GA 117

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die tieferen Geheimnisse
des Menschheitswerdens
im Lichte der Evangelien

Zwölf Vorträge,
gehalten in Berlin, Stuttgart, Zürich und München
vom 11. Oktober
bis 26. Dezember 1909

GA 117

1986

Inhaltsverzeichnis


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BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN Berlin, 11. Oktober 1909 (Notizen)

Im letzten Basler Kursus war es zum ersten Male möglich, über ein Thema zu sprechen, das bis dahin innerhalb der Deutschen Sektion noch nicht berührt worden ist. Über das Christus-Ereignis selber ist freilich schon öfters gesprochen worden, besonders in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium. Durch Anknüpfung an das LukasEvangelium, wie das in Basel geschehen ist> war es möglich, besonders auch das zu berühren, was die Vorgeschichte des Christus genannt werden kann. Dabei hat man es mit sehr komplizierten Verhältnissen zu tun. In den Leib des Jesus von Nazareth zog bekanntlich ein hohes Sorinenwesen ein und lebte drei Jahre lang darin, von der Jordantaufe bis zum Mysterium von Golgatha. Über dieses hohe ChristusWesen ist schon öfters geredet worden. Aber über das, was als die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth vor unserer Seele lebt und jene Wesenheit aufgenommen hat, kann nur in Anknüpfung an ein Evangelium, welches die Geschichte des Jesus von seiner Kindheit an umfaßt, Genaueres gesagt werden. Die Entwickelung des Jesus von seiner Geburt bis zur Jordantaufe bildete das Hauptthema der Basler Vorträge. Schon in dieser Vorgeschichte haben wir sehr komplizierte Verhältnisse vor uns. Das Größte, muß man stets bedenken, ist eben nicht leicht zu fassen und so einfach darzustellen. Das Weltgebäude ist mit ein paar wenigen Strichen nicht zu zeichnen oder mit ein paar bequemen Begriffen zu begreifen.

Jene Persönlichkeit, die in dem dreißigsten Jahre die ChristusWeseiiheit in sich aufnahm, ist in sehr komplizierter Weise zusammengesetzt. Nur aus der Akasha-Chronik heraus sind die richtigen Anhaltspunkte zu gewinnen, warum in den verschiedenen Evangelien die Vorgeschichte Jesu verschieden dargestellt ist.

Heute soll in kurzen Umrissen einiges über den Jesus von Nazareth erzählt werden, um doch eine Übersicht über das in den Basler Vorträgen näher Ausgeführte zu haben. Es wird auch beabsichtigt, in den Mitgliedervorträgen diesen Winter zu sprechen über das Matthäus

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oder eventuell über das Markus-Evangelium. Das Christus-Ereignis tritt dann in einer solchen neuen Darstellung wieder in ganz anderem Lichte an uns heran. Man kennt dieses Ereignis in der bloßen Anknüpfung an das Johannes-Evangelium durchaus noch nicht genügend. Doch kann zunächst nur skizzenhaft über diese Dinge gesprochen werden.

Die Chronik des Hellsehers, die Akasha-Chronik, enthüllt uns in lebendigen Schriftzeichen das, was im Laufe der Zeit geschehen ist. Der Gang der spirituellen Mitteilungen ist in der Regel so, daß zu- nächst Tatsachen der Akasha-Chronik bekanntgegeben werden, ohne Anknüpfung an eine bestimmte Urkunde. Erst nachher wird dann gezeigt, daß sich alle diese Dinge in gewissen Urkunden wiederflnden lassen, besonders in den Evangelien, die nur mit Zuhilfenahme der Tatsachen der Akasha-Chronik richtig zu verstehen sind.

In Palästina sind seinerzeit die geistigen Strömungen zusammengeflossen, die vorher in der Welt getrennt gegangen waren. Anknüpfend an das Lukas-Evangelium könnte man von drei geistigen Strömungen reden, die sich im Christus-Ereignis getroffen haben. Die eine ist an Buddha geknüpft, die andere an Zarathustra, und die dritte war verkörpert in der althebräischen Kultur. Diese drei Strömungen flossen in einem konkreten Ereignis zusammen, eben in jenem Christus-Ereignis. Man redet von solchen geistigen Strömungen meistens viel zu abstrakt. Tatsächlich aber verwirklichen sie sich in speziellen Wesen, die so gestaltet sein müssen, daß in ihnen die Strömungen zusammeniließen konnten. Es ist also nötig, solche Wesenheiten in ihrer inneren Zusammensetzung genau zu erforschen.

Die buddhistische Strömung erreichte ihren Höhepunkt im Gautama Buddha. Er hatte vorher Verkörperungen durchgemacht. Jene Verkörperung im 6. Jahrhundert vor Christus war jedoch in seinem Dasein ein bedeutungsvoller Höhepunkt. Da wurde Gautama erst das, was man einen Buddha nennt. Vorher war er bloß Bodhisattva, das heißt, ein großer Lehrer der Menschheit. Diese letztere nimmt im Laufe der Zeit allmählich andere Fähigkeiten an. Wir selber lebten wohl einst im alten Ägypten, aber mit ganz andern Fähigkeiten ausgestattet,

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als wir sie heute haben; alte Fähigkeiten sind zum Teil zurückgegangen, neue hinzugetreten.

Wer eine solche Entwickelung nicht berücksichtigt, tut eben keinen unbefangenen Blick hinaus in die Welt. Heute zum Beispiel kann der Mensch aus sich heraus gewisse logische und Sittengesetze erkennen, kann seine Urteilskraft anwenden, aus sich heraus dies oder jenes erkennen. So war es aber in den Urzeiten nicht. Damals hätte zum Beispiel der Mensch nichts über das Sittllche in sich gefunden. Er würde solche Gesetze, wenn sie ihm in den heutigen Worten beigebracht worden wären, auch gar nicht verstanden haben. Es mußte an eine ganz andere Fähigkeit appeffiert werden. So gibt es heute gewisse Wahrheitsbestände für den Menschen, die noch vor dreitausend Jahren nicht auf:indbar gewesen wären, so zum Beispiel die Lehre vom Mitleid und von der Liebe. Heute belehrt uns eine innere Stimme über die Gesetze von Mifleid und Liebe. Damals hätte der Mensch vergeblich nach einer solchen Stirnme gesucht. Da mußte, um ein häßliches Wort zu gebrauchen, dem Menschen Mitleid und Liebe einsuggeriert werden.

Die Wesenheit, deren Aufgabe es während Jahrtausenden war, Mit- leid und Liebe in die Menschen aus höheren, geistigen Regionen einffießen zu lassen, war jener Bodhisattva, der sich dann in Indien als Buddha inkarnierte. Als ein Mensch in der physischen Welt hätte er von Mitleid und Liebe nichts in sich gefunden. Durch ihre Einweihung ragten aber die BodIiisatt"as in die geistigen Regionen empor, wo sie dera:ttige Lehren wie diejenige von Mitleid und Liebe herunterholen konnten. Es komi~t aber einmal der Moment, da die Menschheit reff geworden ist, das nunmehr selber zu ftriden, was ihr vorher eingeflößt worden war. So war es auch für Mitleid und Liebe.

Als jener Bodiiisatt`ra zum Buddha aufstieg> also in der betreffenden Inkarnation im 6. Jahrhundert vor Christus - Sitzen des Bodhisattva unter dem Bodhibaum -, ging in seinem eigenen Wesen nicht nur Wichtiges vor, sondern auf der ganzen Erde überhaupt. Damals ging in dem Mensch gewordenen Buddha jene Lehre von Mitleid und Liebe auf, beziehungsweise eine Umschreibung derselben, nämlich

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die vom achtteiligen Pfad, der genaueren Ausführung jener Lehre von Mitleid und Liebe. Dadurch, daß der Buddha diese Lehre lebendig in sich erkennen konnte, ward der Menschheit die Möglichkeit geschaffen, künftig dasselbe zu erleben. Seit damals können nun gewisse Menschen solches erkennen und nach dem Vorbild des großenBuddha ein entsprechendes Leben führen, das gleichsam die Lehre vom achtgliedrigen Pfad lebendig aus sich herauskristaffisiert.

Erst dann aber, wenn eine größere Anzahl von Menschen so weit herangereift ist, das zu erfahren, was Buddha damals erfuhr, ist diese Sache zur eigenen und eigentlichen Angelegenheit der Menschheit geworden. So wird aus höheren Sphären herab unserer Welt Mission nach Mission übertragen. Bis nach etwa dreitausend Jahren, von jetzt ab gerechnet, sind genug Menschen reff geworden, den achtgliedtigen Pfad zu wandeln, und dann wird Mitleid und Liebe der Menschheit zu eigen geworden sein. Dann wird ein neues Ereignis kommen und eine neue Mission heranbringen, aus der geistigen in die physische Welt herunter.

Einst ließ also der Buddha jene Lehre von Mitleid und Liebe in die Menschheit einströmen. Nun aber wirkt sie lebendig in ihr weiter, seitdem Buddha den Anstoß dazu gegeben. Wenn ein Bodhisattva nach etwa dreitausendjähriger Tätigkeit sein Amt verwaltet hat, wird er ein Buddha, der dann eben eine gewisse Mission an der Menschheit erfüllt.

Was ist nun aus jenem Buddha, dessen Mission gewesen ist, Mitleid und Liebe an die Menschheit zu btingen, geworden, nachdem er den physischen Körper verlassen hatte? Buddha bedeutet immer eine letzte Inkarnation. Er bedurfte nur noch der Gautama-Inkarnation, um eine Mission zu erfüllen. Seit jener Zeit ist es nun jener Bodhisattva-Individualität, weil sie Buddha geworden, nicht mehr möglich, in einen physischen Leib herabzusteigen. Sie kann sich bloß noch bis herab zum Ätherleib inkarnieren. Jener Buddha kann also heute nur noch vom Hellseher geschaut werden. Eine solche Form, die eine Individualität aiinimmt, ohne den physischen Leib mitzuenthalten, nennt man Nirmanakaya. Darin leitet die Wesenheit die Mission weiter, die ihr als Bodhisattva übertragen worden war. So wurde

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auch das große Christus-Ereignis durch jenen im Nirmanakaya waltenden Buddha vorbereitet.

Ein Elternpaar, nämlich Joseph und Maria von Nazareth, erhielt ein Kind, Jesus mit Namen. Dieses war eigentürinlicherweise so veranIagt, daß der Nfrmanakaya-Buddha sich sagen konnte, dieses Kind hätte in seiner physischen Leiblichkeit die Möglichkeit, die Menschheit mittels derselben einen großen Schritt vorwättszubringen, wenn er als Buddha seinen Beitrag liefern würde. Er senkte sich daher in seinem Nirmanakaya in jenes Kind herab. Unter dem Nirmanakaya hat man sich nicht einen geschlossenen Leib vorzustellen, wie wir ihn haben, sondern das, was sonst bloße Kräfte waren, sind hier besondere Wesenheiten geworden. Dieses System von Wesenheiten wird in den höheren Welten durch das Ich der betreffenden zugrundeliegenden Individualität zusammengehalten, ähnlich wie in uns die Fähigkeiten des Denkens, FühIens und Wollens. Der Hellseher nimmt diese Schar zusammengehöriger Wesenheiten des Nirmanakaya-Buddha wahr.

Analogien hierzu gibt es auch im Naturleben: zum Beispiel ist bei der Gallwespe der Vorderkörper mit dem Hinterkörper nur durch einen dünnen Stiel verbunden. Denkt man sich diesen unsichtbar, so hat man zwei unverbundene, aber doch zusammengehörige Teile. Ähnliche Zusainmengehörigkeitsverliältnisse walten im Bienenstock und Ameiseniiaufen.

Derartige Verhältnisse waren dem Schreiber des Lukas-Evangeliums durchaus bekannt. Er wußte auch, daß der NirmanakayaBuddha sich in das Jesuskind herabsenkte. Er drückt es so aus, daß er sagt: Als das Kind zu Bethlehem geboren wurde, stieg aus den geistigen Welten eine Engelschar herab und verkündigte den Hirten, was geschehen sei. Dieselben sind aus gewissen Gründen hellsichtig geworden in jenem Augenblicke.

Jenes Jesuskind entwickelte sich zunächst nur langsam heran. Es zeigte äußerlich keine besonders hervorragenden Eigenschaften, die auf einen Riesengeist gedeutet hätten. Aber dafür machte sich bald eine tiefe Innerlichkeit und Seeleiihaftigkeit bemerkbar, ein reges Gemütsleben. Der Hellseher hätte den Nirmanakaya-Buddha über diesem Kinde schweben sehen. In der indischen Legende wird uns

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erzählt, daß ein alter Weiser zum Buddhakind gekommen sei und an ihr1i erkannt hätte, daß hier ein Bodhisattva zum Buddha heranreife. Der Alte brach darob in Tränen aus, weil er nämlich den großen Buddha selber nicht mehr erleben durfte. Asita, so hieß der Weise, wurde wiedergeboren Und war wieder ein alter Mann, als Jesus jung war, nämlich der Simeon des Lukas-Evangeliums. Er sah bei der Darstellung des Jesus im Tempel nun den Bodhisattva als wirklichen Buddha vor sich und konnte daher sagen: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. - So sah der Weise nach fünfhundert Jahren, was er vorher nicht hatte sehen können.

Wenn man die Herkunft des Jesus im Lukas-Evangelium studiert und sie vergleicht mit der im Matthäus-Evangelium dargestellten, so zeigt sich eine gewisse Verschiedenheit, die man in der Wissenschaft durchaus nicht beachtet hat. Aus der Akasha-Chronik heraus freilich kann man den richtigen Aufschluß erhalten, warum die beiden Stammbäume verschieden sind und sein müssen.

Ungefähr in derselben Zeit, als Jesus geboren wurde, ward in Palästina einem andern Elternpaar, das auch Joseph und Maria hieß, auch ein Kind geschenkt, mit demselben Namen Jesus. Es gab also damals zwei Jesuskinder von zwei Elternpaaren desselben Namens. Der eine Jesus ist der bethlehemitische. Er lebte mit seinen Eltern zu Bethlehem; der andere hatte seine Eltern wohnhaft in Nazareth. Der erstere Jesus stammt aus der Linie des davidischen Hauses, welche durch Salomo durchging. Der nazarenische Jesus hingegen stammt aus der nathanischen Linie des davidischen Hauses. Lukas erzählt mehr von dem einen, Matthäus vom andern Kinde. Das bethlehemitische Kind zeigte in seiner frühen Jugend ganz andere Fähigkeiten als das nazarenische. Ersteres zeigte sich in all den Eigenschaften, die äußerlich hervortreten können, gut entwickelt. So konnte dieses Kind zum Beispiel auch gleich von der Geburt an reden, wenn auch zunächst für die Umgebung noch mehr oder weniger unverständlich. Das andere Jesuskind zeigte eine mehr nach innen gehende Veranlagung.

In dem bethlehemitischen Kinde nun war inkarniert der große Zarathustra der Vorzeit. Jener Zarathustra hatte bekanntlich seinen

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astralischen Leib an Hermes abgegeben und seinen Ätherleib an Moses. Sein Ich wurde sechshundert Jahre vor Christus in Chaldäa als Nazarathos oder Zarathos wiedergeboren und schließlich nochmals als der Jesus. Dieses Jesuskind mußte nach Ägypten geführt werden, um da für einige Zeit in der ihm gemäßen Umgebung zu leben und die Eindrücke derselben in sich wieder zu beleben. Man darf also durchaus nicht glauben, daß es derselbe Jesus ist, von dem Lukas spricht, wie derjenige, von dem Matthäus erzählt. Durch die Verordnung des Herodes wurden alle Kinder bis zu zwei Jahren getötet. Da wäre Johannes der Täufer auch mitbetroffen worden, wenn nicht inzwischen genug Zeit zwischen seiner Gebbrt und der des Jesus verstrichen wäre.

Im zwölften Lebensjahre geht die Ichheit des bethiehemitischen Jesuskindes, also das Zarathustra-Ich, über in den andern Jesusknaben. Vom zwöIften Jahre an also lebte im nazarenischen Jesus nicht mehr das frühere Ich, sondern nun das Zarathustra-Ich. Das bethiehemitische Kind starb bald, nachdem jenes Ich es verlassen hatte. Jene Übertragung des Zarathustra-Ich auf den nazarenischen Jesus beschreibt uns Lukas in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Es war nämlich seinen Eltern unerklärlich, warum ihr Kind plötzlich so weise redete. Diese Eltern besaßen außer diesem kein weiteres Kind. Das andere Elternpaar hingegen hatte noch weitere Kinder, vier Knaben und zwei Mädchen. Beide Familien wurden später allerdings Nachbarsfamilien in Nazareth, ja, verschmolzen schließlich in eine einzige Familie. Der Vater des bethlehemitischen Jesus war bereits ein alter Mann, als der Jesus geboren wurde.

Er starb auch bald darauf» und die Mutter zog mit ihren Kindern nach Nazareth zu der andern Familie.

So wirkte also der Buddiia in seinem Nirmanakaya mit dem Ich des Zarathustra in dem Jesus von Nazareth. Buddha und Zarathustra wirkten in diesem Kinde zusammen.

Im Matthäus-Evangelium ist zunächst mehr die Rede vom bethlehemitischen Jesus. Da erschienen bei der Geburt die weisen Magier des Morgenlandes, die von dem Stern dahin geführt wurden, wo der Zarathustra wiedergeboren ward.

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DIE EVANGELIEN, BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN Berlin, 18. Oktober 1909 (Notizen)

Das letzte Mal erzählte ich hier den Inhalt des Basler Vortragszyklus, wo es sich um das Lukas-Evangelium gehandelt hat. Wir haben dabei auf die Frage hingewiesen, die jemand stellen könnte: Ja, wenn nun schon so vieles gesagt ist in bezug auf das Johannes-Evangelium und im Anschiuß daran über das Bild des Christus Jesus, kann es da möglich sein, daß auch im Hinblick auf die andern Evangelien etwas zu sagen ist, daß man in gewissem Sinne ein ebensolches Verständnis bekäme, wie wenn man das tiefste, das Johannes-Evangelium, hat auf sich wirken lassen?

Wenn das so wäre, dann wäre eine Erklärung der drei andern Evangelien nicht etwa im Sinne der Geistesforschung. Denn was wir suchen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschung, das soll nicht genommen sein aus irgendeiner Urkunde; es soll nicht an uns herantreten als irgend etwas Überliefertes, sondern als etwas, was mit den Mitteln der Geistesforschung erforscht werden kann.

Der Geistesforscher stellt sich die Aufgabe, zu erkunden, wie sich das Ereignis von Palästina darstellt, ohne daß er irgendeine Urkunde zu Hilfe zieht. Ohne Berücksichtigung irgendeiner Urkunde stellt er seine Forschung an. Dann versucht er nachher zu zeigen, wie uns aus den Urkunden dieselben Wahrheiten und Berichte entgegenieuchten.

Wir haben den Weg gewählt beim Lukas-Evangelium und beim Johannes-Evangelium, daß wfr aus dem ungeheuren Umfange der Akasha-Chronik herausgeholt haben, was man wiederflnden kann im Lukas-Evangelium und im Johannes-Evangelium. Dadurch, daß man die Forschungen der Geistesforscher auf diese Evangelien in dieser Weise anwendet, lernt man sie im gewissen Sinne erst kennen. Ich habe gezeigt, daß man da bei dem Lukas-Evangelium Gelegenheit hat, etwas anderes zu besprechen als bei dem Johannes-Evangelium. Es beginnt das Johannes-Evangelium mit der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth in der Zeit, als er dreißig Jahre alt war. Es tritt uns da in ihm die hohe Sonnenwesenheit entgegen, die Christus-Wesenheit.

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Wir haben es hier zu tun mit den drei letzten Lebensjahren des Christus Jesus.

Das Lukas-Evangelium dagegen gestattet uns, jene bedeutungsvollen Vorgänge kennenzulernen, welche möglich gemacht haben, daß diese bedeutende Weseniieit des Christus einiließen konnte in die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, zu zeigen das Zusammen- strömen des Zarathustrismus und des Buddiiismus, und wir haben gesehen, wie sich diese zwei gewaltigen Geistesströmungen begegnen und sich vereinigen gerade im Jesus von Nazareth. Er trat uns das leute Mal entgegen als menschliche Persönlichkeit, die da geboren ward als ein Kind mit ganz besonderen innerlichen Anlagen, aber zunächst nicht mit jenen Aniagen, die den Menschen besonders zum Verständnis der äußeren, gegenwärtigen physischen Welt geführt hätten. Über dieser Persönlichkeit, die als Kind uns entgegengetreten ist in dem nathanischen Jesuskinde, dem eigentlichen Jesus von Nazareth, über ihr sehen wir strahlen das, was wir den Nirmanakaya des Buddha nannten, was wir als Aura dieses Kindes sehen. Es ist diejenige Gestalt, welche der Buddha annahm nach seiner letzten Inkarnadon> in welcher er Buddha wurde. Wir konnten hervorheben, daß dasjenige, was wir unsere abendländische esoterische Lehre nennen, voll rechtfertigt das, was in den morgenländischen Schriften enthalten ist: daß die Individualität vor der Verkörperung des Buddha, in der sie im 6. Jahrhundert vor Christus auftrat, ein Bodhisattva war.

Solch ein Bodhisattt`a wird in einer ganz bestimmten Verkörperung ein Buddha. Damit hatte jene Individualität eine solche Entwickelungsstufe erlangt, daß sie nun nicht mehr in einem physischen Leib auf der Erde verkörpert zu werden brauchte. Das ist eine große Errungenschaft, daß eine Individualität nicht mehr verkörpert zu werden braucht. DaS dieses sein kann, hängt aber nicht nur von der Höhe der Entwickelung einer Individualität ab, sondern auch von der Art einer Individualität. Nach dieser Verkörperung hatte der Bcdhisattva-Buddha keine irdisch-fleischliche Verkörperung mehr durchzumachen. Er verkörperte sich dann nicht mehr in einem frdisch-fleischlichen Leibe, sondern nur noch in dem, als unterste

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körperlich-leibliche Wesenheit, was wir den Äther- oder Lebensleib nennen. Darin verkörpefte sich hinfort eine solche Individualität. Er stieg nicht mehr herunter zu einer fleischlichen Verkörperung, dieser Buddha, sondern nur zu einer solchen im Ätherleibe.

Ein solcher ätherischer Leib, in dem sich eine Individualität vorwärtsentwickelt hat, sieht - wenn er gesehen wird - nicht wie ein anderer Leib aus, der als physischer Leib auf der Erde besteht. Was wir als physischen Leib sehen bei einer Individualität, die bis zur Verkörpemng im physischen Leib heruntersteigt, das ist da eine geschlossene Einheit. Da ist nirgends eine Unterbrechung. Ein solcher ätherischer Leib aber, in dem sich eine Individualität wie der Buddha verkörpert, ist nicht eine geschiossene Raumeinheit. Er ist eine Vielheit von nicht zusammenhängenden Gliedern. Erinnern wir uns an die sogeriannte Spaltung der Persöniichkeit, die eintritt, wenn der Mensch sich immer mehr hinaufentwickelt. Dieser Vorgang ist beschrieben in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Was zusammenhängt als ein Ganzes bei dem gewöhnlichen Menschen, die Kräfte, die wir Denken, Fühlen und Wollen nennen, das steht dann sozusagen jedes für sich da. Der Mensch wird über diese einst Herrscher werden; er ist nachher eine Dreiheit, man könnte sogar sagen eine Vielheit, wie es in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» ausgeführt ist.

In einem solchen Fall, wie bei der Verkörperung des Buddha in späteren Zeiten, haben wir einen solchen ätherischen Leib, der aus nicht zusammenhängenden Wesen besteht. Bei den gewöhnlichen Menschen ist es auch nur das Prinzip des physischen Leibes, welches den ätherischen Leib zusammenhält.

Wenn ein solcher Bodhisattva-Buddha im ätherischen Leib verkörpert wieder erscheint, so erscheint er dann, wenn er sichtbar wird, als eine Vie1heit, als eine Schar von Wesenheiten. Von dieser Schar von Wesenheiten erzählt der Schreiber des Lukas-Evangeliums, wenn er von den Engeln spricht, die den Hirten auf dem Felde erschienen. Dieser ätherische Leib, den man den Nirmanakaya des Buddha nennt, der schwebte über jenem nazarenischen Jesuskinde. Er ist es, welcher der Inspirator wird, der alles das, was der Buddha war, einträufelt in

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das Christentum auf diese Weise. So sehen wir, wie hier der Buddhismus einströmt in das Christentum. Ganz konkret muß man sich das denken, nicht nur im Abstrakten. Wer verstehen will, wie sich das in Wirklichkeit abspielt, der muß hinweisen können auf das konkrete Ereignis, wo der bis zu jener nächsten Stufe fortgeschrittene Buddha sich dem Christentum einfügt. Das ist beschrieben im Lukas-Evangelium, in der Engelschar, die der Nirmanakaya des Buddha ist.

Dann haben wir beschrieben> wie ein zweiter Jesusknabe da` ist, den wir den bethiehemitischen Jesusknaben nennen können, und haben gesagt, wie der nichts anderes ist als der wiederverkörperte Zarathustra. Es ist ein außerordentlich frühreffes Kind. In jenem Kinde ist wiederverkörpert der Zarathustra. Das ist ausgedrückt im MatthäusEvangelium. Denn im Matthäus-Evangelium soll geschildert werden die Individualität, die besonders verständlich war für den Schreiber des Matthäus-Evangeliums, die hinzubrachte zu dem Christentum den Strom des Zarathustrismus. Daher wird auch geschildert, daß dieser Kriabe abstammte aus der salomonisch-königlichen Linie des Hauses David, während der Jesus des Lukas-Evangeliums abstammte aus der riathanischen Linie des Hauses David, der priesterlichen Linie.

Wenn wir das Christentum uns in seiner ganzen tiefen Bedeutung verständlich machen wollen, dann müssen wir uns klarmachen, daß zusarnmenströmen mußten die wichtigsten Strömungen aus der Welt. Wir sehen, daß die davidische Königslinie sich spaltet in eine salomonische und in eine nathanische Linie. In der salomonischen Linie pflanzen sich fort die königlichen Eigenschaften, in der nathanischen Linie die priesterlichen Eigenschaften. Die königlichen Eigenschaften kommen besonders in den ersten zwei Lebensperioden des menschlichen Lebens heraus; die Eigenschaften, die vor allen Dingen so- zusagen hinausgehen auf ein verständnisvolles Beherrschen der Weltverhaltnisse, auf alles das, was den Menschen mit den Weltverhältnissen in Harmonie bringt. Das kann nur geschehen, wenn die Kräfte des physischen und des ätherischen Leibes richtig entwickelt sind. Da der Zarathustra vorzugsweise diese Eigenschaften in innerlicher Weise vollendet ausgeblldet hatte, so mußte er sich jetzt gerade bis zum zwöIften Jahre all der Anlagen bedienen, die im physischen und

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Ätherleibe herauskamen. Solche Anlagen konnten ihm im besonderen gegeben werden durch die im salomonischen Hause vererbten Eigenschaften. Für die Aufgabe, die er hatte, brauchte er aber auch die großen Anlagen des Ich-Trägers, die großen Anlagen des Astralleibes. Sie konnten ihm nur gegeben werden von einer Linie, die aus Generationen heraus gerade diese Anlagen vererbte. Wäre der Zarathustra bis zu dem dreißigsten Jahre in dem Leibe geblieben, wo der Ätherleib und der physische Leib besonders ausgebildet waren, so hätte er seine Weseriheit nicht so vertiefen können. Darum zog er im zwölften Jahre hinüber in den nazarenischen Jesus, so daß in demselben Kinde, worin der Nirmanakaya des Buddha wohnte, vom zwölften Jahre an aufgenommen wurde die Individualität des Zarathustra. So sind diese beiden Strömungen zusammengeflossen in diesem nazarenischen Jesus in seinem zwöIften Jahre.

Als dritte Strömung sollte hinzukommen die althebräische Strömung. Nur durch dieses Zusammentreffen konnte jene Individualität auftreten, die den Christus in sich aufnahm.

Wir fragen uns nun, wie ist das dazu eingeflossen, was die alt- hebräische Geistesströmung war? Wir wollen sehen, wie wir aufzufassen haben das Ureigenste der althebräischen Geistesströmung. Denken wir auch einttial daran, was wir als das Wesen der Buddhaentwickelung angesehen haben. Was ist dadurch geschehen, daß aus dem Bcdiisattva ein Buddha geworden ist?

Diese Individualität, die in dem Bodhisattva-Buddha verkörpert war> hatte die Aufgabe, von Epoche zu Epoche zu überliefern, was man ne:nnen kann die Lehre von Mitleid und Liebe. Wenn wir dies verstehen wollen, so müssen wir uns sagen, daß der Mensch früher in einem ganz andern Bewußtseinszustande war. Wir dürfen nicht kurzsichtig sein wie die heutige Wissenschaft, die glaubt, daß immer dieselben Fähigkeiten da waren, die sich aus primitiven Anfängen nach und nach entwickelten, und daß der Mensch vorher auf der Stufe der Tierheit war. So war es eben nicht. Was wir heute menschliches Denken, Fühlen und Wollen nennen, das war nicht immer da. Je weiter wir zurückgehen in der Entwickelung der Menschheit, desto mehr wird dieser heutige Bewußtseinszustand ein traumhaftes, däm

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merhaftes Hellsehen. Darum mußte auch alles das, was in alten Zeiten als Lehre gegeben werden sollte, anders gegeben werden als heute. Heute kann man gewisse moralische Prinzipien aussprechen; die versteht der Mensch dann. Wenn er solche Prinzipien hört, kann er heute sagen: Gewiß, meine eigene Vernunft sagt mir das. - Aber dazu mußten erst die Vernunft und das Gewissen entwickelt sein. Es ist handgreiflich aus der äußeren Geschichte nachzuweisen, daß das Gewissen einrnal angefangen hat. Äschylos spricht davon noch nicht. Diese besondere Seelenkraft trat erst in einer bestimmten Zeit ein, vorher war sie nicht da.

Bevor es im Menschen ein Gewissen gegeben hat, bevor es ein ~ logisches Denken gegeben hat, wenn man da an sein Gewissen, an sein Denken appeffiert hätte, so wäre es gewesen, als ob man zu einem Stein oder zu einer Pflanze spräche.

Es brauchte damals die Seele Kraft, Impulse, und die mußten der Seele eingeflößt werden. Was zum Beispiel sich auf die Liebe bezieht, wurde wie suggestiv eingegeben durch die Individualität, die man den Bodhisattva nennt, als diese Individualität, die man Bodhisattva nennt, als der Buddha da war. Da war die Zeit gekommen, wo die Menschen aus sich selber heraus die Lehre von Mitleid und Liebe nach und nach gewinnen konnten, die Lehre von dem sogenannten achtgliedrigen Pfad. Diese Lehre, die ihrn früher von oben herunter gegeben werden mußte, konnte ihtn erst als Lehre gegeben werden, als der Buddha da war. Darum mußte der Bodhisattva Buddha werden.

Jegliches, was vorgeht in der menschlichen Entwickelung, muß vorgehen an seinem bestimmten Ort und in einem bestimmten Volke, aus dem eine Ari:laaI von Menschen herausgegriffen werden, die Verständn1s`haben für die Lehre. Vielleicht wird man einen Widerspruch finden zwischen diesem und dem, was früher gesagt worden ist> weil früher gesagt wurde, daß es die Mission des Chrisrus war, die Liebe tu verbreiten. Aber wenn so etwas gesagt wird, ist es notwendig, ganz genau zuzuhören. Es lag in der Mission des Buddha, die Lehre von Mitleid und Liebe zu bringen; aber Christus ist die Kraft der Uebe. Er brachte die Liebe selbst. Es ist etwas anderes, die Lehre von etwas zu bringen, als die Sache selbst zu bringen.

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Gerade damit war die Möglichkeit gegeben, daß die Kraft der Liebe herunterströmte und sich offenbarte durch dieses hohe Sonnen- wesen auf der Erde, daß diese Lehre gebracht wurde durch den Buddha. Aber wiederum war es notwendig, daß diese Kraft der Liebe sich irdisch offenbarte innerhalb eines Volkes, das eine andere Entwickelung durchgemacht hatte als dasjenige, in welchem der Buddha lebte.

Wodurch unterscheidet sich das, was der Welt gebracht worden ist durch den Buddha, von dem, was gebracht worden ist durch die Individualität des Moses? Man nennt mit Recht das, was der Buddha gebracht hat, das große Gesetz, Dharma. Der Buddha hat das Gesetz so gebracht, in einer bestimmten Form, so daß es von der Seele in dieser Form erkannt werden konnte, daß die Menschen es innerhalb der eigenen Seele finden konnten. Moses hat ein Gesetz gebracht in einer ganz andern Art und Weise; er brachte es als Gebot. Es konnte nicht bei diesem Volke, dem er es brachte, als ein in der Seele selbst wurzelndes Gesetz angesehen werden, sondern als ein göttliches, aus den Höhen gegebenes Gesetz. Buddha sagte: Ihr werdet in der tiefsten Kraft der Seele selber finden das Gesetz, das ich euch sage. - Aber Moses sagte: Es gibt das Gesetz der Gott, der da kommen wird.

Es mußte sozusagen einem Volke ein Gesetz gegeben werden unter der Voraussetzung, daß man rechnete, dieses Volk steht auf einer jüngeren Stnfe als das andere. Es hat gewisse Kräfte noch nicht ausgebildet. Darauf beruht alle Entwickelung, daß die Dinge nicht in gerader Linie weitergehen.

Man faßt gewöhnlich als Entwickelung auf, daß das Folgende inimer aus dem Früheren hervorgeht. So geht aber die Entwickelung nicht vor sich. Entwickelung kommt durch ganz andere Voraussetzungen zustande. Wenn wir die Pflanze beobachten in ihrem Wachstum, so sehen wir zuerst den Keim, dann den Stengel emporwachsen, und wie sie dann ansetzt Blatt an Blatt und schließlich die Blüte. Jetzt kommt ein Punkt, wo nicht mehr das Spätere aus dem Früheren sich nach und nach einfach entwickelt, sondern es tritt die Befruchtung ein. Es muß etwas anderes einströmen, ein Staubkörnchen von einer andern Pflanze. Insbesondere im Geistesleben müssen nun die mannigfaltigsten Umstände und Strömungen zusammeniließen.

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In Palästina mußte sich vereinigen der Zarathustrismus, der ~ddhismus und dann eine ganz andere Strömung. Diese Strömung >nnte unter gewissen Verhältnissen jüngere Lebenskräfte zuführen. Lnge, lange Zeit hatten gewirkt innerhalb dieses Volkes die Gebote hves. Hätte dieses Volk auch auf der Stufe gestanden, daß Buddha chshundert Jahre vor Christus auch hätte an die eigene Seele dieser enschen appeffieren können, dann hatte das Volk später nicht die gendlichen Kräfte gehabt. Daher mußte es von seinem Gesetzgeber halten Gebote, bei denen man nicht an die eigene Seele appellierte. mußte dieses Volk in Vorderasien auf einer früheren Stufe zurück.halten werden.

Wir können Ähriliches hypothetisch für das einzelne Menschen>en anführen. Denke man sich, es wolle jemand künstlich einen enschen dazu bringen, daß dieser in einem gewissen Lebensalter :sonders schöpferische Fähigkeiten entwickelt. Aber man möge das

t etwa probieren! Dann müßte ein Kind ganz anders entwickelt >rden, als das sonst geschieht. Denn wenn ich versuche, ihm im .benten Jahre das beizubringen, was ihm heute die Schule beibringt>

iin habe ich dadurch die Seele unfähig gemacht, daß später gewisse räfte herauskommen. Ich will daher warten bis zum zehnten Jahre. Lflfl tritt dieses Kind mit ganz andern Kräften heran. Dann hat es was an jugendfrischer Kraft bewahrt. Es kommen dann Kräfte heraus, schöpferische Kräfte sind, die sonst etwa getötet worden wären. Sie sehen, wie in Vorderasien das ausgefiihrt worden ist. Es ist das bräische Volk zurückgehalten worden. Es konnte noch nicht aufhmen die Lehren des Buddha von Mitleid und Liebe. Das ist ihm ein Gebot gegeben worden. Es hatte nicht den Appell des Buddha kommen, aus sich heraus zu entwickeln die Lehre von Mitleid und ebe. Nur an einer Stelle der Erdentwickelung, wo die Menschen am ~sten vorgeschdtten waren, konnte der Bodhisattva-Buddha diese .hre bringen. Als dann ganz andere Kräfte entwickelt worden waren, ~rde an einer andern Stelle diese Strömung mit der andern vereinigt. Worinnen haben wir nun zu suchen das, was da herunterffießt durch Generationen eines Volkes? Woran hängt das? Womit nimmt der ensch dasjenige auf, was am ganzen Volke hängt?

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Vom ersten bis zum siebenten Jahre ist der Mensch noch eingehüllt in eine Ätherhülle, die er dann abstreift. Dann umgibt ihn noch die AstraIhülle, die er mit der Geschlechtsreife abwirft. Der Astralleib wird dann erst geboren. Wenn dann beim Menschen in der Zeit vom zwölften bis fünfzehnten Jahre der Astralleib geboren ist, so ist das dasjenige, worin all die Kräfte sind, die der Mensch gemeinsam hat mit dem Volkstum. Diese astrale Hülle, die der Mensch nun abstreift, die enthält alle die Eigenschaften, die der Mensch bis dahin in seinem Inneren haben konnte. Diese Hülle macht es also, daß der Mensch einem bestimmten Volkstum angehört. Was geschieht nun mit dieser Hülle, wenn sie abgestreift wird? Diese Hülle, die da abgestreift wird, in der drinnen ist alles das, was der Mensch mit seinem Volkstum gemeinschaftlich hat. Sie vereinigt sich dann mit all den Hüllen, die auch die Vorfahren abgestreift haben. Wir haben gleichsam so eine Kette.

Während der Mensch bis zu seinem vierzehnten Jahre das in sich hat, da hängt er an einer Kette, die hinaufgeht zu den Vorfahren. Bis zu welchem Glied der Vorfahren geht sie hinauf? Sie geht hinauf bis zum zweiundvierzigsten Glied, dem sechsmal siebenten Gliede! Es hängt der Mensch mit seinen Vorfahren so zusammen. Das wußte man in alten Zeiten. Das weiß man auch heute innerhalb der Geistes- wissenschaft. Weil der Mensch in dieser Weise mit seinen Vorfahren zusammenhängt, deshalb ließen die alten Ägypter in ihrem Totenbuch den Menschen nach dem Tode vor zweiundvierzig Totenrichtern erscheinen.

Soll eine bestimmte Eigenschaft des Menschen herauskommen, so daß sie in das Volk hineingehört, dann müssen diese Vorfahren so liegen> daß alle diese einzelnen Glieder diese bestimmten Eigenschaften des Volkes zum Ausdruck bringen. Sollte der Zarathustra sich verkörpern> so mußte es sein in einer Hülle, die die wesentlichen Eigenschaften seines Volkes hatte.

Darum läßt Matthäus den Zarathustra hineingeboren werden in das zweiundvierzigste Glied nach Abraham, das alle die Eigenschaften des Volkes hatte. Dadurch sind diese Einflüsse hineingekommen in die dritte Strömung.

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DIE VIER VERSCHIEDENEN ASPEKTE IN DER CHRISTUS-DARSTELLUNG DER VIER EVANGELIEN Berlin, 2. November 1909 Erster Vortrag

Die Betrachtungen, die in Anknüpfung an das Johannes- und das Lukas-Evangelium gehalten worden sind, und die Gesinnung, von welcher aus sie ins Auge gefaßt worden sind, können nicht anders charakterisiert werden, als indem man sagt, diese Betrachtungen sind ausgegangen von folgendem Gesichtspunkt: Das, was wir als die Christus Jesus-Wesenheit bezeichnen, ist - soweit von ihr ein menschliches Verständnis überhaupt in unserer gegenwärtigen Zeit möglich ist - ein so Großes, so Urnfassendes, Gewaltiges, daß eine Betrachtung nicht davon ausgehen kann, in irgendeiner einseitigen Weise zu sagen, wer der Christus Jesus war und welche Bedeutung seine Wesenheit für jeden einzelnen Menschengeist und für jede einzelne Seele hat. Das würde innerhalb unserer Betrachtungen geschienen haben wie eine Unehrerbietung gegenüber dem größten Weltenproblem, das es gibt. Ehrerbietung und Ehrfurcht, das sind die Worte, welche jene Gesinnungen bezeichnen, von denen aus unsere Betrachtungen durchaus gegeben worden sind. Ehrfurcht und Ehrerbietung, die etwa sich ausdrücken könnten in der Stimmung: Versuche selber dasjenige, was menschliches Begreifen ist, gar nicht zu hoch zu stellen, wenn du dem größten Problem gegenübertrittst. Versuche alles das, selbst was dir eine noch so hohe Geisteswissenschaft geben kann, niemals zu hoch zu stellen, und ginge es auch in die höchsten Regionen hinauf, wenn es sich darum handelt, dem größten Problem des Lebens gegenüberzutreten. Und glaube nicht, daß ein menschliches Wort ausreichen würde, etwas anderes zunächst zu sagen als das, was dieses große und gewaltige Problem von einer Seite aus charakterisiert. Alle diejenigen Vorträge, die jemals im Verlauf der letzten drei Jahre gehalten worden sind, hatten zum Mittelpunkte ein Wort, das uns im Johannes-Evangelium selber erscheint. «Ich bin das Licht der Welt» ist dieses Wort. Dieses Wort des Johannes-Evangeliums zu verstehen, waren alle Vorträge

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gehalten, welche über das Johannes-Evangelium ausgeführt worden sind. Und es reichen die Vorträge, welche in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium gehalten wurden, ungefähr dazu aus, nach und nach zu verstehen, wenn man sie sich zu eigen macht, diese Worte, die gesprochen worden sind, vielleicht nur ahnend zu verstehen, was es heißt im Johannes-Evangelium selber: « Ich bin das Licht der Welt.»

Wenn Sie ein Licht leuchten sehen, haben Sie dadurch, daß Sie in dieses Licht hineinschauen, verstanden, daß das, was da leuchtet, ein Licht ist? Und wenn Sie einiges begriffen haben über die Färbung und Eigenheit dieses Lichtes, haben Sie da verstanden, was da leuchtet? Kennen Sie die Sonne, weil Sie hinaufblicken zum Sonnenlicht und das weiße Sonnenlicht als eine Offenbarung empfangen? Könnten Sie sich nicht vorstellen> daß es noch etwas anderes heißt, das Leuchtende zu begreffen als das Licht in dem Leuchtenden? Weil das Wesen, von dem wir gesprochen haben, von sich sagen kann: «Ich bin das Licht der Welt», waren wir genötigt, dieses Wort zu verstehen, und damit haben wir von jenem Wesen nicht mehr als diese seine Lebensäußerung verstanden: « Ich bin das Licht der Welt.» Alles das, was an Betrachtungen aufgeboten worden ist in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium, war notwendig, um zu zeigen, daß jenes Wesen, welches in sich enthält die Weltenweisheit, das Licht der Welt ist. Aber dieses Wesen ist weit mehr als das, was im Johannes-Evangelium charakterisiert werden konnte. Und wer da glaubt, aus den Vorträgen über das Johannes-Evangelium den Christus Jesus verstehen zu wollen oder ihn umfaßt zu haben, der glaubt, aus einer einzelnen Lebensäußerung, die er ahnend erkennt, das ganze leuchtende Wesen zu verstehen.

Dartn kamen die Vorträge über das Lukas-Evangelium, und wir haben daraus ein anderes ersehen. Konnte man ungefähr dasjenige, was in allen unseren Betrachtungen über das Johannes-Evangelium gesagt worden ist, wie ein Mittel zum Verständnis der Worte «Ich bin das Licht der Welt» betrachten, so könnte eventuell, wenn man sie nur tief genug gefaßt hat, die Betrachtung über das LukasEvangelium aufgefaßt werden als eine Umschreibung der Worte: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», oder:

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«Vater, in Deine Hände befehie ich meinen Geist.» Dasjenige, was der Christus Jesus ist - jetzt nicht bloß als Licht der Welt, sondern was er ist als die Weseiiheit, die das größte Opfer der Hingebung bringt, die alles in sich vereinigen darf, ohne sich selber zu verlieren, was charakterisiert worden ist als das Opfer der Hingebung -, die Wesenheit> die in sich selber schließt die Möglichkeit des größten 0pfers, der größtdenkbaren Hingabe und dadurch der Quell ist von Mitleid und Liebe, der sich warm ergießt durch alles zukünftige Menschen- und Erdenieben, alles, was in diese Worte gefaßt werden konnte, gibt eine zweite Seite von dem, was wir die Wesenheit des Christus Jesus nennen.

So haben wir charakterisiert diese Wesenheit als diejenige, welche in ihrem Mitleid das große Opfer realisieren kann, und welche leuchtet durch die Kraft ihres Lichtes über alles Menschendasein. Licht und Liebe haben wir geschildert, wie sie waren in der Wesenheit des Christus Jesus. Und wer im vollständigen Umfang die Johannes- und Lukas~Evangelienbetrachtungen nimmt, der kann in gewisser Beziehung eine Ahnung von dem erhalten, was in dem Christus Jesus «Licht» war und was in ihm «Liebe und Mitleid» war. Zwei Eigenschaften in ihrer universellen Bedeutung haben wir versucht zu verstehen in Christus Jesus. Was über den Christus zu sagen war als das geistige Licht der Welt, das als urewige Weisheit sich in alle Dinge hineinergießt, um in ihnen zu leben und zu weben, das kann sich der geistigen Betrachtung ergeben, das glänzt uns wiederum entgegen aus dem Johannes-Evangelium, und es gibt keine Weisheit, die man er- reichen kann, die nicht in gewisser Weise im Johannes-Evangelium enthalten wäre. Alle Weisheit der Welt ist in diesem JohannesEvangelium enthalten, weil derjenige, der die Weisheit der Welt im Christus Jesus betrachtet, sie betrachtet, wie sie sich nicht nur realisiert hat in urferner Vergangenheit, sondern auch realisieren wird in urferne Zukunft hinein. Daher schwebt man in den Betrachtungen, die sich an das Johannes-Evangelium anknüpfen, hoch in den Lüften wie der Adler über allem menschlichen Dasein. So schwebt man, wenn man die großen Ideen zu entfalten hat, die ein Verständnis des Johannes-Evangeliums ermöglichen, mit den umspannenden und umfassenden

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Ideen über dem, was in der einzelnen menschlichen Seele vorgeht. Die umspannenden Weltideen beschäftigen jene Sophia, welche uns ffießt, wenn wir in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium Betrachtungen anstellen. Und dann erscheint uns das, was aus dem Johannes-Evangelium ffießt, selber in Adlerhöhe kreisend über alledem, was im täglichen und stündlichen und augenblicklichen Menschenschicksal vor sich geht.

Und wenn man dann heruntersteigt und betrachtet das einzelne menschliche Leben von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend, wenn man darin betrachtet insbesondere jene Kräfte, welche man die menschliche Liebe nennt, dann sieht man diese Liebe durch Jahrtausende wallen und weben in den lebenden menschlichen Herzen und Seelen. Dann sieht man, wie diese Liebe auf der einen Seite die größten, bedeutsamsten, heroischsten Taten innerhalb der Menschheit vollbringt, dann sieht man, wie die größten Opfer der Menschheit geflossen sind aus der Liebe zu dem oder jenem Wesen, zu der oder jener Sache. Dann sieht man, wie diese Liebe in den menschlichen Herzen das Höchste vollbringt, wie sie aber zu gleicher Zeit etwas ist wie ein zweischneidiges Schwert: Da haben wir eine Mutter; sie liebt ihr Kind innig, tief. Das Kind begeht irgendeine Ausschreitung; die Mutter liebt ihr Kind, sie kann es nicht über das Herz bringen in ihrer tiefen, inbrünstigen Liebe, das Kind zu strafen. Und eine zweite Ausschreitung begeht dieses Kind, und die Mutter kann es abermals in ihrer tiefen Liebe nicht über das Herz bringen, das Kind zu bestrafen. Und so geht es weiter, und das Kind wächst heran, wird unbrauchbar, ein Störenfried für das Leben. Wenn man solche bedeutungsvolle Dinge berührt, ist es nicht gut, Beispiele aus der Gegenwart zu nehmen, und es soll deshalb ein fernerllegendes Beispiel angeführt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Mutter, welche innig, innig ihr Kind liebte. Ausdrücklich soll es gesagt werden: nichts kann diese Liebe hoch genug preisen, Unter allen Umständen ist Liebe etwas, was zu den höchsten menschlichen Eigenschaften gehört. Jene Mutter nun liebte ihr Kind und konnte es nicht über das Herz bringen, ihr Kind zu strafen wegen eines kleinen

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Diebstahis, den es in der Familie beging. Dann beging es einen zweiten Diebstahi, und sie konnte es wieder nicht bestrafen - das Kind wurde eine berüchtigte Gfftmischerin. Sie wurde es aus der nicht von Weisheit geleiteten Mutterliebe. Die Liebe vollführt die größten Taten, wenn sie von Weisheit durchflossen ist. Das aber war gerade die Bedeutung jener Liebe, die von Golgatha gefiossen ist in die Welt, daß sie in einem Wesen vereint ist mit dem Licht der Welt, mit der Weisheit. Daher ist das Hinblicken auf den Christus Jesus, wenn wir die heiden Eigenschaften betrachten so, daß wir erkennen, daß die Liebe das Höchste ist in der Welt, aber zu gleicher Zeit erkennen, wie Liebe und Weisheit im tiefsten Sinne zusammengehören.

Was haben wir aber verstanden, wenn man nun alle diese Betrachtungen über das Johannes- und Lukas-Evangelium angestellt hat? Man hat nichts weiter verstanden als jene Eigenschaft des Christus Jesus, die man nennen kann das universelle Licht der Weisheit, die universelle Wärme der Liebe, die in ihm so geflossen sind wie in keinem andern Wesen in der Welt, die keiner menschlichen Erkenntniskraft jemals zugänglich sein kann. Und während man in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium von großen, gewaltigen Ideen spricht, welche wie in Adierhöhen über die menschlichen Köpfe hinweggehen, findet man in Anlehnung an das Lukas-Evangelium das, was in jedes einzelne Menschenherz in jedem Augenblicke hinein- spricht. Das ist das Bedeutsame des Lukas-Evangeliums, daß es uns mit solcher Wärme erfiillt, welche der äußere Ausdruck der Liebe ist, mit dem Verständnis für jene Liebe, die bereit ist zum größten Opfer, die bereit ist, sich selbst hinzugeben und nichts anderes will, als sich selber hingeben.

Man fühitso ungefähr - will man ein Bild haben für jene Stimmung, für jene Gemütslage, in der man ist bei der Betrachtung, die anknüpft an das Lukas-Evangelium, wenn man es im richtigen Sinne betrachtet - dasjenige, was uns in jenen Mithrasbildern entgegentritt, wo man den dahineilenden Opferstier hat. Auf ihm sieht man den Menschen sitzen, oben den Gang der großen Weltenereignisse und unten den Gang der irdischen Ereignisse. Der Mensch stößt sein Beil hinein in den Leib des verblutenden Opferstieres, der sein Leben hingibt, damit

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der Mensch dasjenige überwinden kann, was er überwinden muß. Wenn man diesen unter dem Menschen befindlichen Opferstier betrachtet, der hingeopfert werden muß, damit der Mensch seinen Lebensweg gehen kann, dann hat man ungefähr die Gefühls- und Gemütslage, welche die richtige Grundstimmung abgibt für eine an das Lukas-Evangellum anknüpfende Betrachtung. Was der Opferstier zu allen Zeiten den Menschen war, die das verstanden haben, was im Opferstier liegt, in dem Ausdruck der in sich selber zu vertiefenden Liebe, die verstehen etwas von der Schilderung der Eigenschaften der Liebe, die gegeben werden soll durch die Betrachtung des LukasEvangeliums. Denn nichts anderes als eine zweite Eigenschaft des Christus Jesus sollte geschildert werden. Kennt aber der, der zwei Eigenschaften an einem Wesen kennt, das ganze Wesen? Weil uns in diesem Wesen das größte Rätsel entgegentritt, sind die Ausführungen zum Verständnis zweier Eigenschaften nötig gewesen. Niemand aber sollte sich vermessen, aus der Betrachtung zweier Eigenschaften dieses Wesen selber ins Auge fassen zu können.

Zwei Eigenschaften des Christus Jesus haben wir geschildert und nicht unterlassen, alles das zu tun, was uns zu einem ahnenden Verständnis der hohen Bedeutung dieser zwei Eigenschaften hat bringen können. Aber wir haben zu viel Ehrerbietung und Ehrfurcht vor diesem Wesen selber, als daß wir glauben wollten, wir hätten schon etwas begriffen von den andern Eigenschaften, die dieses Wesen noch in sich birgt. Nun wäre noch ein Drittes möglich, und dieses dritte, da es ja anknüpft an etwas, was in den Betrachtungen innerhalb unserer Bewegung noch nicht gegeben ist, kann nur im allgemeinen charakterisiert werden. Man könnte sagen: Wenn man den Christus des Johannes-Evangeliums schildert, schildert man ihn, wie er wirkt zwar als eine hohe Wesenheit> aber wie eine Wesenheit, die sich bedient des Reiches der weisheitsvollen Cherubim. So schildert man ihn im Sinne des Johannes-Evangeliums mit der Stimmung, die hervorgerufen wird durch die in Adlerhöhen schwebenden Cherubim. Schildert man ihn im Sinne des Lukas-Evangeliums, dann schildert man das, was als das warme Liebesfeuer aus dem Herzen des Christus (1uillt. Man schildert das, was er der Welt dadurch war, daß er wirkte

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in jener Höhe, in der die Seraphim sind. Das Liebefeuer der Seraphim strömt durch die Welt, und unserer Erde wurde es mitgeteilt durch den Christus Jesus.

Nun hätten wir ein Drittes zu schildern: dasjenige, was der Christus der Erdenwelt dadurch geworden ist, daß er nicht nur das Licht der Weisheit, die Wärme der Liebe, nicht nur das cherubimische und seraphische Element innerhalb des Erdendaseins war, sondern daß er «war» und «ist» in unserem Erdendasein, wenn wir ihn in seiner ganzen Kraft betrachten, was man bezeichnen kann als «wirkend durch das Reich der Throne», durch welches alles Starke und alle Kraft in die Welt kommt> um das auszuführen, was im Sinne der Weisheit, im Sinne der Liebe ist. Dies sind die drei höchsten der geistigen Hierarchien: Cherubim, Seraphim und Throne. Die Seraphi1h führen uns hinein in die Tiefen des menschlichen Herzens mit ihrer Liebe, die Cherubim führen uns hinauf in Adierhöhen. Weisheit strahit heraus aus dem Reich der Chernbim. Zum Opfer wird die ergebungsvolle Liebe, das symbolisiert uns der Opferstier. Stärke, die durch die Welt pulst, Stärke, welche die Kraft entwickelt, um alles zu realisieren, schöpferische Kraft, die durch die Welt pulst, das symbolisiert uns in aller Symbolik der Löwe. Jene Stärke, welche eingezogen ist in unsere Erde durch den Christus Jesus, jene Stärke> welche alles ordnet und richtet, welche ein Höchstes an Macht bedeutet, wenn es entwickelt wird: das schildert uns als dritte Eigenschaft am Christus Jesus der Schreiber des Markus-Evangeliums.

Wenn wir im Sinne des Johannes-Evangeliums von dem hohen Sonnenwesen, das wir als den Christus bezeichnen, sprechen als vom Lichte der Erdensonne im geistigen Sinne, wenn wir im Sinne des Lukas-Evangeliums von der Wärme der Liebe sprechen, die ausquillt von der Erdensonne des Christus, dann sprechen wir, wenn wir im Sinne des Markus-Evangeliums sprechen, von der Kraft der Erdensonne Im geistigen Sinne selber. Alles das, was an Kräften in der Erde vorhanden ist, was da und dort webt an geheimen und offenen Erdenkräften und -mächten, das würde uns entgegentreten bei einer Betrachtung, die im Hinblick auf das Markus-Evangelium geschieht.

Kann man sich vermessen, wenn auch nur ahnend, die Ideen, die

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auf die Erde gekommen sind, wie die Erdengedanken des Christus zu verstehen, wenn man sich zu ihm emporhebt im Sinne des Johannes- Evangeliums, kann man den Wärmehauch der Opferliebe fühlen, wenn man die Wärme des Lukas-Evangeliums durch sich selber strömen läßt, kann man das Denken des Christus ahnen im Johannes- Evangelium, das Fühlen des Christus durch das Lukas-Evangelium, so lernt man das Wollen des Christus durch das Markus-Evangelium kennen. Die einzelnen Kräfte, durch die er Liebe und Weisheit realisiert, lernt man da kennen.

Drei Eigenschaften würde man ahnend erfaßt haben, wenn man zu den Betrachtungen über das Johannes- und Lukas-Evangelium hinzugefügt hätte die Betrachtungen über das Markus-Evangelium. Man würde danri sagen: In Ehrfurcht haben wir uns Dir genahet und haben eine Ahnung bekonirnen von Deinem Denken, Fühlen und Wollen, wie uns diese drei Eigenschaften Deiner Seele vorschweben als die größten Erdenvorbllder.

So haben wir unsere Betrachtungen angestellt, wie wenn wir im ganz Kleinen einen Menschen betrachten und sagen, er besteht aus Empfindungs-, Verstandes- und Bewußtseinsseele, und betrachten jetzt die Eigentümlichkeiten der Empfindungs-, Verstandes- oder Gemüts- und Bewußtseinsseele. Wenn wir das Wort Bewußtseinsseele auf den Christus anwenden, so können wir sagen: sie wird uns ahnend zum Verständnis gebracht im Johannes-Evangelium; Gemütsseele des Christus: sie wird uns zum Verständnis gebracht durch das Lukas-Evangelium; Empfindungsseele mit all ihren Kräften des Wollens: durch das Markus-Evangelium. Dieses wird uns, wenn wir es einiiiid betrachten können, Aufschiuß geben über die offenen und verborgenen Naturkräfte, die in unserer Welt sind, konzentriert in der einr:igen Individualität des Christus; es wird uns Aufschiuß geben über das Wesen aller Kräfte, die in der Welt sind. Im JohannesEvangelium haben wir uns in die Gedanken, im Lukas-Evangelium in die Gefühle dieser Wesenlieit vertieft, und weil hierbei der Mensch nicht so tief in diese Individualität hineinzugehen braucht, sind diese Betrachtungen einfach gegenüber dem, was uns im Markus-Evangelium entgegentritt - als das System aller verborgenen Natur- und

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Geisteskräfte der Welt. Das alles steht in der Akasha-Chronik. Das alles wird sich uns widerspiegeln, wenn wir das gewaltige Dokument des Markus-Evangeliums auf uns wirken lassen. Dann werden wir ahnend verstehen, was in der einzelnen Wesenheit des Christus konzentriert ist: dasjenige, was sonst verteilt ist über die einzelnen Wesenheiten der Welt. Wir werden verstehen können, und es wird uns in einem höheren Glanze und Lichte erscheinen, was wir als die elementaren Richt- und Gruncllinien der verschiedenen Wesenheiten kennengelernt haben. Wenn wir clas Markus-Evangelium, das die Geheimnisse des ganzen Weltenwillens enthält, uns enthüllen, so nähern wir uns in Ehrerbietung dem Weltenmittelpunkt, dem Christus Jesus, indem wir nach und nach sein Denken, Fühlen kund Wollen erfassen.

Wenn wir Denken, Fühlen und Wollen ineinanderwirkend betrachten, so gibt das uns ungefähr ein Bild des ganzen Menschen. Aber wir können nicht umhin, auch beim einzelnen MenschenDenken, Fühien und Wollen getrennt zu betrachten. Wenn wir alles zusammenfassen, wird unser Blick auch hier nicht mehr ausreichen, um alles überschauen zu können. Während wir uns verhältnismäßig unsere Aufgabe erleichtern dadurch, daß wir die drei Eigenschaften getrennt und jede für sich betrachten, so wird unser Bild erblassen, wenn wir diese drei Eigenschaften in der menschlichen Seele zusammenfassend betrachten. Unsertwegen tun wir das> weil unsere Kraft nicht ausreicht, alles zusammen zu betrachten, denn wenn wir die Eigenschaften zusammenfassen, so erblaßt das Bild.

Hat man die drei Evangelien, das Johannes-, Lukas- und MarkusEvangelium betrachtet und dadurch eine Ahnung bekommen von dem Denken, Fühlen und Wollen des Christus Jesus, dann kann man zusammenfassen, was diese drei Eigenschaften wiederum in eine Harmonie bringen kann. Da wird dann notwendigerweise das Bild undeutlich und blaß werden müssen, denn keine menschliche Kraft kann ausreichend das zusammenfassen, was von uns auseinandergehalten wurde. Denn im Wesen ist eine Einheit und keine Trennung vorhanden; zuletzt erst dürfen wir es in eine Einheit zusammenfassen. Dann aber wird es vor uns erblassen. Dafür wird aber zuletzt dasjenige

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vor uns stehen, was der Christus Jesus als Erdenmensch, als Mensch erst war.

Die Betrachtung, was der Christus Jesus als Mensch war, wie er als Mensch gewirkt hat in den dreiunddreißig Jahren seines Erdendaseins, kann entwickelt werden in Anknüpfung an das Matthäus-Evangelium. Das, was im Matthäus-Evangelium enthalten ist, gibt uns ein in sich harmonisches Menschenbild. Wenn wir im Johannes-Evangelium geschildert haben einen dem gesamten Weltenall angehörigen kosmischen Gottesmenschen, wenn wir im Lukas-Evangelium schildern mußten ein sich hinopferndes einzelnes Liebewesen, und im MarkusEvangelium den Weltenwillen in einer einzelnen Individualität zu schildern hätten, so haben wir im Matthäus-Evangelium die wahre Gestalt des einzelnen Menschen von Palästina, jenes Menschen, der da gelebt hat dreiunddreißig Jahre, in dem eine Einheit ist von alledem, was wir durch die Betrachtung der drei andern Evangelien gewinnen können. In Anknüpfung an das Matthäus-Evangelium tritt uns die Gestalt des Christus Jesus ganz menschlich, als der einzelne Erdenmensch entgegen, den man aber nicht verstehen kann, wenn die andern Betrachtungen nicht vorausgegangen sind. Wenn auch der einzelne Erdenmensch dann verblaßt, so ist doch in diesem blassen Bilde wiedergegeben, was durch die andern Betrachtungen gewonnen worden ist. Ein Bild von der Persönlichkeit des Christus kann erst eine Betrachtung geben, die anknüpft an das Matthäus-Evangelium.

So stellt sich jeut die Sache dar, die wir vorher anders charakterisieren mußten, als wir an das erste Evangelium herangingen. Da wir jetzt die Betrachtung zweier Evangelien hinter uns haben, können wir sagen, wie diese Evangelien innerlich zueinander stehen, und wie wir ein Bild des Christus Jesus erst gewinnen können, wenn wir, in entsprechender Weise vorbereitet, herangehen an den Menschen, der da geworden ist auf der Erde durch den Christus Jesus. Der Gottmensch tntt uns entgegen in den Betrachtungen, anknüpfend an das JohannesEvangelium, und in Anknüpfung an das Lukas-Evangelium dasjenige Wesen, das in sich vereinigt die Strömungen, die da flossen von allen Seiten in dem, was sich auf der Erde entwickelt hat im Zarathustrismus, Buddhismus, in der Lehre von Mitleid und Liebe. Alles, was

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vorher da war> trat uns entgegen, als wir an die Betrachtungen herangingen im Fiihblick auf das Lukas-Evangelium. Wenn das MatthäusEvangelium betrachtet wird, dann wird uns vor allen Dingen intim und genau entgegentreten dasjenige, was herausgeboren wird aus seinem eignen Volke, aus dem althebräischen Volke: der Mensch Jesus, wie er wurzelt in seinem Volke, der Mensch Jesus, wie er so sein mußte gerade innerhalb des althebräischen Volkes. Und wir werden erkennen, warum das Blut des althebräischen Volkes in einer ganz bestinimten Weise verwendet werden mußte, um beizutragen für die Erdenmenschheit gerade dieses Blut des Christus Jesus.

Es wird uns bei der Betrachtung des Matthäus-Evangeliums das Wesen des althebräischen Altertums entgegentreten; aber nicht nur das Wesen des althebräischen Altertums> sondern die Mission dieses Volkes für die ganze Welt, die Geburt der neuen Zeit, die Geburt des Christentums aus der althebräischen Welt heraus. Und wenn man lernen kann große, bedeutsame, umfassende Ideen durch das Johannes-Evangelium, wenn man gewinnen kann ein Gefühl für die wärmste, grenzenlos warme Opferliebe durch das Lukas-Evangelium, wenn man gewinnen kann eine Erkenntnis von den Kräften aller Wesen und Reiche durch die Betrachtung des Markus-Evangeliums, so bekommt man nun eine Erkenntnis und ein Gefühi von dem, was da lebt innerhalb der Menschheit und innerhalb der menschlichen EntwickeIung auf der Erde durch den Christus Jesus in Palästina. Was der Christus Jesus als Mensch war, was er als Mensch ist, alle Geheimnisse der menschlichen Geschichte und menschlichen Entwickelung sind im Matthäus-Evangelium enthalten. Sind im MarkusEvangelium die Geheimnisse enthalten von allen Reichen und Wesenheiten der Erde und des Kosmos, der zur Erde gehört, so sind im Matthäus-Evangelium die Geheimnisse der menschlichen Geschichte zu suchen. Lernt man die Ideen der Sophia durch das JohannesEvangelium, lernt man die Mysterien des Opfers und der Liebe durch das Lukas-Evangelium, lernt man die Kräfte der Erde und der Welt durch das Markus-Evangelium, so lernt man Menschenleben, menschliche Geschichte, Menschenschicksal kennen durch die Betrachtung im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium.

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Hätte man in den sieben Jahren unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung vier Jahre zur Verarbeitung der Richt- und Grundlinien und drei Jahre zu ihrer Vertiefung verwendet, als ein Licht, das auf die verschiedenen Gebiete des Lebens geworfen werden soll, so würde jetzt folgen können die Betrachtung des Markus-Evangeliums. Dann hätte zuletzt das ganze Gebäude gekrönt werden können durch die Betrachtung des Christus Jesus im IIinblick auf das MatthäusEvangelium. Da aber das Menschenleben unvollkommen ist, und das nicht der Fall war, mindestens nicht bei allen, die in der geisteswissenschaftlichen Bewegung stehen, so ist es nicht möglich, sogleich, ohne Mißverständnis zu erwecken, zur Betrachtung des Markus-Evangeliums überzugehen. Man würde die Gestalt des Christus völlig verkennen, wenn man glaubte, aus der Betrachtung des Johannes- oder Lukas-Evangeliums könnte folgen irgendein Wissen über das Wesen des Christus Jesus. Man würde wiederum glauben, daß man einseitig alles anwenden darf, was in bezug auf das Markus-Evangelium gesagt werden müßte. Und die Mißverständnisse würden noch größer sein, als sie schon gewesen sind. Daher muß mit Rücksicht darauf der andere Weg gewählt werden. Es muß jetzt folgen, so gut es möglich ist, in der nächsten Zeit eine Betrachtung im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium. Damit wird zunächst verzichtet auf die großen Tiefen des Markus-Evangeliums, es wird aber dafür vermieden werden, daß wieder jemand glaubt, daß mit einer Eigenschaft der ganze Mensch bereits geschildert sei. Dadurch wird es möglich, Mißverständnisse zu beseitigen. Und es wird zunächst eine Betrachtung angestellt werden, soweit es möglich ist, über den Hervorgang des Christus Jesus aus dem althebräischen Volke, über dasjenige, was man nennen kann die Geburt des Christentums in Palästina. Darüber sollen im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium in nächster Zeit unsere Betrachtungen angestellt werden, und dadurch soll vermieden werden, daß wiederum verwechselt wird eine der Eigenschaften mit der Betrachtung der ganzen Wesenheit. Dann wird leichter das folgen können, was im Hinblick auf das Markus-Evangelium wird zu sagen sein.

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DIE MISSION DES ALTHEBRÄISCHEN VOLKES Berlin, 9. November 1909 Zweiter Vortrag

In der letzten Vortragsstunde wurde bereits auseinandergesetzt, daß wir einige Betrachtungen anstellen wollen über die Evangelien, und es wurde der Grund charakterisiert, warum wir uns jetzt einiges aus dem Matthäus-Evangelium vorhalten wollen. Es ist in gewisser Beziehung die menschlichste Seite des Christus Jesus, die uns in diesem Evangelium entgegentritt. Auf der andern Seite ist darin auch gegeben ein vollständiger Überblick über die geschichtlichen Ereignisse, welche zeigen, wie der Christus Jesus aus der Menschheit selber herauswächst. Da damit gezeigt ist, wie die größte Erscheinung der Erdenentwickelung aus der Geschichte herausgewachsen ist, so liegt es nahe zu vermuten, daß die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens uns gerade in diesem Evangelium entgegentreten können.

Ich möchte auch heute wiederum nicht unterlassen, ausdrücklich zu betonen, daß die Dinge, die bei dieser Gelegenheit gesagt werden, subtil sind, und daß man sehr leicht die geisteswissenschaftliche Bewegung schwer schädigen kann, wenn man in irgendeiner einseitigen Weise das, was diese Geheimnisse anbetrifft, vor die Welt bringt. Daher sollte mit einer jeglichen Mitteilung über diese Dinge die größtdenkbare Vorsicht verknüpft werden. Es wäre nicht einmal zuviel verlangt, wenn ein jeder sich in die Geduld finden würde, erst dann über ein Christus-Bild etwas mitzuteilen, wenn er dasselbe von den vier Seiten her charakterisiert bekommen hat, die in den vier Evangelien gegeben sind. An der Betrachtung über das Lukas-Evangelium ist schon zu ersehen, wie die beiden großen vorchristlichen Geistesströmungen, der Zarathustrismus und das, was im Buddhismus seinen vorchristlichen Abschluß erlangt, zusammengeflossen sind, um sich zu ergießen in den großen christlichen Strom des irdischen Geisteslebens.

Das Matthäus-Evangelium hat es zuerst mit einem ganz andern Thema zu tun, nämlich zu zeigen, wie jene Körperlichkeit, in der sich

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inkarnierte die Individualität des Zoroaster, herauswächst aus dem althebräischen Volke. Es setzt sich zur Aufgabe, zu zeigen, welchen Anteil das althebräische Volk an der gesamten Entwickelung der Menschheit hat. Es könnte leicht jemand meinen, wenn die Individualität des Zoroaster sich verkörpert hat in dem bethlehemitischen Jesus, daß dann nur die Körperlichkeit herausgeboren wäre aus dem althebräischen Volke und daß damit nichts anderes gesagt wäre, als daß Zoroaster wiedergeboren wäre in einer Leiblichkeit, die aus dem althebräischen Volke herauswuchs. Wollte man eine solche Gefühisnuance hineiniegen, so ergäbe sich ein ganz falsches Bild von der Wahrheit.

Durch solche Betrachtungen soll uns immer klarer werden, daß eine solche Individualität, wie die des Zarathustra, die Leiblichkeit als Instrument braucht. Wenn aus den höchsten der Welten, aus der göttlichsten der göttlichen Welten irgendeine Individualität auf die Erde herabstiege und sich in einer ungeeigneten Körperlichkeit inkarnierte, so könnte sie aus einer solchen nichts anderes machen als das, wozu dieselbe das Instrument eben sein kann. Diese falsche Gefühlsnuance, von der eben gesprochen worden ist, könnte leicht mancherlei Mißverständnisse herbeiführen. In der theosophischen Bewegung hat man lange nicht verstanden, daß des Menschen Leiblichkeit der Tempel der Seele ist. Man muß berücksichtigen, was von uns schon so oft betont worden ist: daß das menschliche Ich in drei Hüllen wohnt, von denen eine jede äiter ist als das Ich selber. Dieses Ich ist ein Erdenwesen, das jüngste unter den menschlichen Gliedern. Der astralische Leib nahm auf dem alten Monde, der ätherische oder Lebensleib auf der alten Sonne seinen Anfang, hat also drei planetarische Entwickelungsstufen hlnter sich; der physische Leib ist in seiner Art der vollkommensteTeil und hat vier planetarische Entwickelungsstufen hinter sich. Der physische Leib ist von Äon zu Äon ausgestaltet worden, so daß er heute dieses vollkommene Werkzeug ist, in dem das menschliche Ich sich entwickeln konnte, um den Menschen allmählich wieder zu den Höhen des Geistigen aufsteigen zu lassen. Wenn der physische Leib so unvollkommen wäre wie der astralische Leib und das Ich, so wäre eine menschliche Entwickelung auf Erden nicht möglich.

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Nehmen Sie das in vollem Ernste, so können Sie nicht mehr eine falsche Gefühisnuance verbinden mit der Vorstellung, daß der Zoroaster aus dem hebräischen Volke herausgeboren worden sei, Jenes Volk mußte eben so beschaffen sein, wie es war, wenn es die Leiblichkeit liefern sollte für eine Wesenheit wie den Zarathustra. Wenn wir uns vorstellen, daß diese Wesenheit, seit jener Zeit, als sie noch Lehrer des urpersischen Volkes war, sich immer höher entwickelt hat, so müssen wir eben sagen, daß es nötig war, ihr ein Instrument zu geben aus einer Volkheit heraus von einer seiner Weseniieit angemessenen Größe. Ein für ihn taugliches Instrument mußte geschaffen werden. Durch Saturn, Sonne, Mond und Erde hindurch haben sich die Götter bemüht, den physischen Leib des Menschen im allgemeinen auszugestalten. Daraus dürfen wir wohi den Schiuß ziehen, daß die intimere Zubereitung eines Menschenleibes manches notwendig machte an geistig-göttlicher Arbeit, um den Menschenleib in der speziellen Form zur Ausbildung zu bringen, wie er dem Zarathustra damals diente.

Damit solches möglich war, mußte die ganze Geschichte des alt- hebräischen Volkes so ablaufen, wie sie eben abgelaufen ist. Die Akasha-Chronik zeigt uns, daß das, was im Alten Testament da ist, wirklich mit den geschichtlichen Tatsachen übereinstimmt. Es mußte sozusagen im althebräischen Volke alles so eingerichtet sein, daß es zuletzt in jener einen Persönlic1ikeit des bethiehemitischen Jesus gipfelte. Dazu aber waren besondere Eirichtungen notwendig. Es war notwendig, daß aus der Gesamtsumme der Kultur der nach- atlantischen Zeit dasjenige herausgenommen wurde, was am meisten fähig war, jene Kräfte in der Menschheit zu entwickeln, die entwickelt werden mußten, auf daß die Menschheit etwas an die Stelle des alten hellseherischen Vermögens setzen konnte. Es war gerade das hebräische Volk dazu ausersehen, zunächst eine solche Körperlichkeit darzubieten, die bis in die feinsten Fasern des Gehirns hinein so organisiert war, daß das, was wir Erkenntnis der Welt nennen, ohne den Einiluß des alten Hellsehens zustande kam. Das sollte die Mission dieses Volkes sein. In dem Stammvater dieses Volkes, in Abraham, war auch tatsächlich eine solche Individualität auserlesen, daß dessen

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Leiblichkeit ein geeignetes Instrument war für das urteilende Denken. Alles, was vorher groß und bedeutend war, stand noch unter den Nachwirkungen alten Hellsehens. Nun sollte aber eine Persönlichkeit ausersehen werden, welche das geeignetste Gehirn hatte, um sich nicht drängen und stoßen zu lassen von den hellseherischen Imaginationen und Intuitionen, sondern berufen war, die Dinge rein mit dem Verstande zu betrachten. Dazu aber bedurfte es eines besonders eingerichteten Gehirnes, und die Persönlichkeit, die dieses Gehirn hatte, mußte ausersehen werden. Diese haben wir zu sehen in Abram oder Abraham.

Und auch das stimmt mit den Beobachtungen der Akasha-Chronik überein, daß die Richtung, aus der jener Abraham herkam, von jenseits des Euphrat nach dem Westen ging, gegen Kanaan zunächst. Abraham wurde hergeholt, wie es in der Bibel heißt, aus Ur inChaldäa. Während in der ägyptischen sowohl wie in der chaldäisch-babylonischen Kultur noch die Nachklänge des alten dämmerhaften Hellsehens da waren, wurde aus dem chaldäischen Volke ein Individuum auserlesen, welches nicht mehr darauf aufbaute, sondern auf die Beobachtungen der Erscheinungen der Außenwelt. Damit sollte jene Kultur eingeleitet werden, deren Früchte noch heute unserer ganzen westlichen Kultur und Zivilisation einverleibt sind. Jenes kombinatorische Denken, die mathematische Logik, wurde durch Abraham eingeleitet; ihn sah man bis ins Mittelalter hinein in gewissem Sinne als Vertreter der Arithmetik an. Die ganze Anlage seines Denkens war eben eine solche, die Welt nach dem Verhältnis von Maß und Zahl anzusehen.

Eine derartig beschaffene Persönlichkeit war dazu geeignet, ein lebendiges Verhältnis zu gewinnen zu derjenigen Gottheit, welche sich offenbaren sollte durch das Medium der Außenwelt. Alle andern Gottheiten außer Jahve kündigten sich im Inneren der menschlichen Seele an, und man mußte Imagination, Intuition und so weiter in seiner Seele erwecken, um etwas von ihnen zu wissen. Im alten Indien sah man hinaus, sah die Sonne aufgehen, sah die verschiedenen Reiche der Erde, die Vorgänge des Luftkreises, des Meeres und so weiter, aber all das betrachtete man als eine große Täuschung, als Maja, worin

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der Inder nichts von einer Göttlichkeit gefunden hätte, wenn er sie nicht durch innere Imagination gewonnen und dann hinterher mit den Erscheinungen der Außenwelt in Beziehung gebracht hätte. Auch bei Zarathustra haben wir es uns so zu denken, daß er nicht hätte hinweisen können auf das große Sonnenwesen, wenn ihm nicht im Inneren aufgegangen wäre das große Wesen des Ahura Mazdao. Besonders aber sehen wir dies an den ägyptischen Gottheiten, die ganz aus inneren Seelenerlebnissen herausgeholt und nachher mit äußeren Dingen in Beziehung gebracht werden.

Alles, was an vorhebräischen Gottheiten da war, muß von diesem Gesichtspunkte aus aufgefaßt werden. Jahve jedoch ist diejenige Gottheit, welche einen von außen her anschaut, von außen an den Menschen herankommt, sich in Wind und Wetter offenbart. Wenn der Mensch alles, was in der Außenwelt an Zahi, Maß und Gewicht vorhanden ist, durchdringt, nähert er sich dem Jahvegott. In früherer Zeit war der Gang ein entgegengesetzter. Brahma wurde zuerst im Inneren der Seele erkannt und von da wird dann erst hinausgegangen. Den Jahve jedoch erkennt man zuerst draußen und dann erst kann er auch im eigenen Inneren nachgewiesen werden. Das ist die geistige Seite dessen, was genannt wird: der Bund Jahves mit Abraham. Dieser Mann war eben eine Persönlichkeit, die den Jahve fassen und verstehen konnte. Die Leiblichkeit des Abraham war so, daß dieser den Jahve oder Jehova als den die Welterscheinungen draußen durch- lebenden und durchwebenden Gott verstehen konnte.

Nun handelt es sich darum, aus dieser Eigentümlichkeit jenes einen Mannes> des Abraham, die Mission eines ganzen Volkes zu folgern. Es war notwendig, daß Abrahams Geisteskonstitution sich auch auf andere übertrug. Dieselbe ist aber an die physischen Werkzeuge gebunden; denn alles, was nach außen gebracht werden soll, ist gebunden an eine ganz bestimmte Organisation des physischen Leibes. Die alten auf der Grundiage des dämmerhaften Hellsehens aufgebauten Religionen brauchten nicht so viel Gewicht darauf zu legen, ob die einzelnen Teile des Gehirns so oder so geformt waren; das Verständnis des Jehova aber war streng gebunden an die Konstitution des physischen Gehirnes. Nur auf dem Wege der physischen Vererbung

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innerhalb eines durch Blutsverwandtschaft zusammenhängenden Volkes konnte eine Übertragung solcher Eigenschaften geschehen.

Da mußte etwas ganz Besonderes geschehen. Abraham mußte eine Nachkommenschaft haben, die weiterbaute jene eigenartige Konstitution des physischen Leibes, die bis dahin die Götter aufgebaut hatten und die in Abraham in höchster Blüte vorhanden war. Es mußte nun als selbständig von den Menschen der Aufbau des physischen Leibes in die Hand genommen werden, damit das weitergeführt wurde, was bislang die Götter getan haben, und zwar durch viele Generationen hindurch mußte dies geschehen. Es mußte ein den Jahve verstehendes Gehirn sich durch physische Vererbung erhalten. Der Bund des Jahve mit Abraham sollte auch auf die Nachkommen übergehen. Dazu aber gehörte eine ungeheure Hingebung der Individualität des Abraham an den Jahve; denn man erlangt die Möglichkeit, eine gewisse Konstitution mehr und mehr auszubilden, nur dann, wenn man dieselbe in dem Sinne gebraucht, wie sie geschaffen ist. Wenn man die Hand zum Beispiel besonders geschickt machen will zu einem gewissen Zwecke, so kann das nur geschehen, indem man sie in dem Sinne weiter ausbildet, in dem sie geschaffen ist. Wollte man die physischen Eigenschaften des Gehirns als eines Jahve-Begreifers ausbilden, so mußte diese Hiiigabe und dieses Begreifen des Jahve bei Abraham einen denkbar höchsten Grad erreichen.

Und das war auch tatsächlich der Fall. In der Bibel wird uns erzählt, wie dies geschah. Elne Hingabe wird dann am größten, wenn man hinopfert, was man selber für die Zukunft werden soll. Abraham soll dem Jahve seinen Sohn Isaak hinopfern. Er würde damit das ganze hebräische Volk hlnopfern und alles, was er selber war und was in die Welt durch ihn getragen werden sollte. Abraham war der erste Jehova-Versteher. Wollte er sich diesem ganz ergeben zeigen, so mußte er sich ihm ganz hingeben. Durch Hingabe seines einzigen Sprosses verzichtete er auf jede Fortpflanzung seines Stammes in der Welt.

Und er hat es so weit gebracht in der Hingabe, daß er den Isaak hlngeopfert hat; sein Wille war es. Und er bekommt den Isaak wieder

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zurück. Was heißt das? Das heißt etwas ganz Ungeheures. Er bekommt ihn von Jahve selber zurück> das heißt, Abraham geht so weit, die Mission, die er vermöge der Individualität seines Selbstes hat, nicht durch sich auf die Nachwelt weiter zu übertragen, sondern sie als Gabe des Jahve oder Jehova in seinem eigenen Sohn zu empfangen. Wer sich das überlegt> wird bemerken, daß hierin eine weIt- geschichtliche Tatsache liegt, die in die Geheininisse des geschichtlichen Werdens der Menschheit in unbegrenztem Maße hinein- leuchtet.

Nun sehen wir zu, wie die Ereignisse weitergehen. Durch jene Hingabe des Abraham an den Jahve wird es möglich, daß wirklich das sich fortsetzt, was bisher die Götter geschaffen haben. Das, was die physische Menschheit ist, wurde aus dem Weltenall herausgeboren. Wir wissen ja, wie das, was die menschliche Leiblichkeit auf der Erde ist, zusammeni1ängt nach Zahi, Maß und Gewicht mit all den Gesetzen, welche die Sternenwelten beherrschen. Der Mensch ist aus den Sternenwelten herausgeboren; er trägt in sich die Gesetze der Sternenwelten. Es mußten die Gesetze der Sternenwelten sozusagen hinein- geschrieben werden in das durch die Generationen des althebräischen Volkes von Abraham aus herunterffleßende Blut. In dem althebräischen Volke mußte alles so geordnet sein, daß der Strom von Gesetzmäßigkeit weiterfloß, der aus dem Weltenall heraus nach Maßgabe von Zahi, Maß und Gewicht den menschlichen physischen Leib geordnet hat im Sinne der Sternenordi1ung. Das finden wir wieder in einem Ausspruch, der in der Bibel so ungeheuer entstellt ist. So heißt es dort, daß Gott die Israeliten so zahlreich machen will wie die Sterne am Hirnmel. Gemeint ist aber, daß er in der Art, wie sie sich fortpflanzen und verbreiten auf der Erde, die Gesetze, die Zahlenverhältnisse walten lassen will, wie sie in den Sternen am Himmel herrschen. Nach der Zahieniiarmonie der Sterne soll das hebräische Volk in seiner Fortpflanzung geordnet sein.

Wir sehen, wie das geschieht. Isaak hatte zwei Söhne, Jakob und Esau. Wir sehen auch, wie alles das, was da durch das Blut der Generationen hinunterrinnt - während das der Esau-Richtung Angehörige ausgeschaltet und die geeignete Richtung herausgeholt wird -, wie

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sich das weiter gestaltet. Jakob hatte zwölf Söhne entsprechend den zwölf Teilen des Tierkreises, durch welche die Sonne am Himmel zieht, um die Ordnung der Sterne zu bewirken. Das ist die innere Geseumäßigkeit. Es erscheint uns tatsächlich im Leben und in der Fortpflanzungsart des hebräischen Volkes ein Abbild von Zahl und Maß, wie sie am Himmel herrschen. Abraham war bereit, seinen Sohn Isaak zu opfern. Damit hat er seine ganze Mission von Jahve wieder entgegengenommen. An Stelle des Isaak wurde geopfert ein Widder oder Lamm. Was heißt das?

Hier verbirgt sich etwas ungeheuer Tiefes. Jene menschliche Leiblichkeit, die sich fortpflanzen sollte und an welche jene Fähigkeiten gebunden waren, welche das Begreifen der Welt nach Maß und Zahl, nach mathematischer Logik bedingen, sollte erhalten bleiben und als Geschenk des Jahve entgegengenommen werden. Um sie aber unvermischt durch irgend etwas anderes zu haben, war es notwendig, daß verzichtet wurde auf ein jegliches dämmerhaftes altes Hellsehen, daß verzichtet wurde auf allerlei Imaginationen, Intuitionen, auf jedes Einffleßen solcher Offenbarungen, wie sie in allen übrigen Religionen der alten Zeiten bis zur chaldäischen und ägyptischen herauf vorhanden sind. Auf jede Gabe aus der geistigen Welt mußte verzichtet werden. Die letzte Gabe aus der geistigen Welt, die noch bleibt, wenn alle früheren verdunkelt sind, wird in der mystischen Symbolik durch den Widder bezeichnet. Die beiden Widderhörner bedeuten: das Opfer der zweiblättrigen Lotosblume. Die letzte hellseherische Gabe wird hingeopfert, nachdem die früheren schon früher abgelegt worden sind. Um die Leiblichkeit in dieser Organisation in Isaak zu erhalten, wird die letzte hellseherische Fähigkeit, die Widdergabe, die zweiblättrige Lotosblume hier hingeopfert.

Nun lebt das Volk in seiner Mission so weiter, daß gerade diese Abraham-Fähigkeiten sich fortpflanzen von Generation zu Generation. In dem Augenblicke, wo atavistisch wieder auftritt diese Hellsehergabe, wo wieder einer hineinsieht in die geistigen Welten, macht sich eine solche Reaktion geltend, daß diese Persönlichkeit zunächst ausgeschieden wird, daß sie nicht geduldet wird innerhalb der Volksgemeinschaft. Die Antipathie gegen diese Gabe des Widders macht

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sich geltend in Feindschaft. Das zeigt sich bei Joseph. In seinen Träumen hatte er prophetische Erleuchtungen aus der geistigen Welt. Er wird ganz selbstverständlich herausgeschoben aus dem Volke, weil das, was er hatte, aus der eigentlichen Mission des hebräischen Volkes herausflel. Von den Brüdern wird er verstoßen, weil in ihm ein Erbstück alter Hellsehergabe wieder auftritt. Deshalb mußte Joseph nach Ägypten gehen, weil er herausflel aus der Mission seines Volkes.

So bedeutsam sind diese Dinge, die uns da erzählt werden! Nun sehen wir weiter, wie sozusagen gerade durch jene Persönlichkeit, durch welche in einem alten Erbstück erhalten ist das, worauf das alte hebräische Volk nur zurückschauen konnte als auf etwas, was vor Abraham war, wie durch diese Persönlichkeit, durch den Joseph, wiederum das herbeigeführt wird, was zur Entwickelung des alt- hebräischen Volkes so notwendig war zur Erfüllung seiner Mission. Es war in gewisser Weise für das althebräische Volk das Tor geschlossen gegenüber jener Welt, die dazu geführt hatte, durch das alte dämmerhafte Hellsehen dem Indertum, Persertum seine Religion zu geben. Da war das Tor geschlossen. Man sah hinaus in die Welt, ordnete nach Maß und Zahl, und als die Einheit, in die man alles ordnete> erblickte man Jahve oder Jehova. Das einzige, was man noch wußte, war, daß dies, was man draußen erblickte, was in Jahve als Schöpfer der Welterscheinungen einem entgegentrat, eines und dasselbe war mit der menschlichen Ichheit. Aber darüber stiegen keine Imaginationen, keine eigenen inneren Erlebnisse innerhalb dieser Volksgemeinschaften auf. In jener Zeit, sage ich ausdrücklich, gab es darüber keine eigenen Erlebnisse. Deshalb mußte man es auch von außen lernen, das heißt, man mußte es bei einem Volke lernen, das diese Erlebnisse noch hatte.

So bildet die Persönlichkeit des Joseph das Bindeglied zwischen dem althebräischen Volke und den Ägyptern, also dem Volke, bei dem man das lernen konnte, was das althebräische Volk nicht mehr als Erlebnis hatte. Das, was man heute selber zusammenbringen kann, wenn man die eigenen inneren Erlebnisse gehabt hat - die Erkenntnisse, Erlebnisse der Außenwelt und die der inneren Imagination -, das mußte man zusammenbringen dadurch, daß man sich hinbegab

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zu einem Volke, das diese Erlebnisse noch in hohem Maße hatte, zu dem ägyptischen Volke. Solche innere Fähigkeiten mußte man in Harmonie bringen mit dem, was man selber durch mathematische Logik gewonnen hatte. Aber hinführen konnte zu diesem ägyptischen Volke nur eine-solche Persöniichkeit, die selber etwas hatte von solcher Imagination. Joseph war das richtige Verbindungsglied, weil er selber noch solche Fähigkeiten besaß. Denn er konnte den Ägyptern dienen, weil er zweierlei vermochte: Erstens hatte er die alte Hellsehergabe aus der Zeit vor Abraham. Er konnte sich hineinflnden in das, was das alte ägyptische Volk durch Hellsehergabe erlangte. Aber was dieses Volk nicht hatte, war die mathematische Logik, das heißt, es konnte nicht anwenden im physischen Leben das, was es als Imagination besaß. Der Pharao war darum unfähig, die Dinge richtig an- zuordnen, als etwas eintrat, was bisher nicht immer dagewesen war. Imaginationen konnte man haben, aber, wenn eine gewisse Unord

nung eingetreten war, in kluger Weise maß- und zahivoll nachzudenken und die Verhältnisse zu ordnen, dazu brauchte es eine andere Fähigkeit, welche die Ägypter nicht besaßen, und diese hatte Joseph. Daher war er fähig, am ägyptischen Hofe die richtigen Ratschläge zu geben. So war er das richtige Verbindungsglied zwischen dem hebräischen Volke und den Ägyptern. Dadurch konnte er es herbefführen, daß die Jahve- oder Jehova-Lehre, die bis dahin wie eine Zusammenfassung der äußeren Wirklichkeit, wie ein mathematisches Weltbild war, Farbe und Inhalt bekam von der inneren Imagiriation, die man in Ägypten hatte.

Diesen Zusammenhang und Zusammenklang zwischen altägyptischen Erlebnissen und den Erkenntnissen des Weltzusammenhangs hat Moses gebracht. Als das gemacht war, konnte das Volk wieder zurückgeführt werden, um das in Ägypten Erfahrene, nicht Erlebte, zu verarbeiten nach seiner Art. Denn es handelte sich ja gerade darum, daß diese Gabe unvermischt von andern Völkern erhalten blieb, daß unverfälscht blieb die Blutseigentümlichkeit. Es mußte aber herübergerettet werden das, was die alten Völker hatten gewinnen können. So ist die Erbschaft von alten Zeiten her das, was an Weisheitsgütern im ägyptischen Volke war, durch Moses einverleibt worden dem althebräischen

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Volke mit seinen mathematisch-logischen Fähigkeiten. Dann aber mußte das Volk wieder herausgerissen werden, denn es sollte ja vererben, was als neue Fähigkeit durch das abrahamitische Volk allein möglich war.

Nun lebte dieses Volk weiter. Dadurch, daß es die Vorbedingungen immer mehr verfeinerte und daß das Blut dieses Volkes sich immer mehr richtete nach diesen Vorbedingungen, daß es sich so ausbildete, wie es sich in der Generationenreihe ausgebildet hat, dadurch war es möglich, in einem bestimmten Zeitpunkte aus dem Blute dieses Volkes die Leiblichkeit des Jesuskindes hervorgehen zu lassen, in die ein- ziehen konnte die Persönlichkeit des Zarathustra oder Zoroaster. Dazu mußte dieses Volk stark und mächtig gemacht werden.

Wenn wir im Sinne des Matthäus-Evangeliums weiter die Zeit der Richter und Könige und die verschiedenen Schicksale des alt- hebräischen Volkes verfolgen, so werden wir sehen, wie auch jene Verhältnisse, die uns dieses Volk zeigen so, daß es oftmals abirrt, gerade notwendig waren, um zustande zu bringen, was zustande gekommen ist. Insbesondere war es auch notwendig> daß das Volk das Unglück hatte> das sich ausdrückt in dem Wegführen in die babylonische Gefangenschaft. Wir werden sehen, wie die Volkseigentümlichkeit sich ausgebildet hat, und wie hier notwendig war der Zusammenstoß mit der andern Seite der alten Tradition, die in BabyIon vorhanden war, als das Volk reif war, mit dem wieder zusammengeführt zu werden, was es verlassen hatte. Das ist das eine. Das andere ist das, daß gerade in jener Zeit, in welcher das hebräische Volk mit dem babylonischen zusaITt1iengeführt wurde, ein großer, gewaltiger Lehrer des Ostens dort lehrte, und daß einige der Besten des hebräischen Volkes noch unter dem Lichte dieses großen Lehrers stehen konnten. Das ist die Zeit, in der Zarathustra als Nazarathos oder Zaratos dort lehrte, in jenen Gegenden, in welche die Juden geführt worden sind. Einige der besten Propheten standen noch unter seinem Einfluß. Da konnte er noch so viel machen an diesem Volke, als man machen muß, wenn das Blut schon eine gewisse Wirkung getan hat, und dann gewisse Einflüsse von außen hinzutreten müssen.

Es ist fast so, daß man nicht sehr weit fehlgeht> wenn man diese

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ganze Entwickelung mit der Entwickelung des einzelnen, allmählich heranwachsenden Menschen vergleicht. Da haben wir zunächst das Kind, das geboren wird. Es wächst heran bis zum siebenten Jahre und steht in der leiblichen Pflege der Eltern. Da sind es vorzugsweise die Einflüsse des physischen Planes, die einwirken müssen. Dann beginnt die Entwickelung, die dadurch einsetzt, daß der Ätherleib erst in richtiger Weise geboren wird. Die Entwickelung basiert darauf, daß das Gedächtnis ausgebildet wird, daß also das, was im Ätherleib sich heranentwickeln kann, in der richtigen Weise sich erkraftet. In der dritten Periode beginnt das, was man nennen kann: der Mensch tritt mit seinem astralischen Leibe jetzt in ein Verhältnis zur Außenwelt; da muß er aufnehmen das, was man nennen kann Urteilsfähigkeit.

In gewisser Weise machte das althebräische Volk diesen Weg in ganz eigenartiger Weise durch. Es macht zuerst die erste Periode durch, von Abraham bis zur Zeit der ersten Könige. Es ist dies zu vergleichen mit der ersten Periode des einzelnen Lebens bis zum siebenten Jahre. Hier werden alle Dinge getan, die imstande sind, die Bluteigentümlichkeiten zu befestigen. Alles, was da erzählt wird, die Wanderung Abrahams, die Ausbildung der zwölf Stämme, die Eingliederung der mosaischen Gesetzgebung, die Fährlichkeiten in der Wüste, ist zu vergleichen mit dem, was in den ersten sieben Lebensjahren auf den Menschen vom physischen Plane her einffleßt. Dann kommt die zweite Periode: die innere Verfestigung, die Königsherrschaft bis zur babylonischen Gefangenschaft. Dann kommt der Einfluß des Chaldäertums, des orientalischen Magiertums auf das hebräische Volk. Und der Leiter, der schon damals, 550 bis 600 vor unserer Zeitrechnung, einfließen ließ in das hebräische Volk diesen orientalischen Einfluß, war schon damals die Individualität des Zarathustra. Und so hat er schon damals vorgearbeitet, um eine geeignete Leiblichkeit zu finden. So entwickeln sich in den Generationen herunter, von Abraham an, immer mehr die Möglichkeit und die Bedingungen, daß herausgeboren werden konnte die geeignete Leiblichkeit, die dann die Wiederverkörperung des Zarathustra sein konnte.

Das Matthäus-Evangelium stellt insbesondere diese Entwickelung ganz wunderbar getreu dar, indem es eine Dreigliederung eintreten

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Wir haben drei mal vierzehn Glieder: von Abraham bis David zehn Glieder, von David bis zur babylonischen Gefangenschaft zehn Glieder, von der babylonischen Gefangenschaft bis zum stus Jesus wieder vierzehn Glieder. Das gibt drei mal vierzehn zweiundvierzig Glieder, gleichsam zeigend, daß in dieser Leib~fr des Jesus der Extrakt da ist von alledem, was von Abraham Lnter durch die ganzen Schicksale des althebräischen Volkes zuitet ist. Und jetzt soll auftreten ein Menschenwesen, welches alle ~igenschaften, die da sozusagen durch die Generationenfolge zu~nengestellt sind, seelisch im seelischen Wirken zum Ausdruck gt, sie in seiner ganzen Persönlichkeit, in einem Menschen zu~.enfaßt. Die ganze hebräische Entwickelung seit Abraham sollte ~nem Menschen zusammengefaßt werden. Und das sollte gipfeln m Jesus des Matthäus-Evangeliums. Wie konnte das geschehen? ist nur möglich, wenn wiederholt wird der ganze Entwickelungsr> in seelischer Art. Zarathustra geht ungefähr aus von der Stelle r in Chaldäa, geistig aus den Mysterien heraus, woher Abraham >mmen ist. Der Goldstern erscheint dort zuerst, geht von da aus, dortigen Magier folgen ihm. Geistig geschieht dasselbe, was ;isch durch Abraham geschehen ist. Den Weg, den Abraham ~ht hat, den geht geistig der Stern, dem die Magier folgen: das r sich inkarnierende Zarathustra selber, der da den Weg geht, den Lham gegangen ist, und er senkt sich nieder über der Geburts. Das ist der Moment, wo sich die Individualität des Zarathustra rniert in dem bethlehemitischen Jesuskinde. Die Magier wissen Sie folgen dem Stern, das heißt ihrem großen Lehrer Zarathustra, ich da inkarniert.

handelt sich nun darum, daß wirklich der Weg weitergemacht , daß wirklich in der Persönlichkeit des einen Jesus darinnen ist esamte Extrakt der ganzen hebräischen Entwickelung. Wir sehen chst, daß im Geiste wiederholt wird ein Opfer, das Isaak-Opfer; gstens im Geiste wird es wiederholt durch das Opfer der drei [er aus dem Morgeniande: Gold, Weihrauch und Myrrhen wurvon ihnen dargebracht. Zu gleicher Zeit sehen wir, daß wiederum s eintritt, das erinnert an frühere Ereignisse des althebräischen

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Volkes. Mit der ganzen Geburt dieses Jesusknaben ist etwas verbunden, das ein Abbild ist der Schicksale des althebräischen Volkes. Da war ein Joseph, der eine Erbschaft hatte im Träumen, und das Verbindungsglied darstellt zwischen dem hebräischen und dem ägyptischen Volke; jetzt ist es wieder ein Joseph, der da Träume hat, und dem im Traume gewiesen wird nicht nur, daß Jesus geboren wird, sondern daß er mit dem Jesus nach Ägypten ziehen solle.

Und nun geht der Weg des Zarathustra in dem Leibe des Jesusknaben weiter. Wie er verfolgt hat den Weg, den auf dem physischen Plane Abraham genommen hat von Ur in Chaldäa bis Kanaan, so geht er jetzt den Weg weiter nach Ägypten - und das Jesuskind wird wieder zurückgeführt aus Ägypten, wie das hebräische Volk zurück- geführt worden ist. Da haben wir beim Auftreten des bethlehemitischen Jesus, den man erst später den Nazarener genannt hat, eine Wiederholung der ganzen Schicksale des althebräischen Volkes bis zur Rückkehr aus Ägypten in das gelobte Land Palästina. Das, was sich da abgespielt hat durch lange, lange Jahrhunderte als äußere Geschichte des hebräischen Volkes, wiederholt sich jetzt in dem Schicksale jener Menschenwesenheit, die den Zarathustra in dem Leibe des bethiehemitischen Jesus darstellt. Dies ist im Sinne des Matthäus-Evangeliums, im Großen gedacht, das Geheimnis menschlicher Geschichte überhaupt. Man versteht menschliche Geschichte nicht, wenn man nicht die einzelnen großen leitenden Individualitäten, die eine besondere Mission haben, so versteht, daß sich in ihrem einzelnen Schicksale die ganze Entwickelung durch Jahrhunderte hindurch wiederholt; daß sie aufnehnien in einer Inkarnation einen Extrakt dessen, was in der Geschichte durch Jahrhunderte geschaffen worden ist. Der Christus Jesus mußte ja noch viel mehr aufnehmen, aber die Leiblichkeit mußte zunächst besonders zubereitet werden, und das konnte nur durch die geschilderten Einrichtungen geschehen.

Wie steht es mit dem Zeitpunkt, in dem gerade jene kurze RekapituIation der ganzen Geschichte des hebräischen Volkes in der Persönlichkeit des Jesus stattfinden sollte? Was ist das für ein Zeitpunkt in der Geschichte? Dazu nehme man folgende Entwickelungstatsachen zusammen, die ich nun seit Jahren in Ihrer Vorstellungswelt vorzubereiten

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versucht habe. Nehiinen Sie das zusammen: Die Menschheit ging aus von einer uralten Entwickelung, in welcher alles das,was die Menschen zusammenband in Liebe, gebunden war an die B,Iutsbande. Das liebte sich, was durch Blutsbande verbunden war,man heiratete nur in engen Blutsverbänden. Eine andere Liebe es in den alten Zeiten nicht. Deshalb war die Liebe gebunden an die Blutsverwandtschaft. Das wird genannt Nahehe; von der Nahehe ging die Menschheit aus. Immer mehr sind dann diese einzelnen Verbände in den verschiedensten Gegenden der Erde durcheinander orfen worden. Wir können bei allen Völkern verfolgen, wie es als besonderes Ereignis angesehen wird, wenn Männer und Frauen von einem in den andern Stamm hinein heiraten, wenn der Übergang einlitt zur Fernehe. In allen Mythen und Sagen, zum Beispiel im ~drun-Liede, wird das als besonderes Ereignis charakterisiert. Das machte immer einen besonderen Eindruck. Während dieser Entwickefing der Menschheit sind zwei Strömungen tätig. In diesem Zusammenführen durch Blutsbande wirkte immer schon das göttlich geistige Prinzip, das die Menschheit zusammenführen soll, das aus der ganzen Menschheit Eines machen soll. Ihm wirkte entgegen das luziferische Prinzip, das jeden Menschen auf sich selbst stellen will, das einzelnen Menschen so mächtig und groß machen will, als es lich ist. Beide Pririzipien müssen da sein in der Menscherinatur,beide Kräfte müssen in der Menschenentwickelung wirken.

Nun waren diese beiden Mächte am Werke im Verlaufe des Fortötts der Menschheitsentwickelung:die göttlich-geistigen Mächte die auf dem Monde zurückgebliebenen luzfferischen Mächte, die Menschen abhalten wollten, sich zu verlieren, ihn vielmehr ganz ständig machen wollten. Diese beiden Mächte waren in der chheitsentwickelung immer am Werke. Dadurch wurde das Ich Menschen, das ja ein Erdenprodukt ist, immer hin und her geAuf der einen Seite wurde es hingelenkt zur Menschenliebe,der andern Seite zur inneren Selbständigkeit. Nun, zu einer beten Zeit trat eine Art von Krisis ein in bezug auf das Zusammen

Ikken dieser beiden Mächte. Diese Krisis, diese Entscheidung in der ~nschheit war da, als durch die Taten des Römischen Reiches für

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einen großen Kreis der Erde die Völker ganz durcheinandergewürfelt waren. Es war das in der Tat ein Entscheidungsmoment in der Menschheitsentwickelung, der Entscheidungsmoment, wo sich klar herausstellen sollte, was werden sollte aus der unentschiedenen Frage von Nahehe und Fernehe. Die Menschen standen vor der Gefahr, entweder ihr Ich zu verlieren durch Verbleiben in den einzelnen Stämmen oder allen Zusammenhang mit der Menschheit zu verlieren und bloß einzelne, selbständige, egoistische Individuen zu werden. Dieser Zeitpunkt war also da.

Was mußte in diesem Zeitpunkte geschehen? Etwas ganz Bestimmtes. Das menschliche Ich mußte dazu reif werden, das, was man erst Selbständigkeit, Freiheit nennen kann, in sich zu entwickeln, und aus sich heraus frei die seelische Liebe zu entfalten, die nicht mehr an die Blutsbande gebunden war. Das Ich stand vor dem Entscheidungspunkt. Es mußte vöffig entfesselt, seiner selbst vollständig bewußt werden. So stand mit Ausnahme der orientalischen Völker die ganze Menschheit der alten Welt vor einer neuen Geburt des Ich, vor einer solchen Geburt des Ich, durch welche dieses Ich zu der aus dem Ich selber herausgeborenen Liebe kommen sollte. Das Ich sollte aus Freiheit heraus die Liebe, und aus der Liebe heraus die Freiheit entwickeln. Und im Grunde genommen ist erst ein solches Wesen ganz Mensch. Der erst ist ein wahrer Mensch, der ein solches Ich entwickelt. Denn der, welcher nur liebt, weil Blutsbande da sind, det wird gestoßen zur Liebe und drückt nur das auf einer höheren StUft aus, was auf einer niedrigen Stufe auch im Tierreiche vorhanden ist. In dem Momente erst, den wir eben beschrieben haben, ist die volle Menschwerdung dagewesen. In diesem Moment sollte über die Erdi hingehen jener Einfluß, der den Menschen zum Menschen machte.

Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen unzählige Male schon gesag habe: daß der Mensch seiner Wesenheit nach aus drei Gliedern bei steht, aus dem physischen Leib, den er hat in Gemeinschaft mit der Mineralien, aus dem ätherischen Leib, den er mit den Pflanzen geb meinsam hat, und aus dem astralischen Leib, in dem im Grund< genommen auch die Liebe bisher gesessen hat, den er gemeinsam ha` mit den Tieren. Durch sein voll entwickeltes Ich ist der Mensch die

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one der Erdenschöpfung. Alle andern Erdenwesen haben Namen, man ihnen von außen geben kann, sie sind Objekte. Das Ich hat en Namen, den es nur sich selber geben kann. In dem Ich spricht Gottheit, in dem Ich sprechen nicht mehr irdische Verhältnisse, in Ich spricht das Reich des Geistes. Der Geist aus den Himmeln richt, wenn dieses Ich vollständig zu sich selber gekommen ist. könnte sagen, bisher hat es gegeben drei Reiche: das Mineral-, en- und das Tierreich, und ein Reich das sich zwar heraushob diesen, das es aber noch nicht zur Vollkommenheit gebracht hat, noch nicht seine ganze überirdische Wesenheit in sich hineinommen hat. Dieses Reich, welches darin besteht, daß in eine Ich heit das, was sonst nirgends auf Erden zu finden ist, die geistige Welt, Reiche der Himmel hineingenommen werden, dieses Reich nannte nach dem Sprachgebrauch der Bibel das Reich oder die Reiche Himmel; in der Bibel wird es gewöhnlich übersetzt «Reich ttes».

Und das Reich der Himmel ist nichts anderes als eine Umschreibung Ausdrücks «Menschenreich». Wenn wir sagen: mineralisches,liches, tierisches Reich so können wir im Sinne der Bibel als es Reich anführen: das Reich der Himmel. Das Menschenreich, können wir im Sinne der Bibel sagen, ist das Reich der Himmel, so der, der dazumal im Mysteriensinne hineinschaute in den ganzen Gang der Menschheitsentwickelung, folgendes sagen konnte: Schaut öck in vergangene Zeiten; da wurde die Menschheit zur Menscheit geführt, da war noch nicht das Reich der Himmel auf Erden.

Jetzt ist der Zeitpunkt da, wo das Reich der Himmel auf Erden t. - Dies hat der Vorläufer des Christus Jesus und der Christusus selbst gesagt: «Das Reich der Himmel ist nahe herbeigekom», und dadurch haben sie ihre Zeit in ihrem tiefsten Wesen kterisiert. In diese Zeit mußte aber gerade die Geburt des östus Jesus fallen. Er sollte jene Kräfte der Menschheit bringen, ch welche das Ich jene Eigenschaften entwickeln konnte. So ist die e Menschheitsentwickelung in zwei Teile geteilt: in einen vor- östlichen> in dem das Reich der Himmel noch nicht auf der Erde ,und in einen Teil, in dem das Reich der Himmel auf Erden war,

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das Menschenreich in seiner höchsten Bedeutung. Das althebräische Volk war ausersehen, die leibliche Körperlichkeit, die körperlichen Hüllen zu geben, die gewachsen waren als eine Wesenheit, um den Träger dieses Reiches der Himmel aufzunehmen.

Das sind jene Geheimnisse, die sich ergeben, wenn man im tieferen Sinne anknüpfend an das Matthäus-Evangelium geschichtlich die Sachen ins Auge faßt. So daß wir zu den beiden charakterisierten Strömungen, den beiden Beiträgen zum Christentum, die wir kennengelernt haben, zum Zarathustrismus und zum Buddhismus, hinzufügen noch als dritte Strömung die althebräische Strömung, den Beitrag des althebräischen Volkes. Wir könnten jetzt das Folgende sagen: Da waren Führer, wie der Buddha und der Zarathustra. Diese wollten die Opfer ihrer religiösen Strömungen darbringen. Und da mußte ein Tempel auferbaut werden. Der Tempel konnte nur auf- erbaut werden durch das althebräische Volk. Dieses Volk baute den Tempel der I,eiblichkeit des Jesus auf. In diesen Tempel konnten diese beiden ersten Strömungen einziehen. Da opferte zunächst der Zarathustra, indem er sich in diesen Leib verkörperte; da opferte später der Buddha, indem er in den andern Jesus seinen Nirmanakaya einiließen ließ. So ffleßen diese beiden Strömungen zusammen.

Um Ihnen doch etwas zu geben, was in gewisser Beziehung ab- geschlossene Gedanken sind, habe ich Ihnen heute nur ganz flüchtig abstrakte Skizzen geben können von diesen tiefen Geheimnissen. Aber um abgeschiossene Gedanken einmal zu geben, habe ich heute im allgemeinen schematisch charakterisiert. Wir werden das später fortsetzen, um ein Bild zu bekommen von der Mission des alt- hebräischen Volkes und von dem ganz eigenartigen Herauswachsen des Christus Jesus aus diesem Volke. Da wird sich uns das Einzigartige ergeben, wie aus der Geschichte, aus dem zeitlichen Verlauf der Entwickelung, eine Wesenheit herauswächst von einer ewigen Geltung, von einer Geltung von unvergänglicher Dauer. So wird sich allmählich zeigen, wie sich aus einer vergänglichen Welt herausentwickeln konnte dasjenige, was einer Ewigkeit standhalten wird.

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DIE VORBEREITUNG FÜR DAS VERSTÄNDNIS DES CHRISTUS-EREIGNISSES. DIE SENDUNG DES ALTHEBRÄISCHEN VOLKES Berlin, 23. November 1909 Dritter Vortrag

Als einen Beitrag, der anknüpfte an das Matthäus-Evangelium, haben das letzte Mal etwas zu sagen gehabt in unserer Betrachtung über die Sendung des alten hebräischen Volkes, über das Hervorgehen des östus Jesus aus diesem Volke. Denn es soll uns ja in Anknüpfun an die Evangelien unsere Betrachtung allmählich darüber Klarheit chaffen, wie die verschiedenen Geistesströmungen zusammenossen sind, um dann in der großen christlichen Geistesströmung einsam für die Weiterentwickelung der Erde zu sorgen. Nun komte in einer kurzen Betrachtung nur ganz skizzenhaft gezeigt den, welcher Teil in der Gesamtmenschheitsentwickelung zulen ist dem althebräischen Volke. Man kann aber das Matthäus vangelium nicht verstehen, wenn man nicht wenigstens auf einzelne dere Glieder dieses Volkes ein wenig eingeht. Um uns ganz deutlich verstehen zu können, müssen wir uns noch einmal ganz genau vor die e rücken, worin die Sendung jenes Volkes eigentlich besteht. Sie sehen, daß sie sich von den Missionen der andern vorchristlichen Völker unterscheidet. Diese sind noch verknüpft mit dem, was nennen könnte die Ergebnisse des alten Hellsehens der Menschheit. Solche Ergebnisse ftnden wir bei allen Völkern des Altertums; könnte dieselben nennen eine uralte Weisheit.

Wollen wir hier ganz sinngemäß charakterisieren, so können wir sagen, in der alten Atlantis haben die Menschen noch allgemein in die geistige Welt hineingesehen. Wenn auch nur die Eingeweihten die höheren Erlebnisse haben konnten, so hatte doch ein jeder wenigstens einen Begriff von der geistigen Welt, weil in gewissen Zwischenzuständen der Mensch der atlantischen Zeit noch hineinschauen konnte in ein geistiges Gebiet. Es sollte diese Fähigkeit aber ersetzt werden durch diejenige, welche heutzutage die hauptsächlichste Fähig-

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keit des Menschen ist: Verstandestätigkeit, Begreifen der Außenwelt mit den physischen Sinnen, kurz, Leben in der physischen Außenwelt. Langsam und allmählich wurde dies im Laufe der vorchristlichen Zeit heranentwickelt, so daß wir sagen können, beim alten indischen Volke war im Grunde genommen noch ein ausgiebiger Rest des alten Hellsehens vorhanden. Was die heiligen Rishis gelehrt hatten, war auch ein Erbstück aus alter Zeit, war uralte Weisheit. Auch noch in der zweiten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit, in der persischen, war das, was die Schüler und Bekenner des Zarathustra wußten, gestützt auf die Erbstucke des alten Hellsehens. Ähniich ist auch die chaldäische Astronomie von der alten Weisheit durchdrungen> ebenso das, was die alten Ägypter hatten. Eine solche Wissenschaft, welche rechnet mit den nachatlantischen Fähigkeiten des Menschen, wäre sowohl den Ägyptern wie den Chaldäern noch ganz unverständlich geblieben. Wissenschaft, welche in Begriffs- und Ideenbildern sich ausdrückt, die physischer Art sind, gab es damals noch nicht. Solch ein Nachdenken> wie wir es haben, existierte nicht.

Es ist gar nicht unnötig, sich einmal klarzumachen, welches der Unterschied ist zwischen einem wirklichen Seher unserer Zeit und etwa einem altchaldäischen oder altägyptischen Seher. Wer heute, und zwar wirklich aus den riaturgemäßen Voraussetzungen unserer Zeit> zum Sehertume kommt, bei dem verhält sich die Sache so: Er bekommt das, was man nennt die Offenbarungen aus der geistigen Welt, was man nennen kann seine Eingebungen, Erfahrungen und Erlebnisse aus der geistigen Welt so, daß er aus seinem gewöhnlichen frdischen Denken heraus durchdringen muß diese Eingebungen mit dem, was er als logisches, vernünftiges Denken hier in der physischen Welt gewinnen kann. Vollständig zu verstehen sind die der heutigen Zeit angehörigen Erfahrungen des Sehers gar nicht, wenn ihnen nicht entgegengekommen wird von einer Seele, die sich erst ordentlich geschult hat an logischem und vernünftigem Denken. Diese heutigen Eingebungen und Offenbarungen bleiben unverständlich; sie verlangen, daß die Seele ihnen sich nähert mit dem logischen Denken. Wer sie heute hat, ohne daß er den Willen hat zum logischen Denken, ohne daß er den Willen hat zur entsagungsvollen, vernünftigen Ausbildung

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seiner irdischen Kräfte, der kann nur zu dem kommen, was inan nennt visionäres Hellsehen, das durchaus nicht vollständig verden werden könnte, ein Hellsehen, welches unverständlich bleibt d daher auch irreführend ist. Nur eine Seele, welche den wirklich tensiven Willen hat, zu lernen in einer vernünftigen Weise, kommt der richtigen Weise den heutigen Eingebungen des Sehertums entgen. Deshalb muß in einer solchen geistigen Bewegung, wie es diegnsere ist, der größte Wert darauf gelegt werden, daß nicht etwa in seitiger Weise das Sehertum ausgebildet wird und die Offenngen der geistigen Welt in einseitiger Weise verkündigt werden, dern es muß auch darauf hingearbeitet werden, daß die Seele den gebungen und Offenbarungen etwas entgegenbringt. Es muß wirkebenso logische Arbeit geleistet werden, wenn die Ausbildung Sehertums gewollt wird. Beide können in unserer Zeit nicht getrennt werden.

Für den ägyptischen oder chaldäischen Seher war das ganz anders. Er bekam mit seinen Eingebungen, die einen ganz andern Weg machten, zugleich die logischen Gesetze. Daher brauchte er keine besondere Logik. Ihm wurden, wenn er durch eine geistige Schulung durchgegangen war, die fertigen Gesetze schon in den Eingebungen gegeben. Dazu taugt der heutige Organismus nicht mehr. Darüber hat er sich hinausentwickelt, denn die Menschheit schreitet vorwärts.

Wenn man diesen Unterschied genau ins Auge faßt, dann wird es erst ganz verständlich, was es heißt, daß immer noch Reste alten Hellschens in der vorchristlichen Zeit vorhanden waren, mit der einzigen Ausnahme des althebräischen Volkes, das zuerst ausersehen war, solch einen menschlichen Organismus zu entwickeln, welcher dazu veranlagt war, die äußere physische Welt nach Maß, Zahl und so weiter zu durchschauen und so allmählich von der physischen Welt aufzusteigen zur Erkenntnis des Geistigen, das sich zusammenschloß in dem Bilde des Jahve oder Jehova. Das war das Wesentliche, daß in Abraham ein Mensch auserwählt worden war, dessen Gehirn so gebaut war> daß er der Stammvater eines ganzen Volkes werden konnte, das von ihm aus diese Eigenschaften weiter vererbte. Nicht nur sollten die Eingebungen, die im Inneren aufsteigen, empfangen werden,

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sondern sie sollten wie eine Gabe angesehen werden, die von außen kommt. Es bekam alles das, was von Abraham stammt, zunächst nicht von innen, sondern alles wie eine Offenbarung zunächst von außen. Damit ist etwas außerordentlich Wichtiges gegeben für die Unterscheidung der ganzen Anlage jenes Volkes von den übrigen Völkern des Altertums; es unterscheidet sich radikal von den übrigen Völkern.

Sie können sich denken, daß nicht auf einmal die alten Fähigkeiten, die alten Erbstücke verlorengehen konnten, sondern daß auch bei diesem Volke noch alte Reste vorhanden blieben. Dies ist angedeutet bei Joseph, der noch mancherlei gemein hatte mit den andern Völkern. Dadurch konnte er das Verbindungsglied bilden zwischen dem alten hebräischen und dem ägyptischen Volke, welches noch ganz in der Geistesströmung der vorchristlichen Völker drinnensteckte. Erst nach und nach konnten sich die neuen Fähigkeiten entwickeln.

Warum wurde ein Volk gerade so vorbereitet? Warum mußte ein Volk dazu ausersehen werden, herausgetrennt zu werden aus dem gesamten übrigen vorchristlichen Geistesleben, und warum sollte es ganz besondere Fähigkeiten bekommen? Aus dem Grunde mußte dies geschehen, damit die Möglichkeit gegeben war, Menschen vor- zubereiten auf den großen Zeitpunkt, der gerade damals eintrat, als der Christus Jesus auf die Erde kam. Es war das der Zeitpunkt, wo alle alte Hellsichtigkeit und Blutsverwandtschaft ihre Bedeutung eingebüßt hatte und etwas Neues eintrat für den Menschen, nämlich der völlige Gebrauch des Ich. Durch die radikale Blutsmischung ging verloren, was in alten Zeiten große Bedeutung hatte, dafür aber trat der volle Gebrauch des menschlichen Ich ein. So ward das eigentliche Menscherireich oder das Reich der Himmel zu den übrigen Reichen noch hinzugeboren.

Nun sind im allgemeinen die Menschen durchaus nicht geneigt> wenn etwas Neues geboren wird, das auch wirklich zu erkennen. Diejenigen Ereignisse, die im Geistigen vorgehen, erkennen die Menschen nicht so ohne weiteres. Sie reden zwar immer leicht von irgendwelchen künftigen Propheten, die da kommen sollten. Das war üblich in der vorchristlichen wie in der nachchristlichen Zeit. Im 12. und

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13. Jahrhundert gab es eine wahre Sucht nach Prophetie. An verschiedenen Orten traten Menschen auf, verkündigten, daß der Christus in der nächsten Zeit wiederkommen werde, wiesen hin auf die Orte, wo er erscheinen werde. Auch in andern Zeiten traten vereinzelt solche Erscheinungen auf. Man sprach davon, daß dieser oder jener die 1nkarnation eines neuen Christus sein werde. Selbstverständlich brauchen keine Worte verloren zu werden über solche Prophezeiungen,denn selbst wenn sie eingetroffen wären, so würden sie deutlich die Mängel an sich getragen haben. Solche Prophezeiungen haben nämlich einen ständigen Mangel: sie reden prophetisch von dem, was da erscheinen soll, aber sie versäumen, die Menschen so vorzubereiten, daß diese erkennen, was da kommen wird, und die Gemüter in solch eine Verfassung zu bringen, daß sie das Erscheinende wirklich verstehen könnten.

Den Menschen, denen solches verkündet wurde, mußte es ergangen sein wie jenem Gynrriasiallehrer, von dem Hebbelin seinen Tagebuchnotizen berichtet: der Lehrer prügelt nämlich einen Schüler, weil er den Plato nicht verstehen konnte. Hebbel fügt witzig hinzu, daß dieser Schüler der reinkarnierte Plato sei. So ergeht es tatsächlich den Men,; schen, die immer reden von einem wiedererscheinenden Christus. Es wiirde ihnen so ergehen, daß sie wenig vorbereitet wären auf den Inhalt, selbst wenn er erschiene. Solche Menschen würden den östus für etwas ganz anderes halten als für den Christus.

Es sollte nun aber vorgesorgt werden. Und das muß man zum Ver- dnis des Matthäus-Evangeliums wissen, damit wenigstens einige cnschen da seien, welche das Christus-Ereignis verstehen können, ja, wenn wir es von dieser Seite charakterisieren wollen, darin teht, zu wissen, daß der Christus derjenige war, der den Menschen die Möglichkeit brachte, nunmehr nicht bloß physische Eindrücke zu pfangen, sondern von außen zu empfangen den Geist. Dazu sollten einzeIne Menschen vorbereitet werden. So wurden denn in der Tat ganzen hebräischen Altertum in einer gewissen Beziehung einzelne enschen darauf vorbereitet, ein Verständnis zu gewinnen für das Christus-Ereignis. Diese Menschen - es waren ihrer nur wenige im ~,iIten hebräischen Volke - muß man sich einmal näher betrachten,

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wenn man verstehen will, wie die Vorbereitungen auf den kommenden Christus gepflogen wurden, wie das Volk mit seinen von Abraham herunter vererbten Eigenschaften fähig gemacht wurde, prophetisch zu verstehen das durch den Heiland gebrachte Menschen-Ich. Diejenigen Menschen, welche vorbereitet wurden, hellseherisch wissen und erkennen zu können, was der Christus eigentlich bedeutet, nennt man Nasiräer. Diese konnten hellseherisch einsehen, was sich im alten hebräischen Volke vorbereitete, damit aus diesem Volke heraus der Christus geboren und verstanden werden konnte. Diese Nasiräer waren in bezug auf ihre Lebensweise, die in Hinsicht auf ihre innere Gestaltung durch ihre hellseherische Entwickelung gegeben war, an strenge Regeln gebunden, an Regeln, welche, weil sie einer ganz andern Zeit angehörten, ziemlich stark sich unterscheiden etwa von den RegeIii, durch die man heute zur Entwickelung geistiger Erkenntnisse kommt, die mit jenen doch noch eine gewisse Ähnlichkeit haben. Manches ist beim Nasiräat wichtig, was heute nur Nebenbedingung ist, manches ist nebensächlich, was heute Hauptsache wäre. Daher soll niemand glauben, daß das, was früher dazu führte, hellsichtig ein Christus-Kenner zu werden, im Sinne eines heutigen Menschen zu demselben wichtigen und ausgiebigen Erkennen führen würde.

Das erste, was vom Nasiräer verlangt ward, war die völlige Enthaltung von allen alkoholischen Getränken. Es war ferner strengstens verpönt, etwas zu genießen, was mit Essig zubereitet war. Für die, welche die Vorschriften sehr strenge hielten, war es ferner nötig, zu meiden alles das, was von der Weinbeere kam, weil man sich sagen konnte, in der Weinbeere sei das pflanzenbildende Prinzip über einen gewissen Punkt hinausgeschritten, über den Punkt nämlich, der dadurch gegeben ist, daß die Sonnenkräfte bloß auf die Pflanze wirken. In der Weinrebe aber wirken nicht bloß die Sonnenkräfte, sondern schon etwas, das sich innerlich entwickelt, was reift schon bei jener jährlich schwächer werdenden Sonnenkraft, die im Herbste waltet. Daher gab, was mit der Weinrebe zusammenhing, nur einen Trank` für diejenigen, die nicht hellseherisch im höheren Sinne werden wollten, die bloß den Gott Dionysos verehrten und gleichsam aus der Erde aufsteigen ließen ihre Fähigkeiten.

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Ferner war der Nasiräer gebunden, solange seine Vorbereitung im Nasiräat dauerte, nicht in Berührung zu kommen mit alldem, was sterben kann und im Besitz eines astralischen Leibes ist; kurz, alles was tierisch ist, das sollte der Nasiräer vermeiden, mit sich in Berühn:ing zu bringen. Er mußte Vegetarier sein im strengsten Sinne des Wortes; daher haben in gewissen Gegenden die strengsten Nasiräer zu ihrer einzigen Nahrung das Johannisbrot gewählt. Dieses Johannisbrot war ein besonders häufiger Nahrungsartikel für diejenigen, welche das Nasiräat anstrebten. Dann ernährten sie sich aber auch von dem Honig wilder Bienen> nicht der Zuchtbienen, und sonstiger honigsuchender Insekten. Eine solche Lebensweise wählte später auch der Täufer Johannes zu seiner eigenen, indem er sich nährte von Johannisbrot und wildem Honig. In den Evangelien steht, er hätte Heuschrecken und wilden Honig gegessen; dies ist aber als ein Überseuungsfehier anzusehen, denn in der Wüste hätte er schwerlich Heuschrecken fangen können. Auf ähnliche Fehler habe ich Sie früher schon aufmerksam gemacht.

Bei den Nasiräern war es eine Hauptsache, zur Vorbereitung auf ihr Hellseherttim die Haare nicht schneiden zu lassen, solange sie in dieser Vorbereitung waren. Das hängt intim zusammen mit der ganzen Entwickelung der Menschheit. Man muß eben den Zusammenhang des Haarwuchses mit der gesamten Menschiieitsentwickelung ins Auge fassen können. Alles, was am Menschen an Weseiiheit vorhanden ist, kann nur verstanden werden, wenn man es aus dem Geiste heraus zu begreifen sucht. So sonderbar es für den Menschen klingt: in unseren Haaren haben wir einen Rest gewisser Strahlungen zu sehen, durch die vorher Sorsrienkraft in den Menschen hineingetragen wurde. Früher war dies etwas Lehendiges, was die Sonnenkraft in den Menschen hineintrug. Daher finden Sie dies da, wo man ein Bewußtsein an tiefere Dinge noch hatte, in gewisser Beziehung noch ausgedrückt: bei alten Löwenplastiken sieht man oft deutlich, daß der Bildhauer nicht einfach einen heutigen Löwen mit seiner mehr oder weniger pudelähnlichen Mähne kopieren wollte. Derjenige, welcher noch die gute Tradition aus alten Erkenntnissen hatte, stellte den Löwen so dar, daß man den Eindruck hatte, hier seien die Haare gleichsam wie von

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außen in den Körper hineingesteckt, ähnlich wie Sonnenstrahien, die hineindringen und in den Haaren gleichsam verhärtet wären. So konnte sich also der Mensch sagen, daß es vielleicht in alten Zeiten durchaus noch möglich war, durch das Stehenlassen der Haare Kräfte in sich aufzunehmen, besonders wenn die Haare frisch und gesund sind. Aber schon im hebräischen Altertum, bei den Nasiräern, hat man darin kaum noch mehr als ein Symbolum gesehen.

Daß man das, was geistig hinter der Sonne liegt, in sich einströmen ließ, darin bestand wirklich in einer gewissen Beziehung der Fortschritt der Menschheit. In dem Fortschritt von den alten im Menschen aufsteigenden hellseherischen Gaben zu dem Kombinieren und Denken über die Außenwelt war bedingt, daß er immer weniger als ein behaartes Wesen auftrat. Die Menschen der atlantischen und der ersten nachatlantischen Zeit hat man sich vorzustellen mit reichem Haar- wuchs, ein Zeichen dafür, daß sie von dem Geisteslicht noch stark überstrahit worden sind. Die Wahl wurde getroffen, wie die Bibel erzählt, zwischen dem unbehaarten Jakob Und dem behaarten Esau. In dem letztern sehen wir einen Menschen, der ab stammte von Abraham und letzte Reste einer alten Menschheitsentwickelung in sich hatte, die zum Ausdruck kamen in seinem Haarwuchs. Derjenige Mensch, der solche Eigenschaften hatte, daß er sich in die Welt hinausentwickelte, war in Jakob dargestellt. Er besaß die Gaben der Klugheit mit all ihren Schattenseiten; Esau wird von ihm beiseite geschoben. So wird in Esau wiederum ein Sproß von der Hauptlinie abgeschoben. Von Esau stammen die Edomiter ab, in welchen sich noch alte menschliche Erbschaften fortpflanzten.

In der Bibel sind tatsächlich alle diese Dinge sehr schön ausgedrückt. Es sollte nun wieder ein Bewußtsein im Menschen entstehen von dem, was Geistesleben ist, und auf eine neue Art sollte es entstehen im Nasiräer, dadurch daß er die langen Haare trug während seiner Vorbereitungszeit. Im Altertum ist das Verhältnis der Haare zum Licht des Geistes sogar dadurch ausgedrückt, daß Licht und Haar mit Ausnahme eines geringfügigen Zeichens durch dasselbe Wort dargestellt werden. Überhaupt weist die althebräische Sprache auf die tiefsten Geheimnisse der Menschheit hin. Sie muß als so etwas

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wie eine gewaltige Sprachoffenbarung der Weisheit betrachtet werden. Das war der Sinn der Tatsache, daß die Nasiräer sich lange Haare wachsen ließen. Heute braucht dies allerdings nicht mehr als Hauptsache betrachtet zu werden.

Während der Vorbereitungszeit sollte der Nasiräer zu einer ganz bestimmten hellseherischen Erfahrung gebracht werden, welche eine Vorstellung davon verschaffen sollte, wie nahe die Menschheit schon dem Zeitpunkt des Herannahens des Christus sei. Derjenige, welcher zur Zeit des Christus der letzte große Nasiräer war, wird genannt Johannes der Täufer. Er hatte den Abschluß des Nasiräats nicht nur an sich erlebt, sondern ihn auch alle diejenigen erleben lassen, die er zu Menschen machen wollte. Dieser Abschluß ist aber nichts anderes als die Johannestaufe. Wir müssen sie nur so recht in ihrem EntwickeIungswerte verstehen lernen. Was ist nun diese Taufe und wozu fiihrte sie? Sie bestand zunächst darin, daß der Mensch unter Wasser getaucht wurde, wodurch sich sein Ätherleib am Kopfe etwas vom physischen Leibe lockerte, während sonst der Mensch den Ätherleib ~t mit dem physischen Leib verbunden hat. Sie wissen ja, daß der Mensch beim Ertrinken infolge Lockerung seines Ätherleibes auf einmal sein ganzes Lebenstableau vor sich sieht. So sah der Mensch bei der Johannestaufe auch sein Lebenstableau; er sah die Eigentümlichkeiten seines ganzen Lebens, was sonst vergessen geblieben wäre. Er sah aber auch, was eigentlich der Mensch in dem betreffenden Zeitalter war. Der physische Leib wird herausentwickelt aus dem Atherleibe als seinem Bildner. derbarer Dieses Glied der menschlichen Wesenbeit jedoch, das den physischen Körper bildet, konnte nur beobachtet werden, wenn man es herauslockerte aus dem physischen Leibe. Dies geschah bei der Johannestaufe.

Wenn ein Mensch diese Taufe dreitausend Jahre vor unserer Zeitrehnung erlebt hätte, so würde er sich bewußt geworden sein, daß das` beste Geistige, das dem Menschen gegeben werden kann, kommen als ein altes Erbstück, denn es war ja eigentlich noch Erbstück, ~s aus den geistigen Welten in alten Zeiten gegeben wurde. Dieses als Bild im Ätherleib und formte an dem physischen Leib. Gerade bu`ch bei denjenigen, die über das normale Menschentum hinaus

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entwickelt waren, würde es sich bei dieser Taufe gezeigt haben, daß all ihr Wissen auf alter Eingebung beruht hätte. Solches bezeichnete man als das Erblicken der ätherischen Seelennatur in Form der Schlange. Man nannte die, welche das erlebt hatten, die Kinder der Schlange, weil sie durchschaut hatten, wie sich die luziferischen Wesenheiten in die Menschen hinuntergesenkt haben. Was den physischen Leib formte, war ein Geschöpf der Schlange.

Jetzt aber, bei einer Johannestaufe nicht dreitausend Jahre vor Johannes dem Täufer, sondern zu seiner Zeit, stellte sich etwas ganz anderes heraus: daß nämlich unter denen, die getauft wurden, schon solche waren, die in ihrer Natur zeigten, daß die Entwickelung der Menschheit fortgeschritten ist, daß das Ich, welches von der Außenwelt befruchtet ist, jene große Gewalt hatte. Da zeigte sich auch ein ganz anderes Bild, als es sich früher bei der Johannestaufe gezeigt hatte: der Mensch sah die schöpferischen Kräfte des Ätherleibes nicht mehr in dem Bilde der Schlange, sondern in dem Bilde des Lammes. Dieser Ätherleib war nicht mehr durchdrungen von innen her mit dem, was von den luziferischen Kräften kam, sondern er war ganz hingegeben der geistigen Welt, die durch die Erscheinungen der Außenwelt hineinscheint in die Seele des Menschen. Dieses Erblicken des Lammes war das Erlebnis bei der Johannestaufe, das diejenigen hatten, welche wirklich verstehen konnten, was die Johannestaufe damals bedeutete. Diese waren es aber auch, die sich sagen konnten, der Mensch sei ein ganz anderer, ein neues Wesen geworden. Die wenigen, die das erlebten bei der Johannestaufe, konnten sagen: Ein großes, gewaltiges Ereignis ist eingetreten, der Mensch ist ein anderer geworden; das Ich hat jetzt die Herrschaft gewonnen auf Erden! - Es waren die Leute, die Johannes taufte, dazu vorbereitet worden, die Zeichen der Zeit zu verstehen, zu verstehen, daß ein solch großes Ereignis gekommen ist.

Dies war immer die Aufgabe der Nasiräer. Sie wurden durch die Taufe dahin gebracht, daß sie immer wußten, wie nahe das Kommen des Christus ist. Dies erkannten sie an der Beschaffenheit des Ätherleibes bei der Lockerung während der Taufe. Johannes der Täufer sollte zeigen, daß nun die Zeit gekommen war, wo das Ich sich einleben

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konnte in die Menschennatur. Dadurch war er der Erfüller der alten Zeit. Er durfte eine Gemeinde um sich sammeln, welcher er zeigen konnte, daß das Christus-Prinzip durch die Wendung zum Ich nun einziehen konnte in die Menschheit. Johannes der Täufer hat das Nasiräat im höchsten Sinne ausgebildet, so daß es von einer Prophetie zur Erfüllung wurde. Er bildete eine Gemeinde um sich, die das nahende Christus-Ereignis verstehen konnte. So nur sind jene Worte zu verstehen, die der Täufer spricht. Gerade solche Worte sind unendlich tief zu nehmen, und es geziemt sich wahrhaftig nicht mehr von einem Menschen, der heute sich mit solchen Dingen beschäftigen will, in Johannes dem Täufer nichts anderes zu sehen als einen zeternden, fanatischen Menschen, der nur über die Pharisäer schimpft, sie ein Otterngezücht nennt und ihnen zuruft: «Bildet euch nichts darauf ein, daß ihr Abraham zu eurem Vater habt, Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken.» Johannes der Täufer wäre wahrlich ein sonderbarer Keifer gewesen, wenn er sich nicht auch darüber gefreut hätte, daß auch Pharisäer und Sadduzäer zu ihm kamen, um sich taufen zu lassen. Indessen, beschimpft er sie sofort bei ihrer Ankunft? Wozu das?

Wenn man die Dinge aus ihrem Inneren heraus versteht, so zeigt sich sehr bald, daß nicht bloß fanatische Schimpferei dahinter liegt, sondern daß in der Tat eine hohe Bedeutung und ein tiefer Sinn dahinter liegt. Diesen Sinn aber kann man nur verstehen, wenn man auf einen besondern Zug des althebräischen Volkes eingeht. Schon aus dem Gesagten können Sie entnehmen, daß in Abraham ein solcher Mensch ausgewählt worden ist, der so organisiert war, daß im rechten Zeitmomente aus seinen Nachkommen der Jesus herausgeboren werden konnte. Dazu aber mußte das, was erst Anlage bei Abraham war, entwickelt werden. Wir müssen uns darüber klar sein, daß zur Entfaltung dieser Anlage nötig war, daß immer einiges ausgestoßen wurde. Wir haben schon gesehen, wie Joseph abgestoßen worden ist. Aber auch schon früher war manches abgestoßen worden, zum Beispiel Esau, der Stammvater der Edomiter, weil in ihm auch ein altes Erbstück übriggeblieben war. Nur das sollte nämlich erhalten bleiben, was in der gekennzeichneten Richtung veranlagt war. Dies ist in wun

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Weise darin ausgedrückt, daß Abraham zwei Söhne hatte, Isaak, den Sohn der Sarah auf der einen Seite, und Ismael. Von Isaak stammt das althebräische Volk ab. In Abraham waren aber noch andere Eigenschaften. Würden diese sich durch die Generationen hinunter vererben, so käme nicht das Richtige zustande. Daher mußte jenes andere radikal hinausgestoßen werden in eine andere Nachkommenschaft, in die Ismaels, den Sohn der ägyptischen Magd Hagar. Zwei Abstammungslinien gehen also von Abraham aus, die eine über Isaak und die andere über den verstoßenen Ismael, der das Blut einer Ägypterin in sich hat und die für die Mission des hebräischen Volkes nicht tauglichen Eigenschaften auf sich nehmen mußte.

Nun aber geschieht etwas ganz Besonderes. Das hebräische Volk sollte in der Vererbungslinie das Richtige fortpflanzen, und das, was altes Erbgut, alte Weisheit ist, muß ihm von außen übermittelt werden. Die alten Hebräer mußten iiach Ägypten gehen, um das auf- zunehmen, was sie dort aufnehmen konnten. Moses konnte dies dem Volke geben, weil er ein ägyptischer Eingeweihter war. Er hätte es freilich nicht geben können, wenn er es nur in der ägyptischen Form gehabt hätte. Es wäre falsch, sich vorzustellen, daß einfach die altägyptische Weisheit hineingepfropft worden sei in das, was von Abraham herunterströmte. Das würde sich nicht vertragen haben mit der Kultur des hebräischen Volkes, dies würde eine Kulturinißgeburt gegeben haben. Moses brachte noch etwas ganz anderes zu seiner ägyptischen Einweihung hinzu. Daher konnte er auch das, was er aus der ägyptischen Einweihung heraus bekam, nicht so einfach den Israeliten geben. Er gab ihnen erst etwas, als er die Offenbarung am Sinai erhalten hatte, also erst außerhalb Ägyptens.

Was ist denn die Offenbarung vom Sinai? Was bekam Moses da, und was gab er dem Volke? Er gab ihm etwas, das wohl auf den Stamm dieses Volkes gepfropft werden konnte, weil es mit ihm in einer ganz bestimmten Weise verwandt war. Es waren einst die Nachkommen des IsmaeI ausgewandert und hatten sich angesiedelt in den Gegenden, welche nun von Moses mit seinem Volke durchzogen wurden. Jene Eigenschaften, die über Hagar zu den Ismaeliten gingen,

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welche zwar noch verwandt waren mit Abraham, aber dazu viele alte Erbstücke sich mit bewahrt hatten, die fand Moses dort bei den Ismaeliten, welche eine Art von Eingeweihten hatten. Aus den Offenbarungen dieses Zweiges entnahm er die Möglichkeit, den Israeliten die Offenbarung vom Sinai verständlich zu machen. Daher lautet eine alte Legende des hebräischen Volkes: Es ward hinausgestoßen ein Sproß des Abraham in Ismael nach Araba. Das heißt in die Wüste. Was innerhalb dieses Stammes erwuchs, war ebenfalls enthalten in dem Lehrgut des Moses. Das althebräische Volk bekam auf dem Sinai das als Lehre wieder zurück durch Moses, was es ausgestoßen hatte aus seinem Blute; von außen bekam es dieses wieder zurück.

Darin sieht man wieder die wunderbare Sendung des hebräischen Volksstammes, daß ihm alles so gegeben werden sollte, daß er es nachher als ein Geschenk wieder zurückzuerhalten hat. Als ein Geschenk von außen empfing Abraham in Isaak das gesamte hebräische Volk; wiederum bekommt Moses und sein Volk von den Nachkommen des Ismael das, was es ausgestoßen hatte, wieder zurück. Es sollte in Absonderung nur diese seine ihm eigene Organisation ausbilden und als Geschenk seines Gottes zurückempfangen, was es ausgestoßen hatte. So versöhnte sich später auch Jakob mit Esau wieder, wodurch das hebräische Volk wiederum das zurück erhielt, was es einst in Esau ausgeschieden hatte.

Man muß eben die Bibel sehr sorgfältig lesen, um die Tragweite der Worte darin richtig würdigen zu können. Solche Dinge ziehen sich als charakteristischer Zug durch die ganze Geschichte des hebräischen Volkes hin. Von den Nachkommen der Hagar stammt etwas ab, das mit der Gesetzgebung des Moses zusammenhängt, während abstammt das Blut, das die eigentlich israelitischen Fähigkeiten des Moses repräsentiert, von der Sarah. Agar oder Hagar heißt im Hebräischen auch Sinai, was bedeutet der Steinberg, der große Stein. Man könnte auch sagen, von dem großen Stein, der eine äußere Ausprägung war von Hagar, bekam Moses seine Gesetzesoffenbarung. Das, was dieses jüdische Volk als Gesetzgebung hatte, stammte nicht aus den besten Eigenschaften des Abraham, das stammte ab von Hagar, vom Sinai. So daß diejenigen, welche die Arihänger der bloßen Gesetzgebung

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sind, wie sie vom Sinai herstammte, die Pharisäer und Sadduzäer, der Gefahr ausgesetzt sind, in ihrer Entwickelung stehenzubleiben. Sie sind diejenigen, welche bei der Johannestaufe nicht das Lamm sehen wollen, sondern die Schlange.

So verwandelt sich das, was sonst bloß Gekeife des Täufers wäre, in eine schöne Ermahnung der Pharisäer und Sadduzäer, wenn er ihnen zuruft: Ihr, die ihr Anhänger der Schlange seid, gebt acht, daß ihr wirklich in der Taufe das Richtige schaut. - Nämlich nicht die Schlange, sondern das Lamm. Er sagte ihnen ferner, sie brauchten sich nichts darauf einzubilden, daß sie Abraham zum Vater hätten, denn dies sei bei ihnen ein bloßes Wort; sie schwörten auf das, was vom Stein Sinai käme, aber das hätte aufgehört, eine Bedeutung zu haben. Nun aber wird aus der Welt etwas herantreten als neugeborenes Ich, und dieses Ich zeige ich euch, sagte der Täufer: Ich zeige euch, wie das aus dem Judentum herauswachsen wird, was wirklich durch die Generationen heruntergetragen worden ist und was nicht mehr auf den einzigen Stein Sinai schwören wird, sondern auf das, was überall um uns herum ist. Gottes Kinder können dadurch erscheinen, daß hinter dem Sinnlichen das Geistige erschaut wird. Aus diesen Steinen kann Gottes Wort dem Abraham Kinder erwecken! Ihr versteht jenen Ausspruch gar nicht: «Wir haben Abraham zum Vater.»

Erst aus dem hier Gesagten heraus gewinnt jenes Wort seine volle Bedeutung. So etwas braucht nicht nur aus der Akasha-Chronik herausgeholt zu werden, sondern es steht schon in der Bibel. Vergleichen Sie, was im Galaterbrief der Apostel Paulus darüber sagt. Hier ist dasjenige, was eben ausgesprochen worden ist, auch vom Apostel Paulus bestätigt. Auch er sagt, daß Hagar oder Agar dasselbe Wort sei wie Sinai, und daß das, was dort am Sinai gegeben worden ist, ein Testament ist, über das diejenigen hinauswachsen sollen, die durch Heranbildung der eigentlichen Aniagen des Abraham durch die Generationen hindurch verstehen sollen, was durch Christus in die Welt gekommen ist.

Damit ist zu gleicher Zeit wiederum auf ein Wort hingewiesen, das man künftig verstehen muß. Es ist so schade, daß man in einer Zeit, wo scheinbar die Intelligenz so hoch gewachsen ist, über so wenig

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noch nachgedacht hat, so zum Beispiel über das Wort: «Tut Buße!» Seiner Bedeutung nach würde es etwa zu übersetzen sein: Bewirkt in euch die Änderung des Sinnes. An den verschiedensten Stellen wird gesagt, daß Johannes taufte zur Buße, das heißt zur Änderung des Sinnes, mit Wasser. Als die Täuflinge aus dem Wasser heraus stiegen, sollten sie den Sinn ändern, nicht mehr zurückschauen auf die alten Traditionen, sondern vorausblicken auf das, was das frei gewordene Ich, das gegeben ward in Christo Jesu, besaß. Der Sinn sollte aus der Richtung der alten Götter nach der Richtung der neuen geistigen Wesenheiten oder Götter gelenkt werden. In dieser Weise war Sinnesänderung das Ziel der Johannestaufe. Johannes taufte deshalb mit Wasser, um in einigen Menschen die Kraft hervorzurufen, daß sie erkannten, daß das Reich der Hini~el nahe herbeigekommen sei, und damit sie verstehen konnten, wer der Christus Jesus sei.

Hiemit ist noch einiges hinzugefügt zu dem, was wir kennengelernt haben als die Sendung des althebräischen Volkes. Das alles wird dazu führen> nach und nach auch den Christus besser zu verstehen. Gar wunderbar gliedert sich diese Sendung zusammen. Wir haben gesehen, wie in Abraham das veranlagt war, was sich in dem Volke durch Generationen hindurch weiter entwickelte. Dazu mußte manches abgestoßen werden, und die geeigneten Fähigkeiten mußten im Blute, in der Vererbung weiterentwickelt werden. Man konnte solche Fähigkeiten nur von außen hereinbekommen. Das aber, wozu dieses Volk von Abraham her veranlagt und ausersehen war, wurde konzentriert in einem Wesen, in Jesus.

Die Juden brauchten das, woran sie sich halten konnten, als eine Lehre; immer mußte es ihnen von außen kommen, und zwar kam es aus dem, was von ihnen selber abgestoßen worden ist. Im Blute durfte das nicht bleiben, was auf Ismael überging, bloß in den Erkenntnissen durfte es sein. Daher empfing es das hebräische Volk in der Gesetzgebung des Moses am Sinai wieder. Diese hatte ihren Sinn erfüllt, als die Zeit gekommen war, in der man nicht mehr brauchte, was von dem Stein gekommen war, sondern wo man das hatte, was aus der ganzen Welt der Menschheit zukommen sollte. So wurde langsam vorbereitet die Zeit, in der aus den Steinen die Söhne Gottes, das

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heißt die Menschen entstehen konnten, wo hinter allen Steinen, ja hinter der ganzen Erde die geistige Welt sich eröffnete.

Alles dies sind nur Teilstücke zum Verständnis der Mission des hebräischen Volkes. Nur wenn man diese Mission ganz versteht, kann man auch verstehen die große Gestalt des Christus Jesus, wie sie im Matthäus-Evangelium vor uns steht.

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ÜBER DAS RECHTE VERHÄLTNIS ZUR ANTHROPOSOPHIE Stuttgart, 13. November 1909

Was oftmals gesagt wird in den verschiedenen Vorträgen über die in der Siebenzahl ablaufenden Zyklen, ist keine Redensart; es entspricht wirklich einem Gesetz des Daseins. Indem wir einen siebenjährigen Zyklus in dem Leben unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung nun vollendet haben, darf es gesagt werden, daß wir eigentlich einige Momente ein wenig Einkehr halten sollten in unser ganzes Streben, in unser ganzes Arbeiten. Dieses Arbeiten ist ja nur dann möglich, wenn die spirituelle Bewegung so abläuft, daß sie sozusagen in ihrer inneren Gesetzmäßigkeit etwas von den Gesetzen der großen Weltenordnung enthält. Die Weltenordnung läuft ab in Zyklen, die man nach der Siebenzahl rechnen kann. Wir zählen sieben planetarische Zustände, sieben Zustände innerhalb der planetarischen Welten und so weiter. Aber auch bei einer solchen Bewegung wie der unsrigen spielt die Siebenzahl eine gewisse Rolle, und es kehrt gewissermaßen das Streben nach sieben Jahren zu seinem Anfang zurück, indem es sich einverleibt hat in der Zwischenzeit dasjenige, was erarbeitet worden ist. Es kehrt das Streben auf einer höheren Stufe wiederum nach seinem Anfang zurück. So etwas ist nur darin zu erreichen möglich, wenn auch die tiefere, innere Gesetzmäßigkeit der Sache nicht außer acht gelassen wird.

Wenn Sie ein wenig zurückblicken, wie wir gearbeitet haben in diesen sieben Jahren, so werden Sie eines bemerken können: es gab wirklich eine gewisse Regelmäßigkeit in dieser Arbeit. Sie können natürlich diese Dinge, die jetzt gesagt werden, nicht auf den Tag hin nehmen, aber wenn Sie sie im wesentlichen nehmen, so werden Sie sehen, daß sie so sind. Wir haben in den ersten vier Jahren unserer Arbeit sozusagen die Grundanlagen unseres Arbeitens gemacht. In den ersten vier Jahren haben wir uns verschafft eine gewisse Erkenntnis vom Wesen des Menschen, eine gewisse Erkenntnis von den Wegen, die in die höheren Welten hinaufführen, und wir haben uns verschafft etwas über die großen kosmischen Zusammenhänge, über

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das, was man nennen kann die Prüfung der Ergebnisse der Akasha-Chronik in bezug auf die Weltengeheimnisse.

Diejenigen unserer Mitglieder, welche später eingetreten sind, haben ja immer nötig gehabt und werden es immer nötig haben, diese feste Grundlage unseres Strebens, die Unerläßlich ist, sich nachher anzueignen. Denn es genügt keineswegs, daß man sich bloß das an- eignet, was, um einen Fortschritt einer Bewegung in richtiger Weise möglich zu machen, in den letzten drei Jahren vorgekommen ist. Wenn Sie eine gewisse Rückschau halten, so werden Sie sehen, daß in den letzten drei Jahren in gewisser Beziehung ausgebaut worden sind selbst diejenigen Wahrheiten und Erkenntnisse, die Ihnen in den letzten Jahren, vielleicht etwas frappierend, entgegengetreten sind.

Wenn Sie versuchen den Zusammenhang herzustellen mit dem, was in den ersten vier Jahren unseres Arbeitens gepflegt worden ist, sozusagen in dem viergliedrigen Unterbau des Ganzen, so werden Sie sehen, daß auch das, was frappierend war, was große, umfassende Wahrheiten sind, einen intimen Zusammenhang hat mit dem, was in den ersten vier Jahren geschehen ist. Davon werden Sie sich überzeugen können, wenn Sie Einkehr in sich selber halten. Die jüngeren Mitglieder sollten es sich recht sehr ins Herz geschrieben sein lassen, daß sie durchaus nicht versäumen sollten, für einen gediegenen Grundbau bei sich zu sorgen. Es wird ja immer mehr und mehr, überall wo gearbeitet wird, dafür gesorgt, daß derjenige, der später eintritt, nachholen kann, was in den ersten Jahren hier erarbeitet worden ist. Ohne dieses Nachholen ist ein wirkliches Mitkommen eigentlich nicht möglich. Wir sollen das, was geisteswissenschaftliche Bewegung ist, durchaus im tiefsten Sinne ernst nehmen. Im Zusammenhange damit darf vielleicht heute über ein Thema gesprochen werden, gerade mit Bezug auf unseren wichtigen Zeitabschnitt, über ein Thema, das mehr die Gesinnung und die ganze spirituelle Vorstellungsart betrifft: Welches ist die richtige Art> in der sich der Anthroposoph zur Geisteswissenschaft selber stellen kann?

Was hiermit gesagt sein soll, wird uns noch viel klarer werden, wenn wir die Frage etwas anders stellen, wenn wir sie so stellen: Warum wird denn überhaupt heute so, wie es geschieht, Anthroposophie

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gelehrt? Warum werden Mitteilungen gegeben über die höheren Welten, Mitteilungen, die Ergebnisse der geistigen Forschung, des hellseherischen Bewußtseins sind? Könnte es vielleicht nicht so sein, daß in ganz anderer Weise vorgegangen würde, daß man vielleicht damit begänne, einem jeden gewisse Anweisungen zu geben, wie er seine eigenen, inneren, in der Seele schlummernden Fähigkeiten entwickeln kann, so daß er sozusagen durch diese Anweisungen empfangen würde die Möglichkeit, nach und nach selber hinaufzudringen in die geistigen Welten, auch bevor er irgend etwas, wie es heute geschieht, mitgeteilt erhält von dem, was Tatsachen in den höheren Welten sind? Man muß sagen, es ist in einer gewissen Weise früher die Gepflogenheit so gewesen; sie war so vor unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung im modernen Sinne des Wortes. Da hat man lange Zeiten hindurch gesagt: Es nützt ja eigentlich nicht viel, wenn irgend jemand hintritt vor die Welt und die Ergebnisse der geistigen Forschung mitteilt. - Und man hat sich so zurückhaltend wie möglich benommen in bezug auf solche Mitteilungen. Man hat eigentlich sich darauf beschränkt, den Menschen gewisse Regeln zu geben, wie sie die in ihrer Seele schlummernden Fähigkeiten entwickeln sollen, und hat dann, im Grunde genommen, sie nicht mehr wissen lassen als das, was sie sich so selber durch eigene Anschauung langsam in den höheren Welten erworben haben. Es könnte nun die Frage entstehen: Warum wird dieser Weg heute nicht eben ausschließlich eingeschlagen, sondern warum wird heute aus den Ergebnissen der Geistesforschung Anthroposophie mitgeteilt?

Das ist nicht aus irgendeines Menschen Vorliebe oder Willkür entsprungen, sondern das hat seine guten Gründe. Und wir werden besser verstehen, was wir gut verstehen sollten, wenn wir uns immer wiederum eines sagen: Was teilt eigentlich diese Geisteswissenschaft mit? Sie teilt mit Tatsachen, Wahrheiten aus dem Bereich der höheren, der übersinnlichen Welten; sie teilt mit dasjenige, was das hellseherische Bewußtsein in diesen höheren Welten erforschen kann.

Nun ist es ja richtig, daß derjenige, dem solche Mitteilungen gemacht werden und der nicht selbst hellseherisch ist, sich von den Tatsachen als solchen zunächst nicht durch unmittelbare Anschauung

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überzeugen kann. Es ist richtig, daß er die Mitteilungen hinnimmt, und daß er sie sozusagen durch den hellseherischen Augenschein nicht prüfen kann. Gewiß, das ist ganz richtig. Aber es wäre ganz falsch, zu glauben, daß der Mensch, der nicht hellseherisch ist, die heute mitgeteilten Erkenntnisse überhaupt nicht prüfen könnte, überhaupt nicht einsehen könnte. Das zu glauben, wäre ganz falsch und es wäre eine unrichtige Meinung, wenn man behaupten wollte, daß man bloß auf Treu und Glauben, auf bloße Autorität hin das aufnehmen müßte, was aus dem hellseherischen Bewußtsein heraus mitgeteilt wird. Es würde geradezu etwas im höchsten Grade Unvollkommenes in diesen Mitteilungen liegen, etwas Mangelhaftes, wenn diese Mitteilungen bloß auf Autorität, bloß auf Glauben Anspruch machen wollten.

Was mitgeteilt wird auf rechtmäßige Weise das kann - und das ist ja oft gesagt worden - erforscht werden nur durch das hellseherische Bewußtsein. Ist es aber, und meinetwillen auch nur von einem einzigen, erforscht, ist es einmal geschaut und wird es mitgeteilt, dann kann es jeder einsehen durch seine unbefangene Vernunft, durch das, was ihm zugänglich ist auf dem physischen Plan. Und es darf wohl gesagt werden: Wenn auch nicht jeder von denen, die hier sitzen, immer die Möglichkeit hat, gleich alles im umfänglichsten Sinne zu prüfen, so könnte er sich doch wenigstens diese Möglichkeit verschaffen, wenn er Zeit und Fähigkeit - aber nur Fähigkeiten dieses physischen Planes dazu hätte.

Nehmen wir selbst so schwierige Dinge, wie sie hier in den letzten Vorträgen berührt worden sind, von den Inkarnationen des Zarathustra, so schwierige Dinge also, die sich darauf bezogen, daß des Zarathustra astralischer Leib übergegangen ist in Hermes, daß des Zarathustra ätherischer Leib übergegangen ist in Moses, dann darf niemand behaupten, daß derjenige, der diese Dinge aus der Geistesforschung heraus kennt, bloß Anspruch machen würde auf den blinden Glauben. Nein, das ist durchaus nicht der Fall! Wenn jemand käme und sagte: Gut, ich habe gar nichts von einem Hellseher. Da behauptet einer diese Sachen von Zarathustra und seinen Inkarnationen. Ich will jetzt alles das, was dem Menschen auf dem physischer

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Plan zur Verfügung steht, aufgreifen, alles, was die Geschichte über- liefert, alles, was in steinernen Dokumenten enthalten ist, alles, was in religiösen Urkunden enthalten ist, alles das will ich in der sorgfältigsten Weise prüfen. - Und ein solcher sagte: Nehmen wir an, daß richtig sei, was der da sagt, stimmt das mit den Tatsachen, die äußerlich konstatiert werden können? - Und dann würde er alles, was äußerlich konstatiert werden kann, durchforschen und würde sehen, daß, je genauer er vorgeht bei seinen Forschungen, er um so mehr die Tatsachen, die der Hellseher mitteilt, bestätigt fände.

Wenn das Wort Furcht überhaupt eine Bedeutung dabei hätte, so könnte man sagen, die geisteswissenschaftliche Forschung kann eventuell Furcht haben vor einer ungenauen Prüfung, aber vor denjenigen nicht, die alles nehmen wollen, was der physischen Forschung zur Verfügung steht. Diese werden sehen, daß, je genauer sie vorgehen bei ihren Forschungen, sie desto mehr die Tatsachen, die der Hellseher mitteilt, bestätigt finden werden. Für diejenigen Dinge aber, die nicht so ferne liegen und die nicht so schwierig sind, die sich auf Karma und Reinkarnation, auf das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt beziehen, da braucht jemand nur das, was das Leben bietet, unbefangen zu betrachten. Je genauer er das betrachtet, desto mehr wird er bestätigt finden, was der Hellseher mitteilt; das heißt, es gibt genugsam Möglichkeiten, sich zu überzeugen davon, daß das, was gewonnen wird aus den übersinnlichen Welten, sich bestätigt an der äußeren physischen Welt. Und das ist etwas, was nicht so leicht hingenommen werden soll, sondern etwas, was wir als eine unerläßliche Notwendigkeit betrachten sollen. Wir sollen zunächst die Tatsachen, die vielleicht nur wenige erforschen können, an dem Leben prüfen. Wir sollen gar nicht immerfort die Phrase wiederholen: Das muß man auf Treu und Glauben hinnehmen! - Nein, nehmt so wenig als möglich auf Treu und Glauben an, aber prüft, prüft, nur nicht befangen, sondern unbefangen! Das ist dasjenige, was man zunächst betonen kann.

Nun aber handelt es sich ja darum, daß eine solche Prüfung, wenn sie vorgenommen wird, in gewisser Beziehung anstrengend ist. Sie erfordert Denken, sie erfordert, daß man sozusagen arbeitet, daß man

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sich tatsächlich darauf einläßt, Bestätigungen in der physischen Welt zu finden für das, was aus der hellseherischen Forschung heraus gesagt wird. Und da kommen wir auf ein Kapitel, das sehr wohl einmal besprochen werden kann, welches unserer eigentlichen Frage erst entspricht, nämlich darauf: Ist es notwendig oder wenigstens gut für den heutigen Menschen, neben dem Streben, das ja berechtigt ist, selber hineinzudringen in die geistige Welt, ist es notwendig oder wenigstens gut, mit den gewöhnlichen Erkenntnismitteln und den gewöhnlichen Denkmethoden des physischen Planes sich eingehend und energisch zu beschäftigen? Mit andern Worten: Tut der Geistesschüler gut, jene Bequemlichkeit zu überwinden, die er ja heute reichlich mitbringt aus der nichtspirituellen Welt, tut er gut, jene Bequemlichkeit zu überwinden und ernsthaft seine Gedankenwelt auszubauen, sich wirklich der Mittel, mit denen man den Menschen auch vom physischen Plan aus erkennen kann> zu bemächtigen und ihrer sich zu bedienen? Tut er gut, vor allen Dingen recht viel zu lernen, namentlich zu lernen in bezug auf denkerische Art? Es ist sogar recht schwierig, ganz klar und präzis dem heutigen Bewußtsein beizubringen, was man darunter versteht.

Da kam es mir vor, daß jemand, der vorwärtskommen wollte auf anthroposophischem Felde, gleichzeitig aber sich schulen wollte, um die spirituellen Gedanken immer genauer zu denken, eine Lektüre von mir angewiesen haben wollte. Ich empfahl dem Betreffenden zu seiner Denktrainierung, damit er immer mehr imstande sein werde, die Gedanken, die er überliefert erhalte, sich in scharfen Konturen hineinzuzeichnen, er solle das Werk von 5pino~a «Die Ethik» studieren. Es dauerte nur wenige Wochen, da schrieb mir die betreffende Persönlichkeit: Ja, er wisse eigentlich nicht, warum er das studieren solle; denn es sei verhältnismäßig ein dickes Buch und alles liefe darin doch nur darauf hinaus, das Dasein Gottes zu beweisen. Das habe er aber niemals bezweifelt und brauche deshalb nicht lange Gedankengänge durchzumachen, um das Dasein Gottes zu beweisen. - Sehen Sie, das ist so richtig ein Beispiel für jene Bequemlichkeit, mit der heute viele Menschen an die Geisteswissenschaft herankommen. Sie sind sozusagen schnell zufrieden, wenn sie sich einen Glauben erworben

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haben, und sie scheuen die Mühe, sich Stück für Stück jene Vorstellungen, die ja unbequem sind, zu erwerben, auszubauen. Dadurch kann aber niemals etwas anderes herauskommen als ein blinder Glaube, während Sie schon sehen werden, daß die Sache aufhört, blinder Glaube zu sein, wenn Sie wirklich Ihr Denken schulen und nicht bloß gierig danach streben, jene Kräfte auszubilden, die sozusagen zu einer elementaren Stufe der Hellsichtigkeit führen.

Gewiß soll heute nichts gesagt werden gegen das Streben, die verborgenen Kräfte in der Seele zu entwickeln. Das ist ein schönes und ein gutes Streben. Aber auf der andern Seite soll auch betont werden, daß damit parallelgehen muß, daß es notwendig ist, daneben die physischen Gedankenkräfte, diejenigen Erkenntnisfähigkeiten, die uns zunächst hier gegeben sind auf dem physischen Plan, diese wenn auch in unbequemer Weise zu schulen, damit wir imstande sind, uns scharfe Vorstellungen und scharfe Begriffe zu machen von dem, was uns mitgeteilt wird aus den höheren Welten. Man könnte sehr leicht glauben, daß der geringste Grad des Hellsehens besser sei als noch so viel Hören durch vernünftiges Begreifen von den Tatsachen der höheren Welten. Es könnte jemand sagen: Ich weiß gar nicht, warum ich in dieser Gesellschaft bin. Da werden immer Dinge der höheren Welten erzählt; das ist ganz schön, aber mir wäre es lieber, wenn ich auch nur ein klein, klein wenig sehen könnte durch hellsichtiges Schauen.

Ich kenne einen sehr gelehrten Theosophen, der seine inbrünstige Sehnsucht, auch einmal hinauszukommen über die bloße Gelehrsamkeit zum Sehen, damit ausgesprochen hat, daß er sagte: Wenn ich auch nur einmal in der Lage wäre, das Ende des Schwänzchens eines Elementarwesens zu sehen! - Gewiß, es ist das begreiflich. Man kann es durchaus verstehen, daß jemand so sagt. Dieser Theosoph würde ja niemals sagen, daß er die Erkenntnisse der spirituellen Wahrheiten dafür hingeben würde. Aber auch das kann vorkommen, daß einer sie hingeben würde, wenn er dafür auch nur ein wenig Hellsehen eintauschen könnte. Und dennoch, wenn jemand eine solche Empfindung hat, so ist sie ungeheuer irrtümlich, und zwar in jeder Beziehung irrtümlich. Denn wir leben in der Zeit, welche in der Entwickelung der

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Gesamtheit das Zeitalter des bewußten Denkens ist. Wie oft betont worden ist, bildete das altindische Zeitalter noch eine ganz andere Art des Bewußtseins aus, die an dämmerhaftes, dumpfes Hellsehen erinnert. Nach und nach erst haben sich die heutigen Fähigkeiten entwickelt und erst wir haben mit der eigentlichen Entwickelung der Bewußtseinsseele das menschliche Denken in den Kreis der Erdenentwickelung hereinbekommen. Deshalb muß es auch heute geschehen, daß die Geisteswissenschaft heruntergeholt wird aus der übersinnlichen Welt und daß sie appelliert an das vernünftige Denken des Menschen.

Wir müssen uns einmal den folgenden Unterschied klarmachen: Bei einem bloß visionären Hellsehen braucht jemand kein besonderer Denker zu sein. Sein Denken kann sehr primitiv sein und er kann doch verhältnismäßig weit sein in bezug auf das Sehen auf dem astralischen und, bis zu einem gewissen Grade sogar devachanischen Plane. Er kann also da ziemlich weit sein, er kann vieles sehen. Der andere mögliche Fall ist, daß jemand sehr, sehr viel weiß von spirituellen Wahrheiten und noch gar nichts sieht, überhaupt nicht in der Lage ist, irgend etwas, wie gesagt auch nur das Ende des Schwänzchens eines Elementarwesens zu sehen. Auch das kann der Fall sein. Nun fragen wir uns einmal: Wie verhalten sich eigentlich diese verschiedenen Fähigkeiten der menschlichen Seele zueinander?

Da müssen wir vor allen Dingen betonen, daß man nicht verwechseln darf: Etwas haben, und sich dessen, was man hat, bewußt sein. Das ist ungeheuer wichtig, daß man das ins Auge faßt. Sie werden diese Frage richtig verstehen, wenn wir sie etwas anders stellen. Sehen Sie, Sie alle waren einmal hellsehend in uralten Zeiten. Denn alle Menschen waren hellsehend, und zwar gab es Zeiten, in denen die Menschen zurückgesehen haben weit, weit in der Zeitenwende. Und nun können Sie fragen: Ja> warum erinnern wir uns nicht an unsere früheren Inkarnationen, wenn wir doch schon in der Zeitenwende rückwärtsschauen konnten?

Das müßte Ihnen ein Beweis sein für die eine Tatsache, daß es Ihnen gar nichts geholfen hat für diese Fähigkeit, zum Beispiel sich nun zurückzuerinnern, daß Sie früher in Ihre Inkarnationen zurückschauen

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konnten. Und Sie könnten die Frage aufwerfen: Nützt es uns also zunächst eigentlich etwas für eine folgende Inkarnation, wenn wir jetzt visionär hellsehend werden, für die Rückerinnerung? - Die eine Tatsache können Sie sich ja schon vor Augen halten: daß das alte Hellsehen nichts nützt für das Zurückschauen heute, denn das haben Sie alle gehabt. Warum erinnern sich heute so viele Menschen nicht an ihre vorhergehenden Inkarnationen? Die Frage ist außerordentlich wichtig. Es erinnern sich so viele nicht an ihre früheren Inkarnationen, obwohl sie in höherem oder geringerem Maße hellsichtig waren in früheren Zeiten, weil sie damals nicht ausgebildet hatten diejenigen Fähigkeiten, die gerade die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs sind. Denn nicht darum handelt es sich, daß man hellseherische Fähigkeiten ausgebildet hat, sondern daß man dasjenige, was gesehen werden soll, wirklich schon ausgebildet hat.

Wenn nun die Menschen früher noch so hellsichtig gewesen sind und nicht dafür gesorgt haben, gerade diejenigen Fähigkeiten auszubilden, welche die Fähigkeiten des Ichs sind, nämlich die Fähigkeit des Denkens, des Unterscheidungsvermögens, dasjenige, was die besondern Fähigkeiten des menschlichen Selbstes auf dieser Erde sind, so war ja das Ich nicht da in den vorhergehenden Inkarnationen. Es war die Selbstheit nicht da. Woran soll man sich dann erinnern? Man muß in der vorhergehenden Inkarnation dafür sorgen, daß ein in sich geschlossenes Ich da war. Darauf kommt es an! So daß also heute nur diejenigen Menschen sich an frühere Inkarnationen erinnern können, die in diesen früheren Inkarnationen gearbeitet haben mit den Mitteln des Denkens, der Logik, des Unterscheidungsvermögens. Diese können sich erinnern. Es kann also bei jemandem das Hellsehen noch so sehr ausgebildet werden: wenn er nicht in früheren Inkarnationen gearbeitet hat mit den Mitteln des Unterscheidungsvermögens, des logischen Denkens, dann kann er sich an eine frühere Inkarnation nicht erinnern. Damals hat er nicht hingesetzt die Marke, an die er sich erinnern soll. Da werden Sie sehen, daß man eigentlich, wenn man Anthroposophie versteht, sich überlegen sollte, daß man nicht schnell genug herangehen kann, diese Fähigkeiten gerade des gründlichen Denkens sich zu erobern.

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Nun könnten Sie sagen: Wenn ich hellseherisch werde, dann werde ich mir diese Fähigkeit des logischen Denkens schon von selbst erobern. - Das ist nicht richtig. Warum haben die Götter überhaupt Menschen entstehen lassen? Aus dem Grunde, weil sie nur in Menschen Fähigkeiten entwickeln konnten, die sie sonst überhaupt nicht hätten entwickeln können: die Fähigkeit zu denken, in Gedanken sich etwas vorzustellen, so daß diese Gedanken an Unterscheidung gebunden sind. Diese Fähigkeit kann erst auf unserer Erde ausgebildet werden; sie war früher überhaupt nicht da, sie mußte erst dadurch kommen, daß eben Menschen entstanden sind.

Wenn wir einen Vergleich gebrauchen wollen, so können wir sagen: Nehmen wir an, Sie haben ein Samenkorn, einen Weizensamen etwa. Wenn Sie ihn noch so lange anschauen, da wird kein Weizen daraus. Sie müssen ihn in die Erde hineinlegen und ihn wachsen lassen, die Kräfte des Wachstums auf ihn wirken lassen. Das, was die göttlich-geistigen Wesenheiten vor der Bildung des Menschen gehabt haben, läßt sich dem Weizensamen vergleichen. Sollte der in Form von Gedanken aufgehen, dann mußte er erst auf dem physischen Plan durch Menschen gepflegt werden. Es gibt keine andere Möglichkeit, Gedanken zu züchten von den höheren Welten herunter, als sie in Menscheninkarnationen aufgehen zu lassen. So daß dasjenige, was Menschen hier auf dem physischen Plane denken, ein Einzigartiges ist und zu dem hinzukommen muß, was in den höheren Welten möglich ist. Der Mensch war tatsächlich notwendig, sonst hätten ihn die Götter nicht entstehen lassen. Die Götter haben den Menschen entstehen lassen, um das, was sie gehabt haben, auch noch in der Form des Gedankens durch den Menschen zu erhalten. So also würde überhaupt das, was aus den höheren Welten herunterkommt, nie die Form des Gedankens bekommen, wenn der Mensch ihm nicht diese Form des Gedankens geben könnte. Und wer nicht denken will auf der Erde, der entzieht den Göttern das, worauf sie gerechnet haben, und kann also das, was eigentlich Menschenaufgabe und Menschenbestimmung ist auf der Erde, gar nicht erreichen. Er kann es nur erreichen in derjenigen Inkarnation, wo er sich darauf einläßt, wirklich denkerisch zu arbeiten.

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Wenn man sich das überlegt, so folgt alles andere daraus. Was Offenbarungen> wirkliche Tatsachen gibt über die geistige Welt, das kann in der mannigfaltigsten Weise in die Menschenseele einziehen. Gewiß ist es möglich und in zahlreichen Fällen heute wirklich so, daß die Menschen zu einem visionären Sehen kommen, ohne scharfe Denker zu sein - viel mehr Leute kommen zum Hellsehen, die keine scharfen Denker sind, als scharfe Denker -, aber es ist ein großer Unterschied zwischen den Erfahrungen in der geistigen Welt derjenigen, die scharfe Denker sind, und derjenigen, die keine scharfen Denker sind. Es ist ein Unterschied, den ich so ausdrücken kann: Was sich aus den höheren Welten offenbart, das prägt sich am allerbesten ein in diejenigen Formen des Vorstellens, die wir als Gedanken diesen höheren Welten entgegenbringen; das ist das beste Gefäß.

Wenn wir nun keine Denker sind, dann müssen sich die Offenbarungen andere Formen suchen, zum Beispiel die Form des Bildes, die Form des Sinnbildes. Das ist die häufigste Art, wie derjenige, der Nichtdenker ist, die Offenbarungen erhält. Und Sie können dann von solchen, die visionäre Hellseher sind, ohne daß sie zugleich Denker sind, hören, wie von ihnen in Sinnbildern die Offenbarungen erzählt werden. Diese sind ja ganz schön, aber wir müssen uns zu gleicher Zeit bewußt sein, daß das subjektive Erlebnis ein anderes ist, ob Sie als Denker Offenbarungen haben oder als Nichtdenker. Wenn Sie als Nichtdenker Offenbarungen haben, so ist das Sinnbild da; es steht da diese oder jene Figur. Das offenbart sich aus der geistigen Welt heraus. Sagen wir> Sie sehen eine Engelgestalt, dieses oder jenes Symbolum, das dieses oder jenes ausdrückt> meinetwillen ein Kreuz, eine Monstranz, einen Kelch - das ist da im übersinnlichen Felde, das sehen Sie als fertiges Bild. Sie sind sich klar: Das ist keine Wirklichkeit, aber es ist ein Bild.

In etwas anderer Weise werden schon für das subjektive Bewußtsein die Erfahrungen aus der geistigen Welt für den Denker erlebt, nicht ganz so wie bei dem Nichtdenker. Da stehen sie nicht sozusagen auf einmal gegeben da, wie aus der Pistole heraus geschossen; da haben Sie sie anders vor sich. Nehmen Sie, ich will sagen, einen nichtdenkenden visionären Hellseher und einen denkenden. Der nichtdenkende

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visionäre Hellseher und der denkende visionäre Hellseher würden beide dieselben Erfahrungen empfangen. Wollen wir einen bestimmten Fall setzen: Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht diese oder jene Erscheinung der geistigen Welt, der denkende visionäre Hellseher sieht sie noch nicht, sondern etwas später, und in dem Momente, wo er sie sieht, da war sie bereits erfaßt von seinem Denken. Da kann er sie schon unterscheiden, er kann schon wissen, ob sie Wahrheit oder Unwahrheit ist. Er sieht sie etwas später. Es tritt ihm aber, indem er sie etwas später sieht, die Erscheinung aus der geistigen Welt so entgegen, daß er sie gedankendurchdrungen hat und unterscheiden kann, ob sie Täuschung oder Wirklichkeit ist, so daß er sozusagen früher etwas hat> bevor er es sieht. Er hat es natürlich im selben Momente wie der nichtdenkende visionäre Hellseher, aber er sieht es etwas später. Dann aber, wenn er es sieht, dann ist die Erscheinung schon mit dem Urteil, mit dem Gedanken durchsetzt, und er kann genau wissen, ob sie ein Scheinbild ist, ob da seine eigenen Wünsche objektiviert sind, oder ob sie objektive Realität ist. Das ist der Unterschied im subjektiven Erlebnis. Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht die Erscheinung sogleich, der denkende etwas später. Dafür aber wird sie auch beim ersteren so bleiben, wie er sie sieht, er kann sie so beschreiben. Der Denker aber wird sie ganz einreihen können in das, was dann in der gewöhnlichen physischen Welt ist. Er wird sie in Beziehung bringen können zu dieser. Die physische Welt ist eben auch, wie jene Erscheinung, eine Offenbarung aus der geistigen Welt.

Daraus sehen Sie schon, daß Sie dadurch, daß Sie ausgerüstet mit dem Instrument des Gedankens an die geistige Welt herangehen, Sicherheit haben in der Beurteilung dessen, was Ihnen gegeben wird. Nun aber kommt noch hinzu: Man könnte über den Wert von Mitteilungen aus der geistigen Welt streiten, wenn man die entsprechenden Erscheinungen nicht selber gesehen hat. Setzen wir zu den zweien, die wir einander gegenübergestellt haben, einen dritten hinzu, der nun gar kein Hellseher ist, sondern dem nur mitgeteilt werden die Ergebnisse der geistigen Forschung, insofern sie auf dem Wege des scharfen Denkens im Verein mit dem visionären Sehen gewonnen

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werden. Er nimmt sie und begreift sie als vernünftig. Ja, es sind Tatsachen aus der geistigen Welt. Der visionäre, denkende Seher hat sie und ein jeder hat sie, der sie vernünftigerweise begriffen hat, wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist. Sie brauchen lange nicht hellsichtig zu sein und haben dennoch den vollen Wert dessen, was Sie als Mitteilungen empfangen, in sich.

Es ist ein Unterschied zwischen dem, etwas zu haben, und sich dessen bewußt zu sein, was man hat. Man kann sich daran sehr leicht das Verhältnis eines solchen nicht sehenden Geistesschülers zum hellsichtigen klarmachen. Denken Sie, Sie hätten eine Erbschaft gemacht, hätten aber noch nichts davon erfahren. Wenn dies der Fall wäre, wenn Sie die Erbschaft gemacht hätten, Ihnen aber noch nichts bekannt wäre, so hat sie auch schon heute den richtigen Wert für Sie. Sie können es erst später erfahren, daß Sie heute diese Erbschaft gemacht haben, Sie besitzen sie aber trotzdem. So ist es auch mit demjenigen, der durch die Anthroposophie Tatsachen der geistigen Welt erfährt. Er hat sie, wenn er sie vernünftigerweise begriffen hat, er besitzt sie und kann nun abwarten die Zeit, wo er sich ihrer bewußt wird. Das ist aber eben etwas, was durchaus nicht gleichbedeutend ist mit dem Besitz der Tatsachen. Insbesondere zeigt sich das nach dem Tode. Was nützt eigentlich - wenn wir dieses triviale Wort anwenden wollen, um uns die Sache zu verdeutlichen -, was nützt dem Menschen mehr nach dem Tode: wenn er ohne Gedanken visionär irgend etwas sieht, oder wenn er rein spirituelle Mitteilungen, ohne visionär zu schauen, empfängt?

Da könnte man sehr leicht glauben> das visionäre Sehen sei eine bessere Vorbereitung für den Tod als das bloße Hören der Tatsachen aus der geistigen Welt. Und dennoch! Nach dem Tode nützt dem Menschen recht wenig, was er bloß visionär gesehen hat. Ist dagegen eine Tatsache da, fängt er sofort an, sich dessen bewußt zu werden, was er an Mitteilungen empfangen hat, wenn er diese vernünftigerweise begriffen hat. Gerade das hat den Wert nach dem Tode: was man verstanden hat, gleichgültig, ob es geschaut ist oder nicht. Und nehmen Sie den tiefsten Eingeweihten: durch sein Hellsehen kann er die ganze geistige Welt schauen, aber das erhöht seine Bedeutung

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nach dem Tode nicht, wenn er nicht in menschlichen Begriffen diese Tatsachen auszudrücken imstande ist. Nach dem Tode helfen ihm nur diejenigen Dinge, die er hier als Begriffe hat. Das sind die Samenkörner für das Leben nach dem Tode. Natürlich, wer visionärer Hellseher ist und Denker, der kann es nutzbringend machen, was er visionär sieht. Aber zwei nichtdenkerische Menschen, von denen der eine hellsichtig ist und der andere nur hört> was dieser sieht, sind nach dem Tode in genau derselben Lage; denn das, was wir mitbringen in das Leben nach dem Tode, das ist dasjenige, was wir uns hier erwerben mit Hilfe des scharfen Denkens. Das geht auf als ein Samen> nicht das, was wir herausholen aus den Welten, wo wir hineingehen. Wir bekommen das, was wir aus den höheren Welten empfangen, nicht als ein freies Geschenk, damit wir es dann bequemer haben, wenn wir den physischen Plan verlassen, sondern dazu, daß wir es hier in die Münze dieser Erde umsetzen. So viel wie wir in die Münze dieser Erde umgesetzt haben, so viel hilft uns nach dem Tode. Das ist das Wesentliche.

So ist es in bezug auf das Verhältnis nach dem Tode. Aber auch hier auf dem physischen Plan ist das Verhältnis ein anderes beim visionären Hellseher und bei dem denkenden visionären Hellseher. Gewiß ist es interessant und schön, hineinzusehen in die geistigen Welten; aber es ist trotzdem ein Unterschied, diese geistigen Welten bloß visionär zu sehen, abgesehen davon, daß man, ohne diese Dinge denkerisch zu durchschauen, niemals vor Täuschungen bewahrt bleibt. Es gibt kein anderes Mittel gegen Täuschungen, als das Geschaute erst klar zu denken. Aber selbst abgesehen davon: Nehmen wir an, es habe ein visionärer Hellseher dieses oder jenes geschaut, so wie er es schaut - das können Sie seinen Schilderungen entnehmen -, so ist es doch durchdrungen von Elementen des physischen Planes. Oder hat Ihnen irgendeiner einen Engel beschrieben, der nicht durchdrungen gewesen wäre von Elementen des physischen Planes? Er hat Flügel gehabt, Flügel haben aber die Vögel auch. Er hat einen menschlichen Oberleib gehabt, einen menschlichen Oberleib hat aber auch jeder Mensch auf dem physischen Plan. Gewiß, wie die Dinge zusammengesetzt sind, von denen der visionäre Hellseher erzählt, das ist nicht

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auf dem physischen Plan vorhanden; aber die Elemente dazu sind auf dem physischen Plan vorhanden. Die Bilder sind durchaus aus Elementen des physischen Planes zusammengesetzt. Das ist nicht unberechtigt. Aber Sie können daraus doch entnehmen, daß ein solches Bild einen Erdenrest hat. Was Sie da in Formen, in Bildern, die dem physischen Plan entnommen sind, an Ihren Schauungen haben, das gehört nicht der geistigen Welt an, das ist nur Versinnbildlichung der geistigen Welt mit Mitteln der physischen Welt. Ich habe das klar auseinandergesetzt in der «Geheimwissenschaft im Umriß». Ich habe da auseinandergesetzt, daß das wirklich für das heutige Hellsehen bis zu dem Punkte gehen muß, daß es zwar zuerst zu seiner Vorentwickelung seine Bildhaftigkeit hat, daß es aber nicht stehenbleiben darf dabei, sondern vorrücken muß bis zu dem Punkte, wo auch der letzte Erdenrest von dem, was geschaut wird, abgeworfen wird. Dann ist allerdings eine gewisse Gefahr vorhanden für den Hellseher, wenn er alle Erdenreste abstreift. Wenn er da zum Beispiel den Engel sieht und alles Irdische abstreift, so ist die Gefahr vorhanden, daß er dann nichts mehr sieht. Wenn er das wegläßt, was hinaufgetragen worden ist an Sinnbildlichkeit, dann besteht die Gefahr, daß er nichts mehr sieht. Was einen dann bewahrt, die Sache ganz zu verlieren, wenn man wirklich in die geistige Welt kommt, das ist der Same, der aus dem Denken aufgehen kann. Die Gedanken geben dann die Substanz her, das, was da ist in der geistigen Welt, zu ergreifen. Dadurch erhalten wir die Fähigkeit, wirklich in der geistigen Welt zu leben, daß wir das ergreifen in unserer sinnlichen Welt, was nicht mehr von Elementen der Sinnlichkeit durchsetzt ist und doch hier auf dem physischen Plane ist. Das sind einzig und allein die Gedanken. Wir dürfen nichts mitbringen in die geistige Welt als lediglich die Gedanken; von einem Kreis zum Beispiel nichts von der Kreide, sondern lediglich die Gedanken von dem Kreise. Mit diesen können Sie aufsteigen in die geistigen Welten. Von dem Bilde dürfen Sie nichts mitbringen.

Jetzt kann ich den früher erwähnten subjektiven Vorgang noch genauer beschreiben. Nehmen wir noch einmal den Fall an, daß irgend etwas, sagen wir meinetwillen eine Monstranz, gesehen wird in dem geistigen Felde. Nun will ich die beiden Hellseher, den bloß visionären

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und den denkerischen, so charakterisieren, daß ich annehme, der eine sieht es hier, a, der andere, der denkerische Hellseher, erst hier, b.

a ------------------------------------------ b

#Bild s.86

Von jetzt ab ist es ihm erst bewußt. Er bekommt es aber dadurch zugleich mit den Gedanken und kann es mit Gedanken durchdringen. In dem Moment allerdings, wo der denkerische Hellseher das Gebilde durchsetzt mit Gedanken, da wird es undeutlich für den visionären Hellseher, da wird es ihm schwarz und Undeutlich - hier, b, an dieser Stelle. Es tritt erst nach einiger Zeit wieder auf. Gerade wo der Gedanke sich mit dem Gebilde verbinden kann, da wird es undeutlich für den visionären Hellseher. Er ist eigentlich niemals imstande, den Gedanken damit zu verbinden. Deshalb hat er niemals das Erlebnis: Du bist mit deinem Ich dabeigewesen. - Dieses Erlebnis ist etwas, was dem bloß visionären Hellseher fehlt.

Das alles ist etwas, was sozusagen intimer auf die Sache eingeht und was ungeheuer wichtig ist zu bedenken, was einen darauf führen muß, daß man es wirklich nötig hat, sein Denken auszubilden, die Bequemlichkeit zu überwinden, die darin liegt, daß man sich eben nicht ein erkennendes Wissen aneignen will. Es ist tausendmal besser, die spirituellen Vorstellungen erst denkerisch erfaßt zu haben und dann, je nach seinem Karma später oder früher, selber hinaufsteigen zu können in die geistigen Welten, als zunächst zu sehen und nicht denkerisch erfaßt zu haben, was mitgeteilt wird in der Bewegung, die man die anthroposophische nennt. Tausendmal besser ist es, Geisteswissenschaft zu kennen und noch nichts zu sehen, als etwas zu sehen und nicht die Möglichkeit zu haben, die Dinge auch denkerisch zu durchdringen, weil dadurch Unsicherheit in die Sache hineinkommt.

Sie können aber die Sache noch präziser zum Ausdruck bringen, indem Sie sagen: Es gibt in der Gegenwart scharfe Denker, die können vernünftigerweise die geisteswissenschaftliche Weltanschauung einsehen. Warum kommen manchmal gerade diese so schwer zum Hellsehen? - Verhältnismäßig leicht wird es gerade denen> die nicht scharfe Denker sind, zum visionären Hellsehen zu kommen, und sie werden dann leicht hochmütig gegenüber dem Denken, während

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es schwierig ist für die scharfen Denker, zur Hellsichtigkeit zu kommen. Da ist haarscharf die Klippe vorhanden, wo ein gewisser maskierter Hochmut sich geltend macht. Es gibt ja kaum etwas, was den Hochmut so sehr züchtet, wie ein nicht von Gedanken erhelltes Hell- sehen, und es ist deshalb so besonders gefährlich, weil der Betreffende in der Regel gar nicht weiß, daß er hochmütig ist, sondern sich sogar für demütig hält. Er weiß gar nicht zu beurteilen, was für ein ungeheurer Hochmut dazugehört, die denkerische Arbeit der Menschen gering zu achten und auf gewisse Eingebungen den Hauptwert zu legen. Es steckt darin ein maskierter Hochmut, der ungeheuerlich ist.

Die Frage ist nun diese: Warum ist es - was ja die Erfahrung lehrt - gerade manchem Denker so ungeheuer schwierig, es dahin zu bringen, nun auch hellsichtig zu werden? - Das hängt zusammen mit einer wichtigen Tatsache. Was man menschliche Unterscheidungskraft, Urteils kraft nennt, was der Denker gerade ausbildet, das logische Denken, das bewirkt nämlich eine ganz bestimmte Änderung des ganzen Gehirnbaues. Das physische Instrument wird umgeändert durch scharfes Denken. Die physische Forschung weiß zwar wenig davon, aber es ist so; es schaut ein physisches Gehirn anders aus, das ein Denker benützt hat, als eines, das einem Nichtdenker angehörte. Daß einer hellseherisch ist, ändert es nicht viel. Bei einem, der nicht denkt, finden Sie das Gehirn in sehr komplizierten Windungen, beim scharfen Denker dagegen verhältnismäßig einfach, ohne besondere Komplikationen. Gerade in der Vereinfachung der Gehirnwindungen drückt sich das Denken aus. Davon weiß die heutige Forschung nichts.

Scharfes Denken ist das, was überschauen kann, nicht, was sich im Analysieren betätigt. Daher die größere Einfachheit der Gehirnwindungen beim scharfen Denker. Wo die physische Forschung irgendwie nur sich herbeiläßt, bloß einmal das scharfe Denken, das für physische Verhältnisse gilt, zu prüfen, da zeigt sich sehr bald, daß die physische Forschung bestätigt, was die Geisteswissenschaft behauptet. Die Untersuchung des Gehirns von Mendeljew, dem die Wissenschaft die Aufstellung des periodischen Systems der Elemente verdankt, bewahrheitet, was die Geisteswissenschaft sagt: seine Gehirnwindungen

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waren einfacher. Bei ihm war in gewissen Grenzen ein umfassendes Denken da, und da ergab auch die physische Untersuchung durchaus die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe. Das ist nicht von besonderem Wert, das sei nur nebenbei erwähnt. Also wie gesagt, es ist eine Veränderung des Werkzeuges des Denkens da. Diese Veränderung muß die Tätigkeit des Denkens selber herbei- rufen. Es wird ja keiner geboren mit all den Fähigkeiten, die er später hat, vielleicht mit den Anlagen dazu; aber die Fähigkeiten muß er erst ausbilden, so daß tatsächlich mit dem Gehirn während des Lebens eine Veränderung vorgeht. Es ist das Werkzeug des Denkens anders geworden nach dem denkerischen Leben, als es vorher gewesen war.

Die Sache ist nun diese, daß unser Ätherleib, den wir für das hellseherische Bewußtsein loskriegen müssen von unserem physischen Gehirn, durch diese denkerische Betätigung gekettet wird an das physische Gehirn. Diese Arbeit des Denkens kettet, verbindet den Ätherleib stark mit dem Gehirn. Hat einer durch sein Karma noch nicht die Kräfte, ihn wieder loszukriegen zur rechten Zeit, dann kann es sein, daß er in dieser Inkarnation nichts Besonderes auf hellseherischem Gebiete erreichen kann. Nehmen wir an, er habe das Karma, in einer früheren Inkarnation ein scharfer Denker gewesen zu sein. Dann wird das Denken jetzt nicht so stark den Ätherleib mit dem Gehirn engagieren, und er wird verhältnismäßig leicht den Ätherleib bald loskriegen und kann gerade dadurch, daß die denkerischen Elemente die besten Samen sind für das Aufsteigen in die höheren Welten> in feinster Weise die Geheimnisse der höheren Welten erforschen. Er muß natürlich erst wieder loskriegen den Ätherleib von dem Gehirn. Wenn der Ätherleib aber sich so verfangen hat im physischen Gehirn beim Hineinziselieren der denkerischen Tätigkeit, daß er erschöpft ist, dann kann ihn sein Karma vielleicht lange warten lassen, bis er ihn wieder loskriegt. Wenn er aber dann aufsteigt, dann ist er durchgeschritten durch den Punkt des logischen Denkens. Dann ist das unverloren, dann kann ihm niemand wegnehmen, was er sich errungen hat, und das ist ungeheuer wichtig, weil die Hellsichtigkeit sonst immer wieder verlorengehen kann. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß Sie alle hellsichtig waren in früheren Zeiten.

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Warum besitzen Sie die Fähigkeit des Hellsehens jetzt nicht mehr? Weil Sie dazumal nicht mit dem Erdendasein verknüpft und verbunden waren, weil Sie entrückt waren in die geistige Welt, weil Sie diese nicht heruntergeholt haben bis zu Ihren Fähigkeiten, weil das visionäre Hellsehen auf einer Entrücktheit beruhte.

Das ist, was wir ins Auge fassen müssen. Diese Feinheiten muß man sich in die Seele schreiben. Man muß sich klar sein darüber, daß eine wirkliche Geheimwissenschaft heute die Aufgabe hat, diejenigen Ergebnisse der geistigen Forschung mitzuteilen, die mit dem denkerischen Gehalt durchdrungen sind, so daß man immer die Ergebnisse der hellseherischen Forschung so einkleidet, daß der nicht hellseherische Mensch sie durch sein Denken begreifen kann. Dazu müssen sie aber erst mit dem Gedanken verbunden sein. Daher die Schwierigkeit alten Büchern gegenüber, in denen von Erscheinungen der höheren Welten die Rede ist. Wenn Sie solche alte Bücher hernehmen, so werden Sie überall - wenn Sie mit der Gepflogenheit der heutigen Geisteswissenschaft herantreten - einen Mangel empfinden. Es sind vielleicht großartige Mitteilungen, die Sie in diesen alten Büchern finden, aber es kann der heutige Mensch mit ihnen, wenn er nicht selber Hellseher ist und die Sache richtigstellen kann, nicht viel anfangen, während mit dem, was heute Geisteswissenschaft darbietet, jeder, der sich bemüht, etwas anfangen kann, weil er es durchdringen kann mit dem, was er auf dem physischen Plan an Gedankenelementen gewinnen kann. Denn mit denselben Begriffen wird das erfaßt, was in der geistigen Welt ist und was in der physischen Welt ist. Die heutige Naturwissenschaft redet von Entwickelung und die Geisteswissenschaft redet von Entwickelung. Haben Sie den Begriff der Entwickelung erfaßt, so können Sie verstehen, was in der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird. Sie können sich von Karma einen Begriff verschaffen> weil Sie sich ein denkerisches Bild davon verschaffen können. Freilich, wenn Sie einfach sagen, wie dies manche Theosophen tun: Jede geistige Ursache hat eine geistige Wirkung und dies ist Karma -, dann haben Sie keinen Begriff von Karma. Bei einer Billardkugel können Sie auch das Gesetz von Ursache und Wirkung sehen, aber da haben Sie nicht den richtigen Vergleich mit Karma. Nehmen Sie

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dagegen einmal eine Kugel aus Eisen und werfen Sie diese in ein Gefäß mit Wasser. Wenn die Kugel kalt ist, so bleibt das Wasser, wie es ist. Wenn Sie aber die Kugel heiß machen und dann hineinwerfen, dann wird das Wasser warm. Infolge des Ereignisses, das mit der Kugel geschehen ist, wird das Wasser warm. Das läßt sich mit dem Karma vergleichen, wenn ein späteres Ereignis die Folge ist eines früheren Geschehnisses.

So also müssen wir uns durchaus klar sein darüber, daß jeder, der mit dem Gedanken durchdringt die Tatsachen der geistigen Welt, sie auch mitteilen kann in solcher Weise, daß derjenige, der die Gedanken hier auf dem physischen Plane gewonnen hat, dieselben Gedanken anwenden kann auf das, was mitgeteilt wird aus den geistigen Welten. Dann kann er das begreifen. Das soll sich jeder zu Gemüte führen. Jeder soll verstehen, daß es nicht darauf ankommt, Mitteilungen aus den höheren Welten zu bekommen, sondern es kommt darauf an, daß man sie bekommt auf eine Art, die unseren irdischen Verhältnissen entspricht. Jeder sollte darauf achtgeben, daß er die Mitteilungen aus den höheren Welten nicht anders bekommt. Freilich ist die Bequemlichkeit da, einfach zu glauben, was mitgeteilt wird. Das ist aber von großem Übel. Denn, nicht wahr, wenn jemand glauben will, so ist das ungefähr so, wie wenn er sich erzählen lassen will, daß es ein Licht gibt, während er doch das Licht braucht, um ein Zimmer zu beleuchten. Da muß er das Licht haben, da hilft der bloße Glaube nichts. So ist es wichtig, daß man zunächst die Form ergreift, die Form des gewissenhaften, gründlichen Nachdenkens, um durch diese Form zuerst zu empfangen die Mitteilungen aus der geistigen Welt. Erforscht werden können sie nur, wenn man die Fähigkeit des Hellsehens besitzt, aber begreifen kann sie jeder, wenn sie erforscht sind, der sie in richtiger Weise empfängt.

Wenn man so denkt, dann werden alle die Gefahren, die wirklich sonst verknüpft sind mit dem> was man anthroposophische Bewegung nennt, mehr oder weniger dadurch beseitigt sein. Die Gefahren treten aber sofort ein, wenn Leute hellseherische Fähigkeiten entwickeln und nicht darauf halten, zu gleicher Zeit ihr Denken und namentlich ihr Erkennen mit den Mitteln des Denkens zu bereichern.

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Diese Gier haben viele, nur ja etwas zu erhaschen aus der geistigen Welt und nicht sorgfältig wirklich erkennend vorzugehen mit dem, was auf dem physischen Plan erobert werden muß. Kein Gott kann die Welt in Gedanken erfassen, wenn er sich nicht auf dieser physischen Erde inkarniert. Er kann die Welt erfassen in anderer Form; aber um sie zu erfassen in dieser Form, da muß er sich auf dieser Erde inkarnieren. Das bedenkend, kann sich jeder klarmachen, daß es mit gewissen Gefahren verbunden ist, Fähigkeiten in sich zu entwickeln, die man dann nicht richtig verwendet. Wer ein gewisses visionäres Hellsehen entwickelt und es nicht richtig verwendet, indem er sich die Möglichkeit abschneidet, die Welt damit zu überzeugen, wer nur auf dem astralischen Plan bleibt und seine Erfahrungen nicht herunter- bekommt auf den physischen Plan, der setzt sich der Gefahr aus, daß ein Abgrund sich auftut zwischen seinen Visionen und dem physischen Plan.

Nehmen wir an, jemand habe ganz bedeutende Visionen, die dem astralischen Plane angehören. Diese seien meinetwillen ganz Wirklichkeit - sie können es ja auch beim nichtdenkenden visionären Hellseher sein -, aber nun tut sich zwischen ihm und demjenigen, was dem physischen Plan zugrunde liegt, ein Abgrund auf. Denken Sie sich einmal, dieses Handtuch wäre der physische Plan. Nun stünde der visionäre Hellseher davor; er sieht seine Vision. Hinter dem physischen Plan ist aber die eigentliche geistige Welt. Der physische Plan ist Maja. Diesen physischen Plan, den schafft derjenige, der visionärer Hellseher ist, nicht weg; der verschwindet erst für den, der ihn mit den Mitteln des Gedankens fortschafft. Da erst dringen Sie hinter den physischen Plan, so daß Sie das erst mit dem denkerischen Hellsehen verstehen. Der physische Plan ist da, aber Sie sehen die geistige Welt, die wirkliche geistige Welt nicht. Da tut sich der Abgrund auf, da bleibt der physische Plan als Maja vorhanden. Und diese Unmöglichkeit, den physischen Plan zu durchdringen, beruht darauf, daß das Gehirn nicht dazu fähig ist, sich auszuschalten. Wenn Sie gelernt haben, richtig zu denken, so brauchen Sie zum Denken Ihr Gehirn nicht unmittelbar. Dasjenige, was Denken ist, das arbeitet am Gehirn, aber die denkerische Tätigkeit braucht das Gehirn nicht unmittelbar.

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Es ist Unsinn, wenn jemand behaupten wollte: Das Gehirn denkt. - Ich ging einmal - es ist jetzt vielleicht fünfunddreißig Jahre her - mit einem jungen Manne, der damals studierte, auf der Straße, der damals auf dem besten Wege war, ganz Materialist zu werden. Der sagte: Nun ja, wenn er denke, da schwingen dadrinnen die Gehirnatome; jeder bestimmte Gedanke habe eine bestimmte Form, und er beschrieb, daß das eigentlich Unsinn wäre, so etwas wie eine Seele vorauszusetzen, die da denke. Denn da denke das Gehirn. - Ich sagte ihm: Ja, sage mir einmal, warum bist du denn eigentlich so verlogen? Wenn das so ist, dann kannst du doch nicht sagen: Ich denke. Du mußt dann sagen: Mein Gehirn denkt. Du mußt dann auch sagen: Mein Gehirn ißt, mein Gehirn sieht die Sonne. Das wäre dann die Wahrheit. - Dann würde er bald sehen> welchen Unsinn er mit sich herumträgt.

Also das Gehirn ist es nicht, was denkt. Das kann man sich, wie gesagt, durch recht triviale Überlegungen klarmachen - wenn man nicht gerade ein recht moderner Materialist ist. Die denkerische Tätigkeit ist zunächst gar nicht darauf angewiesen, das Gehirn sozusagen als ihr Instrument zu gebrauchen. Wo der Gedanke rein wird, da ist das Gehirn nicht beteiligt. Bloß bei der Versinnbildlichung ist es beteiligt.

Wenn Sie sich einen Kreidekreis vorstellen, so geschieht dies nur durch das Gehirn; wenn Sie sich aber einen reinen, sinnbildlichkeitsfreien Kreis denken, so ist der Kreis selber das Aktive, was das Gehirn erst formt. Dann aber, wenn der Mensch visionäres Hellsehen hat, so bleibt er in seinem Ätherleib und kommt gar nicht bis zum physischen Gehirn. Man kann das ganze Leben lang in visionärer Hellseherei leben. Dadurch wird das Gehirn nicht anders, dadurch wird der Ätherleib ausgearbeitet, aber nicht das Gehirn. Dadurch aber wiederum können Sie niemals diesen Abgrund durchdringen, niemals können Sie Maja wirklich durchdringen. Das können Sie nur, wenn Sie es mit den Gedanken durchdringen.

Wer verschmäht, denkerisch vorzugehen, der entwickelt Fähigkeiten, die sozusagen ihr Objekt nicht ergreifen, die nicht wirklich in die geistige Welt hineingreifen. Und die Folge ist, daß ein Mißverhältnis

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entsteht zwischen dem, was er in seinem Ätherleib fortwährend entwickelt, und dem, was er eigentlich als Mensch ist. Es entsteht ein vollständiges Mißverhältnis: es ist nicht angemessen sein Gehirn seinen hellseherischen Fähigkeiten. Das Gehirn ist grob, denn der Betreffende hat sich nicht Mühe gegeben, es durch Denken zu veredeln. Es bildet sich etwas, wodurch er nicht durch kann, was ihm ein Hindernis ist, mit seinen Visionen an die geistige Wirklichkeit heranzukommen. Er entfernt sich von der Wirklichkeit, statt sich ihr zu nähern. Dann ist jede Möglichkeit, zu entscheiden über die geistige Welt, ausgeschlossen. Ein solcher Mensch wird gewiß viel sehen können, aber niemals ist bei ihm eine Garantie vorhanden, daß das der Wirklichkeit entspricht. Entscheiden könnte nur derjenige, der unterscheiden kann zwischen bloßer Vision und Wirklichkeit. Unterscheiden kann eben nur das Unterscheidungsvermögen.

Wenn man das nicht hat, kann man niemals unterscheiden eine bloße Vision von Wirklichkeit. Aber Unterscheidungsvermögen kann man sich nur erarbeiten durch Arbeiten auf dem physischen Plan. So schwebt man immer ohne Untergrund, wenn man die etwas mühsam zu erringende denkerische Arbeit verschmäht.

Das ist das, was man sich zu Gemüte führen muß. Dann können nicht die Dinge entstehen, die sonst so sehr leicht entstehen, die immer und immer wieder vorkommen können, daß Menschen dadurch, daß sie visionäres Hellsehen entwickeln, sich einen Damm auf- richten gegen die wirkliche Welt und dann in ihren Träumen leben. Das ist gleichbedeutend mit Sich-nicht-mehr-Auskennen in der physischen Welt, gleichbedeutend eben mit Nicht-vollständig-bei-seinen- Sinnen-Sein. Besonnenheit kann man sich erringen dadurch, daß man arbeitet da, wo diese Besonnenheit einzig und allein ausgebildet werden kann: durch das Denken des physischen Planes. Verschmäht man es, diese Besonnenheit sich anzueignen, so schwebt man in der Irre. Das ist, was wir uns aneignen müssen, sonst kommen all die Schäden, die notwendigerweise mit dem, was man die anthroposophische Bewegung nennt, verknüpft sein müssen. Wer nur blind glauben will, also alle Mitteilungen aus den höheren Welten auf die bloße Autorität eines andern hin ohne vernünftiges Denken annimmt, der tut etwas,

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was sehr bequem ist, aber es hat eine Gefahr in sich. Statt in sich die Sachen zu erarbeiten, statt aus sich heraus nachzudenken, nimmt man das Wissen eines andern, die Dinge, die ein anderer gesehen hat, in sich auf. Man verzichtet, denkerisch zu prüfen, was er mitteilt. Das erzeugt dasjenige, was durch die anthroposophische Bewegung an Schäden entstehen kann. Es darf sich natürlich dadurch niemand abschrecken lassen, sich ihr hinzugeben. Es kann vorkommen bei einem solch blindgläubigen Menschen, daß er sich verliert, daß er nicht mehr unterscheiden kann zwischen dem, was wahr ist und was Lüge ist.

Nichts kann so sehr die Lügenhaftigkeit züchten als ein gewisses bloß visionäres Hellsehen, das nicht am Gedanken sich aufrankt und kontrolliert wird. Und auf der andern Seite wird ein solches Hellsehen wiederum eine andere Eigenschaft noch züchten, nämlich eine gewisse Überhebung, einen gewissen Hochmut, der bis zum Größenwahn führen kann. Und er ist um so gefährlicher, weil er nicht bemerkt wird. Die Gefahr ist sehr groß, daß man sich deshalb für etwas Besseres hält, weil man diese oder jene Dinge sieht, die der andere nicht sieht. Und gewöhnlich weiß man dann gar nicht, wie tief das, was hart an Größenwahn grenzt, wie tief das eigentlich in der Seele sitzt. Es verbirgt sich in gewisser Weise und namentlich hinter dem, daß man mit unbedingter Sicherheit auf seine Visionen schwört und keine Einrede duldet, so daß man es erleben kann, daß die Leute das törichteste Zeug glauben, wenn es ihnen nur vom astralischen Plan aus gesagt wird. Es würde ihnen gar nicht einfallen, von einem Menschen des physischen Planes solche Dinge zu glauben, wenn er es ihnen sagte, aber sie glauben es mit sklavischer Gläubigkeit, wenn es ihnen vom astralischen Plan aus gesagt wird. Wer sich das abgewöhnt, der kann auch nicht auf jeden Schwindel und Humbug hereinfallen. Man fällt aber herein, wenn man nicht den Trieb in sich ausbildet, zu prüfen, und sobald man auf bequeme Weise sich eine Überzeugung verschaffen will. Man soll es sich nicht leicht machen. Man soll es in Betracht ziehen, daß es zu den heiligsten Angelegenheiten des Menschen gehört, sich eine Überzeugung zu verschaffen. Wenn man das in Betracht zieht, dann wird man keine Mühe scheuen, wirklich zu arbeiten, nicht bloß hinzuhorchen auf sensationelle Mitteilungen. An

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Mitteilungen aus der geistigen Welt heraus haben wir wirklich genug, sozusagen, aber es ist auch notwendig, daß man sich die richtige Gesinnung und die richtige Vorstellungsart aneignet, sich zu diesen Dingen entsprechend zu verhalten.

Das wollte ich heute einmal aussprechen. Ich wollte es nicht bloß ermahnend aussprechen, wie eine Predigt, sondern aussprechen mit allen Begründungen. Daher war es vielleicht an sich schon etwas schwerere Denkarbeit, da rnitzudenken. Aber ich versuche ja immer, auch in meinen Methoden dasjenige einzuhalten, was man als das Richtige in der geisteswissenschaftlichen Bewegung verlangen kann. Viele wollen salbungsvolle Ermahnungen. Darauf verzichte ich. Ich versuche die Dinge so darzustellen, daß sie in wirkliche Gedanken- formen sich kleiden können. Wenn man Dinge des physischen Planes erörtert> wie heute, dann ist das natürlich manchmal eine schwierige Denkarbeit, denn sie sind nicht so sensationell, auch nicht so angenehm wie Dinge der höheren Welten, aber doch ungeheuer wichtig. Sie werden die Wichtigkeit dieser Dinge nicht unterschätzen, wenn Sie sich sagen: Soll wirklich eintreten, was eintreten muß, daß nämlich in den nächsten Inkarnationen eine genügend große Anzahl von Menschen sich erinnert an die gegenwärtige Inkarnation, dann muß vorgesorgt werden. Bilden Sie also Ihre Urteils kraft aus, dann sind Sie Kandidaten des Sich-Erinnerns in der folgenden Inkarnation an die gegenwärtige. Sorgen Sie dafür, mit Gedanken die Welt verfolgen zu können. Denn, wenn Sie auch noch so viel sehen können in visionärer Art, so wird Ihnen das nichts helfen zu einer Rückerinnerung an die jetzige Inkarnation. Anthroposophie ist aber dazu da, jenes, was als Notwendigkeit eintreten muß, vorzubereiten: daß es eine genügend große Anzahl von Menschen gibt, die nun wirklich aus eigenem Wissen zurückschauen können auf diese Verkörperung.

Wie viele in dieser Inkarnation dazu kommen, das geisteswissenschaftliche Wissen zu begleiten mit hellseherischem Vermögen, das hängt ab von dem Karma des einzelnen. Viele sitzen gewiß hier, deren Karma so ist, daß sie in dieser Inkarnation nicht dazu kommen, hellseherisch die Welt zu durchschauen. Aber alle diejenigen, die sich aneignen das, was in der wirklichen Geisteswissenschaft so gegeben

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wird, daß es in die Formen des Denkens gekleidet wird, die werden in der nächsten Inkarnation die Früchte davon haben, denn sie haben sich angeeignet die Grundlagen dazu. Der Mensch kann sozusagen ein Hellseher sein, ohne daß er es weiß, und derjenige, der Geisteswissenschaft ordentlich studiert, hat das Sehen und kann dann warten, bis ihm sein Karma erlaubt, die Dinge auch zu schauen.

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DIE EVANGELIEN Stuttgart, 14. November 1909

Wir werden heute einiges aus dem Gebiete derjenigen Themen besprechen, die jetzt in unserer gegenwärtigen Entwickelung der spirituellen Bewegung innerhalb Deutschlands eine gewisse Rolle gespielt haben. Sie wissen es ja und haben es zum Teil mitgemacht, daß wir besprochen haben die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Wahrheiten und Erkenntnisse in Anlehnung an die Evangelien. Es ist besprochen worden an den verschiedensten Orten dasjenige, was man sagen kann in Anknüpfung an das Johannes-Evangdium; es ist dann besprochen worden, was gesagt werden kann in Anknüpfung an das Lukas-Evangelium. Nun haben allerdings nicht alle von Ihnen diese Dinge gehört. Es soll auch heute nicht in dem Sinne gesprochen werden, daß etwas vorausgesetzt wird von dem, was da gesagt worden ist, sondern es soll nur vor Ihnen einiges aus dem Gesamtgebiete dieses geisteswissenschaftlichen Feldes erwähnt werden, das für alle wichtig sein muß.

Das ist oftmals auch hier in Stuttgart schon erwähnt worden, daß das Christentum, und alles, was damit zusammenhängt, einen tiefen Einschnitt gemacht hat in die Gesamtentwickelung der Menschheit und daß man sozusagen das, was heute um uns herum geschieht, was die menschliche Seele heute durcherleben kann, nicht gut verstehen kann, ohne die ganze Bedeutung des Christus-Ereignisses innerhalb unserer Erdengeschichte ins Auge zu fassen. Für jede einzelne Menschenseele ist es von unendlicher Wichtigkeit, gerade die Bedeutung dieses Ereignisses kennenzulernen.

Nun wissen Sie ja, daß dieses Christus-Ereignis für die Menschen geschildert wird in vier Urkunden in den sogenannten vier Evangelien. Diese vier Urkunden, Sie kennen sie alle und haben sie in der verschiedensten Weise gewiß verfolgt. Diesen vier Urkunden, dem Evangelium nach Matthäus, dem Evangelium nach Markus, dem Evangelium nach Lukas und dem Evangelium nach Johannes ist es in der verschiedensten Weise ergangen im Laufe der Menschheitsentwickelung

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seit der Begründung des Christentums. Große Umwandlungen hat erfahren das Urteil und die Stellung des Menschen zu diesen vier Urkunden. Wenn wir uns zunächst fragen, wie dem heutigen Menschen, selbst dem heutigen Theologen, diese vier Urkunden erscheinen, so liegt die Antwort ziemlich nahe. Man sagt sich: Da haben wir zunächst einmal die drei Urkunden der Matthäus-, Markus- und Lukas-Evangelien. Sie stimmen wenigstens - so ist das heutige allgemeine Urteil - in einigem überein. Aber ganz verschieden von diesen drei Urkunden ist die vierte, das Johannes-Evangelium. - Dieses Johannes-Evangelium wirkt zunächst auf den Menschen so, daß er sich sagt: Wenn man die drei ersten Evangelien nimmt als historische Urkunden als Schilderungen des Lebens des Christus Jesus, so widerspricht die vierte Urkunde so wesentlich den drei ersten, daß man diese vierte nicht als eine Schilderung nehmen könnte, die den historischen Tatsachen entspricht. - So besteht die Meinung, als ob diese vierte Urkunde nur wäre eine Schrift, herausentsprungen aus dem Bekenntnis eines treu der Sendung des Christus Jesus ergebenen Mannes, eine Art Hymnus, entquollen dem Herzen, um in begeisterter Art auszudrücken, was der Schilderer zu sagen hatte. Die drei andern Evangelien nennt man auch die kanonischen, weil man versucht, eine Art historischen Bildes zu geben und weil man glaubt, daß diese in einer gewissen Weise wiedergeben die historischen Tatsachen. Wenn man sich aber an Widersprüche, die der äußere, an die physischen Verhältnisse gebundene Verstand sucht, halten will, so bieten wahrhaftig die drei ersten Evangelien auch solche Widersprüche dar. Denn sollten es keine Widersprüche sein, daß im Evangelium des Matthäus erzählt wird von einer Geburt des Jesus in Bethlehem, erzählt wird von einer Flucht nach Ägypten, von dem Erscheinen der Magier aus dem Morgenlande, daß dagegen erzählt wird im Evangelium des Lukas von einer Reise nach Bethlehem, aber vollständig verschwiegen wird, was im Matthäus-Evangelium erzählt wird von den Magiern, daß da verschwiegen wird die Flucht nach Ägypten und so weiter? Auf die Einzelheiten der drei Wirkensjahre des Christus Jesus wollen wir dabei gar nicht eingehen. Widerspruch auf Widerspruch könnten wir da finden.

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Nun könnte man die Frage aufwerfen: Wie liegt denn eigentlich die Entwickelung des Urteils über die Evangelien im Laufe der christlichen Zeiten? War das immer so, daß die Menschen die Evangelien angesehen haben und darinnen vor allen Dingen die Widersprüche gesehen haben? - Wir müssen uns klar sein darüber, wie diese Entwickelung des Urteils über die Evangelien vor sich gegangen ist. Daß die Menschen die Evangelien so zur Hand haben wie heute, das ist ja noch nicht lange her. Verbreitet innerhalb der allgemeinen Menschheit sind die Evangelien erst kurze Zeit. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst waren die Evangelien im Grunde nur in den Händen weniger Menschen und wahrhaftig nicht der unverständigsten, sondern derjenigen Menschen, die sich in der allergelehrtesten Weise damit befaßt haben, die eine Angelegenheit ihres Lebens daraus gemacht haben. Und es ist nicht so, daß da etwa immer mehr und mehr, je weiter wir in der Zeit rückwärtsgehen, die Leute gesagt hätten: Da sind Widersprüche -, sondern das gerade Gegenteil ist wahr. Je weiter wir zurückgehen, desto mehr zeigt sich, daß diese Widersprüche nicht empfunden werden, daß man die vier Evangelien nebeneinander gehabt und nicht die Widersprüche gesehen hat. Die ganze Stimmung, die die Leute gehabt haben gegenüber den Evangelien, war in den ersten christlichen Jahrhunderten ganz anders. Wollten wir diese Stimmung charakterisieren, dann müßten wir sagen, daß die Menschen der ersten christlichen Jahrhunderte erfüllt waren von einer ungeheuren Ehrfurcht gegenüber dem, was geschildert wird in den Evangelien. Durchdrungen war diese ganze Stimmung von einem Hinaufschauen zu der großen Gestalt des Christus Jesus.

Wie hat man nun die Evangelien empfunden? Wie hat man so etwas empfunden, daß im Evangelium des Matthäus etwas anderes erzählt wird als etwa im Evangelium des Lukas? So ähnlich hat man empfunden, wie wenn heute - ich habe den Vergleich schon gebraucht in den verschiedenen Vorträgen, die da und dort gehalten worden sind -, wie wenn jemand einen Baum von einer Seite photographiert. Eine solche Photographie gibt eine Ansicht des Baumes. Wenn man damit unter die Leute ginge und wollte nach ihr eine Vorstellung des Baumes erzeugen, so wäre diese Vorstellung höchst einseitig. Und

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man könnte schon mehr hoffen, eine richtige Vorstellung von dem Baum zu erwecken, wenn man ihn von vier Seiten photographierte. Dann würde man vier Bilder des einen Baumes zeigen. Diese würden sehr wenig miteinander übereinstimmen, sie würden sehr verschieden sein. Dennoch würde kein Mensch die Empfindung haben, daß es nicht sein könnte, daß diese vier Photographien die Bilder eines einzigen Baumes wären. Es würde ein jeder sagen: Dadurch kann ich mir erst einigermaßen ein vollständiges Bild des Baumes machen, daß ich ihn von vier Seiten geschildert habe. - So ungefähr haben die Leute in den ersten christlichen Jahrhunderten empfunden gegenüber den Evangelien. Sie haben gesagt: Das ganze große Ereignis ist eben geschildert von vier Seiten aus, und wir bekommen ein vollständiges Bild von ihm, wenn wir wirklich diese vier Schilderungen zusammen- nehmen und uns dadurch sozusagen eine Gesamtansicht machen. Nur müssen wir uns dann klar sein darüber, wie eigentlich diese vier Seitenschilderungen sich zueinander verhalten. Es ist in der Tat das große Ereignis von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus geschildert. Will man verstehen, was der einzelne Standpunkt schildert, so muß man sich folgendes einmal klarmachen.

Wir haben vor uns eine gewaltige Individualität, den Christus Jesus, eine Individualität, von der wir wissen aus den Schilderungen, die wir hier schon gegeben haben daß sie aus der geistigen Welt heruntergestiegen ist und erschienen ist in Palästina im Beginne unserer Zeitrechnung. Was da als eine Individualität auf die Erde gekommen ist, nimmt sich nun so aus wie ein großes, umfassendes Ideal für jeden einzelnen Menschen. Der einzelne Mensch strebt sozusagen hinauf, indem er in unendlicher Ferne über sich ahnt jene Vollkommenheit in einer Individualität, die in dem Christus Jesus ausgedrückt ist, und strebt diesem Ideal nach. Nun sieht der Mensch zunächst dasjenige, was er als sein Streben ansehen kann, in intellektueller, in moralischer Beziehung und so weiter. Aber er sieht noch mehr, wenn er eintritt in das, was wir die geisteswissenschaftliche Bewegung nennen. Da sieht er die Entwickelung in die geistige Welt hinein. Er weiß, daß der Mensch hinauswachsen kann über sein gewöhnliches Selbst, daß er zum Schauen in die geistige Welt hineinwachsen kann, daß er seine

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geistigen Sinne entwickeln kann, um hinaufzuleben in die geistige Welt. Das erkennt der Mensch. In der Abhandlung «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» haben Sie eine Seite dieses Hinauflebens, des Eintretens in die geistigen Welten ein wenig geschildert, da haben Sie namentlich das geschildert, was man nennt «Spaltung der Persönlichkeit». Wenn der Mensch sich geistig entwickelt, so daß er nach und nach hineinwächst in die geistigen Welten, selbst zum Seher wird, so tritt in der Tat etwas Ähnliches ein wie eine Art Spaltung der Persönlichkeit. In der Persönlichkeit sind zunächst drei Kräfte ausgedrückt: Denken, Fühlen und Wollen. Diese drei Kräfte sind beim gewöhnlichen Menschen sozusagen vereinigt; sie wirken zusammen, das Denken, Fühlen und Wollen. Sie gehen hinaus auf die Wiese, sehen eine Blume, das heißt, Sie haben eine Vorstellung der Blume; Sie haben gedacht. Die Blume gefällt Ihnen; Sie nennen sie schön, das heißt, Sie haben gefühlt. Mit dem Denken hat sich ein Gefühl verbunden. Sie pflücken die Blume ab und bringen sie nach Hause, das heißt, Sie haben sie begehrt. Und so verffießt eigentlich das gesamte äußere Leben des Menschen. Er stellt vor, denkt, fühlt und will, und die dreie gehen ineinander. Die Vorstellung ruft hervor das Gefühl, dieses das Wollen oder Verabscheuen und dergleichen. Wenn der Mensch sich nun hinaufentwickelt in die höheren Welten, sich zur Hellsichtigkeit, zur Teilnahnie an den geistigen Welten entwickelt, dann findet eine Spaltung dieser drei Kräfte statt. Bei demjenigen, der auf einer gewissen Stufe des hellsichtigen Bewußtseins angelangt ist, ruft nicht jeder Gedanke ein Gefühl hervor, sondern der Gedanke tritt isoliert auf, und das Gefühl kann isoliert auftreten und das Wollen kann isoliert auftreten. Und der Mensch muß gerade deshalb, weil er sozusagen dann in drei Wesen geteilt ist - während Denken, Fühlen und Wollen sonst nur Kräfte sind in seiner Seele -, der Mensch muß um so stärker werden in seiner Individualität. Er muß nicht nur drei Kräfte dann ausgleichen, sondern Herr werden über drei Wesen, über ein wollendes Wesen, über ein fühlendes Wesen, über ein denkendes Wesen. Anführer muß er sein einer Schar dieser drei Wesenheiten. Ordnung muß er machen; er muß sie beherrschen, sonst tritt das ein, was von Übel wäre: daß das Wollen ihn

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nach der einen Seite zerrt und das Denken nach der andern, und er ist dann wirklich gespalten und findet sich nicht mehr zurecht. Daher muß der Mensch in sich erstarken, kräftig werden, so daß er Herrscher sein kann in den Wesenheiten, die aus seinen Seelenkräften geworden sind. Wenn der Mensch sich also hinaufentwickelt in die höheren Welten, so spaltet er sich sozusagen in drei verschiedene Wesenheiten. Wenn die Wesenheiten uns von oben entgegenkommen aus den geistigen Welten und man sieht sie in ihrer eigentlichen Wesenheit, die man nur erkennen kann durch geistiges Anschauen, dann treten sie von vornherein scharf abgetrennt auf als denkende Wesen, wollende Wesen und fühlende Wesen. Das sind sie, wozu der Mensch sie hinaufentwickelt.

Insbesondere war das der Fall bei derjenigen großen Individualität, die als der Christus zu uns gekommen ist. Daher haben sich diejenigen, die den Christus zuerst geschildert haben, gesagt: Den Christus kann man nicht schildern, indem man nur einen einzigen Gesichtspunkt aus- wählt; man muß ihn schildern so, wie man zunächst ein denkendes, weisheiterfülltes Wesen sieht, dann, wie man ein wollendes Wesen sieht, und dann, wie man ein fühlendes Wesen sieht. Man muß ihn schildern vom Standpunkt der Weisheit, vom Standpunkt des Wollens, vom Standpunkt des Fühlens aus. So muß man schildern, haben die Leute gesagt. Und dazu waren sie ganz besonders vorbereitet durch die ganze Erziehung, welche in alten Zeiten üblich war. Wenn ein Mensch überhaupt hat entwickelt werden sollen in die höheren Welten hinauf- heute ist für die ersten Stufen der Erlangung höherer Erkenntnisse etwas anderes notwendig; in alten Zeiten wurde etwas anders zu Werke gegangen -, wenn jemand reif war, hinaufgeführt zu werden> sozusagen zum Bürger der geistigen Welten gemacht zu werden, so hat man gesagt: Nun ja, der ist reif, hinaufgeführt zu werden in die höheren Welten. Sehen wir ihn aber genauer an! Sollen wir besonders in ihm entwickeln die Weisheit oder die Denkkräfte oder das Wollen?

Man hat in alten Geheimschulen nicht alle Kräfte gleichmäßig entwickelt, sondern hat sich, je nach dem Karma des Betreffenden, bei dem einen darauf verlegt, das Denken in die Hellsichtigkeit hinaufzuentwickeln,

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beim andern das Fühlen zum Hellfühlen, beim dritten das Wollen zu magischer Kraft. Daher hat man in alten Geheimschulen drei Klassen gehabt von entwickelten Fähigkeiten, solche Schüler, bei denen entwickelt war besonders die Fähigkeit, durchleuchtet zu sehen weisheitsvoll die geistige Welt - das waren diejenigen Menschen in den Mysterien, die man gefragt hat, wenn man hat wissen wollen, wie die Tatsachen in den höheren Welten sind und gesetzmäßig zusammenhängen. Wenn wir heute mit einem trivialen Ausdruck sprechen wollen, so können wir sagen, das waren die Fachleute des Erkennens innerhalb der Mysterien. Dann gab es eine andere Klasse von Eingeweihten. Bei denen war besonders das Fühlen ausgebildet. Damit dieses Fühlen besonders ausgebildet werden konnte, sah man ab von der Ausbildung des Erkennens und des Wollens bei ihnen und bildete das Fühlen für sich aus. Wenn das Fühlen besonders ausgebildet wird in einem Menschen, dann wird er dadurch zu demjenigen, was heute fast gar nicht mehr bekannt ist: er wird zum Heiler, zum Arzt. Denn der Arzt hatte in alten Zeiten viel mehr eine von den Gefühlssphären ausgehende geistige Wirkung ausgeübt und die empfängliche Seele geheilt auf dem Wege des entwickelteren Fühlens als heute. Dieses war die zweite Klasse der Eingeweihten. Sie hatten das Fühlen ausgebildet bis zur höchsten Opferwilligkeit, bis zur Hingabe aller Kräfte, die sie in sich hatten. Man teilte sich eben in der Arbeit. Wollte man wissen, was irgend jemandem fehlte, dann ging man zu denen, die die Weisheit ausgebildet hatten. Die stellten fest, was fehlt und was zu tun ist. Dann kamen diejenigen> die nicht sagen konnten, was dem Kranken fehlte, weil bei ihnen die Fähigkeit des Denkens nicht ausgebildet war; aber sie kamen und opferten ihre Kräfte, weil sie die Fühlenskräfte ausgebildet hatten. Das waren zugleich die Menschen, welche auch sonstige Funktionen hatten, welche bei Unglücksfällen oder bei ähnlichen Vorkommnissen etwa ihre Opferwilligkeit zeigten. Die dritte Kategorie der Eingeweihten waren die Magier. Das waren diejenigen, welche die Willenssphäre ausgebildet hatten. Sie hatten die äußeren Maßnahmen zu treffen. Die Magier hatten die Willenskräfte ausgebildet und konnten das ausführen, worum es sich handelte. So daß es dreierlei Eingeweihte gab:

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Eingeweihte des Denkens, Eingeweihte des Fühlens und Eingeweihte des Wollens. Und eine vierte Klasse oder Kategorie, das waren diejenigen, bei denen in gewisser Weise versucht wurde, von jedem der drei übrigen etwas auszubilden, etwas von dem Denken, etwas von dem Fühlen und etwas von dem Wollen. Daher sind sie auf keinem Gebiete so weit gekommen wie die andern; aber bei ihnen stellte sich heraus wie bei einer gewissen Einweihung in die drei Sphären die Dinge zusammenhängen. So daß man mächtige Eingeweihte der Weisheit hatte, mächtige Eingeweihte des Opferdienstes, mächtige Eingeweihte des Magiertums und eine vierte Kategorie, welche sozusagen von jeder der drei ersten etwas hatte.

Als nun der Christus Jesus sozusagen beschrieben werden sollte von allen Seiten aus, da fanden sich gerade - genauer kann das ein anderes Mal ausgeführt werden, heute kann es nur in großen Zügen geschehen - vier Leute, welche nun die bei ihm natürlich vereinigten Fähigkeiten von ihren vier Standpunkten aus schilderten. So war einer besonders eingeweiht in die Geheimnisse des Denkens. Der schilderte nun in dem Christus Jesus diejenigen Eigenschaften, die insbesondere ein solcher verstehen konnte ein Eingeweihter der Weisheit. Er ließ die andern Seiten weg. Ein anderer war ein Eingeweihter des Fühlens. Er schilderte den Christus Jesus von der Seite des Fühlens, sozusagen als Arzt, als Heiler. Ein dritter war ein Eingeweihter des Magiertums. Er schilderte die Kräfte, die der Christus entfalten konnte zum Organisieren der gesamten Menschheit. Und ein vierter war ein Eingeweihter eben der vierten Klasse, bei dem die Kräfte untereinander wirkten, harmonisch wirkten. Der schilderte vorzugsweise die menschliche Arbeit des Christus Jesus. Er sah nicht die ganze Gewalt der Weisheit, des Opferdienstes, nicht die mächtige magische Stärke der Willenskraft des Christus Jesus; aber er sah, wie in Christus Jesus sich harmonisch zusammengesellten die drei Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens. Er schilderte den Menschen Christus Jesus.

So haben wir von vier Eingeweihten den Christus Jesus geschildert. Derjenige, der den Christus Jesus schilderte als ein Eingeweihter der Weisheit, das war der Schreiber des Johannes-Evangeliums; derjenige,

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der ihn schilderte als ein Eingeweihter des Fühlens, das war der Schreiber des Lukas-Evangeliums; derjenige, der ihn schilderte hinsichtlich der magischen Stärke, das war der Schreiber des Markus-Evangeliums; und derjenige, der die harmonische Zusammengestaltung der niederen drei menschlichen Glieder schilderte, das war der Schreiber des Matthäus-Evangeliums. So hat jeder geschildert dasjenige an Christus Jesus, worin gerade er eingeweiht war.

So werden wir begreifen daß wir ein vollständiges Bild gewinnen können des Christus Jesus dadurch, daß in den vier Evangelien geschildert ist das, was den vier Persönlichkeiten, die den vier Evangelien zugrunde liegen, besonders nahe lag. Wer die nötige Ehrfurcht hat vor einer solch großen Individualität, wie der Christus war, der wird sagen: Gerade dadurch kann ich ein umfassendes Bild gewinnen, daß die Schreiber der Evangelien, ein jeder, das Beste gegeben haben, was sie zu geben vermochten. Daher ist es aber auch notwendig, daß Sie dasjenige, was in der Geisteswissenschaft gesagt wird in Anlehnung an die vier Evangelien, an das vierte etwa oder das dritte oder das zweite oder das erste, daß Sie das nicht immer so nehmen, als ob Sie bei jedem solchen Kapitel die gesamte Wahrheit hätten über den Christus Jesus. Es könnte leicht die Meinung entstanden sein bei den verschiedenen Vorträgen, die gehalten worden sind da und dort: Jetzt ist der Christus Jesus geschildert, und es sei höchstens noch interessant, ihn mit Anknüpfung an ein anderes Evangelium zu schildern. So ist es nicht. Man bekommt ja das Bild nur von einer Seite, wenn man den Christus Jesus nach einem Evangelium schildert. Es muß abgewartet werden, bis im Laufe unserer spirituellen Bewegung der Christus Jesus in Anknüpfung an alle vier Evangelien geschildert worden ist. Dann erst haben Sie, was an gesamten Geheimnissen über ihn zu sagen ist.

Nun wird es uns jetzt obliegen, von einer gewissen einseitigen Schilderung auszugehen, um wiederum einmal etwas sozusagen zusammenzutragen zu einem Bilde von dem Christus Jesus, allerdings so, daß Sie wirklich das einhalten müssen, was eben gesagt worden ist. Sie dürfen nicht weggehen heute vom Vortrage und sagen: Nun ja, jetzt haben wir die Wahrheit in diesen Dingen -, sondern Sie müssen

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sich sagen: Es ist jetzt von einem Gesichtspunkte aus geschildert worden und das andere muß hinzugefügt werden und muß beleuchtet werden mit demjenigen, was von andern Gesichtspunkten aus gesagt wird.

In dem Christus Jesus haben wir tatsächlich ein Zusammenströmen aller früheren geistigen Strömungen der Menschheit und zu gleicher Zeit eine Neugeburt derselben. In dem Christus Jesus fließen zusammen alle geistigen Strömungen und werden neu geboren, in einem erhöhten Maße neu geboren. Nun könnten wir viele solche Strömungen der vorchristlichen Zeit erwähnen, die uns bei denjenigen Betrachtungen, die anknüpfen an die vier Evangelien, aus der Geisteswissenschaft entgegentreten, Strömungen, die wir zusammenfließen sehen im Christus-Ereignis; aber wir wollen zunächst nur auf drei Strömungen aufmerksam machen.

Da haben wir zunächst eine gewaltige Strömung, die seit uralten Zeiten in Asien tätig war. Das ist diejenige, die wir als den Zarathustrismus bezeichnen können. Eine zweite geistige Strömung ist diejenige, die in Indien geblüht hat und einen gewissen Hochpunkt erreicht hat in dem Erscheinen des Gautama Buddha, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung. Eine dritte geistige Strömung ist diejenige, die sich zum Ausdruck brachte im althebräischen Volk. So daß wir in Christus Jesus zusammenfließen haben die althebräische Geistesströmung, dann das, was in dem Gautama Buddha sich auslebte, und dasjenige, was an den Namen Zarathustra sich knüpfte. Wir könnten noch viele solche geistige Strömungen erwähnen, aber die Sache würde dadurch zu unübersichtlich werden.

Nun kommt in einer gewissen Weise in den vier Evangelien alles das zum Vorschein - wenn wir sie wirklich richtig verstehen -, was da eigentlich geschehen ist in Palästina im Beginne unserer Zeitrechnung. Es ist nicht die Aufgabe der Geisteswissenschaft, aus den Evangelien zu schöpfen, was sie zu sagen hat. Gar nichts von demjenigen, was von mir gesagt wird, ist etwa auf Grundlage der Evangelien geschöpft. Die einzige Urkunde für den Geistesforscher ist das, was man die Akasha-Chronik nennt, ist das, was man hellsichtig beobachten kann. Wären durch irgendeine Katastrophe alle Evangelien

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verlorengegangen, so könnte trotzdem alles gesagt werden, was in der Geisteswissenschaft über den Christus gesagt wird. Das fußt auf geistiger Forschung. Erst hinterher wird das, was diese geistige Forschung ergibt, mit dem verglichen, was in den Evangelien steht. Und das gerade gibt jene objektive Ehrfurcht vor den Evangelien, wenn man sieht dasjenige, was aus den Evangelien wiederum einem entgegentritt. Diesen Standpunkt dürfen Sie niemals außer acht lassen. Denn geschöpft wird gar nichts aus den Evangelien; deshalb ist auch das nicht aus den Evangelien geschöpft, was ich jetzt erzähle. Aber wir können es nachher vergleichen mit dem, was in den Evangelien steht, und wir werden es in Übereinstimmung finden.

Die eine der Geistesströmungen, welche dann in das Christentum eingeflossen ist, ist diejenige, welche ihren Höhepunkt erreicht hat in der Persönlichkeit, die als Gautama Buddha etwa sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung in Indien inkarniert war. Was ist das für eine Individualität? Wir verstehen diese Individualität, wenn wir uns das Folgende vorhalten: Alles, was sich in der Menschheitsentwickelung nach und nach ergeben hat, ist eben ein Produkt, das sich entwickelt, sich nach und nach einlebt. Sie würden fehl gehen, wenn Sie glaubten, daß die Fähigkeiten des heutigen Menschen immer dagewesen wären. Heute gibt es zum Beispiel so etwas, was man die Stimme des Gewissens nennt. Das hat es nicht immer gegeben. Wir können geradezu mit Händen greifen, wann das Gewissen im Laufe der Menschheitsentwickelung entstanden ist. Wenn Sie auf Äschylos zurückgehen, so finden Sie bei ihrri nichts von einer Schilderung des Gewissens. Erst bei Euripides findet sich eine Schilderung des Gewissens. Das griechische Bewußtsein hat sich also zwischen diesen beiden erst ausgebildet den Begriff des Gewissens. Was der Mensch heute eine innere Stimme nennt, hat sich erst entwickelt. Vorher gab es innerhalb der Menschheit, wir können sagen, eine Art von hellseherischem Bewußtsein. Wenn da der Mensch irgend etwas getan hat, was er nicht hätte tun sollen, dann erschien ihm ein Bild wie ein Rachegeist, und der verfolgte ihn. Das war, was die Griechen die Furien nannten. Er sah wirklich die Früchte und die rächenden Geister seiner bösen Taten um sich herum. Diese Erscheinung, die

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außerhalb des Menschen war, hat sich hineingezogen in die menschliche Seele als Stimme des Gewissens. Und so sind auch die andern Fähigkeiten der Menschen nach und nach erst entstanden, und es ist nur eine Kurzsichtigkeit der Menschen, die nicht weiter sehen als ihre Nase reicht - sozusagen, was die äußere Wissenschaft reichlich tut -, wenn man glaubt, daß die Menschen immer waren, wie sie heute sind.

So haben die Menschen nicht gehabt, was wir nennen könnten die Lehre vom Mitleid und der Liebe. Da müssen wir uns vorstellen ganz anders die Vermittlung in alten Zeiten in bezug auf Mitleid und Liebe als heute. Heute kann der Mensch sozusagen in sich gehen. Er kann, wenn dieses oder jenes geschieht draußen, in sich aufkeimen lassen das Gefühl von Mitleid und Liebe, und er weiß, daß das gut ist. Er kann die Grundsätze von Liebe und Mitleid in sich selber finden. Das war vor Zeiten nicht der Fall, sondern vor Zeiten wurde rein durch Suggestion von den dazu Beauftragten den Menschen eingeflößt, wie sie sich verhalten sollten. Die Menschen selber mußten geleitet werden. Es waren einzelne Leiter und Führer der Menschheit, die hinwiesen, wie sich die Menschen zu verhalten haben. Eingegeben wurde es von den Führern der Menschheit was als Taten der Liebe und des Mitleids zu geschehen hatte. Und diejenigen, welche so die Führer waren auf dem Gebiet der Liebe und des Mitleids, standen wiederum unter höheren Führern und alle zusammen- unter einem Führer den man den Bodhisattva von Liebe und Mitleid nennt. Der hatte die Mission, herunterzutragen die Lehre vom Mitleid und der Liebe. Aber dieser Bodhisattva, welcher der Führer war in bezug auf Mitleid und Liebe> war nicht so wie ein gewöhnlicher inkarnierter Mensch, sondern so, daß nicht seine ganze Wesenheit in dem physischen Menschen aufging. Er hatte sozusagen eine Verbindungsbrücke hinauf zur geistigen Welt.

Der Bodhisattva von Mitleid und Liebe lebte nur zum Teil im physischen Menschen, zum übrigen Teil reichte seine geistige Wesenheit hinauf in die geistigen Welten. Da trug er herunter die Impulse, die er einzuflößen hatte. Wollten wir das spirituell schildern, so müßten wir sagen: Da sah der Hellseher das Bild des Menschen, in dem

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der Bodhisattva zum Teil verkörpert war, und hinter diesem eine mächtige geistig-astralische Gestalt, welche hinaufragte in die geistigen Welten und die nur zum Teil im physischen Leibe war. - So war dieser Bodhisattva. Dieser Bodhisattva war derselbe, der dann wieder- geboren wurde als der Königssohn Gautama Buddha in Indien, und zwar war das sozusagen für diesen Bodhisattva das Aufsteigen zu einer höheren Würde. Er hatte früher sozusagen sich selber leiten lassen von oben, hatte die Impulse empfangen von der geistigen Welt und sie weitergegeben. In dieser Inkarnation aber, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, wurde er zur Buddhawürde erhoben im neunundzwanzigsten Jahre seines Lebens, das heißt, in dieser Inkarnation erlebte er das, daß seine ganze Individualität in den physischen Leib hineinging. Während er früher als Bodhisattva mit einem Teile draußen bleiben mußte, um die Brücke schlagen zu können, so war das der Fortschritt zur Buddhawürde, daß er ganz im Leibe inkarniert war. Dadurch konnte er nicht nur durch Inspiration die Lehre von dem Mitleid und der Liebe empfangen, sondern in sich selber schauen und als die eigene Stimme des Herzens diese Lehre empfangen. Das war die Erleuchtung des Buddha im neunundzwanzigsten Jahre seines Lebens unter dem Bodhibaum. Da war es, daß ihm aufging die Lehre von dem Mitleid und der Liebe unabhängig von den Zusammenhängen mit der geistigen Welt, als ein menschliches Seeleneigentum> daß er denken konnte die Lehre von dem Mitleid und der Liebe, die er ausgesprochen hat in dem achtfachen Pfad. Und die Predigt darauf ist die große Lehre von dem Mitleid und der Liebe zum ersten Mal aus einer menschlichen Brust heraus.

So muß es mit jeder menschlichen Fähigkeit geschehen. Einmal in der Menschheitsentwickelung muß bei einer Individualität eine Fähigkeit zuerst zum Ausdruck kommen; dann erst kann sie anfangen, bei den Menschen überhaupt nach und nach sich als eine eigene Fähigkeit zu entwickeln. Die Lehre von dem Mitleid und der Liebe konnte erst dadurch als etwas empfunden werden, was der Mensch aus sich selber herausholt, nachdem es einmal von einer Individualität gebracht worden ist. Das nennt man in der orientalischen Philosophie «das Rad drehen», das Rad von Dharma, von Mitleid und von Liebe. Das ist

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geschehen durch dieses Hineinsenken der vollen Individualität des Bodhisattva in den Königssohn Gautama Buddha. Von da an gibt es Menschen, die aus sich selber heraus finden können die Lehre vom Mitleid und der Liebe. Und es wird sich das so entwickelh, daß immer mehr und mehr Menschen in sich selber finden werden die Lehre vom Miileid und der Liebe, und dreitausend Jahre nach unserer Zeitrechnung ungefähr wird eine genügende Anzahl von Menschen leben auf der Erde, die dasjenige, was Buddha gefunden hat, in ihren eigenen Herzen entwickelii. Dann wird die Mission des Buddha in dieser Beziehung auf der Erde erfüllt sein. Denn dazumal, als der Bodhisattva heruntergestiegen ist, um ein Buddha zu werden, da übernahm die Würde des Bodhisattva ein anderer. Bis dahin war das, was wir heute den Buddha nennen, ein Bodhisattva. Der nächste Rang nach dem Bodhisattva ist der des Buddha. Vom Bodhisattva wird das auf- steigende Wesen zum Buddha.

Die orientalische Philosophie drückte das so aus, daß sie sagte: Als der Bodhisattva herunterstieg auf die Erde, gab er die Krone des Bodhisattva an seinen Nachfolger ab. Dieser Nachfolger lebt heute noch als Bodhisattva. Er wird erst zur Buddhawürde emporsteigen dreitausend Jahre nach unserer jetzigen Gegenwart. Das ist derjenige, den die orientalische Philosophie den Maitreya-Buddha nennt. Dieser ist heute Bodhisattva und wird in dreitausend Jahren Maitreya-Buddha sein. Er hat eine andere Mission als der Gautama Buddha die zusammenhängt mit Dingen, die die Menschen heute noch nicht aus sich heraus finden können. Das ist eine Linie der Entwickelung. So daß wir sagen können: Es ist tatsächlich aufgerückt jener Bodhisattva, der in sich enthält die Lehre von Mitleid und Liebe, zur Buddhawürde, und damit hat er seiner Mission einen gewaltigen Ruck gegeben. Dadurch, daß er dazumal, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, mit seiner ganzen Wesenheit in einem menschlichen Leibe war, hat er sich das Anrecht dazu erworben, nicht mehr in einem physischen Leib inkarniert zu werden auf der Erde. Tatsächlich war die Inkarnation von dazumal die letzte Inkarnation dieses Bodhisattva. Er brauchte nicht mehr im physischen Leib inkarniert zu werden, sondern brauchte nur noch herunterzusteigen bis zum Ätherleib. Alle

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folgenden Verkörperungen des Buddha sind also nicht solche, daß man ihn äußerlich auf dem physischen Plan sehen kann, sondern solche, daß man ihn nur sehen kann durch diejenigen Kräfte, die den Menschen fähig machen, den Ätherleib zu sehen. In der ganzen folgenden Zeit also verkörpert sich der Buddha nur in einem Ätherleib. Dasjenige, was der Buddha der Menschheit zu bringen hatte, ließ er nun einfließen sechshundert Jahre nach seiner Gegenwart auf der Erde in dasjenige, was durch das Christentum angebahnt worden ist. Er brachte sozusagen als Opfer dem sich begründenden Christentum dar, was er zu bringen hatte, er ließ es einfließen wie einen geistigen Nebenstrom in den großen Gesamtstrom. Das ist diejenige Strömung, die im Buddha ihren Höhepunkt erreicht. Das ist die eine Strömung.

Eine andere kam in der folgenden Weise zustande. Wir machen uns ein Bild von ihr, wenn wir eingehen ein wenig auf die Entwickelung der Menschheit selber. Sie wissen ja alle, daß nach der großen atlantischen Katastrophe die Menschen nicht solche Fähigkeiten hatten wie heute, sondern daß sie nach der großen atlantischen Katastrophe noch Reste hatten von einem alten dämmerhaften Hellsehen. Das logische Denken entwickelte sich erst nach und nach. Diejenige Kultur, die wir als die altindische bezeichnen, war durchaus eine aus ätherischem Hellsehen hervorgehende Kultur. Auch die Zarathustrakultur war noch eine solche, in der man mit altem dämmerhaftem Hellsehen arbeitete, und auch die chaldäisch-ägyptischen Kulturen waren noch nicht Kulturen wo so gedacht wurde wie heute. Da war alles noch Inspiration; es war alles noch nicht logisch durchdrungen, sondern alles mehr oder weniger inspirierte Imagination, was da in der chaldäischen Astrologie und in der Hermesweisheit zutage trat. Die menschliche logische Denkfähigkeit war in diesen Kulturen noch nicht entwickelt. Es war vielmehr vorbehalten einer ganz andern Strömung, gerade das, was man logische Kultur nennen könnte, denkerische Kultur nennen könnte, zu entwickeln. Die erste nachatlantische Kultur war noch durchaus aus ätherischem Hellsehen hervorgehend. Auch die Zarathustrakultur war noch eine solche, wenn auch nicht mehr so ausgeprägt. Ebenso beruhte die ägyptisch-chaldäische Kultur noch auf Inspiration. Das Denken jener Zeit war noch nicht

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von Logik durchdrungen; es war durchwirkt von Imaginationen, die in der Astrologie der Chaldäer, in der Hermesweisheit von Ägypten in großartigen Bildern zum Ausdruck kommen.

Die nachatlantischen Kulturen sind aus zwei Strömungen hervorgegangen. Abgesehen von dem, der nach Westen ging und das heutige Amerika bevölkerte, ergossen sich zwei Ströme auswandernder Menschen unter Leitung ihrer Führer nach Osten, der eine in nördlicher, der andere in südlicher Richtung.

Der nördliche, von welchem gewisse Teile in Europa zurückblieben, drang weiter bis nach Asien hinein. Während sich da neue Kulturen vorbereiteten und abspielten, lebte die europäische Bevölkerung wie abwartend durch die Jahrhunderte hindurch. Es waren ihre Kräfte gleichsam zurückgehalten für das, was kommen sollte. Sie waren in ihren wesentlichen Kulturelementen beeinflußt von jenem großen Eingeweihten, der sich dieses Feld bis in die sibirischen Gegenden hinein ausersehen hat, und den man den Eingeweihten Skythianos nennt. Von ihm waren inspiriert die Führer der europäischen Urkultur, welche nicht auf dem fußte, was als Denken in die Menschheit kam, sondern auf einer Aufnahmefähigkeit für ein Element, das in der Mitte stand zwischen dem, was man nennen könnte rezitativ-rhythmische Sprache und eine Art von Gesang, begleitet von einer eigentümlichen Musik, die heute nicht mehr vorkommt, sondern auf einem Zusammenspiel von pfeifenartigen Instrumenten beruhte. Es war ein eigenartiges Element, dessen letzter Rest in den Barden und Skalden lebte. Alles, was der griechische Apollo- und Orpheusmythos erzählt, hat sich von daher herausgebildet. Daneben wurden in Europa die praktischen Fähigkeiten herausgebildet durch Besiedelung, Bebauung und so weiter.

Die andern Völkermassen sind unter der Führung des großen Sonneneingeweihten nach Asien hinübergezogen. Der vorgeschobenste Posten hat unter der Führung der Rishis die erste nachatlantische Kultur gebildet. Weiter in Vorderasien entwickelte sich die älteste Zarathustrakultur; doch ist hier nicht die Rede von dem geschichtlichen Zarathustra. Was er hervorgerufen hat, ist in gewisser Weise entgegengesetzt dem alten Indertum. Das letztere war ganz auf ätherischem

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Hellsehen aufgebaut; der Zarathustra wandte seinen Blick zur Sonne. Er schaute den Geist der Sonne, die «große Aura», Ahura Mazda. Es war Zarathustra der erste, der die Eigentümlichkeiten der nördlichen Kultur hier zum Ausdruck gebracht hat. Alles Folgende baut sich darauf auf.

Der andere Zug, der herübergekommen war, der südliche, bildete die Grundlage für die chaldäisch-ägyptische Kultur, die durch ein Zusammenwachsen des einen mit dem andern entstanden ist. Man kann das schematisch darstellen: Das Indertum bedeutet die Entwickelung des menschlichen Ätherleibes; im Persertum entwickelte sich der Empfindungsleib; die ägyptisch-chaldäische Kultur gab die Empfindungsseele; sie ist im wesentlichen eine innere Kultur, macht einen innerlichen Weg durch. Und wie sich Empfindungsleib und Empfindungsseele zusammenschließen, so ist dies bei der ganzen Menschheit der Fall. Das zeigt sich gerade in der ägyptisch-chaldäischen Kultur. Ein Gleiches wird der Fall sein bei der Bewußtseinsseele und dem Geistselbst. Das kann nur geschehen durch den statt- gefundenen Übergang der fortschreitenden Kultur in jene Gegend, in welcher die Geistigkeit noch zurückgehalten worden war: das kann nur in Europa geschehen. Dort war die Entwickelung zur Verstandes- und Bewußtseinsseele hin noch zurückgehalten worden und hat sich erst nach dem Christus-Ereignis entwickelt. Dort wird auch in der Zukunft die Verschmelzung mit den Geistselbst-Eigenschaften stattfinden können. Das kann nur geschehen durch eine spirituelle Strömung wie die geisteswissenschaftliche. Das wird der sechste Zeitraum unserer Kultur bringen.

Während die beiden geschilderten Strömungen noch unter dem Einfluß des alten dämmerhaften Hellsehens standen, war der dritten Strömung, die mit den andern zusammengeflossen ist und das Christus-Ereignis vorbereitete, eine vierte Kulturströmung gefolgt, die man eine logisch-denkerische nennen könnte. Damit wir uns da ganz genau verstehen, müssen Sie ins Auge fassen, daß alles Hellsehen zustande kommt dadurch, daß in einer gewissen Weise der Ätherleib selbständig arbeitet, namentlich der Ätherleib des Gehirns. Wo streng zusammengeschlossen sind der Ätherleib des Gehirns und das physische Werkzeug

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des logischen Denkens, da kann nicht zustande kommen Hellsichtigkeit. Nur wenn der Ätherleib etwas zurückbehält, um selbständig zu sein, da kann Hellsehen zustande kommen. Wenn der Ätherleib des Gehirns ganz verknüpft ist mit dem physischen Gehirn, da arbeitet er sich das Gehirn in der feinsten Weise aus; aber er engagiert sich auch in der Ausarbeitung des physischen Gehirns und es bleibt nichts zurück, um außerdem noch Hellsichtigkeit zu entwickeln. Es war aber notwendig, daß gerade jene Fähigkeit in die Menschheit ihren Einzug hielt, welche gebunden ist an das Gehirndenken, an das zusammenfassende Denken der Welterscheinungen durch das Gehirn. Dazu mußte in der Menschheit etwas eintreten, was man so charakterisieren kann, daß man sagt, es mußte ausgewählt werden aus der Menschheit gerade - nun, nehmen wir eine Individualität, bei der sozusagen am wenigsten vorhanden war dasjenige> was man altes Hell- sehen nannte, bei der dagegen im höchsten Maße ausgebildet, ausziseliert, ausgemeißelt war das physische Werkzeug des Gehirns. Diese Individualität war imstande> die Erscheinungen der äußeren physischen Welt nach Maß, Zahl, Ordnung und Harmonie zu überschauen, die Einheit zu suchen in den äußerlich ausgebreiteten Erscheinungen. Während also all die Angehörigen der früheren Kulturen sozusagen durch die Eingebungen von innen heraus etwas gewußt haben aus der geistigen Welt, mußte diese Individualität den Blick hinausrichten in den Umkreis der Erscheinungen, mußte sie kombinieren, logisch abwägen und sich sagen: Da draußen sind die Er- scheinungen> alles ordnet sich zu einer Harmonie, wenn man alles überschaut in einem großen Einheitsbilde. - Dasjenige, was da als Einheit erscheint, das erschien als Einheit in der Außenwelt, als der Gott hinter den Erscheinungen des physischen Planes. Das war ein Unterschied gegenüber den andern Gottesanschauungen. Die andern Gottanschauer sagten sich: Es geht uns die Gottesvorstellung auf von innen. Diese Individualität aber richtet den Blick überallhin, ordnete die Erscheinungen zusammen, sah sich an die verschiedenen Reiche der Natur, brachte sie unter eine Einheit, kurz, es war der große Ordner der Welterscheinungen nach Maß und Zahl, der da auserwählt wurde aus der gesamten Menschheit. Diese Individualität, die da auserlesen

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wurde aus der gesamten Menschheit, um zuerst unter allen zu überschauen die äußere physische Welt und die Einheit darin zu finden, das war Abraham. Abraham oder Abram war derjenige, der so- zusagen von den geistig-göttlichen Mächten ausersehen war, diese besondere Mission zu empfangen, der Menschheit zu überliefern die an Maß und Zahl der äußeren Erscheinungen gebundenen Kräfte. Er ging aus der chaldäischen Kultur hervor. Die chaldäische Kultur selber hatte aus dem Hellsehen heraus ihre Astrologie erkannt. Abraham, der Urvater der Arithrnetik, ging hervor> um alles das durch Kombination zu finden, dadurch zu finden, daß das physische Gehirn hier einmal eine ganz besondere Ausziselierung erfahren hat. Dadurch war ihm eine ganz besondere Mission übertragen.

Nun müssen wir bedenken: Wie die Mission verlaufen sollte, das sollte ja nicht bei ihm allein bleiben, sondern Gemeingut der Menschheit werden. Aber das Denken war an das physische Gehirn gebunden, wie konnte es da Gemeingut werden? Nur dadurch konnte es Gemein- gut werden, daß es sich wirklich übertrug durch physische Vererbung. Das heißt, es mußte geradezu von dieser Individualität ein Volk ausgehen, in dem sich vererbte diese besondere Eigentümlichkeit, solange sie als Mission in die Menschheit einziehen sollte. Ein Volk mußte ausgehen von ihr. Es mußte also ein Volk begründet werden, nicht bloß eine Kultur, wo etwas gelehrt worden war: Was man hellsichtig empfangen hat, kann man lehren. Was jetzt die Menschheit empfangen sollte, das mußte durch physische Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden, damit es sich einleben konnte in allen Einzelheiten. Was sollte sich einleben? Es sollte sich das einleben, durch menschliche Kombination zu finden jene Ordnung, die zuerst in die Menschheit Hineingetragen worden ist durch Abraham. Wenn man hinaufschaut in die Ordnung der Sterne, so kann man durch Kombination die Ordnung finden. Die Gedanken der Götter haben die Weisen der chaldäischen Astrologie nachgedacht. Nun handelte es sich daum, diesen besonderen Übergang zum Kombinieren, zum logischen Erfassen der Erscheinungen, in der Außenwelt zu finden. Es mußte also vererbt werden eine Eigenschaft in dem physischen Menschenleibe> die aus der Arbeit des Denkens heraus selbst das ergab,

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was als Ordnung in dem Weltenraum herum ausgebreitet ist. Das wird sehr schön ausgedrückt, indem derjenige, der dem Abraham diese Mission überträgt, sagt: Deine Nachkommen sollen angeordnet sein nach der Ordnung, nach der ZaH der Sterne - was unsinnigerweise die Bibel übersetzt: «Deine Nachkommen sollen sein wie der Sand am Meer. » Es heißt nämlich, es soll in der Nachkommenschaft des Abraham eine Anordnung sein, es soll die Nachkommenschaft so gegliedert sein, daß in ihr ein Nachbild ist der Sterne am Himmel. Das ist auch ausgedrückt in den zwölf Söhnen des Jakob. Sie sind ein Abbild der zwölf Sternbilder. Da kommen die Maße herein, welche am Himmel vorgebildet sind. In der Generationsreihe soll das Abbild sein der Zahl am Himmel. Wie die Zahl in den IIimmel eingeschrieben ist, so soll der Generationsreihe eingeschrieben sein die Ordnung der Zahl. Das ist die tiefe Weisheit, die in diesen Worten liegt, die törichterweise übersetzt ist: «Deine Nachkommen sollen sein wie der Sand am Meer.»

So sehen wir also, welchen Sinn diese ganze Mission des Abraham hat. Aber auch sonst drückt sich wunderbar symbolisch aus gleich dieser ganzen Mission dasjenige, was ein Abbild sein soll der Geheimnisse der Welt. Zunächst fragen wir uns das Folgende: Da soll ja geradezu sozusagen hingeopfert werden das, was altes dämmerhaftes Hellsehen ist. Es soll alles das, was von den frühesten Zeiten her begründet war in der Menschheit, hingeopfert werden. Das soll die innerste Gesinnung sein in dieser ganzen Mission, daß alles empfangen wird als eine Gabe von außen. Was entstehen soll, das soll durch die physische Nachkommenschaft entstehen. Durch sie soll diese Mission in die Welt eintreten. Abraham muß dies selbst als eine Gabe von Gott empfangen. Das geschieht dadurch, daß er zuerst aufgefordert wird, seinen Sohn Isaak zu opfern, und dann davon abgehalten wird. Was empfängt er da eigentlich aus der Hand Gottes? Da empfängt er seine ganze Mission. Denn hätte er den Isaak wirklich geopfert, so hätte er seine ganze Mission hingeopfert. Er bekommt sein Volk zurück, indem er den Isaak zurückbekommt. Er bekommt dasjenige, was er eigentlich geben soll der Welt, das empfängt er als Gabe der göttlichen Weltenordnung in Isaak. So ist das Ganze, was auf Abraham

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folgt, ein Geschenk des Gottes selber. Das letzte, was noch vorhanden war an Hellsehergabe - Sie werden später einmal verstehen, wie sich die einzelnen Hellsehergaben wiederum ausdrücken; jede einzelne kann man beziehen auf eines der Sternbilder -, die letzte der Hellsehergaben, die freiwillig hingeopfert worden ist, ist an das Sternbild des Widders geknüpft. Daher sehen wir den Widder bei der Opferung des Isaak. Das ist ein symbolischer Ausdruck der Hinopferung der letzten Hellsehergabe für das Eintauschen dafür der Gabe, nach Zahl und Maß die äußeren Welterscheinungen beurteilen zu können. Das ist diese Sendung des Abraham.

Und wie setzt sich diese Sendung fort? Hingeopfert wird die letzte Hellsehergabe, ausgestoßen muß das werden aus dieser Mission, und wenn es sich noch als Erbschaft zeigt da wird es sozusagen nicht geduldet innerhalb der gerade fortlaufenden Linie. Bei Joseph zeigt sich ein Rückfall. Der hat seine Träume, der hat die alte Hellsehergabe. Die Brüder stoßen ihn aus. Da zeigt sich, wie diese ganze Mission straff gezogen war: Joseph wird ausgestoßen. Er wandert nach Ägypten, um dort gerade jene Verbindung anzuknüpfen, die jetzt notwendig war, die Verbindung mit dem andern Flügel unserer ganzen Kulturentwickelung> mit der ägyptischen Kultur. Joseph hatte in sich vereinigt dasjenige, was allgemeiner Charakter war innerhalb dieser Mission und zugleich Reste des alten Hellsehens. Er hat in Ägypten eine vollständige Umwälzung hervorgerufen dadurch, daß er korrigiert hat die niedergehende ägyptische Kultur im Sinne seiner Hellsehergabe. Er hat seine Gabe in den Dienst äußerer Einrichtungen gestellt. Das ist dasjenige, was der Kulturmission des Joseph in Ägypten zugrunde liegt.

Und jetzt sehen wir ein eigentümliches Schauspiel. Jetzt sehen wir, wie diejenigen, welche die Missionare waren für das äußere Denken nach Maß und Zahl, nicht mehr auf dem früheren Wege sind, wie sie durch Joseph gerade den äußeren Zusammenhang suchen, indem sie das, was sie nicht hervorbringen konnten aus sich selber, im Widerstrahl suchten in Ägypten. Da ziehen sie hin, da nehmen sie das auf - die Nachkommen des Abraham nehmen in Ägypten auf, was sie brauchen. Daher kann es ihnen kommen. Da ziehen sie dann hin. Was nun

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zur Weiterorganisation notwendig ist dieser Mission, das wird, weil es nicht von innen hervorgebracht werden kann, durch die ägyptische Einweihung von außen gegeben. Moses bringt das von außen her entgegen und verbindet die ägyptische Kultur mit dieser besonderen Mission des Abraham. Und nun sehen wir, wie das sich fortpflanzt von Generation zu Generation, was menschliches Erfassen der Außenwelt ist, was Erkennen der Außenwelt nach Maß, Gewicht und Zahl ist. Ein neues Element ist eingetreten. Das verpflanzt sich durch die Blutsverwandtschaft und kann sich nur so fortpflanzen, denn es ist gebunden an das, was sich vererben muß. Das ist die zweite der Strömungen.

Die dritte der Strömungen ist diejenige, die sich anschließt an Zarathustra, ist das, was zum Ausdruck gekommen ist im uralten Persertum und sich weiterverbreitet hat nach Vorderasien, was wir in den verschiedenen Vorträgen schon kennengelernt haben. Diese drei Strömungen sind es, die da zusammenfließen in dem Christus Jesus. Mit allen drei Strömungen mußte die Individualität, die der Christus Jesus ist, zu tun haben. Sie müssen sich in ihm vereinigen. Wie geschieht das? Das geschieht auf folgende komplizierte Weise. Da haben wir uns zunächst einmal zu vergegenwärtigen, daß das eine, was ein- fließen soll in die allgemeine Weltenströmung, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung in Indien sich abgespielt hat. Zu gleicher Zeit ungefähr hat sich auch etwas innerhalb der babylonisch-chaldäischen Kultur abgespielt dadurch, daß Zarathustra wieder erschienen ist unter dem Namen Zarathos oder Nazarathos im alten Chaldäa. Dort hat er als großer Lehrer gerade in der Zeit gelebt und gewirkt, als einige der auserlesenen Lehrer und Führer des althebräischen Volkes in die babylonische Gefangenschaft geführt worden sind, denn da herein fällt auch die Zeit, wo die Juden in die Gefangenschaft geführt worden sind. Da sehen Sie, wie dazumal die erste Berührung stattfand des hebräischen Volkes mit Zarathos und wie das hebräische Volk durch seine Glieder stand unter dem persönlichen Einfluß des wiedergeborenen Zarathustra oder Zoroaster. Da spielten sich die Ereignisse so ab, wie dies in der Bibel geschildert wird. Da geschah folgendes. Im Beginn unserer Zeitrechnung gab es zwei Elternpaare, die

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beide Joseph und Maria hießen. Das eine Elternpaar wohnte in Nazareth, das andere in Bethlehem. Der Mann des einen Elternpaares stammte ab von der salomonischen Linie des Hauses David - das war der Mann des bethlehemitischen Paares. Das andere Elternpaar in Nazareth stammte ab aus der nathanischen Linie des Hauses David. Salomo und Nathan sind die beiden Söhne Davids. - Beide Elternpaare haben einen Sohn bekommen. Dem nazarenischen Elternpaar wird eben der nazarenische Jesusknabe geboren, den das LukasEvangelium schildert, und dem bethlehemitischen Elternpaar wird der bethlehemitische Jesusknabe geboren, den das Matthäus-Evangelium schildert. So daß wir zwei Jesusknaben haben im Beginne unserer Zeitrechnung.

Verfolgen wir den bethlehemitischen Jesusknaben! Wie ist er eigentlich sozusagen als physisches Kind zustande gekommen? Als physisches Kind sehen wir in der physischen Abstammungslinie, die der Schreiber des Matthäus-Evangeliums sehr schön hinaufführt bis zu Abraham, es abstammen aus dieser Linie. Wir müßten den Zug verfolgen von Ur in Chaldäa herüber nach dem Lande Kanaan, dann herüber nach Ägypten und wiederum zurück nach Kanaan. Das würde ungefähr geben den Zug des israelitischen Volkes von Chaldäa herüber nach Palästina, hinüber nach Ägypten und wiederum zurück. Das waren die Vorfahren des bethlehemitischen Jesusknaben. Und indem er das Blut dieser Vorfahren in sich trug, hat er sozusagen diesen Zug durchgemacht. Jene Individualität, welche sich nun verkörpern wollte in diesem bethlehemitischen Jesusknaben, die machte, wenn auch verkürzt, rasch denselben Weg durch. Das war jene Individualität, die als Zarathustra gewirkt hat im alten Chaldäa. So kam in dem Moment, wo der bethiehemitische Jesusknabe geboren war, eine geistige Individualität, die genau die Züge des Abraham zuerst nachmachte geistig von Chaldäa nach Kanaan. Hier wurde sie hineingeboren in den bethlehemitischen Jesusknaben. Dann mußte sie kurz den Zug nachmachen nach Ägypten und wiederum zurück später, bis sie sich in Nazareth niederließ. Da haben Sie die Individualität, die sozusagen geistig den ganzen Zug des Volkes Israel durchmachte. Sie können diesen Zug durchgehen, den Sie geschildert haben in der

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Bibel, und Sie werden finden, daß es stimmt. Die Bibel schildert besser als alle äußeren Urkunden. Was in der Akasha-Chronik zu finden ist für den hellseherischen Blick, das wird durch die Bibel gedeckt: der Zug, den das israelitische Volk durchgemacht hat von Chaldäa nach Kanaan hinüber nach Ägypten und zurück. Und wunderbar sind überall die Parallelen. Wer führt die Juden nach Ägypten? Die Träume eines Joseph führen sie hinüber. Wer führt den bethlehemitischen Jesusknaben nach Ägypten? Die Träume auch eines Joseph, seines Vaters. Bis zu diesen Einzelheiten gehen diese Parallelen. Es ist wiederum eine besondere Hellsehergabe, die geblieben ist, die die Verbindung herstellt.

In diesen bethlehemitischen Jesusknaben wird also hineingeboren, nachdem er empfangen hat das Element, das durch Abraham in die Menschheit gekommen ist durch Vererbung, die Individualität des Zarathustra. Und diejenigen, die in den chaldäischen Geheimschulen verbunden waren mit Zarathustra die verfolgen jetzt den Weg. In der geistigen Welt geht vor ihnen her ihr Stern: Zoroaster selber, der hingeht, um geboren zu werden in Bethlehem. Sie können sie verfolgen, die drei Magier, sie treten auf in der Bibel. Sie kennen ihn, der da lebt im bethlehemitischen Jesusknaben.

Das ist der eine der Jesusknaben, der bethlehemitische. In dem andern Jesusknaben, der nur durch eine Reise eben auch in Bethlehem geboren worden ist, da lebt allerdings nun etwas ganz anderes, da lebt etwas, das sich schon dadurch ankündigt, daß dieser Jesusknabe in allen seinen Eigenschaften anders war als der bethlehemitische Jesusknabe. Der bethlehemitische Jesusknabe zeigt sich von Anfang an als ein außerordentlich über alles Menschenmaß hinausgehend begabter Mensch, denn er hatte eine gewaltige Individualität in sich. Er war begabt für alles dasjenige, was die Menschheit sich an Kulturmitteln bisher erobert hatte. Er zeigte sich für alles, was man aus der Umgebung lernen konnte, außerordentlich begabt. Der nazarenische Jesusknabe war gar nicht begabt für die äußeren Dinge der Kultur. Er hatte nur eine tief, tief gemütvolle Innerlichkeit. Gerade die Eigenschaft des Seelisch-Gemütvollen war in ihm ausgebildet. Er war aber dagegen nicht begabt, um das zu lernen, was äußerlich an Kultur- mitteln

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vorhanden war. Dafür hatte er keine Neigung. Er hatte etwas, wovon sich die Menschen gar keine Ahnung machen können, in bezug auf Unterscheidung von Gut und Böse. Aber es war ihm fremd, was auf der Erde an Kultur entstanden war. Das war aus dem Grunde ihm fremd, weil in ihm etwas geboren worden war, das die ganze Menschheitsentwickelung nicht mitgemacht hatte.

Wir verstehen das, wenn wir uns folgendes überlegen. In der alten lemurischen Zeit hat stattgefunden innerhalb der Menschheit dasjenige, was wir den luziferischen Einfluß nennen. Da haben sich die luziferischen Mächte eingeschlichen in den Astralleib des Menschen. Dadurch ist die Menschheit geworden, was sie geworden ist. Nun mußten dazumal die leitenden Mächte vom Ätherleib des Menschen ein Stück zurückbehalten, damit dieses nicht infiziert wurde von all- dem, was der astralische Leib ihm geben konnte, der unter dem luziferischen Einfluß stand. Es wurde ein Teil des Ätherleibes dem Einfluß des Astralleibes entzogen dadurch, daß der Mensch einen Einfluß nur behielt auf seinen Ätherleib, insofern er ein wollendes und fühlendes Wesen ist, nicht aber in bezug auf alles Denkerische. Das wurde sozusagen zurückbehalten und aus der geistig-göttlichen Welt von oben herunter geleitet. Daher haben die Menschen vom Anfang ihres Erdenwerdens sozusagen ihre individuellen Begierden und persönlichen Gefühle, und sie konnten nicht ihre persönlichen Gedanken haben, auch nicht den Ausdruck der persönlichen Gedanken, die Sprache. Das Denken war ein solches das durch eine durchgehende Geistigkeit bei allen gleich geleitet worden ist. Dadurch denken alle gleich. Aber auch die Sprache wurde von den Volksgöttern wenigstens geleitet, so daß nicht jeder Mensch seine eigene Sprache hat. Dasjenige also, was sich im Sprachgeist ausdrückt, wurde in bezug auf den Ätherleib entrückt der Willkür der einzelnen Persönlichkeit, das wurde zurückgehalten. Was damals in der lemurischen Zeit zurückbehalten worden ist, die Paradiesesmythe erzählt es: Der Mensch hat genossen vom Baum der Erkenntnis, aber nicht vom Baum des Lebens; hat eine eigene Willkür gekriegt in bezug auf das Wollen; aber was damals den Menschen nicht gegeben worden ist, das wurde jetzt durch geheimnisvolle Vorgänge übertragen an diesen Jesusknaben,

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an den nazarenischen Jesusknaben, dessen Ätherleib das war. Da war dasjenige, was der Menschheit im Anbeginn entzogen worden war, und das hinderte den nazarenischen Jesusknaben, Interesse an dem zu haben, was sich die Menschheit erarbeitet hatte an Kultur. Er harte etwas viel Ursprünglicheres, was erinnerte an die Zeit, wo die Menschheit noch nicht in die Sünde der Willkür des einzelnen verfallen war. Das drückt der Schreiber des Lukas-Evangeliums aus dadurch, daß er den Stammbaum bis zu Adam hinaufführt. So daß also in dem nazarenischen Jesusknaben etwas erscheint, was in Adam gesunken war, was dem luziferischen Einfluß entzogen war. Was die Menschheit vor diesem luziferischen Einfluß war, das war in diesem nazarenischen Jesusknaben.

Diese beiden Jesusknaben lebten nebeneinander. Als sie beide zwölf Jahre alt waren, geschah folgendes. Da entschloß sich der Zarathustra in dem bethlehemitischen Jesusknaben, hinüberzugehen mit seiner Individualität in den nazarenischen Jesusknaben. Das wird angedeutet in der Bibel in dem Ereignis, das man nennt das Verlorengehen des zwölfjährigen Jesus, wo da die Eltern erstaunt sind, ihn wiederum zu finden. Er war ganz anders, als er vorher war, der nazarenische Jesusknabe. Jetzt auf einmal hat er Interesse an der äußeren Kultur, weil Zarathustras Individualität in ihm war. Das war in jenem Zeitmoment geschehen, der in der Bibel geschildert ist bei dem Verlorengehen des zwölfjährigen Jesus. Es war noch etwas anderes geschehen. Bei der Geburt des nazarenischen Jesusknaben senkte sich in den astralischen Leib herunter dasjenige, was wir nennen können die spätere Verkörperung des Buddha. Der Buddha in seinem Ätherleib bei seiner Wiederverkörperung war verbunden nun von der Geburt an mit diesem nazarenischen Jesusknaben, so daß wir in der Aura des nazarenischen Jesusknaben im astralischen Leibe den Buddha haben. Das wird im Lukas-Evangelium tiefsinnig angedeutet. Es wird erzählt in der indischen Legende daß es gab einen merkwürdigen Weisen zur Zeit, als der Königssohn Gautama Buddha geboren wurde, der der Buddha werden sollte. Da lebte Asita. Der hatte erfahren, durch seine hellseherischen Fähigkeiten, daß jetzt der Bodhisattva geboren worden sei. Er sah sich den Knaben an im Königsschlosse und war voller

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Enthusiasmus. Er fing an zu weinen. Warum weinest du? - fragt ihn der König. O König, es steht nichts bevor von Unglück etwa, im Gegenteil: derjenige, der da geboren worden ist, der ist der Bodhisattva und wird der Buddha werden. Ich weine, weil ich als alter Mann nicht mehr erleben kann, diesen Buddha zu schauen. - Dann stirbt Asita. Der Bodhisattva wird zum Buddha. Der Buddha steigt herab und vereinigt sich mit der Aura des nazarenischen Jesusknaben, um sein Scherflein beizutragen zu dem großen Ereignis in Palästina. Zur selben Zeit wird durch eine karmische Verknüpfung wiedergeboren der alte Asita. Er wird der alte Simeon. Und dieser sieht jetzt den Buddha, der dieses aus einem Bodhisattva geworden war. Was er damals in Indien, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, nicht hat sehen können, das Buddhawerden, jetzt sah er es, als in der Aura des nazarenischen Jesusknaben, den er auf seinen Armen hält, der Buddha schwebte, und jetzt sagte er das schöne Wort: «Nun lässest du, Herr, deinen Diener in Frieden fahren, denn ich habe meinen Meister gesehen», den Buddha in der Aura des Jesusknaben.

So sehen wir, wie die drei Strömungen zusammenfließen: durch das Blut herunter die Strömung des Abraham, durch die Individualität des bethlehemitischen Jesusknaben die Zarathustra-Strömung, und die dritte Strömung dadurch, daß der Buddha in seinen Ätherleib oder Nirmanakaya herniederschwebt und gesehen wird von den Hirten. So sehen wir diese drei Strömungen zusammenffießen. Und wie diese weiterleben innerhalb des Christentums, wie derjenige, der dann lebt in dem mit der Individualität des Zarathustra begabten nazarenischen Jesusknaben, diese Strömungen weiterführt, kann nur ein anderes Mal dargestellt werden.

Gesagt soll noch werden, daß, nachdem die Zarathustra-Individualität herübergegangen ist in die Persönlichkeit, in den Körper des nazarenischen Jesusknaben, daß da allmählich der bethlehemitische Jesusknabe dahinsiechte und bald starb.

Das Wichtige ist, daß Sie verstehen, wie diese Führung der Zarathustra-Individualität in den Jesusknaben sich vollzogen hat. Sie wissen, daß die Entwickelung des Menschen so vor sich geht, daß von der Geburt bis zum siebenten Lebensjahr die Entwickelung des

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physischen Leibes vor sich geht, vom siebenten bis vierzehnten Jahre die Entwickelung des Ätherleibes stattfindet, die besondere Entfaltung, und daß dann der Astralleib geboren wird. Ein besonderes Ich, eine Egoität, wie sie ja in der lemurischen Zeit geboren wurde im Menschen, war gar nicht im nazarenischen Jesusknaben. Hätte er sich fortentwickelt, ohne daß der Zarathustra hinübergegangen wäre, so hätte kein Ich geboren werden können. Er hatte, was als heilige drei Glieder, wie sie waren vor dem Sündenfall, zusammengefügt worden war: physischer Leib, Ätherleib und Astralleib, und bekam erst da die Begabung mit dem Ich durch den Zarathustra. Das alles gliederte sich in wunderbarer Weise zusammen. In den Evangelien haben wir die Tatsachen widergespiegelt, die in der Akasha-Chronik zu finden sind.

Ich habe nur skizzenhaft erzählen können einzelne Züge des Zusammenströmens dieser großen, gewaltigen Geistes Ströme des Buddha, des Zarathustra und des althebräischen Stromes da in Vorderasien, wo im Beginne unserer Zeitrechnung das Christentum diese drei Strömungen wieder geboren hat. Das sind ein paar Linien, die wir ein andermal fortsetzen können.

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DAS MATTHÄUS-EVANGELIUM UND DAS CHRISTUS-PROBLEM Zürich, 19. November 1909

Es war in den letzten Jahren auch an schweizerischen Orten möglich, über ein hochbedeutsames Thema der Geisteswissenschaft zu sprechen, ein Thema, das für die Geisteswissenschaft im Grunde genommen das Höchste ist: über das Christus-Problem. Und wenn gar vielfach der Mensch der Gegenwart, der durchaus außerhalb der geisteswissenschaftlichen Bewegung steht, glaubt, das sei im Grunde genommen das einfachste Thema, über das gesprochen werden kann, so hat dieser Mensch der Gegenwart von seinem Gesichtspunkte aus recht. Was für die Erd- und Menschheitsentwickelung das Größte ist, die Christus-Kraft, der Christus-Impuls, hat ja gewiß so gewirkt, daß das einfachste, naivste Gemüt ihm irgendwie ein Verständnis entgegenbringen kann. Aber andererseits hat dieser Impuls wiederum so gewirkt, daß keine Weisheit der Erde ausreicht, wirklich zu verstehen, was im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina geschehen ist, geschehen ist für die Menschiieit und im Grunde genommen für die ganze Welt.

Nun ist gerade in den letzten Jahren über das Christus-Problem gesprochen worden, und ich darf vielleicht mit einigen Worten darauf hinweisen, daß die Deutsche Sektion eben ihren ersten siebenjährigen Zyklus vollendet hat. Vor sieben Jahren wurde sie gegründet; dazumal gab es wenige Zweige, kaum zehn. Jetzt ist die Zahi über vierzig angewachsen. Die Zahl 7 wird ja so häufig angeführt, wenn wir von anthroposophischer Weisheit und Weltauffassung sprechen, und eine gewisse Gesetzmäßigkeit drückt sich darin auch aus, so daß in sieben aufeinanderfolgenden Zeitläufen diese Entwickelung geschieht. Wir brauchen nur zu erinnern an das, was wir schon hier gestreift haben, an die Entwickelung unserer Erde; sie geht durch sieben planetarische Zustände hindurch. Auch im Kleinen, für jede einzelne Tatsache der Weltentwickelung wie auch für eine solche Bewegung wie die geisteswissenschaftliche, lebt das Gesetz

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der Zahl 7. Diejenigen, die tiefer hineinsehen in unsere Bewegung, die sehen wohl, daß in einer gewissen Beziehung ganz gesetzmäßig sich abgespielt hat dieser siebenjährige Kreislauf, und wie wir an einem entscheidenden Punkte sind, wo sich das, was vor sieben Jahren als Einschlag gelegt worden ist, auf einer höheren Stufe wiederholt und zu gleicher Zeit in sich selbst wie ein Kreislauf zurückkehrt; was aber nur dadurch geschehen konnte, daß wir wirklich im spirituellen Sinne gearbeitet haben, daß wir nicht willkürlich und zufällig, sondern gesetzmäßig gearbeitet haben.

Da erinnern Sie sich daran, daß wir im Menschen sieben Glieder seiner Wesenheit unterscheiden: zunächst den physischen Leib, den Ätherleib, Astralleib und das Ich; dann entsteht, wenn das Ich wiederum den Astralleib umarbeitet, das Geistselbst oder Manas; wenn es den Ätherleib umarbeitet, entsteht der Lebensgeist oder Buddhi; wenn es endlich den physischen Leib umarbeitet, entsteht das höchste Glied, der Geistmensch oder Atma, so daß wir zunächst unterscheiden vier Glieder und dann drei weitere, die als Umwandlung aus den drei ersteren entstehen.

Will man nun in der Welt irgend etwas durchführen, so daß eine geistige Gesetzmäßigkeit sich darin verkörpert, dann muß überall dieses große Gesetz befolgt werden. Wenn Sie nun gerade als junger Zweig sozusagen in der entsprechenden Art in das spirituelle Leben sich hineinstellen wollen, so ist es gut, zu sehen, wie die Organisation der ganzen Arbeit vorwärtsgekoinmen ist. Denn der junge Zweig wird daran erkennen, daß es notwendig ist, diesen Entwickelungsgang seinerseits nachzuholen, zu befolgen. Wir haben diesen Gang in der deutschen Bewegung genau eingehalten: die vier ersten Jahre haben wir alles das zusammengetragen, was notwendig ist, um überhaupt einen Begriff der Welt> von der die Geisteswissenschaft ausgeht, zu erringen. Da haben wir zunächst die siebengliedrige Natur des Menschen, die Lehre von Karma und Reinkarnation, die großen kosmischen Gesetze, die Saturn-, Sonnen-, Mondentwickelung, die Gesetze des einzelnen Lebenslaufes dargelegt, so daß dieses da ist in unserer Literatur und in verschiedenen Zweigarbeiten. Das geschah in den ersten vier Jahren.

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In den drei letzten Jahren haben wir im Grunde genommen an irgendwie Systematischem nichts Neues gewonnen, sondern haben in das, was in den vier ersten Jahren geleistet worden ist, hineingepflanzt die höheren Weistümer und sind dann aufgestiegen zu der Erfassung der höchsten Individualität, die über unsere Erde geschritten ist, der Individualität des Christus Jesus - was wir nicht gekonnt hätten, wenn es sozusagen hätte geschehen müssen mit lauter unbekannten Vor- stellungen. Wir konnten erst über den Christus sprechen, nachdem gesprochen war über die Natur des Menschen im allgemeinen. Wir konnten nur begreifen, wie diese Christus-Tat geschehen ist, wenn wir die menschliche Natur und ihre ganze Stufenfolge begriffen. Diejenigen, die in Basel die Vorträge über das Lukas-Evangelium gehört haben, und auch die andern, welche hier und da einiges gehört haben, wissen, daß da ganz komplizierte Vorgänge stattgefunden haben. Aber wie hätte nur verstanden werden können, daß zum Beispiel im zwölften Jahre des Lebens eines der Jesusknaben sich Bedeutungsvolles zugetragen hat, wenn wir nicht gewußt hätten, was überhaupt geschieht zwischen dem zwölften bis fünfzehnten Lebensjahr. Systematisch wurde vorgearbeitet, und dann haben wir in tiefer Ehrfurcht vor den größten Wahrheiten unseres Erdenzyklus zu erfassen gesucht, was an den Namen des Christus Jesus sich knüpft. Es war wie ein Hinaufsteigen zu immer höheren Höhen. So ist es gekommen, daß man betrachten konnte den Christus Jesus in Anknüpfung an das Johannes- und an das Lukas-Evangelium. Schon damals in Basel wurde betont, daß niemand glauben solle, daß er, wenn er all die Wahrheiten gehört hat in Anknüpfung an diese beiden Evangelien, dann wisse, welches die Natur und die Wesenheit jener hohen geistigen Wesenheit ist. Von einer Seite nur hat er dies erfahren. Man sollte durchaus nicht glauben, daß es unnötig sei, oder nur wie eine Er- neuerung, die Wahrheit zu hören auch von einer andern Seite. Die Evangelien verhalten sich als Bilder dieses großen Ereignisses, daß jeder Evangelist von einem gewissen Gesichtspunkte aus darstellt, was in Palästina geschehen ist.

Nun habe ich vorgestern in Bern dargetan, was jetzt in verschiedenen Zweigen geschieht. Aus ganz bestimmtem Grunde habe ich in

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Anknüpfung an das Matthäus-Evangelium versucht, skizzenhaft auf den Christus hinzuweisen. Das hat seine ganz bestimmten Gründe. Die Geisteswissenschaft soll eine Lebensauffassung sein, nicht eine Theorie, eine Lehre; sie soll unser innerstes Seelenleben wandeln. Wir sollen lernen, in neuer Weise die Welt anzuschauen. Und da gibt es eine Eigenschaft, die wir uns aneignen müssen, die der Mensch sich immer mehr aneignet, immer mehr erlernt, gerade durch die Weistumer der Anthroposophie. Es gibt für diese Eigenschaft kein richtiges Wort in einer Sprache, aber die Geisteswissenschaft wird das Wort noch finden für diese neue Herzensempfindung. Und bis dahin können wir nur das Wort gebrauchen, das für diese Eigenschaft da ist: demütige Bescheidenheit ist es, was immer stärker in unserer Seele Wurzel fassen soll, insbesondere gegenüber jenen Urkunden, die als Evangelien uns Kunde bringen von jenem bedeutendsten Ereignis der Erdenevolution. Denn da lernen wir, daß wir uns im Grunde genommen nur ganz langsam nähern können den Wahrheiten und Weistümern, die notwendig sind, um das Christus-Problem zu ergründen. Wir lernen eine ganz andere Empfindung in uns ausbilden, als die ist, welche die heutigen Menschen haben, die so schnell fertig sind mit ihrem Urteil über das Ereignis. Wir lernen vorsichtig sein im Darstellen der Wahrheit, und wir wissen, daß wenn wir sie von irgendeiner Seite ins Auge gefaßt haben, wir immer nur eine Seite wahrnehmen, nie die ganze auf einmal.

Damit hängt zusammen - und erst allmählich werden wir ein Verständnis davon erlangen -, warum es überhaupt vier Evangelien gibt. Heute liegt die Sache so, daß selbst die Theologie verstandesmäßig, materialistisch ist, und daß der Verstand, der bloß auf die vier Urkunden angewendet wird, diese äußerlich vergleichen wird. Und da nimmt man dann Widersprüche wahr. Man hat zunächst das eine, das Johannes-Evangelium vorgenommen. Dasjenige, was es so äußerlich für den Verstand darstellt - sagen die Leute -, das widerspricht den drei andern Evangelien so stark, daß man am besten zu einem Verständnis dieses Evangeliums kommt, wenn man sagt, der Schreiber habe nicht wirkliche Begebeniieiten schildern wollen, sondern er habe eine Art von Hymnus, eine Art Bekenntnis wie eine Wiedergabe seiner

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Empfindungen darstellen wollen. Ein großes, umfassendes Gedicht sieht man im Johannes-Evangelium, und damit hat man es abgesetzt vom Rang einer Urkunde. Aber nur der äußere, materialistische Verstand tut dies. Dann hat man die drei andern Evangelien ins Auge gefaßt. Man findet auch da gewisse Widersprüche; man erklärt sie aber damit, daß die Evangelien zu verschiedenen Zeiten geschrieben worden seien. Kurz, die Menschen sind heute auf dem besten Wege, diese Urkunden über das große Ereignis zu zerpflücken, so daß sie gar nichts mehr für die Menschheit zu bedeuten haben. Gerade die Geisteswissenschaft aber ist berufen, zu zeigen, warum wir vier verschiedene Urkunden haben über das Ereignis von Palästina und wiederzuerobern diese Urkunden für die Geisteswissenschaft. Warum sind vier Urkunden vorhanden?

Die Menschen haben nicht immer so gedacht wie heute. Es gab Zeiten, in denen die Evangelien gar nicht in aller Hände waren, sondern nur ganz weniger Menschen, gerade derjenigen, welche die Führung des geistigen Lebens in den ersten Jahrhunderten des Christentums hatten. Warum frägt man sich heute nicht: Waren diese Menschen nicht vollständige Toren, daß sie nicht gesehen haben, daß die Evangelien sich widersprechen? Oder waren sie so benebelt, daß sie diese Widersprüche nicht gesehen haben? - Die Besten ihres Zeitalters nehmen diese Urkunden so hin, daß sie demütig hinaufschauen und froh waren, daß wir vier Evangelien haben, von denen die heutigen Menschen sagen, sie können keine Urkunden sein, denn sie wider- sprächen sich!

Nun, ohne uns weiter damit aufzuhalten, wollen wir darauf aufmerksam machen, wie in den ersten Jahrhunderten des Christentums die Evangelien aufgenommen worden sind, und wie sie aufgenommen werden müssen. So wurden sie in jenen Zeiten aufgenommen, daß man dies damit vergleichen kann: Wenn wir den Blumenstrauß, der hier steht, von vier Seiten photographieren, so erhalten wir vier Photographien. Wenn wir diese einzeln besehen, unterscheiden sie sich voneinander, doch wenn man so eine Photographie betrachtet, kann man sich eine Vorstellung von dem Blumenstrauß machen. Jetzt kommt einer, der nimmt von einer andern Seite eine Photographie

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auf. Da vergleicht man die beiden Bilder und findet: Ja, das sind zwei ganz verschiedene Bilder; sie können nicht dieselbe Sache darstellen. - Und dennoch: man wird dann ein voliständigeres Bild davon haben; und erst wenn man von vier Seiten den Blumenstrauß aufgenommen hat und alle vier Bilder miteinander vergleicht, wird man ein voll- ständiges Bild des wirklichen Blumenstraußes erlangen. - So hat man die vier Evangelien aufzufassen als dieselbe Tatsache von vier verschiedenen Seiten charakterisierend.

Warum wird nun die eine Tatsache von vier verschiedenen Seiten charakterisiert? Weil man wußte, daß ein jeder, der eines dieser Evangelien geschrieben hat, durchdrungen war von einer großen, bescheidenen Demut, einer Demut, die ihm gesagt hat: Dies ist das größte Ereignis der Erdenentwickelug; du darfst gar nicht wagen, es vollständig zu schildern, sondern du darfst nur die Seite schildern, die dir nach deiner Erkenntnis zu schildern möglich ist. - In bescheidener Demut hat der Schreiber des Lukas-Evangeliums darauf verzichtet, irgendeine andere Seite zu schildern als jene, die ihm gerade nahe war vermöge seiner besonderen geistigen Ausbildung, die ihm sagte, der Christus Jesus war diejenige Individualität, in der lebte die größte Entfaltung der Liebe, einer Liebe bis zur Opferung. Als was zeigt sich diese Liebe? Das schildert der Schreiber des Lukas-Evangeliums, und er sagte sich: Ich bin außerstande, das ganze Ereignis zu schildern; daher beschränke ich mich darauf, nur diese Seite, die Liebe zu schildern.

Wir verstehen diese Beschränkung der Evangelienschreiber auf ein besonderes Gebiet nur, wenn wir ein wenig hineinschauen in die Einweihungsart des alten Mysteriendienstes. Nur aus diesem heraus können wir das Verhalten der Evangelisten verstehen. Sie wissen, Einweihung ist die Hinaufführung der Menschen zu den höheren, den übersinnlichen Welten, das Hineinleben des Menschen in die höheren, übersinnlichen Welten, das Aufgehen der Seelenkräfte, das Aufgehen jener Kräfte und Fähigkeiten, die sonst in der Seele schlummernd verborgen sind. Solche Einweihungen hat es immer gegeben. In den vorchristlichen Zeiten bestanden die alten Mysterien der Ägypter und Chaldäer, in denen man die Menschen, die dazu reif waren, hinaufgeführt hat in die höheren Welten. Nur wurde da in einer ganz besonderen

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Weise gearbeitet, in einer Weise, die heute nicht mehr vollständig durchzuführen ist. Der Mensch hat heute, wie Sie wissen, drei Seelenkräfte: das Denken, das Fühlen und das Wollen. Diese drei Seelenkräfte wendet der Mensch im gewöhnlichen Leben an, und zwar so wendet er sie an, daß sie sozusagen bei seinem Verkehr mit der Außenwelt alle drei rege sind, sich beteiligen.

An einem Beispiel soll klargemacht werden, wie diese drei Seelenkräfte sich betätigen. Sie gehen über eine Wiese. Sie sehen eine Blume. Sie machen sich eine Vorstellung darüber: Sie denken. Die Blume gefällt Ihnen: Sie fühlen, die Blume ist schön; an das Denken hat sich das Gefühl angeschlossen. Und dann begehren Sie die Blume zu pflücken: Sie betätigen damit das Wollen. So war in Ihrer Seele tätig das Denken, das Fühlen und das Wollen. Und nun überschauen Sie das ganze Leben des Menschen: insofern es Seelenleben ist, ist es ein Durcheinanderspielen von Denken, Fühlen und Wollen. Und der Mensch kommt durchs Leben dadurch, daß diese drei Kräfte ineinanderspielen. Die Seele lebt im Denken, Fühlen und Wollen.

Wenn der Mensch hinaufgeführt wird in die höheren Welten, so ist dies eine Ausgestaltung dieser drei Kräfte, so wie sie im gewöhnlichen Leben sind. Man kann das Denken höher hinaufentwickeln, so daß es zum Schauen wird. Und so kann man auch das Fühlen und Wollen in die geistige Welt hinaufheben. Darin besteht die Einweihung.

Diejenigen, welche sich etwas umgeschaut haben in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», werden gelesen haben, was da vorgeht, wenn ein Mensch das Denken, Fühlen und Wollen hinaufentwickelt in die geistigen Welten. Es tritt das ein, was man nennt « Spaltung der Persönlichkeit». Die drei Kräfte sind gewöhnlich Organisch verbunden: der Mensch denkt, fühlt und will in einer Persönlichkeit. Bei der Entwickelung in die höheren Welten hinauf reißen diese drei Kräfte aber auseinander. Während sie sonst Kräfte sind, werden sie nun zu selbständigen Wesenheiten, wenn der Mensch sich hinaufentwickelt in die höheren Welten. Es entstehen drei selbständige Wesenheiten: eine denkerische, eine fühlende und eine wollende Wesenheit. Darin besteht das, was man die Gefahr nennt, daß der

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Mensch in seinem Seelenleben auseinandergerissen werden könnte. Wenn der Mensch nicht in der richtigen Weise vorgeht bei Beschreitung des Pfades der höheren Erkenntnis, so kann es vorkommen, daß er sein Denken in die höheren Regionen erhebt. Dann sieht er wohl hinein in die höheren Welten, aber er bleibt dabei stehen; das Wollen kann er ertöten, oder es kann ganz andere Wege gehen. Heute tritt das ein, daß das Ich über sich selbst hinaussteigt, daß das Ich Herrscher werden kann, daß es als König regieren kann über die drei Seelenkräfte, nämlich über Denken, Fühlen und Wollen.

Im Altertum war dies nicht der Fall. In den vorchristlichen Mysterienstätten herrschte der Grundsatz der Teilung der Arbeit. Man hat da zum Beispiel einen Menschen in die Einweihungsstätten aufgenommen Und hat gesagt: Dieser Mensch ist besonders geeignet, die denkerische Kraft auszubilden. - Man hat dann sein Denken ausgebildet, auf die höhere Stufe gehoben; man hat ihn zum Weisen gemacht, der die geistigen Zusammenhänge, die hinter allem sinnlich Geschehen- den sind, durchschaut. Das war die eine Kategorie der Eingeweihten aus den alten Mysterienstätten: die Weisen.

Andere Menschen hat man in den Mysterienstätten so ausgebil`det, daß man die in ihnen schlummernden Kräfte des Fühlens höher entwickelte, das Denken und Wollen dagegen auf dem ursprünglichen Standpunkt gelassen hat. Das Fühlen also wurde hinaufgehoben. Wenn bei einem Menschen das Fühlen ganz besonders entwickelt wird> erlangt er dadurch besondere Eigenschaften. Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Menschen, dessen Fühlen in einer alten Mysterienstätte so entfaltet worden war und einem Menschen der heutigen Zeit. Der Einfluß eines so entwickelten Menschen, der seelisch-psychische Einiluß war viel stärker, als dies heute der Fall ist. Diese Entwickelung der Kräfte des Fühlens bewirkte, daß die Seele eines solchen Menschen auf die Seele seiner Umgebung einen gewaltigen Einfluß nehtnen konnte. Dadurch wurden diejenigen, welche besonders die Sphäre des Fühlens ausgebildet hatten, die Heiler ihrer Mitmenschen. Indem sie durch den Opferdienst das Fühlen ausgebildet hatten, wurden sie berufen, gesundend auf die andern Menschen zu wirken.

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Die dritte Stufe der Eingeweihten waren jene, bei welchen das Wollen ausgebildet wurde. Das waren die Magier. So hatte man dreierlei Eingeweihte: die Magier, die Heiler und die Weisen. Das waren Menschen, die in den Mysterienstätten des Altertums ihre Ausbildung erhielten. Heute würde es nicht mehr möglich sein, bei dem Charakter der Menschen einseitig die eine dieser Eigenschaften auszubilden, weil heute ein so hoher Grad von Harmonie zwischen den einzelnen Menschen herzustellen nicht mehr möglich ist, wie damals in den Mysterienstätten. Es hat derjenige, der ein Weiser in den alten Mysterienstätten war, entsagungsvoll sozusagen darauf verzichtet. So verhält es sich. Der ein Heiler war, hat die Anweisungen des Weisen mit dem größten Gehorsam ausgeführt, hat auf die höhere Weisheit verzichtet, hat seine Gefühlskräfte verwendet nach Anweisung dessen, der ein Weiser ist.

Daneben gab es noch eine vierte Kategorie von Menschen in den Mysterienstätten. Diese waren notwendig. Es gab nämlich Fälle in diesen Stätten, wo es nicht möglich war, daß die drei Kategorien von Eingeweihten das Richtige getroffen hätten, um in der Außenwelt zu wirken. Manche Dinge waren nicht zu machen durch den Eingeweihten einer dieser drei genannten Kategorien, sondern nur dadurch, daß noch eine vierte Kategorie von Menschen da war. Diese bestand darin, daß man gewisse Individualitäten, die dafür geeignet waren, herein- genommen hat in die Mysterienstätten und sich sagte: Jene hohen Grade der Einweihung, die man bei den Weisen, Heilern und Magiern entwickeln kann, können bei den Menschen dieser vierten Kategorie nicht entwickelt werden. Aber man konnte bei ihnen so weit gehen, daß man jede einzelne Fähigkeit der drei andern Kategorien bis zu einem gewissen Grade emporhob. Keine Fähigkeit war so stark ausgebildet wie bei den einseitig ausgebildeten Eingeweihten, die Weise, Heller oder Magier waren; aber dafür war eine gewisse Harmonie aller drei Eigenschaften in diesem vierten da. Solch ein Eingeweihter stellt in sich selbst die Harmonie der drei andern Eingeweihten dar. Und nun ist für gewisse Verrichtungen das notwendig, daß man sich begibt aller eigenen Individualität und gerade auf das Wort desjenigen baut, der in gewisser Beziehung unter einem steht. So daß es Fälle gab in den alten Mysterienstätten, wo weder die Weisen noch die Heller

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oder die Magier entschieden haben, sondern nur ihre Kräfte in den Dienst der Vierten stellten, die nicht so weit waren wie sie. Dennoch haben sie ihre Kräfte in den Dienst dieses vierten Eingeweihten gestellt. Dabei stellte sich immer heraus, daß die Weltenentwickelung besser vorwärtskommt, wenn der Höhere in solchem Falle gehorcht hat dem Niederen.

Das war in den orientalischen Mysterienstätten der Fall, daß die Höherstehenden ihre Kräfte so anwendeten, wie der vierte es anordnete, dem sie blind gehorchten. In den Mysterienstätten Europas gab es Kollegien von zwölf, die eingeweiht waren, und an der Spitze derselben stand ein Dreizehnter, der nicht eingeweiht war; dem gehorchten sie. Was geschehen sollte, sollte er angeben. Er verließ sich auf seinen instinktiven Willen, und die andern, die höher standen als er, führten das aus, was er ihnen angab. Das können Sie nur verstehen, wenn Sie zurückblicken auf jene Zeiten, wo noch ein hohes Vertrauen war zu einer Wesenheit in der Welt, die nicht gebunden war an menschliches Denken und Wollen. Heute hält der Mensch sich für das gescheiteste Wesen in der Welt. Das war aber nicht immer so. Es gab Zeiten, wo der Mensch sich gesagt hat: Ja, eigentlich ist es wahr, daß ich mich entwickeln kann zu hoher Stufe. Die Fähigkeit dazu habe ich, aber daß ich gerade jetzt schon das in der Entwickelung weitest vorgeschrittene Geschöpf in der Welt bin das darf ich nicht annehmen.

Daß dies eine Wahrheit ist, können wir uns an einem einfachen Beispiel klarmachen. Erinnern wir uns, daß die Menschen erst im Laufe der geschichtlichen Entwickelung nach und nach das Papier erfunden haben, nämlich jene Betätigung, durch die gewisse Substanzen zu Papier geformt werden. Die Wespe hat dies schon lange gekonnt! Nun müßte sich der Mensch sagen: Ich mußte mir mein Wissen erst in verhältnismäßig später Zeit aneignen. Vom Menschen kann die Wespe ihre Kunst nicht gelernt haben, in ihrem Können waltet göttliche Kunst. In dem, was die Wespe tut, wird sie durchwirkt von göttlicher Weisheit.

Von ähnlichen Empfindungen waren beseelt solche Eingeweihte, die sich zu zwölft zusammentaten in den vorchristlichen Zeiten. Sie sagten sich: Gewiß, wir haben hohe Kräfte in uns entwickelt, aber mit

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all unseren Kräften und Fähigkeiten erreichen wir erst das, was auf einer niedrigeren Stufe in weniger entwickelten Individualitäten vorgezeichnet ist von höheren göttlichen Wesenheiten. - Sie blicken auf einen Dreizehnten, der auf einer im Vergleich zu ihnen kindlichen, naiven Stufe stehengeblieben war. Sie sagten: Der hat nicht menschliche Weisheit in sich wie wir, sondern er ist noch durchdrungen von göttlicher Weisheit. - Auch die orientalischen Weisen, Heiler und Magier sagten: Wir folgen demjenigen, der noch nicht so weit ist wie wir, sondern der auf einer Stufe steht, wo er noch die göttliche Weisheit in sich hat. - Diese Entsagung war über den alten Mysterien, die das gewußt haben, wie ein Zauberhauch ausgebreitet. Und nun werden Sie sich an das Gedicht von Goethe «Die Geheimnisse» erinnern wo ein Dreizehnter eingeführt wird, der Bruder Markus, in den Kreis von bedeutsamen Männern. Hier haben wir eine Erscheinung, die tief begründet ist in der Menschennatur, wenn sie auch dem heutigen Menschen fernliegt, darin bestehend, daß ein Eingeweihter der vierten Kategorie, der nicht durch Entwickelung der eigenen Kräfte so hoch kommt wie die andern, doch so angesehen wird, daß er die andern Zwölf leitet.

Wir haben also vier Arten von Eingeweihten: Heiler, Weise, Magier und die vierte Art, die man im besonderen Sinne nannte «Mensch». Vier solche Eingeweihte haben sich daran gemacht, das größte Ereignis der Erdenentwickelung zu schildern: ein Weiser, ein Heiler, ein Magier und ein Mensch in dem Sinne des Eingeweihten der vierten Kategorie. Einer beschrieb es vom Standpunkt des gewöhnlichen Menschen einer ist der Magier, der vorzugsweise die Willenskräfte der Natur des Christus ins Auge gefaßt hat und sie in sein Evangelium hineingeheimnißt hat, ein Heiler, der das Lukas-Evangelium geschrieben hat. Daher finden Sie gerade die Tradition, in der Lukas als Arzt aufgefaßt wird, und das entspricht auch den Tatsachen, daß Lukas in opferfähiger Liebe den Mitmenschen beisteht. Dann ein Weiser, der das geschrieben hat, was die weisheitsvolle Natur des Christus ausmacht.

Das sind die vier Eingeweihten, die, verzichtend darauf, das Ganze zu beschreiben, sich sagten: Wir können nur das schildern, was unserer

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Seele naheliegt. Allerdings nimmt sich die demütige Bescheidenheit dieser vier Menschen, die darauf verzichtet haben, das ganze Bild des Christus zu geben, sondern nur das, was sie sehen können, schauen können nach ihrer besonderen Individualität, als etwas Hohes, Gewaltiges aus gegenüber dem Bewußtsein des heutigen Menschen, der gar nicht daran zweifelt, daß er auch die höchsten Dinge allseitig mit seinem Verstande umfassen kann.

Nachdem in Basel einmal zwei Seiten dieses gewaltigen Ereignisses bereits von mir beleuchtet worden sind in den Vorträgen über das Lukas- und Johannes-Evangelium, soll heute einiges über das Matthäus-Evangelium hier gesprochen werden. Wir könnten ebensogut an das Evangelium nach Markus anknüpfen. Aber es bestehen gewisse Gründe, warum von mir, nachdem ich übernommen habe, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus ein wenig dieses große Ereignis zu schildern, warum von mir nach dem Lukas- und dem Johannes-Evangelium nunmehr das Matthäus-Evangelium gewählt wird. Der Grund, warum das geschieht, liegt darin, daß man ein Gefühl erhalten soll dafür, wie man sich in demütiger Bescheidenheit dem Verständnis dieses Weltereignisses nähern soll. Wir lernen große Wahrheiten kennen im Lukas- und im Johannes-Evangelium. Dasjenige aber, was uns im Markus-Evangelium entgegentritt, das ist zum Teil so erschütternd, daß, wenn man noch nicht die verschiedenen Dinge, die an das Matthäus-Evangelium anknüpfen, gehört hat man sozusagen glauben würde, daß tiefgehende Widersprüche seien zwischen dem Markus-Evangelium und den andern Evangelien. Man würde nicht mit dem Markus-Evangelium zurechtkommen, denn in diesem Evangelium werden die größten, die erschütterndsten Wahrheiten der Welt mitgeteilt; nicht die höchsten, diese sind ja im Johannes-Evangelium enthalten. Daher werde ich heute über das Matthäus-Evangelium sprechen.

Wir haben in der Betrachtung des Lukas-Evangeliums gesehen, daß die verschiedensten geistigen Strömungen, die in der Welt vorhanden waren, sich zusammenergossen haben, um einen gemeinsamen Strom zu bilden in der Zeit, in der das Christus-Ereignis sich abspielte. Es ist dargestellt worden, wie auf der einen Seite die Lehre

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von Mitleid und Liebe von dem Buddha hineinströmt in das Christentum; und auf der andern Seite ist gezeigt worden, wie die Lehre des Zarathustra in das Christentum eingeströmt ist. Aber auch alle vor- christlichen Geistesströmungen sind in dieses bedeutsame Ereignis hineingeflossen. Und im Matthäus-Evangelium zeigt sich besonders, wie die althebräische Geistesströmung, die Geistesströmung des alten Judentums, hineingeflossen ist, sodaß man, um das Matthäus-EvangeIium zu verstehen, sprechen muß von der eigentlichen Sendung des alten jüdischen Volkes.

Sie wissen ja, daß die Geistesforschung nicht nur aus den Evangelien schöpft, sondern aus der geistigen Welt, aus der unvergänglichen Akasha-Chronik. Wenn durch irgendeine Erdkatastrophe alle Evangelien zugrunde gegangen wären, so würde das, was die Geistesforschung zu sagen hat über das Ereignis von Palästina, doch gesagt werden können. Wenn wir das haben aus den reinen Quellen, die der Geistesforschung zur Verfügung stehen, dann vergleichen wir es mit den großen Urkunden, den Evangelien, und da zeigt sich dann jene wunderbare Übereinstimmung, die uns eine große Ehrfurcht vor den Evangelien einflößt, auf die wir hinblicken, und bei denen uns klar wird, von welcher hohen Quelle sie herrühren müssen. Denn die Schreiber der Evangelien sagen uns, was wir nur dann verstehen, wenn wir geschult sind mit dem Blicke, den die Geisteswissenschaft uns gibt.

Welches ist die Sendung des hebräischen Volkes? Um das zu begreifen, müssen wir etwas zurückblicken auf den Gang der Menschheitsentwickelung. Sie wissen, daß das, was heute menschliche Fähigkeiten sind, sich entwickelt hat. Daß diese menschlichen Fähigkeiten sich von selbst entwickelt haben, das glaubt heute nur die materialistische Wissenschaft, die nicht weiter sieht als bis zur Nasenspitze. Höchstens glaubt sie noch> daß die Menschheit sich aus der Tierheit heraufentwickelt hat, aber sie ist nicht in der Lage, zurückzugehen auf wirkliche Seelenfähigkeiten. Die Geisteswissenschaft weiß aber, daß die Seelenfähigkeiten vor Jahrtausenden andere waren als heute. So hatten die Menschen in alten Zeiten das, was man ein dumpfes, dämmerhaftes Hellsehen nennt. In späteren Zeiten erst hat sich aus die- sem Hellsehen nach und nach herausgeboren das heutige Tagesbewußtsein;

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und diese Entwickelung hat begonnen von einem ganz bestimmten Zeitpunkt an, wo diese Art von Vorstellungsvermögen in die Menschheit eingegriffen hat.

Wenn wir zurückblicken in die altindische Kultur, so finden wir dort eine Art von Hellsehen. Der heutige Mensch muß die Dinge, die um ihn herum sind, ansehen, wenn er sie kenneniernen will. In der Art, wie er die Dinge nun sich ansieht, lernte der alte Inder sie nicht kennen. Eine Wissenschaft, wie sie heute schon dem Kinde gelehrt wird, gab es damals nicht. Wer ein Weiser war im alten Indien, der bekam sein Wissen durch innere Eingebung dann, wenn er sein Inneres völlig abwandte von der äußeren Welt, wenn er ruhte in sich selber oder in seinem höheren Sein. Das nannte er seine Vereinigung mit Brahma. Er erhielt also das Wissen durch innere Eingebung. Es war ein durchaus auf hellseherischer Eingebung beruhendes Wissen. Dagegen war äußeres Wissen für ihn Maja.

Immer mehr aber trat dieses Hellsehen zurück. Schon in der urpersischen Kultur war ein starker Beisatz von äußerer Beobachtung, wenn auch das innere Wissen sich noch geltend machte. Ebenso war in der dritten Kulturepoche noch innere Eingebung vorhanden, wenn auch die Menschen schon weitergekommen waren im Erfassen der äußeren Dinge. Im alten Chaldäa war das vorhanden, was man heute Astrologie nennt; es war eine Art von Sternenwissenschaft. Heute weiß in der äußeren Wissenschaft kein Mensch etwas über das Wesen der Astrologie. Heute, wenn Sie noch so genau die steinernen Urkunden befragen, wissen Sie über das eigentliche Wesen der Astrologie gar nichts. Kein Mensch kann heute das Gefühl hervorrufen für das, was dem alten Chaldäer die Astrologie war. Sie war kein Wissen, das durch Beobachtung des Sternenhimmels geboren war. Nicht den physischen Planeten Mars studierte der Chaldäer, indem er den Blick zu ihm hinaufwandte, sondern was man von ihm kennenlernte, indem man innerlich das hellsichtig eingegebene Wissen aufleuchten ließ. Das ist kein äußerliches Kombinieren, und gar nicht besteht volles Bewußtsein von dem, was dieses Wissen über den äußeren Himmelsraum kundgibt. In den alten Einweihungsstätten entstanden gerade die ersten Begriffe vom Wissen von der Sternenwelt. In dem, was da

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mitgeteilt wird über die Entwickelung der Erde und die Zusammen- hänge der Erde mit Mars und so weiter, haben wir noch immer ein von innen herausgeborenes Wissen. Ebenso war die ägyptische Geometrie ein von innen herausgeborenes und nur auf die äußere Feldmessung angewendetes Wissen. Dem alten Chaldäer sollte es erst mÖglich werden, durch Entfaltung anderer Kräfte zu dem äußeren Wissen zu gelangen. Diese Mission, die Menschheit zu einem äußerlichen, kombinierenden Wissen zu bringen, wurde von den geistigen Führern der Weltenevolution dem hebräischen Volke zugewiesen. All das Wissen der Inder, der Perser, der Chaldäer, der Ägypter, so bedeutungsvoll es war, man brauchte zu dem kein physisches Gehirn.

Man hat dieses Wissen in dem nicht an das physische Gehirn gebundenen Ätherleib, der frei funktioniert. Wenn der Mensch sich frei im Ätherleib betätigt, dann entsteht das Bild, welches das Wissen jener alten Völker ausmacht; wie ja auch heute noch jedes hellseherische Wissen dann entsteht, wenn der Mensch imstande ist, den Ätherleib aus dem physischen Leib herauszuheben, nicht seines physischen Gehirns sich zu bedienen.

Die Menschheit sollte die Fähigkeit erlangen, durch ihr Gehirn wahrzunehmen. Zu diesem Zwecke mußte nun die Persönlichkeit auserlesen werden, die das geeignetste Gehirn hatte, die am wenigsten veraniagt war zu hellseherischen Eingebungen, die aber das Gehirn gebrauchen konnte. Hier haben wir wieder einen der Punkte, wo das Lesen der Akasha-Chronik die Tatsachen der Bibel bestätigt. Das, was in der Bibel steht, ist bis auf den Buchstaben richtig. In der Tat war eine Persöniichkeit auserlesen worden, die durch ihre physische Organisation das geeignetste Gehirn hatte, um das zu begründen, was ein geistiges Arbeiten mittels des Gehirns ermöglichte. Diese Persönlichkeit war Abraham. Er wurde ausersehen> jene Mission zu erfüllen, welche die Menschen dahin bringen sollte, durch ihr physisches Gehirn die Außenwelt wahrzunehmen. Es war eine Persönlichkeit, die am wenigsten geeignet war, irgendeine Eingebung zu haben, die aber logisch nach Maß, Zahl und Gewicht die äußeren Erscheinungen erforschte. Eine ältere Tradition betrachtet den Abraham als den Erfinder der Mathematik, und sie hat mehr Recht als die heutige äußere Welt ahnt.

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Nun handelt es sich darum, daß diese Mission in der richtigen Weise eingeführt wird in die Welt. Bedenken wir einmal, wenn früher eine Mission einer Persönlichkeit übertragen wurde, wie wurde sie dann in der Menschheit fortgepflanzt? Sie wurde vom Lehrer auf die Schü1er übertragen. Wer eine Eingebung hatte, der vermittelte sie dem Nachfolger. Das aber, was dem althebräischen Volke übertragen wurde, war an ein physisches Werkzeug gebunden, das nicht einfach auf den Nachkommen übergehen konnte, wenn der nicht das hierzu geeignete Gehirn hatte. Daher mußte es an die physische Vererbung gebunden werden, mußte sich durch Generationen hindurch vererben. Es mußte sich an Abraham anschließen nicht eine Schülerschar, sondern ein Volk, auf das durch Generationen hindurch dieses Gehirn vererbt werden konnte. Daher wurde Abraham der Stammvater seines Volkes.

Es ist wunderbar, wenn man aus der Bibel sieht, wie die führenden geistigen Mächte an Abraham diese Mission übertragen haben. Was sollte durch die Mission des Abraham der Menschheit gegeben werden? Das sollte wiedergefunden werden, was man früher gewußt hatte durch Eingebung; das sollte jetzt durch bloße Kombination auf einer andern Stufe wieder errungen werden. Dadurch mußte das, was durch die Kombination gefunden war, nachgebildet werden dem Gesetz. Daher sagte Jahve: Diese Mission soll ein Bild sein höchster Gesetzmäßigkeit, die wir kennen. - Er sagte: Deine Nachkommenschaft soll so organisiert sein wie die Zahl der Sterne am Himmel. - Es ist ein vollständiger Irrtum, wenn diese Stelle der Bibel so übersetzt wird, als ob Jahve gesagt hätte, die Nachkommen des Abraham sollen so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel, sondern gesetzmäßig sollen sie sich fortpflanzen, so daß sich die Gesetzmäßigkeit ausdrückt wie die Gesetzmäßigkeit des Firmamentes.

Abraham hatte einen Sohn Isaak, einen Enkel Jakob. Wir sehen, wie von diesem abstammen die zwölf Stämme des Judenvolkes. Diese zwölf Stämme sind eine Nachbildung der Gesetzmäßigkeit der zwölf Tierkreiszeichen. An Abraham sollte eine neue Volksorganisation angeordnet sein wie die Sterne am Himmel. So sehen wir, wie die Geisteswissenschaft aus den Urkunden der Bibel herausholt den wirklichen

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Sinn, und da bekommen wir eine richtige Vorstellung von die- sem tiefsten Dokumente der Menschheit. Verzichtet sollte werden auf das, was das alte Hellsehen ist. Nicht mehr sollte das Dasein sich so abspielen, daß man den Blick abgewendet hält von der Außenwelt, sondern der Blick des Menschen sollte die Außenwelt durchdringen, durchforschen. Aber diese Mission war ein Geschenk, das der Menschheit von außen werden sollte. Abraham hatte die Mission, fortzupflanzen die Fähigkeit des Gehirns auf seine Nachkommen. Es sollte ein Geschenk sein, und so sehen wir, daß Abraham das ganze jüdische Volk als ein Geschenk erhält. Was hätte eine geistige Macht dem Zarathustra schenken können? Eine Lehre, etwas einseitig Geistiges; dem Abraham aber mußte geschenkt werden sein Volk, ein reales, auf die Fortpflanzung des physischen Gehirns begründetes Geschenk. Wie wurde ihm dieses Volk geschenkt? Indem er bereit war, seinen Sohn hinzuopfern. Hätte er das getan, so hätte es kein jüdisches Volk gegeben. Indem er zurückbekam seinen Sohn, bekam er das ganze jüdische Volk als eine Gabe von außen geschenkt. In dem Augenblicke, da Abraham zurück erhält den Isaak, den er opfern sollte, bekommt er das ganze jüdische Volk, seine Nachkommenschaft als Gabe zurück. Das ist ein Geschenk des Jahve an Abraham. Und da wurde auch die letzte der Hellsehergaben hingegeben. Die einzelnen Hellsehergaben gliedern sich so, daß es deren zwölf sind, und sie werden bezeichnet mit den zwölf Sternblldern, denn es sind ja Himmels- gaben. Die letzte dieser Hellsehergaben wurde von Abraham hin- geopfert, um das israelitische Volk geschenkt zu bekommen. Der Widder, den Abraham anstelle seines Sohnes opfert, ist das Abbild der letzten der Hellsehergaben. Damit hat das jüdische Volk die Mission erhalten, das Kombinationsvermögen zu entfalten, die Welterscheinungen durch die eigenen Fähigkeiten, die im Gehirn enthalten sind, kennenzulernen bis in eine gewisse Einheit hinein, die als Jahve vorgestellt wird. Und so genau nimmt es diese Mission, daß aus dem jüdischen Volke ausgeschieden wird, was sich als Erbstück der früheren Wahrnebmungsart noch findet, nämlich das alte Hellsehen. Joseph hatte noch Träume von der alten hellseherischen Art. Er verwendet noch das alte Hellsehen; aber er wird ausgestoßen aus der Gemeinschaft,

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weil das jüdische Volk die Mission hat, diese alte Fähigkeit des Hellsehens von seiner Entwickelung auszuscheiden. So wird Joseph weggeschickt. Dadurch aber wird er der Vermittler zwischen dem jüdischen Volke und dem, was es aufnehnien muß, um seine Kulturmission auszuführen. Die Söhne Abrahams hatten darauf verzichtet, von innen heraus Eingebungen zu erhalten; so mußten sie das, was sonst diesen Eingebungen verdankt wird, was sonst als Kunde von innen erlangt wird, von außen empfangen. Als sie nach Ägypten hinübergeführt werden, da bekommen sie es durch Moses, sie, die jetzt die Missionare sind des äußeren physischen Denkens. Das, was die andern Völker durch Eingebung erhalten haben, das bekommen sie jetzt von außen als Gesetz. Es ist in der Tat so, daß das, was wir die Zehn Gebote nennen, dasselbe ist, was die andern Menschen durch innere Eingebung erlangt haben. Die Juden empfangen von Ägypten her durch Moses als Gebote von außen das, was eigentlich himmlische Eingebungen sein sollten.

Nachdem dieses Volk die Eingebungen von Ägypten erhalten hat, siedelt es sich in Palästina an. Dieses Volk war berufen, aus sich heraus den einen Träger des Christus zu gebären. Diese Eigenschaften, welche sich von Generation zu Generation vererbten, sollten herstellen die Leiblichkeit des Jesus; deshalb müssen sich summieren alle die Fähigkeiten, die in Abraham in erster Anlage da waren. Das ganze Judenvolk muß reifen, sich so weit entwickeln, daß das, was in Abraham als Arrlage vorhanden ist, in einem Nachkommen auf die höchste Spitze gebracht wird. Um dies zu verstehen, müssen wir einen Vergleich ziehen mit der Entwickelung eines einzelnen Menschen. In den ersten sieben Jahren ist es vorzugsweise der physische Körper, der sich entwickelt. Vom siebenten bis vierzehnten oder fünfzehnten Jahr> also im zweiten Lebenszyklus, ist es der Ätherleib, der sich entwickelt, dann der Astralleib; dann erst kommt das Ich heraus. Was zuerst als Anlage vorhanden ist, das kommt erst dann heraus, wenn diese drei Leiber sich entwickelt haben. Auch für ein ganzes Volk ist dies zutreffend. Die Abraham-Aniage mußte sich erst in den physischen, Äther- und Astralleib eingliedern, dann konnte sie erst vom Ich aufgenommen werden. Wir müssen die Entwickelung des Judenvolkes

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auf drei Epochen verteilen. Was beim einzelnen Menschen sich auf sieben Jahre erstreckt, das ist bei einem Volke auf sieben Generationen verteilt. Oder, Sie wissen, daß in den vererbten Eigenschaften nicht so sehr der Sohn dem Vater, sondern dem Großvater gleicht. Daher sind eigentlich zwei mal sieben, also vierzehn Generationen nötig> um das innerhalb eines Volkes heranreifen zu lassen, was beim einzelnen Menschen zwischen Geburt und Zahnwechsel sich entfaltet. Vierzehn Generationen entwickelten die Eigenschaften, die in Abraham im physischen Leib veraniagt waren; vierzehn weitere Generationen im Ätherleib und vierzehn weitere im Astralleib. Dann erst war die Möglichkeit gegeben, einen solchen Menschen heranreifen zu lassen, wie er gebraucht wurde von der Christus-Wesenheit.

Dies schildert Matthäus im ersten Kapitel seines Evangeliums, indem er sagt, daß von Abraham bis auf David vierzehn Glieder, von David bis auf die babylonische Gefangenschaft vierzehn, und von da bis Jesus vierzehn weitere Generationen, also drei mal vierzehn oder sechs mal sieben Generationen verffleßen mußten. Diese tiefen Weisheiten hat der Schreiber des Matthäus-Evangeliums seinem Buche zugrunde gelegt. Das, was in Abraham als seine bestimmte Mission war, sollte auch einfließen in den Leib des Christus Jesus; aber nur durch die Generationenfolge in gesetzmäßiger Weise durfte dies geschehen. Dann konnte dieses Jesuskind, das sich durch zweiundvierzig Generationen von Abraham herleitete, die Mission des Stammvaters vollenden. Matthäus schildert uns eben die wunderbare Gesetzmäßigkeit, mit der dies geschah.

Wenn ein Entwickelungszyklus voll ist, so muß eine kurze Wiederholung der früheren Tatsachen auf einer höheren Stufe stattfinden, und in der Tat finden wir im Matthäus-Evangelium diese Wiederholung in wunderbarer Weise geschildert. Abraham kommt aus Ur in Chaldäa, wandert nach Kanaan dann geht er nach Ägypten und wiederum zurück nach Kanaan. Das ist seine Wanderung. Der wiedergeborene Zarathustra war sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung als ein großer Lehrer der chaldäischen Mysterienschulen inkarttiert unter dem Namen Zarathos. Das war seine letzte Inkarnation, bevor er in Jesus wiedergeboren wurde. Nun geht er denselben Weg,

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den Abraham herkam. Ungefähr von derselben Stelle geht er aus, von der aus Abraham seine Wanderung angetreten hat. Und er folgt in der geistigen Welt auch die Strecke, die Abraham gezogen war, bis nach Bethlehem. So wird der Weg, den Abraham physisch zurückgeiegt hat, von Zarathustra geistig genommen. Und die Nachfolger derjenigen, die vor sechshundert Jahren seine Schüler waren, die folgen ihm wieder in dem Stern, der ihnen den Weg nach Bethlehem zeigt. Sie schreiten den Weg ab, den Zarathustra geht, um sich zu inkarnIeren. Dann ist er dort angekommen und in Kanaan wiedergeboren.

Wir sehen im Alten Testament einen Joseph, der infolge eines Traumes nach Ägypten geführt wird; jetzt sehen wir wiederum einen Joseph, der infolge eines Traumes physisch nach Ägypten geführt wird. Und dann wird der Knabe physisch dahin zurückgeführt, wo das jüdische Volk auf den Erlöser harrt. Auch das alte jüdische Volk erhielt aus Ägypten von Joseph die Nahrung in der Zeit der Hungersnot. Ziehen Sie auf einer Karte denselben Weg, den die Magier genommen haben; vergleichen Sie ferner den Weg, den Joseph, der Sohn des Jakob, nach Ägypten geführt wurde, mit jenem, den das salomonische Jesuskind zurückgelegt hat, so werden Sie finden, daß die entsprechenden Wege sich ziemlich genau decken. Es finden wohl einzelne Abweichungen statt, aber die sind durch andere Umstände bedingt. So genau schildert der Schreiber des Matthäus-Evangeliums den Weg.

Gerade aus solchen Tatsachen, die wir auch wissen können, wenn alle geschriebenen Evangelien verlorengehen würden, bekommen wir die große Ehrfurcht vor den Evangelien. Es könnte die Menschheit zu immer höheren Wahrheiten kommen und immer höhere Weistümer erringen, von denen vielleicht heute noch sehr wenig geahnt wird; und wenn wir nach Jahrmillionen wieder viel, viel mehr wissen über das gewaltige Ereignis, so können wir diese Weisheit ebenso aus den Evangelien schöpfen. Das ist wiederum ein Stück, das uns weiterführen kann zum Verständnis des Christus-Ereignisses. Wie die Lehre des Buddha und des Zarathustra, so ist auch das Wesen des hebräischen Volkes eingeflossen in das Wesen des Christus Jesus. Alles, was vorher auf Erden erschienen war, wurde wiedergeboren in höherer Gestalt durch das Christentum. Alles, was vorher auf Erden war an

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Geisteskultur, ist dadurch auf die Erde gekommen, daß der große Führer der Erdenentwickelung, Christus, auf die Erde gesandt hat diejenigen, denen er zuerst die Mission gegeben hat, daß sie vorbereiteten auf Erden, was er zu tun hatte. Er war noch in Himmelshöhen und sandte die Boten herunter. Und sie, die großen Religionsstifter, hatten die Menschen vorzubereiten auf sein Kommen. Der letzte dieser Boten war der Buddha, der die Lehre von Mitleid und Liebe gebracht hat. Doch gab es vorher andere Bodhisattvas, und nach Christus wird es andere Bodhisattvas geben, die auszubauen haben das, was durch den Christus Jesus auf die Erde gekommen ist.

Es wird gut sein, wenn die Menschen hören werden auf die Bodhisattvas, die nachher kommen, denn sie sind seine Diener. Jedesmal wenn in der Zukunft ein Bodhisattt"a erscheinen wird, zum Beispiel nach dreitausend Jahren, dann wird man wiederum den Christus, den alles überstrahlenden, um einiges besser verstehen. Christus ist der, welcher die tiefste Wesenheit ist, und die andern sind da, auf daß der Christus besser begriffen werde. Daher sagen wir> daß Christus die Bodhisattvas vorhergeschickt hat, um die Menschheit auf ihn vorzubereiten; und er schickt sie nach, damit die größte Tat der Erdenentwickelung immer besser verstanden werden kann. Wir sind erst am Anfang des Begreifens dieser Wesenheit, und immer besser werden wir den Christus erfassen, je mehr Weise und Bodhisattvas auf die Erde kommen. Durch all diese Weisheit, welche auf die Erde sich ergießt, werden wir imstande sein, den Christus besser zu erkennen.

So stehen wir auf der Erde als suchende Menschen. Wir haben begonnen mit dem Ringen nach dem Verständnis des Christus. Was wir von ihm erkannt haben, haben wir angewendet und werden in Zukunft alles, was die Bodhisattvas lehren werden, anwenden, um den Meister aller Bodhisattvas, den Mittelpunkt unseres Systems, besser zu begreifen. So wird die Menschheit immer weiser werden und wird den Christus immer besser erkennen. Sie wird ihn aber erst dann ganz verstehen, wenn der letzte der Bodhisattvas seinen Dienst verrichtet und die Lehre gebracht haben wird, die notwendig ist, um uns zu befähigen, die tiefste Wesenheit des Erdendaseins, den Christus Jesus, zu erfassen.

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DAS ICH, DER GOTT IM INNERN UND DER GOTT DER ÄUSSEREN OFFENBARUNG München, 4. Dezember 1909 Erster Vortrag

Wir wollen uns heute mit einem allgemeinen Thema beschäftigen, und zwar mit der Frage nach der Bedeutung und den Aufgaben der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft in der Gegenwart, und dann am Dienstag mit einem individuelleren Thema, das das einzelne Menschenschicksal und Wesen betrifft.

Wir haben es oftmals betont, daß Anthroposophie gerade in der Gegenwart eine besondere Aufgabe und Bedeutung für die Menschheit hat. Schließlich muß sich ja derjenige, der sich als denkender Mensch mit Anthroposophie befaßt, doch immer wieder die Frage vorlegen: Welche Ziele verfolgt eigentlich diese geistige Bewegung und wie stellt sich dieselbe zu andern Aufgaben in unserer Zeit? - Nun kann man, wie wir es öfters schon gemacht haben, diese Aufgaben von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beleuchten. Heute wollen wir einmal versuchen den Entwickelungsgang der Menschheit an demjenigen Punkte, an dem wir selbst stehen, aufzufangen, ein wenig in die Zukunft hineinzuschauen und uns dann fragen: Was hat Anthroposophie für eine Aufgabe gerade mit Rücksicht auf den EntwickeIungspunkt der Menschheit, in dem wir in der Gegenwart stehen?

Wir wissen ja, daß seit der großen atlantischen Katastrophe, seitdem sich durch sie der Erdkreis als Wohnplatz der Menschen ganz umgestaltet hat, bis in unsere Gegenwart herein fünf Kulturzeiträume zu verzeichnen sind. Wir haben diese fünf Kulturzeiträume öfters aufgezählt als den altindischen, altpersischen, chaldäisch-ägyptischen, griechisch-lateinischen Zeitraum, und dann als den Zeitraum, in dem wir selbst stehen, den fünften Kulturzeitraum, der seit, sagen wir, dem 8., 9., 10. Jahrhundert sich vorbereitet hat und in dem wir eigentlich mittendrin stehen. Nun müssen wir uns darüber klar sein, daß solche Einteilungen natürlich nicht so gemeint sind, als ob schroff abschlösse

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irgendeine Entwickelungsepoche und dann eine neue begänne, sondern das alles geht langsam und allmählich ineinander über, und man kann sagen, lange bevor eine solche Epoche abgelaufen ist, bereitet sich innerhalb derselben schon die neue vor. So daß wir von unserem Kulturzeitraum von dem fünften der nachatlantischen Zeit, uns sagen können, es bereitet sich durchaus jetzt schon, und zwar recht bedeutsam dasjenige vor, was das eigentlich Kennzeichnende des sechsten Kulturzeitraumes sein wird. Und die Menschheit der Gegenwart wird sich im allgemeinen teilen in zwei Teile: in solche Menschen, die heute sich von alldem kein Begriff machen, die nichts davon wissen, daß sich so etwas vorbereitet wie die sechste Kulturepoche, die sozusagen blind in den Tag hineinleben, und in solche Menschen, welche sich Vorstellungen darüber machen, daß sich etwas Neues vorbereitet und welche auch wissen, daß ja im Grunde genommen dasjenige, was sich vorbereitet, durch die Menschen gemacht werden muß, durch die Menschen vorbereitet werden muß. Man kann in gewisser Beziehung als Mensch sich hineinstellen in die Zeit und sich sagen, daß man macht, was allgemein üblich ist, macht, was die andern gemacht haben, was die Väter uns anerzogen haben, oder man kann sich so hineinstellen, daß man bewußt weiß: Wenn du überhaupt bewußt ein Glied sein willst in der Menschenkette, so mußt du etwas tun, entweder an dir selber oder an deiner Umgebung, was dazu beiträgt, dasjenige, was ja doch kommen muß, nämlich die sechste Kulturepoche, vorzubereiten, so viel an dir liegt. Verstehen kann man nur, wie so etwas möglich ist, Vorbereitungen zu treffen für diese sechste Kulturepoche, wenn man auf den Charakter unseres eigenen Zeitraumes ein wenig eingeht. Da bietet sich uns am besten das Mittel der Vergleichung dar.

Wir wissen, daß diese Kulturzeiträume sich wesentlich voneinander unterscheiden, und wir haben verschiedene Eigenschaften im Laufe der Jahre unserer anthroposophischen Bewegung angeführt, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Wir haben hingewiesen auf die altindische Kulturperiode und haben gezeigt, wie die Seeleneigenschaften des Menschen dazumal anders waren als später, wie der Mensch noch in hohem Grade mit hellsichtigem Bewußtsein begabt

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war; und wir haben gezeigt, wie die Entwickelung durch die folgenden Kulturzeiträume darinnen besteht, daß die Menschen immer mehr und mehr die Hellsichtigkeit verloren haben und immer mehr ihr Wahrnehmungsvermögen ihr Verstandesvermögen auf den physischen Plan zu beschränken hatten. Wir haben gesehen, wie sich langsam vorbereitete der vierte Kulturzeitraum, in dem die Menschen sozusagen ganz herausgetreten sind auf den physischen Plan, so daß da jene Wesenheit, die wir den Christus Jesus nennen, auf dem physischen Plan als ein Wesen, als ein Menschenwesen des physischen Planes sich verkörpern konnte. Wir haben dann gesehen, wie seit jener Zeit durch eine gewisse Strömung hindurch dieses heraustrat: wie alle menschlichen Fähigkeiten auf dem physischen Plan sich noch verstärkt haben, wie der materialistische Hang unserer Zeit, all das Drängen der Menschen, nur dasjenige gelten zu lassen, was sich in der physischen Umwelt darbietet, zusammenhängt mit einem weiteren Heruntersteigen des Menschen auf den physischen Plan. Aber dabei soll es nun in der Entwickelung keineswegs bleiben. Die Menschheit muß wiederum hinaufsteigen in die geistige Welt, hinaufsteigen mit all den Errungenschaften, die sie sich angeeignet hat, mit all den Früchten des physischen Planes. Und gerade das soll Anthroposophie sein, was den Menschen bringen kann die Möglichkeit, wiederum hinaufzusteigen in die geistige Welt.

Nun können wir sagen: Gleich nach der großen atlantischen Katastrophe gab es zahlreiche Menschen, welche wußten durch ihr unmittelbares Wahrnehmungsvermögen, um uns herum ist eine geistige Welt, wir leben in einer geistigen Welt. Immer weniger und weniger wurden die Menschen, die das wußten, immer mehr und mehr beschränkten sich die Fähigkeiten des Menschen auf die sinnliche Wahrnehmung. Aber wenn auf der einen Seite heute noch die Wahrnehmungsfähigkeit für die geistige Welt die denkbar geringste ist, so bereitet sich doch auf der andern Seite etwas vor in unserer Zeit, was so bedeutsam ist, daß schon für eine größere Anzahl von Menschen in derjenigen Verkörperung, in der Inkarnation, die auf diese jetzige folgt, ganz andersartige Fähigkeiten da sein werden als heute. Wie sich die Fähigkeiten der Menschen geändert haben durch die fünf

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Kulturzeiträume hindurch, so werden sie sich in den sechsten hinein auch ändern, und eine große Anzahl von heutigen Menschen wird schon in der nächsten Inkarnation deutlich zeigen durch ihre ganze Seelenart, daß sich ihre Fähigkeiten wesentlich geändert haben. Und darüber wollen wir uns heute Klarheit verschaffen, wie andersgeartet diese Seelen der Menschen in der Zukunft, also bei einer großen Anzahl schon in der nächsten Inkarnation, bei andern in der zweitnächsten, sein werden.

Wir könnten auch noch in einer andern Weise zurückblicken in verflossene Zeiträume der Menschheitsentwickelung. Da würden wir sehen, daß wir immer mehr, je weiter wir zum alten Hellsehen zurückkommen, zugleich mit der menschlichen Seele verknüpft haben das, was man nennen kann den Charakter der Gruppenseelenhaftigkeit. Sie sind schon öfter darauf aufmerksam gemacht worden, daß beim althebräischen Volk im eminentesten Sinne das Bewußtsein von dieser Gruppenseelenhaftigkeit vorhanden war. Wer sich fühlte, sich recht bewußt fühlte als ein Glied des althebräischen Volkes, der sagte sich - darauf ist ja insbesondere aufmerksam gemacht worden: Als einzelner Mensch bin ich eine vorübergehende Erscheinung, aber in mir lebt etwas, was einen unmittelbaren Zusammenhang hat mit all dem Seelenwesen, das herunterströmte seit dem Stammvater Abraham. - Das fühlte der Angehörige des althebräischen Volkes. Wir können sogar esoterisch dieses, was da vom althebräischen Volke gefühlt wurde, als eine spirituelle Erscheinung angeben. Wir verstehen besser, was da geschah, wenn wir folgendes ins Auge fassen.

Nehmen wir einen althebräischen Eingeweihten. Obwohl gerade im althebräischen Volke die Einweihung nicht so häufig war wie bei andern Völkern, so können wir doch einen solchen wirklichen Eingeweihten, nicht bloß einen in die Theorien und in das Gesetz eingeführten, sondern einen wirklich in die geistigen Welten hineinsehenden Eingeweihten nicht anders Charakterisieren, als indem wir auf die ganze Volkseigentümlichkeit Rücksicht nehmen. Es ist heute Sitte in der äußeren Wissenschaft, die ahnungslos nach ihren Dokumenten wirtschaftet, überall das, was im Alten Testament steht, an allerlei äußeren Urkunden zu prüfen und es dann nicht bestätigt zu

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finden. Wir werden Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, daß das Alte Testament treuer die Tatsachen gibt als die äußere Urkundengeschichte. Jedenfalls zeigt die Geisteswissenschaft, daß tatsächlich eine Blutsverwandtschaft des hebräischen Volkes bis zum Stammvater Abraham hinauf nachzuweisen ist, und daß die Annahme Abrahams als Stammvater eine vollberechtigte ist. Insbesondere aber war das etwas, was man in den althebräischen Geheimschulen wußte: solch eine Individualität, solch eine Seelenwesenheit wie die des Abraham, die war ja nicht bloß als Abraham inkarniert, sondern sie ist eine ewige Wesenheit, die in der geistigen Welt vorhanden blieb. Und in Wahrheit war derjenige ein wirklicher Eingeweihter, der inspiriert wurde von demselben Geiste, von dem Abraham inspiriert worden ist, der ihn für sich beschwören konnte, der durchdrungen war von derselben Seelenhaftigkeit wie Abraham. So daß zwischen jedem Eingeweihten und zwischen dem Stammvater Abraham ein realer Zusammenhang war. Das müssen wir festhalten; das drückte sich in dem Gefühl des Mitgliedes des althebräischen Volkes aus. Das war eine Art Gruppenseelenhaftigkeit. Man fühlte dasjenige, was in Abraham sich ausdrückte, als die Gruppenseele des Volkes. Und so fühlte man in der übrigen Menschheit Gruppenseelen.

Die Menschheit geht überhaupt auf Gruppenseelen zurück. Je weiter wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, desto weniger ausgeprägt finden wir die einzelne Individualität. Was wir heute noch im Tierreich finden: daß eine ganze Gruppe zusammengehört, das war so bei den Menschen vorhanden und tritt immer deutlicher und deutlicher auf, je weiter wir in Urzeiten zurückgehen. Gruppen von Menschen gehören da zusammen, und die Gruppenseele ist wesentlich stärker als dasjenige, was die Individualseele ist im einzelnen Menschen.

Wir können nun sagen: Heute in unserer Zeit ist noch immer nicht die Gruppenseelenhaftigkeit der Menschen überwunden, und wer da glauben würde, daß sie vollständig überwunden ist, der würde eben gewisse feinere Erscheinungen des Lebens nicht ins Auge fassen. Wer diese aber ins Auge faßt, wird sehr bald sehen, daß in der Tat gewisse Menschen nicht nur in ihrer Physiognomie einander ähnlich sehen,

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sondern daß auch die Seeleneigenschaften in Gruppen von Menschen einander ähnlich sind, daß man die Menschen sozusagen in Kategorien einteilen kann. Jeder Mensch kann sich heute noch zu einer gewissen Kategorie rechnen. In bezug auf diese oder jene Eigenschaften wird er vielleicht zu verschiedenen Kategorien gehören, aber eine gewisse Gruppenseelenhaftigkeit ist nicht nur geltend dadurch, daß Völker da sind, sondern auch in anderer Beziehung. Die Grenzen, die zwischen den einzelnen Nationen gezogen sind, fallen immer mehr und mehr dahin; aber andere Gruppierungen sind noch wahrnehmbar. Gewisse Grundeigenschaften stehen bei einzelnen Menschen durchaus so zusammen, daß derjenige, der nur sehen will, letzte Reste von Gruppenseelenhaftigkeit bei den Menschen heute noch wahrnehmen kann.

Nun leben wir nämlich gerade in der Gegenwart im eminentesten Sinn in einem Übergange. Alle Gruppenseelenhaftigkeit soll nach und nach abgestreift werden. So wie die Abgründe zwischen den einzelnen Nationen immer mehr und mehr verschwinden, so wie sich die einzelnen Teile der verschiedenen Nationen immer mehr und mehr verstehen, so werden sich auch andere Gruppenseelenhaftigkeiten abstreifen, und immer mehr wird das Individuelle des einzelnen Menschen in den Vordergrund treten.

Damit haben wir aber etwas ganz Wesentliches in der Entwickelung charakterisiert. Wenn wir es von einer andern Seite fassen wollen, so können wir sagen, innerhalb der Entwickelung der Menschheit verliert immer mehr und mehr der Begriff, worin sich die Gruppenseelenhaftigkeit am meisten ausdrückt, an Bedeutung, nämlich der Rassenbegriff. Wenn wir hinter die große atlantische Katastrophe zurück gehen, so sehen wir ja, wie sich die menschlichen Rassen vorbereiten. In der alten atlantischen Zeit haben wir durchaus die Menschen gruppiert nach äußeren Merkmalen in ihrem Körperbau, noch viel stärker als heute. Was wir heute Rassen nennen, das sind nur noch Überbleibsel jener bedeutsamen Unterschiede der Menschen, wie sie in der alten Atlantis üblich waren. So recht anwendbar ist der Rassenbegriff nur auf die alte Atlantis. Daher haben wir, da wir rechnen mit einer wirklichen Entwickelung der Menschheit, für die nachatlantische

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Zeit gar nicht den Begriff der Rasse im eminentesten Sinne gebraucht. Wir sprechen nicht von einer indischen Rasse, persischen Rasse und so weiter, weil das nicht mehr richtig ist. Wir sprechen von einem altindischen Kulturzeitraum, von einem altpersischen Kulturzeitraum und so weiter.

Und vollends würde es jeden Sinn verlieren, wenn wir davon sprechen wollten, daß sich in unserer Zeit vorbereite eine sechste Rasse. Wenn noch in unserer Zeit Reste der alten atlantischen Unterschiede, der alten atlantischen Gruppenseelenhaftigkeit vorhanden sind, so daß man noch sprechen kann davon, daß die Rasseneinteilung noch nachwirkt - was sich vorbereitet für den sechsten Zeitraum, das besteht gerade darinnen, daß der Rassencharakter abgestreift wird. Das ist das Wesentliche. Deshalb ist es notwendig, daß diejenige Bewegung, welche die anthroposophische genannt wird, welche vorbereiten soll den sechsten Zeitraum, gerade in ihrem Grundcharakter dieses Abstreifen des Rassencharakters aufnimmt, daß sie nämlich zu vereinigen sucht Menschen aus allen Rassen, aus allen Nationen und auf diese Weise überbrückt diese Differenzierung, diese Unterschiede, diese Abgründe, die zwischen den einzelnen Menschengruppen vorhanden sind. Denn es hat in gewisser Beziehung physischen Charakter, was alter Rassenstandpunkt ist, und es wird einen viel geistigeren Charakter haben, was sich in die Zukunft hinein vollzieht.

Daher ist es so dringend notwendig, zu verstehen, daß unsere anthroposophische Bewegung eine geistige ist, die auf das Spirituelle sieht, und gerade das, was aus physischen Unterschieden herrührt, durch die Kraft der geistigen Bewegung überwindet. Es ist ja durchaus begreiflich, daß eine jede Bewegung sozusagen ihre Kinderkrankheiten hat und daß man im Anfang der theosophischen Bewegung die Sache so dargestellt hat, als wenn sozusagen die Erde in sieben Zeiträume zerfiele - man nannte das Hauptrassen - und jede der Hauptrassen in sieben Unterrassen; und daß das alles sich so stetig wiederholen würde, so daß man immer von sieben Rassen sprechen könnte und sieben Unterrassen. Aber man muß über die Kinderkrankheiten hinaus kommen und sich klar sein darüber, daß der Rassenbegriff aufhört eine jegliche Bedeutung zu haben gerade in unserer Zeit.

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Etwas anderes bereitet sich ferner vor - etwas, das mit der Individualität des Menschen in ganz eminentem Sinne zusammenhängt - im Individueller-Werden und immer Individueller-Werden der Menschen. Es handelt sich nur darum, daß diese Individualität es im rechten Sinne wird, und dazu soll nun die anthroposophische Bewegung dienen, daß die Menschen im rechten Sinne Individualitäten werden, oder Persönlichkeiten, könnten wir auch sagen. Wie kann sie das aber?

Da müssen wir auf die hervorragendste neue Seeleneigenschaft des Menschen hinblicken, die sich vorbereitet. Es wird oft die Frage gestellt: Ja, wenn es eine Wiederverkörperung gibt, warum erinnert sich der Mensch nicht an seine früheren Verkörperungen? - Das ist eine Frage, die schon öfter von mir beantwortet worden ist, und eine solche Frage nimmt sich so aus, wie wenn man ein vierjähriges Kind bringt und deshalb, weil es nicht rechnen kann und ein Mensch ist, sagen wollte: Der Mensch kann nicht rechnen. - Lassen Sie es zehn Jahre alt werden, dann kann es schon rechnen. So ist es mit der menschlichen Seele. Wenn sie sich auch heute noch nicht erinnern kann, es wird die Zeit kommen, in der sie sich erinnern kann, die Zeit, in der sie dieselben Fähigkeiten hat, wie derjenige sie hat, der heute eingeweiht ist. Aber gerade heute geschieht jener Umschwung. Es gibt heute eine Anzahl von Seelen, welche in unserer Zeit so weit sind, daß sie knapp vor dem Momente stehen, wo sie an ihre früheren Inkarnationen, wenigstens an die letzte, sich erinnern werden. Eine ganze Anzahl von Menschen ist heute sozusagen gerade vor dem Sich-Öffnen des Tores zu dem umfassenden Gedächtnis, das nicht nur das Leben zwischen Geburt und Tod, sondern das die vorhergehenden Inkarnationen, wenigstens die letzte zunächst umfaßt. Und wenn nach der gegenwärtigen Inkarnation eine Anzahl von Menschen wiedergeboren werden, dann werden sie sich erinnern an die gegenwärtige Inkarnation. Es handelt sich nur darum, wie sie sich erinnern. Sich in der richtigen Weise zu erinnern, dazu soll die anthroposophische Entwickelung Veranlassung, Anleitung geben.

Wenn man diese anthroposophische Bewegung charakterisieren will von diesem Gesichtspunkte aus, so muß man so sagen: Ihr Charakter ist dieser, daß sie den Menschen hinführt, in rechtem Sinn dasjenige

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zu erfassen, was man das menschliche Ich, das innerste Glied der menschlichen Wesenheit nennt. Ich habe schon öfter darauf aufmerksam gemacht, daß Fichte mit Recht gesagt hat, die meisten Menschen würden sich lieber für ein Stück Lava im Monde halten als für ein Ich. Und wenn Sie nachdenken, wieviel Menschen es gibt in unserer Zeit, die sich überhaupt eine Vorstellung davon machen, was ein Ich ist, das heißt, was sie selber sind, dann würden Sie im allgemeinen zu einem recht traurigen Resultat kommen.

Wenn diese Frage auftaucht, muß ich mich immer erinnern an einen Kameraden, den ich vor etwas mehr als dreißig Jahren hatte, und der dazumal als ein ganz junger Bursch vollständig infiziert war von der materialistischen Gesinnung. Heute ist es moderner, monistische Gesinnung zu sagen. Er war schon infiziert trotz seiner jungen Jahre von ihr. Er lachte immer, wenn es hieß, daß im Menschen etwas enthalten sei, was man als geistige Wesenheit bezeichnen kann; denn er war der Anschauung, daß das, was als Gedanke in uns lebt, hervorgebracht werde durch die mechanischen oder chemischen Vorgänge im Gehirn. Ich sagte oft zu ihm: Sieh, wenn du das ernsthaft glaubst als Lebensinhalt, warum lügst du fortwährend? - Er log in der Tat fortwährend, denn er sagte niemals: Mein Gehirn fühlt, mein Gehirn denkt, sondern: Ich denke, ich fühle, ich weiß dies oder jenes. - Also er stellte sich eine Theorie auf, der er mit jedem Wort widersprach, wie es ja jeder Mensch tut; denn es ist unmöglich, festzuhalten dasjenige, was man sich einbildet als eine materialistische Theorie. Man kann nicht wahrhaftig bleiben, wenn man materialistisch denkt. Wenn man sonst sagt Mein Gehirn liebt dich, dann dürfte man nicht sagen «dich», sondern: Mein Gehirn liebt dein Gehirn. - Diese Konsequenz machen sich die Leute nicht klar. Aber es ist tatsächlich etwas, das nicht bloß humoristisch ist, sondern etwas, das zeigt, welcher tiefe Untergrund von unbewußter Unwahrhaftigkeit auf dem Grunde unserer gegenwärtigen Geistesbildung ist.

Die meisten Menschen würden sich wirklich lieber für ein Stück Lava im Monde halten, das heißt für eine zusammengebraute Materie, als für dasjenige, was ein Ich genannt werden kann. Und am wenigsten kommt man natürlich heute durch äußere Wissenschaft, die ja als

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solche nach ihren Methoden materialistisch denken muß, zu einem Erfassen des Ich. Dieses Erfassen des Ich, wodurch kann es der Mensch erreichen? Wodurch kann er nach und nach auch einen Begriff, eine Idee von demjenigen erhalten, was er instinktiv fühlt, wenn er ausspricht: Ich denke? - Einzig und allein dadurch, daß er an der Hand anthroposophischer Weltanschauung erkennt, wie sich diese menschliche Wesenheit zusammengliedert, wie der physische Leib Saturncharakter, der Ätherleib Sonnencharakter, der astralische Leib Mondcharakter und das Ich Erdencharakter hat. Wenn wir alles das ins Auge fassen, was wir da an Ideen zusammenholen aus dem ganzen Weltenall, dann begreifen wir, wie das Ich als der eigentliche Werkmeister an allen andern Gliedern arbeitet. Und so kommen wir nach und nach auch zu einem Begriff von dem, was wir vertreten mit dem Worte «Ich».

Zu dem höchsten Begriffe von diesem Ich ringen wir uns allmählich hinauf, wenn wir verstehen lernen ein solches Wort. Nicht bloß fühlen wir uns als ein geistiges Wesen, wenn wir uns in einem Ich drin fühlen, sondern wenn wir uns sagen können: In unserer Individualität lebt etwas was da war vor dem Vater Abraham. - Wenn wir uns nicht bloß sagen können: Ich und der Vater Abraham sind eins -, sondern: Ich und der Vater, das ist das die Welt durchwebende und durchlebende Geistige. - Was im Ich lebt, ist dieselbe geistige Substanz, die die Welt durchwebt und durchlebt als Geistiges. So ringen wir uns allmählich hinauf, dieses Ich, das heißt den Träger der menschlichen Individualität, also dasjenige was sich von Inkarnation zu Inkarnation zieht, zu verstehen.

Auf welche Art aber begreifen wir das Ich, begreifen wir überhaupt die Welt durch anthroposophische Weltanschauung? Diese anthroposophische Weltanschauung kommt auf die individuellste Weise zustande und ist zu gleicher Zeit das Unindividuellste, das sich überhaupt nur denken läßt. Sie kann nur dadurch auf die individuellste Art zustande kommen, daß sich die Geheimnisse des Weltalls in einer menschlichen Seele offenbaren, daß in sie einströmen die großen geistigen Wesenheiten der Welt. In der menschlichen Individualität muß der Inhalt der Welt erlebt werden auf die individuellste Art, aber zu

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gleicher Zeit muß er erlebt werden mit einem Charakter vollständiger Unpersönlichkeit. Wer erleben will den wahren Charakter der Weltgeheimnisse, der muß ganz auf demjenigen Gesichtspunkt stehen, von dem aus er sich sagt: Wer die eigene Meinung noch achtet, der kann nicht zur Wahrheit kommen. - Das ist nämlich das Eigenartige anthroposophischer Wahrheit, daß der Beobachter keine eigene Meinung, keine Vorliebe für diese oder jene Theorie haben darf, daß er durchaus nicht durch seine besondere individuelle Eigentümlichkeit diese oder jene Anschauung mehr lieben darf als eine andere. Solange er auf diesem Standpunkte steht, ist es unmöglich, daß sich ihm die wahren Weltgeheimnisse offenbaren. Er muß ganz individuell erkennen; aber seine Individualität muß so weit gediehen sein, daß sie nichts mehr von dem Persönlichen, also auch von dem ihm individuell Sympathischen und Antipathischen hat. Das muß streng und ernsthaft genommen werden. Wer noch irgendwelche Vorliebe hat für diese oder jene Begriffe und Anschauungen, wer durch seine Erziehung, durch sein Temperament zu dem oder jenem hinneigen kann, der wird niemals die objektive Wahrheit erkennen.

In diesem Sommer haben wir versucht, hier die orientalischen Weistümer vom Standpunkt der westlichen Lehre zu begreifen. Wir versuchten gerecht zu werden den orientalischen Weistümern und haben sie wahrhaftig in einer Weise hingestellt, daß sie zu ihrem vollen Rechte gekommen sind. Man muß streng betonen, daß es in unserer Zeit bei selbständiger geistiger Erkenntnis unmöglich ist, immer sich durch eine besondere Vorliebe für die orientalische oder für die okzidentalische Weltanschauung zu entscheiden. Wer da sagt je nach seinem verschiedenen Temperamente, er liebe mehr die Eigenartigkeit, die Gesetzmäßigkeit der Welt, so wie sie im orientalischen oder wie sie entsprechend im okzidentalischen vorhanden sind, der hat noch nicht das volle Verständnis für das, um was es sich eigentlich handelt. Nicht dadurch soll man sich entscheiden zum Beispiel für die größere Bedeutung, sagen wir des Christus gegenüber all demjenigen, was die orientalische Lehre erkennt, weil man nach seiner okzidentalischen Erziehung oder seinem Temperamente mehr hinneigt zum Christus. Erst dann ist man berufen, die Frage zu entscheiden: Wie verhält sich

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der Christus zum Orient? -, wenn einem vom persönlichen Standpunkt aus das Christliche so gleichgültig ist wie das Orientalische. Solange man Vorliebe hat für dieses oder jenes, so lange ist man noch nicht berufen, die Entscheidung zu treffen. Objektiv fängt man erst an zu werden, wenn man die Tatsachen allein sprechen läßt, wenn man keinen Grund der eigenen Meinung mehr achtet, sondern nur die Tatsachen sprechen läßt auf diesem Gebiete.

Daher tritt uns in der anthroposophischen Weltanschauung, wenn sie uns heute in ihrer wahren Gestalt entgegentritt, etwas entgegen, was innig verwoben ist mit der menschlichen Individualität, weil es aus der Ich-Kraft der Individualität heraussprossen muß und auf der andern Seite unabhängig sein muß, so daß diese Individualität wieder ganz gleichgültig ist. Derjenige Mensch, in dem die anthroposophischen Weistümer erscheinen, muß ihnen gegenüber am gleichgültigsten sein; auf den muß es gar nicht ankommen. Darauf kommt es an, daß er sich so weit gebracht hat, daß er gar nichts von seiner Färbung diesen Dingen aufdrängt. Dann werden sie zwar individuell sein müssen, weil nicht im Lichte der Sterne oder des Mondes etwa das Geistige erscheinen kann, sondern nur in der menschlichen Seele, in der Individualität. Dann wird auf der andern Seite diese so weit sein müssen, daß sie selber sich ausschalten kann beim Zustandekommen dessen, was die Weistümer der Welt sind.

So aber auch wird das, was durch die anthroposophische Bewegung an die Menschheit herantritt, auf der einen Seite etwas, was jeden Menschen angeht, gleichgültig aus welcher Rasse, Nation und so weiter er herausgeboren ist, denn es wendet sich nur an die neue Menschlichkeit, an den Menschen als solchen, aber nicht an ein allgemeines Abstraktum «Mensch» sondern an jeden einzelnen Menschen. Darauf kommt es an. Spricht es daher, ebenso wie es hervorgeht aus der Individualität, aus dem Wesenskern des Menschen, zum tiefsten Wesenskern des Menschen, so erfaßt es diesen Kern des Menschen. Wie wir auch sonst reden von Mensch zu Mensch, im Grunde genommen redet immer nur Oberfläche zu Oberfläche, irgend etwas, was wir nicht mit dem innersten Wesenskern verbunden haben. Verstehen von Mensch zu Mensch, vollständiges Verstehen ist ja gerade heute

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kaum möglich auf einem andern Gebiete als auf demjenigen, wo das, was erzeugt wird, aus dem Zentrum des menschlichen Wesens hervorkommt und, wenn es richtig verstanden wird vom andern, wiederum zu seinem Zentrum spricht. Daher ist es in gewisser Beziehung eine neue Sprache, welche gesprochen wird durch die Anthroposophie. Wenn wir auch heute noch gezwungen sind, in den einzelnen Landessprachen zu verkündigen, was verkündigt wird - der Inhalt ist eine neue Sprache, die gesprochen wird von der Anthroposophie.

Was heute draußen in der Welt gesprochen wird, das ist eine Sprache, die eigentlich nur für ein sehr beschränktes Gebiet gilt. In alten Zeiten, als die Menschen durch ihr altes, dämmerhaftes Hellsehen noch in die geistige Welt schauten, da bedeutete ihr Wort etwas, was in der geistigen Welt war. Das Wort bedeutete etwas, was in der geistigen Welt war. Selbst in Griechenland war das noch anders als heute. Das Wort «Idee», von Plato gebraucht, bedeutet etwas anderes als das Wort «Idee» von unseren heutigen Philosophen gebraucht. Diese heutigen Philosophen können nicht mehr Plato begreifen, weil sie keine Anschauung von demjenigen haben, was er Idee nannte, und es so verwechseln mit dem abstrakten Begriffe. Plato hatte noch vor sich das Geistige, wenn auch schon destilliert; es war sozusagen noch etwas völlig Reales. Da also hatte man in den Worten noch, wenn man sich so ausdrücken darf, den Saft des Geistigen vorhanden. Das können Sie in den Worten spüren. Wenn jemand heute das Wort «Wind», «Luft» gebraucht, nun, dann meint er etwas Äußeres, Physisches. Das Wort Wind entspricht da einem Äußeren, Physischen. Wenn man zum Beispiel im alten Hebräischen das Wort Wind «Ruach» gebrauchte, so meinte man nicht bloß etwas Äußeres, Physisches, sondern ein Geistiges, das da hinfegte durch den Raum. Wenn der Mensch einatmet - nun, heute sagt ihm die materialistische Wissenschaft, daß er einfach materielle Luft einatmet. In alten Zeiten, da hat man nicht geglaubt, daß man die materielle Luft einatmet; da war man sich klar, daß man Geistiges, wenigstens Seelisches einatmet.

So waren die Worte durchaus Bezeichnungen für Geistiges und Seelisches. Heute hat das aufgehört, heute ist die Sprache auf die äußere Welt beschränkt oder wenigstens bemühen sich diejenigen, die

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heute auf der Höhe der Zeit stehen wollen, recht sehr, selbst hinter dem, bei welchem es noch handgreiflich ist, daß es Geistig-Seelischem entnommen ist, nur noch einen materialistischen Sinn zu sehen. Die Physik spricht ja davon, daß es einen «Stoß» von Körpern gibt. Sie hat vergessen, daß das Wort « Stoß » entnommen ist von dem, was ein lebendiges Wesen, wenn es ein anderes Wesen stößt, aus dem innersten Lebewesen selber vollbringt. So wird vergessen die ursprüngliche Wortbedeutung bei diesen einfachen Dingen.

Also heute ist unsere Sprache - und am meisten ist das bei der wissenschaftlichen Sprache der Fall - eine Sprache geworden, die nur noch Materielles auszudrücken vermag. Dadurch ist das, was, während wir sprechen, in unserer Seele ist, nur verständlich denjenigen Fähigkeiten unserer Seele, die an das physische Gehirn als ihr Instrument gebunden sind; und dann versteht die Seele nichts mehr von all dem, was mit diesen Worten bezeichnet ist, wenn sie entkörpert ist. Wenn die Seele durch die Pforte des Todes gegangen ist, sich nicht mehr bedient des Gehirns, dann sind alle wissenschaftlichen Erörterungen von heute Gebilde, die der entkörperten Seele etwas ganz Unverständliches sind. Sie hört nicht einmal, nimmt nicht wahr das, was man in der Sprache der heutigen Zeit ausdrückt. Es hat keinen Sinn mehr für eine entkörperte Seele, weil es nur Sinn hat für dasjenige, was auf dem physischen Plan ist.

Das ist wiederum etwas, was wichtiger noch ist zu beachten in dem, was man nennen könnte Vorstellungsart, Denkungsweise. Dadrinnen ist es viel wichtiger zu beachten noch als in der Theorie, denn auf das Leben kommt es an, nicht auf die Theorie, und es ist das Charakteristische, daß man wiederum in der theosophischen Bewegung selber es sehen kann, wie der Materialismus sich hineingeschlichen hat. Weil er nun einmal Zeitmode ist so hat er sich in die theosophische Auffassung vielfach hineingeschlichen, sodaß auch da, im Theosophischen selber, wirklicher Materialismus waltet, zum Beispiel wenn man den Äther- oder Lebensleib beschreibt. Während man sich bemühen sollte, zur Erfassung des Geistigen zu kommen, beschreibt man ihn meistens so, als wenn er ein feineres Materielles wäre, und den astralischen Leib ebenso. Man geht gewöhnlich aus vom physischen Leib, geht

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weiter dann zum Äther- oder Lebensleib und sagt: Der ist nach dem Muster des physischen Leibes aufgebaut, nur feiner -, und schreitet so hinauf bis Nirwana. Da findet man Beschreibungen, die die Bilder hernehmen von nichts anderem als aus dem Physischen. Ich habe schon erlebt, daß man, wenn man ausdrücken wollte, daß in einem Zimmer eine gute Stimmung ist unter den Anwesenden, man dies nicht einfach in geradem Sinn ausgedrückt hat, sondern daß man gesagt hat: Ach, in diesem Raum sind feine Vibrationen vorhanden. - Man achtet dabei gar nicht darauf, daß man das, was da geistig bei einer Stimmung vorhanden ist, vermaterialisiert, wenn man sich den Raum ausgefüllt denkt mit einer Art dünnem Nebel, der von Vibrationen durchzogen ist.

Ja, sehen Sie, das ist das, was ich als denkbar materialistischste Vorstellungsart bezeichnen möchte. Es sitzt sozusagen der Materialismus selbst denen, die spirituell denken wollen, im Nacken. Das soll nur eine Charakteristik unserer heutigen Zeit sein; es ist aber wichtig, daß wir uns dessen bewußt werden. Und daher müssen wir auch gerade darauf achten, was gesagt worden ist: daß unsere Sprache, die immerhin eine Art Tyrannin ist für das menschliche Denken, daß unsere Sprache in die Seele einen Hang zum Materialismus verpflanzt. Und manche, die heute ganz gerne Idealisten sein möchten, drücken sich so aus, durch die Sprachtyrannis verführt, ganz im materialistischen Sinne. Das ist eine Sprache, die nicht mehr verstanden werden kann von der Seele, sobald sie sich nicht mehr gebunden fühlt an das menschliche Gehirn.

Es gibt sogar noch etwas anderes. Sie mögen es glauben oder nicht. Für denjenigen, der okkultes Anschauen, wirklich geistiges Wahrnehmen kennt, für den bedeutet die Art der Darstellung, wie sie heute vielfach gepflogen wird in theosophisch-wissenschaftlichen Schriften, einen wirklichen Schmerz, weil es ihm unsinnig vorkommt, wenn er anfängt, nicht mehr mit dem physischen Gehirn zu denken, sondern mit der Seele, die nicht mehr gebunden ist an das physische Gehirn, das heißt wirklich in der geistigen Welt lebt. Solange man mit dem physischen Gehirn denkt, so lange mag es hingehen, so die Welt zu charakterisieren. Sobald man aber anfängt, eine spirituelle Anschauung

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zu entfalten, so hört es auf, einen Sinn zu haben, in dieser Weise über die Dinge zu sprechen. Dann tut es sogar weh, wenn man den Ausspruch hören muß: In diesem Raum sind gute Vibrationen, statt: Da herrscht eine gute Stimmung. - Das verursacht sogleich bei demjenigen, der imstande ist, wirklich geistig sich die Dinge vorzustellen, einen Schmerz, weil Gedanken Wirklichkeiten sind. Da füllt sich der Raum aus mit einem dunklen Nebel, wenn jemand die Gedankenform hinstellt: Es sind gute Vibrationen im Raum -, statt: Es herrscht eine gute Stimmung.

Es ist nun die Aufgabe der anthroposophischen Vorstellungsart - und die Vorstellungsatt ist wichtiger als die Theorien -, daß wir lernen eine Sprache zu sprechen, die nun tatsächlich nicht bloß verstanden wird von der menschlichen Seele, solange sie im physischen Leibe ist, sondern auch dann, wenn diese Seele nicht mehr an das Instrument des physischen Gehirns gebunden ist; also entweder von einer zwar noch im Leibe sich befindenden, aber spirituell anschauenden, oder von der durch die Pforte des Todes gegangenen Seele noch erfaßt werden kann. Und das ist das Wesentliche! Wenn wir die Begriffe hinstellen, welche die Welt erklären, die das menschliche Wesen erklären dann ist das eine Sprache, die nicht bloß hier auf dem physischen Plan verstanden werden kann, sondern auch von denjenigen, die jetzt nicht im physischen Leibe verkörpert sind, sondern zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben. Ja, was auf unserem anthroposophischen Boden gesprochen wird, das hören und verstehen die sogenannten Toten. Da sind sie völlig mit uns auf einem Boden, wo eine gleiche Sprache gesprochen wird. Da reden wir zu allen Menschen. Denn in gewisser Beziehung ist es zufällig, ob eine menschliche Seele gerade in einem fleischlichen Leibe ist oder in dem andern Zustande zwischen Tod und einer neuen Geburt. Und wir lernen durch die Anthroposophie eine Sprache, die für alle Menschenwesen, gleichgültig ob im einen oder im andern Zustand, verständlich ist. So also reden wir innerhalb des anthroposophischen Feldes eine Sprache, die gesprochen ist auch für die sogenannten Toten. Wir berühren nämlich wirklich durch dasjenige, was wir, wenn es auch scheinbar abstrakt ist, im realen Sinne in den anthroposophischen Erörterungen

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pflegen, den innersten Menschenkern, die innerste Wesenheit des Menschen. Wir dringen hinein bis in des Menschen Seele. Und damit befreien wir den Menschen, weil wir in seine Seele hineindringen, von aller Gruppenseelenhaftigkeit, das heißt, der Mensch wird auf diese Weise immer fähiger und fähiger, sich in seiner Ichheit wirklich zu erfassen.

Und das ist das Eigentümliche, daß diejenigen, die heute zur Anthroposophie herankommen, die wirklich Anthroposophie aufnehmen, sich gegenüber den andern Menschen, die ihr ferne bleiben, so ausnehmen, als würde sich durch die anthroposophischen Gedanken ihr Ich kristallisieren als eine spirituelle Wesenheit die dann mitgetragen wird hinaus durch die Pforte des Todes. An der Stelle, wo die Ich-Wesenheit ist, die da bleibt, die da jetzt ist im Leibe und die da bleibt nach dem Tode, an Stelle jener Ich-Wesenheit ist bei den andern Menschen ein Hohlraum, ein Nichts. Alles übrige, was man an Begriffen heute aufnehmen kann, das wird immer mehr und mehr gegenstandslos für den eigentlichen seelischen Wesenskern des Menschen. Das Mittelpunktswesen des Menschen wird erfaßt durch dasjenige, was wir an anthroposophischen Gedanken aufnehmen. Das kristallisiert eine spirituelle Substanz im Menschen, das nimmt er mit nach dem Tode und durch das nimmt er wahr in der geistigen Welt. Damit sieht und hört er in der geistigen Welt, damit durchdringt er jene Finsternis, die sonst für den Menschen in der geistigen Welt ist.

Und dadurch wird es bewirkt, daß, wenn der Mensch heute durch diese anthroposophischen Begriffe und anthroposophische Vorstellungsart dieses Ich in sich ausbildet, das nun im Zusammenhange steht mit all den Weltweistümern die wir erhalten können - wenn er es ausbildet -, er es auch hinüberträgt in die nächste Inkarnation. Dann wird er wiedergeboren mit diesem nun ausgebildeten Ich, und er erinnert sich an dieses ausgebildete Ich. Und das ist die tiefere Aufgabe der anthroposophischen Weltbewegung heute: eine Anzahl von Menschen hinüberzuschicken zur nächsten Inkarnation mit einem Ich, an das sie sich erinnern als ihr individuelles Ich. Und das werden diejenigen Menschen sein, die den Kern der nächsten Kulturperiode bilden.

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Jene Menschen, welche gut vorbereitet worden sind durch die anthroposophische geistige Bewegung, an ihr individuelles Ich sich zu erinnern, die werden über die ganze Erde verbreitet sein. Denn das Wesentliche in der nächsten Kulturperiode wird sein, daß sie nicht abgegrenzt sein wird durch einzelne Lokalitäten, sondern über die ganze Erde verbreitet sein wird. Die einzelnen Menschen werden zerstreut sein über die ganze Erde, und innerhalb des ganzen Erdgebietes wird der Kern von Menschheit da sein, der wesentlich sein wird für die sechste Kulturperiode. Und so wird es unter diesen Menschen sein, daß sie sich wiedererkennen werden als solche, die in ihrer vorhergehenden Inkarnation zusammen erstrebt haben das individuelle Ich.

Das ist die richtige Pflege jener Seelenfähigkeit, von der wir gesprochen haben. Die Seelenfähigkeit, die bildet sich auch so aus, daß nicht nur diejenigen, die jetzt geschildert worden sind, sich erinnern werden; sondern immer mehr und mehr Menschen werden, trotzdem sie ihr Ich nicht ausgebildet haben, die Erinnerung haben an die vorhergehende Inkarnation. Aber sie werden sich nicht an ein individuelles Ich erinnern, weil sie es nicht ausgebildet haben, sondern an das Gruppen-Ich, in dem sie geblieben sind. So wird es Menschen geben, die in dieser Inkarnation gesorgt haben für die Ausbildung ihres individuellen Ich. Diese werden sich erinnern als selbständige Individualität; sie werden zurückblicken und sagen: Du warst dieser oder jener. - Diejenigen, welche die Individualität nicht ausgebildet haben, werden sich an diese Individualität auch nicht erinnern können.

Glauben Sie nicht, daß man durch das bloße visionäre Hellsehen etwa die Fähigkeit erlangt, sich an das vorhergehende Ich zu erinnern. Die Menschen waren einmal hellsehend. Würde das bloße Hellsehen genügen, so müßten sich alle erinnern, denn alle waren hellsehend. Nicht das macht es bloß aus, ob man hellsehend ist, hellsehend werden die Menschen schon in der Zukunft. Das macht es aus, ob man das Ich in dieser Inkarnation gepflegt hat oder nicht. Hat man es nicht gepflegt, so ist es als eine innere menschliche Wesenheit nicht da.

Man schaut zurück und erinnert sich, als ein Gruppen-Ich, an dasjenige was man gemeinschaftlich hatte. So daß diese Menschen sagen werden: Ja, da war ich, aber ich habe mich nicht losgemacht. Das

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werden diese Menschen dann empfinden als ihren Fall, als einen neuen Fall der Menschheit, als ein Zurückfallen in die bewußte Zusammengehörigkeit mit der Gruppenseele. Und das wird etwas Furchtbares sein für den sechsten Zeitraum: nicht sich als Individualität im Rückblick fühlen zu können, sondern gehemmt zu sein dadurch, daß man nicht hinaus kann über die Gruppenseelenhaftigkeit. Wenn man es kraß ausdrücken will, so kann man sagen: Denjenigen Menschen, die jetzt ihre Individualität kultivieren, denen wird die ganze Erde gehören mit alldem, was sie hervorbringen kann - es gilt wenigstens bildlich -; diejenigen Menschen, die nicht ausprägen ihr individuelles Ich, die werden angewiesen sein, sich anzuschließen an eine gewisse Gruppe und von der sich eingeben zu lassen, wie sie denken, fühlen, wollen, handeln sollen. Das wird als ein Zurückfallen, als ein Fall empfunden werden in der künftigen Menschheit.

So dürfen wir dasjenige, was anthroposophische Bewegung, geistiges Leben ist, nicht als bloße Theorie betrachten, sondern als etwas, was uns gegeben wird innerhalb der Gegenwart, weil es vorbereitet etwas, was notwendig ist für die Zukunft der Menschheit. Wenn wir uns richtig erfassen in dem Punkt, gerade da, wo wir jetzt sind, aus der Vergangenheit hergekommen sind, und ein wenig hinblicken auf die Zukunft, so müssen wir sagen: Jetzt ist die Zeit da, wo man beginnt, die menschliche Fähigkeit der Rückerinnerung auszubilden. Es kommt nur darauf an, daß wir sie richtig ausbilden, das heißt, daß wir uns anerziehen ein individuelles Ich. Denn nur an dasjenige, was wir geschaffen haben in unserer Seele, an das können wir uns erinnern. Haben wir es nicht geschaffen, dann bleibt uns nur die fesselnde Erinnerung an ein Gruppen-Ich, und dann empfinden wir das als ein Herunterfallen in eine Gruppe sozusagen höherer Tierheit. Wenn auch die menschlichen Gruppenseelen feiner und höher sind als die tierischen, so bleiben sie eben doch Gruppenseelen. Die Menschen der Vorzeit empfanden das nicht als Fall, weil sie daran waren, sich herauszuentwickeln von der Gruppenseelenhaftigkeit zur einzelnen Seele. Wenn sie jetzt beibehalten wird, dann fallen sie bewußt hinein, und das wird die drückende Empfindung in der Zukunft derjenigen sein, die nicht in der richtigen Art den Anschluß finden entweder jetzt

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oder in einer späteren Inkarnation: daß sie empfinden werden den Fall in der Gruppenseelenhaftigkeit.

Das ist die reale Aufgabe der Anthroposophie: den Anschluß zu geben. So müssen wir sie erfassen innerhalb des Menschenlebens. Wenn wir dies ins Auge fassen, daß der sechste Kulturzeitraum gerade die erste Überwindung, völlige Überwindung des Rassenbegriffes ist, so müssen wir uns klar sein, daß es phantastisch wäre zu glauben, daß auch die sechste Rasse von irgendeinem Ort der Erde ausginge und dich so bildete wie die früheren Rassen. Das ist der Fortschritt, daß immer neue Arten der Lebensentwickelung auftreten innerhalb des Fortganges, daß nicht dasjenige, was an Begriffen für frühere Zeiten :gegolten hat, auch für künftige gelten soll. Sonst - wenn wir das nicht einsehen, wird uns nicht die Idee des Fortschrittes ganz klarwerden. Wir werden sozusagen sonst immer wiederum in den Fehler zurückfallen, daß wir sagen: So und so viele Runden, Globen, Rassen und so weiter. Und immer kugelt das herum und wieder herum und immer in derselben Weise. - Man kann nicht einsehen, warum dieses Rad von Runden, Globen, Rassen sich immer wieder drehen soll. Darum handelt es sich, daß das Wort Rasse eine Bezeichnung ist, die nur für gewisse Zeiten gilt. Um den sechsten Zeitraum herum hat der Begriff kaum mehr einen Sinn. Rasse hatten nur noch in sich die Elemente, die Ton der atlantischen Zeit geblieben sind.

In der Zukunft wird dasjenige, was zum Tiefsten der menschlichen Seele spricht, sich auch immer mehr und mehr in dem Äußeren des menschen ausdrücken, und es wird dasjenige, was der Mensch als ein auf der einen Seite ganz Individuelles erworben hat und doch wiederum unindividuell erlebt, dadurch ausdrücken, daß es hinauswirkt bis im menschlichen Antlitz; so daß die Individualität des Menschen hin auf seinem Antlitz geschrieben sein wird, nicht die Gruppeneelenhaftigkeit. Das wird die menschliche Mannigfaltigkeit ausmachen. Alles wird individuell erworben, trotzdem es durch die Überwindung der Individualität da ist. Und wir werden nicht Gruppen treffen unter denen, die erfaßt sind vom Ich, sondern im Äußeren wird sich das Individuelle ausdrücken. Das wird auch den Unterschied bilden zwischen den Menschen. Da werden solche sein, die sich ihre Ichheit

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erworben haben; sie werden über die ganze Erde hin zwar mit den mannigfaltigsten Antlitzen da sein, aber an ihrer Mannigfaltigkeit wird man erkennen, daß bis in die Geste hinein zum Ausdruck sich bringt das individuelle Ich. Während bei denen, die die Individualität nicht ausgebildet haben, die Gruppenseelenhaftigkeit dadurch zum Ausdruck kommen wird, daß sie auch in ihrem Antlitz die Gruppenseelenhaftigkeit tragen werden; das heißt, sie werden in Kategorien zerfallen, die einander gleichen werden. Das wird die äußere Physiognomie unserer Erde sein: daß vorbereitet sein wird eine Möglichkeit, die Individualität als äußeres Zeichen an sich zu tragen und die Gruppenseelenhaftigkeit als äußeres Zeichen an sich zu tragen.

Das ist der Sinn der irdischen Entwickelung, daß der Mensch immer mehr und mehr die Fähigkeit erlangt, in seinem Äußeren das Innere darzustellen. Deshalb gibt es eine alte Schrift, in welcher das größte Ideal für die Entwickelung des Ich, der Christus Jesus, so charakterisiert wird, daß gesagt wird: Wenn die zwei eins werden, wenn das Äußere wie das Innere wird, dann hat der Mensch die Christushaftigkeit in sich erreicht. Das ist der Sinn einer gewissen Stelle des sogenannten Ägypter-Evangeliums. Solche Stellen begreift man aus der anthroposophischen Weisheit heraus.

Nachdem wir heute versucht haben, aus den Tiefen unserer Erkenntnis heraus die Aufgabe der Anthroposophie zu erfassen, wollen wir nun Dienstag etwas als ein spirituelles Problem in Angriff nehmen, das uns wiederum, als eine besondere individuelle Angelegenheit des Menschen, auf sein Schicksal, auf sein Wesen führen kann.

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DAS ICH, DER GOTT IM INNERN UND DER GOTT DER ÄUSSEREN OFFENBARUNG München, 7. Dezember 1909 Zweiter Vortrag

Aus dem ganzen Geiste unserer anthroposophischen Arbeit werden Sie im Laufe der Jahre entnorn~en haben, daß dieser Arbeit zugrunde liegt, nicht hinzuwirken auf uninittelbar Sensationelles, sondern in ruhiger Weise zu verfolgen gerade diejenigen Tatsachen des geistigen Geschehens, deren Erkenntnis uns auch wichtig sein kann für unser Leben. Gerade nicht dadurch, daß man immer über das spricht, was sozusagen am Tag liegt, dient man geistig dem Tage, sondern da- durch, daß raasi sich aneignet ein Wissen über die großen Zusammenhänge des Lebens. Im Grunde genommen hängt unser eigenes individuelles Leben an den großen Ereignissen des Daseins, und wir können auch unser eigenes Leben nur richtig beurteilen, wenn wir es an den größten Erscheinungen des Lebens abmessen können. Daher kommt es, nachdem wir uns innerhalb unseres siebenjährigen Zyklus im Bestehen der Deutschen Sektion durch vier Jahre beschäftigt haben mit der Grundlegung unserer Anschauungen, unserer Erkenntnisse, daß wir uns in den letzten drei Jahren bemühten, diese grundlegenden Anschauungen zu vertiefen in bezug auf weltumfassende Fragen. Und aus dem> was ja auch zu Ihnen gekommen ist von den Darlegungen, die in verschiedenen Zyklen gegeben worden sind, werden Sie ersehen haben, daß zu diesen letzten Betrachtungen diejenigen über die Evangelien gehörten. Nicht allein deshalb, weil gerade der Inhalt der Evangelien uns nahegebracht werden soll, sondern auch darum, well wir durch ihre Betrachtung über die Menschennatur das Zutreffende lernen können. Daher möge auch heute mit allerlei Anwendungen auf das persönliche Menschenleben einiges gesprochen werden über die Evangelien.

Die Evangelien werden von der äußeren Wissenschaft immer weniger als ein historisches Dokument bezeichnet für die Erkenntnis der größten Individualität> die in die Menschheitsentwickelung eingegriffen

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hat, des Christus Jesus. Die Stellung zu den Evangelien war in den ersten christlichen Jahrhunderten und noch lange auch durch das Mittelalter hindurch eine ganz andere, als sie in der neueren Zeit geworden ist. Die Evangelien werden ja heute empfunden als vier einander widersprechende Dokumente, und es scheint heute nichts selbstverständlicher als dies, daß man sagt: Wie können vier Dokumente historische Urkunden sein, wenn sie einander so widersprechen, wie es die vier Evangelien tun, die uns Nachricht geben wollen von dem, was im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina geschehen ist.

Nun könnte dem menschlichen Denken, wenn es heute nicht gar zu sehr über die wichtigsten Sachen hinwegsehen wollte, dabei doch eines aufstoßen. Man könnte sich zum Beispiel sagen: Eigentlich gehört nicht viel dazu, um zu erkennen> daß die vier Evangelien sich in dem Sinne widersprechen, wie man das heute auffaßt. Das sieht jedes Kind, möchte man meInen. Aber man könnte dazu sagen: Jetzt sind die Evangelien gewissermaßen in aller Hände, jetzt beschäftigen sich alle Menschen dainit. Es gab eine Zeit vor der Erfindung der Buchdruckerkunst, wo diese Evangelien keineswegs in aller Hände waren, wo sie nur von wenigen gelesen wurden, und diese wenigen waren gerade diejenigen, die an der Spitze des geistigen Lebens standen. Den andern wurde der Inhalt nahegebracht so, wie sie es fassen konnten. Man könnte fragen: Ja, waren denn diese wenigen, die an der Spitze des geistigen Lebens standen, so ungeheure Toren, daß sie nicht eingesehen haben, was jedes Kind heute einsehen kann: daß die Evangelien sich im heutigen Sinne widersprechen?

Wollte man dieser Frage nachgehen, so würde man bald etwas anderes bemerken, nämlich, daß die ganze Gefühlswelt des Menschen zu den Evangelien anders stand als heute. Heute ist es der kritische Verstand, der seine ganze Art, zu denken, an der äußeren sinnlichen Wirklichkeit gelernt hat. Der ist es, der sich auch über die Evangelien hermacht, und dem wird es wahrlich nicht schwer, die Verstandeswidersprüche zu finden, denn sie sind ja kinderleicht zu finden.

Wie haben denn diejenigen, die an der Spitze des geistigen Lebens standen und in alten Jahrhunderten die Evangelien in die Hand genommen

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haben, sich abgefunden mit dem, was man heute Widersprüche nennt? Diese Menschen der alten Zeiten haben eine ungeheure, heute gar nicht auszudenkende Ehrfurcht bekommen vor dem großen Christus-Ereignis durch die vier Evangelien, und sie haben merkwürdigerweise so empfunden, daß sie, gerade weil sie vier Evangelien hatten, um so mehr dieses Ereignis ehren und schätzen müßten. Wie ist das möglich? Das kommt davon her, daß diese alten Beurteiler der Evangelien etwas ganz anderes ins Auge gefaßt haben als die heutigen. Die heutigen Beurteiler machen es nicht gescheiter als jemand, der meinetwillen einen Blumenstrauß von einer Seite photographiert - da bekommt er eine gewisse Photographie des Blumenstraußes. Jetzt geht er mit der Photographie durch die Welt. Die Leute merken sich, wie die Photographie ausschaut und sagen sich: Jetzt habe ich eine genaue Vorstellung von dem Blumenstrauß. Dann kommt einer, der photographiert den Blumenstrauß von der andern Seite. Das Bild wird ganz anders. Er zeigt wiederum das Bild des selben Blumenstraußes den Leuten. Diese sagen: Das kann nicht das Bild des Straußes sein; die Bilder widersprechen sich ja. - Und wenn der Strauß von vier Seiten photographiert wird, so sehen sich die vier Bilder gar nicht ähnlich; dennoch sind sie vier Aufnahmen derselben Sache. So haben die alten Beurteiler der vier Evangelien empfunden. Sie haben sich gesagt: Die vier Evangelien sind von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus aufgenommene Darstellungen des einen Ereignisses, und weil dies der Fall ist, so geben sie uns gerade dadurch ein vollkommenes Bild, daß sie sich nicht gleichen, und erst dann, wenn wir imstande sind, uns eine Gesamtvorstellung von den vier Seiten aus zu machen, bekommen wir eine Gesamtidee des Ereignisses von Palästina. - Und so haben sich diese Leute gesagt Wir müssen um so mehr mit Demut hinaufblicken, wenn wir das Ereignis von Palästina von vier Seiten aus dargestellt sehen, denn dieses Ereignis ist so groß, daß man es nicht verstehen kann, wenn es nur von einer Seite geschildert wird. Wir müssen dankbar sein, daß wir vier Evangelien haben, die das große Ereignis von vier Seiten aus schildern. Wir müssen nur verstehen, wie diese vier verschiedenen Standpunkte zustandegekommen sind, und dann, wenn wir uns davon überzeugt haben, dann können

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wir uns auch eine Anschauung darüber bilden, was der einzelne Mensch wiederum haben kann von den vier Evangelien.

Was wir das Christus-Ereignis nennen, das ist ja ein gewaltiges Geschehnis in der geistigen Entwickelung der Menschheit. Wie können wir denn das, was damals in Palästina sich zugetragen hat, hinein- stellen in die ganze Menschheitsentwickelung? So können wir es hin- einstellen, daß wir sagen: Alles dasjenige, was vorher die Menschheit geistig durchgemacht, geistig erlebt hat, alles das ist eingeflossen, zusammengeströmt in dem Ereignis von Palästina, um dann in einem gemeinsamen Strom weiterzuffleßen.

Da haben wir, um nur einiges zu nennen: Die althebräische Lehre, wie sie uns im Alten Testament niedergelegt ist. Dies ist ein Beitrag. Er floß ein, als das Ereignis von Palästina geschah. Da war dann ein anderer Strom, der von Zarathustra ausgegangen ist. Er floß ein in das, was dann als Christentum wie ein Hauptstrom durch die Welt weiterfloß.

Und da ist dasjenige, was wir nennen können die orientalische Geistesströmung, die im Gautama Buddha ihren bedeutendsten Ausdruck gefunden hat. Auch das floß ein in den einen großen Hauptstrom, um dann zusammen weiterzufließen. Alle diese einzelnen Strömungen sind heute im Christentum drinnen.

Der zeigt Ihnen nicht, was der Buddhismus heute ist, der Ihnen wieder aufwärmt die Lehren, die Buddha sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung gegeben hat. Diese Lehren sind eingeflossen ins Christentum. Der zeigt Ihnen nicht, was der Zarathustrismus wirklich ist, der die altpersischen Urkunden nimmt und von da aus heute zeigen will das Wesen des Zarathustrismus; denn derjenige, der gelehrt hat im alten Persien, was in den altpersischen Urkunden ist, der hat sich weiterentwickelt und hat einffießen lassen seinen Beitrag zum geistigen Leben der Menschheit und wir müssen innerhalb des christlichen Stromes auch den Zarathustrismus suchen.

Nun fragen wir uns, damit wir ein Bild bekommen von dem wirklichen Sachverhalt: Wie sind gerade diese drei Strömungen, der Buddhismus, der Zarathustrismus und die althebräische Strömung in das Christentum eingeflossen?

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Wenn wir verstehen wollen, wie der Zarathustrismus eingeflossen ist, dann dürfen wir uns daran erinnern, daß diejenige Individualität, die wir als Zarathustra ansprechen, der große Lehrer war der zweiten nachatlantischen Kulturperiode, der zuerst gelehrt hat im sogenannten urpersischen Volk, der dann immer wieder und wieder verkörpert worden ist. Nachdem er durch jede Verkörperung hindurcb immer höher und höher gestiegen war, erschien er ungefähr sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechiiung als ein Zeitgenosse des großen Buddha. Er erschien in den Geheimschulen des alten chaldäischbabylonischen Kulturkreises. Da war er wiederverkörpert, war da der Lehrer des Pythagoras, der nach Chaldäa ging, um in der entsprechenden Weise sich zu vervollkommnen. Dann wurde dieser Zarathustra, der damals sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung unter dem Namen Zarathos oder Nazarathos erschienen war, wieder- geboren im Beginn unserer Zeitrechnung, wiedergeboren so, daß er in einem Körper auftrat, der entsproß dem Elternpaar, das Joseph und Maria hieß und das uns geschildert wird in dem Matthäus-Evangelium. Wir bezeichnen dieses Kind von Joseph und Maria, des sogenannten bethlehemitischen Elternpaares, als das eine der beiden Jesuskinder, die damals im Beginne unserer Zeitrechnung geboren worden sind. Damit haben wir hereinverpflanzt in das alte Palästina gerade jene Individualität, welche der Träger war des Zarathustrismus, der einen bedeutsamen Geistesströmung.

Aber nicht nur diese Geistesströmung sollte wiederaufleben, um in einer neuen Form fortströmen zu können im Christentum, sondern auch andere Geistesströmungen. Dadurch mußten verschiedene Dinge damals zusammentreffen. Es mußte zum Beispiel auch das geschehen> daß der Zarathustra hineingeboren wurde in einen Leib, der durch seine physische Organisation Aussicht bot, daß der Zarathustra gerade in jener Inkarnation diejenigen Fähigkeiten entwickeln konnte, die er hatte deshalb, weil er von Inkarnation zu Inkarnation so hoch heraufgestiegen war. Denn wir müssen uns durchaus gesagt sein lassen: Wenn eine noch so hohe Individualität heruntersteigen und einen ungeeigneten Körper finden würde - was ja dadurch geschehen könnte, daß diese Individualität einen geeigneten Körper gar nicht finden

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kann -, so würde sie die Fähigkeiten, die sie geistig-seelisch hat, eben nicht ausleben können, weil die Werkzeuge dafür nicht da wären. Man muß ein bestimmt geartetes Gehirn haben, wenn man solche Fähigkeiten ausleben will, wie sie der Zarathustra gehabt hat; das heißt, man muß in einen Körper hineingeboren werden, der, ererbt von den Vorfahren, jene Eigenschaften hat, die ihn zum geeigneten Instrument machen für diese Fähigkeiten. Es mußte also nicht nur gesorgt werden bei jenem Jesusknaben, der im Matthäus-Evangelium geschildert wird, daß er in dem was sich wiederverkörperte, eine so hohe geistig-seelische Organisation hatte, daß er jene mächtige Wirkung ausüben konnte, die ausgeübt werden mußte, sondern auch dafür, daß diese Seele hineingeboren werden konnte in eine vollkommene physische Organisation die vererbt wurde. Das geeignete physische Gehirn mußte dieser Zarathustra vorfinden.

Was da ausgearbeitet wurde als eine vollkommen geeignete physische Organisation, das ist der Beitrag, den das althebräische Volk zum Christentum zu leisten hatte. Aus ihm heraus sollte durch rein physische Vererbung ein geeigneter Körper geschaffen werden mit den denkbar vollkommensten äußeren physischen Werkzeugen. Dazu mußte in den Generationen weit hinauf Vorbereitung getroffen wer- den, damit die richtigen Eigenschaften sich vererben konnten dem- jenigen Körper, der da geboren wurde im Beginn unserer Zeitrechnung.

Nun wollen wir uns eine Vorstellung bilden, wie dieses Leben eingeflossen ist in den großen Hauptstrom unseres gegenwärtigen Geisteslebens. Das heiß ebenso wie wir gesehen haben die Mission des

Zarathustra innerhalb des Christentums, so wollen wir jetzt fragen nach der Mission des althebräischen Volkes für die Gesamt kultur unserer Erde. Da muß gesagt werden, daß die geisteswissenschaftliche Forschung immer mehr und mehr, je weiter sie vorwärtsschreitet, dazu kommt> der Bibel mehr recht zu geben als dem, was wir heute an äußerer Kulturgeschichte haben. Was da ausgegraben wird, das nimmt sich eigentlich recht kindlich aus gegenüber dem, was da in der Bibel steht und was man nur richtig lesen muß, um es zu verstehen. Vor den Augen der wirklichen Geistesforschung ist das das

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Richtigere. so ist unter anderm auch richtig> daß in einer gewissen Beziehung das spätere Judentum abstammt von einem Stammvater Abraham oder Abram. Dahinter steckt etwas durchaus Richtiges, daß, wenn wir die Generationen hinaufgehen, wir an einen Stammvater kommen, dem ganz besondere Fähigkeiten erteilt wurden aus der geistigen Welt heraus. Welches waren diese? Wenn wir verstehen wollen, welche ganz besonderen Fähigkeiten ihm erteilt wurden, dann müssen wir uns ein wenig erinnern an verschiedenes, was wir hier schon gesagt haben.

Wenn wir zurückgehen in frühere Zeiten, so finden wir, daß die Menschen andere Seelenfähigkeiten gehabt haben, Seelenfähigkeiten, die wir gegenüber den heutigen als eine Art dumpfes Hellsehen bezeichnen können. Die Menschen haben zwar nicht in so selbstbewußter, verstandesgemäßer Weise in die Welt hinaussehen können wie die heutigen Menschen aber sie haben die Fähigkeit gehabt, das Geistige, das in der Umwelt ist, die geistigen Erscheinungen, Tatsachen, Wesenheiten, noch zu sehen. Nur war dieses Sehen, weil es in herabgedämpftem Bewußtsein geschah, mehr wie ein lebendiger Traum, der aber lebendige Beziehung zur Wirklichkeit hatte. Dieses alte Hellsehen soIlte immer schwächer und schwächer werden, damit die Menschen sich anerziehen konnten unser heutiges äußeres Anschauen und unsere heutige Verstandeskultur.

Die ganze Entwickelung der Menschheit ist eine Art Erziehung. Die einzelnen Fähigkeiten werden nach und nach errnngen. Die heutige Art zu sehen ohne daß wir, wenn wir zum Beispiel im normalen Bewußtsein eine Blume ansehen, ringsherum sehen den astralischen Leib, der sich herumwindet um die Blume - während der alte Beobachter gesehen hat die Blume und den astralischen Leib herum -, diese heutige Anschauung, die die Gegenstände mit scharfen Verstandeskonturen schaut, mußte der Menschheit anerzogen werden dadurch, daß die Hellsichtigkeit verschwand. Da herrscht nun ein ganz bestirisrntes Geseu in der Geistesentwickelung. Alles das, was der Menschheit anerzogen wird muß immer seinen Ausgangspunkt nehmen von einer Individualität. Fähigkeiten, die dann Fähigkeiten einer großen Anzahl von Menschen werden sollen, müssen sozusagen zuerst

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bei einem Menschen anfangen. Die Fähigkeiten, die sich namentlich beziehen auf das von einem Hellsehen abgewandte Kombinieren, auf das Beurteilen der Welt nach Maß, Zahl und Gewicht, diese Fähigkeiten, die gerade ganz darauf ausgehen, nicht in die geistige Welt hineinzuschauen, spndern die sinnlichen Erscheinungen zu kombinieren, sie wurden aus der geistigen Welt zuerst eingepflanzt jener Individualität, die als Abraham oder Abram bezeichnet wird. Er war dazu aus- ersehen, diejenigen Fähigkeiten zuerst auszubilden, welche im eminentesten Sinn geknüpft sind an das Instrument des physischen Gehirns. Abraham wird nicht umsonst genannt der Erfinder der Arithmetik, das heißt derjenigen Fähigkeit, welche die Welt nach Maß und Zahl beurteilt und kombiniert. Er war sozusagen der erste unter denen, aus deren Seelenfähigkeiten ausgelöscht wurde das alte dämmerhafte Hellsehen und deren Gehirn so zubereitet wurde, daß gerade die Fähigkeit, die sich des Gehirns bedient, am meisten zur Geltung kommt. Das war eine bedeutsame, mächtige Mission, die gerade dem Abraham übertragen worden ist.

Nun sollte diese Fähigkeit, die als eine Anlage in Abraham hineingelegt wurde aus der geistigen Welt heraus, wie es bei jeder Anlage sein muß, immer vollkommener und vollkommener werden. Sie können sich leicht denken, daß alles das, was in der Welt auftritt, sich entwickeln muß. So mußte sich auch diese Fähigkeit, durch das physische Gehirn die Welt zu betrachten, aus einer Anlage allmählich entwickeln. Die Entwickelung dieser Fähigkeit geschah nun durch die folgenden Generationen, indem das, was Abraham gegeben wurde, übertragen wurde auf die folgenden Generationen durch die folgenden Zeitalter. Aber es mußte etwas anderes geschehen als früher beim Übertragen einer Mission von den alten Leuten auf die jüngeren geschehen war. Denn die andern Missionen waren noch nicht gebunden an ein physisches Werkzeug. Gerade die größten Missionen waren nicht gebunden an ein physisches Gehirn. Nehmen wir den Zarathustra. Was er seinen Schülern gegeben hatte, war ein höheres hellseherisches Anschauen, als es die andern Menschen hatten. Das war nicht gebunden an ein physisches Werkzeug; das wurde übertragen vom Lehrer zum Schüler. Der Schüler wurde wieder Lehrer, übertmg

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es wieder auf den Schüler und so weiter. Jetzt handelt es sich aber nicht um eine Lehre, um eine Art und Weise des hellseherischen Anschauens, sondern um etwas, was an das Instrument des physischen Gehirns gebunden war. So etwas kann sich nur verpflanzen in die späteren Zeiten, wenn es sich physisch vererbt. Daher war das, was dem Abraham als Mission gegeben war, daran gebunden, daß es sich physisch vererbte von einer Generation zur andern, das heißt, es mußte diese vollkornmene Organisation des physischen Gehirns von Abraham hinunter sich vererben auf seine Nachkommen von Generation zu Generation. Weil seine Mission gerade darin bestand, daß das physische Gehirn vollkommener und vollkommener wurde, so mußte es auch von Generation zu Generation immer vollkommener werden.

So war die Mission des Abraham etwas, was gebunden war an die Fortpflanzung, um immer vollkommener zu werden im Laufe der physischen Entwickelung. Nun war noch etwas anderes verbunden mit diesem Beitrag, den das althebräische Kulturvolk zu leisten hatte. Und dieses andere werden wir verstehen, wenn wir uns folgendes vorlegen.

Nehmen wir die Menschen in den andern Kulturen mit ihrem alten dämmerhaften Hellsehen, dann werden wir sagen: Wie erhielten sie, was für sie das Wichtigste war, was sie am höchsten verehrten in der Welt? Sie erhielten es so, daß es als Inspiration ganz in ihrem Inneren aufleuchtete. Man brauchte nicht so, wie heute, zu forschen. Heute erIangt der Mensch die Wissenschaft dadurch, daß er außen forscht, daß er experimentiert und aus den kombinierten äußeren Tatsachen seine Gesetze nimmt. So erfuhr der Alte nicht dasjenige, was er wissen sollte, sondern das blitzte in ihm auf als eine Eingebung. Er empfing es in seinem Innern; seine Seele mußte es gebären in seinem Innern. Er mußte den Blick abwenden von der äußeren Welt, wenn er die höchsten Wahrheiten als Inspirationen aufgehen lassen sollte.

Das sollte nun anders werden in demjenigen Volk, das seine Mission von Abraham ableitete. Abraham sollte den Menschen gerade dasjenige bringen, was durch die Beobachtungen von außen und durch die Kombinationen gewonnen wird. Wenn also der Angehörige

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der andern Kulturen, die auf altes Hellsehen gebaut waren, zum Höchsten hinaufsah, so sagte er sich: Ich bin dankbar dem Gotte, der sich mir im Inneren offenbart. Ich wende den Blick von außen ab, und am meisten wird mir die Gottheit gegenwärtig, wenn ich, ohne den Blick nach außen zu richten, im Inneren die Inspirationen dieser Gottheit aufleuchten lasse. - Das Volk aber, das von Abraham ab stammt, sollte sagen: Ich will verzichten auf die Inspirationen die bloß von innen kommen; ich will mich dazu präparieren, den Blick in die Um- welt zu richten. Ich will das beobachten, was sich da offenbart in Luft und Wasser, in Berg und Flur, in den Sternenwelten, da will ich den Blick hinaufsenden, und dann will ich nachdenken können, wie eins neben dem andern steht. Ich will die Dinge draußen miteinander kombinieren und will sehen, daß ich einen Gesamtgedanken gewinne. Und wenn ich das, was ich in der Außenwelt beobachte, in einen ein- zelnen Gedanken zusammenpresse, dann will ich dasjenige, was mir die äußere Welt sagt, Jahve oder Jehova nennen. Ich will empfangen das Höchste durch eine Offenbarung, die durch die Außenwelt hin- durch spricht.

Das war die Mission des abrahamitischen Volkes: der Menschheit das zu geben, was als Offenbarung von außen kam, im Gegensatz zu dem, was die andern Völker zu liefern hatten. Daher mußte sich dieses Instrument des Geisteslebens so vererben, daß es in seiner Einrichtung entsprach den Offenbarungen von außen, wie früher die inneren Seelenfähigkeiten den Offenbarungen von innen entsprochen hatten.

Nun fragen wir uns: Was war da gekommen, wenn sich die alten Hellseher hingegeben haben den Offenbarungen von innen? Da haben sie abgewendet den Blick von außen, denn das, was sich in der Außenwelt offenbarte, konnte ihnen nichts sagen über die geistige Welt. Sie hatten selbst von Sonne und Sternen den Blick abgewendet, da sie bloß auf ihr Inneres gelauscht haben, und da hat sich offenbart die große Inspiration über die Geheimnisse der Welt; da traten auf die Anschauungen, wie das Weltengebäude gebaut ist. Und das, was sie gewußt haben über die Sterne und ihre Bewegungen, über die Gesetze der Sternenwelt, über die geistigen Welten, das haben diese Angehörigen

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der alten Kulturen nicht durch äußere Beobachtung er- langt. Dadurch wußten sie etwas über Mars, Saturn und so weiter, daß sich die Naturen dieser Sterne im Iuneren kundgaben. Es waren also die Gesetze des Weltalls, die sozusagen in den Sternen geschrieben sind, zu gleicher Zeit eingeschrieben in das Innere der Seele des Menschen. Dadrinnen offenbarten sie sich durch Inspiration. Wie sich die Gesetze der Welt, die das Sternenheer beherrschen, in der Seele geoffenbart hatten, so sollten sich jetzt durch äußere Kombination offenbaren beim abrahamitischen Volke die Gesetze, die die Welt beherrschen, die aber durch äußere Offenbarung gewonnen werden sollten. Dazu mußte die Vererbung so geleitet werden, daß durch sie das Gehirn jene Eigenschaften bekam, durch die es sehen konnte die richtige Kombination da draußen. Die wunderbare Gesetzmäßigkeit wurde eingepflanzt den Anlagen, die überliefert wurden dem Abraham, solchen Anlagen, die da durch die Generationen sich so ausbildeten, daß die Ausbildung entsprach den großen Weltgesetzen. Das Gehirn mußte vererbt werden so, daß die inneren Fähigkeiten des Gehirns, die Konfiguration des Gehirns sich so ausbildete, wie da droben im Weltall die Zahlengesetze der Sterne. Daher wird dem Abraham gesagt von Jahve: Du wirst Generationen von dir abstammen sehen, die in ihrer Ordnung eingerichtet sind nach der Zahl der Sterne am Himmel. Wie die Sterne am Himmel in harmonischen Zahlenverhältnissen geordnet sind, so sollen die Generationen in harmonischen Zahlengesetzen geordnet sein. Das heißt diese Generationen sollten solche Geseue in sich tragen, wie die Gesetze der Sterne am Himmel sind.

Da haben wir zwölf Sternbilder. Ein Abbild davon sollte auftreten in den zwölf Stämmen, wie sie abstammten von Abraham, damit die entsprechenden Fähigkeiten, die als Anlage in Abraham hineinversetzt worden waren, hinuntergeleitet wurden durch die Generationen. Also es sollte im ganzen organischen Aufbau des sich von Zeitalter zu Zeitalter fortentwickelnden Volkes ein Abbild geschaffen werden von Zahi und Maß am Himmel. Das hat allerdings eine Bibelübersetzung so übersetzt, daß sie sagt «Deine Nachkommen sollen sein zahlreich wie die Sterne am Himmel», während in der Wahrheit die Stelle heißen

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muß: Deine Nachkommen sollen regelmäßig in der Blutsverwandtschaft so angeordnet sein, daß ihre Anordnung ein Abbild der Gesetze der Sterne am Himmel ist. Oh, die Bibel ist tief! Aber was heute dargeboten wird als Bibel, das ist gefärbt von der neueren Weltanschauung. Da heißt es: «Deine Nachkommen sollen sein zahlreich wie die Sterne am Himmel», während in Wahrheit gesagt wird: Das soll alles so regelmäßig sein in deiner Nachkommenschaft, daß zum Beispiel zwölf Stämme sich folgen, die entsprechen der Zwölfrahl der Sternbilder am Himmel.

Und so sollten auch die einzelnen Eigenschaften so auftreten, daß immerdar das zum Ausdruck kam, daß die Mission des abrahamitischen Volkes darinnen bestand: Ich bekomme wie ein Geschenk von außen - nicht wie etwas, was im Inneren auflebt -, was meine ~1ission ist. Mir wird von außen gegeben das, was ich eigentlich für die NX`elt zu bringen habe. - Das wird wunderbar dargestellt in der Bibel, daß die Mission Abrahams gerade etwas sein soll, was von außen ihm gegeben wird, im Gegensatz zu alten Offenbarungen, die von innen gegeben worden sind. Was soll die Mission des Abraham sein? Die Mission des Abraham soll sein das, was durch das Blut fließt bis zu Christus Jesus, zu liefern. Dahinein soll die ganze Geistigkeit einer gewissen Strömung versetzt werden. Das soll so wirken, als ob es von außen käme, ein Geschenk von außen sei. Abraham soll der Welt das althebräische Volk geben. Das ist seine Mission.

Soll das aber der ganzen Natur seiner Mission entsprechen, dann muß dieses Volk selber, das ja seine Mission ist, ein Geschenk von außen sein, muß ihm als Geschenk von außen gegeben werden. Abraham bekam einen Sohn, Isaak. Den sollte er opfern, so wird in der Bibel erzählt. Und als er hinkam, ihn zu opfern, da wurde ihm dieser Sohn neuerdings geschenkt von Jahve. Was wird ihm da geschenkt? Von Isaak stammt das ganze Volk ab. Wäre Isaak geopfert worden, dann hätte es kein hebräisches Volk gegeben. Das ganze Volk wurde ihm also zum Geschenk gegeben. In dieser Opferung des Isaak ist in wunderbarer Weise ausgedrückt dieser Charakter des Geschenkes. Das Volk selber ist die Mission des Abraham, und mit dem Isaak empfängt er dieses gesamte hebräische Volk von Jahve geschenkt.

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So tief sind die Darstellungen der Bibel, und alle entsprechen im einzelnen groß und gewaltig dem inneren Charakter in der Fortentwickelung der Menschheit. Aufgeben mußte dieses althebräische Volk stuckweise dasjenige, was die andern Kulturen in sich faßten, aufgeben mußte es das alte Hellsehen. Dieses alte Hellsehen war an Fähigkeiten gebunden, die aus der geistigen Welt kamen. Man bezeichnete diese hellseherischen Fähigkeiten, je nachdem sie waren, indem man Ausdrücke von Sternbildern gebrauchte. Die letzte Fähigkeit, die hingegeben wurde dafür> daß das althebräische Volk geschenkt wurde dem Abraham, das ist diejenige, die gebunden ist an das Sternbild des Widders. Daher wird ein Widder geopfert statt des Isaak. Das ist der äußere Ausdruck dafür, daß die letzte hellseherische Fähigkeit hin- geopfert wurde dafür, daß das althebräische Volk geschenkt wurde dem Abraham. So war dieses Volk ausersehen, gerade jene Eigenschaften zu entwickeln, die auf die Beobachtung der Außenwelt gingen. Aber in allem treten atavistische Reste an Früheres auf. Daher kam es, daß immer wiederum das althebräische Volk genötigt war, dasjenige auszuscheiden, was nicht rein im Blute bloß lag zur Übertragung dieser nach außen gerichteten Fähigkeiten, was noch erinnerte an altes Hellsehen. Immer mußte ausgeschieden werden, was wie eine Erbschaft von den andern Völkern herkam.

Da berühren wir nun ein Kapitel, welches sich heute recht schwer beschreiben läßt, weil es eine Wahrheit enthält, die dem heutigen Denken so fern wie möglich liegt; aber es ist eben doch eine Wahrheit, und man darf den Anspruch machen, daß diejenigen, die längere Zeit mitgearbeitet haben in unseren Zweigen, auch solche Wahrheiten vertragen können, die dem heutigen Gewohnheitsdenken sich etwas entziehen.

Wir müssen uns klar sein darüber, daß für gewisse Menschenklassen der alten Zeit durchaus bis in spätere Zeiten hinein alte Fähigkeiten sich erhielten, namentlich in bezug auf die Erkenntnis. Die hellseherischen Fähigkeiten waren da in der Seele. Der Mensch war mit den geistigen Wesenheiten nahe verbunden. Sie offenbarten sich in ihm. Das aber drückte sich bei gewissen Menschen, die sozusagen Niedergangsprodukte darstellten dieser alten Zeiten, so aus, daß sie

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in einer niedrigeren Form diesen Zusammenhang mit der geistigen Außenwelt darstellten. Während die eigentlich hellseherischen Menschen mehr mit dem Gesamtuniversum verbunden waren durch die geistige Intuition und Inspiration, waren diejenigen Menschen, die im Niedergang begriffen waren, die in der Dekadenz diesen alten Zusammenhang mit der Umwelt entwickelten, niedrigere Menschentypen. Sie waren unselbständig, die Ichheit wollte nicht heraus bei ihnen, aber es waren auch nicht mehr die alten hellseherischen Fähigkeiten auf der entsprechenden Höhe. Solche Menschen traten immer auf, und in solchen Menschen zeigte sich die Verwandtschaft gewisser physischer Organe mit den alten hellseherischen Organen. Und jetzt kommt die Wahrheit, die so sonderbar klingen wird. Was man nennen könnte altes Hellsehen, dieses Aufleuchten der Weltgeheimnisse im Inneren, das mußte auf irgendeinem Wege in die Seele hineinkommen. Wir haben uns vorzustellen, daß Einströmungen geschahen in den Menschen. Diese Einströmungen nahm der alte Mensch nicht wahr, aber dann, wenn die Einströmungen geschehen waren und in ihm aufleuchteten, dann nahm er es als seine alten Inspirationen wahr. Es flossen also in den Menschen gewisse Strömungen ein aus der Umgebung; die haben sich später umgewandelt beim Menschen.

Diese Strömungen waren in alten Zeiten rein geistige Strömungen, waren zum Beispiel für einen Hellseher als rein astrallsch-ätherische Strömungen wahrnehmbar. Aber später vertrockneten sozusagen diese rein geistigen Strömungen, verdichteten sich zu ätherisch-physischen Strömungen. Und was entstand daraus? Die Haare entstanden daraus. Die Haare sind das Ergebnis der alten Einströmungen. Was heute Haare am menschlichen Körper sind, waren früher geistige Einströmungen beim Menschen von außen ins Innere. Vertrocknete astralisch-ätherische Strömungen sind unsere heutigen Haare. Und solche Dinge sind ja eigentUch nur noch da erhalten, wo rein äußerlich, schriftgemäß, durch Überlieferung die alten Wahrheiten geblieben sind. Im Hebräischen wird daher das Wort «Haar» und das Wort «Licht» ungefähr durch dieselben Schriftzeichen bezeichnet, weil man ein Bewußtsein hatte von der Verwandtschaft des astralisch einströmenden

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Lichtes und des Haares; wie überhaupt im althebräischen Schrifttum urkundlich, rein in den Worten selbst, die größten Wahrheiten enthalten sind.

So könnte man also sagen, es gibt eine Fortentwickelung der Menschheit. Bei denjenigen Menschen nun, welche die alten Fähigkeiten im Niedergang hatten, da entwickelte sich das so, daß die Einströmungen sich zwar umbildeten, sozusagen vertrockneten, daß sich aber keine neuen Fähigkeiten dafür entwickelten. Sie waren auf alte Art mit der neuen verbunden und doch wiederum nicht verbunden, weil die Einströmungen vertrocknet waren. Solche Menschen waren stark behaart, während diejenigen, die sich weiterentwickelten, weniger behaart waren, weil neue Fähigkeiten auftraten für diejenigen Fähigkeiten, die sich später zu Haaren verdichteten.

Die Wissenschaft wird erst wiedernm nach langer Zeit zu diesen bedeutungsvollen Wahrheiten kommen. In der Bibel stehen sie. Die Bibel ist viel gelehrter als unsere heutige, noch auf kindlicher AbcSchützenstufe stehende Wissenschaft. Lesen Sie nach die Geschichte von Jakob und Esau! Jakob ist derjenige, der ein Stück vorgeschritten ist, der die Fähigkeit der letzten Zeit entwickelt hatte. Esau ist auf früherer Stufe stehengeblieben, ist derjenige, der sozusagen gegen Jakob der Tropf ist. Als die Söhne dem Vater Isaak vorgestellt werden, da hat die Mutter bei Jakob vorgetäuscht ein falsches Haar, da- mit Isaak den jüngeren der Söhne mit Esau verwechsle. Damit soll uns gezeigt werden, daß das althebräische Volk immer noch als Erbstück der andern Kulturen etwas in sich hatte, und das mußte abgestrefft werden. Esau wird ausgestoßen. Durch Jakob pflanzt sich fort dasjenige, was als die äußere Kombination fortleben sollte.

Und so wie das, was sozusagen in einer etwas zurückgebliebenen Gestalt erhalten war, in Esau ausgestoßen war, so waren auch die alten hellseherischen Fähigkeiten wie eine atavistische Erbschaft zum Ausdruck gekommen in Joseph, der von den Brüdern dann nach Ägypten verstoßen wird. Er hat Träume; er kann aus ihnen die Welt deuten. Das ist die Fähigkeit, die sich nicht entwickeln sollte in der Mission des abraharnitischen Volkes. Daher wird er ausgestoßen, muß er nach Ägyptenland hinübergehen.

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So sehen wir also, wie sich herausarbeitete im althebräischen Volke eine Strömung, die auf Blutsverwandtschaft in den Generationen gebaut ist, und aus der stufenweise herausgestoßen wird das, was als altes Erbstück verbleibt. Das ist die Fähigkeit, die das althebräische Volk als seine eigene Anlage hat: daß, was da hinunter sich vererbt durch die Generationen, zu einem immer vollkommeneren Werkzeuge werden soll, damit aus diesem heraus der Leib sich entwickeln konnte, der das Instrument abgeben kann für denjenigen, der da wieder verkörpert worden ist. Wenn das althebräische Volk nicht von innen die Offenbarungen erhalten konnte, so mußte es sie von außen erhalten. Selbst das, was die andern Völker durch die unmittelbare Inspiration erlangt hatten, mußte das althebräische Volk durch eine Offenbarung von außen erhalten. Das heißt, die Juden mußten hinübergehen zu einem Volk - geleitet durch Joseph -, das die alte Inspiration hatte. Und da erlangten sie, indem Joseph eingeweiht wurde in die ägyptischen Mysterien, durch äußere Vermittlung dasjenige, was sie zu wissen brauchten über die Eigenheiten der geistigen Welten. Sogar das moralische Gesetz bekamen sie von außen, nicht als etwas, was von innen aufleuchtete. Das war die Mission des althebräischen Volkes. Dann zogen sie - nachdem sie sich angeeignet hatten das, was sie von außen sich aneignen mußten - damit als mit einer von außen errungenen Offenbarung wiederum zurück in ihr Palästina.

Und nun - nachdem dieses althebräische Volk das alles durchgemacht hatte - sollte gezeigt werden, wie es sich von Generation zu Generation so entwickelte, daß zuletzt dieser Leib, welcher der Leib des Jesus wurde, aus diesem Volk herausgeboren werden konnte, damit diese althebräische Strömung einfloß in das Christentum.

Erinnern Sie sich, wie wir die Entwickelung der Anlagen beim ein- zelnen Menschen besprochen haben. Es zerfällt das Leben des einzelnen Menschen in Perioden von sieben zu sieben Jahren. Von der Geburt bis zum Zahnwechsel, bis in das siebente Jahr hinein reicht die erste Periode, wo der physische Körper einfach seine Formen baut.

Dann haben wir die zweite siebenjährige Periode bis zur Geschlechts- reife, in welcher der Ätherleib tätig ist dafür, daß die Formen wachsen,

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größer werden. Bestimmt werden die Formen bis zum siebenten Jahre, dann vergrößern sich nur die schon bestimmten Formen. Wiederum vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre ist es der astralische Leib vorzUgsweise, der der hervorragende ist. Und so sehen wir, wie erst im einundzwanzigsten Jahre das eigentliche Ich des Menschen geboren und selbständig wird. So sehen wir, wie in gewissen Perioden das Leben des einzelnen Menschen verläuft bis zur Geburt des menschiichen Ich.

So mußten sich auch die Aniagen nach und nach in dem Volk entwickeln, das ja gerade als Volk einen Leib liefern sollte für ein vollkommenstes Ich. Daher mußte es sich so entwickeln, daß das, was durch Jahre beim Menschen auftritt, hier von Generation zu Generation auftritt. Da muß immer eine folgende Generation eine Anlage entwickelter haben als die frühere. Es kann nicht auf einmal alles in bloß einer Generation sich entfalten. Aus okkulten Gründen auseinanderzusetzen, warum dies so ist, würde zu weit führen. Es kann aber erinnert werden an eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Erinnern Sie sich doch, daß die Vererbung so liegt, daß gewisse Eigenschaften sich nicht unntittdbar vererben, sondern eine Generation überspringen und erst der Enkel dem Großvater in den vererbten Eigenschaften ähnlich sieht. So ist es auch bei der Vererbung der Eigenschaften in den fortlaufenden Generationen des hebräischen Volkes gewesen. Da mußte immer eine übersprungen werden. Was beim einzelnen Menschen einer Altersperiode entspricht, entspricht in den fortlaufenden Generationen zweien. So daß wir sagen können: Es mußte dieses Volk wie ein großes Individuum von Generation zu Generation sich so entwickeln, daß zuerst entspricht, was beim einzelnen Menschen ist von der Geburt bis zum Zahnwechsel, zweimal sieben Generationen, vierzehn Generationen. Dann mußte ein zweiter Zeitraum folgen, wo wiederum zweimal sieben Generationen kommen; der entspricht der Periode zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife. Dann ein dritter Zeitraum, wo wiederum zweimal sieben Generationen kommen, die der Periode entsprechen zwischen dem vierzehiiten und einundzwanzigsten Lebensjahre, wo der astralische Leib besonders hervor- tritt. Dann kann das Ich geboren werden. Das Ich konnte geboren

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werden in das althebräische Volk, als drei gleich zwei mal sieben, das ist drei mal vierzehn Generationen verflossen waren.

Derjenige, der uns den Körper schildern wollte, der als Instrument gegeben wurde dem Zarathustra, der mußte zeigen, wie durch drei gleich zwei mal sieben Generationen hindurch die Anlage, die dem Abraham gegeben war, sich entwickelte, damit, nachdem drei mal vierzehn Generationen abgelaufen waren, hineingeboren werden konnte das Ich; wie beim einzelnen Menschen nach drei mal sieben Jahren das Ich hineingeboren wird in seine dreifache Leiblichkeit. Das tut der Schreiber des Matthäus-Evangeliums. Er schildert drei mal vierzehn Generationen, die Generationen von Abraham bis zu David, die Generationen von David bis zur babylonischen Gefangenschaft und diejenigen von der babylonischen Gefangenschaft bis zur Geburt Jesu. Da haben wir aus der Tiefe der Erkenntnis heraus im Matthäus-Evangelium hingewiesen auf die Mission des althebräischen Volkes, wie nach und nach die Kräfte herausgebildet werden, die es möglich machten, daß in einen Körper dieses Volkes das vollkommene Ich, das der Zarathustra erlangt hatte, hineingeboren werden konnte.

Und wenn wir nun sehen, welches die Schicksale waren dieses alt hebräischen Volkes, so finden wir, daß die Gefangenschaft da auftrat für das ganze Volk, wo beim einzelnen Menschen auftritt nach dem vierzehnten Jahr die Vorbereitung für das eigentliche Leben, wo dasjenige aufsprießt, was dann im Leben ausgeführt werden kann und was man zwischen dem vierzehnten und einundzwanzigsten Lebensjahre aufnimmt: die Jugendhoffnungen; daß diese Gefangenschaft die Zeit war, wo sozusagen der astralische Leib des althebräischen Volkes in Betracht kam, wo das durch die letzten vierzehn Generationen eingepflanzt wird, was ihm seinen Impuls gibt. Daher wird das alt- hebräische Volk hinübergeführt in die babylonische Gefangenschaft da, wo gerade damals, sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, in den Geheimschulen der Babylonier der Zarathos oder Nazarathos in seiner damaligen Inkarnation der Lehrer war. Und da kamen in diesen Geheimschulen in Berührung diejenigen, die die hervorragendsten Führer des althebräischen Volkes waren, mit dem großen Lehrer der alten Zeiten, mit Zarathos. Da wurde er ihr Lehrer, da verband

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er sich mit ihnen, da nahmen sie auf den großen Impuls, der so wirkte, daß in den letzten vierzehn Generationen dieses Volk vorbereitet wurde für die Geburt des Jesus.

Dann gingen die Ereignisse so weiter, wie Sie sie kennen. Und dann sehen wir etwas Merkwürdiges: wir sehen von dem Schreiber des Matthäus-Evangeliums auf dem geistigen Gebiet ein Gesetz beachtet, das immer mehr und mehr als ein bedeutsames Gesetz erkannt werden wird für alles Leben. Das ist das Gesetz, daß auf höherer Stufe wiederholt wird dasjenige, was früher geschehen ist. In einer etwas verzerrten Gestalt hat es die heutige Naturwissenschaft schon, die da sagt, daß wiederholt wird kurz das beim Einzelwesen, was durch längere Zeiträume auf unteren Stufen der Gattung sich zugetragen hat. In großartiger Weise zeigt uns das der Schreiber des Matthäus-Evangeliums. Er zeigt es uns so, daß er uns sagt Es sollte sich das Ich des Zarathustra verkörpern in einem Leibe, der herangebildet war nach und nach innerhalb des abrahamitischen Volkes. Abraham ging aus von Ur in Chaldäa, von der Stätte, von wo die babylonische Kultur ausgegangen ist, nahm seinen Weg durch Vorderasien nach Palästina. Seine Nachkommen wurden weitergeführt nach Süden durch die Träume des Joseph, nach Ägypten und, nachdem sie hier empfingen haben den ägyptischen Impuls, nach Kanaan zurück.

Das ist das Schicksal des ganzen Volkes. Erst wird das ganze Volk herübergeführt durch Kanaan, hinüber nach Ägypten und dann wieder zurück nach Kanaan. Jetzt soll dasjenige, was sich da als Schicksal des Volkes abgespielt hat, kurz wiederholt werden. Da, wo das Ich geboren wird, dem die Hülle so vorbereitet wird, nachdem das alles sich ausgebildet hatte, was bei Abraham angelegt war, da nimmt dieses Ich wieder seinen Ausgangspunkt von Chaldäa. In Chaldäa war Zarathustra in seiner letzten Inkarnation der Geheimlehrer gewesen, mit Chaldäa war sein Geist verbunden.

Welchen Weg nimmt die Seele des Zarathustra, als sie sich inkarnieren will in Bethlehem? Zarathustra war verbunden geblieben mit denen, die eingeweiht waren in die Chaldäischen Geheimschulen, mit den Magiern. Die erinnerten sich gar wohl, wie sie gehört hatten von ihrem Lehrer, daß er wiedererscheinen werde, daß diese Seele, die davon

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jeher als Zarathustra, der goldene Stern, bezeichnet wurde, in einem bestimmten Zeitpunkte den Weg nehmen sollte hin nach Bethlehem. Und als der Zeitpunkt gekommen war, da verfolgten sie den Weg, den diese Seele ging, wiederholend den Weg des althebräischen Volkes. Wie Abraham gezogen war die Straße nach Kanaan, so ging auch der Stern, das heißt, die Seele des Zarathustra, diese Straße nach Kanaan. Und die drei Magier gingen nach dem Stern Zarathustra, und er führte sie an diejenige Stätte, wo er hineingeboren wurde in den Leib, der aus dem abrahamitischen Volke heraus ihm zubestimmt war. Da war zunächst der Zarathustra, das Ich des Zarathustra, den Weg geführt worden, wiederholend im Geist, den Abraham gegangen war bis nach Palästina herein. Dann hatte das althebräische Volk den Weg suchen müssen nach Ägypten hinüber. IIinübergeleitet war es durch die Träume des alten Joseph. Jetzt wurde das Ich, das in den bethlehemitischen Jesusknaben hineingeboren war, durch die Träume - wieder eines Joseph - hinübergeleitet nach Ägypten, denselben Weg, den das abrahamitische Volk weitergetrieben worden war durch die Träume des alten Joseph. Wiederholend im Geiste macht dieses Ich des Zarathustra das ganze Schicksal des althebräischen Volkes durch im Leibe des Jesus. Da geht es hinüber nach Ägypten und wiederum zurück nach Palästina. Hier haben wir die Wiederholung im Geiste, die durchgemacht wird von der Seele des Zarathustra, und das ist ein Abbild des Schicksals des althebräischen Volkes.

Das haben wir getreulich geschildert im Matthäus-Evangelium aus der Erkenntnis des Gesetzes heraus, daß dasjenige, was auf höherer Stufe erscheint, in Kürze eine Wiederholung ist dessen, was früher da war. Oh, diese Evangelien schildern tief das Ereignis, das da steht am Beginne unserer Zeitrechnung. Das da ist so groß, daß vier Schreiber sich gesagt haben: Wir können ein jeder nur von seinem Standpunkt aus schildern dieses große Ereignis. Jeder von diesen vieren hat nach seinen eingeschränkten Fähigkeiten geschildert das eine Ereignis. Wie wenn wir von vier Seiten ein Wesen abbilden, wir immer nur eine Abbildung erhalten und durch das Zusammenhalten der einander widersprechenden Bilder die Gesamtwesenheit erkennen, so hat der Schreiber des Matthäus-Evangeliums das, was er wußte über das Geseu

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der drei gleich zwei mal sieben, über die Zubereitung des Leibes für das große Ich des Jesus von Nazareth durch die Mission des alt- hebräischen Volkes geschildert, nach diesen Geheimnissen, die gerade ihm durch seine Einweihung bewußt waren.

Der Schreiber des Lukas-Evangeliums hat geschrieben nach derjenigen Einweihung, die ihm gerade bewußt war und nach der er dargestellt hat, wie in anderer Weise die Buddhaströmung eingeflossen ist in das Christentum, um in demselben weiterzufiießen. Und die andern Evangelisten haben aus andern Einweihungsvoraussetzungen heraus geschrieben. Das Ereignis, das sie geschildert haben, ist so groß, daß wir dankbar sein müssen, wenn wir es von vier Seiten her, von vier Eingeweihtenseiten her beschrieben finden.

Nur einiges aus dem Geiste der Entstehung des Christentums sollte heute erwäl1nt werden, um zu zeigen, wie unsere Welterkenntnis wächst, unsere Menschenerkenntnis wächst, wenn wir das größte Menschheitsereignis verfolgen lernen. Nur eine Ahnung davon sollte erweckt werden, wie tief dieses Ereignis zu nehmen ist, und wie tief die Evangelien sind, wenn wir sie wirklich zu lesen verstehen.

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DER WEIHNACHTS BAUM - EIN SYMBOLUM Berlin, 21. Dezember 1909

An diesem Tage, der uns das Fest der Weihnacht darstellen soll, ist es wohl angemessen, ein wenig unsere sonstigen Gepflogenheiten dahin zu ändern, daß wir absehen von dem Suchen nach Erkenntnis und riach Wahrheit und statt dessen Einkehr halten in jene Gefühls- und Empflndungswelt, welche auferweckt werden soll durch jenes Licht, das wir aus der Geisteswissenschaft heraus erhalten.

Jenes Fest, das nun wieder herannaht und das unzähligen Menschen ein Fest der Beseligung im schönsten Sinne des Wortes ist, es ist in dem Sinne, wie es aufgefaßt werden muß durch unsere anthroposophische Weltanschauung, noch nicht ein sehr altes Fest. Was man die christliche Weihnacht nennt, war nicht sogleich da, als das Christentum in die Welt eingezogen ist. Die ersten Christen hatten ein solches Weihnachtsfest noch nicht. Sie feierten nicht die Geburt des Christus Jesus. Und es vergingen fast drei Jahrhunderte, bevor das Geburtsfest des Christus Jesus innerhalb der Christenheit gefeiert worden ist.

In den ersten Jahrhunderten, als das Christentum sich durch die Welt verbreitete, da war es entsprechend den Empfindungen und Gefühlen in den Seelen derer, welche den Christus-Impuls gefühlt hatten, daß sich diese Menschen recht sehr zurückzogen von dem in der damaligen Zeit statthabenden äußeren Leben, wie es sich seit alten Zeiten heraufverpflanzt hatte und wie es zur Zeit des ChristusImpulses geworden war. Denn als eine dunkle Ahnung stieg es in den Seelen der ersten Christen auf, daß sie entstehen lassen sollten den Impuls zu einer Neugestaltung der Erdendinge, zu einer solchen Gestaltung der Erdendinge, welche durchzogen ist gegenüber dem Früheren von neuen Empfindungen, neuen Gefühlen, vor allem aber von einer neuen Hoffnung und einer neuen Zuversicht für die Menschheitsentwickelung. Und was dann heraustreten sollte auf den Horizont des großen Weltendaseins, das sollte seinen Ausgangspunkt nehmen wie ein geistiger Keim wir können sagen «buchstäblich» - Im Innern der Erde.

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Wir haben uns ja schon öfter im Geiste versetzt in die römischen Katakomben, wo abgeschlossen von dem damaligen Leben die ersten Christen feierten die Feier ihrer Herzen und die Feier ihrer Seelen. Wir haben uns im Geiste hineinversetzt in diese Andachtsstätten. Da wurden zuerst nicht Geburtsfeste gefeiert; höchstens waren es die Sonntagsfeste jeder Woche, um jede Woche einmal zu gedenken des großen Ereignisses von Golgatha. Und außerdem wurden noch gefeiert in den ersten Jahrhunderten die Totenfeiern derjenigen, die mit besonderer Begeisterung, mit tiefem Gefühl von diesem Ereignis von Golgatha gesprochen hatten, und die in bedeutungsvoller Weise ein- gegriffen hatten in den Gang der Menschheitsentwickelung, so daß sie verfolgt wurden von der altgewordenen Welt. Die Todestage der Märtyrer, da diese Märtyrer eingezogen waren in das Geistesleben, wurden in den ersten Jahrhunderten als die Geburtstage der Menschheit von den ersten Clrristen gefeiert.

Damals gab es auch noch kein Christgeburtstagsfest. Aber gerade die Entstehung dieses Christgeburtstagsfestes kann uns zeigen, wie wir auch heute noch ein volles Recht haben, zu sagen: Das Christentum ist nicht mit diesem oder jenem Dogma, mit dieser oder jener Einrichtung einmal da, und diese Einrichtungen und diese Dogmen haben sich nur fortzupflanzen von Geschlecht zu Geschlecht -, sondern wir haben ein Recht, uns zu berufen auf Christi Ausspruch, daß er bei uns ist, daß er uns mit seinem Geiste erfüllt alle Tage. Wenn wir diesen Geist bei uns erfüllt fühien, so dürfen wir uns berufen halten zu einer stetigen und nimmer aufhörenden Fortentwickelung des christlichen Geistes. Und gerade durch die anthroposophische Geistesentwickelung sind wir berufen, nicht ein totes, starres Christentum fortzupflanzen, sondern ein immer neues Christentum, das immer neue Weistumer und Erkenntnisse hervortreibt aus sich selber, in die Zukunft hinein zu entwickeln. Niemals sprechen wir von dem gewesenen Christus, sondern immer von dem ewig lebendigen Christus. Und wir dürfen uns an den ewig lebendigen, den ewig wirksamen Christus> an den in uns arbeitenden Christus insbesondere dann erinnern, da wir sprechen von dem Geburtsfest des Christus Jesus. Schon in den ersten Jahrhunderten fühlten es die Christen, daß sie

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durften Neues einprägen dem Organismus der christlichen Entwickelung, daß sie hinzufügen durften dasjenige, was ihnen aus dem Geiste Christi wirklich zuströmt.

So ist denn das Weihnachtsfest erst eine Einrichtung des 4. christlichen Jahrhunderts. Wir können sagen, im Jahre 354 wurde in Rom die erste christliche Weihnacht gefeiert. Und es zeigt sich uns ins- besondere, daß in einer weniger kritischen Zeit als die unsrige es ist, die Bekenner des Christentums durchdrungen waren von der richtig ahnenden Erkenntnis, daß sie dem großen christlichen Lebensbaum immer neue Früchte entlocken sollten. Deshalb dürfen wir vielleicht dabei auch gedenken eines äußeren Symbols der Weihnacht, des Symbols des Weihnachtsbaumes, das wir hier vor uns haben, das unzählige Menschen in den riächsten Tagen vor sich haben werden und welches die Geisteswissenschaft berufen ist, immer tiefer und tiefer in seiner besonderen Bedeutung den Herzen und Seelen der Menschen einzuprägen.

Wir könnten fast mit der Zeitentwickelung in Widerspruch kommen, wenn wir uns gerade an dieses Symbolum hielten. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß dieses Symbolum ein altes sei. Es könnte ja leicht in der Seele des heutigen Menschen der Glaube entstehen, der poetische Tannenbaum in der Weihnacht sei eine uralte Einrichtung. Es gibt ein Bild, welches darstellt den Weihnachtsbaum in der Familienstube Luthers. Dieses Bild, das natürlich erst im 19. Jahrhundert gemalt worden ist, stellt etwas durchaus Falsches dar, denn im weiten Umkreis der deutschen Lande wie auch in den andern Gegenden Europas gab es einen solchen Weihnachtsbaum zu Luthers Zeit noch nicht. Er ist erst ein späteres Symbolum. Gerade dieser Weihnachtsbaum zeigt uns vielleicht etwas ganz Merkwürdiges. Können wir nicht vielleicht auch so sagen, daß der Weihnachtsbaum heute etwas ist, was in dem Sinne als zukunftverheißend aufgefaßt werden könnte, daß die Menschen immer mehr in diesem Weihnachtsbaum sehen könnten, vielleicht nach und nach sehen könnten ein Sinnbild für etwas außerordentlich Bedeutungsvolles und Wichtiges?

Da dürfen wir die Blicke auf diesen Weihnachtsbaum richten, wenn wir uns keiner Illusion in bezug auf sein historisches Alter hingeben

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und dürfen uns dabei in gewisser Weise in Erinnerung rufen, was uns schon öfter vor die Seele getreten ist, die sogenannte Heilige Legende. Sie erzählt uns: Als Adam aus dem Paradiese vertrieben worden war - die Legende erzählt es in der mannigfaltigsten Weise, wir wollen es jetzt nur so kurz als möglich wiedergeben -, da habe er mitgenommen drei Samenkörner von dem Baume des Lebens, wovon die Menschen nicht essen sollten, nachdem sie von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hatten. Als Adam dann gestorben war, nahm Seth diese drei Samenkörner und senkte sie in Adams Grab, und daraus wuchs aus dem Grabe Adams heraus ein Baum. Aus dem Holze dieses Baumes - so erzählt die Legende - ist mancherlei gebildet worden: Moses habe aus diesem Holze seinen Stab gebildet, und später sei aus diesem Baume auch das Holz genommen worden zu dem Kreuze von Golgatha.

So erinnert uns eine Legende in bedeutsamer Weise an jenen Paradiesesbaum, der als der zweite dastand: Die Menschen hatten genossen von dem Baume der Erkenntnis, entzogen wurde ihnen der Genuß vom Baume des Lebens. Aber es blieb in den Herzen der Menschen immerdar eine Sehnsucht, ein Trieb nach jenem Baum. Hinaus- getrieben aus den geistigen Welten, die mit dem «Paradiese» bezeichnet werden, in die äußere Erscheinungswelt, fühlten die Menschen in ihren Herzen den Trieb hin zu dem Baume des Lebens. Was sie nicht haben durften ohne ihr Verdienst, ohne ihre Entwickelung das sollten sie sich dadurch erringen, daß sie sich nach und nach mit Hilfe der Erkenntnis Verdienste erwarben, daß sie nach und nach durch ihre Arbeit auf dem physischen Plan sich reif und fähig machten, die Früchte des Baumes des Lebens zu empfangen.

Jene drei Samenkörner repräsentieren Uns die Sehnsucht nach den Früchten des Baumes des Lebens. Die Legende erzählt uns, daß in dem Holze des Kreuzes dasjenige enthalten war, was aus dem Baume des Lebens stammte. Und man hat ein Bewußtsein dafür gehabt durch die ganze Entwickelung hindurch, daß das dürre Kreuzesholz dennoch den Keim des neuen geistigen Lebens enthält, daß daraus hervorwachsen soll dasjenige, was die Menschen, wenn sie es in der richtigen Weise genießen, mit ihrer Seele vereinigen können als die Frucht vom

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Baum des Lebens, als die Frucht, die ihnen Unsterblichkeit gibt im wahren Sinne des Wortes, die ihnen das Licht der Seele anzündet und die Seele so erleuchtet, daß sie den Weg findet aus den dunklen Tiefen der physischen Welt in die lichten Höhen des geistigen Daseins und sich dort fühlt als Angehörige eines unsterblichen Lebens.

Ohne daß wir uns einer Illusion hingeben, dürfen wir - wenn auch nicht als Historiker, so doch als fühlende Menschen - in dem Baume, der als Weihnachtsbaum vor uns steht, etwas fühlen wie ein Symbolum jenes Lichtes, das im Inneren unserer Seele aufgehen soll, damit es uns die Unsterblichkeit im geistigen Dasein erwerbe. Wir blicken in unser Inneres, und wir fühlen uns durch die anthroposophische Geistesströmung durchdrungen von jener Kraft, die uns in die geistige Welt hinaufblicken läßt. Wir sehen dann auf jenes äußere Symbolum, das wir als den Weihnachtsbaum vor uns stehen haben, und dürfen uns sagen: Er sei uns ein Symbolum für das, was in unseren Seelen leuchten und brennen soll, um uns hinaufzutragen in die geistige Welt!

Dieser Baum ist sozusagen auch entsprossen wie aus dunklen Tiefen. Nur jene Menschen mögen eine solche unhistorische Anschauungsweise tadeln, wie sie eben gekennzeichnet worden ist, die nicht wissen, daß dasjenige, dessen äußere Gründe physisches Erkennen nicht einsieht, dennoch seine tieferen geistigen Gründe hat. Dem äußeren Auge mag es sich entziehen, wie dieser Weihnachtsbaum sich merkwürdig hineinschleicht in das äußere menschliche Leben. Er hat sich in verhältnismäßig kurzer Zeit als ein beseligender Brauch eingeführt in den allgemeinen Weltenverkehr. Äußerlich mag es sich dem Auge entziehen; aber wer da weiß, daß alle äußeren Ereignisse Abdrücke eines geistigen Werdeganges sind, der muß fühlen, daß auch vielleicht ein besonderer tieferer Grund im äußeren physischen Plan vorlag für das Auftreten des Weihnachtsbaumes: daß das Auftreten des Weihnachtsbaumes herausgekommen ist wie aus einem tiefen geistigen Impuls, der unsichtbar die Menschen führt und vielleicht sogar unfühlbar einzelnen recht empflndenden Seelen die Inspiration eingegeben hat, das innere Licht, das in der Welt leuchten soll, in dem wunderschönen Weihnachtsbaum zum äußeren Ausdruck zu bringen. Und wenn ein solches Wissen zur Weisheit erwacht, dann

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kann dieser Baum durch unseren Willen ein äußeres Symbolum auch für das Höchste werden.

Soll Anthroposophie Weisheit sein, so darf sie tätige Weisheit sein und weisheitsvoll durchdringen, das heißt, vergolden die äußeren Eindrücke und Gebräuche. So darf vielleicht Anthroposophie, indem sie nach und nach erwärmend und erleuchtend sich ausbreitet über die Herzen und Seelen der Menschen der Gegenwart und der Zukunft, auch den so materialistisch gewordenen äußerlichen Gebrauch des Weihnachtsbaumes vergolden, mit ihrer Weisheit durchdringen, und mag ihn zu einem wichtigsten Symbolum machen, nachdem er wie aus dunklen Untergründen der Seele im Laufe der allerletzten Zeiten in das Erdenleben seinen Einzug gehalten hat. Und wenn wir dennoch vielleicht etwas tiefer schürfen und voraussetzen, daß eine tiefere geistige Leitung die Impulse gelegt hat in die menschlichen Herzen, erweist es sich uns auch nicht ganz ohne Grund, wenn die Menschen die Gedanken, die ihnen von einer geistigen Leitung eingegeben sind, ausleben in tieferen Empfindungen an dem brennenden Baum.

Es ist ja ein alter Gebrauch auch schon in den verschiedensten Ländern Europas gewesen, daß man die ganzen Wochen vor dem Weihnachtsfest gesucht hat nach allerlei Baumsprossen, nach allerlei Sträuchern, die meistens Laubpflanzen entnommen waren, welche in der Christnacht zum Aufbrechen oder wenigstens zum Sprossentreiben gebracht werden konnten. Und in gar mancher Seele entstand etwas von der Ahnung des niemals besiegbaren Lebens, jenes Lebens, das Sieger sein soll über allen Tod, wenn in der Christweihnacht die sorgfältig gesammelten Sprossen oder Zweige der Bäume in der Stube feierlich standen und künstlich in der Nacht des tiefsten Sonnenstandes zum Aufbrechen gebracht worden sind. Das war ein alter Gebrauch. Aber der Weihnachtsbaum selber ist jüngeren Datums. Wo haben wir den Gebrauch des Weihnachtsbaumes zuerst zu suchen?

Wir wissen von der eindringlichen Sprache, die unsere großen deutschen Mystiker geführt haben, insbesondere von Johannes Taul`, der im Elsaß gewirkt hat. Wer die Predigten Johannes Taulers mit ihrer tiefen Innerlichkeit, mit ihrem unendlichen Gefühlswert auf sich wirken läßt, der wird sich sagen, daß dazumal im Elsaß, als Tauler

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die Vertiefung und Vergeistigung, sogar die Verherzlichung des Christentumes anstrebte, ein ganz besonderer Geist umging, der überall die Seele suchte, die erfüllt war von dem Mysterium von Golgatha. Als Tauler seine Predigten zu Straßburg gehalten hat, da haben sich seine eindringlichen Feuerworte tief in die Seelen hinein versenkt, und mancher bleibende Eindruck mag manchmal in den Seelen der Menschen ersprossen sein. Mancher Eindruck mag von dem gekommen sein, was Johannes Tauler auch oft in seinen wunderschönen Weihnachtspredigten gesagt hat. Dreimal, so sagte er, wird der Gott für die Menschen geboren: zuerst, indem er abstammt von dem Vater, von dem großen Weltenall; dann, indem er zu den Menschen herunter- gedrungen ist und menschliche Hüllen angenommen hat, und zum dritterimal wird der Christus in jeder menschlichen Seele geboren, die in sich selber die Möglichkeit findet, dasjenige, was Gottesweisheit ist, mit sich zu vereinigen und in sich einen höheren Menschen zu gebären.In allen möglichen schönen, feierlichen Wendungen sprach Johannes Tauler gerade in der Gegend von Straßburg die tiefste Weisheit aus, insbesondere am Weihnachtsta`ge. Gerade eine solche tiefe Weisheit mag sich in die Seelen gesenkt haben, und sie mag geblieben sein und nachgewirkt haben. Auch die Gefühle haben ihre Traditionen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert mag nachgewirkt haben, was dazumal in die Seelen gesenkt worden ist. So mag das Gefühl, das sich dazumal in die Menschenseelen gesenkt hat, es mag wie alle wirklichen, vom Geist durchdrungenen Gefühle sich gedrängt haben in Auge und Hand, mag dem Auge das Gefühl eingegeben haben, auch im äußeren Sinnbild zu schauen die Auferstehung, die Geburt des menschlichen Geisteslichtes. Deshalb ist es vielleicht für das materialistische Denken ein schöner Zufall, aber für den, der weiß, wie die geistige Führung durch alles Physische durchgeht, ist es mehr als ein bloßer Zufall, wenn wir hören, daß die ersten Nachrichten von einem Weihnachtsbaum, der in einer deutschen Stube gestanden habe, aus dem Elsaß stammen, und zwar aus Straßburg. 1642 haben wir die allererste Nachricht darüber, daß ein solcher Weihnachtsbaum in einem Hause gestanden habe zur inneren Beseligung derer, die an

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einem äußeren Sinnbild sehen wollten das Licht, das in uns selber erweckt werden soll durch die Aufnahme der geistigen Weisheit.

Wie die deutsche Mystik von jenem Christentum, das an den äußeren Formen klebt, schlimm aufgenommen ist, das sehen wir zum Beispiel an Meister ?ckbart, dem großen Vorgänger Johannes Taulers: er wurde noch nach dem Tode zum Ketzer erklärt, nachdem man vergessen hatte, es hei seinen Lebzeiten zu tun. Und die Feuerworte Johannes Taulers die aus einem wirklichen christerfüllten Herzen hervorgegangen sind, fanden auch wenig Anerkennung. Wie jenes äußere Christentum» das nicht an den wirklichen Geist glaubt, zu der Vertiefung des Christentums durch Meister Eckhart, Johannes Tauler und so weiter sich gestellt hat das sehen wir daraus, daß uns die erste Nachricht vom Weillnachtsbaum verkündet wird von einem geistigen Gegner. Der Betr-ende meinte, das wäre ein Kinderspiel; die Leute sollten lieber dahin gehen wo sie hÖrten, wie ihnen die richtige Lehre verkündet wird.

Langsam hat sich zunächst dieser Weihnachtsbaum verbreitet. Wir sehen ihn in Mitteldeutschland auftreten um die Mitte des 18. Jahrhunderts, aber auch da nur an einzelnen Orten. Erst gegen das 19. Jahrhundert zu wird der Weihnachtsbaum dieser immer häuflgere geistige Schmuck der Weihnacht, ein neueres Symbolum für etwas, was durch Jahrhunderte hindurch gelebt hat. Bei denjenigen, welche so recht fühlen konnten alle Dinge im Glanze, nicht des Wortchristentums, sondern im Glanze des echten geistigen Christentums bei denen war es immer so, daß der Weihnachtsbaum auslÖsen konnte schöne menschliche Gefühle. Und Sie werden es ohne weiteres glauben, daß der Weihnachtsbaum so jungen Datums ist wenn Sie sich vor die Seele führen» daß die größten deutschen Dichter kein Gedicht geschrieben hahen über den Weihchtsba. Wäre er schon früher dagewesen, so würde ein Klopstock zum Beispiel sich gewiß über dieses Symbolum haben diditerisch vernehmen lassen. Daher sei uns auch dieser Weihnachtsbaum eine Bürgschaft dafür, daß Symbole für das Höchste und das Größte neu erstehen können. Und diese Symbole können uns besonders dann vor die Seele treten, wenn wir fühien die geistige Wahrheit von der Auferweckung des Ich in der Menschenseele,

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jenes Ich, das die geistigen Bande fühlt von Seele zu Seele, und sie besonders dann recht fühlt, wenn edle Menschen zusammen wirken.

Nur ein Beispiel sei erwähnt, an dem wir sehen können, wie in die Seele eines großen Menschheitsführers das Licht des Weihnachtsbaumes hineingeleuchtet hat. Im Jahre 1822 war es, daß Goethe, dem wir so oft schon da begegneten, wo wir das Geistesleben im Lichte der Anthroposophie betrachteten, beim Abschlusse seines «Faust» so recht fühlte, wie die christlichen Symbole die einzig möglichen waren, um seine poetischen Intentionen darzustellen. Und er fühlte auch so recht, wie das Christentum die edelsten Bande schiingen muß von Menschenseele zu Menschenseele, wie es jene Bande der Bruderliebe zu begründen hat, die nicht an das Blut, sondern die an die Seele gebunden sind, die an den Geist gefügt sind. Wir fühlen, was in dem Christentum noch als Impuls liegt, wenn wir an den Schluß der Evangelien denken. Vom Kreuz von Golgatha herab sieht der Christus Jesus die Mutter, sieht den Sohn, und da stiftet er jene Gemeinschaft, die vorher nur durch das Blut gestiftet worden ist. Ein Sohn wurde der Mutter, eine Mutter wurde dem Sohn vorher nur durch das Blut gegeben. Die Blutsbande sollen nicht durch das Christentum aufgehoben werden. Bleiben sollen die Blutsbande. Aber die geistigen Bande sollen hinzukommen, welche die Blutsbande überstrahlen mit geistigem Uchte. Daher sprach der Christus Jesus vom Kreuz herab die Worte: «Weib, siehe, das ist dein Sohn!», und zu dem Jünger: « Siehe, das ist deine Mutter! » Was früher nur die Blutsbande gestiftet haben, das wird vom Kreuz herab gestiftet durch geistige Bande.

Wo der Geist in edler geistiger Gemeinschaft lebt, da fühlte sich auch Goethe immerdar gedrängt, hinzublicken zum echten christlichen Geist. Für ihn war es auch ein Bedürfnis, diesen christlichen Geist vom Herzen in die Augen dringen zu lassen. 1822 hatte er einen besonderen Anlaß dazu. Die Menschen jenes Fürstentums, dem Goethe so viel seiner Kraft gewidmet hat, hatten sich zusammengetan, um eine höhere Bürgerschule zu begründen. Es war gleichsam ein Geschenk, das dem Fürsten von Weimar gemacht wurde. Goethe hat

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nicht besser gewußt diesen kleinen Impuls des geistigen Fortschrittes zu feiern, als daß er vor dem Weihnachtsfest eine Anzahl von Menschen aufrief, diesen Fortschritt des Geistes in einzelnen Dichtungen zu feiern, wie sie es nach ihrem Können imstande waren. Dann sammelte er diese aus dem Volke entsprungenen Dichtungen, gab ihnen selber eine poetische Vorrede, und der spätere Großherzog Karl Alexander, der damals ein dreijähriger Knabe war, mußte das Büchlein dem Fürsten Karl August unter dem Weihnachtsbaum über- reichen. Denn der Weihnachtsbaum war 1822 bereits ein ständiges Symbolum.

Goethe hat mit dieser kleinen Tat angezeigt, daß ihm der Weihnachtsbaum ein Symholum ist für das Fühlen und Empfinden des geistigen Fortschrittes im Kleinen und im Großen. Und in der poetischen Vorrede, die er diesem kleinen Büchlein gegeben hat, das heute noch in der Bibliothek zu Weimar vorhanden ist, hat Goethe den Weihnachtsbaum als dieses Symbol besungen mit den Worten:

Bäume leuchtend, Bäume blendend,

Überall das Süße spendend,

In dem Glanze sich bewegend,

Alt- und junges Herz erregend -

Solch ein Fest ist uns bescheret,

Mancher Gaben Schmuck verehret;

Staunend schaun wir auf und nieder,

Hin und her und immer wieder.

Aber, Fürst, wenn dir`s begegnet

Und ein Abend so dich segnet,

Daß aIs Lichter, d'aß als Flammen

Vor dir glänzten allusammen

A1les,was du ausgerichtet,

Alle, die sich dir verpffichtet:

Mit erhöhten Geistesblicken

Fühitest herrliches Entzücken.

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Wir dürfen dieses Gedicht unseres Goethe sozusagen mit unter die ersten Weihnachtsdichtungen zählen. Wenn wir auf dem Felde der Geisteswissenschaft von Sinnbildern reden, dürfen wir auch davon sprechen, daß Sinnbilder, die wie unbewußt oder unterbewußt hera,u? dringen in die Seelen der Menschen, hineintreten in den Lauf der Zeit, vergoldet, mit Weisheit umkleidet werden dürfen.

So sehen wir im 4. Jahrhundert erst die christliche Weihnacht entstehen, sehen, wie sie dazumal zuerst in Rom gefeiert wurde. Und fast wiederum wie eine Schickung muß es angesehen werden, daß in ein uraltes Fest hinein - nicht auf äußerliche materialistische Weise, sondern durch eine geheimnisvolle Schickung - das Weihnachtsfest hin- eingeschoben wird für die Gegenden Mittel- und Nordeuropas in eine Zeit hinein, wo seit alters her der tiefste Sonnenstand gefeiert wurde: das Wintersonnenfest. Man darf nicht glauben, daß etwa das Weihnachtsfest in Mittel- und Nordeuropa in dieses Fest, in diese Zeit verlegt worden wäre, weil man das alte Fest hätte umwandeln wollen in das Weihnachtsfest, sozusagen um die Völker zu versöhnen. Das Weihnachtsfest wurde rein herausgeboren aus dem Christentum. Gerade durch die Aufnahme des Weihnachtsfestes in den nordischen Gegenden hat sich gezeigt die tiefe geistige Verwandtschaft dieser Völker und ihrer Sinnbilder zu dem Christentum. Während zum Beispiel in Armenien das Weihnachtsfest gar nicht als Gebrauch aufgenommen wurde, und selbst in Palästina die Christen sich lange da- gegen ablehnend verhalten haben, hat es sich in Europa schnell eingebürgert.

Versuchen wir, durch die anthroposophische Betrachtung das Weihnachtsfest selber richtig zu verstehen, um den Weihnachtsbaum als ein Sinnbild aufzufassen. Das Jahr hindurch, wenn wir hier zusammen sind, lassen wir aus den geistigen Quellen heraus zu uns dringen diejenigen Worte, die nicht bloß Worte, sondern Kraft sein sollen, die in unserer Seele immer mehr und mehr wirksam sein sollen, damit die Seele zu einem Bürger der Ewigkeit werden kann. Das ganze Jahr versammeln wir uns, um diese Worte, diesen Logos in der mannigfaltigsten Weise in diesem Raum ertönen zu lassen: daß der Christus immerfort bei uns ist und daß, wenn wir zusammen sind, der Geist des

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Christus hineinwirkt, so daß unsere Worte durchdrungen werden von dem Geiste des Christus. Wenn wir die Dinge nur aussprechen mit dem Bewußtsein, daß das Wort ein Flügelträger ist für die Offenbarungen des Geistes an die Menschheit, dann lassen wir einfließen in unsere Seele dasjenige, was das Wort des Geistes ist. Aber wir wissen daß das Wort des Geistes nicht von uns ganz ergriffen wird, nicht uns alles sein kann, was es sein soll, wenn wir es bloß in äußerlich-abstrakter Form als Erkenntnis aufnehmen. Wir wissen, daß es erst das sein kann was es sein soll, wenn es jene innerliche Wärme erzeugt wodurch sich die Seele ausdehnt und fühlt, sich ausdehnt durch innere Wärme, und endlich, sich ergießend in alle Erscheinungen des Weltendaseins, sich eins fühlen lernt mit demjenigen Geiste der über alle Erscheinungen ausgegossen ist.

Fühlen wir, daß in uns Kraft, Leben werden muß, was als Geisteswort an unser Ohr dringt, indem wir, wenn die Zeit dazu da ist, das Symbolum vor uns hinstellen, das uns bekräftigend in die Seele rufen kann: Lasse in dir erstehen als ein Neues, als den Geistesmenschen, dasjenige, was als Wärme entzünden, als Licht erleuchten kann das Wort, das aus geistigen Quellen, aus geistigen Untergründen zu uns kommt -, dann fühlen wir auch, daß es eine Bedeutung hat, was da als Geisteswort zu uns tönt. Fühlen wir in einem solchen Augenblick, wie es der heutige ist, einmal ernsthaft, was die Geisteswissenschaft an solchem Seeleniicht und solcher Seelenwärme uns geben kann! Fühlen wir es etwa in der folgenden Weise:

Schauen wir uns die heutige materialistische Welt an mit ihrem Getriebe wie die Menschen hasten und treiben vom Morgen bis zum Abend und wie sie alles beurteilen im Sinne des materialistischen Nutzens, nach dem Maßstabe des äußeren physischen Planes, wie sie gar nicht ahnen, daß hinter allem der Geist lebt und webt. Die Menschen schlafen des Abends ein, ahnungslos gegenüber etwas anderem, als daß sie glauben, sie seien eben ohne Bewußtsein, und daß sie morgens wiederum aufwachen in das Bewußtsein des physischen Planes hinein. Ahnungslos schiäft der Mensch ein, nachdem er am Tage gehastet und gearbeitet hat, ohne sich aufzuklären über den Sinn des Lebens. Wenn der nach spiritueller Erkenntnis Strebende aufgenommen

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hat die Worte des Geistes, dann weiß er etwas, was nicht bloß Theorie und Lehre ist. Er weiß etwas, was ihm Seelenlicht und Seelenwärme gibt, er weiß: Würdest du am Tage nur aufnehmen die Vorstellungen des physischen Lebens, du würdest vertrocknen. Öde wäre dein ganzes Leben, ersterben würde alles, was du gewinnst, wenn du nur die Vorstellungen des physischen Planes hättest. Wenn du dich abends zum Schlummer hinlegst, gehst du hinein in eine Welt des Geistes, tauchst unter mit allen deinen Seelenkräften in eine Welt von höheren geistigen Wesenheiten, zu denen du mit deinem Sein hinaufwachsen sollst. Und indem du morgens aufwachst, kommst du neu gestärkt heraus aus einer geistigen Welt und gießest über das, was du aus dem physischen Plan empfängst, göttlich-geistiges Leben aus, ob bewußt oder Unbewußt. Aus dem Ewigen verjüngst du selber das Zeitliche deines Daseins an jedem Morgen.

Wenn wir das Wort des Geistes so verwandeln in das Gefühl, das wir an jedem Abend haben können: Ich gehe nicht bloß in die Bewußtlosigkeit, sondern ich tauche ein in die Welt, wo die Wesen des Ewigen sind, denen meine eigene Wesenheit angehören soll. Ich schlafe ein mit dem Gefühl: Hinein in die geistige Welt! - und ich erwache mit dem Gefühl: Heraus aus dem Geist! - dann durchdringen wir uns mit jenem Gefühl, in das sich verwandeln soll das Wort des Geistes, das wir hier in einem der spirituellen Erkenntnis gewidmeten Leben aufgenommen haben, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche.

Dann wird der Geist in uns Leben, dann wachen wir anders auf und schlafen anders ein.

Fühlen wir uns verbunden mit dem Geiste des Weltenalls, fühlen wir uns als Missionare des Weltengeistes an jedem Morgen, fühlen wir uns nach und nach verbunden mit dem, was als Weltengeist alles äußere Sein durchsetzt und durchwebt, dann fühlen wir auch, wenn die Sonne im Sommer hochsteht und ihre lebenspendenden Strahlen der Erde zu sendet, wie der Geist wirkt auf äußerliche Art und wie er, weil er uns sein Antlitz, sein äußerliches Antlitz in den äußeren Sonnenstrahlen zusendet, seine innere Wesenheit gleichsam zurücktreten läßt.

Wo sehen wir diesen Geist des Weltenalls, den schon Zarathustra

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in der Sonne verkündet hat, wenn uns nur die äußeren physischen Sonnenstrahlen entgegenstrahlen? Wir sehen diesen Geist des Weltenalls, wenn wir erkennen können, wo er sich selber sieht. Wahrhaftig, dieser Geist des Weltenalls schafft sich seine Sinnesorgane, durch die er sich sehen kann während des Sommers. Äußere Sinnesorgane schafft er sich. Lernen wir verstehen, was als grüne Pflanzendecke vom Frühling an die Erde bedeckt, die Erde mit einem neuen Antlitz bekleidet! Was ist das? Spiegel für den Weltengeist der Sonne. Wenn die Sonne uns ihre physischen Strahlen zu sendet, schaut der Weltengeist zur Erde hernieder. Was da an Pflanzenwachstum, an Blüten und Blättern herausquillt, nichts anderes ist es als die Ebenbildlichkeit des reinen, keuschen Weltengeistes, der sich selber gespiegelt sieht in seinem Werke, das er hervorsprießen läßt aus der Erde. Sinnesorgane des Weltengeistes sind enthalten in der Pflanzendecke.

Wir sehen dann, wenn die Pflanzendecke zum Herbst verschwindet, wie die äußere Kraft der Sonne sich verringert, wie das Antlitz des Weltengeistes sich zurückzieht. Sind wir vorbereitet in der rechten Weise, so fühlen wir den Geist, der durch das Weltenall pulst, in uns selber. Dann können wir jetzt dem Weltengeist auch folgen, wenn er sich dem äußeren Anblick entzieht. Dann fühlen wir, wenn unsere Augen nicht ruhen können auf der Pflanzendecke, wie der Geist in dem Maße in uns erwacht, als er sich aus den äußeren Welterscheinungen zurückzieht. Und der erwachende Geist wird uns ein Führer für die Tiefen, in die sich das Geistesleben zurückzieht, da hinein, wo wir dem Geiste übergeben die Keime für den nächsten Frühling. Da lernen wir mit unserem geistigen Blick schauen und uns sagen: Wenn das äußere Leben für die äußeren Sinne nach und nach unsichtbar wird, wenn die Herbsteswehmut in unsere Seele schleicht, folgt die Seele dem Geiste in das tote Gestein, um daraus herauszuziehen jene Kräfte, die im Frühling die Erde mit neuen Sinnesorganen für den Weltengeist bedecken.

So fühlten diejenigen Menschen, die den Geist im Geiste erfaßten, ihr Mitgehen mit dem Weltengeist, ihr Mitgehen mit dem Samenkorn hinunter im Winter. Wenn die äußere Sonne am wenigsten Kraft hat, am wenigsten leuchtet, wenn die äußere Finsternis am stärksten ist,

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Uzfühlt sich der Geist in uns durch den Geist aus dem Weltenall, mit dem er sich verbunden hat, unten verbunden hat, mit jenen Kräften vereinigt, die am deutlichsten wahrnehmbar und sichtbar werden, indem sie das Samenkorn einem neuen Dasein zuführen.

So leben wir uns gleichsam mit der Kraft des Samens wörtlich in die Erde hinein, durchdringen die Erde. Während wir uns zur Sommerszeit dem leuchtenden Luftkreis zügewendet haben, den sprießenden und sprossenden Früchten der Erde, wenden wir uns nun zu dem toten Gestein, wissen aber jetzt: In diesem toten Gestein ruht das, was wiederum als äußeres Dasein erscheinen soll. - Wir folgen mit unserer eigenen Seele im Geiste der sprießenden, sprossenden Kraft, die sich entzieht dem äußeren Anblick und ganz in den Stein hinein verborgen wird durch die Winterzeit hin. Und wenn diese Winterzeit an ihrer Mitte angekommen ist, wenn die stärkste Dunkelheit herrscht, dann fühlen wir gerade dadurch, daß uns die Außenwelt nicht abhält, uns mit dem Geiste verbunden zu fühlen, wie in den Tiefen, in die wir uns zurückgezogen haben, das Geisteslicht ersprießt, jenes Geisteslicht, für das der Menschheit den gewaltigsten Impuls der Christus Jesus gegeben hat. Da fühlen wir nach, was die Menschen empfunden haben zu alten Zeiten, die davon sprachen, daß sie heruntersteigen müssen da, wo das Samenkorn im Winter ruht, um den Geist in seinen verborgenen Kräften zu erkennen. Da fühlen wir, daß wir den Christus im Verborgenen zu suchen haben, in jenem Verborgenen, das dunkel und finster ist, wenn wir uns in der Seele nicht selber erst erleuchtet haben, das aber hell und leuchtend wird, wenn wir das Christus-Licht in der Seele aufgenommen haben. Da finden wir, daß wir uns in jeder Weihnacht stärken und kräftigen durch jenen Impuls, der durch das Mysterium von Golgatha in die Menschheit hineingedrungen ist.

So fühlen wir jedes Jahr wie eine Bekräftigung unseres Strebens wirklich den Christus-Impuls und nehmen von diesem Impuls die Gewähr und Bürgschaft dafür, daß wir von Jahr zu Jahr jenes Leben in uns verstärken, das uns hineinführt in eine geistige Welt, in welcher es einen Tod, wie er in der physischen Welt vorhanden ist, nicht geben kann. Dann können wir vergeistigen und beseligen, was dem heutigen materialistischen Menschen gar kein Symbolum ist, sondern nur eine

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äußerliche materialistische Sinnesfreude. Und wir ahnen dann in dem Symbolum die Wirklichkeit, wir ahnen dasselbe, was Johannes Tauler zum Beispiel meint, wenn er davon spricht, daß der Christus dreimal geboren wird: einmal von dem ewigen Vatergott, der die Welt durchwebt und durchlebt, einmal als Mensch zur Zeit der Begründung des Christentums, und dann immer wieder und wieder in den Seelen derer, die das geistige Wort in sich zur Erweckung bringen. Ohne diese letzte Geburt wäre das Christentum nicht vollständig und die Anthroposophie nicht fähig, den christlichen Geist zu erfassen, wenn sie nicht versteht, was es heißt, daß das Wort, das von Jahr zu Jahr uns ertönt, nicht Theorie und Lehre bleiben soll, sondern Wärme und Licht und Leben wird, damit wir durch diese Kraft uns einfügen Leben der Geistigkeit der Welt, aufgenommen werden von ihr und mit ihr selber der Ewigkeit einverleibt werden.

Das sollen wir fühlen, wenn wir vor dem Symbolum der Weihnacht stehen, uns gleichsam untertauchen fühlen in die tiefe, frostige, scheinbar tote Welt unter der Erde, ahnend nicht nur, sondern erkennend, daß der Geist neues Leben weckt aus dem Tode. Auf welcher Stufe der Entwickelung wir auch stehen, wir können nachfühlen, was zu allen Zeiten diejenigen gefühlt haben, welche da eingeweiht waren, die wirklich dann in dieser Weihnacht hinuntergestiegen sind um die Mitternachtsstunde, um dort zu schauen die Geistessonne um die Weihnachtmitternacht, wo die Geistessonne der Weihnachtmitternacht hervorruft aus dem scheinbar toten Gestein zuerst das sprießende, sprossende Leben, damit es erscheinen kann im neuen Frühling.

Wir selber fühlen uns vereint mit jenen Kräften der Welt, die da walten, auch wenn sie sich äußerlich physisch in Frost und Lichtlosigkeit zurückgezogen haben. Das wollen wir fühlen, wie es alle diejenigen empfinden werden, welche um die Weihnachtszeit wirklich immer gedenken der geistigen Sonne, jener Christus-Sonne, die hinter der physischen Sonne steht. Wir wollen ihnen nachfühlen, um nach und nach emporzusteigen, erleben und dann schauen zu können dasjenige, was der Mensch schauen kann, wenn er in sich immer neue Kräfte entwickelt, die ihn mit dem Geistigen verbinden. Und wovon wir schon vor einigen Jahren sprachen, als wir das Weihnachtsfest

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feierten, das möge auCh diese Betrachtung beschließen als das Wichtigste, was wir im Jahr aufnehmen und in unsere Seele gießen können:

Die Sonne schaue

Um mitternächtige Stunde.

Mit Steinen baue

Im lebenlosen Grunde.

So finde im Niedergang

Und in des Todes Nacht

Der Schöpfung neuen Anfang,

Des Morgens junge Macht.

Die Höhen laß offenbaren

Der Götter ewiges Wort,

Die Tiefen sollen bewahren

Den friedensvollen Hort.

Im Dunkel lebend

Erschaffe eine Sonne

Im Stoffe webend

Erkenne Geistes Wonne.

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WEIHNACHTSSTIMMUNG Berlin, 26. Dezember 1909

Wir haben versucht, in den Tagen vor Weihnachten uns zu jener Stimmung zu erheben, die auch im anthroposophischen Sinne die rechte Weihnachtsstimmung genannt werden kann. Wir versuchten uns damals vor die Seele zu rufen, daß es eine Auslegung des Weihnachtsfestes gibt, die in gewisser Weise die Weihnachtsstimmung anwendbar macht auf alles dasjenige, was Wichtiges im Jahreserlebnis des Menschen vorgeht. Für den Erkenntnissuchenden, insbesondere in unserer Gegenwart, muß es zu den wichtigsten Stimmungen gehören, der Geist-Erkenntnis selber gegenüber sozusagen Weihnacht feiern zu können. Und der Geist-Erkenntnis gegenüber Weihnacht feiern, was könnte es denn anderes heißen, als sich einmal so recht innig, inbrünstig in die Seele rufen, wie wir das Jahr über versuchen, unsere spirituelle Pflicht gegenüber der heutigen Menschheitsentwickelung dadurch zu erfüllen, daß wir verstehen die Aufgabe der Menschheit in unserer Zeit, daß wir unsere Seelen immer reicher und reicher an Inhalt machen, der dem Erlebnis der geistigen Welt entnommen ist, um so zu denjenigen Menschen gehören zu können, gehören zu dürfen, welche die notwendige geistige Arbeit in der nächsten Menschheitsepoche werden zu leisten haben.

So suchen wir denn in unsere Seelen zu senken das ganze Jahr hindurch geisteswissenschaftlichen Gehalt, versuchen einzudringen in die anthroposophische Weisheit. Und wenn dann das Jahr jenem Ende zuneigt, das sich schon äußerlich als ein wichtiges dadurch symbolisiert,, daß außen um uns herum durch die geringe Kraft der Sonnenstrahlen ein Übermaß an Finsternis herrscht, dann versuchen wir in dieser Festeszeit zu verstehen, wie wir in bezug auf dieses anthroposophische Jahr unsere Weihnachten feiern können. Versuchen wir uns ja doch immer aufs neue klarzumachen, daß durchdrungen und durchleuchtet sein muß die ganze anthroposophische Wahrheit von jenem mächtigen Impuls, den wir den Christus-Impuls nennen!

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Versuchen wir so uns die anthroposophischen Wahrheiten in das Herz einzuschreiben, in die Seele einzuschreiben wie die Botschaft des Christus selber, so dürfen wir wohl sagen, zur Weihnachtszeit sollen wirAnthroposophen Weihnachtsstimmung dadurch entwickeIn, daß wir das, was wir das ganze Jahr hindurch in uns aufnehmen, in unserer Seele selber von tieferen Gefühlen durchleuchtet sein lassen so, daß es ganz Kraft wird, und daß wir fühlen können: wir wissen nicht nur etwas von der anthroposophischen Weisheit, sondern sie dringt in unsere Seele, in unser Herz, so daß sie eine lichtdurchdrungene Wärmekraft ist, die uns befähigt, auf allen Gebieten des Lebens, wo immer wir stehen mögen, in dem kommenden Jahr unsere Pfficht zu erfüllen, unsere Arbeit zu verrichten. Wenn wir also versuchen, die heiligen Wahrheiten vom Geiste zu verwandeln in heilige Gefühle, in heilige Kraft in unserer Seele, dann wird in uns auf einer höheren Stufe dasjenige geboren, was wir zunächst mit den Kräften dieser irdischen Welt in uns aufnehmen. Deshalb dürfen wir ja auch wohl um die Weihnachtszeit immer mehr und mehr derjenigen Gelegenheiten gedenken, durch welche dieser oder jener unserer ganzen Menschheit sich hinaufzuerheben versuchte in jene Regionen der Spiritualität, wo der Christus selber zu finden ist. In die Region dieser Gefühle hatte uns bereits zu Weihnachten geleitet unser echt deutsch- christlicher Dichter Novaüs. Und auch heute darf wohl ein wenig jene Weihnachtsstimmung, wie sie eben angedeutet worden ist - das SichDurchwärmen an jenen Wärmestrahlen , ausgehen von einem wirklich theosophischen Dichter, wie Novalis es war. Kommen wir auf Novalis, da, wo er seine schönsten Weistümer herrlich poetisch uns gibt, da können wir vielleicht am wärmsten fühlen, wie wir aus der Geist-Erkenntnis die Möglichkeit gewinnen sollen, das Leben mit einem neuen Glanze zu erfüllen.

Draußen braust das Leben an uns vorbei, und unsere eigene Arbeit verbindet sich mit dem heutigen Gebrause des Lebens. Wenn wir innerhalb der Anthroposophie die Möglichkeit gewinnen, Weisheit aus der spirituellen Welt herunterzuholen, so werden wir überall, so prosaisch auch die Gelegenheiten zu sein scheinen, mit dem Golde der anthroposophischen Weisheit das Leben vergolden. Das müssen

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wir lernen. Dann werden wir schon sehen, wie wir das Leben mit einem neuen Glanze erfüllen, wenn wir jedes Jahr einmal anthroposophische Weihnachtsstimmung in unsere Seele einziehen lassen, wenn wir die Anthroposophie sozusagen als Gefühl und Empfindung zur Weihnachtszeit wiedergeboren werden lassen in uns selbst. Wir werden dann fühien, wie unmöglich es ist, wenn wir drinnenbleiben wollen in der gewöhnlichen Welt, zu der Spiritualität sich auch nur einigermaßen ahnend hinaufzuerheben. Oh, es gibt der Anlässe viele, die den heutigen Menschen hindern, die Flügel zu entfalten, um hinaufzukommen in die geistige Welt! Symbolisch kann es uns gleichsam sein, was ich Ihnen kurz erzählen will.

Es kann gar mancher von uns an die Geisteswissenschaft herankommen, kann sagen: Ach, das alles, was mir die Geisteswissenschaft bietet, wäre schön, wäre herrlich, das alles macht mein Herz warm, meine Seele liebevoll; aber - ich kann es nicht glauben! Alles, was ich in der äußeren Welt gelernt habe, die Vorurteile, die ich mir angeeignet habe, das hält mich fest, das sagt mir: Dies ist ja doch nur Träumerei, dies ist ja doch nicht auf einen vollen sicheren Grund gebaut! - So steht gar mancher im bitteren Zweifel drinnen. Würde er sich herausheben können aus den Vorurteilen der gegenwärtig ihn arg bedrängenden äußeren Welt, würde er frei empfinden können im reinen Äther des Geistes, er würde sehen, daß er die Kraft des Geistigen empfindet, und er würde sie auch heruntertragen in die Arbeit seiner Hände im alltäglichen Leben. Symbolisch für diese Empfindung, die so hindert den Alltagsmenschen, der hineingestellt ist in die Gegenwart, frei und ungehemmt zu empfinden, was die Geistes- wissenschaft geben kann für Herz und Seele, symbolisch dafür kann ein kleines Ereignis sein.

Da war ein Mann des 18., 19. Jahrhunderts, der deutsche Adlige Hara`nberg. Er hatte einen Sohn, von dem wir gestehen durften im engeren Arbeitskreise, daß er Dichtungen und Weistümer gegeben hat aus einer Seele heraus, welche die Wiederverkörperung war von bedeutsamen, mächtigen Persönlichkeiten, die Wichtiges geleistet hatten für die Erde. Aber stehend unter der Einwirkung der äußeren Welt auf den Menschen, wie sollte denn der Vater diese Seele in

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diesem Sohne erkennen? Wie sollte er denn ahnen den Geist, der sich losringen konnte aus der Seele dieses Sohnes? Ebensowenig hat er es gekonnt, aus den Voruftellen der materiellen Welt, des Zusammenlebens mit der physischen Wirklichkeit sich frei zu machen, wie heute viele Menschen wenig rein empfinden können, aus den Vorurteilen unserer Welt heraus, die zwingende Kraft der spirituellen Weisheit der Anthroposophie.

Der alte Hardenberg hatte sich von der ganz rauhen Seite seines Unverstandes gegenüber seinem Sohn sozusagen losgerungen gehabt. Aus dem vollen materiellen Leben hat er sich hinaufgeschwungen, um in seiner Herrnhuter-Gemeinde dennoch einiges zu empfinden von einem tief religiösen Geiste, man könnte etwa sagen von dem Erkennen des Weltengeistes noch in der alten Weise. Dazu aber hatte er es nicht gebracht, die Kraft und Gewalt der Weistümer zu empfinden, die aus der Seele seines Sohnes kamen. Dazu bedurfte es schon der durch lange Zeiten hindurch festgelegten autoritativen Empfindungen, die man innerhalb einer solchen Gemeinde suggestiv fühlen kann, daß er ergriffen wurde in seiner tiefsten Seele von jenem wirklichen chris,tlichen Geist, der nur verstanden werden kann, wenn er vom Hauch der Geist-Erkenntnis durchweht ist.

Der alte Hardenberg fühlte einmal merkwürdig jenen Hauch des Geistes, des christlichen Geistes, als er in seiner Herrnhuter-Gemeinde mit den andern Persöniichkeiten beisammen war und als man ein gemeinschaftliches Lied anstimmte. Durch dieses Lied, dessen Ursprung er nicht kannte, wehte ihn an ein Ewigkeitshauch, und er war tief ergriffen von jenem Lied, das da begann:

Was wär ich ohne dich gewesen?

Was würd ich ohne dich nicht sein?

Etwas fühlte er, was er bisher nicht hatte fühlen können. Und die Feier war zu Ende. Der alte Hardenberg ging hinaus und fragte einige, die Mitteilnehmer waren: Von wem ist denn dieses herrliche Gedicht? - Das ist ja von Ihrem Sohn! - Losgelöst von allem Zu- sammenhang mit dem Physischen, nicht beirrt durch die Vorurteile des physischen Planes, hatte der alte Hardenberg die zwingende Gewalt

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des spirituellen Lebens gefühlt. Der Sohn aber war seit einigen Monaten bereits in bezug auf seinen physischen Leib unter der Erde! Denn dieses Erlebnis hatte der alte Hardenberg erst einige Monate nach Novalis` Tode. Als der alte Hardenberg so imstande war, durch die Umstände für eine kurze Zeit abzustreifen von dem physischen Plan alle die Vorurteile, die sich da ergeben, da wurde er hinauf- getragen in die spirituellen Höhen, wo er ihre zwingende Gewalt fühlte, die zwingende Macht der spirituellen Höhen, welche wir fühlen sollen unbekümmert um alle Vorurteile der materiellen Welt. Lassen wir sie unten, die materialistischen Vorurteile der Gegenwart! Fühlen wir das Zwingende des spirituellen Lebens und lassen wir uns aus demselben Kraft und Wärme in unser Herz ffießen! Tun wir das zur rechten Zeit, dann werden wir unsere Pfflchten in bezug auf die Menschheit der Gegenwart erfüllen.

Mit diesem Symbolum, das entnommen ist einem wirklichen Erlebnis des Vaters des Novalis, wollte ich Sie hinführen zu der Stimmung, zu der wir uns jetzt erheben wollen durch jene zwingende Gewalt, die in des Novalis Liedern liegt.

Hier trug Marie von Sivers (Marie SteIner) neun «Geistliche Lieder» des Novalis vor.

Es ist vielleicht am leichtesten möglich, gerade innerhalb dieser Festeszeit auch so recht zu fühlen und zu empfinden, nicht nur zu verstehen und zu wissen, dasjenige, was wir so manche Stunde hindurch im Anschluß an unsere Evangelien betrachtet haben. Und der Betrachtung dieser Evangelien war ja ein großer Teil der Zeit gewidmet, die wir für solche Betrachtungen im verflossenen Jahre zur Verfügung hatten. So sei denn heute in dieser kurzen Betrachtung, die sich an unsere Weihnachtsfeier noch anschließen soll, auch mehr hingedeutet auf wichtige Folgerungen, die sich ergeben aus unserer Evangelienbetrachtung: die Zusammenhänge mit jenem Ereignis, das uns insbesondere zur Weihnachtszeit so lebendig vor Augen stehen soll - die Zusammenhänge nuöt dem Christus-Ereignis.

Wir können an dem Christus-Ereignis nach mancherlei Richtungen die Bedeutung und Gewalt der anthroposophischen Weltanschauung für die Gegenwart und für die Menschiieitszukunft ermessen. Wenn

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wir gegenüber dem Christus-Ereignis eine solche tiefe Empfindung in unserer Seele wirken lassen, wie diejenige des Novalis war, werden wir ja immer aufs neue aufgefordert, uns zu fragen: Wie können wir immer mehr und mehr die Wahrheit dessen empfinden, was als ein gewaltiger Impuls eingezogen ist in die Menschheit, als in Palästina der Christus Jesus geboren worden ist? - Und wir dürfen in unserer Gegenwart gerade die Anthroposophie mit diesem Christus-Ereignis in einen innigen Zusammenhang bringen. Konnten wir doch zeigen, wie die verschiedenen Strömungen des menschlichen Geisteslebens der vorchristlichen Zeit zusammenffießen in dem Ereignis von Palästina. Wir konnten darauf hinweisen, wie dieses Ereignis von Palästina heute von einer großen Anzahl von Menschen höchstens geahnt wird, und wie es nach und nach erst, wenn sich die Menschen in spiritueller Hinsicht vertiefen werden, in seiner ganzen Gewalt und Bedeutung in ferner Zukunft wird begriffen werden können. Denn welche Weisheit man auch wird aufbringen im Laufe der Erdentwickelung: die schönste Vertiefung wird diese Weisheit einmal finden können dadurch, daß sie sich zum InstrUment machen wird, um zu begreifen, was der Christus-Impuls eigentlich ist.

Heute stehen wir schon in einer gewissen Beziehung vor der unmittelbaren Notwendigkeit aus den spirituellen Erlebnissen heraus auf dieses Christus-Ereignis hinzuweisen. Die Menschheit hat zur Zeit, als der Christus in Leibesgestalt auf der Erde wandeIte, den großen, gewaltigen Impuls bekommen, hinaufzusteigen wiederum in die geistige Welt. Aber dieser Impuls wirkt doch, noch bis in unsere Zeit hinein, sozusagen als ein Impuls, der gerade nur die geeigneten Seelen in seiner wahren Gestalt ergriffen hat. Dagegen die Menschheit als solche setzte zunächst, wie um das Maß dessen, was überwunden werden soll, voll zu machen, den Weg fort, herunter immer tiefer und tiefer in das materielle Dasein. Es ist ja des Menschen Dasein ein Heruntersteigen in die Materie. Immer tiefer und tiefer stieg, der Mensch auch in den nachatlantischen Zeiten in die Materie herunter. Das Christus-Ereignis bedeutet den Kraftimpuls, wiederum hinaufzusteigen. Aber dieser Kraftimpuls ist nur zum geringsten Teil irgendwie erfüllt. Dagegen ist das Heruntersteigen in die Materie auch in der

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nachchristlichen Zeit immer kräftiger und kräftiger zum irdischen Ereignis geworden, so daß durch das Heruntersteigen in die Materie auch das ganze Denken, Fühlen und Empfinden der Menschen angegriffen worden ist.

Wir stehen heute bereits vor einem Zeitalter leben in einem Zeitalter> in welchem die materialistische Forschung in die Auffassung des Christus-Ereignisses eingedrungen ist. Und in ernster Stunde geziemt es sich wohi, auf ernste Dinge hinzuweisen, wie das eines ist, daß in unserer Zeit die materialistische Forschung selbst das spirituellste Ereignis ergriffen hat, das über unsere Erde hingezogen ist. Sehen wir doch, wie heute materialistische Theologen nach der sogenannten «historischen Forschung» sagen, daß es unmöglich einen Beweis für einen äußerlichen historischen Christus geben kann! Und Theologen sind es heute bereits, welche sagen: Historische Forschung zwingt selbst zuzugeben, daß geschichtlich sich nicht nachweisen läßt, daß am Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina derjenige gelebt hat, von dem so gewaltige Worte uns in denEvangelien verkündet werden, von dem so gewaltige Impulse in das menschliche Geistesleben sich hineinergossen zu haben scheinen!

So scheint heute «Wissenschaft» sich berufen zu fühien, aus ihren Methoden heraus den historischen Christus hinwegzuwischen aus der Welt. Deshalb darf man sich erinnern, daß Geisteswissenschaft heute gerade beginnt, berufen zu werden, diesen historischen Christus Jesus aus ihren Elementen heraus zu beweisen. Es hängt der Glaube der Menschen nicht ab von den inneren Wahrheiten eines Wissenszweiges. Beweise über Beweise könnte es geben für das Fadenscheinige eines Wissenszweiges. Die Menschen können leben und gar nicht bemerken, daß es solche Beweise gibt. So werden auch in der Zukunft - und die Zeit wird noch lange dauern, wo das der Fall ist - immer mehr und mehr Menschen auf einem Gebiete dem materialistischen Denken entgegengehen und inimer mehr und mehr ergriffen werden von dem Glauben, daß die sichere Historische Methode gezwungen ist, abzuleugnen die Gewißheit eines historischen Christus Jesus. Wegzuwischen scheint Wissenschaft dasjenige, wofür wir, wie wir betont haben, ein neues Symbolum im Glanze goldiger Weisheit zu gewinnen hoffen.

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Es wird gewiß die Zeit kommen, wo man wissen wird von1 Christus nur in Kreisen, wie es dieser ist, wo man sich bekennen wird zur Geisteswissenschaft, durch die man das Wort verstehen wird: «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt!», und wo der, welcher hineinzuschauen vermag in die geistige Forschung, wissen wird, daß Derjenige, von dem der Impuls des Christentums ausgegangen ist, immer zu finden ist in der geistigen Welt, und daß aus dieser geistigen Welt heraus die Sicherheit zu gewinnen ist für das Christus-Ereignis. Nur in Kreisen, in denen man sich zu einem solchen spirituellen Bekenntnis hält, wird die Sicherheit für dasjenige zu gewinnen sein, für welches man dieses Symbolum wiederum sucht. Und die Menschen draußen werden sich nicht beweisen lassen, daß die Historische Methode, die äußere wissenschaftliche Methode selber auf einem sumpfigen Boden gebaut ist. Wer freilich heute Wert und Wesen der Wissenschaft zu verstehen vermag, der weiß schon auch aus der Fadenscheinigkeit und aus der Unbegründetheit der Methoden heraus, wie wenig es besagt, wenn heute gerade die, welche streng wissenschaftlich vorzugehen glauben, kommen und sagen: Alle die Gestalten, von dem Christus angefangen bis zu den Aposteln, lassen sich nicht historisch beweisen. - Aber es wird noch lange dauern, bis die Menschen von jenem Autoritätsglauben loskommen, von dem sie meiner), er sei kein Autoritätsglaube. Der schlimmste Autoritätsglaube ist heute vorhanden. Und die Menschen sehen gar nicht ein, daß der wahre Erlöser von dem Autoritätsglauben Derjenige ist, der im tiefsten Innern die Menschen bauen gelehrt hat auf die Kraft des eigenen Ichs. Derjenige, der uns gezeigt hat, was aufgenommen werden soll in dieses Ich, der kann uns auch zeigen, wie wir die Kraft der Wahrheit, wie wir die Quellen der Wahrheit in unserem Innern finden. Mit dem Christus im Innern finden wir Wahrheit im Innern; mit dem Christus im Innern finden wir den sicheren Boden eines freien und unabhängigen Urteils, finden wir den sicheren Boden über alle Autorität hinaus. Aber wir müssen uns gerade aus diesem Christus-Ereignis heraus in ernster Stunde auch ein ernstes Wort gesagt sein lassen, damit wir unseren Beruf als Antliroposophen fühlen lernen.

Vielleicht würde ich die kleine Einfügung, die ich jetzt zu machen

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gedrängt bin, in den nächsten Vorträgen tun, wenn es nicht längere Zeit dauerte, bis wir uns wiedersehen. Aber ich möchte auf etwas hinweisen, was der Anthroposoph als die tieferen Symptome seiner Zeit einsehen soll, sozusagen das Unmögliche des Wissenschaftstreibens in unserer Zeit. Diejenigen, welche an diese äußere Wissenschaft, die uns heute auch den historischen Christus hinwegdiskutieren will, glauben wollen, die werden ja unbelehrbar sein. Aber es muß doch einige Menschen geben, die aus dem Impuls der Anthroposophie heraus einiges verstehen, wie äußere Wissenschaft auf allen Gebieten sich selber auflöst, und wie allein spirituelles Leben in der Zukunft der Menschheit zum Heile gereichen kann.

Man sieht an den Zeitereignissen das Wichtigste nicht. Da hat sich in diesen Tagen in Wien ein Prozeß abgespielt, auf den die ganze Welt hingeblickt hat. Ganz Europa war sozusagen durch seine Vertreter versammelt, um sich von diesem Prozeß Kunde bringen zu lassen, weil man ihn für wichtig hielt. Das Wichtigste aber, was sich da abgespielt hat, hat man wahrscheinlich nirgends gesehen. Und diejenigen, welche nicht anthroposophisch vorbereitet sind, würden auch dieses Wichtigste, wenn sie es ausgesprochen hörten> als eine Phantasie empfinden. Da war ein Historiker, ein in Europa berühmter IIistoriker, der angesehen ist bei seinen Fachgenossen, bei den Geschichtsforschern, und der wichtige Werke nach gegenwärtig streng historischer Methode verfaßt hat, ein «guter Wissenschafter». Dieser Wissenschafter bekam eine Reihe von Dokumenten in die Hand, die überliefert worden sind aus einem der südiicheren Staaten Europas. Diese Dokumente sollten beweisen, daß im Südosten Österreichs Verräterei getrieben worden sei. Wer konnte nun nach dem Urteil der Menschen der Gegenwart mehr berufen sein, da zu prüfen> als ein IIistoriker? Em Historiker sollte doch mehr als jemand anderer dazu berufen sein, den Wert von Dokumenten zu prüfen. Beruht doch aller Glaube der Welt auf Dokumenten! Wie man Dokumente verwendet und zusamrnenstellt, wie man sie prüft, das gibt die Wahrheit. Das soll ja auch einzig und allein die Wahrheit über die Wunder des Christentums geben können!

Dieser Historiker und Geschichtsforscher, der jene Dokumente in

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die Hand bekam, war allerdings auch ein Schüler jenes Historikers, an den ich mich gern manchmal erinnere, wenn ich an meine eigene Jugendzeit zurückdenke. Da gab es zwei Historiker: der eine ein strenger Geschichtsforscher in bezug auf die strengen Methoden der Urkundenforschung; der andere, sein Kollege, hielt gerade weniger auf diese strengen Methoden, sondern mehr darauf, daß die Kandidaten einiges aus den wirklichen geschichtlichen Vorgängen wußten. So ereignete es sich denn einmal, daß der Lieblingsschüler jenes Urkundenforschers zu dem Doktorat kam. Er wurde geprüft zuerst in der Urkundeniehre, das heißt in der Lehre, durch die man lernt, recht gut festzustellen, wie man zu der Wahrheit kommt durch äußere, materielle Mittel. Er wurde zum Beispiel gefragt, in welcher päpstlichen Urkunde der i-Punkt zuerst vorkommt. Das ist sehr wichtig, daß man das weiß! Und das wußte der Kandidat gleich, daß unter einem gewissen Innozenz zuerst der i-Punkt vorkommt. Aber der andere Historiker, der Kollege, fragte dann: Darf ich jetzt auch den Kandidaten etwas fragen, der so genau gewußt hat, wo der i-Punkt zuerst vorkommt? Sagen Sie, Herr Kandidat, wissen Sie vielleicht auch, wann jener Papst, in dessen Urkunden der i-Punkt zuerst vorkommt, den päpstlichen Stuhl bestiegen hat? - Nein, das wußte er nicht. Wissen Sie dann vielleicht, wann er gestorben ist? - Nein, das wußte er auch nicht. Nun, Herr Kandidat, sagen Sie mir doch etwas anderes noch von diesem Papst! - Er wußte nichts! Da sagte der Professor, dessen Lieblingsschüler er war: Aber Herr Kandidat, es ist ja heute, als ob Ihnen ein Brett vor den Kopf genagelt ist! - Der andere aber sagte: So, Herr Kollege, es ist doch Ihr Lieblingsschüler! Wer hat ihm denn das Brett vor den Kopf genagelt?

Jener Historiker hat dazumal nichts Besonderes gelernt. Aber er wurde ein rüchtiger Urkundenforscher, der mit allen Mitteln der historischen Forschung feststellen kann, was die Wahrheit längst verflossener Zeiten ist. Wie sollte also jemand mehr berufen sein als er, zu untersuchen, was für Verräterei in jenen Dokumenten getrieben worden ist, die ihm von wichtigster Seite übergeben worden waren? Er ging also mit allen Mitteln historischer Forschung daran, zu untersuchen, und klagte in einem öffentlichen Artikel eine ganze Anzahl

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von Leuten schwerwiegender Handlungen an. Es kam zu einem Prozeß. Und in diesem Prozeß erwies sich eines der allerwichtigsten Dokumente als eine ganz plumpe Fälschung! Es handelte sich darum, daß eine gewisse Persönlichkeit in einer gewissen Stadt einen Verein präsidiert haben sollte; aber durch eine einfache Anfrage hätte man feststellen können, daß dieser Mann in der fraglichen Zeit gerade in Berlin war.

Historische Forschung ist hierbei streng zu Werke gegangen mit Dokumenten, die aus den Tatsachen der Gegenwart genommen sind. Historische Methode hat in diesem Falle nichts zustande gebracht, als

daß sie sich hat narren lassen in bezug auf Dokumente der Gegenwart. Das Wichtige, was ich meinte, ist das, daß hier nicht einmal irgendein Mensch oder Menschen vor Gericht gestanden haben, sondern die historische, die wissenschaftliche Methode ist in diesem Falle verurteilt worden, tatsächlich verurteilt worden! Das ist das wichtigste Symptom eines unmittelbar in der Gegenwart sich abspielenden Prozesses.

Da sollte man sich ganz ernsthaft fragen: Was ist eine Methode wert, die sich hermacht, darüber zu entscheiden, ob sich vor achtzehn oder neunzehn Jahrhunderten etwas zugetragen hat, wenn diese Methode nicht imstande ist, über die plumpsten Dinge der Gegenwart irgend etwas ausfindig zu machen? «Wissenschaft» selber saß hier auf der Anklagebank. Das sollte man erkennen! Und eine Wissenschaft, die aus den materialistischen Vorurteilen der Gegenwart hervorgeht, wird immer auf der Anklagebank sitzen, wenn die Menschen zu bequem sind, um auf eine solche Autorität zu halten, welche allein Autorität der Gegenwart sein kann, die sich von jener andern dadurch unterscheidet, daß man weiß, wer sie ist. Bei den andern Autoritäten weiß man nicht mehr, wer sie sind, wer sie ist, die Madame «Wissenschaft».

Gehen Sie einmal mit ernstem Bekenntnis zur spirituellen Weltanschauung dem nach, was man heute Wissenschaft nennt, und Sie werden sehen, wie es zerstiebt, wie es sich erweist als auf einem wirklich sandigen Boden erbaut, als zusammenstürzend wenn man ernsthaft damit zu Werke geht. Aber die Menschen werden sich nicht dazu bequemen, von dieser Seite aus einmal die Gegenwart zu betrachten.

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Die Menschen - namentlich die, welche außerhalb des anthroposophischen Lebens stehen - werden nicht die Gewissenhaftigkeit haben, sich einmal anzusehen, wie die Methoden beschaffen sind, welche die materialistischen Gewaltsurteile in die Seelen der Menschen hinein drängen.

Daher wird noch lange keine Möglichkeit gegeben sein als im intimen Kreise anthroposophischen Wirkens, dasjenige in seiner Wahrheit zu sehen, was der Menschheit zum größten Heil ist. Und wenn das, was zu Palästina geschehen ist und was wir symbolisch in unserem Herzen jedes Jahr neu auferstehen lassen, wenn das immer mehr und mehr durch die äußere Wissenschaft geleugnet und hinweggewischt werden sollte: innerhalb der anthroposophischen, der spirituellen Weltenströmung wird es eine Stätte geben, wo die Gewalt des palästinensischen Ereignisses immer heller und heller aufleuchten wird und von wo aus wiederum in die übrige Menschheit hinausströmen wird das Leben, das nur aus diesem Ereignisse kommen kann.

Was kann uns durch ein wirkliches Miterleben des Ereignisses von Palästina in der Seele aufgehen? «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erdenepoche!» So, könnten wir sagen, ist das Grundwort des Christus Jesus. Das heißt, der Christus Jesus wandelte im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina in Leibesgestalt. Er ist seit jener Zeit zu finden in der geistigen Welt, denn er hat sich seit jener Zeit mit der geistigen Atmosphäre der Erde vereinigt. Er ist der Erdengeist geworden. Wir finden ihn innerhalb der geistigen Atmosphäre unserer Erde, wenn wir ihn da suchen. Er durchdringt immer mehr und mehr alles Leben unserer Erde.

Was aber sollen die Menschen durch diesen sich in ihre Seelen immer mehr und mehr einlebenden Christus-Geist gewinnen? Wollen wir ganz genau verstehen, was die Menschen durch diesen sich in ihre Seelen einlebenden Christus-Geist gewinnen sollen in der Zukunft, dann müssen wir gerade das versuchen, was wir jetzt seit einiger Zeit innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung tun. Was wir in der anthroposophischen Bewegung tun, das ist nicht etwa einer Willkür entsprossen, das ist nicht irgendeinem bloß von diesem oder jenem Menschen aufgestellten Programm entsprossen. Spirituelles Leben

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geht zuletzt zurück auf diejenigen Quellen, die wir bei jenen Individualitäten suchen, welche wir nennen die «Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen». Und bei ihnen finden wir die Impulse, wenn wir sie richtig suchen, wie wir von Epoche zu Epoche, von Zeitalter zu Zeitalter wirken sollen.

Es ist ein großer Impuls in der letzten Zeit aus der geistigen Welt zu uns gekommen. Und heute, am feierlichen Weihnachtsabend in unserem Kreise sei hingewiesen auf diesen wichtigen Impuls, sozusagen auf eine Weisung, welche uns im Laufe der letzten Jahre aus der geistigen Welt wie eine Maßnahme des astralischen Planes zugeflossen ist. Und unter diesem Impuls hat sich unsere anthroposophische Bewegung hier in Mitteleuropa entwickelt. Ungefähr in folgender Weise könnten wir diesen Impuls in menschliche Worte kleiden: Siehe hin auf das, was sich in der äußeren Welt zuträgt: die Worte der Evangelien werden immer mehr und mehr mißverstanden! Man deutelt an iI1nen herum, man prüft sie mit äußerlichen geschichtlichen Methoden. Alle bloße äußere Geschichte muß eine Zeitlang für den spirituellen Forscher schweigen. Was jetzt notwendig ist das ist, daß die Evangelien wieder verstanden werden ganz wörtlich, denn in ihrem wörtlichen Verstehen liegt ihr wahrer Weisheitsgrund!

Wir wurden angeleitet aus der geistigen Welt heraus, die Evangeiien wörtlich erst wieder kennenzulernen, zu verstehen, was in ihren Worten enthalten ist. Aus diesem Impuls - und aus der Erweiterung und Ausgestaltung dieses lmpulses - ging alles hervor, was wir in der Betrachtung des Joharänes-Evangeliums, des Lukas-Evangeliums und des Mattliäus-Evangellums versucht haben und was wir bei der Betrachtung des Markus-Evangeliums noch versuchen werden. Wörtlich sollen wir wiederum die Evangelien zu verstehen versuchen! So sagen uns diejenigen, deren Impuls wir aus der geistigen Welt empfangen. Das ist kommendes Christentum: folgen diesem Impuls, die Evangelien in ihrer Wörtlichkeit zu verstehen. Und was wird uns, wenn wir die Evangelien wörtlich verstehen, wenn wir die Weisung der spirituellen Mächte befolgen, die vom astralischen Plan herunter so deutlich geredet haben, wie sie in einem Jahrhundert kaum ein zweites Mal sprechen? Das wird uns, was uns notwendig werden muß, wenn

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wir uns zum Instrument machen wollen, um die kommende Menschheitsepoche in der richtigen Weise leiten und weisen zu können in bezug auf dasjenige, was eine Leitung und Weisung im Raume braucht.

Wenn wir zurückblicken in diejenigen Zeiten, in denen die Menschheitsentwickelung sich in uralten Vergangenheiten abgespielt hat, da wissen wir, daß es damals noch nicht so war, daß das menschliche Ich voll ausgebildet gewesen wäre. Der Mensch geht in seiner Entwickelung auf eine Gruppenseele zurück. Wie die Tiere heute noch eine Gruppenseele haben, so war einer gewissen Anzahl von Menschen eine gemeinsame Ich-Seele eigen. Das finden wir bei allen Völkern. Wir wissen also, daß sich die Menschheit herausentwickelt hat aus einer Gruppenseelenhaftigkeit. Und in der Zeit, als der Christus heruntergestiegen ist auf unsere Erde, war die Menschheit an dem Punkt angekommen, wo die alten Gruppenseelen anfngen, ihre Bedeutung zu verlieren. Die alten GruppenseeIen hatten sich zurückgezogen. Jeder Mensch war darauf angewiesen, in sich die individuelle Seele, die eigentliche Ichheit zu entwickeln. Und wer brachte das, was sich in die individuelle Seele hineinergießen sollte? Das brachte der Christus- Impuls! Und je mehr wir uns mit diesem Christus-Impuls erfüllen, desto reicher wird unsere Ichheit, so daß sie in sich selber aufsteigen läßt diejenigen Wahrheiten, welche wir brauchen, um in die Zukunft hineinzuleben.

Jetzt eben sind wir in der Gegenwart an einem wichtigen Wendepunkt angekommen. Gar mancher fragt heute: Was hat es denn für eine Bedeutung, daß wir sprechen von Wiederverkörperung, da man sich doch nicht erinnern kann an die früheren Verkörperungen? Gewiß, man kann es heute nicht. Aber ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, wenn man ein vierjähriges Kind bringt und sagt Das ist ein Mensch; aber er kann nicht rechnen -, so ist das kein Beweis dafür, daß der Mensch nicht rechnen kann. Man soll warten, bis das Kind herangereift ist, um rechnen zu lernen. In zehn Jahren kann es rechnen. So wird des Menschen Seele heranreifen, sich an die früheren Verkörperungen zu erinnern. Ob sie sich richtig erinnern wird, das ist eine zweite Frage.

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Jetzt eben stehen wir an einem wichtigen Wendepunkt. Im vierten nachatlantischen Zeitraum ist der Christus heruntergestiegen als der Impuls, womit die Menschen ihre Ichheit als eine in sich gegründete

Wesenheit erfühlen können. Jetzt stehen wir in dem fünften Zeitraum, dem letzten, in dem sich die Menschen nicht mehr an ihre früheren Inkarnationen erinnern können. Im sechsten Zeitraum, der dem unsrigen folgen wird, werden sich die Menschen erinnern an ihre früheren Inkarnationen. Ob sie sich richtig erinnern, das hängt davon ab, wie sie heute die Impulse dazu in ihre Seele aufnehmen, ob sie sich fähig machen, sich in der richtigen Weise zu erInnern. Diejenigen allein werden sich in der Zukunft in der richtigen Weise an ihr gegenwärtiges Dasein erinnern, welche den Christus-Impuls aufgenommen haben, den Quell der wahren Ichheit. Dafür werden sich bei denjenigen, welche diesen Quell der wahren Ichheit nicht aufnehmen, neue - Gruppenseelen bilden.

Sehen Sie einmal hin auf die äußere Wirklichkeit: wie die Menschen heute geradezu drängen nach Gruppenseelenhaftigkeit, obwohl sie es nicht müßten, sondern Wahrheitsquellen finden könnten, die ihnen in der eigenen Seele ersprießen. Beobachten Sie, wie jeder alles nur so tun will, wie «man» alles tut. Die Menschen suchen nicht nach dem, was sie allein in ihrer Seele finden können, sondern wir sehen sie danach suchen, was sie in Kategorien, in Gruppen zusammenführt, und wie sie am frohesten sind, wenn sie nicht selbständige Wahrheiten, sondern das haben können, was gleich den andern ist. Ja, man haßt sogar die Individualität, so daß man in diesem Haß gegen das Individuelle die stärksten Waffen zu schmieden glaubt gegen eine solche Weisheit, wie es die anthroposophische ist. Denn anthroposophische Weisheit muß in der Seele eines jeden Menschen erglänzen; sie kann nicht mit Hebeln und mit Schrauben, mit äußerem Experimentieren erzwungen werden. Was von anthroposophischer Seite gesagt wird, das tritt uns nicht mit äußeren Hebeln und Schrauben entgegen. Das müssen wir> weil es der unsichtbaren Welt angehört, in die jeder selbst hineingehen muß mit seinem Denken, uns aneignen, ein jeder für sich, ohne daß wir durch ein äußeres Instrument überzeugt werden. Durch anthroposophische Weisheit werden wir eine Individualität.

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Nehmen wir diese anthroposophische Weisheit in der richtigen individuellen Weise auf, in der sie durchdrungen ist von dem ChristusImpuls, dann senkt sich in unsere Seele das, was es uns möglich macht> daß wir uns im sechsten Zeitraum an eine Ichheit erinnern, die jeder für sich selber hat, die in sich geschlossen ist. Dagegen wird die Erinnerung derjenigen, die heute künstliche Gruppenseelen suchen, so sein, daß die Gruppenseelenhaftigkeit wieder da sein wird. Erinnern werden sich die Menschen im sechsten Zeitraum an ihre gegenwärtige Inkarnation; aber dann wird es ihnen klar sein: Du hingest dazumai in deinem Urteil zusammen mit dem Urteil der andern! - Und eine furchtbare Fessel wird es sein für den Menschen, der sich hineingestellt fühlen muß in eine Gruppenseelenhaftigkeit. Gruppenseelenhaftigkeit droht denjenigen, die den Christus-Impuls nicht aufzunehmen vermögen in unserer Zeit. Wenn wir die Botschaft des Christus-Ereignisses, jene Botschaft von der menschlichen Ichheit in uns aufnehmen, dann senkt sich in unsere Seele die Möglichkeit, das Ziel der Menschheit für den sechsten Zeitraum zu erreichen: daß wir nicht zurückblicken in eine Gruppenseelenhaftigkeit, sondern in eine durchchristete Ichheit.

So zieht in denjenigen, der das Christentum heute in der richtigen Weise zu erfassen versteht, zu durchglühen und zu durchströmen versteht mit dem Geiste der Anthroposophie, dasjenige hinein, was notwendig ist, damit er ein voller Mensch sein kann in dem sechsten Zeitraum und ein Instrument sein kann zum richtigen Wirken in jenem Zeitraum.

Das also ist die Frage: Ob wir uns entschließen wollen, zurückzublicken von unseren Wiederverkörperungen im sechsten Zeitraum auf unser Ich in der Gegenwart als unindividuell, als unselbständig, als zusammengeschlossen in Gruppenhaftigkeit, oder ob wir uns erinnern wollen an ein Ich, das den Quell der Geistigkeit in unserer Erdentwickelung selber erfaßt hat, das erfaßt hat das große Wort: Ehe denn alle Persönlichkeit war, ehe etwas war, was sonst von uns auf der Erde leben kann, und «ehe denn ein Abraham war, war das Ich-bin».

Was in uns lebt, schließt sich unmittelbar zusammen mit dem Vater

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Geist. Was durch das Verständnis des Christus-Impulses in uns aufleben kann, das schließt sich bewußt in uns nur zusammen mit dem Quell der Welt, wenn wir den Christus-Impuls verstehen. So bedeutet der Christus-Impuls, indem er sich in unsere Seele senkt, die Möglichkeit für uns, als eine solche Ich-Wesenheit im sechsten Zeitraume wieder aufzuerstehen, die zurückblickt auf ein Selbständigwerden. Lassen wir den richtig verstandenen Christus in unserem eigenen Innern geboren werden, dann werden wir auferwecken können die Erinnerung an diesen richtig verstandenen Christus in dem sechsten nachatlantischen Zeitraum.

Und wenn wir im fünften Zeitraum ein richtiges Weihnachtsfest feiern, werden wir dafür im sechsten Zeitraum ein richtiges Osterfest feiern können. Wie das schöne Weihnachtslied uns singt in der Christnacht: «Uns ist der Heiland heut erstanden!», so werden wir, indem wir uns zurückerinnern an den in unserer Seele geborenen Christus, in uns selber die Botschaft vernehmen an diese wahre höhere IchWesenheit. Wir werden uns daran zurückerinnern und diese Erinnerung auferstehen lassen als das Osterfest in uns selber; und dann werden wir in uns selber den großen schönen Oster-Orgelton hören können: Der Christus in uns erstehe als befeuernd und erleuchtend unsere eigene göttliche Individualität!

So schließen sich Weihnachtsfest und Osterfest im fünften und sechsten Zeitraum unserer nachatlantischen Zeit zusammen. So sollen wir lernen dasjenige auffissen, was wir aus den Evangelien erfahren. Wir haben schon teilweise gelernt und werden es noch weiter lernen, wie zusammengeströmt sind die Buddha-Strömung, die ZarathustraStrömung und die althebräische Strömung in dem Christentum, wie sie eingezogen sind in dem Sinne, wie es uns die Evangelien auch schildern, in die Persöniichkeit des Christus Jesus. In unserer eigenen Ichheit muß dasjenige Leben gewinnen, was so in der vorchristlichen Zeit in der Welt gewebt und gelebt hat; das muß wiedergeboren werden, durchdrungen von dem Christus-Impuls. Dann feiern wir das anthroposophische Weihnachtsfest in unserer eigenen Seele: die Geburt des Christus in uns. Und wenn wir diesen in uns verstandenen Christus hinübertragen durch Kamaloka und Devachan in ein neues

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Erdenieben und von dort immer wieder zu einem neuen irdischen Dasein bis in den sechsten Zeitraum hinüber, dann werden wir uns erinnern an das, was wir in unserem fünften Zeitraum erlebt haben und werden das christliche Osterfest in uns selber dann also feiern.

So lebe in uns in dem Weihnachtssymbol dasjenige symbolisch, was wir in den le`uten Zeiten aus den Evangelien heraus als das ChristusMysterium in unsere Seele aufgenommen haben. So lassen wir diese Lichter, die hier vor uns brennen, eine Aufforderung an uns sein, jenen Impuls auszuleben, der uns aus der geistigen Welt zukommt: die Evangelien wörtlich zu verstehen! Und diese äußerlich leuchtenden Lichter fassen wir auf als die Sinnbilder derjenigen Lichter, die in unserer Seele entfacht werden sollen und die, wenn sie durch die anthroposophische Christus-Erkenntnis entfacht werden, hinüber- brennen werden in den sechsten Zeitraum der nachatlantischen Zeit.

Fühlt, gerade an diesem Weihnachtsfest, daß es an Euren Seelen ist, sich zu entschließen, in diesem Sinne würdige Werkzeuge zu werden für die Entwickelung der Menschheit in die Zukunft hinein! Fühlt die ganze Schwere und das ganze Gewicht des anthroposophischen Entschlusses: nicht ein jeder für sich sollen wir Anthroposophen sein; sondern indem wir berücksichtigen, was eben gesagt worden ist, sollen wir Anthroposophen sein aus Pfficht zur Menschheit, aus Pfflcht zur ganzen Menschheitsaufgabe und Menschlieitsmission. Lassen wir uns herunterleuchten vom Weihnachtsbaum symbolisch das Licht, das uns anfeuern kann zu dieser unserer spirituellen Menschheitsmission. Dann haben wir etwas verstanden von dem, was uns wiederum für ein neues Jahr Kraft geben kann, uns immer weiter in das anthroposophische Leben und in die anthroposophischen Weistümer hineinzufinden.

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HINWEISE

In den vorliegenden Vorträgen wird vor allem die «Vorgeschichte des großen ChristusEreignisses» behandelt und damit die Thematik des vorausgegangenen Vortragszyklus` über «Das Lukas-Evangelium« (Basel, 15.-26. September 1909) fortgesetzt.

Die in den Vorträgen oft verwendeten Worte «Theosophie», «theosophisch», deren sich Rudolf Steiner im Sinne seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft bediente, sind an den sachlich in Betracht kommenden Stellen durch die Ausdrücke «Anthroposophie»,

Texrnnterlagen: Die ersten beiden Vorträge (11. und 18. Oktober 1909) sind stark gekürzte zusammenfassende Nachschriften, von denen der erste nach Notizen von Jakob Mühletaler, der zweite nach wahrscheinlich von Alice Kinkel stammenden Notizen gedruckt wurde. Die Vorträge vom 2., 9. und 23. November 1909 wurden von Frau Berta Reebstein nachgeschrieben. Die Nachschriften der Vorträge vom 13., 14. und 19. November stammen von unbekannter Hand. Die Vorträge vom 4. und 7. Dezember 1909 wurden nach Nachschriften von Camille Wandrey gedruckt und die Weihnachtsvorträge vom 21. und 26. Dezember 1909 nach Nachschriften von Walter Vegelahn. Ein Originalstenogramm ist nur von den Vorträgen vom 2., 9. und 23. November 1909 vorhanden.

Einzelausgaben

Berlin 2., 9., 23. November 1909 «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte des Matthäus-Evangeliums», Dornach 1934

Stuttgart 13. und 14. November 1909 München 4. und 7. Dezember 1909, l. und Il. Vortrag in «Das Ich, der Gott im Innern und der Gott der äußeren Offenbarung», Dornach 1935

Berlin 21. Dezember 1909 Berlin 26. Dezember 1909 Berlin 11. und 18. Oktober, Zürich 19. November 1909: Erstdruck in diesem Band, 1. Auflage 1966.

Werke Rudolf Stein ers innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

224

Zu Seite:

9 Im letzten Basler Kursus: «Das Lukas-Evangelium». 10 Vorträge in Basel vom

15.-24. September 1909, GA Bibl.-Nr. 114.

innerhalb der Deutschen Sektion: Die damals von Rudolf Steiner geleitete Sektion innerhalb der Theosophischen Gesellschaft.

Die einleitenden Worte, charakterisierend die von Rudolf Steiner gewünschte Methode der geisteswissenschaftlichen Arbeit und des Herantretens an das Verständnis der Christus-Wesenheit, werden im Band Bibl.-Nr. 251 der Gesamtausgabe erscheinen. Sie sind bereits erschienen im Nachrichtenblatt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht«, 11. Jahrgang Nr. 44, 4. November 1934.

13 bei der Gallwespe: Form und Verhalten beziehen sich auf die Sandwespe (Ammophila sabulosa, heute Psammophila hirsuta genannt).

21 Äschylos, 52:`A56 v. Chr., griechischer Tragiker.

25 Die Betrachtungen anknüpfend an dasjohannes- und das Lukas-Evangelium: «Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium«. 14 Vorträge in Kassel, GA Bibl.-Nr. 112. «Das LukasEvangelium», siehe Hinweis zu Seite 9.

43 So he?flt es dort: 1. Mos. 22, 17.

59 Hebbel, Tagebuch-Nr. 1336: «Nach der Seelenwanderung ist es möglich, daß Plato jetzt wieder auf der Schulbank Prügel bekommt, weil er den Plato nicht versteht«.

65 jene Worte, die der Taufer spricht: Matthäus 3, 7-9.

72 Akasha-Chronik: Siehe «Aus der Akasha-Chronik« (1904), GA Bibl-Nr. 11.

76 Spinoza, 1632-1677. «Ethica» 1677.

85 «Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910), GA Bibl.-Nr. 13.

87 Dimitrij Iwanowitsch Mendelejew, 183#1907, russischer Chemiker.

101 In der Abhandlung «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Erstmals erschienen in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» Nr. 26, 1904, GA Bibl.-Nr. 10.

118 die Zeit, wo die juden in die Gefangenschaft geführt worden sind: Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. und Wegführung nach Babel.

126 als junger Zweig: Am 10. Oktober 1908 eingeweiht.

127 vorgestern in Bern: Nur ungenügende Notizen vorhanden.

135 Goethes «Geheimnisse»: Vgl. Rudolf Steiner: «Die Geheimnisse, ein Weihnachts- und Ostergedicht von Goethe.» Vortrag in Köln am 25. Dezember 1907. Einzelausgabe Dornach 1963, aus Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 98.

154 daß Fichte mit Recht gesagt hat: «Die meisten Menschen würden sich lieber für ein Stück Lava im Monde halten als für ein Ich.» In «Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre.« 1794. Anmerkung zu §4.

225

156 orientalische Weistümer vom Standpunkt der westlichen Lehre: Vgl. Rudolf Steiner: «Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi.», GA Bibl.-Nr. I13.

165 und immer kugelt das herum. . .: Gemeint ist die Art der Darstellung in den Büchern der

166 des sogenannten Ägypter-Evangeliums: Nur in Bruchstücken vorhandenes apokryphes Evangelium. Die hier angezogene Stelle wird bei Hennecke, Neutestamentliche Apokrvphen, 2. Aufl., Tübingen 1924, wie folgt wiedergegeben: «Auf die Erkundung der Salome, wann der Gegenstand ihrer Frage bekannt werden, würde, sagte der Herr: Wenn ihr den Anzug der Scham mit Füßen tretet, und wenn die zwei eins werden ... »

193 johannes Taukr, um 13001361, Dominikaner. Von seinen Predigten sind achtzig erhalten.

194 frühestes Zeugnis von Weihnachtsbaumen: In Straßburg für 1539 nachgewiesen (siehe Etymol. Wörterbuch von Kluge 1934).

195 Meister Eckhart, um 12601328, Dominikaner. Lehrte in Paris und Köln. 1329 Verurteilung von 26 Sätzen seiner Lehrweise.

197 Bäume leuchtend: Unter dem Titel «Weihnachten» 1822 anläßlich der Gründung einer höheren Bürgerschule geschrieben.

204 «Die Sonne schaue. . .: Diese Worte wurden erstmals am 17. Dezember 1906 in Berlin gesprochen. Vorliegender Text nach dem Eintrag in ein Notizbuch von 1906. Es gibt Varianten mit kleinen Abweichungen in späteren Jahren, z. B. 1921/22.

206 einem wirklich theosophischen Dichter: « theosophisch» etwa im Sinne der Ausführungen von Rudolf Steiner am 23. Oktober 1909 (Vortrag I in «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie», GA Bibl.-Nr. 115.) Novalis schrieb am 26. Dezember 1797 an Friedrich Schlegel: «Daß wir uns sehen könnten! Meine und Deine Papiere gegeneinander auszuwechseln! Du würdest viel Theosophie und Alchemie finden. »

207 Der deutsche Ad/ige Ha~denbe,g: Heinrich Ulrich Erasmus Freiherr von Hardenberg, 17381814.

208 Novalis` geist/iches Lied: Das erste der «Geistlichen Lieder«.

209 Betrachtung dieser Evangelien: Siehe Hinweis zu Seite 9.

211 und Theologen sind es heute bereits: Z. B. Albert Kalthoff «Das Christus-Problem», Leipzig 1902.

212 gerade die, welche streng wissenschaftlich vorzugehen glauben: z. B. John M. Robertson: «Die Evangelien-Mythen», Jena 1910, und Prof. Arthur Drews: «Die Christus-Mythe», 19091911. Dazu Rudolf Steiner u.a. im Vortrag vom 8. Mai 19I0, in «Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins», GA Bibl.-Nr. 116.

«Ich hin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt!»: Matth. 28, 20.

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213 Da hat sich in diesen Tagen in Wien ein Prozeß abgespielt: Heinrich Friedjung, 1851 bis 1920, österreichischer Historiker und politischer Schriftsteller, hatte sich ein falsches Dokument in die Hand spielen lassen, das serbische Umtriebe gegen Österreich beweisen sollte. Vgl. dazu: «Masaryk erzählt sein Leben», Gespräche mit Karel Capek, Verlag Cassirer, Berlin 1937, S. 130/131.

220 «ehe denn ein Abraham war, war das Ich-bin»: Joh. 8, 58.

221 Kamaloka und Devachan: «Seelenwelt» (elementarische Welt) und «die geistige Welt« (Geisterland) vgl. u. a. Rudolf Steiner «Die Theosophie des Rosenkreuzers», 14 Vorträge vom 22. Mai bis 6. Juni 1907, GA Bibl.-Nr. 99.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.