wert herabmindert. Wir wollen über das sprechen, was man den Neid und die Lügenhaftigkeit nennt.

Wenn Sie im Leben Umschau halten, werden Sie leicht finden, daß gegen diese beiden menschlichen Eigenschaften eine ganz natürliche Antipathie herrscht. Und auch wenn wir zu Menschen hinaufsehen, die führend für andere Menschen im Leben stehen, sehen wir, daß von ihnen Wert darauf gelegt wird, gerade diese beiden Untugenden nicht zu haben. Zum Beispiel Goethe, der sich viel damit beschäftigt hat, Seelenerkenntnis zu üben, über seine Fehler nachzudenken, erwähnt: Ich habe diesen oder jenen Fehler, diese oder jene Vorzüge, aber was mir das Wichtigste scheint, ist, daß ich den eigentlichen Neid nicht unter meine Untugenden rechnen kann. - Und der große Benvenuto Cellini sagt, er sei froh, daß er sich keiner Lüge zu zeihen brauche. - So sehen wir, daß diese großen Persönlichkeiten die Wichtigkeit, diese beiden menschlichen Eigenschaften zu bekämpfen, empfanden. Und der einfachste, naivste Mensch stimmt in der Wertung beziehungsweise in der Antipathie diesen Untugenden gegenüber mit den Führern der Menschheit überein.

Wenn wir uns fragen, warum diese beiden Eigenschaften ganz in­stinktiv verurteilt werden, so werden wir gewahr werden, daß kaum etwas so wenig einer der wichtigsten irdischen Eigenschaften entspricht wie Neid und Lüge. Wenig entsprechen sie dem, was wir das Mitfühlen mit anderen Menschen nennen. Denn wenn wir irgend jemanden be­neiden, so sind wir nicht geneigt, uns jener Tugend hinzugeben, die auf

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den tiefsten, innersten Wesenskern, auf das Göttliche des anderen Men­schen eingeht. Denn Mitfühlen hat erst dann Wert, wenn wir nicht nur Mitgefühl haben, sondern wenn wir den Kern, die geistige Wesenheit des anderen Menschen schätzen können. Menschenschätzung aber, als Grundlage des Mitgefühls, schließt in sich, daß wir die Vorzüge des anderen Menschen gelten lassen und uns über die Erfolge, die Ent­wickelungsstufen anderer Menschen freuen können. Und das alles schließt den Neid aus. Neid zeigt sich als Eigenschaft, die mit dem allerstärksten Egoismus des Menschen nahe zusammenhängt.

Ein Gleiches können wir von der Lüge sagen. Wenn wir eine Un­wahrheit sagen, so übertreten wir das Gesetz, hinsichtlich der Wahr­heit, ein alle Menschen umfassendes Band zu begründen. Was Wahrheit ist, ist für alle Menschen Wahrheit, und in nichts können wir so üben, ein Bewußtsein zu entwickeln, das alle Menschen umfaßt, als in der Wahrheit. Sagen wir eine Unwahrheit, so begehen wir einen Frevel gegen das Band, das sich von Menschenbrust zu Menschenbrust schlin­gen sollte. So stellen sich die Dinge dar, wenn wir sie als Menschen be­trachten. Und wenn wir sie geisteswissenschaftlich betrachten, so wis­sen wir, daß sich in diesem Leben unsere früheren Verkörperungen aus­wirken und daß wir mancherlei Einflüssen ausgesetzt sind. Zwei große Einflüsse müssen immer wieder durchgemacht werden: die beiden Ein­flüsse, die wir den luziferischen und den ahrimanischen Einfluß nen­nen. Wir wollen uns über diese heute nicht kosmologisch verbreiten, wir wollen beim Menschenleben bleiben und uns vorstellen, daß wir durch viele Inkarnationen durchgeschritten sind, und daß, als wir die erste Inkarnation durchmachten, die luziferische Macht auf unseren astralischen Leib gewirkt hat. Seit jener Zeit war diese luziferische Macht die versuchende Macht auf unseren astralischen Leib. Es gibt Kräfte, die von Luzifer auf unseren astralischen Leib ausgeübt werden. Es ist im Grunde genommen das Bestreben Luzifers, auf unserer Erde Einfluß auf den Astralleib des Menschen zu gewinnen. Wir haben ihn in alledem zu suchen, was diesen herabzieht. Wir müssen ihn in all den Eigenschaften suchen, die als egoistische Leidenschaften, Begierden, Triebe und Wünsche im Astralleib leben, und so uns darüber klar sein, daß Neid einer der schlimmsten Einflüsse Luzifers ist. Alles was in unserer

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Seele leben kann und unter Neid zu registrieren ist, gehört in sein Gebiet, und jedesmal, wenn wir eine Anwandlung von Neid haben, packt uns Luzifer an unseren Trieben In unserem Astralleib.

Ahriman dagegen hat Einfluß auf unseren Ätherleib, und alles, was mit Störungen des Urteils zusammenhängt, ist auf ihn zurückzuführen, sowohl das Unwillkürliche, wenn wir ein falsches Urteil fällen, als auch das Willkürliche, wenn wir eine Lüge sagen. Verfallen wir der Lügenhaftigkeit, so wirkt in unserem Ätherleib Ahriman.

Interessant ist es, daß wir Menschen diese Einwirkungen so stark fühlen, daß wir eine derart starke Antipathie haben, wenn sie auftre­ten, und daß die Menschen alles tun, um diese beiden Eigenschaften, Lüge und Neid, zu bekämpfen. Es wird nicht leicht Menschen geben, die bewußt gestehen: Ich will neidisch sein. - Zwar hat sich in der deutschen Sprache ein Sprachgebrauch eingeschlichen: Ich beneide dich. - Aber das ist nicht so schlimm gemeint. Der Mensch meint da­mit nicht den eigentlichen Neid. Sobald wir merken, daß wir neidisch sind, daß wir lügen, tun wir jedenfalls alles, es zu bekämpfen. Damit nehmen wir also auf diesem Gebiete den Kampf gegen Luzifer und Ahriman auf.

Nun tritt aber häufig etwas auf, was wir beachten sollen, wenn wir uns der Geisteswissenschaft widmen. Wir können die einzelnen Anwandlungen von Neid und Lüge bekämpfen, aber wenn diese Eigen­schaften in unserer Seele sitzen, wenn wir sie in früheren Inkarnationen erworben haben und sie nun bekämpfen, dann treten sie als andere Eigenschaften auf. Wenn wir versuchen, eine aus früheren Inkarna­tionen herrührende Neigung zum Neid zu bekämpfen, so nimmt der Neid eine Maske an. Luzifer sagt: Der Mensch kämpft gegen mich, er ist auf sein Neidgefühl aufmerksam geworden. Ich übergebe diesen Menschen meinem Bruder Ahriman. - Und es tritt eine andere Wir­kung ein, die eine Folge der Bekämpfung des Neides ist. Bekämpfte Eigenschaften treten in Masken auf. Und der Neid, den wir bekämp­fen, tritt dann häufig im Leben so auf, daß wir die Begierde bekom­men, die Fehler anderer Menschen aufzusuchen und recht viel zu ta­deln. Wir begegnen im Leben manchem Menschen, der wie mit einer gewissen hellsichtigen Kraft immer die Fehler und Schattenseiten anderer

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Menschen herausfindet, und wenn wir dieser Erscheinung auf den Grund gehen; so liegt er darin, daß der Neid sich in Tadelsucht umgewandelt hat, und diese scheint dem betreffenden Menschen eine recht gute Eigenschaft zu sein. Es ist gut, so sagen sie, daß man auf das Vorhandensein dieser schlechten Eigenschaften aufmerksam macht. Hinter solcher Tadelsucht steckt aber nichts anderes als umgewandel­ter, maskierter Neid. Und wir sollten lernen zu erkennen, ob solche Eigenschaften ursprünglich sind, oder ob sie aus anderen umgewan­delt sind. Da müssen wir überlegen, ob jemand in der Jugend neidisch war. Vielleicht haben wir ihm diesen Neid ausgetrieben, er ist jetzt ein tadelsüchtiger Mensch geworden.

Auch die Lüge wandelt sich im Leben sehr häufig und zeigt sich in anderer Maske. Lügenhaftigkeit kann dazu führen, daß wir uns ihrer schämen. Aber wir rotten sie nicht leicht mit der Wurzel aus, sie wan­delt sich sehr häufig in eine gewisse Oberflächlichkeit gegenüber der Wahrheit. Es ist wichtig, daß wir so etwas wissen, dann beachten wir, was uns an einem anderen Menschen im Leben gegenübertritt. Solche Menschen sind mit einer Antwort befriedigt, von der wir uns fragen:

Wie kann er von einer solchen Antwort befriedigt sein? - Sie sagen leicht: Ja, ja, so ist es, so ist es! - Das ist sehr häufig das Umwandlungs­produkt der eigentlichen Lügenhaftigkeit. Wir müssen das Karmagesetz insbesondere auf solche Eigenschaften hin prüfen. Die Menschen ach­ten nicht darauf, denn sie sind die vergeßlichste Rasse gegenüber allen anderen, die sich auf den verschiedenen Planen geltend machen.

Es zeigt sich zum Beispiel, daß jemand mit uns bekannt war. Wir bleiben ihm im Leben nahestehend und beobachten: mancherlei wan­delt sich an ihm. Wir stehen ihm nach dreißig Jahren noch nahe; und wenn wir im Leben zurückschauen, würden wir in seinem Leben merk­würdige Zusammenhänge finden. Aber der Mensch selber weiß nichts davon, er hat alles vergessen. Aber man sollte im Leben wirklich so etwas beobachten. Es zeigen sich dann wesentliche Zusammenhänge. Ein Mensch ist zum Beispiel in seiner Jugend neidisch. Der Neid tritt nachher nicht mehr hervor, und es zeigt sich die Umwandlung des­selben im Alter wieder dadurch, daß der Betreffende sich mit der Ei­genschaft der Unselbständigkeit zeigt, des Abhängig-sein-Wollens von

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anderen Menschen oder von Vorstellungen des Nicht-vertragen-Kön­nens, auf eigenen Füßen zu stehen, immer andere Menschen haben zu müssen, die raten und helfen. Eine gewisse moralische Schwäche tritt als Folge des umgewandelten Neides auf, und wir werden immer sehen, wenn jemand diese moralische Schwäche hat, daß da die karmische Folge des umgewandelten Neides vorliegt.

Und umgewandelte Lügenhaftigkeit erzeugt im späteren Leben ein scheues Wesen. Wer in seiner Jugend lügenhaft war, getraut sich im Alter nicht, den Leuten in die Augen zu schauen. Auf dem Lande hat man ein instinktives, elementares Wissen davon, das sich zwar nicht in Begriffen auslebt. Man sagt, man solle dem Menschen nicht trauen, der einem nicht ins Auge schauen kann. Scheuheit, Zurückhaltung, nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Furcht, anderen Menschen gegenüber­zutreten, ist die karmische Folge der Lügenhaftigkeit schon in einer Inkarnation.

Was so als moralische Schwäche in einer Inkarnation auftritt, wirkt organisierend in der nächsten Inkarnation. Die seelische Schwäche, welche die Folge des Neides ist, kann in der gegenwärtigen Inkarna­tion, wo der Leib schon aufgebaut ist, diesen Leib nicht besonders zer­stören. Aber wenn wir durch den Tod hindurchgehen und zu einer neuen Inkarnation zurückkehren, wirken diese Kräfte so, daß sie or­ganisch4eibaufbauende Schwäche werden, und wir sehen, daß ein schwacher Leib von solchen Menschen aufgebaut wird, die den umge­wandelten Neid in einer vorhergehenden Inkarnation gehabt haben. Wenn wir sagen, daß ein Mensch schwach ist - aber ohne Vorurteil, denn die Menschen müßten wissen, was schwach oder stark ist -, wenn ein Mensch leicht empfänglich ist für diese oder jene Einflüsse, keine Widerstandskraft hat, dann wissen wir, daß sein Leib schwach ist und, daß er diesen schwachen Leib als Folge früheren umgewandelten Nei­des hat.

Nun müssen wir uns aber sagen: Wenn ein Kind in eine gewisse Umgebung hineingeboren ist als schwaches Kind, haben wir uns nicht nur dieses innere Karma wirksam zu denken, sondern auch, daß wir mit Menschen unserer Umgebung aus Gründen zusammengeführt sind -nicht zufällig. Gerade diese Seite des Karma, daß wir unserer Umgebung

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angepaßt sind, ist ungeheuer leicht einzusehen. Ein Edelweiß zum Beispiel kann ja auch nur in der Umgebung gedeihen, der es ange­paßt ist. Auch der Mensch kann nur in der Umgebung gedeihen, die ihm angepaßt ist. Die allereinfachste Logik müßte das sagen, denn man kann das Leben nur verstehen, wenn man dies in Betracht zieht. Jedes Wesen paßt zu seiner Umgebung, nichts ist zufällig.

So werden wir unter diejenigen Menschen hineingeboren, die wir beneidet haben, oder die wir getadelt haben. Und so stehen wir mit einem schwachen Leib unter denjenigen Menschen, die wir in der vor­hergehenden Inkarnation beneidet haben um das, was sie erreicht ha­ben, oder dergleichen. Es ist von unendlicher Bedeutung, so etwas zu wissen, denn nur wenn man dies erwägt, können wir das Leben ver­stehen. Wenn ein Kind mit einem schwachen Leib in eine Umgebung hineingeboren wird, sollten wir uns fragen: Wie haben wir uns da zu verhalten? - Das richtigste Verhalten muß dasjenige sein, was mora­lisch das hochsinnigste ist: zu verzeihen. Dies wird auch hier am besten zum Ziel führen, und dies ist auch die beste Erziehung für den betref­fenden Menschen. Es wirkt ungeheuer erzieherisch, wenn wir einem schwachen Kinde, das in unsere Umgebung hineingeboren ist, liebend verzeihen können. Derjenige, durch den das wirklich kraftvoll ge­schieht, wird schon sehen, daß das Kind dadurch stärker und stärker wird. Bis auf das Denken hinein muß verzeihende Liebe wirken, denn dadurch kann das Kind Kräfte sammeln, um sein früheres Karma um­zubiegen und in die richtige Richtung zu bringen. Das Kind wird auch leiblich stark werden. Ein solches Kind zeigt oftmals Eigenschaften, die unangenehm sind. Wenn wir es lieben - bis ins allertiefste Herz, so wirkt das als das intensivste Heilmittel, und wir werden bald finden, wie wirksam dieses Heilmittel ist.

Entsprechendes gilt, wenn wir die andere Eigenschaft nehmen, die Lügenhaftigkeit. In einer Inkarnation wird da der Mensch im Alter scheu. Das ist eine seelische Eigenschaft. Aber in der nächsten Inkar-nation wirkt diese Eigenschaft sich als Architekt des Leibes aus. Da tritt das Kind nicht nur schwach auf, sondern so, daß es überhaupt kein rechtes Verhältnis zu seiner Umgebung gewinnen kann, daß es schwach­sinnig ist. Da müssen wir uns denken, daß wir die Menschen sind, die

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von einem solchen Menschen oft belogen worden sind, und wir sollten dasjenige, was uns als Schlimmes zugekommen ist, mit dem Besten vergelten. Man muß versuchen, einem solchen Menschen recht viel von dem beizubringen, was Wahrheiten des geistigen Lebens sind, dann werden wir sehen, wie er aufblüht. Immer sollten wir da den Gedan­ken haben: Wir sind in früheren Inkarnationen von einem solchen Men­schen viel belogen worden, und wir müssen alles tun, um ein wahres Verhältnis eines solchen Kindes zu seiner Umgebung herzustellen.

Da sehen wir, wenn wir diese Dinge ins Auge fassen, daß wir als Menschen immer berufen sind, den anderen Menschen zu helfen, ihr Karma in richtiger Weise auszutragen. Der versteht nichts von Karma, der meint, er müsse den Menschen seinem Karma überlassen. Wenn wir einen Menschen finden, der uns angelogen hat, und wir würden glau­ben, er müsse sein Karma austragen, so würden wir damit zeigen, daß wir nichts von Karma richtig verstehen. Denn die richtige Idee würde sein, daß wir zunächst möglichst Hilfe spenden. Wenn gesagt wird, wir sollten den Menschen seinem Karma überlassen, so könnte es höch­stens auf esoterischem Gebiet gesagt werden, aber im Leben niemals.

Denken wir uns, wir bemühten uns, anderen Menschen je nach ihrem Karma zu helfen. Nehmen wir einen Menschen, der ein scheues Wesen hat. Wir bemühen uns liebevoll um ihn. Da stellen wir einen Zusammenhang zwischen diesem Menschen und uns her. Wir werden dann sehen, daß bei diesem Menschen im Alter wiederum irgend etwas zu uns zurückkommt. Aber wir müssen das dem Karma überlassen, wir dürfen nicht darauf spekulieren. Wir müssen es als Pflicht ansehen, einem anderen Menschen zu helfen. Und hier komme ich auf ein sub­tiles Gesetz. Alles, was wir dem anderen tun zum Ertragen und Über­winden seines Karma, wird immer dazu führen, daß nicht nur dem an­deren geholfen wird, sondern auch dazu, daß wir etwas für uns selber tun. Aber was wir uns selber tun, zum Beispiel um recht schnell vor­wärtszukommen, wird uns in der Regel nicht viel helfen. Fruchtbar werden kann für den Menschen nur das, was er für andere tut. Uns selber können wir nichts Gutes erweisen. Wenn wir einem Menschen sein Karma zu überwinden helfen, ergeben sich die besten Wirkungen, denn was wir für andere tun, ist Gewinn für die Menschheit. Für uns

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selber können wir nichts tun, das müssen wiederum die anderen tun. Darum müssen wir im höchsten Sinne auffassen: Mitgefühl für an­dere Menschen. - Entwickeln wir dieses Mitgefühl im höchsten Sinn, dann fühlen wir auch in bezug auf Neid und Lüge diese Pflicht des Mitgefühls anderen Menschen gegenüber. Wir entwickeln auf diese Weise ein Solidaritätsgefühl, das sich auf alle Menschenseelen erstreckt.

Die Menschheit ist überhaupt daraufhin veranlagt, daß jeder ein­zelne Mensch seinen Zusammenhang mit dem ganzen Menschentum immer fühlt. Und dieses Gefühl in seinen verschiedenen Lebensäuße­rungen sollte auch in seinen Kämpfen gegen Luzifer und Ahriman le­ben. Indem wir versuchen, schwächlichen Menschen, die einen physi­schen Leib haben, der unter dem Einfluß des überwundenen Neides schwach geworden ist, zu helfen, indem wir uns klar werden, wie wir uns gegen diese Menschen verhalten sollen, kann uns deutlich werden, daß die Welt erfüllt ist von diesen Impulsen von Luzifer und Ahri­man, und wie sie überwunden werden können im Laufe der Erdenent­wickelung. Da kommt nun jeder Mensch, wenn er solche Zusammen­hänge im Gefühl verfolgt, notwendig dazu, ein immer tieferes Gefühl von dem Menschentum überhaupt zu haben. Gewissermaßen gibt es für jeden Menschen die Möglichkeit, etwas zu fühlen, was ihn mit allen Menschen verbinden kann. Dieses Gefühl hat sich im Laufe der Mensch­heitsentwickelung gar sehr verändert.

Gehen wir drei bis vier Jahrtausende zurück, da war das Gefühl von dem, was die Menschen als Allgemeinmenschliches haben, deutlich bei allen Menschen ausgeprägt. Gehen wir immer weiter zurück, zu­rück durch die nachatlantischen Kulturen, zurück zur alten Atlantis -immer waren wir da verkörpert -, und wenn wir noch weiter zurück­gehen, so kommen wir zu einer Inkarnation, in der wir zum ersten Mal in einen physischen Leib herabgestiegen sind. Vorher waren wir in einem Geistigen, so sagten sich die Menschen noch vor drei bis vier Jahrtausenden. Solche weisheitsvollen Gefühle finden wir um diese Zeit bei allen Menschen. Und die Seele fragte sich: Was bist du da­durch, daß du ein Mensch bist? - Und sie antwortete sich: Ich war, ehe ich zum ersten Mal in meinen Leib herabstieg, vorher in einem Meer gdttlich-geistigen Lebens und Webens. Da war ich darin, und darin

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waren auch alle anderen Menschenseelen. Das war unser gemeinsamer Ursprungspunkt. - Ein solches Grundgefühl in den Menschenseelen gab die Möglichkeit, brüderlich, allgemein menschlich zu fühlen, da der Ursp?ung aller Menschenseelen als ein gemeinsamer gefühlt wurde. Und wenn wir uns daran erinnern, wie in allen alten Mysterienschulen auf die Menschen gewirkt wurde, um sie zu guten Menschen zu machen, so war es überall so, daß man, um die Menschen zu guten Menschen zu machen und sie für die tiefsten, intimsten, ergreifendsten Gefühle empfänglich zu machen, auf den gemeinsamen Ursprung hinwies, auf das Hervorgehen aller Menschen aus der gemeinsamen göttlichen Quelle. Und es war leicht, dies in der Seele anzuschlagen. Aber es wurde immer schwieriger und schwieriger. Wenn man zum Beispiel bei einer so großen Anzahl von Menschen, wie sie hier sitzen, dies angeschlagen hätte, würde das damals einen überwältigenden Eindruck erzeugt haben.

Aber immer kälter wurden die Gefühle der Menschheit gegenüber diesem gemeinsamen Ursprung. Das mußte geschehen, da die Mensch­heit durch einen gewissen Punkt der Entwickelung durchgehen mußte. Wenn ich diesen charakterisieren will, so müssen wir auf die mensch­liche Zukunft, auf das Ziel der Erdenentwickelung schauen.

Geradeso wie der Ursprung ein gemeinsamer ist und alle Menschen­seelen aus einem gemeinsamen Urgrund entstanden sind, werden sich alle Menschenseelen in einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden. Und wie können wir Menschen dies Ziel finden, damit wir uns weiter ent­wickeln, wenn die Erde an ihrem Ziel angelangt sein wird und als ma­terielle Kugel unter uns Menschen versinkt und zerstiebt? Wie können wir uns über dieses Ziel so verstehen, daß wir gemeinsam in eine Zu­kunft hineingehen? Bis in die tiefsten Fasern der Seele muß das Be­wußtsein dieser Gemeinsamkeit gehen. Das ist nur möglich dadurch, daß wir als Menschen gegenüber der Zukunft so fühlen lernen, wie die alten Menschen gegenüber dem Menschenursprung gefühlt haben. Dies Gefühl ist in der Menschheit immer mehr erkaltet. Aber immer mehr muß in den Seelen das Leben, das Gefühl, die Gewißheit erwarmen, daß etwas für alle Menschen gemeinsam sein kann als Menschenziel. Ob wir diesen oder jenen Entwickelungsgrad haben, wo wir auch stehen im Leben, dadurch, daß wir Menschen sind, muß etwas in unserer Seele

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stattfinden können, daß wir uns sagen: Wir streben alle einem Ziel zu. -Und auf dieses Ziel hinschauend, müssen wir uns sagen können: Das ist etwas, was jeden Menschen angehen kann. - Wir müssen in unserem tiefsten Inneren etwas finden können, in dem wir uns in einem Punkte gemeinsam zusammen finden.

Im Okkultismus ist dieses mit dem Namen Christus gegeben. Denn gerade so, wie man vor Jahrtausenden fühlen, empfinden, wissen konnte, unsere Seelen sind alle aus dem gemeinsamen Gottesurgrunde und -ursprung herausgeboren, so werden die Menschen immer mehr lernen, sich zu sagen: Wie wir, wenn wir denken, uns in einem Ge­meinsamen zusammenfinden, wie wir uns einig sein können in einem gemeinsamen Denken, wie das in allen Menschenhäuptern leben kann, so gibt es etwas, was wie ein Gemeinsames in allen Herzen leben kann. Es gibt etwas, was wie ein Lebensblut gemeinsam in allen Menschen-herzen fluten kann. - Wenn uns das immer mehr durchglüht in den fol­genden Inkarnationen, dann werden diese so verlaufen, daß, wenn die Erde ihr Ziel erreicht haben wird, so daß sie in den künftigen plane­tarischen Zustand, den Jupiter, übergehen wird, die Menschenseelen sich in dem Gemeinsamen, dem Christus, zusammenfinden werden, eins sein werden. Darum, damit dies geschehen kann, mußte das My­sterium von Golgatha stattfinden. Dazu ist der Christus im Jesus Mensch geworden, daß dieser gemeinsame Strom der Wärme von Men­schenherz zu Menschenherz fließen kann. Das Gefühl für das gemein­same Menschenziel geht aus von dem Kreuz auf Golgatha. So verbin­den sich Vergangenheit und Zukunft. Das ist das Ziel der Zukunfts­entwickelung der Menschheit. Ob die Menschen diesen gemeinsamen Namen des Christus beibehalten werden, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß alle Menschen begreifen lernen, daß dasselbe Ge­fühl, welches die Menschen ursprünglich von ihrem gemeinsamen Ur­sprung hatten, in ein Gefühl einer gemeinsamen Erdenzukunft umge­wandelt werde.

Die Erdenentwickelung ist geteilt in diese zwei Hälften: Die eine geht bis zu dem Kreuz auf Golgatha und die andere von dem Kreuz auf Golgatha bis zum Erdenende. Und die Menschen haben viel, viel zu tun, um den Christus und seine Entwickelung zu begreifen. Und

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wenn diese begriffen sein wird, dann werden sich die Menschen in ge­meinsamem Ziel für die Jupiterentwickelung finden. Und alle unsere einzelnen Erkenntnisse laufen darauf hinaus, dieses Prinzip des Christ­lichen zu finden.

Wenn wir heute versucht haben zu erkennen, wie Karma von einer Inkarnation zur anderen leibgestaltend wirkt, dann verstehen wir, wie die Menschen immer vollkommener werden können im Durchgang durch die Inkarnationen. Ohne daß wir ihn Christus nennen, sprechen wir noch von dem Christus. Wir sehen ab von dem Persönlichen. Wenn wir ein Kind vor uns haben, das uns anlügt, sagen wir uns: Dies Kind hat uns belogen. Wie können wir ihm helfen, daß es sein Karma um­wandelt? - Wir fragen nicht danach, daß es uns schadet. Wir sehen auf den Wesenskern des Kindes, und damit bringen wir das Karma vor­wärts. Tief menschliches Zusammenfühlen wird sich in solcher Art in der Welt immer mehr geltend machen.

So ist dasjenige, was wir Geisteswissenschaft nennen, wenn wir dar­unter wirklich Verständnis der Lebensvorgänge im Sinne von Rein­karnation und Karma begreifen, die Vorbereitung zu einem wahren Erfassen des Christus-Impulses in der Welt. Es kommt nicht darauf an, wie der Mensch seine Worte setzt, sondern wer wirklich das Ent­wickelungsgesetz begreift, der kann gar nicht anders als Christ sein, sei er Hindu oder Mohammedaner oder Angehöriger eines anderen Religionssystems. Es kommt darauf an, daß man den Impuls aufnimmt in die Seele, welcher der Impuls zu dem gemeinsamen Ziel der Mensch­heit ist, wie einst in den alten Menschen der Impuls lebte, hinzuschauen auf den gemeinsamen Ursprung der Menschen.

Daher führt Geisteswissenschaft immer zu dem Christus-Impuls. Sie kann gar nicht anders. Man könnte also einfach Geisteswissen­schaft, wie sie heute auftritt, auch so auffassen, daß man sagt: Wenn auch derjenige, der sie kennenlernt, vielleicht nichts wissen wollte vom Christentum, wenn er Anthroposoph wird, so wird er schon in Wahr­heit zu Christus geführt. In der Realität würde er schon dahin geführt werden, selbst wenn er mit Worten dagegen kämpfen wollte.

So haben wir heute an unsere Seelen herangebracht, was unmittel­bar mit dem Leben zusammenhängt. Wir haben gesehen, wie wir uns

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zu verhalten haben, wenn ein Kind lügt oder Neid fühlt. Wir müssen uns klar sein darüber, daß der karmische Faden durch alle Inkarna­tionen der Menschenseele verläuft, daß Karma schicksalsgemäß für sie gesponnen wird, und daß wir, wenn wir zurückschauen auf den Ursprung in Gott und dann hinschauen zum Menschenziel, wiederum hinschauen zu Gott.

Wir schauen zurück auf die Kultur der alten Rishis. Sie haben auf den Menschenursprung verwiesen. Hingewiesen haben sie in jene Welt, in welcher der Mensch war, bevor er zu seinen Inkarnationen herabge­stiegen ist. Diese Lehre drang durch die Jahrhunderte und Jahrtau­sende. Der große Buddha hat sie gelehrt, indem er sagte: Alles dies ist den Menschen durch den Hang zur Verkörperung verlorengegangen, was den Zusammenhang mit der Welt des Ursprungs schuf. - Er for­derte auf, die Welt der Verkörperungen zu verlassen, damit die Seele wiederum in den geistigen Welten des Ursprungs leben kann. Und hin­gewiesen haben die Propheten, indem sie den Christus vorherverkün­deten, auf eine Zukunft, in welcher die Menschen wiederum ihr rechtes Erdenziel finden werden. Und dann steht der Christus selber da, dann vollzieht er das Mysterium von Golgatha. Und dann kann der Mensch durch dieses Mysterium von Golgatha entgegengeführt werden der göttlich-geistigen Erdenzukunft. Es gibt vielleicht kaum etwas so Er­schütterndes als zwei Aussprüche, die ähnlich bei Buddha wie bei Christus sind und die den Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit uns vor die Seele stellen können. Buddha steht unter seinen Schülern, er weist sie hin auf den Leib und sagt: Ich schaue zurück von Inkarnation zu Inkarnation, wie ich immer wieder hineingegangen bin in einen sol­chen menschlichen Leib, wie ich ihn jetzt trage. Und dieser Leibes-tempel ist mir immer von neuem aufgebaut von den Göttern. Und im­mer wieder suchte die Seele in neuen Inkarnationen in diesen Leibes-tempel hineinzukommen. Jetzt aber weiß ich, daß ich nicht mehr nö­tig habe, in einen Leibestempel zurückzukehren. Ich weiß, es sind zer­brochen die Balken, verfallen die Pfosten. Ich habe durch meine Er­kenntnis meine Seele von diesem Leib frei gemacht. Getötet ist Wunsch und Begierde, in einen solchen Leib zurückzukehren. - Das war ein großes, ein gewaltiges Ergebnis der alten Zeit des Zurückschauens auf

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den Menschenursprung. Buddha und mit ihm seine Schüler und Nach­folger streben an, frei zu werden von dem Leibe. Welch ein gewaltiger Unterschied, wenn der Christus vor seinen intimen Schülern steht und also spricht - ganz gleichgültig, wie wir es auffassen; wir nehmen es als Worte des Christus, wie sie sind. Christus sagt: Reißet nieder den Tempel meines Leibes, und ich will ihn in drei Tagen wiederum auf­bauen. - Er, der Christus, sehnt sich nicht danach, frei zu werden von diesem Leibestempel. Er will ihn wieder aufbauen.

Nicht als ob der Christus selber wiederum in folgenden Inkarna­tionen in einem solchen physischen Leibe da sein würde. - Aber was er seine Schüler und alle Menschen lehrt, das ist: wiederum zurückzu­kehren in diesen Erdentempel von Inkarnation zu Inkarnatiön, um in einer jeden den Christus-Impuls größer, intensiver zu machen, da­mit wir Menschen immer mehr von dem Erdendasein werden aufneh­men können, um zuletzt so dazustehen, daß wir sagen: Wir haben in diesen Inkarnationen gearbeitet, um ähnlicher dem Christus zu wer­den. Und wir werden ihm ähnlicher, indem wir in diesen Leibestempel aufnehmen, was der Christus vom Kreuz auf Golgatha hat ausströ­men lassen als sein eigenes Wesen. Das lassen wir strömen von Men­schenseele zu Menschenseele, denn nur dadurch verstehen wir uns jetzt. Das ist das Gemeinsame für alle Menschenseelen der Erdenzukunft. Und dann wird der Zeitpunkt kommen, wo die Erde als Planet ver­gehen wird, wo sie zerschellt, zerstäubt, und wo die Menschen in ver­geistigtem Zustand zur nächsten Verkörperung auf einen anderen Pla­neten übergehen werden.

Das Wort des großen Buddha: Ich fühle, wie die Pfosten meines Leibestempels nicht mehr tragen, wie die Balken zusammenbrechen -das kann uns vor der Seele stehen wie ein Schlußpunkt des gemein­samen Menschenursprungs. Und wenn wir hinschauen auf dasjenige, was der Christus zu seinen Jüngern spricht: Ich will aufbauen diesen Leibestempel in dreien Tagen - das kann uns sein wie der Beginn der Zeit, die auf das Erdenziel hinweist. Und wir dürfen diesen Ausspruch erweitern, denn wir können sagen: Es breche ab dieser Tempel im Tode, aber wir wissen, daß wir die besten Kräfte, die wir uns in die­ser Inkarnation angeeignet haben, für unsere nächste Inkarnation verwenden

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werden. Wir haben diese Kräfte empfangen, indem wir unsere Seelen der Christus-Erkenntnis hingaben. Wir werden auf diese Weise von Inkarnation zu Inkarnation immer weiterkommen. - Wenn die Menschen diesen Leibestempel zum letzten Mal aufbauen, werden sie zum Verständnis des zukünftigen, gemeinsamen Erdenziels gekom­men sein.

Allein das Mysterium von Golgatha ist es, was der ganzen Mensch­heit der gemeinsame Impuls der Menschheits- und der Erdenentwicke­lung sein kann.

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KARMISCHE WIRKUNGEN. ANTHROPOSOPHIE ALS LEBENSPRAXIS München, 11. Dezember 1910

Ich möchte heute auf einige anthroposophische Lebensfragen zu spre­chen kommen und dann von diesen Lebensfragen aufsteigen, vom Alltäglichen zu dem Umfassenden, Prinzipiellen. Das soll der fruchtbarste Gewinn unseres Strebens sein, daß wir durch die Geisteswissenschaft das Leben in seiner Wahrheit, in seiner Wirklichkeit immer mehr und mehr beurteilen lernen, es so beurteilen lernen, wie uns diese Beurtei­lung selbst am tüchtigsten, am tatkräftigsten in das Leben hineinführen kann, wie sie uns hinstellen kann an den Platz, den wir auszufüllen haben nach unserem Karma, den wir auszufüllen haben nach dem, was unsere größere oder kleinere Mission in der Zeit ist, in der wir im irdi­schen Leibe verkörpert sind.

Und da möchte ich zuerst von einigen Eigenschaften im Leben aus­gehen, die sich uns tagtäglich an uns selbst oder an unserer Umgebung bieten, von Eigenschaften, deren ganze Tragweite und Bedeutung wir erst einsehen, wenn wir sie im Lichte der Geisteswissenschaft betrach­ten können. Ich möchte von zwei Untugenden des Lebens ausgehen und dann von einigen Tugenden sprechen, möchte ausgehen von den Tugenden des Wohlwollens und der Zufriedenheit und von den Un­tugenden der Lügenhaftigkeit und des Neides.

Wollen wir zuerst diese zwei Untugenden, die uns im Leben oft­mals entgegentreten, in Betracht ziehen. Es ist nicht zu leugnen, daß in weitesten Kreisen, sowohl bei dem einfachsten Menschen als auch bei denjenigen, die gewissermaßen schon zu den Führern des Lebens ge­hören, eine tiefe, tiefe Abneigung und Antipathie herrscht gegenüber dem, was wir Neid und Lügenhaftigkeit nennen können. Um gleich solche Menschen zu nennen, die zu den Führern des Lebens gehört ha­ben, weise ich auf den Bildhauer Benvenuto Cellini und auf diejenigen Stellen seiner Selbstbiographie hin, wo er sagt, er müsse sich bei einer guten Selbstbeobachtung mancherlei Untugenden beschuldigen, dürfe aber doch sagen, eine wirklich im Ernst so zu nennende Lügenhaftigkeit

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sei ihm niemals eigen gewesen. Es findet also dieser Künstler eine gewisse Befriedigung darin, daß er bei seiner Selbstbeobachtung die Lügenhaftigkeit aus seinen Charaktereigenschaften ausschließen kann. Und Goethe sagt einmal als das Ergebnis seiner Selbstbeobachtungen, er müsse sich mancherlei Dinge beschuldigen, aber der Neid, diese häß­liche Untugend, hätte doch eigentlich nicht an seinem Herzen gefres­sen. So sehen wir gleichsam an den Gipfeln des Lebens, wie man Lü­genhaftigkeit und Neid antipathisch empfindet, wie man sich überall sagt, wo man gewohnt ist, das Leben etwas tiefer zu betrachten, auch da, wo gewissermaßen große Fähigkeiten im Leben der Seele eigen sind: Du mußt dich gerade vor diesen Untugenden hüten. - Und wer wollte leugnen, daß durch alle, alle Schichten unserer Menschheit diese gründliche Antipathie gegen Lügenhaftigkeit und Neid geht. Sie brau­chen sich nur einmal ?u erinnern, wie sehr es an Ihren Herzen fressen müßte, wenn Sie sich in einem gewissen Momente bei wirklich ehrlicher und richtiger Selbstbeobachtung sagen müßten: Ich bin eine neidische Persönlichkeit. - Sie würden ganz gewiß, wenn Sie sich das resolut ge­stehen müßten, schon in diesem Geständnis fühlen, daß Sie etwas auf­nehmen müßten in sich wie Kampf gegen diesen Neid, Bekämpfung des Neides. Das ist ein tief eingewurzeltes Gefühl, daß die Lügenhaf­tigkeit und der Neid häßliche menschliche Eigenschaften sind.

Warum fühlen wir denn eigentlich so? Ja, sehen Sie, es macht sich der Mensch nicht immer ganz klar, warum er gegen dieses oder jenes eine so tiefe Antipathie hat. Er macht sich oftmals nicht ganz klar, was in dem mehr oder weniger unterbewußten Teil seines Seelenlebens schlummert und ganz unzweifelhaft vorhanden ist. Gegenüber Neid und Lügenhaftigkeit fühlt der Mensch, daß er mit ihnen gegen etwas verstößt, das mit dem Allerallermenschlichsten und allerallermensch­lichsten Wert zusammenhängt. Wir brauchen nur ein Wort auszuspre­chen und wir werden das fühlen. Die Geisteswissenschaft soll uns ja allmählich zum Bewußtsein bringen, daß es außer den einzelnen Per­sönlichkeiten, die im Fleisch inkarniert sind, so etwas gibt wie ein ein­heitliches, allgemein Menschliches, das in gleicher Weise in allen See­len als das Göttlich-Menschliche wohnt. Und da ist es eben die Geistes-wissenschaft, die uns das als ein großes Ideal hinstellt und die es allmählich

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dahin bringt, Verständnis für das allgemein Menschliche zu haben. Und in gefühlsmäßiger Art findet sich doch in allen mensch­lichen Herzen etwas, was in gewisser Weise immer ausspricht: Suchet nach einem Bande, das alle Menschen zusammenhält, das sich immer von Seele zu Seele schlingt, und ihr werdet es finden. - Und das ent­sprechende Gefühl drückt sich aus in dem Worte «Mitgefühl». Mitge­fühl ist eine so allgemeine menschliche Eigenschaft, daß wir sagen müs­sen: Es kündigt sich in diesem Mitgefühl wie dunkel an das Band, das von jeder Seele zu jeder Seele geht. - Und da fühlt man wiederum im Unterbewußtsein, wie man gerade mit Lügenhaftigkeit und Neid gegen das Mitgefühl, gegen die Anerkennung des in allen Menschen Gemein­samen im eminentesten Sinn verstößt.

Was tun wir denn eigentlich, wenn wir einem Menschen ein Lüge sagen? Nichts anderes tun wir, als eine Scheidewand zwischen uns und ihm aufrichten. Was uns mit ihm verbinden sollte, das gemeinsame Wissen um irgendeine Wahrheit, die in unserer und in seiner Seele le­ben müßte, wenn die Dinge richtig wären, dies zerreißen wir, indem wir ihm eine Unwahrheit sagen. Wir anerkennen in dem Augenblick, wo wir die Unwahrheit sagen, nicht, daß wir eigentlich mit dem besten Teil unseres Seibstes auch im anderen leben sollten.

Und wenn wir jemand beneiden, sei es um Fähigkeiten, sei es um anderes im Leben, dann versündigen wir uns in der Art gegen das Mit­gefühl, daß wir den Menschen nicht als das anerkennen, was er eigent­lich uns sein müßte, als etwas, was doch zu uns gehört und über dessen Vorzüge und Gaben und Glücksfälle wir uns eigentlich freuen müßten, wenn wir uns so recht mit ihm verbunden fühlten.

Also gegen das Schönste im Menschenleben, gegen das Mitgefühl, versündigen wir uns, wenn wir neidische und lügenhafte Menschen sind. Und warum drückt sich denn eigentlich dies in einer so vehemen­ten Weise in der Unzufriedenheit über diese beiden Eigenschaften aus? Warum denn? Nun, beide Eigenschaften können uns so recht zeigen, wie das, was in unserer Seele sitzt, sich fortpflanzt, fortschreitet zu den Hüllen unserer Wesenheit und eine Bedeutung hat für diese Hüllen.

Neid ist etwas, was sich für eine okkulte Beobachtung - wenn es beim Menschen vorhanden ist - klar ausdrückt in einer ganz bestimmten

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Beschaffenheit des astralischen Leibes. Und ein neidischer Mensch, wenn er auch imstande ist, diesen Neid gegenüber der Außenwelt noch so sehr zu verbergen, offenbart die Eigenschaft des Neides in seinem astralischen Leibe. Unser astralischer Leib hat ganz bestimmte Grund­eigenschaften. Wenn er auch bei jedem Menschen anders ist und bei den verschiedenen Menschen die mannigfaltigsten Verschiedenheiten zeigt, so hat er doch gewisse Grundeigenschaften. Und wenn wir ihn mit dem hellseherischen Schauen als Aura betrachten, hat er ganz be­stimmte Farbeneigenschaften. Diese verblassen in einer bedenklichen Weise beim neidischen Menschen, sie verblassen, sie werden schwach und matt. Und der astralische Leib eines neidischen Menschen wird gewissermaßen arm an Kraft, die er dem ganzen menschlichen Orga­nismus zuführen sollte.

Bei der Lügenhaftigkeit ist es wiederum so, daß sie, und auch jede einzelne Lüge, sich im Ätherleibe ausdrückt. Der Ätherleib verliert an Lebenskraft und Lebensenergie, wenn der Mensch verlogen ist. Das kann man sogar äußerlich konstatieren. So sonderbar es für unser Zeit­alter klingt, wahr ist es aber doch, daß bei Menschen, die viel lügen, zum Beispiel Wunden unter sonst gleichen Bedingungen schwerer zu heilen sind als bei wahrhaften Menschen. Selbstverständlich darf man da nicht absolut schließen, es können auch andere Gründe da sein. Aber alles übrige in gleicher Art vorausgesetzt, sind bei verlogenen Menschen Wunden schwerer zu heilen als bei wahrhaftigen Menschen. Es ist gut, solche Dinge im Leben zu beachten. Und das ist auch leicht erklärlich. Der Ätherleib des Menschen ist das eigentliche Lebensprin­zip, ist das, was die Lebenskräfte enthalten muß. Diese werden aber untergraben durch die Lügenhaftigkeit. So daß nicht so viel Lebens­kraft von dem Ätherleib abgegeben werden kann, wie es zu einer Hei­lung notwendig ist, wenn dieser Ätherleib die Lebenskraft durch Lü­genhaftigkeit entzogen bekommen hat, wenn er das nicht hat, daß er immer durchdrungen war von jenen Bewegungen, von jenen Tatbe-ständen, die von der Wahrhaftigkeit herrühren. Wir sollten solche Dinge wohl beachten, denn wir werden das Leben in mancher Bezie­hung besser verstehen, wenn wir dies tun.

Nun wissen Sie, daß wir das, was an den Menschen herantritt, sehen

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müssen im Lichte von zwei Mächten, die auf das menschliche Leben so, wie es sich von Inkarnation zu Inkarnation entwickelt, ihren Ein­fluß haben. Wir müssen das menschliche Leben betrachten unter dem Einfluß der luziferischen und der ahrimanischen Gewalten. Die luzi­ferischen Gewalten sind die, welche auf unseren astralischen Leib wir­ken, welche ihre Kraftwirkungen in unseren astralischen Leib herein-strahlen und uns in bezug auf diesen versuchen. Die ahrimanischen Gewalten sind die, welche uns in bezug auf unseren Ätherleib versu­chen. Ja, es ist Luzifer, der uns sozusagen am Kragen packt, wenn wir neidische Menschen sind. Der Neid ist so recht eine luziferische Eigen­schaft, eine Eigenschaft, die von Luzifer kommt. Wogegen die Lügen­haftigkeit eine Eigenschaft ist, die von Ahriman kommt. Denn Ahri­man sendet die Kräfte und Mächte aus, die in unseren Ätherleib ein-strahlen.

Nun können wir sagen: Es war zwar durchaus absolut notwendig, daß Luzifer und Ahriman von den weisen Weltenmächten abgeordnet wurden, damit sie auf uns wirken zu unserer Selbständigkeit. Indem sie bewirken, daß wir unsere Selbständigkeit mißbrauchen, sind sie in gewisser Weise Feinde der höheren Entwickelung der Menschheit. Aber wenn sie auch dem Menschen in einer gewissen Weise in seiner höheren Entwickelung Feinde sind, sind sie sehr befreundet und beschließen un­tereinander ganz sonderbare Kompromisse. Wir können gerade von diesen Kompromissen sprechen, wenn wir solche menschliche Eigen­schaften wie Neid und Lügenhaftigkeit betrachten.

Neid! Der Mensch, der nicht ganz verdorben ist, wird in dem Augenblick, wo er sich sagen muß: Ich bin eine neidische Natur-, wirk­lich alles tun, man braucht gar nicht besonders hochzustehen, um alles zu tun, diesen Neid zu bekämpfen. Aber die Dinge sitzen manchmal viel tiefer, als unsere Macht reicht, die vom Bewußtsein ausgeht. Und der Mensch stellt sich manchmal doch zu leicht vor, wie es mit dem Bekämpfen solcher Dinge liegt. So kommt es dann vor, daß er solche Dinge bekämpft, weil er sie als häßlich empfindet, daß sie aber nicht fortgehen, daß sie eigentlich nur ihre Form ändern, daß sie in einem anderen Gebiet wiederum auftreten. In Masken, in Verlarvungen treten sie dann auf. Und weil man den Neid so haßt, bekämpft man ihn, aber

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wenn die Seele noch nicht stark genug ist, um ihn gründlich zu be­kämpfen, verliert er sich als Neid, tritt aber in anderer Form auf.

Sie alle kennen jene Eigenschaft der Menschen, die man so häufig findet und die man nennen könnte: Kritikasterei und Tadelsucht, das Aufmerken auf die Fehler unserer Nebenmenschen. Wenn sich jemand sagen muß: Ich bin ein neidischer Mensch, ich will nicht haben, daß meine Mitmenschen Vorzüge haben -, fühlt er sich schlecht. Er fühlt, daß er das bekämpfen muß. Wenn er sich aber sagen kann: Der oder die hat das oder jenes Schreckliche getan -, da fühlt er, daß die Tadel-sucht in gewisser Weise berechtigt ist, da fühlt er sich so recht in sei­nem Element. Denken Sie sich doch einmal, wenn das nicht so wäre, wie viele Kaffeegesellschaften und Biergeselischaften wegfallen müß­ten, wo im Grunde genommen so sehr häufig nichts anderes getan wird, als daß man dieser Kritikasterei und Tadelsucht die Zügel schießen läßt. Und da findet sich der Mensch dann vor sich selbst gerecht­fertigt. Er sagt sich: Ja, man sieht die Fehler, man muß sie sehen, man kann sich die Augen nicht verschließen. - Es handelt sich nur darum, aus welchen Gründen wir die Fehler unserer Mitmenschen sehen, ob wir sie in der Absicht sehen, das Leben zu verbessern, oder ob wir einem Hang unserer Seele folgen, der oftmals nichts anderes ist als ein mas­kierter Neid. Den Neid bekämpfen die Menschen, weil sie ihn hassen, aber sie können ihn nicht ausreißen, weil sie zu schwach sind. So nimmt er das Gewand der Tadelsucht an und wandert in der Seele auf diese Weise weiter. Dann hat man den Neid nicht bekämpft, man hat ihn nur in eine andere Metamorphose gezwungen. In Wahrheit ist dann das geschehen, daß der Mensch den Luzifer bekämpft hat, weil er über den Neid der Regent wie über vieles ist. Aber Luzifer sagt dann zu Ahriman, wenn ich mich so ausdrücken darf: Sieh, lieber Ahriman, mein Regiment des Neides haßt der Mensch, er will nicht neidisch sein. Nun nimm du ihn in bezug auf diese Eigenschaft! Dann sagt Ahriman:

Ja, dann werde ich das in den Ätherleib hineinpressen. - Und es wird in den Ätherleib hineingepreßt als Tadelsucht, als Kritikasterei, als irregeführtes Urteil über die Mitwelt. Denn Urteilsfähigkeit hat immer etwas zu tun mit den Bewegungen und Kräften des Ätherleibes. Da geht dann das Regiment in bezug auf unsere Seele von Luzifer auf

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Ahriman über. Und so treten viele Eigenschaften, die wir, wenn sie sich uns in ihrer ursprünglichen Gestalt zeigen würden, haßten und be­kämpften, maskiert auf. Da treten sie manchmal so auf, daß wir sie eigentlich sehr gerechtfertigt finden und uns sogar etwas zugute dar­auf tun, daß wir uns aufschwingen können, das Richtige im Leben zu sehen. Dann sind wir so recht in den Fangarmen der anderen Macht, der ahrimanischen Macht. Da dürfen wir nicht vergessen, daß eine Eigenschaft viel gefährlicher ist, wenn sie in der Maske auftritt, als wenn sie in ursprünglicher Gestalt auftritt. Daher ist es immer gut zu fragen, wenn wir dieses oder jenes im Leben sehen: Ist das nicht viel­leicht bloß eine verwandelte andere Untugend? - Das ist außerordent­lich notwendig, daß wir so das Leben in seiner Wahrheit betrachten lernen. Das können wir im Grunde genommen nur, wenn wir die Richt­linien, die uns die anthroposophische Weisheit gibt, benützen, um das Leben ordentlich anzuschauen.

Nun müssen wir sagen: Was so im Leben auftritt als diese oder jene Untugend, sei es in wahrer Gestalt, sei es in der Maske, das sehen wir oftmals schon karmisch wirksam in einer einzelnen Inkarnation. Wir brauchen gar nicht den Übergang von einer Inkarnation in die andere abzuwarten. Wir sehen in einer Inkarnation schon die karmische Aus­wirkung einer Eigenschaft, die in irgendeiner Lebensepoche auftritt. Und diejenigen, die das Leben wirklich betrachten wollen und ein wenig darauf achten, daß man das Leben nicht kennenlernt, wenn man morgen immer schon vergißt, was heute geschehen ist, sondern wenn man längere Lebensepochen der Menschen ins Auge faßt, die werden Karma schon wirksam finden auch in ezner Verkörperung, in einem Leben. Es ist wirklich notwendig, daß man in gewisser Weise sehr, sehr sorgfältig darauf achtet, wie die Sünden des Lebens sich im Grunde genommen erst nach Jahrzehnten zeigen. Aber die Menschen sind ein vergeßliches Geschlecht. Von all den Rassen, die beim Men­schengeschlecht anfangen und sich in alle höheren Welten hinauf er­strecken, sind die Menschen wirklich das vergeßlichste Geschlecht. Wenn wir mit irgend jemand auch Jahrzehnte bekannt sind, wir ver­gessen, was vor zehn Jahren zutage getreten ist, wir lassen das sehr gern aus dem Gedächtnis schwinden.

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Ich habe vielleicht auch schon hier ein kleines Beispiel erwähnt, das uns aber wiederum zeigen kann, wie wir das Leben in größeren Zeit­räumen betrachten müssen, wenn wir es in seiner wahren Gestalt er­kennen wollen - etwas Äußerliches, das ich nur einschieben will. Es handelt sich um die Zeit, in welcher ich Gelegenheit hatte, in ver­schiedenen Familien viele Kinder zu beobachten. Wenn man Kinder erzieht, hat man ja nicht nur diejenigen Kinder zu beobachten, die man selber zu erziehen hat, sondern auch die mehr oder weniger kleinen Sprößlinge der Onkel, Tanten, Nichten und Neffen und so weiter. Und da kann man sich manches für das Leben notieren. Nun, es ist ja lange her, die Moden ändern sich. Es war damals, als ich Kinder zu erziehen hatte, Mode, daß zur Stärkung kleiner Kinder von den Er­ziehern manchmal am Tage recht viele Dosen Rotwein zu den Mahl­zeiten gegeben worden sind. Es war so, man hat das für etwas Gutes gehalten. Wenn man sich das dazumal notiert hat: dies und dies Kind hat Rotwein bekommen und das andere nicht, kann man jetzt, wenn man wieder Gelegenheit hat, wie ich es immer versuche zu beobach­ten, was aus diesen Kindern geworden ist, eigentümliche Erkenntnisse sammeln. Ich kann sagen: die zwei- bis drei- bis vierjährigen Kinder von dazumal - jetzt Menschen von siebenundzwanzig, achtundzwan-zig, neunundzwanzig Jahren -, die als Kinder Rotwein bekommen haben, sind zappelige, nervöse Menschen, haben es manchmal außer­ordentlich schwierig, sich im Leben zurechtzufinden. Natürlich darf man nicht bloß über fünf Jahre seine Beobachtungen anstellen. Das ist heute so sehr Usus, daß man dieses oder jenes ausprobiert, und wenn es in den nächsten Monaten einigen Erfolg zeigt, flugs ist es ein weit-verbreitetes Heilmittel. Es sind auch auf diesem Gebiet die Menschen vergeßlich. Wieviel Heilmittel nach fünf Jahren außer Mode gekom­men sind, haben die Menschen auch wieder vergessen. Aber, wie gesagt, wenn man über Jahrzehnte seine Beobachtung ausdehnt, dann kann man schon spüren, wie das Leben wirkt. Es ist wirklich ein großer Un­terschied zwischen den Kindern, die dazumal Rotwein bekommen ha­ben, und denen, die keinen bekommen haben. Aber man müßte erst drei Jahrzehnte seine Beobachtungen sozusagen anstellen, um das zu sehen. Und so ist es ja. Das habe ich eingeflochten, um zu zeigen, daß es

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notwendig ist, wenn man Karma am Werke sehen will, nicht vergeß­lich zu sein, sondern seine Beobachtungen über größere Zeiträume zu erstrecken. So ist es auch mit dem, was mehr in seelischer Weise zutage tritt.

Man kann durchaus, wenn man die zweite Hälfte des Menschen­lebens mit der ersten im Zusammenhang betrachtet, sehen, wenn der Mensch in einer gewissen Epoche lügenhaft oder neidisch war, oder den Neid unter der Maske der Tadelsucht gehabt hat, wie die Wir­kung schon in der zweiten Hälfte des Lebens karmisch hervortritt. Lügenhafte Menschen zeigen immer schon in der einen Inkarnation eine ganz bestimmte karmische Wirkung der Lügenhaftigkeit: eine gewisse Scheu, eine Unmöglichkeit, man möchte sagen, glattweg den Menschen in das Auge zu schauen. Das erfüllt sich sicher. Versuchen Sie nur, die Sache zu beobachten. Sie werden das bestätigt finden. Volkssprichwörter haben manchmal einen tiefen, weisheitsvollen Kern. Nicht umsonst sagt man in vielen Gegenden, daß man sich vor einem Menschen hüten müsse, der einem anderen nicht ins Auge schauen kann. Denn das ist die karmische Wirksamkeit der Lügenhaftigkeit.

Neid dagegen oder Neid maskiert als Tadelsucht und Kritikasterei, zeigt sich in einer späteren Lebensepoche derselben Inkarnation so, daß der betreffende Mensch die Eigenart hat, nicht recht auf eigenen Füßen stehen zu können, so daß er die Sehnsucht hat, sich an andere anzulehnen, daß er zu allen Kleinigkeiten Rat braucht, am liebsten immer zu einem anderen laufen möchte, der ihm Rat geben soll. Selb­ständigkeit im Leben geht verloren durch Neid, Kritikasterei, Tadel­sucht. Seelisch schwach wird ein solcher Mensch.

Nun treten uns diese Eigenschaften mit ihren karmischen Wirkun­gen seelisch entgegen, wenn wir die eine Inkarnation betrachten. Wir wollen gleich nachher ein wenig Rücksicht nehmen darauf, wie sich die karmischen Wirkungen ausleben, wenn wir von einer Inkarnation in die andere gehen.

Wir wollen aber jetzt, damit wir nicht einseitig sind, auch gute Eigenschaften in Betracht ziehen: Wohlwollen und Zufriedenheit. Was ein wohlwollender Mensch ist, weiß ein jeder. Ein wohlwollender Mensch ist jemand, der sich in gewisser Beziehung befriedigt fühlt,

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wenn ein anderer einen Erfolg hat, dieses oder jenes erreicht, wenn er gute Eigenschaften an dem oder jenem bemerkt. Wohlwollen ist dann vorhanden, wenn man gewissermaßen das, was der andere erlebt, wie sein Eigenes miterlebt. Dieses Wohlwollen hat wiederum eine ganz be­stimmte Wirkung auf unseren astralischen Leib, und zwar so ziemlich das Gegenteil der Wirkung von Neid. Wir sehen, wie die Lichter des astralischen Leibes bei den Äußerungen des Wohlwollens des Menschen aufglänzen. Heller und strahlender wird der astralische Leib, wenn Regungen des Wohiwollens in der Seele des Menschen sind. Die Aura wird lichtvoller, strahlender und damit reicher, sie wird in sich ge­sättigter, und sie ist dann imstande, in den Menschen erst etwas wie Seelenwärme und dann sogar etwas von einem Sich-Gesundfühlen hineinzugießen.

Und wenn wir einen zufriedenen Menschen vor uns sehen, einen Menschen, der nicht geneigt ist, von vornherein über alles grämlich zu sein, über alles unzufrieden zu sein, dann zeigt uns der Ätherleib ganz bestimmte Eigenschaften. Das ist wichtig, daß wir das wiederum in einer gewissen Art beachten. Denn eigentlich sollten wir uns doch klar sein, wieviel von unseren Unzufriedenheiten im Grunde wirklich von uns selber abhängen. Der eine kann gar nicht genug tun, überall das aufzustöbern, was ihn unzufrieden machen kann. Und wir fühlen, daß das nicht nur glücklichere Naturen, sondern schon auch bessere Naturen sind, die imstande sind, viel darauf zu achten, daß selbst, wenn noch so schlimme Dinge an uns fortwährend herankommen, wir doch Gründe haben, über das oder jenes uns zu freuen. Es gibt solche Gründe. Und wer nicht zugeben will, daß es diese gibt, an dem liegt es eben selber. Zufriedenheit, namentlich wenn sie durch eine bessere Eigenschaft unserer Seele bewirkt ist, verstärkt den Ätherleib in be­zug auf seine Lebenskraft. Und wiederum ist es der Fall - alle übrigen Bedingungen in der gleichen Art vorausgesetzt -, daß Wunden oder sonstiges bei einem zufriedenen Menschen, der gewissen Anlaß hat, leicht befriedigt zu sein, sich nicht viel aufzuregen über das, was ihm zustößt, leichter heilen bei ihm, als bei dem Grämlichen und Unzufrie­denen, der sich über alles aufregt und von allem unbefriedigt weggeht, wie gesagt unter sonst gleichen Umständen.

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Nun können wir auch wiederum in einem Leben recht genau sehen -und das ist wichtig, daß wir so etwas, wenn wir zu erziehen haben, gut beachten -, daß bei jemandem, der in einer gewissen Lebens-epoche so recht von Zufriedenheit durchdrungen ist und sich bemüht, die Dinge aufzusuchen, die ihn befriedigen können, vielleicht trotz Schmerz und Leid, daß bei ihm eine karmische Auswirkung noch im selben Leben, wenn auch erst nach Jahrzehnten geschieht, was sich namentlich dadurch zum Ausdruck bringt, daß ein solcher Mensch, der also Zufriedenheit sich anzueignen bestrebt hat, in einer gewissen Epoche seines Lebens, ein gewisses wohltuendes Gleichmaß des Lebens auf seine Umgebung ausströmt. Sie wissen, daß es das gibt. Es gibt solche Menschen, in deren Umgebung andere ungeheuer leicht zappelig werden müssen, und solche, die einfach dadurch, daß sie da sind, an­dere beruhigen. Menschen, die sich bestrebt haben, in einer Epoche ihres Lebens zufrieden zu sein, erringen sich als karmische Wirkung für eine nächste Epoche desselben Lebens diese Möglichkeit, harmoni­sierend auf ihre Umgebung zu wirken, gewissermaßen rein durch ihr Dasein Wohltäter für ihre Umgebung zu sein.

Wohlwollende Menschen - das können wir immer beobachten -, die sich bestrebt haben, wohlwollend zu sein, erringen sich die kar­mische Wirkung, daß ihnen in einer späteren Lebensepoche merkwür­dig alle Dinge gelingen, die von ihnen abhängen, die von ihnen beab­sichtigt werden. Das scheint uns manchmal unerklärlich, daß man­chem Menschen alles gelingt, daß er sich dem gewachsen fühlt, was er unternimmt, und daß es einem anderen nicht gelingt, daß ihm alles versagt, was er anfaßt. Das führt zurück auf die karmische Ursache des Wohiwollens oder des Mißwollens. Sie können diese Dinge, die ich Ihnen wie Leitlinien anführe, im Leben beobachten. Wenn Sie die Fehlerquellen ausschließen, die es gibt, so werden Sie sehen, daß Ihnen das Leben das bestätigt, was ich gesagt habe.

Wenn wir jetzt von einer Inkarnation in die andere übergehen, so müssen wir sagen: In einer Inkarnation können sich die karmischen Wirkungen eigentlich nur seelisch zeigen, zeigen sich nur seelisch. Da zeigen sich die Wirkungen des Neides in gewissen Schwächen und in Unselbständigkeit, die Wirkungen der Lügenhaftigkeit in der Scheuheit,

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die Wirkungen von Wohlwollen und Zufriedenheit, so wie ich es Ihnen geschildert habe. Wir haben in der einen Inkarnation eben nicht jene gründlichen, tiefgehenden Einflüsse auf unsere Leibesorgani­sation, daß wir mit den karmischen Wirkungen weiterkommen könn­ten als bis zu einer seelischen Grundlage. In den Leib hinein, in den Auf­bau und die Organisation des Leibes hinein wirken diese Dinge erst in der nächsten Inkarnation. Und während wir uns seelisch zu unselb­ständigen Menschen machen in einer Inkarnation durch Neid und Ta­delsucht, wirken diese den Leib schwach konstituierend, ihn schwach aufbauend in die nächste Inkarnation hinüber. Es wird ein schwacher Leib aufgebaut von einem, der früher vom Neid geplagt war oder von maskiertem Neid, von Tadelsucht, Kritikasterei.

Nun müssen wir aber auch, wenn wir uns ein wenig mit dem befaßt haben, was uns die Geisteswissenschaft sonst zeigt, sagen, daß es doch wahrhaftig nicht zufällig ist, wenn wir in einer neuen Inkarnation mit diesem oder jenem Menschen zusammengeführt werden. Wir werden hineingeführt in die Familie, in die Umgebung, mit der wir etwas zu tun haben. Und so werden Sie es nicht sehr sonderbar finden, wenn ich sage: Wenn einer in einer Inkarnation ein neidischer Mensch war, so wird er mit den Menschen wieder geboren - sei es, daß sie seine Eltern oder andere sind -, die er beneidet hat, die er gerichtet oder verklatscht, die er getadelt hat. Mit denen wird er wieder zusammengeführt. Und wir werden vielleicht dadurch zusammengeführt, daß wir in diese Um­gebung mit einer schwachen Organisation hineingeführt werden. Da wird die Sache sehr praktisch, da wird die Lehre vom Karma an die Lebenspraxis herangerückt. Da können wir sagen, wenn ein Menschen­kind mit einer schwachen Organisation hereingeboren wird: Dies ist die Folge der neidhaften Anlage der früheren Inkarnation, und wir, wir sind diejenigen, welche beneidet worden sind, und es ist dieses Menschenkind karmisch mit uns zusammengeführt worden, weil wir diejenigen sind, hinter denen es mit seinem Neid und seiner Klatsch­sucht daher war. Das ist fruchtbar, wenn wir uns sagen: Wenn Karma überhaupt einen Sinn hat, so ist es berechtigt, die Sache so anzusehen. Also sehen wir sie einmal so an.

Natürlich, fruchtbar wird die Sache erst, wenn wir uns fragen: Was

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sollen wir nun tun gegenüber einem solchen schwachen Menschenkinde? Da brauchen wir uns nur zu fragen: Was erscheint uns denn moralisch als das Beste schon im gewöhnlichen Leben, wenn uns jemand mit sei­nem Neid und seiner Tadelsucht verfolgt? Vielleicht ist es im gewöhn­lichen alltäglichen Leben nicht immer möglich, das Beste auszuführen. Was erscheint uns aber als das Beste? - Nun ganz gewiß erscheint uns das Verzeihen, das Vergeben als das Allerbeste. Man kann sagen:

Unser Leben ist vielleicht nicht so, daß wir immer vergeben können, aber das Beste ist ohne Zweifel das Vergeben, und das Wirksamste und auch das Fruchtbarste im Leben ist das Verzeihen. Können wir vom gewöhnlichen Leben schon sagen: Es ist das Beste, wenn wir es auch nicht immer ausführen können, das Verzeihen, so zeigt sich, daß aber unter allen Umständen die wirkliche Anwendung des Prinzips des Verzeihens dann am richtigen Platz ist, wenn wir als karmische Wirkung aus früheren Inkarnationen das konstatieren müssen, was ich gesagt habe. Wenn ein schwaches Menschenkind in unsere Umge­bung hereingeboren oder mit uns zusammengeführt worden ist, müs­sen wir uns dann sagen: Da Karma nicht bloß eine theoretische Idee bleiben soll, müssen wir uns denken, daß wir die Beneideten, die Ver­klatschten waren. Jetzt können wir unter allen Umständen in unse­rem tiefsten Herzen das Gefühl der Verzeihung, der Vergebung üben. -Wir können sozusagen ein solches Menschenkind wie einhüllen in eine Atmosphäre von immer wieder rege gemachten Verzeihungsgefühlen. Wenn man das täte im Leben, wenn man sich zusammengeführt fühlt mit Menschen, die schwach sind, und würde nicht bloß theoretisch die Idee des Verzeihens fassen, sondern immer erneut in der Seele die Emp­findungen rege machen, ich habe dir etwas zu verzeihen, ich will dir verzeihen, und immer erneuern dieses Gefühl, dann wäre das eine praktische Einführung der anthroposophischen Gesinnung ins Leben. Man würde schon die Wirkung sehen. Man versuche einmal, das prak­tisch durchzuführen, und man wird sehen, daß die Menschen, denen man auf diese Weise verzeiht und das Gefühl des Verzeihens immer erneut, wenn sie schwach in unsere Umgebung hereingeboren werden, dann aufblühen, daß unser Gefühl eine gesundende, aufblühenlassende Wirkung auf sie hat. Und wir können zu Heilern, zu Gesundern der

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Menschen, mit denen uns Karma zusammengeführt hat, dadurch wer­den. So wird Anthroposophie, wenn wir sie nicht bloß als eine Summe von Ideen betrachten, die uns interessieren, fruchtbar. Es ist im Grunde genommen recht egoistisch, wenn wir anfangen, uns für Anthropo­sophie zu begeistern, weil uns die Gedanken der Anthroposophie be­geistern, uns als wahr erscheinen. Denn was befriedigen wir dann? Wir befriedigen das, was unsere Sehnsucht nach einer harmonischen Welt­anschauung ist. Das ist sehr schön. Das Größere ist aber, wenn wir un­ser ganzes Leben durchdringen von dem, was sich aus diesen Ideen er­gibt; wenn die Ideen in die Hände, in jeden Schritt und in alles gehen, was wir erleben und tun. Dann erst wird Anthroposophie ein Lebens-prinzip, und bevor sie das nicht wird, hat sie keinen Wert.

Wir können auch in bezug auf die anderen Eigenschaften in ähn­licher Weise sprechen. Wenn wir zum Beispiel lügenhafte Menschen in einer Inkarnation waren und wiedergeboren werden, dann werden wir gerade mit denjenigen zusammengeführt, denen wir vielleicht den Buckel voll gelogen haben. Gar häufig kann man das finden, wenn man wirklich okkultistischer Untersucher ist, daß ein Menschen­kind in eine Umgebung hereingeboren wird, zu der es nicht ein rich­tiges Verhältnis gewinnen kann, von der es nicht verstanden wird und die es nicht versteht. Es ist manchmal so, daß wir in eigentümlicher Weise auf unsere Umgebung wirken. Ich weiß nicht, ob Sie das schon beobachtet haben, daß das im Grunde genommen noch viel weitere Kreise als nur zum Menschen zieht. Es gibt bestimmte Menschen: wenn sie Blumen aufziehen wollen, so gedeihen diese Blumen, sie haben eine glückliche Hand dafür. Dadurch, daß sie es sind, welche die Blumen aufziehen, gedeihen diese. Andere Menschen können machen, was sie wollen: die Blumen dorren ab. Das gibt es. Es gibt eben viel geheim­nisvollere Beziehungen zwischen den einzelnen Wesenheiten des Da­seins, als man gewöhnlich meint. Diese geheimnisvollen Beziehungen sind natürlich hauptsächlich von Mensch zu Mensch da. Und wenn wir durch das Karma mit einem Menschenkind zusammengeführt wer­den, das uns in der früheren Inkarnation wacker angelogen hat, so ist es so, daß wir sozusagen schwer ein Verhältnis zu diesem Kinde finden. Das sollten wir beachten. Nicht bloß nach unserem Temperament dürfen

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wir das beurteilen, sondern karmisch müssen wir das beurteilen. Wir sollen sagen: Das kommt davon her, daß wir vielleicht von die­sem Menschenkind oft angelogen worden sind. Jetzt können wir wie­derum diesem Menschenkind helfen, es stärken und kräftigen.

Womit vergibt man am besten etwas, was also sich etwa so aus­drücken läßt, ein anderer sagt einem eine Lüge. Man vergibt das am besten, wenn man ihm eine Wahrheit beibringt. Mit dem anderen, daß man die Lüge rektifiziert, tut man schon einiges Gute, hat dadurch aber den Menschen nicht weiter gebracht. Weiter bringt man ihn, wenn man versucht, ihm eine nützliche Wahrheit beizubringen. Man muß eine Art Politik seines Umganges mit dem Menschen befolgen, das bringt den Menschen weiter. Wenn wir genötigt sind, die Sache kar­misch zu betrachten, ist es insbesondere von Vorteil, daß wir Men­schen gegenüber, mit denen wir karmisch zusammengeführt werden, von denen wir wissen, sie finden kein Verhältnis zu uns, weil sie scheu uns gegenüber sind, daß wir uns bemühen, recht wahrhaftig ihnen ge­genüber zu sein. Dann werden wir sehen, wie diese Menschen wiederum aufblühen unter unserer Offenherzigkeit und wie ihnen diese Offen­herzigkeit von großem Vorteil ist. So sehen wir, wie wir Lebensprin­zipien gewinnen können, wenn wir das Wirken des Karna praktisch betrachten.

Was wir vorhin charakterisiert haben als die Wirkung des Wohl­wollens schon in einem einzelnen Leben, das können wir so sehen, daß es wirklich so etwas bewirkt wie Harmonisierung des Lebens, aber see­lisch zunächst. Menschen, bei denen das von einer Inkarnation in die an­dere hinüberwirkt, bei denen finden wir, daß sie tatsächlich mit einer glücklicheren Organisation, die wir «geschickt» nennen können, geboren werden. Wohlwollen, Zufriedenheit in einer Inkarnation, bewirken Ge­schmeidigkeit, Geschicklichkeit in einer anderen Inkarnation. Wahr ist es, daß es so ist, denn das läßt sich auf dem Gebiet der okkulten Forschung immer nachweisen. Und man kann sehr gut sich selbst beobachten und einiges von dem erfahren, wie die frühere Inkarnation in die gegen­wärtige herüberwirkt. Wir können ganz sicher sein, daß es so ist bei Menschen, deren Finger ganz ungeeignet sind, einen Knopf, der ab­reißt, selber anzunähen, oder bei Menschen, die, wenn sie ein Glas in

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den Wandschrank tragen sollen, dieses glücklich zu Boden schmeißen -ich übertreibe jetzt etwas. Aber in feineren Nuancen gibt es sehr zahl­reiche Menschen, die so organisiert sind, daß sie gar nicht anders kön­nen, als ihre Finger nicht in der richtigen Weise zu bewegen, daß sie immer Ungeschicklichkeiten machen. Das hat eine tiefe Bedeutung für das Leben, ob man sein Instrument des Leibes wacker gebrauchen kann oder ob es einem alle Augenblicke sozusagen tückisch Hindernisse bie­tet. Das ist außerordentlich wichtig. Und wenn wir ein ungeschicktes Kind heranwachsen sehen, so müssen wir voraussetzen in den meisten Fällen, daß es ihm in der vorigen Inkarnation an Zufriedenheit und Wohlwollen gefehlt hat. Wenn wir Geschicklichkeit auftauchen sehen, so daß der Mensch, wenn er etwas angreift, die Sache schon förmlich vorher kann, dann ist das ganz sicher die karmische Wirkung von Wohlwollen und Zufriedenheit.

Wenn wir dies so betrachten, dürfen wir sagen: Eigentlich können wir da in wunderbarer Weise von einer Inkarnation in die andere hin­überwirken. Es eröffnet sich uns die Möglichkeit, wirklich schon zu arbeiten an unserer nächsten Inkarnation. Und wir werden vieles än­dern für unsere nächste Inkarnation, wenn wir einmal ernsthaft den Entschluß fassen, zu beobachten, ob wir doch nicht ein klein wenig von Tadelsucht und Kritikasterei in uns haben. Wenn wir versuchen, uns zu prüfen, ob wir das ein klein wenig in uns haben, so finden wir sogar, daß wir es in erheblichem Maße in uns haben. Es ist schon gut, wenn wir versuchen, uns zu prüfen, ob wir es ein klein wenig in uns haben. Dann beginnt die Sache, daß wir an uns arbeiten. Und wir be­wahren uns vielleicht davor, daß wir in der nächsten Inkarnation schwach und bleich geboren werden, bewahren uns in diesem Leben schon davor, daß wir sozusagen unselbständige Menschenkinder werden.

Wenn wir diese Dinge ins Auge fassen, werden wir uns sagen: Es ist keine Phantasterei mehr, die einzelnen Inkarnationen wie Ketten­glieder des Menschen zusammenzufassen und die Erde wirklich als eine Art von Schulung zu betrachten, durch die wir lernen, das, was sich uns in den einzelnen Inkarnationen bietet, so zu gebrauchen, daß wir immer höher und höher kommen, immer weiter und weiter schreiten.

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Denn warum werden wir, im Grunde genommen, inkarniert? Wir können uns am besten einen Begriff davon machen, wenn wir uns fragen nach den zwei großen Verschiedenheiten, nach den großen Unterschieden, die bestehen zwischen unseren Inkarnationen in alter vorchristlicher Zeit und unseren jetzigen Inkarnationen, die verflie­ßen, nachdem der Christus-Impuls da war. Da ist nämlich ein sehr, sehr beträchtlicher Unterschied.

Diesen Unterschied zwischen unseren Inkarnationen in alter vor-christlicher Zeit und unseren jetzigen Inkarnationen könnte man am besten dadurch bezeichnen, daß man sagt: Wenn man zurückblickt auf die Inkarnationen der Menschen der vorchristlichen Zeit, so hatten bis zu einem gewissen Grad die Seelen in dieser vorchristlichen Zeit alle noch irgend etwas von dem behalten, was alle Seelen beim Anfang der Erdeninkarnationen hatten. Es war für alle Seelen ein natürliches Heilsehen da, ein Hineinschauen in die geistige Welt. Und der Fort­schritt der Inkarnationen besteht gerade darin, daß dieses Erbstück aus der geistigen Welt, vom geistigen Ursprung her, nach und nach sich verloren hat, daß die Menschen immer mehr herausgetreten sind auf den physischen Plan, immer mehr ihnen die geistige Welt ge­schwunden ist. Der Christus-Impuls bedeutet, daß, wenn wir die Mög­lichkeit finden, den Christus in uns aufzunehmen, ihn mit unserem Ich zu verbinden, wir wiederum anfangen, immer mehr und mehr aufzu­steigen zu dem, was wir am Anfang waren, nur reicher. Daß wir am Ende der Inkarnationen wiederum im Geistigen so darin sind, wie wir am Anfang unserer Inkarnationen drinnen waren, wird bewirkt durch die Aufnahme der Christus-Kraft, wenn wir unsere nächsten Inkar­nationen so anwenden, daß wir immer mehr von dem Christus aufneh­men. Das sind die großen Unterschiede zwischen den vorchristlichen und nachchristlichen Inkarnationen. Wir sind jetzt eigentlich noch in einer Übergangszeit darin. Wir sind tief herausgedrängt für alles nor­male Menschenerkennen auf dem physischen Plan auf das bloße phy­sische Wahrnehmen, und eigentlich ist heute ein Höhepunkt in bezug auf das physische Wahrnehmen. Denn der Christus-Impuls ist erst am Anfang, und in folgenden Inkarnationen werden die Menschen so recht den Christus aufnehmen, werden erst diese Inkarnationen liebgewinnen,

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weil sie ihnen Gelegenheit geben, zu erfahren, was nur durch das Erdendasein erfahren werden kann: die Aufnahme des Christus-Im­pulses in die Seele. Das können wir selbst bei großen Persönlichkeiten beobachten, wie sozusagen der gewaltige Unterschied da ist zwischen den Inkarnationen vor dem Christus-Impuls auf der Erde und nach­her. Ich möchte Ihnen eine Einzelheit erzählen.

Ich war vor einiger Zeit veranlaßt, einige Tage in unserem süd­lichsten europäischen Zweige zu sprechen - ich meine insofern wir von Rosenkreuzer-Theosophie sprechen -, in Palermo. Und als ich mit dem Schiff von Neapel aus in Sizilien einfahren konnte, hatte ich schon das ganz bestimmte Empfinden, daß es da etwas über okkulte Tatsachen zu lernen gibt, die es schwer ist, bloß im Norden zu untersuchen. Denn es gibt eine Persönlichkeit, eine Individualität, die aufgetreten ist, die ich jetzt nicht nennen kann, die so an der Wende des Mittelalters und der neuen Zeit eine gewisse Rolle gespielt hat, die in unseren und in den benachbarten Gegenden viel von sich reden gemacht hat und bei der sich der Okkultist gerne fragt: Wie stand es denn mit der vorhergehen­den Inkarnation dieser Persönlichkeit? - Das was für mich eine wich­tige Forschungsfrage, und merkwürdigerweise bot sich mir die Hoff­nung, gerade bei dieser Einfahrt in Sizilien vielleicht etwas über diese Frage durch die dort möglichen okkulten Forschungen zu erfahren. Und das war auch sehr bald der Fall. Es ist natürlich etwas Intimes, was damit erzählt wird, aber innerhalb unserer Zweige braucht man jetzt mit diesen intimen Dingen nicht etwa mehr völlig zurückzuhal­ten. Es ist etwas in der ganzen geistigen Atmosphäre von Sizilien -ich sage nicht der äußeren, sondern der geistigen Atmosphäre - ausge­gossen, etwas sehr, sehr Merkwürdiges. Und die Verfolgung dieses Merkwürdigen führte wirklich zuletzt zu seinem Ursprunge, zu einem großen Weisen, der auf Sizilien gewirkt hat, der auch mit ein paar Worten in der Geschichte der Philosophie abgetan wird, den man aber eigentlich äußerlich exoterisch wirklich recht wenig kennt. Es ist Em­pedokles.

Wenn man nun - und das will ich gleich Ihnen gegenüber tun - als Okkultist diesen Empedokles charakterisieren will, dann muß man sa­gen: In gewisser Beziehung war Empedokles seiner Zeit sehr voraus,

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er war für seine Zeit überreif. In anderer Beziehung aber konnte er wiederum nicht über seine Zeit hinaus. Es gab einen tiefen Zwiespalt in seiner Seele. Empedokles ist wirklich eine große, umfassende Per­sönlichkeit. Er wirkte auf Sizilien nicht nur als Philosoph, nicht nur als Mysterienführer, sondern auch als Staatsmann, als Architekt, als alles mögliche - er war eine Art Organisator dieser wunderbare Em­pedokles. Nun lebte Empedokles also etwa vier, fünf Jahrhunderte vor dem Christus-Impuls dazumal in Sizilien, und er war insofern seiner Zeit vorausgerückt, als er den Drang hatte, sich in das Mate­rielle der Welt hineinzuvertiefen. Man hatte sich früher nie bloß so äußerlich in die Materie hinein vertieft wie heute. Wenn man vom Wasser sprach wie etwa Thales, so meinte man etwas Geistiges. Em­pedokles war derjenige, der in gewisser Beziehung doch ein materia­listisches Prinzip vorausnahm, indem er sich alles Sein zusammenstellte aus den vier Elementen, die er aber materiell dachte. Und durch das Mischen und Entmischen dieser Materie dachte er sich die Konstitution der Welt. Das Geistige ging ihm verloren, weil er - gerade als eine okkulte Persönlichkeit, zurückblickend in seinen Inkarnationen - den Christus-Impuls hätte finden müssen; er wäre schon dazu berufen ge­wesen. Wenn wir heute zurückblicken in der Akasha-Chronik, finden wir an ganz bestimmter Stelle den Christus-Impuls; derjenige aber, der vor dem Christus-Impuls gelebt hat, konnte das nicht. Er konnte ihn nicht aufnehmen als einen Erdenimpuls, denn er war noch nicht physisch dagewesen. Das fehlte dem Empedokles, das konnte sich nicht in seine Seele ergießen. Er hatte nicht das Gegengewicht gegen den in ihm aufflammenden Materialismus. Weil er aber doch eine Persön­lichkeit mit starken Impulsen, jedoch mit den Impulsen des Okkul­tisten war, brachte ihn das dazu, diese Disharmonie auszuleben. Das ist es, was sich als Wahrheit herausstellte. Das brachte ihn dazu - so wie man sonst, wenn man die Wahrheit sucht, im Geiste sich mit diesem Geistigen vereinigen will -, eins sein zu wollen mit dem Materiellen der vier Elemente. Und er stürzte sich in den Ätna. Er hat sich wirk­lich hineingestürzt, um eins zu sein mit den Elementen. Materiell hat er nach der Identifizierung mit dem Göttlichen, das ihm im materiellen Bild erschienen ist, gesucht. Und ich möchte sagen: Dieses Verbrennungsprodukt

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des Empedokles in den Feuerfluten des Ätna ist heute noch durchaus in der Atmosphäre Siziliens vorhanden als ein Befruch­tendes, wie die Wirkung eines Opfers. Es ist etwas Großes, Gewalti­ges vorhanden, aber es ist ausgehend von diesem, man möchte sagen, falschen, blasierten, falsch in die Zeit hineingestellten - mißverstehen Sie nicht den Ausdruck «falsch» - Materialismus. Empedokles, der zurückblickend den Christus nicht finden konnte, obwohl er ihn hätte finden müssen, wirft sein Leben von sich. Daher kam es, daß er in einer so merkwürdigen Weise am Beginn der neueren Zeit wiederum auf­lebt und da ganz anders dann lebt. Es ist noch nicht an der Zeit, von der Persönlichkeit zu sprechen, in der er wiedergeboren worden ist.

Da ergibt sich ein wunderbarer Ausblick auf das, was der Christus-Impuls im Verlauf der Entwickelung eigentlich ist. Zwischen der vo­rigen und der späteren Verkörperung des Empedokles steht mitten darinnen das Christus-Ereignis. Und an der Individualität des Empe­dokles kann man sehen, wenn man die zwei Inkarnationen vergleicht, was das bewirkt, ob man als ein Geist, der der neueren Betrachtung angehört, zurückblicken kann und den Christus-Impuls findet, oder ob man ihn nicht findet. Das macht einen gewaltigen Unterschied. So wie die Seelen in uralten Zeiten von Inkarnation zu Inkarnation zu­rückgehen mußten, um zu sehen, wie sie sich in früheren Inkarnationen mit dem göttlich-geistigen Wesen verbündet haben, so müssen wir die Möglichkeit haben, wenn wir von unserer eigenen Inkarnation zurück-gehen und verfolgen die Zeit von unserer Geburt bis zum vorigen Tode und wiederum von diesem bis zur vorherigen Geburt und so weiter -zu finden auf diesem Wege den Christus-Impuls. Den muß insbesondere der Geistesforscher finden. Dieser Christus-Impuls zündet ihm ein Licht an, während er sonst in diesem Moment in Finsternis taucht und alles, was vorhanden war, in Finsternis lag. Wir brauchen den Christus-Impuls gerade auf dem Gebiet der Geistesforschung wie eine Fackel, sonst kommt Finsternis, sonst können wir nicht hellsichtig hineinblik­ken in die wahren Gründe der Akasha-Chronik der alten Zeit. Das kann man an einem solchen Beispiele wie dem des Empedokles in wun­derbarer Weise beobachten. Da bekommt man dann ein Gefühl dafür, wie diese Inkarnationen in unserem Erdendasein aufeinanderfolgen;

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wie sozusagen der Mensch in absteigender Richtung sich bewegt hat bis zum Christus-Impuls, wie er immer weiter und weiter herausgetreten ist auf den physischen Plan, und wie wir wieder dabei sind, nach und nach aufzusteigen in das geistige Gebiet hinauf. Der letzte große Geist des Abstiegs ist der große Buddha, der erste große Impuls für den Aufstieg ist der des Christus Jesus, und man kann vielleicht durch nichts anderes so tief innerlich empfinden den gewaltigen Unterschied zwischen dem Buddha-Prinzip und dem Prinzip des Christus Jesus, als wenn man eines ins Auge faßt, was einmal der große Buddha zu seinen intimeren Schülern gesagt hat, hinblickend auf seine Erleuchtung, die man symbolisch die Erleuchtung unter dem Bodhibaum nennt. Da sagt Buddha: Wenn ich zurückblicke auf frühere Inkarnationen, sehe ich, wie ich ausgegangen bin von göttlich-geistigem Urgrund der Welt, wie ich von Inkarnation zu Inkarnation gegangen bin, immer wohnend mit dem geistigen Wesenskern im äußeren Leibestempel, herunterstei­gend in die physische Welt. Jetzt aber, in dieser Inkarnation, habe ich die Möglichkeit gefunden, nicht mehr zu einer Inkarnation zurück­kehren zu müssen. Von Leibestempel zu Leibestempel bin ich gegangen, in jeder Inkarnation hat mir die Gottheit den Tempel meines Leibes aufgerichtet. Ich fühle aber jetzt, indem ich zum letzten Male in ihm verkörpert bin, wie in diesem Leibestempel die Balken krachen, und daß ich nicht mehr zu einem solchen Tempel zurückzukehren brauche. -Denn das verkündigte er, daß das wahrhafte Streben danach gehen muß, hinaus aus dieser Erdenwirksamkeit zu kommen, nicht mehr einen Zusammenhang zu haben mit diesem Leibestempel, sondern hin­aus aus diesem zur letzten Inkarnation zu streben, um nur im Geistigen weiterzuleben. Das ist der letzte Hinweis gewesen auf den Abstieg des Menschen, auf die Erinnerung, welche die Menschen an die Urweisheit haben können, an das, was im Anfang des Menschengeschlechtes steht.

Oh, es muß uns ergreifen, wenn wir den Buddha stehen sehen, sa­gen d: Von Tempel zu Tempel des Leibes bin ich geschritten; jetzt fühle ich, daß es zum letzten Male ist. Wenn wir das vergleichen - und ab­sehen von allen metaphysischen Hintergründen - mit einem intimen Wort, das Christus zu seinen intimen Schülern gesagt hat, mit dem Wort: «Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn

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wieder aufbauen» -, so sehen wir, daß in dem Buddha die große Sehn­sucht vorhanden war danach, daß die Balken des Leibestempels kra­chen und nicht mehr die Notwendigkeit sei, in ihn zurückzukehren; daß aber in dem Christus das Versprechen war: «Reißet ihn nieder, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen.» Die Liebe zur Er­denwelt drückt sich darin aus, zu den folgenden Inkarnationen der Menschen, in denen diese die Möglichkeit finden, immer wieder und wiederum sich ihren Leibestempel aufzubauen, damit sie immer wie­der lernen können und höhersteigen; damit dann, wenn die Erde an­gelangt sein wird an ihrem Ziel, die Erde selber ein Leichnam wird, sozusagen von der Seelenhaftigkeit der gesamten Menschheit abfällt, so wie unser Leib abfällt von der Seele, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Dann aber sind die Menschen immer höher und hö­her gekommen. Indem die Menschen verchristet sein werden, sind sie fähig, hinüberzuleben zu neuen Daseinsstufen als Gesamtmenschheit. Nicht ist gemeint mit dem Ausspruch Christi, daß er selbst in den physischen Leib zurückkehren will, aber daß er zum Prinzip des Lei­besaufbauens zurückkehren werde, daß er bei dem Erdendasein bleibt bis ans Ende der Erde.

Das versuchte ich zum Ausdruck zu bringen in dem, was ich durch Theodora, die Seherin im Mysteriendrama, ausspreche, wo Sie sehen können, wie der Christus immer mehr und mehr vertraut werden wird dem menschlichen Leben, obwohl er nicht in einen physischen Leib zurückkehrt. Erlebt wird er aber in den physischen Leibestempeln der Menschen. Und in diesem seinem Ausspruch «Reißet diesen Tempel nieder, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen», liegt das Versprechen: Ja, ich will es wahr machen, daß ich einziehen kann in die Seelen der Menschen, damit immer mehr und mehr Menschen kom­men können, die im Sinne des Paulus sagen können: «Nicht ich, son­dern der Christus in mir!»

So sehen wir, wie wir im Kleinen betrachten können Geisteswissen­schaft als Lebensprinzip, indem wir die Möglichkeit gewinnen, schon zwischen Geburt und Tod karmisch wirksam zu sehen gewisse Eigen­schaften unseres Charakters, unserer Seele, und indem wir diese hin­überwirken sehen in die Leibesorganisation der nächsten Inkarnation.

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Und so sehen wir, wie Geisteswissenschaft im großen die hehrsten Ideale vor uns hinstellt und uns sagt, was aus uns werden wird - ver­christete Menschen -, wenn die Erde ein Leichnam werden wird und abfällt vom Seelenhaften des Menschen, wenn der Mensch berufen wer­den wird, fortzuschreiten zu anderen planetarischen Zuständen. Die größten Ideale kann uns die Geisteswissenschaft also geben und in die kleinsten Lebensverhältnisse kann sie hineinfließen. Dadurch wird sie lebenspraktisch, und das kann und soll sie mehr und mehr werden. Wenn wir Anthroposophen in dem Sinn werden, daß all unser Ge­baren - und wenn es auf diesem oder jenem Platze des Lebens steht, der von eigentlich anthroposophischer Betätigung scheinbar so sehr entfernt ist - in allen Einzelheiten von anthroposophischer Gesinnung, von anthroposophischem Sinnen und Denken durchdrungen wird, dann erst ist das gekommen, was man nennen kann Erfüllung unseres Wesens mit der Anthroposophie. Anthroposophie muß nicht als eine Theorie, sie muß zugleich als eine Lebenspraxis betrachtet werden, aber als eine Lebenspraxis, die eben gelernt sein will. Und im Grunde ge­nommen müssen wir uns klar sein, daß wir uns aneifern müssen, durch den wahren konkreten Inhalt der Anthroposophie, wenn sie Lebens-praxis für uns sein soll, nicht sagen zu wollen: Ich verstehe das von der Anthroposophie, und das ist das Richtige -, sondern, daß wir uns erst tief, tief bekanntmachen mit dem, was uns Geisteswissenschaft zu sagen hat. Dann muß sie uns Kraft des Lebens werden. Und das kann sie erst, wenn wir uns mit ihr durchdringen. Dann wird sie es aber im Kleinsten und im Größten, dann eröffnet sich uns die Per­spektive für die Zusammenhänge des Menschenfortschritts und für die kleinsten Tatsachen des Alltagslebens.

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DAS WEIHNACHTSFEST IM WANDEL DER ZEITEN Berlin, 22. Dezember 1910

Wenn wir in dieser Zeit in unseren großen Städten hinausgehen in die Straßen, so finden wir diese Straßen erfüllt mit dem, was unsere Zeit­genossen sich zur Feier des Festes, dem wir entgegengehen, verschaf­fen wollen, zur Feier eines der großen Feste, das im Laufe eines Jahres die Menschheit begehen kann: des Gedenkfestes an den gewaltigsten Impuls in der Entwickelung der Menschheit. Und dennoch, wenn wir uns heute durch das Herz ziehen lassen, was in den nächsten Tagen in einer solchen großen Stadt, wie zum Beispiel dieser, in der wir uns hier befinden, zum Begehen dieses Gedenkfestes geschehen soll, wenn wir uns fragen, ob es dem entspricht, was durch die Seelen und die Her­zen der Menschen ziehen soll, wenn wir uns dabei keinerlei Illusion hingeben, sondern der Wahrheit einfach ins Auge schauen, dann kön­nen wir vielleicht doch nicht anders, als uns gestehen: Wie wenig paßt alles, was wir an Vorbereitungen und vielleicht auch an Halten des Weihnachtsfestes sehen, auf der einen Seite zu alledem, was sonst um uns herum in der modernen Kultur vor sich geht, und wie wenig paßt es auf der anderen Seite zu alledem, was im Grunde genommen doch im tiefsten Herzen des Menschen leben sollte als Erinnerung und als Gedanke an das Größte, was der Menschheit an Impulsen im Laufe ihrer Entwickelung hat werden können.

Es wird vielleicht nicht zuviel gesagt sein, wenn man der Meinung Ausdruck gibt: Es wirkt doch nicht mehr alles so harmonisch auf unser Auge, das sich von Weihnachtsstimmung durchdringen will, das diese Weihnachtsstimmung empfangen will von dem, was es in unserer heu­tigen Umgebung sehen kann, es wirkt doch nicht alles harmonisch, wenn mitten durch die Alleen, in welchen die Weihnachtsbäume oder die sonstigen Vorbereitungen für das Weihnachtsfest aufgestellt sind, unsere Verkehrsmittel hindurchsausen. Und wenn der heutige Mensch die Disharmonie vielleicht nicht mehr voll empfindet, dann ist das aus dem Grunde, weil er sich schon zu sehr abgewöhnt hat, alle die Tiefe,

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die Innigkeit zu empfinden, die gerade mit dem bevorstehenden Feste verbunden sein kann. Was namentlich dem Städter von allem das menschliche Innere Vertiefende des Weihnachtsfestes geblieben ist, das ist doch im Grunde genommen nicht mehr, als ein letzter, die Größe kaum mehr ahnen lassender Nachklang, eine Gewohnheit, in der das Große nicht mehr wahrgenommen werden kann, an das sich im Laufe von Jahrhunderten die Menschheit gewöhnt hatte.

Es wäre ganz verfehlt, wollte man etwa mit pessimistischer Gesin­nung darauf hinblicken, daß die Zeiten andere geworden sind, und daß es in unseren heutigen Großstädten unmöglich ist, jene tiefe In­nigkeit bei diesem Fest zu entwickeln, welche einstmals da war. Es wäre nicht recht, solche pessimistische Stimmung aufkommen zu las­sen, wenn man zu gleicher Zeit, wie es in diesem Kreise sein soll, eine Ahnung davon haben kann, wie die Menschheit an alle Tiefe und Größe jenes Impulses wieder herankommen kann, der gerade bei die­sem Feste empfunden werden sollte. Suchende Seelen haben alle Ver-anlassung, sich in ihrer Seele zu fragen: Was darf uns dieses Christfest bedeuten? - Und sie dürfen sich in ihrem Herzen gestehen: Gerade durch die Geisteswissenschaft wird der ganzen Menschheit wieder etwas gegeben werden, was im vollsten Sinne des Wortes das bringen wird, was jetzt nicht mehr da sein kann und wovon man sich gestehen muß, daß es nicht mehr da sein kann, wenn man sich nicht in Illusionen und Phantastereien wiegen will und das, was vielfach zum bloßen Ge­schenkfest geworden ist, als gleichbedeutend ansehen wollte mit dem, was das Christfest, das Weihnachtsfest durch Jahrhunderte den Men­schen war: ein Fest, aus dessen Begehen den Seelen herausblühte Hoff­nungsfreudigkeit, Hoffnungssicherheit und das Bewußtsein, zu einer geistigen Wesenheit zu gehören, die aus geistigen Höhen herunterge­stiegen ist, sich mit der Erde vereinigt hat, so daß eine jede willige Menschenseele Anteil an ihnen haben kann.

Durch Jahrhunderte hindurch wurde ein Fest begangen, welches in den Seelen das Bewußtsein erweckte, daß die einzelne menschliche Seele eine feste Kraft an der eben charakterisierten geistigen Macht habe, und daß alle die Menschen, die willig sind, sich zusammenfinden können in dem Dienste gegenüber dieser geistigen Macht, sich so in

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diesem Dienste zusammenfinden können, daß sie auch die rechten Wege finden auf der Erde, um sich als Menschen so viel als nur mög­lich sein zu können, um als Menschen auf der Erde sich so viel als nur möglich lieben zu können.

Wenn man, wie es angemessen erscheinen kann, einmal auf seine Seele den Vergleich wirken lassen will, zwischen dem, was das Weih­nachtsfest durch Jahrhunderte hindurch gewesen ist, und dem, was es wieder werden soll, dann kann es gut sein, auf der einen Seite einmal die Stimmung, welche heute durch die Kulturforderungen der Gegen­wart in Kreisen herrscht, die uns umgeben, zu vergleichen mit dem, was das Weihnachtsfest einstmals war, und auf der anderen Seite mit dem, was in den Seelen wie eine gewissermaßen zeitlos gewordene Erneuerung dieses Fest gerade durch die Geisteswissenschaft wieder werden kann.

So recht in seiner Tiefe das zu würdigen, was mit unseren großen jahresfestlichkeiten zusammenhängt, das ist dem Stadtmenschen der Gegenwart kaum noch völlig möglich. Kaum möglich ist es, jenen Zauber zu empfinden, der wie eine geistige Luft durch die Seelen, durch die Gemüter derer ging, die da glaubten, bei den großen fest­lichen Veranstaltungen um Weihnachten oder um Ostern, den Christus in ihren Herzen zu tragen. Diesen Zauber zu empfinden, der wie eine geistige Luft die Menschheit in diesen Zeiten durchwehte, ist heute insbesondere dem Städter schon recht, recht schwierig geworden. Den­jenigen, die noch Gelegenheit gehabt haben, wenn auch nur ein we­niges zu sehen von diesem Zauberwind, der durch die Seelen und die Gemüter in solchen Zeiten hat ziehen können, wird dies ganz gewiß eine wunderbare, eine herrliche Erinnerung sein. Mir selbst war als Kind nur noch möglich, die letzten Reste von dem zu schauen, was in den Dörfern deutscher Gegenden als solcher Zauberwind durch die Seelen, durch die Gemüter ziehen konnte, zu sehen, wie bei alt und jung, wenn die Weihnachtszeit herannahte, im tiefsten inneren See­lenleben wirklich etwas entstand, was sich unterschied von den Emp­findungen und Gefühlen, die sonst das Jahr über vorhanden waren. Man konnte so etwas noch vor wenigen Jahrzehnten, wenn Weih­nachten herannahte, in Bauerndörfern gar wohl empfinden, wie da

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die Seelen auf natürliche Art sich innerlich schmückten und wirk­lichso etwas empfanden wie: Hinuntergegangen ist während des Herb­stes in tiefstes nächtliches Dunkel das physische Sonnenlicht, ver­mehrt hat sich die äußere physische Finsternis. Lang sind die Nächte, kurz sind die Tage geworden. Wir müssen viel in unseren Stuben sitzen. Während wir sonst in den entgegengesetzten Jahreszeiten hinausziehen auf die Felder und das Goldige der Sonnenstrahlen des Morgens uns entgegenschreiten fühlen, die wärmende Sonne fühlen und unsere Hände regen können in den langen Tagen des Sommers, müssen wir jetzt viel in der Stube sitzen, müssen viel, viel Finsternis um uns herum wissen, müssen gar oftmals hinausschauen durch die Fenster, wie die Erde bedeckt wird mit ihrem Winterkleid.

Es ist nicht möglich, alles, was Schönes, was Wunderbares an Seelen­stimmungen in den einfachsten Bauernhütten während der Sonntag-nachmittage und -abende erwachte, wenn die Weihnachtszeit heran-rückte, ausführlich zu schildern, denn man müßte intime Seelenstim­mungen schildern. Man müßte schildern, wie so mancher, der sein gut Teil gerauft und verschiedenen Unfug getrieben während des übrigen Teiles des Jahres, sich durch das Erfülltsein mit dem Gedanken: Die Christzeit naht - wie selbstverständlich in seiner Seele gebändigt fühlte. Er fühlte: Die Zeit selber wird zu heilig, als daß Unfug getrie­ben werden darf in dieser Zeit.

Das ist nur ein kleiner Hinblick auf das, was vor Jahrhunderten in dem ausgedehntesten Maße vorhanden war, was man vor Jahrzehnten als einen letzten Rest noch in den Dörfern sehen konnte. Da konnte man sehen, als die Weihnachts-Familienfeier sich bereits in die Häuser zurückgezogen hatte, wie in den Häusern höchstens eine Nachahmung der kleinen Krippe des Stalles zu Bethlehem aufgestellt worden war, und wie die Kinder sich über all das freuten, was damit verbunden war, wenn sie sahen den Joseph und die Maria, die Hirten davor, die Engel darüber, manchmal in recht primitiver Weise nachgeahmt. Und eine solche Nachahmung der Krippe fand sich fast in jedem Hause ge­wisser Dörfer.

Mehr oder weniger war das, was sich da in die Häuser zurückgezo­gen hatte, schon der letzte Nachklang von etwas anderem, das wir

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nachher noch berühren wollen. Dann aber konnte man noch vor einigen Jahrzehnten sehen, wenn die Hauptweihnachtstage, der 25., 26. De­zember vorüber waren und das Fest der Heiligen Drei Könige heran­nahte, wie dann durch die Dörfer Gruppen von Darstellern zogen, letzte Darsteller der Heiligen Geschichte. Die eigentlichen Weihnacht­spiele waren schon recht selten geworden, aber einen letzten Nachklang des Heiligen-Drei-Könige-Spieles konnte man noch vielfach sehen, vielleicht auch heute noch in verlorenen Dörfern. Da waren, in ver­schiedener Art merkwürdig angezogen, mit papierenen Kronen und mit einem Stern auf dem Kopf, die Heiligen Drei Könige, die durch das Dorf zogen und mit einigen primitiven Stimmen, und selten humor­los, sondern heilig und humorvoll zugleich, alles wachriefen, was die Seelen fühlen sollten in Anlehnung an das, was in der Bibel steht über den großen Christus-Impuls der Menschheitsentwickelung.

Das ist das Wesentliche, daß gerade zu dieser Weihnachtszeit und in den Tagen und Wochen, die um sie herum waren, die Stimmung es war, in welche die Herzen ergossen waren und in welcher sie alles aufzunehmen vermochten, was ihnen in einfacher Weise, in unmittel­barer Darstellung vor die Seele gebracht wurde, an welcher das ganze Dorf teilnahm. Solche grotesk-komödienhaften Veranstaltungen von heiligen Szenen, wie sie in der modernen Zeit üblich geworden sind in Nachahmung der Oberammergauer Passionsspiele, wären damals un­begreiflich gewesen, damals, als noch die Erinnerung und der Gedanke an die großen Zeiten der Menschheit lebendig waren. Denn unmöglich hätte man zu einer anderen Zeit die Ereignisse der heiligen Weihnacht und der Drei Könige empfinden wollen als eben in diesen Tagen des Jahres, unmöglich die Passionsgeschichte zu einer anderen Zeit als zu Ostern. Man fühlte sich einig mit dem, was aus den Sternen, was aus den Wochen, was aus der Jahreszeit sprach, was aus Schnee und Son­nenschein sprach, und man ließ sich erzählen von dem, was man füh­len wollte und sollte, durch die zuletzt einfach mit einem weißen Kit­tel nur noch angetanen, mit einer papierenen Krone auf dem Kopf herumgehenden «Stemsinger», von denen einer einen Stern trug, der an einer Schere befestigt war, so daß er in der Lage war, diesen Stern weit wegzutreiben. Da schritten sie durch die Dörfer, blieben vor den

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Häusern stehen und brachten ihre einfachen Dinge dar. Und alles, worauf es ankam, war, daß man gerade in dieser Zeit und gerade mit so gestimmten Herzen dasjenige aufzunehmen vermochte, was eben in dieser Zeit in die Seelen der Menschen hineindringen sollte.

Es ist mir selber das, was ich noch manches Mal in den Dörfern hörte, immerhin eine schöne Erinnerung, wie solche einfachen Dich­tungen von den «Sternsingern», die durch die Dörfer zogen, gespro­chen worden sind, wie zum Beispiel die folgende:

Oberschützener Sternsinger

In Gottes namen do fangen wirs an die heiligen könig aus morgenland,

Sie reiten do her in aller eil in dreizehn tagen vierhundert meil.

Sie reiten bei Herodis haus (Herodes schaut zum fenster heraus.)

Herodes sprach: wo wollet ir hin?

Nach Betlahem steht unser sin.

Ir heiling drei könig kerend ein bei mir, ich wil euch gebn vil wein und bier.

Ich wil euch gebn wilbrat und fisch, zeigts mir den neugeborn könig für gewis.

Fürwar könn wir s nicht sagen,

wir müßn ,en stern wider weider [um] tragen. Der stern [der stern] er leucht wol über das haus,

[die heiligen] si gehn wol über den berg hinaus.

Da fanden sie unsern herrn Jesu Christ der aller weIte heiland ist. - -

Warum ist dann der hinder so schwarz? - -der ist ein könig aus Morenland. -

Solche Dinge waren so, daß das ganze Dorf daran teilnahm. Bei einer entsprechenden Zeile wurde dann zum Beispiel der Stern weit vorge-trieben. Es war dieser Weihnachts- oder Drei-Könige-Stern der Ausdruck

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für das Zusammenstimmen von Jahreszeit, Festeszeit und Men­schenherzen. Das ist das Große gewesen, was sich durch Jahrhunderte hindurch über ein weites Gebiet unserer ganzen Erde wie ein Zauber­hauch in die einfachsten Gemüter hinein ausgebreitet hat. Das müssen wir uns ein klein wenig vor die Seele rufen, und wir können es uns auch gerade als Sucher nach geistiger Erkenntnis vor die Seele rufen, weil wir durch die Jahre her, wo wir dieses große Ereignis haben be­trachten können, wieder ein Gefühl dafür erhalten konnten, welch eine reale Macht für alle Menschen und für die ganze Erdenentwickelung in dem gegeben ist, woran zu dieser Festeszeit gedacht werden soll.

So dürfen wir glauben, einiges Verständnis dafür zu gewinnen, wie in solchen früheren Zeiten die ganze Weihnachtszeit, namentlich bei den Völkern der verschiedenen deutschen und westeuropäischen Ge­genden, eigentlich getaucht war in festliches Begehen, und wie mit den einfachsten Mitteln ein solches festliches Begehen erreicht werden konnte. Aber vielleicht kann heute nur noch der geistig Suchende ver­stehen, was das Wesentliche der alten Weihnachtspiele war. Was ich Ihnen jetzt eben als den Sterngesang vor Augen geführt habe, ist nur eine letzte Ruine, ein letzter Rest. Wenn wir durch die Jahrhunderte zurückgehen, so würden wir finden, wie über weite Gegenden hin, wenn diese Zeit herannahte, Weihnachtspiele gespielt worden sind, wo die ganzen Dörfer teilgenommen haben an dem, was dargestellt wor­den ist. Da dürfen wir wohl sagen: In bezug auf diese Dinge, in bezug auf die Kenntnis der Weihnachtspiele sind wir eigentlich nur noch in der Lage gewesen, Sammler dessen zu sein, was eben untergeht. - Ich selber, der ich noch das Glück hatte, zu einem alten Freunde einen solchen Sammler zu haben, hörte aus dessen Munde noch so manches erzählen über das, was ihm als einem gelehrten Sammler der Weih­nachtspiele entgegengetreten ist, namentlich in deutsch-ungarischen Gegenden.

In jenen deutschen Sprachinseln Ungarns, in denen vor der Zeit der Magyarisierung in den fünfziger, sechziger Jahren des vorigen Jahr­hunderts die deutsche Muttersprache, die deutsche Umgangssprache sich erhalten hatte, entfaltete sich noch so manches an Weihnacht-spielen und Weihnachtsgebräuchen, was in den Hauptgegenden, im

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deutschen Mutterlande, längst hinuntergesunken war In den Strom der Vergessenheit. Die einzelnen Kolonisten, die im Laufe der vor­herigen Jahrhunderte in die slawischen Gegenden eingewandert wa­ren, bewahrten ihre alten Weihnachtspiele und erneuerten sie, wenn sich die richtigen Menschen fanden, die immer aus den Dorfleuten genommen wurden, um diese Weihnachtspiele darzustellen. Ich er­innere mich wohl noch - und Sie werden mir vielleicht doch zuge­stehen, solches beurteilen zu können -, mit welchem Enthusiasmus der alte Schröer über solche Weihnachtspiele sprach, wenn er davon er­zählte, wie er dabeigewesen ist, wenn die Leute ihre Weihnachtspiele zu dieser Festeszeit gefeiert haben. Man bekommt sozusagen - das ist nicht zuviel gesagt - erst einen Begriff von dem innersten Wesen des Künstlerischen, wenn man zu diesen Dorfleuten geht und sieht, wie sie die einfache Kunst des Weihnachtspieles herausgeboren haben aus der heiligsten Stimmung. Die Menschen, welche heute glauben, von diesem oder jenem Lehrer deklamieren lernen zu können, die heute da­oder dorthin laufen, um diese oder jene Atemübungen zu machen, welche die rechten sind - es gibt ja heute viele Dutzende der rechten Methoden der Atmung für Gesang oder Deklamation -, diese Men­schen glauben, es käme darauf an, den Menschenleib oder den Kehl­kopf zum rechten Automaten zu machen, um in materialistischer Weise irgendeine Kunst zu pflegen. Ich möchte nur, daß diese kuriose Ansicht niemals in unseren Kreisen wirklich Wurzel fassen kann, denn diese Menschen haben keinen Begriff, wie aus heiligster Stimmung, aus Gebetes-Weihnachtsstimmung heraus eine einfache, aber eine wirk­liche Kunst geboren worden ist, dargestellt worden ist mit tiefster Christenstimmung in der Seele und in der Brust von Dorfbuben, von denen oft während des Jahres recht lose und nichtsnutzige Streiche ausgeführt wurden. Denn diese einfachen Leute unter ihren Stroh-dächern haben unendlich viel mehr gewußt von dem Zusammenhange von Menschenseele, vom ganzen Menschen und von Kunst, als man heute in unseren modernen Theatern oder sonstigem Kunstwesen weiß, und wenn noch soviel Aufhebens davon gemacht wird: daß Kunst etwas ist, was aus dem ganzen Menschen, und, wenn sie heilige Kunst ist, aus der heiligen, frommen Stimmung des Menschen hervorgehen muß.

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Das kann Ihnen zum Beispiel hervorgehen aus den vier Haupt­bestimmungen, wie sie in Gegenden bestanden, die Schröer noch be­suchen konnte.

Wenn Weihnachtspiele aufgeführt wurden in Gegenden Ober-ungarns, da sammelte, wenn der Oktober oder November herannahte, der, welcher die früher nie aufgeschrieben überlieferten Weihnacht-spiele hatte - denn das Aufschreiben wurde als eine Profanierung an­gesehen -, diejenigen Menschen, die er für geeignet hielt. Und geeignet waren in dieser Weihnachtszeit wirklich Menschen, von denen man es vielleicht sonst nicht vorausgesetzt hatte: lose, nichtsnutzige Buben, die schon ihr gut Teil an allem möglichen Allotria während des Jahres getrieben hatten. Während dieser Zeit aber senkte sich in diese Seelen die nötige Stimmung. Es waren strenge Vorschriften für die Teilneh­mer der Weihnachtspiele während der wochenlangen Probenzeit. Ein jeder, der mitwirken wollte, hatte die vier folgenden Regeln strenge zu beachten. Dazu muß man sich natürlich in das Dorfleben versetzen und bedenken, was es im Dorfleben bedeutet, bei einer solchen Sache nicht mittun dürfen.

«Ein jeder, der mitspielen will, darf 1. nicht zu ,n Diernen gehn, 2. keine Schelmliedel singen die ganze heilige Zeit über, 3. muß er ein ehrsames Leben führen, 4. muß er mir folgen. Für alles ist eine Geld­strafe, auch für jeden Gedächtnisfehler und dergleichen im Spiel.»

Klingt Ihnen nicht in dieser Gepflogenheit etwas nach von jenem Bewußtsein, das da war an heiligen Stätten in den alten Mysterien, wo man auch nicht gedacht hat, daß man zur Weisheit kommen kann durch eine gewöhnliche Schulung? So herrschte auch hier das Bewußt-sein, daß der ganze Mensch mit seinem Gemüt und seiner Moral geläu­tert und gereinigt sein muß, wenn er in würdiger Weise an die Kunst herankommen will. Aus dem ganzen Menschen heraus sollten solche Dinge geboren sein. Und die Weihnachtsstimmung brachte so etwas zustande, daß Frommheit in den losesten Buben sein konnte.

Was ich Ihnen eben angeführt habe, was Schröer und andere noch an Weihnachtspielen sammeln konnten, die wie letzte Reste von alten Spielen gespielt worden sind, sind nur noch Ruinen. Wir schauen aber dabei zurück auf noch frühere Zeiten, auf Zeiten des 16., 15., 14.

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Jahrhunderts und so weiter, wo noch ganz andere Verhältnisse waren zwischen Dörfern und Städten, wo in der Tat die Seelen der Dorf­bewohner zu dieser Christfestzeit in eine ganz andere Stimmung ein-tauchten durch das, was ihnen durch die Spiele gegeben werden konnte, wo mit den einfachsten, primitivsten Mitteln die heilige Legende dar­gestellt wurde, die Geburt des Christus, mit allem, was biblisch dazu­gehört. Und wie dem Weihnachtstag, dem 25. Dezember, im Kalender vorangeht der Adam- und Eva-Tag, so ging gewöhnlich dem Spiel, das als das eigentliche Weihnachtspiel galt, voran das sogenannte Pa­radeisspiel, das Spiel von Adam und Eva im Paradies, wie sie dem Teufel, der Schlange, zum Opfer gefallen sind. Man hatte in den ein­fachsten Gegenden unmittelbar Einblick gewinnen können in den Zu­sammenhang, der besteht zwischen dem Hinunterstieg des Menschen aus geistigen Höhen in die Sphäre des physischen Planes, und jenem Ruck, den der Mensch empfangen hat durch den Christus-Impuls, wieder hinauf in die geistigen Welten.

Wenn der Mensch die Paulusbriefe liest, das Grandiose der Pauli­nischen Auffassung verspürt von dem Menschen, der in Adam her­untergestiegen ist von der geistigen Welt in die sinnliche, und von dem «neuen Adam», dem Christus, in dem der Mensch wieder hinauf-steigt von der Sinneswelt in die geistige, wenn der Mensch an Paulus das in grandioser Art empfinden und fühlen kann - in inniger, liebe-voller, gemütvoller Weise konnten es die einfachsten Menschen, bis hinunter zu den Kindern, in der Tiefe ihres Herzens, in der Tiefe ihrer Seele empfinden, wenn ihnen in der Zeit nacheinander vorgeführt wurde das Paradeisspiel von Adam und Eva, vom Sündenfall der Menschen und von der Offenbarung des Christus in dem Weihnacht-spiel. Und tief, tief hatte man empfunden den gewaltigen Einschnitt, der gemacht worden war in der Menschheitsentwickelung durch das Christus-Ereignis. Eine Umkehrung des Entwickelungsweges, so wurde das Christus-Ereignis empfunden. Ein Weg vom Himmel sozusagen auf die Erde war der Weg von Adam bis zum Christus hin. Ein Weg von der Erde bis zum Himmel ist der Weg von Christus bis zum Ende der Erdenzeit. Das hat man in innigster Art empfunden, wenn diese zwei hier ein wenig charakterisierten Spiele in primitiver Art vor die

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Augen von Tausenden und aber Tausenden von Menschen getreten sind. Denn man hat wirklich die völlige Erneuerung dessen empfun­den, was der menschliche Geist ist, durch den Christus-Impuls.

Man kann darin vielleicht auch noch etwas wie einen Nachkiang dessen fühlen, was man empfand in bezug auf diese Umkehrung des ganzen Menschheitsfortschrittes in jenen Worten, die aus alten, alten Zeiten, aus den ersten christlichen Jahrhunderten stammen, und die oft und oft gesprochen worden sind, auch noch im 8., 9., 10. Jahrhundert in Gegenden, in denen sich, namentlich innerhalb Europas, das Chri­stentum ausgebreitet hat. Da fühlte man etwas Ungeheures bei Wor­ten, wie die folgenden sind:

Ave maris stella

Dei mater alma

Atque semper virgo

Felix coeli porta.

Sumens illud Ave

Gabrielis ore

Funda nos in pace

Mutans nomen Evae!

Man fühlte, wenn diese Worte gesprochen wurden, den Weg des Men­schen vom Himmel zur Erde durch den Sündenfall und den Auf­stieg des Menschen durch den Christus von der Erde zum Himmel, und man fühlte ihn an den beiden Frauengestalten, an «Eva» und an dem Namen, den man der Jesus-Mutter beilegte, mit dem man sie so­zusagen begrüßte, «Ave». Ave ist die Umkehrung des Namens Eva, wenn man Ave zurückliest, erhält man Eva. Das wurde in seiner gan­zen vollen Bedeutung empfunden. Daher diese Worte, die zu gleicher Zeit zeigen, was man empfand innerhalb der elementarsten Naturer­scheinungen, und zugleich das, was man Menschliches in der Legende sah:

Ave, Stern des Meeres,

Göttlich junge Mutter

Und ewige Jungfrau,

Du glückliche Pforte des Himmels.

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Nehmend jenes Ave

Als eine Gabe Gabriels,

Wurdest du uns die Grundlage zum Frieden,

Indem du umwendetest

Den Namen Eva!

In solchen einfachen Worten wurden die größten Mysterien, die größ­ten Geheimnisse der Menschheitsentwickelung empfunden. Und in der Umkehrung des Namens Eva zu Ave empfand ein jeder das in inniger Art, was man in grandioser Weise den Paulusbriefen dann entnehmen kann, wenn man die Stellen liest von Adam, dem «alten» Adam, und von Christus, dem «neuen» Adam. Diese Stimmung war dann da, wenn in den Tagen des Christfestes nacheinander gespielt wurden in primitiver Art das Paradeisspiel, das den Sündenfall dar­stellte, und das Weihnachtspiel, das darstellte die Hoffnung, die jeg­licher Menschenseele für die Zukunft werden kann, wenn sie jene Kraft, die im Christus-Impuls liegt, aufnimmt. Aber es gehört, um das fühlen zu können, eine Gemutsstimmung dazu, von der wir uns nur klarmachen sollen, daß sie heute in dieser Art nicht mehr da sein kann. Die Zeiten sind andere geworden. Eine solche Unmöglichkeit, hinzu-schauen zu den geistigen Welten, wie sie heute für die primitivste und für die intelligenteste Bevölkerung besteht, ein solches grundmateria­listisches Element im Menschengemüt gab es allerdings dazumal nicht. Die geistige Welt vorauszusetzen, war eine Selbstverständlichkeit. Und ein gewisses Verständnis für diese geistige Welt in ihrem Unterschiede von der Sinneswelt war ebenso eine Selbstverständlichkeit. Die Men­schen machen sich heute wenig einen Begriff, wie man spirituell füh­len konnte bis ins 15., 16. Jahrhundert herein, und wie im Grunde ge­nommen überall ein Bewußtsein von Spiritualität vorhanden war.

Wenn die Wiederholung eines der Weihnachtspiele, eines oberpfäl-zischen Weihnachtspieles, die in unseren beiden Kunstzimmern veran­staltet werden soll, gelingt, dann kann vielleicht auch außerhalb un­serer Kreise wieder ein Verständnis dafür erweckt werden, was an spiritueller Stimmung darinnen ist. Für uns sollte diese oder jene Zeile gerade eines solchen Weihnachtspieles zum Erkennungszeichen werden

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für den spirituellen Sinn, der bei denen vorhanden war, die zur Festes­zeit dieses Weihnachtspiel verstehen sollten. Wenn zum Beispiel in diesem oder jenem Weihnachtspiel die Maria, erwartend das Jesus­kind, sagt: Die Zeit ist gekommen, ich sehe ein Kindelein - das heißt, hellseherisch erblickte sie in den Tagen, die der Geburt vorangehen, visionär das herannahende Kind, wie es in vielen Weihnachtspielen ist -, dann frage ich einmal, wo Sie heute bei derselben Gelegenheit eine ähnliche Erzählung finden können? Die Zeiten des Zusammen­hanges mit der spirituellen Welt, wie er damals noch bewußt vor­handen war, sind nicht mehr vorhanden. Darüber darf man sich weder einer optimistischen noch einer pessimistischen Gesinnung hingeben. Man muß heute schon sehr weit hinausgehen in die primitivsten länd­lichen Gegenden, wenn man die Vision finden will, welche die des Kindes ist, das in ein paar Tagen kommen soll. So etwas gibt es noch.

Nur in eine solche Stimmung konnte natürlich dasjenige eingetaucht werden, was in diesen primitiven Erinnerungen und Gedanken an das größte Ereignis der Menschheitsentwickelung der Weihnachtszeit ent­gegengebracht wurde. Daher müssen wir es ganz begreiflich finden, daß anstelle jener früheren Poesie, jener einfachen, primitiven Kunst, die heutige Prosa der elektrischen Eisenbahnen und des Automohils getreten ist, die in so grotesker Weise zwischen den Alleen von Weih­nachtsbäumen dahinsausen. Unmöglich für ein ästhetisch empfinden-des Auge, die zwei Dinge zusammenzusehen: Weihnachtsbäume, Weih­nachtsmärkte - und Automobile und elektrische Eisenbahnen dazwi­schen durchfahrend! Das Unmögliche ist natürlich heute eine Selbst-verständlichkeit, aber für das ästhetisch empfindende Auge bleibt es dennoch ein Unmögliches. Trotzdem wollen wir Freunde, nicht Feinde der Kultur sein und verstehen, daß es eine Selbstverständlichkeit sein muß.

Wir wollen aber auch verstehen, wie es zusammenhängt mit dem materialistischen Zug, der durch alle Gemüter, nicht bloß der Städter, sondern auch der ländlichen Bevölkerung gegangen ist. Oh, wir kön­nen sie belauschen, die materialistische Stimmung, wie sie sich heran-macht an die Gemüter der Menschen. Gehen Sie ins 14., 13. Jahrhun­dert, da finden Sie, daß die Menschen vollständig wissen, daß sie etwas

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Spirituelles meinen, wenn sie zum Beispiel vom Baum der Erkenntnis im Paradiese reden. Sie wissen in der rechten Weise, was ihnen dar­gestellt wird in dem Paradeisspiel, wissen es spirituell zu beziehen auf das Richtige, was als der Baum der Erkenntnis oder als der Baum des Lebens dargestellt wird. Denn der Aberglaube war in jenen Zeiten noch keineswegs so verbreitet, wie er dann später im 15., 16., 17. Jahr-hundert sich ausgebreitet hat. Dagegen finden wir schon im 15. Jahr­hundert, zum Beispiel in der Gegend von Bamberg - das ist historisch nachzuweisen -, wie die Leute in der Weihnacht hinausgehen in die Apfelgärten, weil sie physisch, materiell erwarten, daß ein besonders ausersehener Apfelbaum in der Weihnacht blühen werde. Materia­listisch ist das ganze Gemütsieben der Menschen geworden in der Epoche, die vom 13., 14. Jahrhundert angefangen über das 16., 17. Jahrhundert hinaufgeht, und nicht bloß in den Städten, sondern auch in den Seelen derjenigen, die einfache Dorfbewohner waren.

Es hat sich noch vieles von dem, was die alte Poesie war, in die Häuser mit ihrem Weihnachtsbaum hineingeschlichen. Aber es ist schon das, was in heiligster Stimmung die Dörfer wie ein Mysterium durch-wehte, zu einer bloßen äußeren Poesie geworden, zur Poesie des Weih­nachtsbaumes, die zwar noch immer schön ist, aber doch nur ein Nachklang eines Großen ist. Warum ist das so? Weil die Menschheit im Laufe der Zeiten eine Entwickelung durchmachen muß, weil das, was das Innige, das Große und Bedeutsame in einer Zeit ist, in der­selben Art nicht für alle Zeiten bleiben kann. Denn der wäre ein Feind der Entwickelung der Menschheit, welcher das, was für eine Zeit groß ist, hinüberschleppen wollte in andere Zeiten. Eine jede Zeit hat ihre besonderen Aufgaben, und in einer jeden Zeit muß man verstehen, das, was in die Seelen und Herzen der Menschen dringen soll, in einer neuen Weise zu beleben. Unsere Zeit kann sich ganz gewiß in jene wirklichen Weihnachtsstimmungen, die wir andeutend schildern konnten, nur ver-senken wie in eine historische Erinnerung, wie in ein Stück Vergan­genheit. Wenn wir aber doch das Symbol des Weihnachtsbaumes auch in unsere festlichen Versammlungen hereinholen, so tun wir es gerade aus dem Grunde, weil wir mit der anthroposophischen Geisteswissen­schaft selber verbinden den Gedanken an eine neue Weihnachtsstimmung

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der Menschheit, der fortgeschrittenen Menschheit. Denn die Gei­steswissenschaft soll die Geheimnisse des Christus in einer solchen Weise in die Herzen und Seelen der Menschen senken, wie es unserer Zeit angemessen ist. Trotzdem unsere heutigen Verkehrsmittel an uns vor­beisausen, wenn wir vor unsere Türen hinaustreten, oder vielleicht sogar mit uns in die Lüfte davonfliegen werden - bald werden diese Dinge noch ganz anders die Menschheit zur nüchternsten, zur fürch­terlichsten Prosa bringen -, trotzdem müssen die Menschen der heu­tigen Zeit Gelegenheit haben, gerade in einer uni so stärkeren, in einer um so bedeutungsvolleren Vertiefung ihrer Seele das Göttlich-Geistige wiederzufinden, das in einer so einfachen Weise für die primitiven Gemüter abgelebter Jahrhunderte vor die Augen treten konnte, wenn sie das heilige Kindlein in der Krippe zur Weihnachtszeit sahen. Wir brauchen heute andere Mittel, um diese Stimmung in der Seele wachzu­rufen. Wir versenken uns gewiß gern in das, was die Vorzeiten gehabt haben, um die Wege zum Christus-Ereignis zu finden, aber wir müs­sen auch unabhängig sein von der Zeit. Wie sich die Menschen der Vorzeit in die Naturgeheimnisse ganz hineingefühlt haben, so war es nur in einer primitiven Zeit möglich. Wir brauchen heute andere Mittel.

Ich möchte Ihnen nur noch einen Begriff davon geben, wie sich die Menschen in die Natur hineingefühlt haben, wenn das Weihnachtsfest herangetreten ist, sich hineingefühlt haben in einer ganz primitiven Weise und dennoch vollsaftig in ihrem Gemüt aus dem Fühlen der Naturelemente gesprochen haben. Sie werden vielleicht, wenn ich Ihnen einen anderen kleinen Sterngesang mitteilen darf, es so recht nur an einer einzigen Stelle fühlen, wie aus der Seele die Elemente der Natur sprachen. Das übrige ist ziemlich primitiv. Hören Sie jedoch genauer zu, dann werden Sie jene Naturstimmung aus noch mehrerem herausfühlen.

Wenn nämlich der, welcher seine Spieler für das Weihnachtspiel oder Drei-Könige-Spiel zu sammeln hatte, mit ihnen ging, und wenn sie da oder dort auftraten, dann begrüßten sie zuerst diejenigen, welche sich versammelt hatten, denn jene abstrakte Stimmung, wie sie heute herrscht zwischen Darstellern und Zuschauern, gab es früher nicht.

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Die Menschen gehörten zusammen, und es war das Ganze eingetaucht in ein gemeinsames Milieu. Daher traten die Spieler so auf, daß sie die, welche da waren, und auch die, welche nicht da waren, in primi­tiver Weise begrüßten. Das gab wirklich Weihnachtsstimmung.

Der Sternsinger spricht:

Ir liabn meini singa samlet eng zsam

Gleiwia die krapfen in der pfann.

Ir liabn meini singa trets zsam in a scheibn,

Ma wölln uns de wail mit singa vertreibn.

Ir liabn meini singa fangts tapfer an.

Zu grüaß'n wölln ma's heben an.

Grüaß'n ma God Voda im hechsten thron

Und grüaß'n ma a sein einiga Son;

Grüaß'n ma a dazua den haligen Geist mit nama

Und grüaß'n ma's alli drei zsamma.

Joseph und Maria gehen auf die Bühne.

Grüaß'n ma Joseph und Maria rein,

Und grüaß'n ma das kloane kindalein.

Grüaß'n ma a ochs und esulein,

Wölche stehn bei dem krippalein.

Grüaß'n ma sie durch sunn und mondenschein,

Der leucht't übers meer und über den Rhein.

Grüaß'n ma sie durch laub und gras,

Der halige regen macht uns und eng alli naß.

Grüaß'n ma den kaiser mit der kron,

Grüaß'n ma den master, der's machen kan.

Grüaß'n ma a dö geistlinga herrn,

Wail's uns erlaubt hobn, des g'spül z'lern.

Grüaß'n ma den herrn richter mit seiner beschwörd,

Denn sie san der eren wert.

Und grüaß'n ma die ganzi ersame gmoan,

Alli, wie sie hier vasammelt san.

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Grüaß'n ma den ganzen ersamen rat,

Wia sie God dazua verurdnet hat.

Grüaß'n ma sie durch alli würzalein,

So vül als in der erden sein.

Ir liabn meini singa, fangt's anders an,

Den stern zu grüaß'n wölln ma's heben an.

Grüaß'n ma unser sternstanga,

Daran unser stern tuat hanga.

Grüaß'n ma unser sternschar,

Daran unser stern umanand fart,

Grüaß'n ma a alli hölzalein,

So vül als in dem sterne sein. -

Ir liabn meini singa, habt's mi wol vernumma,

Daß ma den stern ham angsunga.

Grüaß'n ma unsern mastersinger guat,

Und grüaß'n ma den mastersinger sein huat.

Grüaß'n ma a unsern lermaster in der tat,

Wail er uns mit der hilf Godes geleret hat.

Ir liabn meini singa, habt's mi wol vernumma,

Daß ma dös alls habn angsunga.

Nun bitte ich Sie, acht darauf zu geben, was das heißt, so die Natur aufzurufen, daß man alle, die man begrüßen will, mit solcher Stim­mung im Herzen begrüßt, daß man solche Stimmung fühlt aus #SE125-246

die Kultur selber, wie sie heute abläuft, macht es uns unmöglich, uns genau an die Jahreszeiten zu binden. Wer daher wirklich jene Stim­mung versteht, die als die Christus-Stimmung zur heiligen Weihnacht in alten Zeiten zu empfinden war, wird auch Verständnis für das haben, was wir wollen, indem wir wieder künstlerisch vertiefen wol­len, was wir aus der Geisteswissenschaft heraus gewinnen können, was wir wollen, indem wir darnach streben, jenen Quell in den Men­schengemütern zu beleben, der in sich aufnehmen kann den Christus­Impuls.

Wir können zur Weihnachtszeit nicht mehr unmittelbar das Große wachrufen, so gern wir auch gerade zu dieser Zeit in unseren Seelen diesen Impuls wachrufen wollten, aber wir suchen es immerdar. Und wenn wir in dem, was die anthroposophische Geisteswissenschaft der Menschheit sein soll, selber ein Christfest dieses Menschheitsfortschrit­tes sehen, und wenn wir hinblicken zu dem, was der einfache Mensch fühlen konnte, wenn ihm zur heiligen Weihnacht das Kindlein in der Krippe dargeboten wurde, dann sagen wir uns: Solche Stimmungen, solche Gefühle sollen in uns wach werden, wenn wir hinblicken auf das, was geboren werden kann in unserer Seele dann, wenn uns die Geist-Erkenntnis unseren innersten Quell so heilig stimmt, so läutert, daß er in sich aufnehmen kann das heilige Mysterium des Christus-Impulses.

Von diesem Gesichtspunkt aus versuchen wir auch wieder die wahre, im Geistigen quellende Kunst zu finden, jene Kunst, welche nur ein Kind der Frommheit, ein Kind der heiligsten Empfindungen sein kann. Wenn wir in dieser Beziehung das ewige, das unvergängliche Christfest der Menschheit fühlen: wie geboren werden kann in dem Menschen, in der menschlichen Seele, in dem menschlichen Gemüt jener Chri­stus-Impuls - wenn wir durch die Geisteswissenschaft wieder erfahren, wie dieser Christus-Impuls etwas Reales ist, etwas, was sich wirklich als eine lebendige Kraft hineinergießen kann in unsere Seelen, in un­sere Herzen -, dann wird uns durch die Geisteswissenschaft der Chri­stus-Impuls nicht ein Abstraktum, ein Dogmatisches bleiben, sondern dann wird uns dieser Christus-Impuls, der aus unserer spirituellen Be­wegung hervorgeht, etwas werden, was uns Trost in den schlimmsten

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Augenblicken unseres Lebens geben kann, was uns froh machen kann in der Hoffnung, daß, wenn der Christus geboren wird in unserer Seele, zur Weihnachtszeit dieser Seele, wir erwarten dürfen die Osterzeit, die Auferstehung des Geistes in dem eigenen Inneren.

So müssen wir aus dem Materiellen, das in alle Geister, in alle Her­zen eingezogen ist, wieder zum Spirituellen vorschreiten. Denn aus dem Geiste allein kann geboren werden jene Erneuerung, die notwen­dig ist gegenüber dem, was die heutige Prosa des Lebens ist. Wird es möglich sein, auch dann, wenn draußen die Automobile fahren, viel­leicht die Luftballons durch die Luft fliegen, die elektrischen Bahnen dahinsausen, wird es dann möglich sein, daß in solchen Räumen, wie diese hier, sich etwas verbreitet von heiliger Stimmung, die allerdings nur durch das aufgenommen werden kann, was uns das ganze Jahr durch aus der Geist-Erkenntnis fließt, uns den Christus näherbringt, was in früherer Zeit in einer viel kindlicheren Stimmung aufleben durfte, dann besteht die Hoffnung, daß in einer gewissen Beziehung diese Versammlungsräume «Krippen» sein werden, auf die wir in einer ähnlichen Art blicken können, wie die Kinder und die Großen am Christabend, wenn die Krippe im Hause, oder früher in der Kirche, aufgerichtet war, hinblickten auf das Kindlein, auf die Hirten davor und auf «ochs und esulein, wölche stehn bei dem krppalein». Da haben sie gefühlt, daß von diesem Symbolum in ihr Herz strömte Kraft für alle Hoffnung, für alle Menschenliebe, für alle Menschen-größe, für alle Erdenziele.

Wenn wir an diesem Tage, der geweiht und gewidmet sein soll der Erinnerung an den Christus-Impuls, fühlen können, daß das ganze Jahr hindurch durch unser ernstes geisteswissenschaftliches Streben in unseren Herzen etwas angefacht wird, dann werden unsere Herzen an diesem Tage fühlen: Das sind Krippen, diese unsere Versammlungs­orte, und diese Lichter sind die Symbole! Diese Krippen enthalten durch die heilige Stimmung, die in ihnen ist, und diese Lichter durch das Symbolische ihres Glanzes, sie enthalten das, was wie die Weih­nachtszeit, die Osterzeit eine große Zeit für die Menschheit vorberei­ten soll: die Auferstehung des heiligsten Geistes, des wahrhaftigen spirituellen Lebens!

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Versuchen wir so zu empfinden, daß unsere Versammlungsräume zur Weihnachtszeit Krippen sind, Stätten, in denen sich, abgeschlos­sen von der äußeren Welt, ein Großes vorbereitet, lernen wir fühlen, wenn wir das ganze Jahr hindurch emsig lernen, daß unsere Einsich­ten, unsere Weistümer an diesem Weihnachtsabend sich zusammen­drängen können in heiße Gefühle, die wie ein Feuer erglühen aus dem Brennmaterial, das wir das ganze Jahr hindurch durch die Vertiefung in große Lehren gewinnen. Und fühlen wir, daß wir dabei das Anden­ken an den größten Impuls der Menschheitsentwickelung pflegen, füh-len wir, wie deshalb an diesen Stätten der Glaube leben darf, daß einst­mals dasjenige, was in so engem Krippenraum als ein heiliges Feuer und als ein hoffnungssicheres Licht erbrennt, hinausdringen wird in die Menschheit. Dann wird es stark genug, kräftig genug sein, um auch die härteste, die nüchternste Prosa des Lebens zu durchdringen, zu befeue­ren, zu erwärmen, zu erleuchten. Dann können wir Weihnachtsstim­mung hier empfinden als Hoffnungsstimmung für jene Welt-Oster­stimmung, welche der Ausdruck des lebendigeti Geistes ist, der not­wendig ist der neuen Menschheit.

Am besten feiern wir Weihnachten in unserer Seele, wenn wir die nächsten Tage mit dieser Stimmung ausfüllen, so ausfüllen, daß wir in unserem Weihnachten geistig vorbereiten Menschheits-Ostern, die Auferstehung des spirtuellen Lebens. Ja, Krippen sollen unsere Ar­beitsstätten zur Weihnachtszeit werden. Geboren soll werden das Licht-kind, das angefacht wird durch das ganze Jahr hindurch durch die Ver­senkung in die geisteswissenschaftlichen Weistümer. Geboren soll wer­den der Christ in der Menschenseele in unseren Arbeitsstätten, damit das spirituelle Leben auferstehen kann zur großen Osterzeit der Mensch­heit, die in ihrem Wesen die Spiritualität als eine Auferstehung emp­finden muß durch das Hinausströmen der Weihnachtsstimmung aus unseren Räumen in die allgemeine Menschheit der Gegenwart und der

Zukunft.

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DIE JULFESTZEIT, DIE CHRISTFEST-SYMBOLE UND DIE WELTHISTORISCHE STIMMUNG ANTHROPOSOPHISCHER VORSTELLUNGSART Stuttgart, 27. Dezember 1910

Der Geist, durch dessen Aufnahme die menschliche Seele sich im Wel­tenlauf immer weiter und weiter entwickelt, ist ein ewiger. Aber die Art und Weise, wie er sich einlebt, wie er sich ausprägt in dem, was der Mensch auf der Erde empfinden, lieben und schaffen kann, diese Art ist von Epoche zu Epoche stets eine neue. Und darin besteht ge­rade des Menschen Aufgabe im Weltenlauf, dem Geist die aufeinan­derfolgenden vielen Formen zu ermöglichen, durch die er die Leiter zu jenen Vollkommenheiten hinaufsteigt, die wir ahnen, und die wir eigentlich nur ahnen sollen, die wir nicht in zu deutliche Begriffe hin­einpressen möchten. Wenn wir so an den Geist und an sein Werden im Menschheitslauf denken, dann treten die Ewigkeit und das Vergäng­liche vor unser seelisches Auge. Und in den besonderen Fällen des Le­bens, da und dort, immer wieder und wieder, können wir sehen, wie dieses Ewige im Vergänglichen auftaucht, wie es im Vergänglichen sich ausprägt, um wieder zu verschwinden und in immer neuen Formen sich geltend zu machen. Was uns hier als Symbol unserer Weihnacht umgibt, können wir heute auch schon empfinden wie etwas, das ver­gangenen Formen angehört, das Ewige in der äußeren Welt im Sinn­bild zu schauen. Denn wahrhaftig, wenn wir in der zweiten Dezem­berhälfte in dieser unserer Gegenwart hinausgehen, namentlich in die Straßen der Großstadt, da draußen den Weihnachtsglanz und alles das sehen, was in die Häuser einladen soll, um das Christfest zu be­gehen, dann muß es einem Auge, das noch ästhetisch empfinden kann, schon weh tun, wenn es die Dinge des Weihnachtsmarktes ausgebreitet und mitten durch sie hindurchsausen sieht das, was im Grunde genom­men nicht durch Weihnachtsbäume und Weihnachtssymbole sausen kann: Automobile, elektrische Straßenbahnen oder dergleichen. Die Dinge gehören in einer gewissen Weise, so wie sie heute empfunden werden, nicht mehr zusammen. Noch tiefer wohl empfinden wir die Sache,

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wenn wir uns dann vergegenwärtigen, was dieses Weihnachtsfest ge­worden ist für viele der Menschen, die in den Großstädten die Träger der Bildung der Gegenwart sein wollen. Ein Geschenkfest, ein Fest, in dem wenig mehr von der Wärme, von der gründlichen Empfindungs-tiefe lebt, welche in einer noch nicht sehr fernen Vergangenheit um dieses bedeutungsvolle Weihnachtsfest herum vorhanden war: ein Ge­schenkfest ist es geworden. Unter den mancherlei Dingen, die uns das geben wollen, was wir unsere anthroposophische Weltanschauung, un­sere anthroposophische Vorstellungsart nennen, sollten wohl wieder­um die ganz warmen Empfindungen und Gefühle sein, welche die Menschenseele an den hohen Festtagen des alten Kirchenjahres durch­zogen.

Und wir sollten wieder verstehen lernen, wie es notwendig für uns ist, notwendig ist für unsere Seelen, in gewissen Zeiten den ganzen Zusammenhang mit der großen Welt zu fühlen, aus welcher der Mensch herausgeboren ist, um unsere intellektuellen, unsere Gefühls- und auch unsere moralischen Kräfte zu erneuern. Denn ein solches Fest, wo alle Moral, wo alle Menschlichkeit erneuert werden konnte, war wirklich einmal das Christfest, ausbreitend in seinen Symbolen eine Wärme, von der sich die heutige Nüchternheit, die heutige Prosa des Lebens kaum mehr einen rechten Begriff macht. Uns aber könnte das Hinein-versetzen in diese Symbole etwas sein, was uns ein wenig vor die Seele die Empfindungen, die Gesinnungen, die Gefühle rücken kann, die wir jener Auferstehung gegenüber selber haben können, die wir als die an­throposophische Auferstehung der Menschheit ahnen, und die wir da­her auch gegenüber der Geburt des anthroposophischen Geistes in un­serer Seele haben können. Und es gibt wohl eine Art von Verbindung zwischen den älteren Chrstgeburtsfest-Gedanken und zwischen den neueren anthroposophischen Gedanken von der Geburt unserer an­throposophischen Vorstellungen und Gesinnungen, des ganzen anthro­posophischen Geistes in der Krippe unseres Herzens: es gibt eine solche Beziehung. Und vielleicht ist heute am ehesten der Anthroposoph im­stande, sich zu vertiefen in das, was durch lange Zeiten hindurch ge­rade beim christlichen Weihnachtsfest gefühlt worden ist, was wieder­um empfunden werden kann, wenn Ähnliches geboren werden wird aus

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der Atmosphäre, die uns heute schon einmal umgibt, aus der Atmo­sphäre des Materialismus der Gegenwart heraus.

Aber indem wir so anthroposophisch empfinden wollen über das Weihnachtsfest, können wir uns nicht bloß auf das beschränken, was christliches Weihnachtsfest war oder ist. Sondern wo wir auch hin-blicken in der Welt und in wie ferne Zeiten der Vergangenheit wir auch blicken: etwas, das sich vergleichen läßt, heranbringen läßt in Gedanken und Empfindungen an das Weihnachtsfühlen, etwas der­gleichen hat es im Grunde genommen allüberall gegeben. Wir wol­len heute nicht weit gehen, wir wollen nur bis zu den Gefühlen und Empfindungen gehen, die vor der Einführung des Christentums etwa ein Mensch nun in unseren Gegenden selber, in den Gegenden Mittel­europas haben konnte zu den Zeiten, die entsprechend waren jenen, in denen heute das Weihnachtsfest herankommt. Werfen wir einmal einen kurzen Blick zurück in jene Zeiten vor der Einführung des Chri­stentums in Europa, in denen in verhältnismäßig rauher klimatischer Gegend unsere Vorfahren in Europa sich ihren Unterhalt namentlich dadurch schaffen mußten, daß sie den ganzen Sommer hindurch als eine Art Hirtenvölker oder Ackerbauvölker lebten, aber in innigem Zusammenhang ihrer Empfindungen und Gefühle mit der ganzen gro­ßen natürlichen Welt, in inniger Anbetung des Sonnenstrahls, in in­brünstiger Verehrung, die nicht Gedanke, die Gefühl und Hingebung war, in inbrünstiger Andacht gegenüber der großen Welt. Und wenn der alte Hirte oder Viehzüchter Europas draußen auf seinen rauhen Weiden war, im glühenden Sonnenstrahl oftmals, dann empfand er nicht nur etwa das äußerlich Physisch-Natürliche, dann empfand er einen innigen Zusammenhang seines ganzen Wesens mit dem, was ihm in der Physiognomie der Natur entgegenleuchtete. Er lebte mit seinem ganzen Herzen in der Natur darin. Nicht nur, daß in seinem Auge die physischen Sonnenstrahlen das Licht zurückwarfen: in seinem Herzen entzündete das Sonnenlicht geistig das, was Sommerjubel, Sommer-jauchzen war, und was sich im Grunde genommen zusammendrängte in jenen Feuern, die dann zu den Johannifeuern geworden sind im Sommer. Da wollte die ganze Natur aus Menschenherzen aufjauchzen, der Geist der Natur widerklingen aus Menschenherzen.

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So empfand man das Jahr hindurch. Und so empfand man sich in inniger Gemeinschaft auch mit der Tierwelt, die man hütete. Dann kam der Herbst, dann kamen die Zeiten, in denen es streng winterlich wurde. Ich gedenke dabei jener Zeiten, in denen rauhe Winter über das Land hingingen, von deren Rauheit sich die gegenwärtige Mensch­heit wenig Vorstellung macht. Da mußte mit Ausnahme des Notwen­digsten das letzte Stück Vieh geschlachtet werden. Da wurde es still in allem äußeren Leben, da war es wirklich so, daß etwas in die Men­schenherzen einzog, was man wie eine Art von Tod, von Finsternis nennen konnte gegenüber alledem, was den Sommer hindurch als Stimmung diese Herzen durchzog. Das waren die Zeiten, in denen wirklich noch ein Nachklang alter hellseherischer Kräfte gerade durch die ganze Eigenart des Klimas und der Natur in Mitteleuropa vorhan­den war. Die Menschen, die im Sommer jubelten und jauchzten, so als ob die Natur selber in ihren Herzen gejauchzt und gejubelt hätte, dieselben Menschen konnten im Winter, namentlich dem heranziehen-den Winter gegenüber, stille, ruhig in sich werden, konnten aufgehen lassen in ihrem eigenen Inneren etwas von der Stimmung, die den Men­schen überkommen sollte, wenn er mit Außerachtlassung aller äußeren Welt in seine eigene innere Welt einzieht, um das innere Göttliche zu empfinden, zu fühlen.

Also die Natur selber hat der alten europäischen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, aus dem Leben in der Außenwelt voll einzutau­chen in das eigene Innere. Dieses Herabsteigen in Tod und Finsternis empfand man, wenn der November herankam, durch Wochen hin­durch als Festzeit, das man empfand als das Herandämmern dessen, was man Julfestzeit nannte. Und das, was sich anschloß an diese Stim­mung, war etwas, was uns so recht zeigen kann, wie lange im Grunde genommen das Andenken an die alten heliseherischen Zustände aller Völker gerade in Mittel- und Nordeuropa heimisch geblieben ist. Was dann folgte in der Zeit, in der etwa unser Januar und Februar heran­kommt, war so, daß die Menschen ein Durchdrungensein ihres Inneren mit Vorboten des neuen natürlichen Jubels empfanden, der neuen na­türlichen Auferstehung. Das empfanden sie jetzt wie einen Vorboten dessen, was sie in der Außenwelt erleben sollten, da noch Schnee die

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Weiden bedeckte, da noch Eis an den Bäumen war, da außen in der Natur noch nichts zu sehen war von der Ankündigung der frohen Macht, was jetzt vor der Ankündigung der frohen Macht noch ein ganz Bei-sich-Sein, ganz In-sich-Ruhen ist. Das verwandelte sich in der Seele so, daß der Mensch von sich selber loskam.

Dieser Zwischenzustand, der beim Herannahen dessen, was wir heute Frühling nennen, von unseren Altvordern empfunden worden ist, wurde so empfunden, wie etwa der Hellseher seinen Astralleib empfindet, wenn dieser Astralleib nicht ganz gereinigt und geläutert ist. Das wurde so empfunden wie ein Erfülltsein des geistigen Hori­zontes mit allerlei Tiergestalten. Und das suchten diese Menschen auch zum Ausdrucke zu bringen. Das bildete für sie einen Übergang von der eigentlichen tiefen Festesstimmung des herannahenden Winters zu jener Stimmung, die wiederum im Sommer die Seele überkommen sollte. Sie ahmt symbolisch nach, was des Menschen Astralleib zeigt, ahmt nach in ausgelassenen Spielen, in ausgelassenen Tänzen, in Tiermasken die­sen Übergang von dem ganz In-sich-selber-Ruhen zu dem jauchzenden Aufgehen in der großen Natur. So war es.

Wenn wir uns in so etwas vertiefen, wenn wir uns denken, daß in eine solche Stimmung Volksgemüt und Volkssinn über weite, weite Kreise hin ganz eingetaucht war, dann verstehen wir, wie auch da auf diesem Boden vorhanden war das Fühlen des Hinuntertauchens in die äußerliche physische Finsternis, in den äußerlich physischen Tod der Natur; wie allerdings noch voll empfunden worden ist, daß gerade in diesem Untertauchen in den physischen Tod der Natur, in die physische Finsternis das höchste Licht des Geistes gegeben werden kann. Und wie sich unmittelbar verwandelt die Stimmung des Untertauchens in den physischen Tod in die ausgelassene Stimmung, welcher Ausdruck ge­geben worden ist in Tiermasken, in den ausgelassenen Tänzen und aus-gelassener Musik. Wie allerdings noch nicht vorhanden war das volle Gefühl, daß der Mensch dann, wenn er das äußerste, das höchste Licht finden soll, er es in der innersten Tiefe suchen muß; wie aber durch die innige, hingebungsvolle Verbindung mit allen Kräften, mit allem Weben und Leben der Natur ein Boden geschaffen war, in den hinein-gesenkt werden konnte, was der Menschheit für ihre Evolution durch

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den Christus-Impuls verkündet werden sollte. Man brauchte den Emp­findungen und den Gefühlen dieser über die europäischen Gegenden ausgebreiteten Menschen gleichsam nur zu sagen - allerdings nicht in abstrakten, trockenen, philiströsen Worten, sondern so, daß das, was man sagen wollte, im Symbolum zum Gemüte sprach -, man brauchte nur begreiflich zu machen: Da, wo ihr hinuntertaucht in die Finster­nis, in den Tod der äußeren Natur, da könnt ihr, wenn ihr eure Seele geeignet macht, in der richtigen Art zu empfinden und zu fühlen, ein ewiges, ein unvergängliches Licht finden. Und dieses Licht, das ist in die Menschheitsentwickelung hereingebracht worden durch das, was durch das Mysterium von Golgatha, was durch die Ereignisse von Pa­lästina innerhalb dieser Menschheitsentwickelung aufgetaucht ist.

Es ist charakteristisch, daß man es in den nächsten Jahrhunderten dahin hat bringen können, daß innerhalb Europas am innigsten, am herzlichsten der Christus-Impuls hat empfunden werden können an dem kindlichen Christus, an der Geburt des Christkindes. Wie muß man, wenn man der Menschheit überhaupt eine Aufgabe in der Evolu­tion zuerteilen will, diese Menschenaufgabe empfinden? Nicht anders als so, daß der Mensch seinen Ursprung genommen hat von einem Gött­lich-Geistigen, daß er zurückschauen kann auf seinen göttlich-geisti­gen Ursprung, daß er aber von diesem göttlich-geistigen Ursprung im­mer tiefer und tiefer heruntergestiegen ist, immer mehr und mehr ver­wandt und verwoben worden ist der äußeren physischen Materie, dem äußeren physischen Plan. Dann aber muß man empfinden, wie der Mensch wiederum den Weg umgekehrt machen kann durch den mäch­tigen Impuls, den wir den Christus-Impuls nennen. Wie er umkehren kann und wiederum mit Überwindung dessen, was ihn in die physische Welt hineingeführt hat, den Weg von unten nach oben in die geistigen Höhen gehen kann.

Wenn man das empfindet, sagt man sich: So wie dieses menschliche Ich innerhalb der physischen Leiblichkeit ist, wie dieses menschliche Ich heute ist, ist es herabgestiegen aus göttlich-geistigen Höhen und fühlt sich verwoben und verstrickt in die Welt des äußeren physischen Planes. Aber diesem Ich liegt ein anderes zugrunde: dem schuldvoll gewordenen Ich gleichsam das unschuldige Ich. Wo tritt uns denn dasjenige

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Ich, das noch nicht in die physische Welt verwoben ist, zunächst wenigstens annähernd entgegen? Da wo wir - wenn wir zurückblicken in unser eigenes Leben, wie es zwischen Geburt und Tod verläuft -uns zurückerinnern bis zu dem Augenblick, wo unser Ich-Bewußtsein in einem gewissen Zeitpunkt der ersten Jahre auftritt. Das Ich ist da, wenn der Mensch sich auch nicht erinnert, es ist vorhanden und lebt und webt innerhalb von uns auch da, wo die Ich-Vorstellung noch nicht aufgetreten ist, da wo dieses Ich, das herumsieht in der Außenwelt, sich mit dem physischen Plan verwebt, wo die Ich-Vorstellung noch nicht da ist, wo aber das Ich da ist im kindlichen, unschuldvollen Zu­stand. Das Ich, das wohl als ein Ideal dastehen kann, welches wieder er­reicht werden soll, nur mit Durchdrungensein von alidem, was der Mensch erleben kann in dieser Schule des physischen Lebens auf der Erde. Und so kann dann im Menschenherzen gefühlt werden mit innerer Wär­ine, wenn es auch der nüchterne Verstand nur schwierig in Worte wird Fassen können, das Ideal: Werde so, wie dein Ich ist, wenn es noch nicht die Ich-Vorstellung hat. Werde so, wie du werden könntest, wenn du hineinflüchten würdest in dein kindliches Ich. - In all das, was dein späteres Ich erwirbt, leuchtet dann das Kindheits-Ich. Und indem wir es als Ideal empfinden, leuchtet es in dem Jesus von Nazareth, in den der Christus später hineinverkörpert worden ist.

Von solchen Empfindungen aus können wir verstehen, wie ein in­niger Zug von Menschenwachstum, von Menschenweiterentwickelung die Gemüter der einfachsten Leute über ganz Europa hin hat ergrei­fen können bei dem Anblick der Verkörperung desjenigen Menschen, der reif werden konnte, den Christus in sich aufzunehmen. So sehen wir, daß es ein wirklicher Fortschritt, ein gewaltiger Fortschritt war, als in die Empfindungen des alten Julfestes hineingetragen wurden die Empfindungen, die sich an das Jesus-Geburtstagsfest anknüpfen. Es war ein gewaltiger Fortschritt. Wir können diesen Fortschritt vielleicht dadurch bezeichnen, daß wir sagen: In jenen Finsternissen, in denen zunächst die Seele sich sammeln wollte, um sich vorzubereiten für das Jubeln und Jauchzen des neuen Sommers, in jener Finsternis wurde angezündet das Licht des Christus Jesus.

Einen Nachklang dessen, was da mit der europäischen Bevölkerung

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eigentlich geschehen ist, empfinden wir noch in dem, was für das 19. Jahrhundert, wenigstens in seiner zweiten Hälfte, kaum noch etwas anderes war als ein Gegenstand gelehrter Forscher und Sammler. Einen Nachklang empfinden wir noch in den alten Weihnacht-, in den Christ-spielen. Solche Christspiele, solche Weihnachtspiele wurden in einer eigenartigen Weise schon in alten mittelalterlichen Zeiten um die Weih­nachtszeit herum gespielt. Durch sie wurde all der Empfindungsgehalt wachgerufen, all das, was die Seele um diese Zeit an Leben haben konnte über dieselben Strecken hin, auf denen die Leute noch älterer Zeiten beim Herannahen des Julfestes das empfunden haben, was ich Ihnen vorhin charakterisierte. Und wenn wir den Blick hinwenden von den charakterisierten alten Julfesten zu den Weihnachtspielen des Mittel­alters, empfinden wir so recht, was für ein warmer Impuls mit dem Christentum in die europäische Bevölkerung eingeschlagen ist. Ja, da hat sich etwas ganz besonderes in die Herzen, in die Seelen hineingesenkt.

Es ist jetzt nicht mehr wie früher. Im 19. Jahrhundert war es nur-mehr ein Gegenstand gelehrter Sammler. Trotzdem hatte es etwas Rührendes, wenn man die ältere Sorte deutscher Philologen, deutscher Sprachphilologen und Sagenphilologen und Mythenforscher noch ge­kannt hat, die nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit Liebe, mit inni­ger Liebe sich noch vertieft haben in das, was aus früheren Jahrhunder­ten als Weihnachtspiele in verschiedenen Gegenden geblieben ist. Ich sel­ber hatte ja zu einem alten Freunde einen solchen Sammler, der längere Zeit in den fünfziger, sechziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts Professor an einer Preßburger Oberrealschule war, der dort lange Zeit Forschungen angestellt hat über die von dem Westen nach dem unga­rischen Osten verschlagene germanische Bevölkerung, der vertraut war mit jenen eigentümlichen Reizen der Gebräuche und der Sprache zu­gleich der in Nordungarn damals noch lebenden, jetzt magyarisierten Zipser Deutschen und dergleichen. Der erfuhr auch einmal, daß in der Nähe von Preßburg in einem verschlagenen Dorf noch Weihnacht-spiele lebten. Und er, ich meine meinen alten Freund Karl Julius Schröer, ging hin und versuchte dahinter zu kommen, was da aus alten Zeiten noch im Volke lebte. Er hat mir manches später von den wun­derbaren Eindrücken erzählt, die er da bekommen hat von den letzten

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Ruinen, die von Weihnachtspielen aus viel, viel älteren Zeiten geblie­ben waren. Da war in einem Dorf ein alter Mann. In dessen Familie hatte sich fortgeerbt als Brauch, wenn die Weihnachtszeit herankam, diejenigen zu sammeln, die im Dorfe geeignet waren, ein Weihnacht-spiel aufzuführen, ein Weihnachtspiel, in dem in schlichter Art vor­getragen werden sollte, was eben die Weihnachtsgeschichte ist, was uns die Evangelien als die Weihnachtsgeschichte, als die Herodes- und Drei-Königs-Geschichte erzählen. Wenn man aber das ganz Eigen­artige solcher Weihnachtspiele verstehen will, dann muß man einen Be­griff davon haben, wie das Leben in der einfachen Bevölkerung noch in älteren Zeiten war. Das ist jetzt vorüber, das soll auch nicht wieder zurückgebracht werden. Wenn ich bezeichnen möchte, worauf es hier ankommt, dann könnte ich eigentlich nicht anders sagen als: Hat nicht das Schneeglöckchen eine bestimmte Zeit des Jahres, indem es blüht, oder das Maiglöckchen oder das Veilchen eine bestimmte Zeit, indem es sich in den ganzen Makrokosmos hineinstellt? Gewiß, im Glashaus können Sie es zu anderen Zeiten zum Blühen bringen, aber es tut ei­gentlich weh, wenn man das blühende Veilchen deplaciert in einer an­deren Zeit empfinden soll als da, wo es in den ganzen Makrokosmos hineingestellt ist. Es ist wenig Stimmung für solche Dinge in unserer jet­zigen Zeit vorhanden, aber es ist etwas Ähnliches um den Menschen in älteren Zeiten. Was die Menschen in gewissen Zeiten des Mittelalters hindurch haben empfinden können, wenn der Herbst und die Weih­nachtszeit herannahte, wenn die dunklen Nächte kamen, was da die Menschen haben so empfinden können, daß sich ihre Herzenserlebnisse hineinstellten in alles, was draußen in der Natur lebt, daß diese Erleb­nisse paßten zu dem Schnee draußen und den Schneeflocken und den Eiszapfen an den Bäumen, was da empfunden werden konnte, das konnte eben nur zur Weihnachtszeit empfunden werden. Das war eine ganz besondere Stimmung, das war etwas, was der Seele Stärkung, Heilkraft für das ganze Jahr hindurch gab. Das erneuerte die Seele wirklich, das war eine reale Macht. Wenn man vor Jahrzehnten da oder dort noch die letzten Reste dieser Empfindungen hat beobachten können, sind diese Empfindungen einem schon entgegengetreten. Und ich möchte es als eine durchaus äußere Erfahrung auf dem physischen

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Plan von mir aus sagen, daß man noch die losesten, die nichtsnutzigsten Burschen finden konnte, die immerhin dann, wenn die Tage kürzer wurden, in ihrer Seele sich nicht getraut haben, unfromm zu sein. Die sonst am meisten gerauft haben, die rauften am wenigsten, und die, die wenig gerauft haben, die rauften gar nicht um die Weihnachtszeit. Es war eine reale Macht, die da in den Seelen lebte. Und in diese ganze Empfindungswelt war eingetaucht der Zeitraum in den Wochen um die heilige Weihnacht herum.

Denn, was empfand man da? Was man da empfand, das war wirk­lich, in Empfindungen, in Gefühlen zusammengedrängt: Herabstieg der Menschen von göttlich-geistigen Höhen zu dem tiefsten Punkt auf dem physischen Plan. Empfangen des Christus-Impulses, Umkehr des Menschenweges, Hinaufstieg zu göttlich-geistigen Höhen. - Das emp­fand man an alledem, was mit dem Christus-Ereignis zusammenhing. Daher stellte man wohl gerne nicht nur die christlichen Ereignisse dar, sondern wie man zusammengekoppelt hat in dem Kalender den Adam-und Eva-Tag am 24. Dezember und den Jesus-Geburtstag am 25. De­zember, so führte man ein Paradeisspiel auf und unmittelbar daran an­schließend das Christ-Geburtstagsspiel, darstellend den Impuls des Auf­stieges des Menschen wiederum in die göttlich-geistigen Höhen hinauf. Das empfand man tief, wenn aus dem Paradeisspiel erklang der Name:

Eva! - die Menschheitsmutter, von der die Menschen abstammten, die dann in das Tal des physischen Lebens heruntergestiegen sind. Das hörte man an einem der Tage, und am nächsten Tage die Umkehrung des Menschenweges. Das ist ja schon angedeutet in jenem Laute, der diese Umkehrung ausdrücken wollte: Ave Maria! Ave empfand man als die Umkehrung von Eva: Ave - Eva. Das ging den Leuten tief zu Her­zen, wenn sie so etwas hörten, wie etwa die Worte, die unzählige Male erklangen an die Ohren und Herzen, von dem 5., 6., 7., 8. Jahrhundert an, und die man verstand.

Was wir also etwa wie folgend sagen würden:

Ave maris stella

Dei mater alma

Atque semper virgo

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Felix coeli porta.

Sumens illud Ave

Gabrielis ore

Funda nos in pace

Mutans nomen Evae!

Ave, Stern des Meeres,

Göttlich junge Mutter

Und ewige Jungfrau,

Du glückliche Pforte des Himmels.

Nehmend jenes Ave

Als eine Gabe Gabriels,

Wurdest du uns die Grundlage zum Frieden,

Indem du umwendetest

Den Namen Eva!

Und in dem, was man aufführte als Paradeisspiele, empfand man etwas, das in Weihnachts-, in heilige Stimmung getaucht sein mußte. Ja, das empfand man tief, und man darf das wohl unter Anthroposo­phen sagen: Erinnert es uns nicht etwas an die Art und Weise, wie man - freilich ist das etwas Größeres - in den Mysterien der Wahrheit gegenübersteht, wenn wir schildern hören die Art und Weise, wie die Mitspielenden an den Weihnachtspielen probten, sich vorbereiteten, sich benahmen vor und während der Weihnachtspiele? Wir wissen:

die Mysterien werden so gedacht, daß man die Wahrheit nicht in nüchterner Weise empfängt, die von jeder menschlichen Stimmung durchdrungen sein kann. Unsinnig ist es für den, der etwas von der Heiligkeit der Wahrheit empfindet, daß in den prosaischen, nüchter­nen Lehrsälen der Gegenwart wirklich die Wahrheit gefunden werden könnte. Da hat man keinen Begriff mehr davon, daß die Wahrheit mit geläuterter, mit reiner, mit vorbereiteter Seele gesucht werden soll; daß eine Seele die Wahrheit nicht findet, wenn sie nicht in ihrem Innersten erst geheiligt ist, sich nicht in ihren Empfindungen dazu vorbereitet. Da­von hat man heute, wo die Wahrheit für den Materialismus das Pro­saischeste geworden ist, keinen Begriff mehr. In den Mysterien nahte

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man sich der Wahrheit, nachdem die Prüfungen der Seele auf ihre Reinheit, auf ihre Freiheit, auf ihre Furchtlosigkeit durchgemacht wor­den waren. Und man möchte sagen: Erinnert es uns nicht daran, wenn noch der alte Mann, den Karl Julius Schröer kennenlernte, von seinen Sängern, die er sammelte, das Einhalten der alten Regeln verlangte? Wer unter Leuten auf dem Dorfe gelebt hat, weiß, was die erste Regel bedeutet. Die erste Regel war, daß während der ganzen Vorbereitun­gen, die gepflogen werden sollten, keiner der Mitspielenden zu einem Dirndl gehen darf. Das bedeutet auf dem Dorfe etwas Ungeheueres, es bedeutet das Eingetauchtsein in Frömmigkeit dessen, was man vor-hatte. Keiner durfte, während er probte, ein Schelmenlied singen, das war die andere Regel. Keiner durfte etwas anderes wollen, als sich eines guten, ehrbaren Lebenswandels befleißigen, das war die dritte Regel. Und der vierte Punkt war der, daß er in allen Dingen dem folgen mußte, in dessen Hand die Tradition des Weihnachtspieles war, die man nicht gerne auslieferte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Leute diese Dinge gesammelt, denn da sind die alten Empfindungen eben verflogen. Spä­ter trat mir dann wiederum noch einmal auch etwas von der ganzen Pietät, von der ungeheuren Innigkeit entgegen, mit der diejenigen, die als Gelehrte noch etwas mit dem Volke verwoben waren und zum Beispiel in den versprengten Sprachinseln Ungarns geblieben sind, die alten Spiele und Lieder sammelten. Es trat mir, als ich um die Weih­nachtszeit in Hermannstadt war, wo die Hermannstädter Gymnasial­lehrer sich viel beschäftigt hatten mit dem Sammeln von solchen Spie­len, das Herodesspiel entgegen. Und so konnte man sozusagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Sammler dessen kennen­lernen, was auf dem Boden lebendig war, den ich in bezug auf die Jul-feste charakterisiert habe. Stellen wir uns nicht irgend etwas Theore­tisches vor, sondern diesen warmen Zauberhauch von Weihnachts-stimmung, wie er in diesen Weihnachtspielen lebte. Wir bekommen dadurch zugleich einen Begriff von der Regeneration des Menschen, von dem Glauben des Menschen durch den Christus-Impuls an ein Göttlich-Geistiges. Solch Einstudieren von Weihnachtspielen, oh, das war etwas, was uns wirklich sehr lehrreich sein könnte für die Gegenwart,

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wo man den Begriff, wie die Kunst herauswächst aus Frömmig­keit, aus Religion, aus Weisheit, längst verloren hat. Heute, wo man in der Kunst so gerne etwas von allem übrigen Losgelöstes sehen will, wo die Kunst zum Beispiel zum Formalismus ausgeartet ist, heute könnte man viel lernen von der ganzen Art und Weise, wie die Kunst eine Blüte der Menschheit war. So einfach sie in diesen Weihnachtspie­len auftrat, sie war eine Blüte des ganzen Wesens des Menschen. Zu­erst mußten die Buben, welche die Spiele aufführten, fromm sein, zu­erst mußten sie in ihren ganzen Menschen etwas wie einen Extrakt von der ganzen Weihnachtsstimmung aufnehmen. Dann aber mußten sie in einer streng geregelten Weise rhythmisch sprechen lernen. Heute, wo man überhaupt die Kunst des Sprechens im alten Sinne verloren hat, wo man keine Ahnung mehr hat, wie der Reim eine ungeheure Rolle spielt und der Rhythmus eine solche Rolle spielt, wie jede Bewe­gung dieser sonst den Dreschflegel handhabenden Menschen, wie jede Geste dieser Menschen einstudiert war bis auf das einzelnste hin, wie sie ganz darin standen durch Wochen in Rhythmus, in Tonung, in Hin­gegebensein an das, was sie darstellen sollten. Man könnte für ein wirk­liches Verständnis der Kunst gerade heute unendlich viel davon ler­nen, heute, wo man zum Beispiel das künstlerische Sprechen soweit verlernt hat, daß kaum noch nach etwas anderem als dem Sinn gespro­chen wird, während damals in diesen Weihnachtspielen gerade das Reizvolle das war, daß Rhythmus, Ton, Geste, der ganze Mensch sprach. Es war wirklich noch groß, selbst die letzten Ruinen zu sehen.

Wenn die Weihnachtstage vorbei waren, gingen die Heiligen Drei Könige herum, zu keiner anderen Zeit als der Zeit nach Weihnachten. Ich erinnere mich noch selbst, wie ich in den Dörfern die Drei Könige herumgehen gesehen habe. Sie gingen von Haus zu Haus. Sie hatten an einer Schere einen Stern. Er wurde durch das Ausziehen der Schere weithin geschleudert. Das Abschleudern stand im Einklang mit dem Rhythmus dieser Drei Könige, die in der primitivsten Weise angezo­gen waren, die aber durch die ganze Art und Weise, wie sie in der rich­tigen Zeit die betreffenden Dinge durch das Volk trugen, wie sie in Selbstvergessenheit darinnen lebten, volle Festesstimmung vorbereite­ten. Unsere Zeit kann das gar nicht mehr verstehen, wenn nicht wiederum

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Stimmung dafür erweckt werden kann, daß aus dem, was in uns erwachen soll als Leben des Geistes, durch die Anthroposophie in Kunst umgesetzt uns entgegentreten darf etwas in der Art von über die Zeit hinausgehobenen Spielen, wie es gegenüber der Gegenwart sein muß, die aber dann auch sich nicht anlehnen können an Festzeiten, sondern die nur mit dem Ewigen, mit dem an keine Jahreszeit gebun­denen Ewigen der Menschenseele zu tun haben müssen.

Es konnte in uns lebendig werden, was für diese Seelen praktisch wurde: der Christus-Impuls in einer bestimmten Zeit. Ja, wir sind in einer gewissen Weise doch schon tief in der Zeit darinnen, in welcher der Materialismus in der Außenwelt so sehr alle Kreise ergriffen hat, daß ganz andere Impulse notwendig sind, um diesen Christus-Impuls zu erneuern, als die einfachen Impulse, die im Mittelalter gewirkt ha­ben. Eine Erneuerung des menschlichen Inneren ist notwendig, wie die Anthroposophie sie anstreben soll, ein Heraufholen der tiefsten Kräfte der menschlichen Seele, ganz anderer Kräfte noch, als die waren, die uns in den Weihnachtssymbolen, in den Weihnachtsfestgebräuchen ent­gegengetreten. Und so wahr, wie wir gerade durch unsere Anthropo­sophie lernen können das zu erfühlen, was wie ein Zauberhauch durch die Herzen zog in der Aufführung von Paradeis- und Christspielen, in alledem, was zu diesen Festzeiten durch die Herzen zog, so wahr wir das durch die Anthroposophie empfinden können, so aufrichtig sollen wir der anderen Tatsache gegenüberstehen, daß der ewige Geist in immer neuer Form in der Menschheitsentwickelung sich ausleben muß. Daher soll uns der Anblick der Christfestsymbole ein Ansporn dazu wer­den, aufzunehmen in Christfeststimmung, was die welthistorische Stim­mung anthroposophischer Vorstellungsart in unseren Herzen sein kann.

Sieht doch der, welcher die Geheimnisse der Christnacht in der richtigen Art empfindet, hoffnungsvoll hin auf das, was als ein zweites Fest auf das Weihnachtsfest folgen soll, sieht er doch aufs Osterfest, auf das Auferstehungsfest, wo Sieger sein soll das, was geboren wird in der Weihnacht. Und so haben wir die Überzeugung von der Not­wendigkeit, daß alles geistige Leben, daß alles Kulturleben überhaupt durchdrungen und durchsättigt werden muß von dem, was wir an­throposophische Vorstellung, anthroposophisches Fühlen und Denken

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und Wollen nennen. In der Zukunft, meine lieben Freunde, wird es entweder eine Geisteswissenschaft geben, oder es wird gar keine Wis­senschaft geben, sondern nur eine äußere technische Praxis. In der Zukunft wird es eine von Anthroposophie durchdrungene Religion geben, oder es wird gar keine Religion geben, sondern nur äußeres Kirchentum. In der Zukunft wird es anthroposophisch durchdrungene Kunst geben, oder es wird gar keine Künste geben, denn Künste, die losgelöst von dem Leben der Menschenseele sein wollen, werden ein kurzes, ein ephemeres Dasein haben. So blicken wir auf etwas, das uns mit derselben Gewißheit entgegenleuchtet wie die Prophezeiung, die uns gegeben ist durch die Theodora in der «Pforte der Einweihung» von der Erneuerung des Christus-Anblickes. Mit eben solcher Gewiß­heit steht in unserer Seele die Auferstehung anthroposophischen Geistes in Wissenschaft, Religion, Kunst und allem Menschheitsleben. Das große Osterfest der Menschheit steht vor unserer ahnenden Seele.

Wir können verstehen, daß es wiederum Krippen gibt, wiederum gibt einsame, noch recht einsame Stätten, in denen noch in Kindheits­form das geboren wird, was unter den Menschen auferstehen soll. Im Mittelalter hat man die Menschen in die Häuser hineingeführt und ihnen die Krippe gezeigt, eine Nachahmung des Stalles mit Ochs und Esel, mit dem Jesuskind, seinen Eltern und den Hirten. Man hat ihnen gesagt: Da liegt die Hoffnung der Zukunft der Menschheit. - Lassen wir in unserer Seele das, was wir pflegen, was wir wollen innerhalb unserer anthroposophischen Arbeitsstätten, lassen wir das moderne neue Krippen sein, in denen unter der Führung desjenigen, den wir den Christus Jesus nennen, aufersteht der neue Geist, heute noch in Kindheitsform, heute noch auf der Stufe des Geborenwerdens in den einzelnen anthroposophischen Arbeitszweigen, in den Krippen, aber in sich tragend das Unterpfand, daß er Sieger sein wird, daß wir als Menschen durch ihn feiern können das große Osterfest der Menschheit, das Auferstehungsfest der Menschheit in einem neuen Geist, in dem Geist, den wir ahnen wollen, den wir erstreben wollen als den anthro­posophischen Geist.

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HINWEISE

Die schon früher als Einzeibroschüren erschienenen Vorträge dieses Bandes (siehe

Impressum auf Seite 4) wurden nochmals mit den Nachschriften verglichen. Die

Vorträge bzw. Ansprachen Kopenhagen, 2., 4. und 5. Juni1910 und Leipzig, 21.

November 1910, konnten nur nach Hörernotizen wiedergegeben werden. Auch die

Nachschriften der Vorträge Straßburg, 23. Januar, und Hamburg, 26. Mai 1910

sind lückenhaft.

Folgende Vorträge sind in Zeitschriften veröffentlicht worden:

Straßburg, 23. Januar 1910, in «Das Goetheanum» 1941, 20. Jg. Nrn. 19-22

Hamburg, 26. Mai 1910, in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Heft 30, Sommer 1970

München, 26. August 1910 in «Das Goetheanum» 1937, 16. Jg. Nrn. 17-22

Basel, 17. September 1910 im «Nachrichtenblatt» 1930,7. Jg. Nrn. 9-15

Nürnberg, 13. November 1910 im «Nachrichtenblatt» 1937, 14. Jg. Nrn. 19/20, 23/24

Bremen, 26. November 1910 im «Nachrichtenblatt» 1941, 18. Jg. Nrn. 46/47, und «Das Seelenpflege-bedürftige Kind» 1967,14. Jg. Heft 2

München, 11.Dezember 1910 in «Das Goetheanum» 1935, 14. Jg. Nrn. 16-20 Stuttgart, 27. Dezember 1910 in «Die Drei» 1930-31, 10. Jg. Heft 9.

Rudolf Steiner stand zur Zeit dieser Vorträge mit seiner anthroposophisch orien­tierten Geisteswissenschaft noch innerhalb der damaligen Theosophischen Gesell­schaft und gebrauchte die Worte «flieosophie», «theosophisch» usw. im Sinne seiner selbständigen Geistesforschung. Einer späteren Angabe Rudolf Steiners gemäß sind diese Bezeichnungen durch «Geisteswissenschaft» oder «Anthroposophie», «geistes-wissenschaftlich» oder «anthroposophisch» usw. ersetzt, es sei denn, daß ausdrück­lich auf die von H. P. Blavatsky ausgegangene theosophische Strömung Bezug ge­nommen wird, oder daß im umfassenderen Sinne eine Anschauung gemeint ist, für welche die geistesgeschichtliche Bezeichnung «Theosophie» gebräuchlich ist, wie dies zum Beispiel bei Jakob Böhme, Swedenborg, Novalis oder Schelling der Fall ist.

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke Rudolf Steiners sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

13 man kann es... in seinen nach gelassenen Schriften lesen: Fragmente, Enzy­klopädie V: «Physiologie. Schlaf ist ein vermischter Zustand des Körpers und der Seele. Im Schlafe ist Körper und Seele chemisch verbunden. Im Schlafe ist die Seele durch den Körper gleichmäßig verteilt - der Mensch ist neutra-lisiert. Wachen ist ein geteilter - polarischer Zustand. Im Wachen ist die Seele punktiert - lokalisiert. Schlaf ist Seelenverdauung; der Körper verdaut die Seele (Entziehung des Seelenreizes). Wachen ist Einwirkungizustand des See-lenreizes - der Körper genießt die Seele. Im Schlafe sind die Bande des Systems locker - im Wachen angezogen.» Wasmuth 1900.

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14 in seine Notizen hineinschreibt: Enzyklopädie IX: «Geisterlehre. Die Geister-welt ist uns in der Tat schon aufgeschlossen. - Sie ist immer offenbar. - Würden wir plötzlich so elastisch, als es nötig wäre, so sähen wir uns mitten unter ihr. Heilmethode des jetzigen mangelhaften Zustandes. Ehemals durch Fasten und moralische Reinigungen. Jetzt vielleicht durch die stärkende Methode.» Was­muth 2694.

21 Ändert eure Gesinnung: Matth. 3,2; 4, 11.

23 schrieb noch Tacitus: Annalen XV, 44.

24 Ich bin bei euch: Matth. 28, 20.

26 Meister der Weisheit und des Zusammenklan ges der Empfindungen: «Diese erhabenen Wesenheiten haben den Weg bereits zurückgelegt, den die übrige Menschheit noch zu gehen hat. Sie wirken nun als die großen .» Aus ei­nem Brief Rudolf Steiners an ein Mitglied, Berlin, 20. Januar 1905. Vgl. Vor trag München, 24. August 1911, in «Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen», Bibl.-Nr. 129, Gesamtausgabe 1960, und Vortrag Ber­lin, 26. Dezember 1909, in »Das Weihnachtsmysterium. Novalis, der Seher und Christuskünder», Dornach 1964.

28 intellektuelle Anschauung: Siehe Schelling, Gesammelte Werke, Stuttgart und Augsburg 1856-58, 4. Band, S.368 ff.

32 wie Hegel sagt (wörtlich): »Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Anderiseins ergeben.» «Vorlesungen über die Naturphilosophie», § 247.

35 einen merkwürdigen Ausspruch (wörtlich): «Denn das Vernünftige, was syno­nym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz eintritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erschei­nungen und Gestaltungen hervor...» Hegels Werke, 8. Band, Berlin 1833, S. 17 f.

Alles Wirkliche ist also vernünftig (wörtlich): «Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig», a. a. O. S. 17.

36 was heute im dreifachen Logos gesucht wird: Vgl. Rudolf Steiner «Zeichen und Entwicklung der drei Logoi in der Menschheit», gegeben an Edouard Schuré im Mai 1906, in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung» Heft 14, Michaeli 1965.

37 Theodor Schwann,1 810-1882, «Mikroskopische Untersuchungen über die Über­einstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und der Pflanzen», Berlin 1839.

Matthias Jakob Schleiden, 1804-1881. «Beiträge zur Phylogenesis» im «Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin», Jg. 5, 1838.

Ludwig Büchner, 1824-1899. «Kraft und Stoff. Empirisch-naturwissenschaft­liche Studien in allgemein-verständlicher Darstellung», Frankfurt a. M. 1855. Vgl. Rudolf Steiner, «Methodische Grundlagen der Anthroposophie», Gesam­melte Aufsätze 1884-1901, Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe 1961, S. 383-390;

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ferner «Zur Herausgabe des durch Rudolf Steiner. Mit einem Aufsatz von Ludwig Büchner» in «Nachrichten der Rudolf Steiner­Nachlaßverwaltung» Heft 7, Ostern 1962.

37 Hermann von Helmholtz, 1821-1894. Physiologe und Physiker. Hauptwerke:

«Über die Erhaltung der Kraft» (1847), «Handbuch der physiologischen Optik» (1856-66), «Die Lehre von den Tonempfindungen» (1862).

Wenn ich Hegel aufschlage.. ., so ist da ja der reine Unsinn: Aus der Rede «Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissen-schaft», gehalten zu Heidelberg am 22. Nov. 1862, gedruckt in «Vorträge und Reden», Bd. 1. Wörtlich : «Hegels Naturphilosophie erschien den Natur-forschern wenigstens absolut sinnlos... Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen; diese von jenen der Sinnlosigkeit.»

Julius Robert Mayer, 1814-1878, beobachtete 1840 als Schiffsarzt in Nieder­ländisch-Indien, daß venöses Blut in den Tropen heller gefärbt ist als im ge­mäßigten Klima. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt für seine Ent­deckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft (Energieprinzip), die er in seiner Abhandlung «Bemerkungen über die Kräfte in der unbelebten Natur», erschienen in Liebigs «Annalen», Band 42, 1842, veröffentlichte. In dieser Ab­handlung findet sich schon die Bestimmung des mechanischen Wärmeäquiva­lentes aus damals bekannten physikalischen Daten, die in der Thermodynamik klassisch geworden ist. Mayer fand erst nach langem Prioritätsstreit mit Joule, Helmholtz u. a. die ihm gebührende Anerkennung. Seine Abhandlungen er­schienen gesammelt unter dem Titel «Die Mechanik der Wärme», Stuttgart

1867.

38 Eduard von Hartmann, 1842-1906, schreibt im Vorwort zur S. Auflage seiner «Philosophie des Unbewußten», Berlin 1882:.... Annähernd gleichzeitig mit diesem Buche (, 2. Aufl. Ber­lin 1877) erschien die erweiterte zweite Auflage der Schrift

Vincenz Knauer, 1828-1894, «Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer

Entwicklung und teilweisen Lösung von Thales bis Robert Hamerling«, Wien

1892. Eine Besprechung dieses Buches durch Rudolf Steiner in «Methodische

Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901», Seite 329 f., Bibl.-Nr. 30, Ge­samtausgabe Dornach 1961.

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39 Franz Brentano, 1858-1917. Vgl. insbesondere Rudolf Steiner «Von Seelen-rätseln»; ferner «Menschenfragen und Weltenantworten», Bibl.-Nr. 213, Ge­samtausgabe 1969, Vorträge 6-10.

so erschien der... zweite Band zunächst nicht: Band II der «Psychologie« von Franz Brentano, hg. von Otto Kraus, Leipzig 1925, enthält lediglich die erstmals 1911 erschienene Schrift «Klassifikation der psychischen Phänomene» sowse esnige Abhandlungen aus dem Nachlaß.

Ernst Mach, 1838-1916. Er sah das oberste Gesetz alles Denkens darin, daß es seine Aufgaben mit dem geringsten Aufwand an Denkenergie lösen sollte. «Die Analyse der Empfindungen», Jena 1886, 2. Aufl. 1922; «Erkenntnis und Irr­tum», 5. Aufl. 1926. - Vgl. Rudolf Steiner «Vom Menschenrätsel», Bibl.-Nr. 20, Gesamtausgabe 1957, S. 151 Fußnote.

Kuno Fischer> 1824-1907, Hegelianer der zweiten Generation. «Geschichte der neueren Philosophie», 10 Bände, Mannheim und Heidelberg 1852-1877.

Karl Rosenkranz, 1805-1879. In der Einleitung seiner Hegel-Biographie, Ber­lin 1844 (wörtlich): »Denn scheint es nicht, als seien wir Heutigen nur die Totengräber und Denkmalsetzer für die Philosophen, welche die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts gebar, um in der ersten des jetzigen zu sterben?»

Otto Liebmann, 1840-1912. Führend in der Erneuerung des Kantschen Kriti­zismus. «Kant und die Epigonen», Stuttgart 1865. Vgl. Rudolf Steiner »Metho­dische Grundlagen der Anthroposophie», Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe 1961, S. 169-170, 173 f., 529 f.

Eduard Zeller, 1814-1908. «Geschichte der neueren Philosophie seit Leibniz», München 1873.

40 Rudolf Clausius, 1822-1888. Seine Abhandlung «Die bewegende Kraft der Wärme und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärme ableisen lassen», Poggendorffs «Annalen» 1850, enthält die Grundzüge der mechanischen Wär­metheorie, d.h. der Thermodynamik gemäß der heutigen Benennung.

Johannes Volkelt, 1848-1930. Vgl. »Methodische Grundlagen der Anthropo­sophie«, S. 47, 246-252, 313-315.

Herbert Spencer> 1820-1903.

William James, 1842-1910. Vgl. Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philosophie», Bibl.-Nr. 18, Gesamtausgabe 1968.

Wladimir Solowjow, 1853-1900. Vgl. insbesondere Rudolf Steiner, «Der

Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart», Gesammelte

Aufsätze 1921-1925, Bibl.-Nr. 36, Gesamtausgabe 1961, S. 62ff.

41 Emile Boutroux, 1845-1921. Siehe a. a. O. S. 59 ff.

42 Wege und Ziele des geistigen Menschen: Am Tag zuvor, 1. Juni 1910, fand die Einweihung des Rudolf Steiner-Zweiges in Kopenhagen statt. Rudolf Steiner hielt eine eindringliche Ansprache über «Das Symbol des Rosenkreu­zes», von welcher sich nur lückenhafte Notizen erhalten haben, die sich nicht zur Veröffentlichung eignen. Einige Passagen aber möchten wir, auch um des

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historischen Augenblickes willen, festhalten und lassen sie hier folgen. Nach den Einleitungsworten, in welchen die vor dreißig Jahren, genau 1875, er­folgte Begründung einer okkulten westlichen geisteswissens:haftlichen Bewe­gung durch H. P. Blavatsky und den Präsidenten der Theosophischen Gesell­schaft, Olcott, hervorgehoben wird, heißt es:

«In den kommenden drei Tagen werden wir sehen, daß die Menschen in dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts einen neuen Impuls brauchten. Viele suchende Seelen wären hingewelkt, hätten sie nicht H. P. Blavatskys spirituelle Hilfe und Einsicht bekommen...

Diese neue Lehre kann ein großer Segen für die Menschheit werden, aber auch eine große Gefahr. Die Menschen brauchen eine neue Kraft, wenn sie vor­wärtskommen wollen, aber eine Gefahr liegt darin, weil der Mensch schwach ist, und weil das Neue leicht zu einer Summe von Dogmen werden kann. Diese können dann eine Quelle der Uneinigkeit statt der Zusammenarbeit werden. Das haben schon viele neue Lehren bewirkt und werden es auch in Zukunft bewirken ...

Viele Menschen konnten sich in dem Zeichen H. P. Blavatskys finden und zu­sammenarbeiten. Es war zu groß, um von einem Menschen allein erfaßt zu werden, aber wie die gebrochenen Strahlen sich im Prisma vereinigen, so sam­melten sie sich hier im Zeichen von H. P. Blavatsky. Die ungeheuren Kräfte der und der - wenn sie auch einseitig sind - schenken den Menschen große Möglichkeiten, und sollte es uns nicht befriedigen, müssen wir doch verstehen, daß wir in die Bewegung hineingießen müssen, was not­wendig ist...

Die westliche Theosophie baut auf eigene menschliche Autorität und Freiheit. Es ist die Aufgabe der westlichen theosophischen Schule, dazu beizutragen, daß dies durch das Symbol des Rosenkreuzes in seiner wahren Bedeutung er­reicht werden kann ...

Eine Eigenschaft hat das Symbol des Rosenkreuzes, es verspricht uns, daß das geistige Leben einfließen wird, und daß die Dogmen den Arbeitsstoff nicht beherrschen sollen. Leben, neues Leben verspricht das Rosenkreuz. Mles, was aus einem Buch, aus einer Meinung oder einem Gespräch sich bildet, setzt sich fort zu neuem Leben, das wie die Pflanze immer wieder neu keimt und ständig wächst. So soll alles wachsen, und wenn abermals eine neue Offenbarung kommt, dann tritt es in neuer Gestalt hervor. Das verspricht das Rosenkreuzer-Mysterium: ein geistiges Leben, das sich aus umgestaltetem Seelenleben bildet. Als Liebe tritt es hervor, als schaffendes Wirken in unserem Leben. Es ver­wandelt sich in strebende Kraft. Wie die Liebe verwandelt es sich, und es ent­steht die wahre Brüderlichkeit. - Die Menschen bekriegen sich, weil sie ver­schiedenen Willens sind. Das Innere ist die Ursache des Äußeren. Können wir nicht einen Bruder lieben, weil er eine andere Meinung hat, dann können wir nicht an den großen Fragen arbeiten. Man muß verstehen, sonst gibt es keine Liebe. Wahre Liebe muß so groß sein, daß sie alles umfassen und alle Meinun­gen verstehen kann...

Dies sollte am heutigen Tage gesagt werden als Antwort auf die freundlichen Worte, welche an mich gerichtet wurden. Zu diesem Punkte muß gesagt werden,

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daß es Streit und Haß geben kann, wenn man den Namen eines leben­den Menschen verwendet. Diese Dinge werden vorkommen. Wir müssen uns klar sein, daß wir mit einem solchen Namen nicht persönliche Ziele verfolgen dürfen, sonst wird es leicht mißverstanden. Der Name darf nicht auf andere Gebiete zurückwirken. Je gründlicher Sie diesen Namen vergessen, um so mehr wird es der Sache zugute kommen, aber nie wird Ihre Arbeit von mir vergessen werden. Das ist das Geschenk, welches Sie mir geben können. Wir müssen lernen, daß alles unpersönlich ist, und verstehen, daß die erste Pflicht darin besteht, uns das Versprechen zu geben, daß wir an dem großen geistigen Fort­schritt mitarbeiten und unsere Herzen stark machen wollen. Dann werden wir immer wahrhaftig das Mächtige finden, das wirkt und unsere Arbeit segnet...»

54 Fallmaschine: Eine Vorrichtung, welche die Beschleunigung, die ein Körper durch die Schwerkraft erfährt, herabsetzt und dadurch die Bewegung fallen­der Körper leichter beobachtbar macht.

57 Paulus sagt: Galater 2, 20.

60 Vitalismus: In der Biologie die Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Lebens im Gegensatz zu der mechanistischen Weltansicht.

61 zwölf verschiedene Gesichtspunkte: Vgl. Rudolf Steiner »Der menschliche und der kosmische Gedanke», Bibl.-Nr. 151, Gesamtausgabe 1961.

69 über die Philosophie Hegels: Siehe Vortrag vom 26. Mai 1910 auf Seite 27ff.

76 Carl Unger, 1878-1929, Dr. Ing., Inhaber einer Werkzeugmaschinenfabrik, seit 1905 persönlicher Schüler Rudolf Steiners, Vorstandsmitglied der Deut­schen Anthroposophischen Gesellschaft, Vortragender und Schriftsteller. Ge­sammelte Schriften in 3 Bänden, Stuttgart 1964 und 1966, Zürich 1956. Er wurde vor Beginn eines öffentlichen Vortrags in Nürnberg am 4. Januar 1929 von einem Geisteskranken erschossen.

77 Ein wirklich nicht unbeträchtlicher Denker: Konnte bis jetzt nicht festgestellt werden.

78 Vibrationstheorie (Undulationitheorie) : Danach ist das Licht eine Wellen-bewegung, die sich von einem leuchtenden Körper in ähnlicher Weise fort-pflanzt wie der Schall von einem tönenden Körper.

Clausiussche Theorie: Siehe Hinweis zu S. 40.

79 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896. «Über die Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1872; «Die sieben Welträtsel», Leipzig 1888.

80 Bernhard Riemann, 1826-1866. «Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen», Göttingen 1854. Seine geometrischen Untersuchungen wur­den unter der Bezeichnung Riemannsche Geometrie zusammengefaßt. Danach sind der Raum und die geraden Linien endlich, aber unbegrenzt und in sich zurücklaufend. Es gibt keine Parallele zu einer Geraden, und die Summe der Winkel eines Dreiecks ist größer als 180 Grad. Die Riemanniche Geometrie in allgemeinster Form spielt in der Relativitätstheorie Einsteins eine Rolle.

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80 Nikolai Lobatschewskij, 1763-1856. «Über die Anfangsgründe der Geometrie», Kasan 1828. Gleichzeitig mit dem ungarischen Mathematiker und Dichter Far­kas Bolyai, aber unabhängig von diesem entwickelte Lobatschewskij eine nicht­euklidische Geometrie. Ein charakteristisches Element dieser Geometrie liegt in den Sätzen, daß zu einer Geraden durch einen Punkt außerhalb derselben zwei Parallelen möglich sind und daß die Summe der Winkel eines Dreiecks kleiner als 180 Grad ist.

81 Henri Poincaré, 1854-1912, Mathematiker, Physiker und Astronom. Er be­zeichnete die Mathematik als freie Schöpfung des menschlichen Geistes, die sich willkürlicher Zeichen bediene, um reale Beziehungen darzustellen.

Ferdinand von Lindemann> 1852-1939, Professor in Freiburg, Königsberg und München. Übersetzte gemeinsam mit Frau Lisbeth Lindemann Poincarés «Wis­senschaft und Hypothese», München 1904.

82 Darin ist ein Kapitel: XIII. Der Wert des Lebens (Pessimismus und Optimis­mus).

84 Julius Robert Mayer: Siehe Hinweis zu S. 37.

Sadi Carnot, 1796-1832.

was... Hermann Helmholtz daraus gemacht hat: Siehe »Über die Wechsel­wirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik», Vortrag, gehalten zu Königsberg am 7. Febr. 1854. Gedruckt in »Vorträge und Reden», Bd. 1.

85 der einzige Trost, den Helmholtz fand: Wörtlich: «Sollen wir darüber er­schrecken?... Für viel lange Reihen von Jahrtausenden, länger als unser Ge­schlecht sie bisher erlebte, scheint der jetzige, seinem Bestehen günstige, Zu­stand der unorganischen Natur gesichert zu sein, so daß wir für uns und für lange, lange Reihen von Generationen nach uns nichts zu fürchten haben.»

Gegen diesen Vortrag wandte sich ... Karl Rosenkranz: In seinem Vortrag «Über Helmholtzen's Beweis für den endlichen Stillstand des Weltalls», gehal­ten zu Königsberg am 28. Mai 1856. Gedruckt in «Neue Studien», Bd. 1, Leip­zig 1875.

86 Da weist dann Karl Rosenkranz mit Recht darauf hin: Eine charakteristische Stelle lautet: «Nun ist aber in der Art der Bewegung ein Unterschied, denn sie kann sich auf endliche oder unendliche Weise erzeugen. Auf endliche durch Stoß und Fall als die Form der Bewegung auf den einzelnen Weltkörpern, die immer einen äußeren Anfang hat und notwendig wieder in Ruhe übergeht. Auf unendliche Weise aber bringt sich die Bewegung der Weltkörper hervor, indem sie durch die Wechselwirkung ihrer Attraktion sich gegenseitig in der Schwebe erhalten und sich um einander herumwälzen. Weil hierbei. wie wir

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sahen, die Friktion des Äthers gleich Null ist, so kann sie sich immer von selbst wiedererzeugen, ohne Wärme zu produzieren und ohne stillzustehen. Wenn das Universum auch lichtlos wäre, wenn auch alle Wärme der Himmelskörper in die endlose Wüste des Äthers verstrahlt wäre, so würden sich die kalten Massen doch mit derselben Präzision wie jetzt durch die Finsternis hinschwin­gen, weil die Attraktion der Materie eine ihr unmittelbar immanente Funk­tion ist und die Gravitation nach Newton's Prinzipien aller Materie inhäriert. Die qualitative Beschaffenheit der Materie, die sonst in ihr möglichen Pro­zesse, magnetische, elektrische> chemische> thermische, kommen für den Me­chanismus als solchen nicht in Betracht. Da nun Helmholtz Newton's Prin­zipien anerkennt> so muß er die Möglichkeit zugestehen, daß das mechanische Universum in ewiger Bewegung müsse existieren können und daß Expansion und Kontraktion d. h. Temperaturverschiedenheit, schlechthin gleichgültig da­für ist. D. h. er muß zugeben> daß ein absoluter Stillstand der Welt aus dem Begriff der Materie und der Schwere heraus so wenig denkbar ist, daß wir viel­mehr das Gegenteil annehmen müssen Ist aber die Natur eine Maschine? Waltet in ihr die Endlichkeit der Verhältnisse, die für eine Maschine not­wendig sind? Ist es nicht die Wechselwirkung der Kräfte> welche das Dasein der Natur in der Tat unaufhörlich verjüngt, indem ihr Antagonismus es nir­gends zu einem Stillstand kommen läßt und durch Vermittelung von Über-gängen die Zurückverwandlung von Kraft in Kraft, die Wiederherstellung der Ungleichheit> möglich macht? Raum und Zeit, Äther und Atom, Masse und Masse> Finsternis und Licht, Kälte und Wärme> Pol und Pol> physikalische Prozesse und Leben organischer Individuen, bringen in rastloser Umgestaltung den Kosmos hervor> so daß man beim erhabenen Schauspiel seiner Eurythmie mit dem Erzengel Raphael im Goethe>ichen Faust ausrufen möchte:

Die Sonne tönt nach alter Weise .. .»

Aus «Neue Studien» von Karl Rosenkranz> siehe Hinweis zu S. 85.

88 Joseph Hyrtl> 1810-1894> österreichischer Anatom von Weltruf, Professor in

Prag, später in Wien. «Lehrbuch der Anatomie des Menschen, mit Rücksicht

auf Physiologische Begründung und praktische Anwendung», Prag 1846, 20.

Auflage, Wien 1889.

Grundlinien dieser geisteswissenschaftlichen Physiologie: Siehe Rudolf Steiner «Eine okkulte Physiologie», Bibl.-Nr. 128, Gesamtausgabe 1971.

92 «Die Kinder des Lucifer» : Schauspiel von Edouard Schuré Autorisierte Über­tragung von Marie Steiner. Siehe Rudolf Steiner/Edouard Schuré «Lucifer -Die Kinder des Lucifer», Dornach 1955.

mit einer Rezitation beginnt: Durch Marie von Sivers (Marie Steiner), ebenso die später folgenden Bilder.

103 als ich die Dichtung des «Faust» interpretieren sollte: Siehe Rudolf Steiner «Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust» Band I und II, Bibl.-Nrn. 272 und 273, Gesamtausgabe 1967.

109 Das Leben stellt sich so dar: Vgl. Rudolf Steiner «Die Geheimwissenschaft im Umriß».

122 In den Anregungen: Bern, 12. September 1910, «Das Matthäus-Evangelium», Bibl.-Nr. 123> Gesamtausgabe 1971, zwölfter Vortrag: «Nehmen Sie das, was

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ich in diesen Tagen schildern durfte, als eine Seite des großen Christw-Ereig­nisses, und seien Sie sich klar, daß durchaus noch nicht alles damit gesagt ist ... Das Beste aber> was uns aus dieser Tatsachendarstellung fließen kann, ist, daß wir sie aufnehmen nicht nur in unseren Verstand und Intellekt, sondern daß wir sie verbinden mit den innersten Fasern unseres Seelenlebens, mit unserem gan­zen Gemüt und unserem ganzen Herzen und darin weiterleben lassen. Die Evangelienworte sind Worte, die, wenn wir sie in unser Herz einprägen, dar­innen zu Kräften werden, die uns durchdringen und eine merkwürdige Lebens-kraft entwickeln, wenn wir sie wirklich verstehen. Und wir werden sehen, daß wir diese Lebenskraft hinaus mit ins Leben tragen.»

124 Wenn ich ihn überdenke: Siehe «Mein Lebensgang», Kapitel XII.

125 da und dort: Vgl. den vorangehenden Vortrag Basel, 17. September 1910, S. 92.

135 Zum Mittler für den Gott: In der ersten Ausgabe von 1910 findet sich von Rudolf Steiners Hand die Verbesserung «Geist» für «Gott».

142 Adolf Arenson, 1855-1936, komponierte in München auf Veranlassung von

Rudolf Steiner die Musik zu allen vier Mysteriendramen. Auf Bitte von Marie

Steiner wurde die Musik bei der Eröffnung des zweiten Goetheanum, Michaeli

1928, und auch später in Dornach aufgeführt.

162 vor kurzem mit mir betrachtet: Siehe Rudolf Steiner «Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte», Bibl.-Nr. 122, Gesamtausgabe 1961.

über die verschiedenen Evangelien: Die bis zu diesem Zeitpunkt gehaltenen Evangelienzyklen sind in folgenden Bänden der Gesamtausgabe enthalten :

«Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis», Bibl.-Nr. 100, «Das Jo­hannes-Evangelium», Bibl.-Nr. 103> «Das Johannes-Evangelium im Verhält­nis zu den drei anderen Evangelien> besonders zu dem Lukas-Evangelium», Bibl.-Nr. 112, «Das «Lukas-Evangelium», Bibl.-Nr. 114, «Die tieferen Ge­heimnisse des Menichheitiwerdens im Lichte der Evangelien», Bibl.-Nr. 117, «Das Matthäus-Evangelium»> Bibl.-Nr. 123; ferner waren bereits die ersten vier Vorträge der «Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums», Bibl.­Nr.124, gehalten.

164 Salomon Reinach: «Orpheus. Allgemeine Geschichte der Religionen», Deutsche Ausgabe von A. Mahler, Wien 1910.

165 Beweis... Jena 1909/11.

168 unseren Zweig in Palermo: Von den beiden am 18. und 24. April 1910 in Pa­lermo gehaltenen Vorträgen behandelt der erste «Die Wiederkunft Christi», nach Hörernotizen wiedergegeben in «Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt», Bibl.-Nr. 118, Gesamtausgabe 1965. Von dem zweiten Vortrag> in dem Rudolf Steiner über Empedokles sprach, ist keine Nachichrift erhalten.

Empedokles: Siehe «Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Be­wußtseins», Bibl.-Nr. 116, Gesamtausgabe 1961> sechster Vortrag vom 2. Mai 1910, in dem der zweite in Palermo gehaltene Vortrag ebenfalls erwähnt wird; «Das Markus-Evangelium«, Bibl.-Nr. 139, Gesamtausgabe 1960, erster und siebenter Vortrag.

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169 wurde Empedokles schwankend: Vgl. Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philo­sophie», S. 60 f.

170 unter welchem Namen: Anderthalb Jahre später nennt Rudolf Steiner den geschichtlichen Georg Faust als Wiederverkörperung des Empedokles; siehe «Das Markus-Evangelium», erster Vortrag.

171 Euklid, um 300 v. Chr., Verfasser der «Elemente», des bekanntesten Lehr-buches der älteren griechischen Mathematik.

173 Marcus Tullius Cicero, 106-43 v.Chr. «Cicero... hing der neuen Akademie an und studierte diese Philosophie mit dem größten Eifer> indem er willens war, falls er zu Rom von Staatsämtern ausgeschlossen werden sollte> sich von dem Markte und von allen öffentlichen Geschäften nach Athen zurückzuziehen und hier sein Leben in stiller Ruhe bloß der Philosophie zu widmen.« Die neue Akademie lehrte> daß «alle Erfahrung der Sinne trügerisch« sei. Plutarchs «Vergleichende Lebensbeschreibungen«, übersetzt von Joh. Friedr. Sal. Kalt-wasser, neu hg. von Otto Guthling, Leipzig o. J. Band X> S. 158 f.

177 P. Jensen, Professor der semitischen Philosophie in Marburg. «Moses, Jesus, Paulus. Drei Varianten des babylonischen Gottmenschen Gilgamesch. Eine An­klage und ein Appell«, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1910.

180 Jeshu ben Pandira: Vgl. Rudolf Steiner «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit«> Bibl.-Nr. 130> Gesamtausgabe 1962.

181 schrieb er (Schiller) an Goethe: 7. Januar 1795.

bedeutungsvollen Brief: 23. August 1794.

in dem erwähnten Brief (wörtlich) : «Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht> setzt Sie nie in Gefahr> auf den Abweg zu ge­raten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen In­tuition liegt alles und weit vollständiger> was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum ver­borgen; denn leider wissen wir nur das> was wir scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten> wie weit sie gedrungen sind> und wie wenig Ursache sie haben> von der Philosophie zu borgen, die nur von Ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Ana­lytikers, sondern des Genies> welches unter dem dunkeln, aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet.»

182 seine folgenden Aussprüche (wörtlich) : «Wem die Natur ihr offenbares Ge­heimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin> der Kunst» (Sprüche in Prosa, 810) - «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Er­scheinung ewig wären verborgen geblieben» (Sprüche in Prosa, 811). «Maxi­men und Reflektionen. Aus Kunst und Altertum», IV. Band, 2 «Fehler der Dilettanten : Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen» in «Maximen und Reflektionen. Über Kunst und Kunstgeschichte.»

183 die niederen Formen des Hellsehens: Vgl. Rudolf Steiner «Das Suchen nach übersinnlichen Erfahrungen. Spiritismus, Hypnotismus, Somnambulismus -

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ihr Wesen> ihre Geschichte und ihr Verhältnis zur Geisteswissenschaft», 4 öffentliche Vorträge, Berlin 1904. Innerhalb der Gesamtausgabe in «Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung», Bibl.-Nr. 52, Gesamtausgabe 1972, sowie als Einzelausgabe 1972.

185 Symbolum vom schwarzen Kreuz mit den Rosen: Vgl. «Die Geheimwissen­schaft im Umriß»> Kapitel: Die Erkenntnis der höheren Welten (Von der Ein­weihung oder Initiation), ferner «Makrokosmos und Mikrokosmos», Bibl.­Nr. 119> Gesamtausgabe 1962> 8. Vortrag.

186 Goethes «Stirb und Werde»: «West-östlicher Divan», Selige Sehnsucht.

192 Zum Beispiel Goethe: Gedichte, sprichwörtlich:

>s nicht besser wüßte!

Der Neid, das ist der Egoiste;

Und was ich auch für Wege geloffen>

Auf>m Neidpfad habt ihr mich nie getroffen.»

Benvenuto Gellini> 1500-1571> Goldschmied und Bildhauer. Selbstbiographie

Neapel 1758. Übersetzung aus dem Italienischen von Goethe, Tübingen 1803.

Cellini betont darin mehrfach seine Wahrheitsliebe, so im III. Buch, 8. Kapitel

und IV. Buch> 7. Kapitel, wo er von sich als einem «beständigen Freunde der

Wahrheit und Feind der Lüge» spricht.

198 höchstens auf esoterischem Gebiet: In dem in Nürnberg am 12. November

1910 gehaltenen Parallelvortrag> von dem nur eine fragmentarische Nach-schrift vorliegt, heißt es in diesem Zusammenhang: «Etwas anderes ist es, wenn jemand eine esoterische Entwicklung durchmachen will. Da kann man ihm dann Rat geben> wie er sein Schicksal am besten austragen kann.»

204 Reißet nieder: Johannes, 2> 19-21.

223 ich möchte Ihnen eine Einzelheit erzählen: Vgl. im Vortrag vom 13. November

1910, S. 168 ff.

234 Oberschützener Sternsinger: Aus «Deutsche Weihnachtspiele aus Ungarn», ge­schildert und mitgeteilt von Karl Julius Schröer. Neue Ausgabe, Wien 1858 und 1862, S. 160. Zu den beiden letzten Zeilen bemerkt K. J. Schröer: «Diese

Zeilen sind aus dem Zusammenhang gerissen und gehören nicht ans Ende, sind auch aus urspr. 4 Zeilen zusammengezogen, so daß der Reim darauf ging. Ursprünglich hieß es :

Herodes sprach aus einem tratz :

wie ist es nur der hinder so schwarz? -

Er ist uns halt gar wohlbekannt,

er ist wol aus dem Morenland.»

235 Das Wesentliche der alten Weihnachtspiele: Vgl. Rudolf Steiner «Von den volkstümlichen Weihnachtspielen. Eine Christfest-Erinnerung» und »Zur Auf­führung unserer volkstümlichen Weihnachtspiele»> beides in «Der Goetheanum­gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart», Gesammelte Aufsätze 1921-1925; ferner die Vorträge Berlin, 19. Dezember 1915, Dornach, 26., 27. und 28. Dezember 1915> in »Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls», Bibl.-Nr. 165> Gesamtausgabe 1968.

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236 Karl JuLius Schröer, 1825-1900, Germanist, Professor an der Technischen Hochschule in Wien, Lehrer und väterlicher Freund Rudolf Steiners. Siehe «Mein Lebensgang», «tBriefe», Bd. I, «Vom Menschenrätsel» und »Methodische Grundlagen der Anthroposophie».

237 die vier folgenden Regeln: Siehe Schröer «Deutsche Weihnachtspiele aus Un­garn», S. 8.

Was ich Ihnen eben angeführt habe: Siehe «Weihnachtspiele aus altem Volks­tum - Die Oberuferer Spiele»> Sonderdruck aus Bibl.-Nr. 43, Dornach 1965.

240 in den Paulusbriefen: Röm. 12-19, 1. Kor.> 15, 45.

in unseren beiden Kunstzimmern: Diese Kunstzimmer> von denen das eine in Berlin-Charlottenburg> das andere in Berlin-Ost eingerichtet wurde (zwei an­dere gab es in München), verdienen es, in der Erinnerung festgehalten zu werden. Denn sie gehen durchaus auf den inspirierenden Einfluß zurück, den das soziale Wirken und die Menschenachtung Dr. Steiners ausübte, - wenn auch die unmittelbare Initiative dieser einzelnen Tat dem warmen Herzen der zwei die anthroposophische Arbeit in München leitenden Künstlerinnen> Fräulein Stinde und Gräfin Kalckreuth> entsprang, und dann von Fräulein v. Sivers und Fräulein M. Waller auch in Berlin durchgeführt wurde. Diese Kunstzimmer waren fürs breite Volk gedacht, als gastfreie Stätten, die nicht nur Wärme und Behaglichkeit, sondern auch Schönheit> Ästhetik und geistige Anregung bieten sollten. Die Wände waren mit farbigen Rupfen bespannt> alles bis auf die Bestuhlung dem gewählten Tone angepaßt; Bilder-Ausstel­lungen wechselten jeden Monat : gute Reproduktionen klassischer Kunstwerke und Gemälde zeitgenössischer Künstler; Abendveranstaltungen gab es mit musikalischen und rezitatorischen Darbietungen, einen Einführungskurs in Geisteswissenschaft, auch in andere Wissensgebiete, - kleine dramatische Dar­stellungen> wie z. B. die «Geschwister» von Goethe und ähnliches. Hier war es auch, wo in Berlin die Weihnachtspiele aus altem Volkstum eingeführt wurden> die dann von Mitspielern nach anderen Stätten gebracht werden konnten. Es darf vielleicht erwähnt werden> daß es nach den Anstrengungen des Tages nicht immer leicht war, bei Nacht und Nebel die weiten Wege in den Osten Berlins mit Untergrundbahn oder Tram zurückzulegen und zuletzt in abgelegenen dunklen Straßen im Schnee zu stapfen. Doch das tägliche Beispiel des unermüdlichen Schaffens Dr. Steiners wirkte anfeuernd. Und man lernte aus eigener Erfahrung die Bedeutung des Kontrastes kennen, wenn man aus der trostlos steinernen Umgebung öder Arbeiterquartiere in die warme Umhüllung eines in gedämpftem Rot erstrahlenden Raumes trat und das Auge auf Kunstwerke fiel> die den Blick fesselten und das Herz erfrischten> so daß es in Sammlung dem Gebotenen in Wort und Ton folgen und sich von der Last des Alltags einigermaßen befreien konnte. In bescheidenem und klei­nem Rahmen war es doch Nahrung für die Seelen der Geistsuchenden aus der arbeitenden Bevölkerung. In diesem Sinne war ja so manches in Briefen zum Ausdruck gekommen, die Rudolf Steiner erhalten hatte, als er noch in der Arbeiterbildungsschule Berlins wirkte. Ihm wurde dafür gedankt, daß er den Glauben habe, der Arbeiter brauche auch das geistige Brot> nicht nur das physische.

Der Weltkrieg brachte Veränderungen auch in diesen Betrieb. Das große Kunstzimmer in der Motzstraße mit seinen Nebenräumen wurde in einen

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Kinderhort umgewandelt, in dem das aus dem bolschewistischen Rußland geflüchtete Fräulein Samweber eine hingebungsvolle Tätigkeit entfaltete, opferfreudig unterstützt in der auf Spenden beruhenden Verpflegung und Hütung der Kinder durch Damen der Anthroposophischen Gesellschaft. Licht> Luft und Freude hatten sie in den schönen Räumen des Vorderhawes; Dr. Stei­ner begnügte sich mit den viel bescheideneren Zimmern des Hinterhauses. Das ist nebensächlich, doch für ihn symptomatisch. (Marie Steiner.)

244 Der Sternsinger spricht: Siehe Hinweis zu S. 237.

256 Zipser Deutsche: Ihre Einwanderung in die Oberzips geht ins 12. bis 13. Jahr­hundert zurück. Die Gemeinschaft der 24 Zipser Städte besaß bis 1876 Selbst­verwaltung und eigenes Stadtrecht. Nach 1945 blieben nur kleinere Gruppen in den siowakischen Städten zurück.

Karl Julius Schröer: Siehe Hinweis zu S. 236.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.