GA 115

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Anthroposophie
Psychosophie
Pneumatosophie

Zwölf Vorträge, gehalten in Berlin
vom 23. bis 27. Oktober 1909,
1. bis 4. November 1910
und 12. bis 16. Dezember 1911

GA 115

1965

Inhaltsverzeichnis


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Aus dem Vorwort von Marie Steiner zur ersten Buchausgabe 1931

Mit diesen nun in Buchform erscheinenden Vorträgen gab Rudolf Steiner bei der Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theo­sophischen Gesellschaft im Jahre 1909 in Berlin zum erstenmal eine festere Fundamentierung - so drückte er sich aus - der von ihm geleiteten europäischen geisteswissenschaftlichen Bewegung. Diese er­kenntnismäßig erhärtete, verstandesdurchprüfte Fundamentierung war notwendig geworden gegenüber dem Versuch der aus orientalischem Okkultismus gespeisten anglo-indischen theosophischen Be­wegung, die das eigentliche abendländische Geistesleben in ihrem Kern und Gehalt nicht erfaßt hatte und die Abirrungen der materia­listischen Kultur nur sah, ohne ihren tieferen Sinn zu verstehen; die nun glaubte, die Europäer zurückführen zu können zu den Quellen uralter Weisheit, ohne den historischen Werdegang der abendländischen Völker und ihre daraus entspringenden Aufgaben zu würdigen. Das für breitere Menschenmassen zu hoch gesteckte Ideal einer erden-fernen Theosophie, einer Gottesweisheit, wie es in tieffrommer Gott-ergebenheit und inbrünstiger Liebesglut auch die deutschen Mystiker des Mittelalters und der eben aufkeimenden Neuzeit auf dem Wege innerer Versenkung und geistdurchtränkter Entrücktheit zu erreichen suchten, konnte nicht popularisiert werden, ohne zu vertrivialisieren. Die heimatlosen Seelen unserer Zeit, die in der materialistischen Stick­luft sich ersterben fühlten, fanden zwar hier eine Hoffnung und erblickten einen Weg - der sich jedoch bald wieder verschloß. Denn dem kritisch eingestellten europäischen Denken und seinem Bedürfnis nach Analyse und Synthese konnte das dauernde Schematisieren und die Erzählung wunderbarer Geschehnisse nicht genügen, ohne einen konsequent durchgeführten Faden von Ursache und Wirkung, Wer­den und Vergehen innerhalb aufsteigender Metamorphosen, hin zu dem Ziele höherer Entwickelung. Das abendländische gesteigerte Persönlichkeitsgefühl konnte nicht einfach annehmen, daß der Kreis­lauf des Geschehens sich in ewig gleichmäßiger Wiederholung abspiele,

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ohne tieferen Sinn, nur zum Zweck der endlichen Befreiung vom Dasein. Der sich offenbarende Weltenurgrund mußte, dem euro­päischen Empfinden nach, Strahlungen zu einem Mittelpunkt hin­senden, in ihn sich konzentrierend untertauchen, aus diesem heraus wieder in neuer Spiegelung, mit erhöhtem Inhalt heraustreten zu aber Tausend neuen Bildungen und Daseinsgestaltungen. Dieser Mittel­punkt alles Weltgeschehens konnte nur erblickt werden in der Kraft des Ich. Göttliches Ich hatte sich in das Dasein ergossen; menschliches Ich, der Tropfen aus dem Meere allgöttlichen Ichwesens, mußte durch Gestalt und Form hindurch, nach Maß, Zahl und Gewicht gebildet und harmonisiert, sich in seiner Eigenheit ergreifen, um dann als Einzel-Ich mit Wahrung des so Errungenen zum göttlichen Ich zu­rückzukehren, in Freiheit seinen Willen mit dem göttlichen Willen verbindend, durch Erkenntnis und Einsicht zum Wollen dieser höch­sten Wiedervereinigung geführt. Menschen-Ich kann sich selbst nicht entfliehen, kann sich selbst nicht auslöschen; es muß sich in ewigem Streben suchen, erarbeiten, durchläutern, und in diesem Prozeß der Erweckung allmählich auch die von ihm im Laufe von Jahrbillionen in ewig neuen Formbildungen abgestoßene Schlackenwelt erlösen und zum Geiste zurückführen. Tut es dies nicht, so wird es Beute der Dämonenwelt und von ihr in die Schlackenwelt eingeschlossen.

Diese Aufgabe des Menschen, das Ich, das durch Äonen an seinen Hülien und seinem Wesenskern gearbeitet hat, bewußtseinsmäßig zu ergreifen und nun, mit Hilfe des schwachen Widerscheins, den das abstrakt gewordene Denken ihm gelassen hat, zu ihm wieder durch­zudringen, nachdem seine lebendige Wirkungskraft durch die Kurz­sichtigkeit des vom bloßen Sinnenschein genährten Verstandes eine Zeitlang überdeckt worden war, gibt dem in immer neuen Wieder-verkörperungen auftretenden Menschenleben den höchsten Sinn. So überwindet der von der Gottheit zur Freiheit entlassene Mensch all­mählich die Grenzen des an die Erde geketteten Verstandes und er­reicht sein höchstes Ziel: zurückkehrend zum Geiste wieder Ausdruck zu werden des göttlichen Ich. Es ist die Aufgabe des Abendlandes, das Einzel-Ich auf den Wegen des nimmer ruhenden Forschens und der freien persönlichen Betätigung diesem Ziele entgegenzuführen.

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Nicht die Flucht vor dem in der Persönlichkeit sich ausdrückenden Einzelwesen, wie der Buddhismus sie als Erlösungsprinzip lehrt, und der Neo-Buddhismus sie dem müdgewordenen Abendlande verfüh­rerisch wieder vorspiegeln möchte - wir verweisen auf die jetzt statt­findende Vortragstätigkeit des durch zwanzigjährige ausgiebige Reklame der Theosophlschen Gesellschaft und des «Sterns des Ostens» bekannt gewordenen Krishnamurti -: nein, auf die Befreiung des in der Persönlichkeit zunächst eingefangenen Einzel-Ichs kommt es an, auf das Erwachen seiner durch Selbstbetätigung erstarkten eigenen Kräfte, damit es vollbewußtes Werkzeug werde des von ihm anerkann­ten göttlichen Willens und an seinen Zielen erkennend mitarbeite. Diesen Weg hat die Anthroposophie trotz der Verbindung mit einer nach rückwärts schauenden orientalisierenden theosophischen Strö­mung als notwendig hingestellt und scharf umrissen. Am entscheiden­den Wendepunkte des Niederstiegs vom Gottes-Ich zum Menschen­Ich, vom Menschen-Ich zurück zum Gottes-Ich, öffnet sie uns das Auge für das Licht, das vom Mysterium der Menschwerdung Christi und seines Opfertodes ausstrahlt.

Daß der Mensch bewußt sein Menschtum fände, dazu war es not­wendig, für unsere Zeit diesen anthroposophischen mittleren Weg zu bahnen von der Erde zur Gottheit hin: damit der Mensch sich und die Welt erkennen lerne, damit er reif werden könne, den Begriff der Gottheit zu fassen. Der nach zwei Seiten hin gespaltene Mensch, der Erdenwurm, erfaßt ihn nicht ohne härteste Anspannung aller Kräfte seines Wesens. Soll nicht nur der seine Zeit überflügelnde, einzelne überragende Wegbahner die Kommunion mit Gott erreichen, soll die Menschheit einer Epoche diesem Ziele entgegengeführt werden, weil sonst die drohende Gefahr des Versinkens in das Untermenschliche Tatsache werden könnte, so war es notwendig, daß einer käme, der diesen mittleren Weg zu bezeichnen und für andre gangbar zu machen in der Lage war: den Weg vom Menschtum zur Gottheit - durch das «Erkenne dich selbst» hindurch.

Das alte Mysterienwort muß heute vor das Bewußtsein der ganzen Menschheit treten. - Damit dies geschehen könne, war für die von ihrem Urgrund losgelöste Persönlichkeit die lange und mühsame Wanderung

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erforderlich durch das harte Gestrüpp des kritischen Denkens, des vom Geiste abgeschnürten Verstandes, bis hinein in die Abirrun­gen materialistischer Beschränktheit, bis hinan an das Tor der ge­waltigen technischen Entdeckungen, vor dem wir heute stehen, und an dem bereits die Gewalten der Unterwelt klopfen. Es ist das zwi­schen Geist und Natur sich auftuende Elementarreich, das Kräfte her­aufschickt, deren ungeheure dämonische Wirkungsmacht die Ent­decker der ersten Wirkungen nicht erahnen, die sie nur ermessen wer­den, wenn sie in die Welt des Geistes erkennend dringen. Um das zu können, müssen sie erst den Menschen erkennen: sich selbst. Anthro­posophie kann uns zu diesem Ziele führen auf ernsten Arbeitswegen; ohne sie werden wir weder den Abgrund noch den Himmel ermessen können. Beide sind im Menschenwesen verborgen. Erkenne den Menschen, dann vermagst du erst den Weg zu beschreiten, der die Hölle erlöst und den Himmel erobert.

Dieser Weg zum wissenden Erfassen der Welt und des Menschen führt zunächst durch die kühlen Pfade philosophischer Denkweise, in scharf mit den Rätseifragen des Lebens sich auseinandersetzender Be­grifflichkeit. Es scheint dieser Weg mühevoll und fast überflüssig denen, welchen das unmittelbare Gefühl den leichteren seelischen Flügelschlag gibt: er ist aber unvermeidlich und notwendig für unsere Zeit, welcher beim Streben nach Ergründung des Daseins die mysti­sche Versenkung allein nicht mehr genügen kann.

Rudoff Steiner erleichterte uns das Beschreiten dieses Weges, indem er zunächst die Atmosphäre schuf, die unsere Seelen erwärmt, unsern Geist emporhebt und uns so den Blick öffnet für die Höhen der wah­ren Theosophle und der Evangelienweisheit. Aber er ersparte uns nicht die Erarbeitung, die Erklimmung jener steilen Stufen zu den Wissenshöhen.

Die hier in diesem Buche gedruckten Betrachtungen beweisen es. Sie sind ein notwendiger Bestandteil in der Reihe der erkenntnis-theoretischen Schriften Rudolf Steiners, und sie sind gleichfalls wich­tig für die wirklichkeitsgemäße Feststellung der historischen Ge­schehnisse, die den Rahmen abgaben für sein Wirken . . .

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I Anthroposophie

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ERSTER VORTRAG Berlin, 23. Oktober 1909

Wir haben hier in Berlin und an andern Orten, an denen unsere Theo­sophische Gesellschaft verbreitet ist, in den letzten Jahren so vieles gehört aus dem Gesamtgebiete der Theosophie, das entnommen war aus sozusagen sehr hohen Regionen der hellseherischen Forschung, daß einmal das Bedürfnis entstehen mußte, oder besser gesagt, müßte, einiges zu tun für eine ernste und würdige Fundamentierung unserer geistigen Strömung. Und es wird wohl gerade die jetzige General­versammlung, welche unsere lieben Mitglieder vereinigt nach dem siebenjährigen Bestande unserer Deutschen Sektion, ein richtiger An­laß dazu sein, auch wieder etwas beizutragen zu einer festeren Fun­damentierung, zum Schaffen einer festeren Ordnung unserer Sache. Dies soll von mir in den vier Vorträgen über Anthroposophie in die­sen Tagen versucht werden.

Die Kasseler Vorträge über das Johannes-Evangelium, die Düssel­dorfer Vorträge über die Hierarchien, die Basler über das Lukas-­Evangelium, die Münchener über die Lehren der orientalischen Theosophie, sie alle haben uns Veranlassung gegeben, in hohe Regionen der geistigen Forschung hinaufzusteigen und herunterzuholen schwer zugängliche geistige Wahrheiten. Es war das, was uns da immer be­schäftigt hat, Theosophie, war, zum Teil wenigstens, ein Hinauf­steigen zu hohen Gipfeln der spirituellen menschlichen Erkenntnis.

Man kann wirklich in dem, was man den zyklischen Verlauf der Er­eignisse der Welt nennt - wenn man sich allmählich ein Gefühl dafür aneignet -, mit Berechtigung etwas Tieferes sehen. Es war gerade in den Tagen unserer allerersten Generalversammlung, da wir die Deutsche Sektion zu begründen hatten; da hielt ich damals vor einem Publikum, das nur zu einem sehr geringen Teil aus Theosophen be­stand, Vorträge, welche dazumal auch als ein Kapitel aus der Anthro­posophie bezeichnet wurden, als das historische Kapitel der Anthropo­sophie. Jetzt, nach sieben Jahren, scheint wiederum die Zeit gekom­men zu sein, wo sozusagen auch in dieser Beziehung ein Zyklus erfüllt

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ist und wo wieder gesprochen werden darf in einem umfassenderen Sinne von dem, was man unter Anthroposophie verstehen soll.

Wir wollen uns zuerst durch einen Vergleich klarmachen, was Anthroposophie ist. Man kann, wenn man eine Gegend betrachten will, alles das, was sich da ausbreitet an Dörfern, Wäldern, Auen, Straßen und so weiter, anschauen, indem man unten herumgeht von Ort zu Ort, durch Straßen und Dörfer, durch Auen und Wälder. Man wird da unten jedesmal, je nachdem man sich da oder dort befindet, immer einen kleinen, einen ganz geringen Teil des ganzen Gebietes vor Augen haben. Man kann aber auch hinaufsteigen auf einen Bergesgipfel und kann von diesem hohen Bergesgipfel aus das ganze Land überschauen. Dann werden sich für den gewöhnlichen Blick die Ein­zelheiten nur sehr undeutlich ausnehmen; dafür wird man aber eine Überschau haben über das Ganze. So etwa könnte man das Verhältnis bezeichnen, welches besteht zwischen dem, was man im gewöhn­lichen Leben menschliche Erkenntnis, menschliche Wissenschaft nennt, zu dem, was Theosophie ist. Das gewöhnliche menschliche Erkennen geht in der Welt der Tatsachen herum von Einzelheit zu Einzelheit. Die Theosophie steigt auf einen hohen Bergesgipfel hinauf. Dadurch wächst ihr Umkreis. Sie muß aber besondere Mittel anwenden dann, wenn sie auf den Gipfel steigt, um überhaupt noch etwas von dem Unteren zu sehen. Die Mittel, die da angewendet werden müssen, sind oft und oft beschrieben worden, auch in meiner Schrift «Wie er­langt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Da ist gezeigt, wie es dem Menschen möglich ist, zu diesem idealen Gipfel emporzudringen, ohne daß er die Möglichkeit verliert, überhaupt noch etwas zu sehen.

Nun gibt es aber - und das kann unmittelbar hervorgehen aus die­sem Vergleich - noch eine dritte Möglichkeit: Man steigt nicht ganz zum Bergesgipfel hinauf, man bleibt sozusagen in der Mitte stehen. Wenn man unten ist, so sieht man lauter Einzelheiten vor sich; man hat keinen Überblick, und man sieht das Obere von unten her. Wenn man oben ist, hat man nichts über sich außer dem göttlichen Himmel, und man sieht alles unter sich. Wenn man in der Mitte ist, hat man etwas unter sich und etwas über sich, und man kann die beiden Aus­sichten miteinander vergleichen.

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Jeder Vergleich hinkt selbstverständlich, aber es war zunächst nur beabsichtigt, Ihnen vor Augen zu führen, wodurch Theosophie zu­nächst sich von Anthroposophie unterscheidet. Theosophie ist das Stehen auf dem Bergesgipfel, Anthroposophie das Stehen in der Mitte, so daß man hinauf- und hinunterschaut. Der Standort und der Gesichtspunkt ist nur ein anderer. Jetzt aber reicht der Vergleich nicht mehr aus, um das Folgende zu bezeichnen. Wenn man sich der Theosophie ergibt, so ist es notwendig, daß man über die menschliche Anschauung hinaufsteigt, daß man sich vom niederen Selbst zum höheren Selbst erhebt, und daß man mit den Organen des höheren Selbst zu schauen vermag. Denn der Gipfel, von dem aus die Theosophie zu schauen vermag, liegt über dem Menschen, das gewöhn­liche menschliche Erkennen hingegen liegt unterhalb des Menschen, und der Mensch selber steht mitten zwischen Natur- und Geisteswelt drinnen. Das Obere reicht in ihn hinein, denn er ist durchsetzt, erfüllt vom Geiste. Er kann den Geist über sich sehen; er nimmt aber nicht seinen Ausgangspunkt vom Geiste, vom Gipfel, sondern so, daß er den Gipfel über sich hat. Zugleich aber sieht er das, was bloß Natur ist, unter sich, denn das ragt von unten in ihn hinein. Theosophie unterliegt der Gefahr, daß, wenn nicht jene Mittel angewendet wer­den, die zum Beispiel in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben worden sind, das Menschliche überflogen wird und daß der Mensch die Möglichkeit verliert, über­haupt noch etwas Zureichendes zu erkennen. Bei der Theosophie liegt die Gefahr nahe, zu ihren Füßen nicht mehr die Wirklichkeit zu sehen. Sie braucht die Möglichkeit selbstverständlich nicht zu verlieren, wenn jene richtigen Mittel angewendet werden zur Entwickelung der­jenigen Organe, mit welchen gesehen wird durch das höhere Selbst.

Dann aber können wir sagen: Theosophie ist dasjenige, was er­forscht wird, wenn der Gott im Menschen spricht. - Das ist im Grunde die wirkliche Definition der Theosophie Laß den Gott in dir spre­chen, und was er dir dann über die Welt sagt, ist Theosophie Anthro­posophie ist damit zu charakterisieren, daß man sagt: Stelle dich in die Mitte zwischen Gott und Natur, laß den Menschen in dir sprechen über das, was über dir ist und in dich hineinleuchtet, und über das,

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was von unten in dich hineinragt, dann hast du Anthroposophie, die Weisheit, die der Mensch spricht. - Diese Weisheit, die der Mensch spricht, wird einem aber ein wichtiger Stützpunkt und Schlüs­sel sein können zu dem Gesamtgebiete der Theosophie. Und Sie kön­nen, nachdem Sie einige Zeit Theosophie aufgenommen haben, kaum etwas Besseres tun, als diesen festen Stützpunkt gewinnen, indem Sie ihn wirklich suchen. Daher werde ich dafür sorgen, daß so schnell als möglich im Anschluß an diese Vorträge ein kurzer Abriß dessen, was Anthroposophie ist, zu haben sein wird.

Dasjenige, was ich hier gesagt habe, kann auch nach den verschie­densten Seiten hin geschichtlich belegt werden. Wir brauchen gar nicht weit zu gehen. Sie haben da zum Beispiel eine Wissenschaft - Sie können sich darüber aus den verschiedensten populären Hand­büchern informieren -, diese Wissenschaft nennt man gewöhnlich Anthropologie. Sie umfaßt, so wie sie heute betrieben wird, nicht bloß den Menschen, sondern, wenn der Ausdruck richtig verstanden wird, alles das, was zum Menschen gehört, alles was man in der Natur erfahren kann, was man braucht, um den Menschen zu verstehen. Diese Wissenschaft nimmt ihren Ausgangspunkt von dem Herumwandeln unter den Dingen, sie ist selbst ganz unten. Sie geht von Ein­zelheit zu Einzelheit. Es ist die Forschung, die mit den Sinnen das Menschliche betrachtet mit Hilfe des Mikroskops. Diese Wissenschaft, die Anthropologie, die ja in den weitesten Kreisen heute allein als Wissenschaft vom Menschen gelten gelassen wird, sie nimmt wirk­lich ihren Standpunkt unterhalb der Fähigkeiten des Menschen. Sie wendet nicht alles an, was der Mensch an Fähigkeiten zur Erforschung hat. Halten Sie zusammen mit dieser Anthropologie, die sozusagen am Boden haftet, die nicht dringen kann zu irgendeiner Antwort auf die brennenden Rätselfragen des Daseins, halten Sie sie zusammen mit dem, was einem gebracht wird als Theosophie Da wird hinaufgestiegen in die höchsten Höhen, da handelt es sich darum, eine Ant­wort zu finden auf die brennendsten Fragen des Daseins . Doch wer­den Sie die Erfahrung gemacht haben, daß die Menschen, die nicht langsam und allmählich sich in sie hineingefunden haben, die nicht die Geduld gehabt haben, mitzugehen bei alldem, was wir in den letzten

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Jahren sagen konnten, welche nicht Schritt für Schritt haben mit­kommen können, daß die Menschen, die auf dem Standpunkt der Anthropologie stehengeblieben sind, die Theosophie als ein luftiges Gebäude empfinden, als etwas betrachten, dem aller Untergrund fehlt. Sie können nicht einsehen, wie die Seele hinaufsteigt von Stufe zu Stufe, von Inkarnation zu Inkarnation, und sie können nicht über­schauen, was das Ziel alles Menschen- und Weltenwerdens ist.

So steht gleichsam auf der untersten Stufenleiter die Anthropo­logie, auf der obersten, wo vielen schwindet die Fähigkeit, zu erken­nen, die Theosophie.

Wir haben ein geschichtliches Beispiel, woran wir erkennen kön­nen, was Theosophie dann wird, wenn sie hinaufdringen will zum Gipfel und nicht in der Lage ist, mit den Mitteln hinaufzudringen, die wir angegeben finden in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Ein solches Beispiel haben wir an dem deut­schen Theosophen Solger, der in der Zeit von 1780 bis 1819 lebte. Wir haben in seinen Anschauungen durchaus das, was dem Begriffe nach Theosophie ist. Aber mit welchen Mitteln suchte Solger hinaufzukommen in die höchsten Höhen? Mit den Begriffen der Philoso­phie, mit den ausgesogenen und ausgezehrten Begriffen des mensch­lichen Denkens! Das ist wirklich so, wie wenn jemand hinaufsteigt auf einen Gipfel, um Umschau zu halten, und sein Fernrohr vergißt und unten nichts mehr unterscheiden kann. Das Fernrohr ist in die­sem Falle ein geistiges, es ist die Imagination, Inspiration und Intui­tion. So suchte Solger mit unzulänglichen Mitteln hinaufzusteigen auf den Gipfel.

Man hat lange gefühlt, daß die menschlichen Fähigkeiten im Laufe der Jahrhunderte immer unfähiger wurden, auf diesen Gipfel hinauf­zusteigen. Im ganzen Mittelalter hat man es gefühlt und es sich ein­gestanden. In neuerer Zeit fühlt man es zwar auch, aber gesteht es sich nicht mehr so recht ein. Man hat lange gefühlt, daß die mensch­lichen Fähigkeiten einstmals hinaufsteigen konnten zu dem Gipfel, von dem aus so gesprochen werden konnte, wie tatsächlich eine alte Theosophie gesprochen hat. Eine solche alte Theosophie gab es. Dann aber sollte einmal das, was da sich offenbarte auf dem Gipfel,

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abgeschlossen werden. Es sollte bewahrt werden davor, daß man es mit den gewöhnlichen Mitteln der Erkenntnis in Empfang nehmen konnte. Diese alte Theosophie wurde zur Theologie, die die Offen­barung als abgeschlossen betrachtete. Und so steht neben der Anthro­pologie, die mit den gewöhnlichen Erkenntnismitteln nur von Einzel­heit zu Einzelheit geht, die Theologie, die zwar hinaufsteigen und etwas wissen will von dem, was in den Höhen zu schauen ist, aber sich wiederum verläßt auf etwas, was mit gewöhnlichen Menschenmitteln zu erlangen ist, auf die historische Überlieferung nämlich, auf das, was einmal offenbart worden ist und was sich nicht immer von neuem und immer wieder von neuem der aufstrebenden Menschenseele offenbaren soll. Anthropologie und Theologie standen sich das ganze Mittelalter hindurch gegenüber, ohne sich abzulehnen. Auch in der neueren Zeit stehen sie sich gegenüber, nur in einer andern Form. Die neuere Zeit lehnt vom Standpunkt der Anthropologie die Theo­logie als etwas Wissenschaftliches in der Regel schroff ab. Wenn Sie nicht stehenbleiben bei den Einzelheiten, sondern hinaufgehen, hin­aufsteigen bis zu jener Ihnen charakterisierten Mitte, dann können Sie neben die Theosophie die Anthroposophie stellen, ähnlich wie im Mittelalter neben die Theologie die Anthropologie.

Auch Anthroposophie zu begründen wurde schon versucht inner­halb des neuzeitlichen Geisteslebens, aber wiederum mit völlig un­zulänglichen Mitteln, nämlich bloß mit den Mitteln der abstrakten, ausgesogenen Begriffe der Philosophie. Wenn man verstehen will, um was es sich dabei handelt, so muß man erst verstehen, was überhaupt Philosophie ist. Was Philosophie eigentlich ist, können heute im Grunde nur die Theosophen verstehen, nicht aber können es die Philosophen selber verstehen. Was ist Philosophie? Man kann sie nur verstehen, wenn man sie zunächst geschichtlich betrachtet in ihrem Werdegang. Ein Beispiel soll dies erläutern. Es gab in alten Zeiten die sogenannten Mysterien als Pflegestätten des höheren geistigen Lebens. Da konnten die Schüler durch Entwickelung ihrer Fähigkeiten zu geistigem Anschauen geführt werden. Ein solches Mysterium war zum Beispiel in Ephesus, wo die Geheimnisse der Diana von Ephesus erkundet wurden. Da schauten die Schüler hinein in die geistigen

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Welten. So viel nun von dem dort Aufgenommenen öffentlich mit­geteilt werden konnte, wurde tatsächlich auch mitgeteilt. Dann emp­fingen es die andern als etwas in den Mysterien Geschautes, als etwas ihnen Mitgeteiltes, als Gabe. Es gab da Menschen, welche sich bewußt waren, daß sie mitgeteilt erhalten hatten aus den Mysterien heraus die höheren Geheimnisse. Ein solcher Mann war zum Beispiel der große Weise Heraklit. Zu ihm waren insbesondere gedrungen die Geheim­nisse des Mysteriums von Ephesus, die Tatsachen, welche dort die hellsichtigen Menschen ergründen konnten. Das, was er dort als Mit­teilung erhalten hatte und was er seiner teilweisen Einweihung ver­dankte, hat er so verkündet, daß es allgemein verstanden werden konnte. Daher sieht der, welcher die Lehren des Heraklit, des so­genannten «Dunklen», liest, daß da etwas Tieferes zugrunde liegt, so daß man in diesen ursprünglichen Lehren noch durchscheinen sehen kann das unmittelbare Erlebnis, die Erfahrung der höheren Welten. Dann kamen die Nachfolger Heraklits. Sie hatten keine Ahnung mehr, daß dieses Mitgeteilte herausstammte aus den unmittelbaren Erleb­nissen der höheren Welten. Sie fingen an, mit dem Verstande zu spe­kulieren, sie glaubten, mit ihrem bloßen philosophischen Verstande da und dort etwas Unrichtiges zu finden, und besserten daran herum. Das wurde so in Begriffen fortgesponnen und vererbte sich von Ge­schlecht zu Geschlecht weiter. Und wenn wir heute irgend etwas von Philosophie vor uns haben, so haben wir nichts anderes vor uns als ein Erbstück alter Lehren, aus dem das Leben herausgeblasen, herausgepreßt ist und von dem nur das tote Begriffsgerippe übriggeblieben ist. Die Philosophen sind sich nicht bewußt, woher die Begriffe stam­men. Philosophien sind Abstraktionen, Erbstücke der alten Weisheit, die bis zum ausgepreßten Begriff gekommen sind. Es gibt keinen Philosophen, der irgend etwas aus sich selber ausdenken kann. Dazu gehört der Gang in die höheren Welten hinauf.

Solche Philosophien, solche ausgepreßten Begriffe standen im Grunde genommen eben den Philosophen des 19. Jahrhunderts zur Verfügung, wenn sie das in Angriff nahmen, was man Anthroposophie nennen kann. Das Wort ist schon einmal gebraucht worden. Robert Zimmermann hat eine Anthroposophie geschrieben, aber er unternahm

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sie mit höchst unzulänglichen Mitteln, wie Solger die Theosophie. Er hat sie herausgesponnen mit den ausgesogensten, abstraktesten Be­griffen, und dieses Gespinst war dann seine Anthroposophie. Man hat da wirklich das abstrakteste, trockenste, die Sache gar nicht mehr be­rührende Begriffsgespinst. Das ist überhaupt das Charakteristische, daß, was im 19. Jahrhundert über das äußere, einzelne Erlebnis, über die Anthropologie hinausgehen und Anthroposophie sein wollte, trockenes Begriffsgespinst geworden ist.

Theosophie muß wiederum dadurch, daß sie die Mittel herbeischafft, die Wirklichkeit innerhalb des geistigen Lebens zu erkennen, auch vertiefen die Menschheitserkenntnis, die man Anthroposophie nennen kann. Die Anthroposophie ist eine geistige Erkenntnis der Welt, die sich rein auf den mittleren, menschlichen Standpunkt stellt, und nicht auf den untermenschlichen, wie etwa die Anthropologie. Die Theosophie Solgers steht auf einem übermenschlichen Stand­punkte, hat aber keinen Inhalt. Die Begriffe wollen dort oben nur die Menschheit überfliegen. Weil solche Leute aus ihrer Welt heraus oben nichts sehen können, so spinnen sie fein an dem Webstuhl der Be­griffe. So an dem Webstuhl der Begriffe spinnen, wollen wir nicht. Wir wollen auf die Wirklichkeit gehen. Und Sie werden sehen, daß uns die Wirklichkeit des gesamten menschlichen Lebens entgegen­treten wird. Sie werden die alten Freunde, die alten Objekte unserer Betrachtungen wiedererkennen, aber von einem andern Gesichts­punkte aus beleuchtet, nämlich von dem Gesichtspunkte, der zugleich hinauf- und hinunterschaut.

Der Mensch ist wirklich das wichtigste Objekt unserer Betrach­tung. Schon wenn wir auf das erste Glied des menschlichen Wesens, den physischen Leib, eingehen, wenn wir darüber nachdenken, was wir durch die Theosophie gewonnen haben und näher darauf ein­gehen, dann werden wir gewahr, was für ein kompliziertes Gebilde dieser physische Leib eigentlich ist. Damit Sie sich zunächst wenig­stens eine gefühlsmäßige Erkenntnis dessen verschaffen, was Anthroposophie eigentlich will, so denken Sie einmal über folgendes nach: Das, was wir heute den physischen Menschenleib nennen, ist sozusagen ein altes Produkt. Wir wissen, daß er der ersten Anlage

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nach auf dem alten Saturn entstanden ist und sich verändert hat auf der alten Sonne, auf dem alten Monde und auf der Erde. Der Äther­leib ist hinzugekommen auf der Sonne, der astralische Leib auf dem Monde. Immer haben sich diese Glieder der menschlichen Wesenheit im Verlaufe der Entwickelung geändert. Was uns heute entgegentritt als der komplizierte Menschenleib mit Herz und Nieren, Augen und Ohren und so weiter, das ist das Produkt einer langen Entwickelung. Alles ist entstanden aus einer Form, die auf dem alten Saturn in höchst einfacher Gestalt im Keime vorhanden war. Das hat sich durch Jahrmillionen immer wieder verändert und verwandelt, so daß es endlich zur heutigen Vollkommenheit und Kompliziertheit aufsteigen konnte. Betrachten Sie heute irgendein Glied dieses physischen Lei­bes, das Herz oder die Lunge, so können Sie es nicht verstehen, wenn Sie nicht jenen tieferen Einblick haben, wie diese Glieder ent­standen sind und sich gebildet haben. Von dem, was heute die Form des Herzens, die Form der Lunge ist, war auf dem alten Saturn natür­lich noch nichts vorhanden. Ganz nach und nach haben diese Organe ihre heutige Form angenommen. Eines hat sich früher, das andere später gebildet und ist dem physischen Leibe eingegliedert worden. Ein Organ können wir geradezu ansprechen als ein Sonnenorgan, weil es sich während des alten Sonnenzustandes zuerst angegliedert und gezeigt hat. Ein anderes können wir ansprechen als Monden­organ und so weiter. So können wir uns die Begriffe holen aus dem Weltenall, aus der Betrachtung der ganzen Welt, wenn wir verstehen wollen, wie dieses komplizierte Gebilde, der physische Menschenleib, eigentlich entstanden ist und was er heute bedeutet.

Das ist eine theosophische Betrachtung des Menschen. Was ist da­gegen die anthropologische Betrachtung des Menschen? Wenn man ihn anthropologisch betrachtet, so nimmt man das Herz und betrach­tet es für sich, den Magen und betrachtet ihn für sich. Man untersucht sie in ihrem Nebeneinander, als ob es gleichgültig wäre, welches Or­gan jünger und welches älter ist. Darauf nimmt man keine Rücksicht, da wird alles als Einzelheit nebeneinandergestellt. Theosophie geht auf die höchsten Höhen hinauf und erklärt aus dem Geistigen alles Einzelne. Anthropologie bleibt ganz unten stehen, geht aus von dem

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Einzelnen und ist heute bei dem äußersten Extrem angekommen: sie betrachtet die einzelnen Zellen in ihrem Nebeneinander, als ob es gleichgültig wäre, daß ein Zellenkomplex zur alten Mondenzeit, ein anderer auf der alten Sonne entstanden ist. Die einzelnen Zellen­komplexe sind wirklich zu verschiedenen Zeiten entstanden. Man kann äußerlich die Einzelheiten anführen, aber man wird sie nicht ver­stehen, wenn man sie nicht vom geistigen Gesichtspunkte aus be­trachtet. So wandelt Anthropologie ganz unten herum, und Theo­sophie nimmt den höchsten Gipfel ein.

Nun denken Sie, daß sich die Sache noch mehr kompliziert. Das menschliche Herz zählt zu den Organen, die zu den allerältesten ge­hören, wenigstens in der Keimanlage. So wie es heute aussieht, hat es sich freilich erst in späterer Zeit ausgebildet. Und nun betrachten wir die alte Sonnenzeit. Da war zum Beispiel diese Keimanlage des menschlichen Herzens abhängig von den Kräften, die auf der alten Sonne herrschten. Dann ging die Entwickelung weiter. In der ersten Periode der Mondenzeit war der alte Mond mit der Sonne vereinigt, da machte das Herz wieder eine Entwickelung durch. Da trat aber das große Ereignis ein, daß die Sonne sich trennte. Sie wirkte nun von außen, so daß von da ab das Herz eine ganz andere Entwickelung durchmachte. Die Entwickelung verlief von jener Zeit ab so, daß ein Sonnen- und ein Mondenanteil da war, und man kann das Herz nur verstehen, wenn man unterscheiden kann den Sonnen- und den Mon­denanteil. Dann vereinigte sich die Sonne wieder mit dem Monde. Während der Erdenentwickelung trat die Sonne zuerst wiederum heraus und wirkte von außen schärfer auf die Entwickelung ein. Dann trat die Mondentrennung ein und der Mond wirkte von außen, so daß wir eine neue Phase in der Entwickelung dieses alten Organs haben.

So sehen wir hineinscheinen in den menschlichen physischen Leib die verschiedensten Kräfte von den verschiedensten Standpunkten aus. Weil das Herz zu den ältesten Organen gehört, so haben wir da wirklich einen Sonnenanteil, einen Mondenanteil, einen zweiten Son­nenanteil und einen zweiten Mondenanteil und dann noch extra einen Erdenanteil nach der Herausgliederung der Erde. Wenn alle diese

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Anteile an einem Organ oder an dem menschlichen physischen Leib so zusammenstimmen, wie sie in der Harmonie des Kosmos zusam­menstimmen, dann ist Gesundheit beim Menschen vorhanden. So­bald einer der Anteile überwiegt, sagen wir zum Beispiel, es werde der Sonnenanteil zu groß gegenüber dem Mondenanteil in bezug auf das Herz, dann wird das Herz krank. Und Sie verstehen diese Krank­heit, wenn Sie wissen, wie durch irgendwelche Umstände der Monden­anteil sozusagen ins Hintertreffen gekommen ist. Alle Krankheit der Menschen beruht darauf, daß diese verschiedenen Anteile in Unord­nung kommen, unregelmäßig geworden sind. Alle Heilung bestände darin, daß die Harmonie wieder hervorgebracht werde. Aber nur sprechen davon genügt nicht, man muß diese Harmonie wirklich ken­nen, man muß wirklich in die Weisheit der Welt hineinsteigen, um an jedem Organ die verschiedenen Anteile finden zu können.

So ist der physische Leib ein ungeheuer kompliziertes Gebilde. Das können Sie schon ahnen aus dem, was wir bisher betrachtet haben. Sie können ahnen, was eine wirklich okkulte Physiologie und Anatomie ist, die mit allen diesen Faktoren rechnen muß und welche den Menschen aus dem ganzen Kosmos heraus begreift. Sie spricht vom Sonnen- und Mondenanteil im Herzen, Kehlkopf, Gehirn und so weiter. Da aber alle diese Anteile im Menschen selber wirken, so wie der Mensch heute vor uns steht, so ist er sozusagen das verfestigte, kristallisierte Produkt all der Vorgänge, die geschehen sind vom Saturn aus auf Sonne, Mond und Erde. So steht im Menschen etwas vor uns, worin verfestigt sind alle diese Anteile.

Sieht man nun nicht hinauf in die Welt, sondern in den Menschen selber hinein und versteht die einzelnen Organe, den physischen Leib, Ätherleib, astralischen Leib, Empfindungsseele, Verstandesseele, Be­wußtseinsseele, so wie der Mensch heute ist, so ist das Anthropo­sophie. Wir werden auch bei der Anthroposophie auszugehen haben von dem Untersten, um allmählich zum Höchsten aufzusteigen. Das Unterste für den Menschen ist die sinnlich-physische Welt, das, was durch die Sinne und den sinnlich-physischen Verstand gegeben ist. Sie betrachten wir in der Theosophie, ausgehend vom Weltganzen, in den kosmischen Zusammenhängen mit den sinnlich-physischen,

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den äußeren Erscheinungen. Das ist theosophische Betrachtungsweise. Anthroposophische Betrachtung muß in bezug auf die sinn­lich-physische Welt vom Menschen ausgehen, muß das betrachten an dem Menschen, was an ihm sinnlich-physisch ist. Sie muß ausgehen vom Menschen und ihn betrachten, insofern er ein Sinneswesen ist. Das wird das erste sein. Dann werden wir den menschlichen Ätherleib zu betrachten haben, dann den astralischen Leib und das Ich, das, was an ihm selber zu finden ist.

Was muß uns insbesondere interessieren, wenn die physisch-sinn­liche Welt in Betracht kommt? Was am Menschen selber ist. Das sind zunächst die Sinne, denn sie sind es eigentlich, durch welche er Er­kenntnis erhält von der physisch-sinnlichen Welt. Man muß zunächst von den menschlichen Sinnen, wenn man vom physischen Plane aus­geht, in der Anthroposophie sprechen, denn sie sind das, wodurch der Mensch überhaupt etwas weiß von der physisch-sinnlichen Welt. Und wir werden sehen, wie wichtig es ist, um wirklich den Menschen zu erkennen, von der Betrachtung seiner Sinne auszugehen. Das sei also unser erstes Kapitel. Dann werden wir aufsteigen zur Betrachtung der einzelnen geistigen Gebiete in der menschlichen Natur.

Wenn man nun die menschlichen Sinne betrachtet, dann kommt man als Anthroposoph schon ins Gehege mit der Anthropologie, denn Anthroposophie muß immer ausgehen von dem, was sinnlich wirklich ist, aber sie muß sich klar sein, daß der Geist von oben hereinwirkt. Die Anthropologie geht nur ein auf das, was sie unten er­forschen kann und wirft alles durcheinander. Gerade in dem Kapitel über die menschlichen Sinne ist alles in der äußeren Anthropologie durcheinandergeworfen, und wichtige Dinge sind gerade außer Be­tracht gelassen, weil die Menschen keinen Leitfaden haben, um die entsprechenden Tatsachen wirklich und richtig zu finden. Wenn der Faden fehlt, der durch das Labyrinth der Tatsachen führen soll, dann ist es nicht möglich, aus diesem Labyrinth herauszukommen. Den Fadenknäuel, der in der Sage den Theseus aus dem Labyrinth des Minotaurus führt, den muß die geistige Forschung spinnen. Die ge­wöhnliche Anthropologie bleibt drinnen in dem Labyrinth und fällt dem Minotaurus zum Opfer. So werden wir sehen, daß Anthroposophie

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allerdings über die Sinne etwas anderes zu sagen hat als die gewöhnliche äußere Betrachtung.

Aber es ist auch interessant zu sehen, wie die heutige Wissenschaft schon durch die äußeren Tatsachen gezwungen wird, ein wenig gründlicher und ernster die Dinge zu betrachten, als dies früher ge­schehen ist. Das Trivialste ist ja immer, daß man spricht von den fünf menschlichen Sinnen: Tastsinn, Geruchs-, Geschmacks-, Gehör- und Gesichtssinn. Wir werden sehen, daß bei dieser ganzen Aufzählung der fünf Sinne wirklich schon alles drunter und drüber geworfen ist. Zu diesen Sinnen hat die heutige Wissenschaft allerdings schon drei andere Sinne hinzugefügt, mit denen sie freilich nichts Rechtes an­zufangen weiß. Heute werden wir die allerersten Fundamente legen zu einer anthroposophischen Sinneslehre. Wir werden die Sinne aufzählen, insofern sie anhand des oben besprochenen Fadens wirklich Bedeutung haben.

Der erste Sinn des Menschen, der in Betracht kommt, ist derjenige, den man in der Geisteswissenschaft nennen kann den Lebenssinn. Das ist ein wirklicher Sinn, und ebenso wie man vom Gesichtssinn spricht, hat man vom Lebenssinn zu sprechen. Was ist der Lebenssinn? Er ist etwas im Menschen, was er eigentlich, wenn alles in Ordnung ist, nicht fühlt, sondern nur dann fühlt, wenn etwas in ihm nicht in Ord­nung ist. Der Mensch fühlt Mattigkeit, die er wahrnimmt als ein inne­res Erlebnis, wie er eine Farbe wahrnimmt. Und das, was im Hunger- oder Durstgefühl zum Ausdruck kommt, oder was man ein besonde­res Kraftgefühl nennen kann, das müssen Sie auch innerlich wahrnehmen wie eine Farbe oder einen Ton. Man nimmt dies in der Regel nur wahr, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die erste mensch­liche Eigenwahrnehmung wird durch den Lebenssinn gegeben, durch den der Mensch als ein Ganzes sich seiner Körperlichkeit nach bewußt wird. Das ist der erste wirkliche Sinn, und er muß ebenso berück­sichtigt werden wie der Gesichts- oder Gehörsinn oder der Geruchs­sinn. Niemand kann die Sinne verstehen, der nicht weiß, daß es eine Möglichkeit gibt, sich als ein Ganzes innerlich zu fühlen, sich als einer innerlich geschlossenen, körperlichen Gesamtheit bewußt zu werden.

Das zweite, was als ein Sinn von diesem Lebenssinn wieder ganz

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verschieden ist, das ist das, was Sie herausfinden können, wenn Sie irgendeines Ihrer Glieder bewegen. Sie bewegen Ihren Arm oder Ihr Bein. Sie würden kein menschliches Wesen sein, wenn Sie nicht Ihre eigenen Bewegungen wahrnehmen könnten. Eine Maschine nimmt ihre Eigenbewegung nicht wahr, das kann nur ein lebendiges Wesen, vermöge eines wirklichen Sinnes. Der Sinn dafür, was wir in uns sel­ber bewegen, vom Augenzwinkern bis zur Bewegung der Beine, ist ein wirklicher zweiter Sinn, der Eigenbewegungssinn.

Ein dritter Sinn wird uns bewußt werden, wenn wir daran denken, daß der Mensch unterscheidet zwischen oben und unten. Wenn er solches nicht mehr wahrnehmen kann, so ist das für ihn sehr gefähr­lich, er kann sich dann nicht mehr halten und sinkt um. Wir können hinweisen auf ein Organ, das viel mit diesem Sinn zu tun hat, nämlich auf die drei halbzirkelförmigen Kanäle im Ohr. Bei Verletzung dieses Organs verliert der Mensch seinen Orientierungssinn. Auch im Tierreiche läßt sich dieser Sinn verfolgen. Da zeigt er sich als gewisse Gleichgewichtsorgane. Wenn da gewisse kleine, steinchenförmige Gebilde, die sogenannten Otolithen, in gewisser Weise an einem be­stimmten Orte liegen, so haben wir die Gleichgewichtslage, im andern Falle nur ein Taumeln. Das ist der Gleichgewichts- oder der statische Sinn.

Mit diesen Sinnen, die wir bis jetzt aufgezählt haben, nimmt der Mensch etwas in sich selber wahr, fühlt etwas in sich selber. Jetzt tre­ten wir heraus aus dem Menschen, wo er in Wechselwirkung zu treten beginnt mit der äußeren Welt. Das erste Wechselverhältnis mit der Welt ist dasjenige, wo der Mensch den Stoff mit sich vereinigt und diesen Stoff wahrnimmt. Dies kann man nur dann, wenn sich wirk­lich dieser Stoff mit dem menschlichen Leibe vereinigen läßt. Dies trifft nur für gasförmige Stoffe zu. Durch die Organe des Geruchssinnes werden solche aufgenommen. Da beginnt zuerst der Verkehr mit der Außenwelt. Ohne daß ein Körper gasförmige Stoffe aus sendet, kann er nicht gerochen werden. Die Rose muß gasförmigen Stoff aus­senden, damit sie gerochen werden kann. Der vierte Sinn ist also der Geruchssinn.

Der fünfte Sinn entsteht dann, wenn der Mensch nicht mehr bloß

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wahrnimmt die Stofflichkeit, sondern schon den ersten Schritt macht in die Stofflichkeit hinein, also in ein tieferes Verhältnis tritt zum Stoffe. Da muß der Stoff schon irgendeine Wirkung in ihm ausüben. Das ist dann der Fall, wenn ein wäßriger Körper an unsere Ge­schmacksorgane gelangt. Da nimmt man nicht direkt die Stofflichkeit wahr, sondern der Körper muß zuerst aufgelöst werden durch die Flüssigkeit des Mundes. Hier kann bloß ein Wechselverhältnis wahr. genommen werden zwischen der Zunge und dem Körper. Es sagen uns die Dinge nicht nur, was sie sind als Stoff, sondern was sie be­wirken können. Das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Natur ist ein intimeres geworden. Das ist der fünfte Sinn, der Geschmacks­sinn.

Der sechste Sinn ist der, wo das, was der Mensch an den Dingen wahrnimmt, noch intimer das Wesen der Dinge kundgibt. Die Dinge sagen hier dem Menschen mehr, als sie ihm bloß durch den Ge­schmackssinn sagen. Das geschieht nun so, daß besondere Vorkehrungen getroffen sind, damit die Dinge sich dem Menschen in ganz ge­wisser Weise ankündigen können. Beim Geruch nimmt der mensch­liche Leib die Dinge so, wie sie sind. Der Geschmackssinn ist schon komplizierter, dafür geben die Dinge hier schon etwas mehr von ihrer Innerlichkeit kund. Beim sechsten Sinn aber können wir unterschei­den, ob etwas Licht durchläßt oder nicht. Daß es in einer bestimmten Weise Licht durchläßt, zeigt sich darin, ob und wie es gefärbt ist. Ein Ding, welches das grüne Licht durchstrahlen läßt, zeigt damit, daß es eben gerade innerlich so ist, daß es dieses Licht durchstrahlen las­sen kann. Während die äußerste Oberfläche im Geruchssinne sich offenbart, wird schon etwas von der innern Natur eines Dinges uns durch den Geschmacks sinn bekannt; im Gesichtssinn hingegen wird etwas offenbar von dem Durch und Durch der Dinge. Dies ist das Wesen des sechsten Sinnes, des Gesichtssinnes. Das Auge ist deshalb ein so wunderbares Organ, weil es viel tiefer in die Natur der Dinge einzudringen gestattet als die eben besprochenen Sinnesorgane. Beim Gesichtssinn haben wir etwas sehr Eigentümliches. Wenn wir mit dem Auge zum Beispiel die Rose rot sehen, so kündigt sich ihr Inne­res durch die Oberfläche an. Wir sehen nur die Oberfläche, und weil

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sie bedingt ist durch das Innere, lernen wir durch sie dieses Innere bis zu einem gewissen Grade kennen.

Greifen wir ein Stück Eis oder ein Stück heißen Stahl mit der Hand an, so dringen wir noch tiefer in das Innere einer Sache ein. Bei der Farbe haben wir bloß das, was sich an der Oberfläche abspielt. Eis hingegen ist durch und durch kalt, und auch beim heißen Stahl geht die Wärme durch den ganzen Körper. Bei Wärme und Kälte haben wir also eine noch intimere Bekanntschaft mit der Natur der Dinge als beim Gesichtssinn, der uns nur über die Oberflächenbeschaffenheit auf klärt. Der Wärmesinn greift intimer in die Untergründe der Dinge. Solches wäre der Wärmesinn oder der siebente Sinn.

Nun versuchen wir, wie die Sache sich weiter stellen wird. Kann der Mensch vermittels seiner Sinne noch tiefer in die Untergründe der Dinge gelangen? Kann er das intime Innere der Dinge noch genauer kennenlernen als durch den Wärmesinn? Ja, das kann er, indem die Dinge ihm zeigen, wie sie in ihrer Innerlichkeit sind, wenn sie zu tönen anfangen. Die Wärme ist in den Dingen ganz gleichmäßig ver­teilt. Was Ton in den Dingen ist, ist nicht gleichmäßig verteilt. Der Ton bringt die Innerlichkeit der Dinge zum Erzittern. Dadurch zeigt sich eine gewisse innere Beschaffenheit. Wie das Ding im Innern beweglich ist, nehmen Sie wahr durch den intimeren Gehörsinn. Er liefert uns eine intimere Kenntnis der Außenwelt als der Wärmesinn. Das ist der achte Sinn, der Gehörsinn. Im Ton offenbart uns ein Ding, wie es innerlich ist, wenn wir dieses Ding anschlagen. Wir unter­scheiden die Dinge nach ihrer inneren Natur, nach der Art, wie sie innerlich erzittern und erbeben können, wenn wir sie zum Tönen bringen. Die Seele der Dinge spricht in gewisser Weise da zu uns.

Gibt es nun noch höhere Sinne als der Gehörsinn? Hier müssen wir noch viel behutsamer zu Werke gehen, um die höheren Sinne zu erforschen; denn wir dürfen die Sinne nicht mit etwas anderem ver­wechseln. Im gewöhnlichen Leben, da wo man unten stehenbleibt, wo man alles durcheinanderwirft, spricht man noch von andern Sin­nen, zum Beispiel vom Nachahmungssinn, vom Verheimlichungs­sinn und so weiter. Da ist das Wort Sinn aber falsch angewendet. Sinn ist das, wodurch wir uns eine Erkenntnis verschaffen ohne Mitwirken

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des Verstandes. Wo wir uns durch das Urteil eine Erkenntnis verschaffen, da sprechen wir nicht von Sinn, sondern nur da, wo unsere Urteilsfähigkeit noch nicht in Kraft getreten ist. Nehmen Sie eine Farbe wahr, so gebrauchen Sie einen Sinn. Wollen Sie urteilen zwischen zwei Farben, so gebrauchen Sie keinen Sinn.

Gibt es in diesem Sinn - hier das Wort Sinn schon nicht richtig ge­braucht - noch andere Sinne? Ja, es gibt noch einen neunten Sinn. Wir finden ihn, wenn wir uns überlegen, daß es allerdings im Men­schen noch eine gewisse Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Das ist ganz besonders wichtig für die Fundamentierung der Anthroposophie. Es gibt eine Wahrnehmungsfähigkeit, die nicht auf dem Urteil beruht, aber doch in ihm vorhanden ist. Es ist dasjenige, was wir wahrneh­men, wenn wir durch die Sprache uns mit unseren Mitmenschen ver­ständigen. In dem Wahrnehmen dessen, was uns durch die Sprache gegeben ist, liegt nicht nur ein Ausdruck des Urteilens, sondern es liegt ein wirklicher Sprachsinn da zugrunde. Dieser Sprachsinn ist der neunte Sinn. Von ihm muß man sprechen, wie man von einem Ge­sichts- oder Geruchssinn spricht. Das Kind lernt sprechen, bevor es urteilen lernt. Das ganze Volk hat eine Sprache; das Urteilen obliegt dem einzelnen Menschen. Was zum Sinne spricht, unterliegt nicht der Seelentätigkeit des einzelnen Menschen. Das Hören kündet einem das innere Erzittern an. Die Wahrnehmung, daß ein Laut dieses oder jenes bedeutet, ist nicht bloßes Hören. Der Sinn, der sich darin als Sinn der Sprache ausdrückt, gibt sich eben einem andern Sinne kund, dem Sprachsinn. Daher kann das Kind lange, bevor es urteilen lernt, sprechen oder Gesprochenes verstehen. Erst an der Sprache lernt es urteilen. Welcher Erzieher ist der Sprachsinn, geradeso wie der Ge­sichtssinn und der Gehörsinn solche Erzieher sind, während der er­sten Lebensjahre! Man kann an dem nichts ändern, was der Sinn wahrnimmt; man kann nichts daran verderben. Das ist ebenso bei der Farbe wie beim Wahrnehmen des Innern des Sprachlautes. Der Sprachsinn ist notwendig als ein besonderer Sinn zu bezeichnen. Er ist der neunte Sinn.

Dann kommen wir zum zehnten der Sinne. Das ist derjenige, der für das gewöhnliche Menschenleben der höchste ist. Durch ihn wird

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der Mensch fähig, den Begriff, der sich in Sprachlaute kleidet, zu ver­stehen. Das ist geradeso ein Sinn wie jeder andere. Damit wir urteilen können, müssen wir Begriffe haben. Soll die Seele sich regen, so muß sie Begriffe wahrnehmen können. Dies vermag sie durch den Begriffssinn. So haben wir in ihm einen zehnten Sinn aufgezählt.

Aber ein Sinn ist ganz vergessen, könnten Sie sagen, der Tastsinn. Allerdings! Der Tastsinn wird gewöhnlich zusammengeworfen mit dem Wärmesinn. Daß so gesprochen werden kann, kommt von dem Durcheinanderwerfen durch diejenigen, die den geistigen Faden nicht haben. Zunächst hat der Tastsinn freilich nur als Wärmesinn Bedeu­tung. Als solcher Sinn ist sozusagen im groben zu bezeichnen die ganze Haut. Diese ist auch in gewisser Weise für den Tastsinn da. Doch ist, richtig betrachtet, nicht nur das ein Tasten, was wir tun, wenn wir einen Gegenstand anrühren, seine Oberfläche abfühlen; Tasten ist es auch, wenn wir mit den Augen etwas suchen. Auch Ge­ruchssinn und Geschmackssinn können tasten. Wenn wir schnüffeln, so tasten wir mit dem Geruchssinn. Bis herauf zum Wärmesinn ist das Tasten eine gemeinschaftliche Eigenschaft der Sinne vier bis sieben. Von diesen Sinnen können wir also sprechen als von Sinnen des Tastens. Nur unsere grobklotzige Betrachtungsweise der Physio­logie kann einem Sinn etwas zuschreiben, was einer ganzen Reihe von Sinnen zukommt, dem Geruchssinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn und Wärmesinn. Beim Gehörsinn hört die Möglichkeit auf, ihn als Tastsinn zu bezeichnen; noch weniger ist das beim Sprachsinn und wiederum weniger beim Begriffssinn möglich. Diese Sinne werden daher bezeichnet als Sinne des Begreifens. Während wir beim Tast­sinn etwas haben, was an der Oberfläche bleibt, was nicht in die Dinge hineindringen kann, so dringen wir beim Wärmesinn zunächst in die Dinge ein und dann immer tiefer und tiefer. Diese oberen Sinne liefern uns das Verstehen und Begreifen der Dinge in ihrem Innern, und sie werden daher als Sinne des Begreifens bezeichnet.

Sie sehen nun daraus, daß wir, bevor wir zum Geruchssinn kom­men, drei andere Sinne aufzuzählen haben, die uns unterrichten über das eigene menschliche Innere. Aus ihm heraus holen sie ihre Kund­schaften. Dann kommen wir zur Grenze zwischen Innen- und Außenweit

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zunächst durch den Geruchssinn, und dann gelangen wir durch die höheren Sinne immer tiefer und tiefer in die Außenwelt hinein.

Liegt etwas darunter und darüber? Das, was aufgezählt worden ist, ist nur ein Ausschnitt. Darüber und darunter liegen andere Sinne. Vom Begriffssinn könnten wir aufsteigen zum ersten astralischen Sinne und würden dann kommen zu den Sinnen, die ins Geistige ein­dringen. Wir würden finden einen elften, zwölften und dreizehnten Sinn. Diese drei unbekannten Sinne sollen hier zunächst nur erwähnt werden. Wir werden genauer davon sprechen, wenn wir morgen oder übermorgen aus dem Physischen ins Geistige aufsteigen. Sie werden uns tiefer hineinführen in die Untergründe des geistigen Lebens, in die der Begriff nicht eindringt. Der Begriff macht Halt an einer be­stimmten Stelle. Jenseits des Begriffs liegt das, was erst durch die höheren Sinne wahrgenommen werden kann. Der Geruch macht Halt vor dem eigenen Innern. Wie Sie unter dem Geruch noch drei Sinne haben, so über dem Begriff noch drei höhere Sinne, durch die wir ein­dringen in das Äußere der geistigen Dinge, wie mit jenen unteren Sinnen in das Äußere der physischen Dinge.

Aber heute werden wir auf dem physischen Plane bleiben. Deshalb haben wir das aufgezählt, was zum Wahrnehmen des Physischen gehört. Es war nicht unnötig, uns so auf eine Fundamentierung der Dinge einzulassen. Weil sie vergessen worden ist, ist in den Wissenschaften alles in der entsetzlichsten Weise durcheinandergeworfen worden, bis hinein in Philosophie und Erkenntnistheorie. Man spricht im ali­gemeinen: Was kann der Mensch erkennen durch die einzelnen Sinne? - Man kann nicht den Unterschied angeben, der zwischen Ge­hör- und Gesichtssinn ist. Man spricht von Schallwellen geradeso wie von Lichtwellen, ohne zu berücksichtigen, daß der Gesichtssinn weniger tief in das Wesen der Dinge eindringt als der Gehörsinn, der etwas von der Seelennatur der äußeren Welt offenbart. Durch die drei noch höheren Sinne, den elften, zwölften und dreizehnten Sinn, wer­den wir auch in den Geist der Dinge eindringen. Jeder Sinn hat eine andere Natur und Wesenheit. Dies ist zunächst zu berücksichtigen. Daher können Sie eine große Anzahl von Ausführungen, die heute über die Natur des Gesichtssinnes und sein Verhältnis zur Umwelt

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namentlich die Physik bringt, von vorneherein als etwas betrachten, was niemals gerechnet hat mit der Natur der Sinne überhaupt. Un­zählige Irrtümer haben sich auf diese Verkennung des Wesens der Sinne aufgebaut. Dies muß betont werden, weil dem hier Gesagten die populären Darstellungen gar nicht gerecht werden. Ja, populäre Bücher können gerade das Gegenteil davon sagen. Sie lesen dort Dinge, die von Leuten geschrieben sind, die nicht einmal eine Ahnung haben können von der inneren Natur der Sinnenwesenheit. Wir müs­sen uns klarmachen, daß die Wissenschaft von ihrem Standpunkte aus anders sprechen muß, daß sie dem Irrtum verfallen muß, weil die Ent­wickelung so war, daß das Richtige vielfach vergessen worden ist. Das ist das erste Kapitel der Anthroposophie: die wirkliche Natur und Wesenheit unserer Sinne.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 25. Oktober 1909

Die menschlichen Sinne haben wir vorgestern gewissermaßen nur aufgezählt, allerdings in solcher Weise, wie sich das ergibt aus der menschlichen Wesenheit selber. Wir haben sie nicht bunt durchein­andergeworfen, wie das in der Sinnesphysiologie meist geschieht, weil da die entsprechenden Zusammenhänge nicht erkannt werden kön­nen. Wir haben sie aufgezählt und aufgereiht in einer vollständigen Weise, entsprechend der menschlichen Wesenheit. Und heute wird es uns obliegen, weil das Gebiet der menschlichen Sinne zu dem Wich­tigsten gehört, das wir brauchen werden bei der genaueren Betrach­tung der menschlichen Wesenheit, eben diese menschliche Sinnen­wesenheit etwas eingehender noch zu betrachten.

Wir haben begonnen mit dem Sinn, den wir Lebensgefühl oder Lebenssinn, Vitalsinn, nannten. Wir werden uns fragen müssen:

Worauf beruht eigentlich im wahren Geiste des Wortes dieser Lebens­sinn? - Da müssen wir ziemlich tief hinuntersteigen in die unter­bewußten Untergründe des menschlichen Organismus, wenn wir uns ein Bild von dem machen wollen, woraus das entspringt, was Lebenssinn genannt wird. Wir können hier natürlich alles nur skizzieren. Zu­nächst ist vorhanden ein eigenartiges Zusammenwirken des physi­schen Leibes mit dem Ätherleib. Diese Tatsache ergibt sich, wenn man versucht festzustellen, was dem Lebenssinn zugrunde liegt. Das unterste Glied der menschlichen Wesenheit, der physische Leib, und der Lebensleib treten in ein ganz bestimmtes Verhältnis zueinander. Das geschieht dadurch, daß im Ätherleibe etwas anderes auftritt und sich in ihn hineinsetzt, ihn sozusagen durchtränkt. Der Ätherleib wird durchzogen und durchflossen von etwas anderem. Dieses andere ist etwas, was der Mensch im Grunde genommen heute bewußterweise in sich noch gar nicht kennt. Die Geisteswissenschaft jedoch kann uns sagen, was dadrinnen im Ätherleibe wirkt und ihn durch­tränkt wie Wasser einen Schwamm, bildlich gesprochen. Wenn man dies geisteswissenschaftlich untersucht, so findet man, daß es gleich

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ist dem, was der Mensch einstmals in ferner Zukunft als den Geistes­menschen oder das Atma entwickeln wird. Heute hat er dieses Atma noch nicht von sich selber aus in sich; es muß ihm noch aus der um­liegenden geistigen Welt sozusagen erst verliehen werden. Es wird ihm verliehen, ohne daß er bewußten Anteil daran nehmen kann. Später, in einer fernen Zukunft, wird er es in sich selbst entwickelt haben. Der Geistesmensch oder Atma ist es also, was da den Ätherleib durchdringt und durchsetzt. Was tut nun dieses Atma im Äther-leib? Heute ist der Mensch noch nicht in der Lage, einen Geistesmenschen oder Atma in sich zu haben, denn in der gegenwärtigen Zeit ist dies noch eine übermenschliche Wesenheit in dem Menschen. Dieses Übermenschliche, das Atma, drückt sich dadurch aus, daß es den Ätherleib zusammenzieht, ja zusammenkrampft. Wenn wir dafür ein Bild aus der äußeren Sinneswelt gebrauchen wollen, so könnten wir es etwa vergleichen mit der frostigen Wirkung der Kälte. Was einst das höchste Glied des Menschen sein wird, wozu er heute noch nicht reif ist, das krampft ihn zusammen. Die Folge davon, daß eben der Ätherleib sich zusammenkrampft, ist, daß der Astralleib des Men­schen, das Astralische, wie ausgepreßt wird, und in dem Maße, wie der Ätherleib zusammengepreßt wird, wird auch der physische Leib gespannt. Es treten in ihm frostige Spannungen au£ Es ist also so, wie wenn Sie einen Schwamm ausdrücken. Der astralische Leib macht sich sozusagen Luft, wird herausgepreßt, herausgedrückt. Die Vorgänge im astralischen Leibe sind nun Gefühlserlebnisse, Erleb­nisse der Lust und Unlust, der Freude und des Schmerzes und so weiter. Dieser Vorgang des Herausgedrücktwerdens ist es, was sich als Lebensgefühl in uns kundgibt, als Freiheitsgefühl zum Beispiel, als Kraftgefühl, als Gefühl von Mattigkeit.

Nun steigen wir ein wenig weiter hinauf. Als zweiten Sinn haben wir den Eigenbewegungssinn angeführt. Hier wirkt im Ätherleib des Menschen wiederum etwas, was wir heute auch noch nicht bewußt besitzen. Der Ätherleib wird nämlich durchtränkt und durchsetzt wie ein Schwamm vom Wasser, und was ihn jetzt durchsetzt und durch­zieht, das ist der Lebensgeist oder die Buddhi, welche er einst ent­wickeln wird aus sich heraus. Heute freilich ist dies erst gleichsam

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vorläufig aus der geistigen Welt uns gegeben. Die Buddhi oder der Lebensgeist wirkt anders als der Geistesmensch. Er wirkt so, daß ein Gleichgewicht wie in dem in sich ruhenden Wasser im astralischen Leibe eintritt. Das Gleichgewicht im Ätherleibe und dann im physi­schen Leibe haben zur Folge ein Gleichmaß, ein Gleichgewicht im astralischen Leibe. Wenn dieses Gleichmaß von außen gestört wird, so sucht es sich von selber wieder auszugleichen. Führen wir eine Be­wegung aus, so stellt sich das, was ins Ungleiche gekommen ist, wie­der ins Gleichgewicht. Strecken wir zum Beispiel die Hand aus, so fließt ein astralischer Strom zurück in entgegengesetzter Richtung der ausgestreckten Hand, und so ist es bei allen Bewegungen in unserem Organismus. Immer wenn in einer physischen Lage eine Veränderung geschieht, so bewegt sich im Organismus in entgegengesetzter Rich­tung ein astralischer Strom. So ist es beim Augenzwinkern, so ist es beim Bewegen der Beine. In diesem innerlich erlebten Vorgang eines Ausgleichs im Astralleib offenbart sich der Eigenbewegungssinn.

Wir kommen nun zu einem dritten Element, das den Ätherleib des Menschen durchsetzen kann. Dieses dritte Element ist auch etwas, was der Mensch heute nur zum geringsten Teil in sein Bewußtsein gebracht hat, nämlich Manas oder Geistselbst. Es obliegt allerdings heute schon dem Menschen als seine Erkenntnisaufgabe. Deshalb wirkt es anders auf den Ätherleib als etwa der Lebensgeist. Es wirkt ausdehnend auf den Ätherleib, und die Folge davon ist, daß das Ge­genteil von dem eintritt, was beim Lebenssinn als das Frostige be­zeichnet worden ist. Man könnte die Wirkung von Manas auf den Ätherleib vergleichen mit dem Einströmen von Wärme in einen Raum. Etwas wie ein Wärmestrom ergießt sich beim Eintreten von Manas in den Ätherleib und dehnt ihn elastisch aus. Die Folge davon ist, daß nun auch der astralische Leib verdünnt wird, aber ohne herausgepreßt zu werden, und er kann in dem sich ausdehnenden Ätherleib drinnenbleiben. Während die Sinnesempfindung beim Lebens­gefühl darauf beruht, daß der Astralleib herausgedrückt wird, ent­steht das, was statischer Sinn oder Gleichgewichtssinn genannt wor­den ist, dadurch, daß der Ätherleib ausgedehnt wird und dann zu­gleich der astralische Leib innerlich mehr Platz bekommt. Der astralische

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Leib wird in sich weniger dicht, er wird dünner. Als Folge die­ser Verdünnung des Astral- und Ätherleibes ist nun auch für die phy­sische Substanz die Möglichkeit geboten, irgendwie sich zu strecken und auszudehnen. Durch die Wirkung von Atma wurde der physische Leib zusammengekrampft, durch die Wirkung von Buddhi wurde er im Gleichgewicht erhalten, durch die Wirkung von Manas aber wird der physische Leib entlastet, und da auch der Ätherleib sich ausdehnt, so kann er seine Partikelchen an gewissen Stellen hinausschieben. Durch solches Hinausschieben sind auch jene Organe, die drei kleinen halbzirkelförmigen Kanäle im Ohr entstanden, die aufeinander senk­recht stehen, entsprechend den drei Richtungen des Raumes. Es sind sozusagen Ausspreizungen der sinnlichen Materie des physischen Leibes. Derlei Organe entstehen in der verschiedensten Weise als Neubildungen, als wunderbare Gebilde, welche nicht dadurch ent­stehen, daß von innen her getrieben wird, sondern daß von außen her entlastet wird und der Druck aufhört. Dadurch, daß der Astralleib sich weiter ausdehnen kann, vermag er in Beziehung zur Außenwelt zu treten. Er muß sich mit dieser Außenwelt ins Gleichgewicht setzen. Geschieht das nicht, dann steht der Mensch schief oder er fällt sogar um. Für die beiden ersten Sinne kam das nicht in Betracht, aber diesem Sinne kommt die Aufgabe zu, sich ins Gleichgewicht zu setzen. Streben wir irgendwo hinein, so müssen wir so hinein, wie wir können; zum Beispiel in den Raum müssen wir in seinen drei Richtungen hineinstreben. Daher wachsen jene drei halbzirkelförmi­gen Kanäle im Ohr in den drei Richtungen des Raumes senkrecht auf­einander. Werden diese Organe verletzt, so hört der statische Sinn auf zu funktionieren und der Mensch erleidet Schwindelgefühle, Ohn­machtsanfälle und dergleichen. Wo man es mit Tieren zu tun hat, liegt die Sache so, daß die Tiere zu früh in die physische Materie heruntergestiegen sind, so daß sich bei ihnen die physische Materie noch mehr verhärtet hat. Es treten geradezu Steinbildungen auf, die Otolithen. Sie lagern sich so, daß daran das Gleichgewicht abgemessen und emp­funden werden kann.

Damit hätten wir besprochen, sozusagen von innen nach außen gehend, drei Sinne. Der letzte Sinn steht hart an der Grenze zwischen

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dem, was der Mensch innerlich erlebt, und dem, was er erleben muß, um sich in die Außenwelt hineingliedern zu können. In jüngster Zeit ist die äußere, an den sinnlichen Tatsachen haftende Wissenschaft so­zusagen mit der Nase daraufgestoßen worden, diese drei Gebiete un­serer Sinnesorganisation endlich einmal anzuerkennen. Wir müssen dabei scharf unterscheiden, wie wir es hier immer tun, zwischen dem, was tatsächliches Ergebnis der Forschung ist, und den Meinungen, die gegenwärtig die Gelehrtengruppenseele mit ihrem unzulänglichen Denken hat. Sie hat gerade auf diesem Gebiete gezeigt, wie sie irren muß, wenn sie den Leitfaden nicht hat, der durch das Labyrinth führt, denn gerade hier hapert es ganz gewaltig. So hat man verglichen diese Bildungen hier, die ein menschliches Sinnesorgan bedeuten, mit ge­wissen Organen im Pflanzenreiche, wo auch eine Art von Gleich­gewicht bei einem Neigen der Pflanzen durch Umlagerung solcher Körperchen bewirkt wird. Weil aber der moderne Denker in der Regel immer dann von der Logik verlassen wird, wenn er eine richtige An­schauung über die Dinge haben sollte, so ist er zu dem sonderbaren Resultat gekommen, daß auch die Pflanzen einen Gleichgewichtssinn hätten. Solch eine Logik aber beruht auf dem Standpunkt, den ich schon oft durch ein Bild charakterisiert und angeführt habe. Weil eine gewisse Pflanze, wenn sich irgendein Insekt ihr nähert, zum Fangen desselben ihre Blätter zusammenzieht, so sagt man in dieser ober­flächlichen Weise, es müsse von einem entsprechenden Sinn der Pflanze gesprochen werden. Ich kenne jedoch ein Gebilde, das dies in vorzüglicherer Weise tun kann, es geht sogar so weit, daß es die klei­nen Tiere heranlockt und aufschnappt, nämlich die Mäusefalle. Mit demselben Recht, wie man das, was von den menschlichen Sinnen ge­sagt wird, auf die Pflanzen überträgt, könnte es auch auf die Mäusefalle übertragen werden. Ebenso töricht könnten wir es auch auf die Waage mit ihrem Gleichgewichte anwenden und von einem Gleich­gewichtssinn der Waage sprechen. Solche Verkehrtheiten rühren her von einem ungenügenden Denken, das sich nicht genügend dehnen, das die Wesenheit der Sache nicht ordentlich durchdringen kann.

So haben wir drei Sinne, über welche die Wissenschaft heute in gewisser Weise ihre Fangarme ausbreitet, die sie aber erst beherrschen

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lernen wird, wenn sie den Faden der Geisteswissenschaft findet und anzuwenden vermag. Dann erst wird sie auch den Bau des mensch­lichen Organismus richtig begreifen, so wie er wirklich ist, gerade unter dem Einflusse der Wechselwirkungen, die geschildert worden sind. Dazu ist aber nötig, daß man den ganzen Menschen aus dem Innern heraus geisteswissenschaftlich zu beobachten und zu erfassen vermag.

Wir kommen nun zum Geruchssinn. Hier kann die Frage ent­stehen: Warum wird eigentlich das ausgelassen, was die Wissenschaft den Tastsinn nennt und worüber gewöhnlich am meisten verhandelt wird? Bei einer beschränkten Anzahl von Vorträgen über dieses ganze Gebiet muß über manches mit einer gewissen Schnelligkeit hin­weggegangen werden, und manches wird dann etwas paradox klin­gen. Der Tastsinn wurde ausgelassen, weil er so, wie er gewöhnlich geschildert wird, eine Erfindung, ein Phantasiegebilde der Physio­logie ist. Er existiert als solcher gar nicht, denn man kann eine ganze Reihe von Sinnen als solche des Tastens bezeichnen. Nicht aber darf man von einem eigentlichen Sinn des Tastens sprechen. Was geht denn da vor, wenn getastet wird? Angenommen, man fasse einen Gegen­stand an. Was da vorgeht, erschöpft sich eigentlich ganz im Gleichgewichtssinn. Wenn man einen Körperteil drückt, wird nämlich das Gleichgewicht in dem Körperteil gestört, und es geht nichts anderes vor, als was innerhalb des Gleichgewichtssinnes geschieht. Dasselbe ist der Fall, wenn man auf einen Tisch drückt, über eine Sammetfläche hinstreicht, an einem Stricke zieht. Es sind nur Veränderungen im Gleichgewicht in uns selber, wenn Druck, Zug oder Streichen und so weiter als Tastvorgänge sich vollziehen. Der Tastsinn muß immer dort gesucht werden, wo der Gleichgewichtssinn tätig ist.

Über den Tastsinn existieren in der Wissenschaft die fatalsten An­schauungen. Man spricht vom Drücken, ohne weiter auf das Wesen dieser Tatsache einzugehen. Für den gewöhnlichen Menschen ist ein Druck etwas, wonach er gar nicht weiter frägt. Ein Druck aber hängt für den, der geisteswissenschaftlich die Sache betrachtet, zusammen mit der Frage: Was für eine Störung im Gleichgewicht entsteht da im Organismus und was für eine Ausgleichung ist infolgedessen im

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astralischen Leibe nötig? - Wie dieser Drucksinn, der ein Teil des Tastsinnes sein würde, mißverstanden wird, kann man daraus ent­nehmen, daß man frägt: Warum werden die Menschen von dem un­geheuren Atmosphärendruck, der auf ihnen lastet, nicht erdrückt? - Wenn die Sache mit dem äußern Drucke sich so verhielte, so würde ein ungeheurer Druck auf unseren Körper ausgeübt. Ein wißbegieri­ger Junge frägt dann etwa im Physikunterricht darnach, und da wird ihm gesagt, Druck und Gegendruck, der von innen nach außen wirkt, seien in unserem Körper gleich und würden sich gegenseitig auf­heben. Der Mensch, so sagt man, ist ja innen ebenso mit Luft an­gefüllt, und die Folge ist ein ebenso großer Druck nach außen, so daß die beiden gleich großen, entgegengesetzt gerichteten Druckwirkun­gen sich ausgleichen. Es tritt Gleichgewicht ein, und der Mensch kann nicht erdrückt werden. Ist der betreffende Junge aber ein aufgeweck­ter, so wird er einen Einwand machen und sagen: Ich habe schon oft tief ins Wasser getaucht und bin ganz von Wasser umgeben gewesen und bin nicht erdrückt worden, trotzdem ich im Innern meines Leibes doch nicht mit Wasser angefüllt war; sonst wäre ich ja ersoffen! - Hierin liegt das Absurde, wohin die Dinge führen, wenn wir sie rein äußerlich materialistisch auslegen. In Wahrheit handelt es sich um einen eminent geistigen Vorgang, wenn Druck auf uns ausgeübt wird. Bis in unseren Astralleib führt uns das hinein, wenn Störungen des Gleichgewichts ausgeglichen werden müssen. Wenn auf uns ein Druck ausgeübt wird, so verändert sich das Gleichgewicht, wir schie­ben in den zusammengedrückten Teil den astralischen Leib hin­ein und stellen so das gestörte Gleichgewicht wieder her, ja, man läßt ihn sogar etwas darüber vorstehen. Es ist sozusagen astralisch immer eine kleine Beule da, wo gedrückt wird. Diese ausgleichende, rein astrale Wirkung ist so stark, daß sie von innen her den ganzen Druck der Luft von außen zu überwinden vermag. Hier ist buchstäblich der Geist mit Händen zu greifen; man merkt es nur nicht.

Was geschieht nun aber beim Geruchssinn? Da ergreift den mensch­lichen Organismus etwas, das unserem Bewußtsein schon näher liegt, nämlich die Bewußtseinsseele selber. Was in der Geisteswissenschaft Bewußtseinsseele genannt wird, tritt in Aktion, wenn gerochen wird.

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Sie bewirkt an einer bestimmten Stelle des Organismus, daß nicht bloß Ausdehnung, Verdünnung eintritt, sondern daß hier der astra­lische Leib seine Wirkung nach außen sendet und diese Wirkung also über den Organismus hinaustritt. Während beim Riechen die luft­förmige Substanz in die Schleimhaut der Nase dringt, drängt sich in dem gleichen Maße die astralische Substanz nach außen. Immer ver­läßt diese astralische Substanz beim Riechen den Organismus, taucht hinein in das Ding und erlebt etwas nicht nur in sich, sondern in die­sem Dinge, das wir als Wohlgeruch, Duft, Gestank oder dergleichen benennen und erleben. Es ist wie ein Fühler des astralischen Leibes, was durch die Bewußtseinsseele entsteht.

Der Geschmackssinn wirkt in seiner Weise, weil in ihm der Orga­nismus von der Verstandes- oder Gemütsseele bearbeitet wird. Diese ergießt die astralischen Strömungen durch das Geschmacksorgan nach außen und schickt sie den Substanzen auf der Zunge entgegen. -Was im Astralleib beim Riechen vor sich geht, ist von ganz besonde­rer Natur. Was strömt denn da aus dem astralischen Leibe heraus, wenn gerochen wird? Das ist nichts anderes als willensartiger Natur. Was wir innerlich als Willensimpuls fühlen, das quillt beim Riechen der einströmenden Materie entgegen. Der Vorgang des Riechens ist ein Sich-Wehren, ein Zurückdrängen-Wollen von einströmender Sub­stanz. Die geistige Forschung kann sagen, daß jene einströmende Substanz nicht nur eine luftartige Substanz ist - das ist nur Maja, Täuschung -, sondern das ist von außen einströmender Wille. Es voll­zieht sich ein Spiel von Willenskräften beim Riechen. Die Folge davon ist, wie einmal jemand geahnt hat, daß hier Wille von innen und Wille von außen sich gegenseitig bekämpfen und hemmen. Auf dieser Ah­nung hat jener - es ist Schopenhauer - eine Willensphilosophie begrün­det. Das ist aber eine falsche Metaphysik. Was Schopenhauer da sagt über jene Willenskräfte, trifft eigentlich nur zu für das Riechen; alles andere ist einfach hineininterpretiert.

Wie beim Geruchssinn willensartig ist, was sich hinausergießt, ist das, was beim Geschmackssinn, der Nahrung entgegen, herausströmt, gefühlsartiger Natur, und auch das Hereinströmende ist gefühls­artiger Natur. Hier, beim Schmecken, gelangt also Gefühl mit Gefühl

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in Wechselwirkung. Alles andere daran ist bloß Maja, bloß äußeres Zeichen. Hier zeigt sich eine Gefühlswirkung als Sinn, nämlich das Schmecken wird als angenehm, unangenehm, widrig und so weiter empfunden. Allerdings nicht mit dem Gefühl selber hat man es da zu tun, sondern nur mit entsprechenden Wechselwirkungen von Ge­fühlen.

Der nächste Sinn ist der Gesichtssinn. Hier ist es so, daß das, was jetzt den Ätherleib bearbeitet und sich in ihn ergießt, die Empfin­dungsseele ist. Das Geschehen ist hier von gedankenartiger Natur. Ein denkerisches Prinzip waltet da. Die Empfindungsseele hat schon in sich, was in der Bewußtseinsseele bewußt wird; allerdings ist der Gedanke in ihr noch unterbewußt. Es ist ein Denken in der Empfin­dungsseele, das da hinausströmt durch das Auge. Hier strömt a]so richtige Gedankensubstanz hinaus. Sie hat eine weit größere Elastizi­tät als die andern beiden Substanzen, die beim Geruchs- und Ge­schmackssinn ausströmen, und sie reicht deshalb auch viel weiter. Es ist so, daß wirklich von dem Menschen Astralisches ausgeht und zu den Dingen hinströmt. Nicht etwa begeben sich Ätherwellen des Lichts ins Auge, das dann das empfangene Bild nach außen pro­jiziert! Da müßte doch jemand dadrinnen sitzen, der diese Projektionsarbeit besorgt. Dies wäre doch eine greulich abergläubische Vorstel­lung, dieses Etwas, was da projiziert. Die Wissenschaft, die so stolz ist auf ihren Naturalismus, läßt sich im gegebenen Fall in grotesker Weise aushelfen durch die vielgeschmähte Phantasie. Dem Ding strömt ein Astralisches als Gedankensubstanz zu und dringt so weit, bis ihm irgendwo in der Ferne Widerstand geboten wird und sich ihm ein anderes Astralisches entgegensetzt. Der sich draußen so abspie­lende Widerstreit von Astralischem und Astralischem bildet die Farbe, die wir an den Dingen empfinden. Die Farbe entsteht an der Grenze der Dinge, wo das aus dem Menschen ausströmende Astra­lische mit dem Astralischen der Dinge zusammentrifft. An der Grenze des äußeren und inneren Astralischen entsteht die Farbe.

Es ist sehr merkwürdig, wenn man zum Beispiel in Betracht zieht, daß eigentlich schon in der Empfindungsseele unterbewußt ein Den­ken ist, das erst in der Verstandesseele zum Vorschein kommt und uns

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erst in der Bewußtseinsseele bewußt wird. Was in der Tat, wenn wir die Dinge mit den beiden Augen anschauen, als zwei Eindrücke er­scheint, das wird bewirkt durch ein Gedankliches, das zunächst nicht ins Bewußtsein gelangt. Wenn dieses ins Bewußtsein treten soll, müs­sen beide Gedankenmomente zusammenarbeiten; sie müssen den Weg machen von der Empfindungsseele herauf in die Bewußtseins­seele hinein. Diesen Weg können wir uns gut durch ein äußeres Zei­chen veranschaulichen: hier sind die beiden Hände. Jede Hand kann empfinden für sich, aber nur wenn die beiden Hände sich kreuzen, kommt diese Empfindung, daß die eine Hand die andere empfindet, einem zum Bewußtsein, wie ein äußerer Gegenstand erst durch die Berührung einem ins wirkliche Bewußtsein gehoben wird. Sollen die Eindrücke, die durch Gedankenarbeit in der Empfindungsseele ge­wonnen werden, ins Bewußtsein des Menschen treten, dann müssen sie gekreuzt werden. Das ist beim Sehen die Folge davon, daß die beiden Sehnerven im Gehirn sich kreuzen. Diese Kreuzung der Seh­nerven hat ihren Grund darin, daß eine im Unterbewußten, in der Empfindungsseele geleistete Denkarbeit durch die Kreuzung in die Bewußtseinsseele heraufgehoben wird, dadurch, daß nun die eine Arbeit an der andern empfunden werden kann. So baut sich das Phy­sische aus dem Geistigen heraus auf, und bis in die feinsten anatomi­schen Einzelheiten hinein kann durch Anthroposophie der Mensch erst verstanden werden.

Nun folgt als nächster der Wärmesinn. Hier ist wiederum etwas, das durch seine Wirkung im Menschen den Wärmesinn vermittelt. Dies ist der Empfindungsleib selber, der seine astralische Substanz in Wirksamkeit bringt und nach außen strömen läßt, wenn ein Wärmeerlebnis eintreten soll. Dies tritt dann ein, wenn der Mensch wirklich imstande ist, seine astralische Substanz nach außen zu senden, ohne daran gehindert zu sein. Im Bade fühlen wir uns nicht erwärmt, wenn es ebenso warm ist wie wir, wenn also Gleichgewicht besteht zwischen uns und unserer Umgebung und von uns nichts aufgenommen wird. Nur wenn von uns Wärme ausströmt oder solche in uns einfließen kann, empfinden wir Wärme oder Kälte. Ist die äußere Umgebung wärmearm, so lassen wir Wärme in sie ausströmen. Sind wir wärmearm,

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so lassen wir Wärme in uns einströmen. Hier hat man es wieder handgreiflich, daß ein Aus- und Einströmen stattfindet. Beim Aus­geglichensein jedoch von außen und innen wird die Wärme nicht empfunden. Das Wärmeerlebnis hat immer zu tun mit der Wirkung des menschlichen Empfindungsleibes. Dieser wird, wenn wir einen Gegenstand berühren, der immer wärmer und wärmer wird, immer stärker ausströmen. Es drängt sich uns immer mehr auf von dem, was hinein will, und der Empfindungsleib muß dann entsprechend mehr ausströmen. Dies geht aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wenn nicht mehr die Möglichkeit besteht, aus dem Empfindungsleib Kiaft ausströmen zu lassen, dann ertragen wir die Hitze nicht mehr und wir verbrennen uns. Es müßte auch so sein, daß wir jedesmal ein Verbrennen empfinden, wenn wir nicht mehr Substanz aus unserem Empfindungsleib ausströmen können beim Berühren von etwas sehr Kaltem. Fassen wir einen sehr kalten Körper an, der uns verhindert, Substanz aus dem Empfindungsleib ausströmen zu lassen, weil er nichts an uns abgibt, so erscheint uns die übermäßige Kälte auch als ein Brennen und erzeugt Blasen. Beides beruht auf derselben Wir­kung.

Nunmehr wenden wir uns dem Gebiet zu, das wir als das des Ge­hörsinnes bezeichnen. Da ist beteiligt der Ätherleib des Menschen. Dieser Ätherleib, so wie der Mensch ihn heute hat, ist aber außerstande, in Wahrheit etwas abzugeben, ohne dauernden Verlust für uns, wie das der Empfindungsleib noch kann. Der Ätherleib ist schon so geformt seit der atlantischen Zeit, daß er nichts mehr abgeben kann, denn solches müßte dann der Mensch in seiner Lebenskraft ent­behren. Es muß also auf einem ganz andern Wege geschehen, wenn eine Gehörwirkung zustande kommen soll. Hier kann der Mensch also nichts mehr abgeben. Aus sich heraus kann der Mensch keinen höheren Sinn entwickeln, als es der Wärmesinn ist. Würde hier nicht etwas, das der Mensch selber nicht hat, in den Menschen eintreten, so könnte kein Hörsinn zustande kommen. Der Mensch muß deshalb durchsetzt werden von Wesenheiten, die ihre eigene Substanz ihm zur Verfügung stellen. Daher ist der menschliche Organismus durch­zogen von Wesenheiten, die ihn wie einen Schwamm durchdringen.

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Es sind dies die Wesen, welche wir Angeloi nennen, die in der Ver­gangenheit schon die Menschheitsstufe durchgemacht haben. Sie schicken ihre Astralsubstanz in uns Menschen hinein als eine fremde Astralsubstanz, welche sich der Mensch aneignet und in sich wirken und ausströmen läßt. Sie strömt durch die Ohren dem entgegen, was uns durch den Ton zugetragen wird. Gleichsam auf den Flügeln dieser Wesenheiten schreiten wir in jenes Innere hinein, das wir als die Seele der Dinge erkennen lernen. Hier hat man es also zu tun mit Wesen, die über dem Menschen stehen, welche den Menschen aus­füllen, die aber gleicher Natur sind mit seiner eigenen astralischen Substanz.

Nun aber gibt es noch einen höheren Sinn, nämlich den Sprach- oder Wort- oder Lautsinn. Wo dieser in Betracht kommt, hat der Mensch wiederum nichts, das er von sich aus abgeben könnte. Hier müssen deshalb Wesenheiten eingreifen, welche ihrer Substanz nach ähnlich sind mit dem, woraus der menschliche Ätherleib besteht. Sie haben natürlich auch die entsprechende astralische Substanz; diese wird aber hierbei in die Umwelt hinausgedrängt. Sie müssen in den Menschen eintreten, sie geben ihren Ätherleib und diese Kraft kann dann der Mensch wieder in die Umgebung ausströmen lassen. Es sind dies die Archangeloi, die Erzengel. Diese spielen noch eine ganz andere Rolle als die Engel. Sie bewirken, daß der Mensch den Laut nicht nur hören kann, sondern ihn auch verstehend zu erleben vermag. Sie machen, daß der Mensch nicht nur imstande ist, einen Ton, ein g oder cis zu hören, sondern auch, daß er, wenn er einen Laut hört, dabei etwas erlebt, nämlich das, was das Innere des Lautes ist; daß er ein A zum Beispiel dem Lautsinne nach vernimmt. Diese Wesenheiten sind nichts anderes, als was man auch etwa die Volksgeister nennt, die Geister der einzelnen Völkerindividualitäten. Während beim Gehörsinn die Engel ihre Arbeit äußerlich ausdrücken durch Luftwirkun­gen, dadurch, daß sie die Luft im Ohre behandeln, stellen die Erz­engel dem, was in der Luft draußen geschieht, andere Wirkungen ent­gegen. Durch sie werden Säftewirkungen hervorgerufen in einer wäßrigen Substanz. Durch das, was sie bewirken, wird der Säfteumlauf in eine gewisse Richtung gebracht. Daß zum Beispiel der

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Mensch im A den entsprechenden Sinn des Lautes wahrnimmt, be­wirken auch die feineren Säfte. Der äußere Ausdruck für diese Arbeit liegt darin, daß die Volksphysiognomien geformt werden, der be­sondere Ausdruck des menschlichen Organismus, sofrrn er dem be­sonderen Volke angehört. Darinnen wirken insbesondere diese We­senheiten. Daher können wir sagen, daß die Säfte in einem Menschen anders fließen und der ganze Organismus anders wirkt, je nachdem jenes Erzengelwesen dem Volke, dem es zugehört, dieses oder jenes als Lautsinn beibringt. Wenn beispielsweise ein Volk «Aham» - Ich im Sanskrit - sagt für Ich, was immer es auch sonst noch für Theorien über däs menschliche Ich haben möge, so spielen diese Theorien keine Rolle, aber die zwei A hintereinander geben eine ursprüngliche Orga­nisation, und der Angehörige dieses Volkes muß eine solche Empfin­dung vom Ich haben, wie sie diesen zwei aufeinanderfolgenden A ent­spricht. Wenn ein Volk I mit ch verbindet, so tritt eine ganz andere Wirkung ein. Ein solches Volk muß eine andere Vorstellung vom Ich haben. Im 1 liegt eine besondere Nuance, eine besondere Färbung; es ist das, was der Volksgeist dem Organismus einimpft in bezug auf die Auffassung des Ich.

Es ist auch ein großer Unterschied, ob etwas bezeichnet wird durch die Aufeinanderfolge von A und 0 oder von I und E. Darnach muß sich das ganze Volksgefühl ändern. «Amor» zum Beispiel hat eine andere Empfindungsnuance, als wenn «Liebe» gesagt wird. Hier sieht man typisch den Volksgeist an der Arbeit. Nicht gleichgültig ist es, daß zum Beispiel das Wort «Adam» bei den Israeliten gebraucht wird für die erste Menschenform, im alten Persien aber für das Ich. Es sind eben ganz andere Gefühlswerte, die so bei den verschiedenen Völkern geweckt werden. Wir haben hier das Mysterium der Sprache angedeu­tet oder vielmehr seine ersten Elemente.

Es handelt sich dabei um die Wirkung von Geistern, die in der Hierarchienreihe auf der Stufe der Erzengel stehen und die den Men­schen durchdringen mit dem, was Lautsinn ist und seine wäßrige Substanz durchbeben. Es gehört auch zu den größten Erlebnissen für den zum Übersinnlichen aufsteigenden Menschen, wenn er anfängt zu fühlen, was für ein Unterschied in der gestaltenden Kraft der Laute

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liegt. Die Lautekraft zeigt ihre vorzüglichste Wirkung im wäßrigen Element, die Tonkraft zeigt sie in der Luft.

Dann kann auch gefühlt werden, was für eine Bedeutung darin liegt, wenn sich jemand gedrängt fühlt, irgendein Wesen zu bezeich­nen mit dem Namen «Eva». Will der Betreffende etwas anderes ausdrücken, das sich dazu verhält wie das Geistige zum Sinnlichen, so könnte er das Spiegelbild davon anwenden und bekäme so «Ave » als eine Silbenfolge für den Gruß an Maria. Dies erzeugt ein gegen­teiliges Gefühl im menschlichen Organismus, als wenn er «Eva »spricht.

Noch eine andere Umkehrung von «Eva» wäre mit dem J davor das Wort «Jahve», als Bezeichnung für Gott im Alten Testament. Alle Beziehungen zwischen Jahve und Eva kann der, welcher in den Laut eindringt, erkennen, wenn er zu höheren Erkenntnissen fortschreitet.

Die Sprache ist nicht in Willkür zustande gekommen; sie ist ein geistiges Produkt. Um sie in ihrem Geist wahrzunehmen, haben wir den Lautsinn, der im ganzen System der Sinne dieselbe Berechtigung hat wie die andern Sinne. Und es gibt tiefere Gründe, warum die Sinne gerade in dieser Reihenfolge aufgezählt werden müssen.

Das nächste Mal werden wir dann aufsteigen zu dem Begriffssinn und den höheren Sinnen, um uns dann so geisteswissenschaftlich den Mikrokosmos erklären zu können.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 26. Oktober 1909

Wir sind in unseren Betrachtungen aufgestiegen bis zu dem, was wir den Sprachsinn genannt haben, und wollen jetzt ins Auge fassen zu-nächst dasjenige, was wir genannt haben den Begriffssinn. Selbstver­ständlich dürfen Sie das Wort hier nicht in dem Sinne des reinen Be­griffes nehmen, sondern in dem Sinne, wie man im gewöhnlichen Leben spricht; daß man sich, wenn irgend jemand einem etwas sagt, irgendein Wort sagt, eine Vorstellung davon machen kann, was die­ses Wort bedeutet. Ebensogut hätte also Vorstellungssinn gesagt werden können. Nun werden wir uns aber erst begreiflich machen müssen, wie dieser Vorstellungssinn zustande kommt. Dazu müssen wir noch einmal zurückgreifen auf die beiden vorhergehenden Sinne, auf den Tonsinn, den Gehörsinn, und auf den Sprachsinn, und uns die Frage einmal vorlegen: Was heißt denn das überhaupt, Sprachsinn haben, Lautsinn haben? Wie kommt denn die Wahrnehmung des Lautes, wie wir sie charakterisiert haben, eigentlich zustande? - Ich werde Ihnen jetzt also zuerst zu charakterisieren haben, was da Be­sonderes geschieht, wenn der Mensch einen Laut wahrnimmt, A oder 1 oder einen andern Laut. Wir müssen uns sozusagen den Apparat des Laut-Wahrnehmens klarmachen. Ich werde Ihnen allerdings, da ich nicht über eine solche Sache eine ganze Stunde sprechen kann, nur einige Angaben machen können, welche Sie dann bewahrheitet finden können durch dieses oder jenes, was Sie selber durch Nachdenken oder Erforschen im Leben gewinnen.

Sie wissen, daß man innerhalb des Musikalischen unterscheiden kann den einzelnen Ton, die Melodie und die Harmonie. Und Sie wissen, daß Harmonie beruht auf der Wahrnehmung gleichzeitiger Töne, Melodie auf dem Zusammenfassen aufeinanderfolgender Töne, und daß dann der einzelne Ton als solcher in Betracht kommt. Nun können Sie den Mechanismus des Laut-Wahrnehmens nur begreifen, wenn Sie die Beziehung des Tönenden, was im Laute ist, zu diesem Laute selbst ins Auge fassen. Nehmen wir einmal dasjenige, was eine

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Harmonie ist: wir haben ein gleichzeitiges Zusammenwirken von Tönen; und nehmen wir das, was eine Melodie ist: wir haben ein auf­einanderfolgendes Zusammenwirken von Tönen. Denken Sie sich nun, Sie könnten dasjenige bewußt machen, was Sie unbewußt im Laut-Wahrnehmen tun, so würde folgendes geschehen.

Sie müssen sich klar sein darüber, daß im Sinn eben etwas Un­bewußtes - Unterbewußtes wenigstens - liegt. Würde das, was bei der Sinneswahrnehmung unbewußt vorliegt, bewußt gemacht werden, so würde es kein Sinn mehr sein, keine Sinneswahrnehmung, sondern man müßte sprechen von einem Urteil, einer Begriffsbildung und der­gleichen. Sie müssen sich also denken, wie dasjenige vor sich ginge, was da im Unterbewußten sich vollzieht bei der Lautwahrnehmung, wenn Sie es bewußt ausführen könnten. Denken Sie einmal, Sie neh­men eine Melodie wahr. Wenn Sie diese Melodie wahrnehmen, neh­men Sie die Töne hintereinander wahr. Denken Sie nun, Sie könnten ohne weiteres die Töne einer Melodie so in der Zeitlinie zusammenschieben, daß Sie dieselben gleichzeitig wahrnehmen könnten. Dazu hätten Sie freilich nötig, Vergangenheit und Zukunft ineinanderzu­schieben. Sie müßten vorzugsweise in der Mitte einer Melodie schon das Folgende wissen, um es aus der Zukunft in die Gegenwart hineinschieben zu können. Was so der Mensch bewußt nicht ausführen kann, das geschieht tatsächlich im Lautsinn unbewußt. Es wird, wenn wir A oder I oder einen andern Laut hören, immer durch eine unter-bewußte Tätigkeit eine Melodie momentan in eine Harmonie ver­wandelt. Das ist das Geheimnis des Lautes. Diese wunderbare unter-bewußte Tätigkeit wird etwa so ausgeführt auf einer geistigeren Stufe, wie innen im Auge die verschiedenen Strahlenbrechungen nach den regelrechten physikalischen Gesetzen ausgeführt werden, die Sie sich auch erst hinterher ins Bewußtsein bringen. Wir tun jetzt dasselbe, was der Physiker tut, wenn er zeigt, wie die Strahlenbrechung im Auge zustande kommt. Also eine Melodie wird momentan zur Har­monie gemacht. Das ist aber noch nicht genug. Wenn nur das ge­schähe, dann käme noch nicht der Laut heraus, sondern dazu muß noch etwas anderes hinzukommen.

Sie müssen sich bewußt werden, daß ein jeder musikalische Ton

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kein einfacher Ton ist, sondern wenn irgendein Ton ein musikalischer Ton ist, so ist er das dadurch, daß, wenn auch in einer noch so schwa­chen Weise, immer die Obertöne mitklingen. Das ist das Besondere des musikalischen Tons gegenüber den andern Geräuschen, Knall oder dergleichen, daß immer die Obertöne gehört werden, wenn sie auch praktisch nicht hörbar sind. Wenn Sie eine Melodie haben, haben Sie nicht nur die einzelnen Töne, sondern Sie haben auch bei einem jeden Ton die Obertöne. Wenn Sie eine Melodie momentan in eine Harmonie zusammendrängen, so haben Sie nicht nur zusammen-gedrängt die einzelnen Grundtöne, sondern auch hineingedrängt von einem jeglichen Ton den Oberton. Nun muß aber die unterbewußte Tätigkeit noch etwas ausführen: sie muß die Aufmerksamkeit ab­wenden von den Grundtönen, sie muß sie in gewisser Weise über­hören. Das tut tatsächlich die Seele, wenn sie den Laut A oder I wahr­nimmt. Nicht als ob die andern Töne nicht da wären, sondern es wird nur die Aufmerksamkeit von ihnen abgelenkt, und es wird nur jene Harmonie von Obertönen aufgefaßt. Das ist erst der Laut. Dadurch entsteht ein Laut, daß eine Melodie momentan in eine Harmonie um­gewandelt wird, dann von den Grundtönen abgesehen wird und nur das System der Obertöne aufgefaßt wird. Was diese Obertöne dann geben, das ist der Sinn des Lautes, A oder 1. Nun haben Sie dasjenige, was eigentlich Laut-Wahrnehmung ist, geradeso erklärt, wie man das Sehen im Auge physikalisch erklärt.

Was ist nun - und das ist eine ebenso schwierige, aber wichtige Frage - die Wahrnehmung der Vorstellung, das Wahrnehmen des Sinnes allein, so daß Sie also das Wort hören und durch das Wort hin­durch den Sinn vernehmen, begreifen? Wie kommt das zustande?

Daß das noch etwas ganz Besonderes ist, das mag Ihnen einfach aus der trivialen Erwägung hervorgehen, daß Sie irgendeine Sache in den verschiedenen Sprachen mit den verschiedensten Lauten bezeichnen können. Sie heißen eine Sache das eine Mal «Amor», das andere Mal «Liebe». So ist in diesen beiden verschiedenen Lautbildern etwas aus­gedrückt, was in beiden Fällen dasselbe ist. Das weist hin auf den da­hinterstehenden Vorstellungssinn. Während man also den Laut bei jedem Volke, in jeder Sprache anders hört, hört man durch den Laut

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hindurch überall dieselbe Vorstellung, dasjenige, was eigentlich da­hintersteckt und was trotz aller Verschiedenheit der Lautbilder das gleiche ist. Das muß auch wahrgenommen werden. Und wie wird das wahrgenommen?

Wir wollen, um uns das klarzumachen, den Prozeß des Vorstellungs­wahrnehmens betrachten, und zwar - das bitte ich Sie, ins Auge zu fassen - unter der Voraussetzung, daß die Vorstellung uns auf dem Wege des Lautes zukommt. Wenn wir nun in dem Laut-Wahrnehmen eine Melodie haben, die in eine Harmonie verwandelt ist, wobei ab­gesehen wird von den Grundtönen - was uns den Lautsinn oder Wortsinn gibt -, so ist es notwendig, damit der Vorstellungssinn her­auskommt, daß nun auch von dem ganzen System der Obertöne die Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Wenn Sie auch das noch seelisch ausführen, dann blicken Sie zurück zu dem, was sich in den Ober-tönen verkörpert hat, zu demjenigen, was Ihnen als Vorstellung zu­kommt. Damit ist aber zu gleicher Zeit nun auch das gegeben, daß der Mensch, wenn er die Laute und Worte seiner Sprache hört, das­jenige sozusagen etwas nuanciert, abgetönt erhält, was allgemein menschlich ist: die Vorstellung, welche durch alle Laute und alle Sprachen hindurchgeht.

Haben wir gesagt, daß sich durch die Sprache, insofern die Sprache ihre Laute hat, kundgeben hohe geistige Wesenheiten, die ihre be­sondere Mission haben im Zusammenhange des Erdenlebens, die Volksgeister, welche nicht nur in dem geheimnisvollen Raunen, son­dern in dem ebenso geheimnisvollen Bilden an den Säften des Men­schen wirken, in dem, was da im System der Obertöne hineinerzittert in den menschlichen Organismus, so müssen wir sagen, daß das­jenige, was hinter dem Tönen der Obertöne liegt als das allgemein Menschliche, der gemeinsame Menschengeist ist, der über die ganze Erde hinüberwallt. Dieser über die ganze Erde hinüberwallende Menschengeist, er läßt sich daher nur dann erkennen, wenn ein jeder an seinem Orte sozusagen durch die Obertöne hindurch ins Unhör­bare, ins bloß Vorstellungsmäßige hineinhorcht. Dadurch, daß die Menschen die Möglichkeit bekommen haben, sozusagen über die Nuancen hinwegzusehen, hinwegzuhören und ein Gemeinsames, das

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über die ganze Erde wallt, zu erkennen, dadurch haben sie erst die Fähigkeit erlangt im Laufe der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit, dasjenige, was allgemein menschlich ist, zu begreifen. Denn nur im Vorstellungsleben läßt sich der Christus-Geist in seiner wahren Gestalt zuerst erfassen, im allgemein Menschlichen. Diejeni­gen geistigen Wesenheiten, welche ihn in den verschiedensten Formen verkündigen und verkündigen sollen, die von ihm ausgeschickt sind, jeder an seinen Ort, wie Sie das zum Beispiel so schön dargestellt fin­den in dem Goetheschen Gedicht «Die Geheimnisse», diese Geister, die Sendboten des Christus, die von ihm ihre Aufgabe erhalten haben, das sind die einzelnen Volksgeister der einzelnen Völkerindividualitäten.

Dies alles gibt Ihnen erst ein Bild von dem, was eigentlich Vor­stellungssinn ist. Damit aber haben wir einen ganz besonderen Weg zurückgelegt. Wir haben sozusagen dasjenige, was im gewöhnlichen Menschenieben Sinn an uns ist, zunächst erschöpft. Wir haben es da­durch erschöpft, daß wir hingeschaut haben auf diejenige unter-bewußte seelische Fähigkeit im Menschen, die imstande ist, das System der Obertöne gleichsam zurückzuschieben. Was wird nun eine noch höhere Fähigkeit sein? Was schiebt denn dieses System der Obertöne zurück? Was ist es denn im Menschen, was da hinauswirkt wie Fang­arme und das System der Obertöne zurückschiebt? Das ist des Men­schen astralischer Leib. Erlangt des Menschen astralischer Leib die Fähigkeit, die Obertöne zurückzuschieben, was in trivialer Sprache ausgedrückt nichts anderes heißt, als die Aufmerksamkeit von ihnen abzuwenden, dann bedeutet das eine höhere Macht des astralischen Leibes, als wenn er sozusagen weniger zurückschieben kann. Wann wird dieser astralische Leib nun noch stärker sein? Er wird noch stär­ker sein, wenn er nicht nur die Obertöne zurückschieben kann, nicht nur die Vorstellungen dadurch erreicht, daß er die Obertöne zurückschiebt und dadurch an die Grenze der äußeren Welt kommt und sie an ihrer Grenze als Vorstellung beobachten kann, sondern wenn er sich fähig macht, ohne daß erst ein Widerstand da ist, durch eine eigene, innere Kraft seine astralische Substanz herauszustoßen. Um zur Vorstellung zu kommen, haben Sie immer noch nötig, einen Widerstand zurückzuschieben: das System der Obertöne. Wenn Sie

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nun in der Lage sind, ohne daß eine äußere Veranlassung da ist, Ihre astralischen Fangarme herauszustrecken, so tritt das ein, was man im höheren Sinne das geistige Wahrnehmen nennen kann. Es bilden sich die eigentlichen geistigen Wahrnehmungsorgane. In dem Augenblick, wo der Mensch die Fähigkeit erlangt, nicht nur mit seiner Aufmerk­samkeit das System der Obertöne zurückzuschieben, sondern wo er an einer gewissen Stelle des Vorderhirns - zwischen den Augen­brauen - seine astralische Substanz herausschieben kann wie zwei Fangarme, da bildet er an dieser Stelle das, was man die zweiblättrige Lotusblume nennt, das erste geistige Organ, was man auch nennen kann den imaginativen Sinn. Das ist nun der elfte der Sinne. Und in demselben Maße, als der Mensch immer fähiger und fähiger wird, so aus sich selbst heraus, ohne daß er durch die Außenwelt gezwungen wird, seine astralische Substanz herauszustrecken, in demselben Maße bildet er weitere höhere Sinne aus. In der Gegend des Kehlkopfes bildet er aus durch diese Arbeit einen sehr komplizierten Sinn, die sechzehnblättrige Lotusblume, den inspirierenden Sinn; weiter in der Herzgegend den Sinn, den man auch den intuitiven Sinn nennen kann, die zwölfblättrige Lotusblume, und dann noch weitere höhere Sinne, die man aber nun, weil man da ins rein Geistige kommt, nicht mehr Sinn nennen kann im gewöhnlichen Sinne. Es genügt ja, daß wir zu den physischen, eigentlichen Sinnen hinzuzufügen haben den imagi­nativen Sinn, den inspirierenden Sinn und den intuitiven Sinn.

Nun fragen wir uns: Sind nun diese drei Sinne nur tätig im hell­sichtigen Menschen oder gibt es auch beim gewöhniichen Menschen etwas, was er als eine Tätigkeit dieser Sinne auffassen kann? Ja, auch beim gewöhnlichen Menschen gibt es etwas, was als eine Tätigkeit dieser Sinne aufzufassen ist, des imaginativen, des inspirierenden und des intuitiven Sinnes. Wenn Sie genau aufgefaßt haben, wie diese Sinne beim hellsichtigen Menschen wirken, so werden Sie sich sagen, sie wirken, indem sie sich wie Fangarme nach außen erstrecken. Beim gewöhnlichen Menschen sind sie auch vorhanden, nur mit dem Unter­schiede, daß sie sich da nicht nach außen, sondern daß sie sich nach innen strecken. Genau an der Stelle, wo die zweiblättrige Lotusblume beim hellsichtigen Menschen entsteht, da ist beim gewöhnlichen Menschen

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etwas vorhanden wie zwei solcher Fangarme, die nach innen gehen, die sich nur in der Gegend des Vorderhirns kreuzen. So wen­det das gewöhnliche Bewußtsein einfach diese Fangarme, statt wie beim hellsichtigen Menschen nach außen, nach innen.

Dasjenige, was hier vorliegt, kann ich Ihnen nur durch einen Ver­gleich klarmachen. Sie müßten viel meditieren, wenn Sie über den Vergleich hinauskommen wollten zur Tatsache. Denn eine Tatsache ist es. Sie brauchen sich nur klarzumachen, daß der Mensch das, was er außer sich hat, sieht, und das, was er in sich hat, nicht sieht. Keiner hat noch sein eigenes Herz oder Gehirn gesehen. So ist es auch im Geistigen. Die Organe werden nicht nur nicht gesehen, sondern sie werden auch nicht bewußt, und sie können daher auch nicht angewen­det werden. Aber sie wirken. Dadurch, daß etwas nicht bewußt ist, ist es noch nicht untätig. Das Bewußtsein entscheidet nicht über die Wirklichkeit. Sonst müßte alles dasjenige, was um uns ist in dieser Stadt Berlin und was Sie jetzt nicht sehen, nicht da sein. Allerdings ist das eine Logik, wonach diejenigen gehen, welche die höheren Welten ableugnen, weil sie sie nicht sehen. Tätig sind diese Sinne, aber ihre Tätigkeit richtet sich nach innen. Und diese Wirkung der Tätigkeit nach innen nimmt jetzt der Mensch wahr. Wie nimmt er sie wahr?

Indem sich der imaginative Sinn nach innen ergießt, entsteht das, was man im gewöhnlichen Leben die Empfindung irgendeiner Sache nennt, die äußere Empfindung, die äußere Wahrnehmung. Daß Sie die Dinge draußen sehen, das beruht darauf, daß nach innen hinein dieser Sinn arbeitet. Was Sie nach draußen als Empfindung, als Wahr­nehmung haben, das können Sie nur dadurch haben, daß dasjenige in Sie hineinarbeitet, was im imaginativen Sinn zum Vorschein kommt. Unterscheiden Sie aber wohl, was hier Empfindung genannt ist, von dem, was zum Beispiel ein Ton ist. Es ist noch etwas anderes, einen Ton zu hören, eine Farbe zu sehen, oder eine Empfindung dabei zu haben. Eine Farbe zu sehen und zu sagen, sie ist rot, ist etwas anderes, als die Empfindung dabei zu haben: sie ist schön oder häßlich, an­genehm oder unangenehm im unmittelbaren Eindruck.

Auch der inspirierende Sinn ergießt seine Tätigkeit nach innen, und durch diese Tätigkeit entsteht das, was nun eine kompliziertere

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Empfindung ist: das Gefühl. Das ganze Gefühlsleben, das mehr Inner­lichkeit hat als das bloße Empfindungsleben, ist eine Tätigkeit des inspirierenden Organes, das nur nach innen tätig ist statt nach außen. Und wenn der intuitive Sinn sich nach innen ergießt, dann entsteht das, was wir eigentlich jetzt das Denken nennen, das Gedankenbilden. Das ist der Erfolg der Tätigkeit des intuitiven Sinnes nach innen. Zu­erst hat der Mensch eine Empfindung von der Sache, dann kommt das Gefühl, und zuletzt bildet er sich seine Gedanken darüber.

Damit werden Sie gesehen haben, daß wir aus dem Sinnesleben be­reits hineingestiegen sind in das Seelenieben. Wir haben von außen, aus der Sinnenwelt heraus, im Menschen selber die Seele ergriffen in Empfindungen, in Gefühlen, in Gedanken. Wenn wir nun weiter­gehen würden und die höheren Sinne, die wir nun nicht mehr gut Sinne nennen können, die den andern Lotusblumen entsprechen, in ihrer Wirkung nach innen betrachten, so würden wir das gesamte höhere Seelenleben finden. Wenn zum Beispiel die im Organismus weiter unten gelegene achtblättrige oder die zehnblättrige Lotus­blume ihre Tätigkeit nach innen ergießt, dann entsteht eine noch fei­nere Seelentätigkeit. Und am Ende dieser Reihe finden wir jene aller­feinste Seelentätigkeit, die wir nun nicht mehr mit dem bloßen Ge­danken bezeichnen, sondern als den reinen Gedanken, den bloß logi­schen Gedanken. Das ist das, was hervorgebracht wird durch das Hineinwirken der verschiedenen Lotusblumentätigkeiten. Wenn nun dieses Hineinarbeiten wiederum aufhört, bloßes Hineinarbeiten zu sein und, wie ich angedeutet habe, anfängt hinauszuarbeiten, wenn also jene Fangarme, die sich sonst nach innen erstrecken, sich überall kreuzen und nach außen sich als Lotusblumen ergießen, dann kommt jene höhere Tätigkeit zustande, durch die wir von der Seele aufsteigen zum Geiste, wo dasjenige, was uns sonst bloß als Innenleben erscheint in Denken, Fühlen und Wollen, nunmehr in der Außenwelt auftritt, getragen von geistigen Wesenheiten.

So haben Sie den Menschen sozusagen begriffen, indem Sie auf­gestiegen sind von den Sinnen durch die Seele zu dem, was eigentlich nicht mehr im Menschen ist, sondern was als Geistiges von außen hereinwirkt und dem Menschen ebenso angehört wie der ganzen

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Natur und der ganzen übrigen Welt draußen. Wir sind aufgestiegen zum Geistigen.

Was ich Ihnen jetzt geschildert habe in diesen heute gegebenen An­deutungen und in den beiden letzten Vorträgen, das ist der eigentliche Mensch. Das ist der Mensch, sozusagen als ein Werkzeug, die Welt wahrzunehmen, seelisch durchzuerleben und geistig zu erfassen. So ist erst der Mensch. Und das, was dieser Mensch ist, das formt sich eigentlich erst seinen Leib. Ich habe Ihnen nicht das geschildert, was der Mensch ist, wenn er fertig vor Ihnen steht. Ich habe Ihnen ge­schildert, was da im Menschen drinnen tätiges Spiel ist. Das aber, was da tätiges Spiel ist, was da alles zusammenwirkt - sinniich, seelisch und wiederum geistig -, das formt sich den Menschen so, wie er vor uns steht auf dem Erdenrund.

Wie formt es sich den Menschen? Da werde ich Ihnen zunächst auch nur sozusagen Hinweise geben können, Hinweise, die Sie aber überall, wenn Sie auf die positiven Resultate der äußeren Beobachtung eingehen, werden bewahrheitet finden. Dasjenige, was da draußen vor uns steht, wenn wir mit den äußeren Sinnen den Menschen an­schauen, das ist bloß eine optische Täuschung. Das ist gar nicht vor­handen. Das nimmt sich vor einer vollständigen Betrachtung ganz anders aus. Denken Sie doch einmal daran - um sich ein Bild zu machen -, daß Sie sich selbst gar nicht ganz sinnlich wahrnehmen können. Wenn Sie Ihr Auge schweifen lassen über sich selber, so sehen Sie nur einen Teil von sich selber, nur einen Teil Ihrer Ober­fläche. Sie können niemals Ihr eigenes Hinterhaupt oder Ihren Rücken selbst wahrnehmen. Dennoch wissen Sie, daß Sie sie haben. Sie wis­sen es durch die übrigen Sinne, durch den Gleichgewichtssinn, durch den Bewegungssinn und so weiter. Sie wissen sozusagen durch ein inneres Bewußtsein, daß etwas an Ihnen ist, was Sie nicht äußerlich an sich selber wahrnehmen können. So ist sehr viel am Menschen, was er nicht wahrnehmen kann, was zum Beispiel erst erfaßt werden kann, wenn die gesamten von mir charakterisierten höheren Wahrnehmungs­Organe entwickelt sind.

Nun wollen wir zunächst einmal ins Auge fassen dasjenige Stück vom Menschen, das er - nehmen wir an durch sein Auge - sinnlich an

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sich selber wahrnehmen kann. Begrenzen Sie zunächst das Stück, das der Mensch an sich selber sehen kann. Was ist denn eigentlich dieses Stück, das der Mensch da an sich selber wahrnimmt? Fassen Sie nur die Worte genau. Wodurch soll der Mensch denn dieses Stück, das er an sich selber sehen kann, wahrnehmen? Alles was man wahrnimmt, nimmt man wahr im Grunde genommen durch die Empfindungs-seele. Denn wenn man nicht durch die Empfindungsseele irgendeine Nachricht bekommt von dem, was vorgeht, so wird man zu keiner Auffassung über etwas kommen. Würde der bloße Empfindungsleib eine solche Nachricht bekommen, so würde er es nicht auffassen kön­nen. Er würde davorstehen ohne Verständnis. Daß der Mensch aber etwas wahrnehmen kann, das macht die Empfindungsseele, welche dasjenige, was da vorgeht, auffaßt. Und was ist es, was da gegenüber­steht dieser Empfindungsseele? Was ist das Stück, was dann der Empfindungsseele gegenübersteht, wenn das Auge es wahrnimmt? Das ist nichts anderes als der Schein des Empfindungsleibes, die äußere Illusion des Empfindungsleibes. Allerdings müssen Sie nun den Begriff etwas erweitern. Sie können sich nicht nur dadurch wahr­nehmen, daß Sie Ihr Auge auf die Oberfläche Ihres Körpers richten, sondern Sie können auch mit Ihren Fingern dahin reichen. Da neh­men Sie es auch durch den Empfindungsleib wahr. Der Empfindungs-leib erstreckt sich überall da, wo der Mensch wahrgenommen werden kann durch Berührung, durch Empfindung. Das ist jedoch nicht der Empfindungsleib, was der Mensch da wahrnimmt. Würden Sie den Empfindungsleib wirklich sehen, dann würden Sie sehen, daß da, wo Sie Ihr eigenes Scheinbild sehen, Ihren physischen Leib, ein Astrali­sches sich herandrängt und zurückgeschoben wird. Wenn etwas zu­rückgeschoben wird, dann staut es sich. So haben Sie vorne ein Zu­sammenwirken von Empfindungsleib und Empfindungsseele. Von hinten her kommt die Strömung der Empfindungsseele, so daß sie sich stößt an Ihrer Haut am Vorderleibe, und von vorne stößt sich das hinein, was Ihr Empfindungsleib ist. Wenn zwei Strömungen sich stauen, dann kommt die Stauung zum Vorschein. Da ist es gerade so, wie wenn zwei Ströme aufeinanderprallen: dann kommt dabei etwas zum Vorschein. Da sehen Sie den einen Strom, und Sie sehen den

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andern Strom. Jetzt aber denken Sie sich, Sie könnten den einen und den andern Strom nicht sehen, sondern Sie könnten nur dasjenige sehen, was an dieser Stelle durch das Durcheinanderwirbeln der zwei Ströme zum Vorschein kommt. Das ist das Stück an Ihrer äußeren Leiblichkeit, was Ihr Auge oder sonst irgendein äußerer Sinn an Ihnen selber wahrnehmen kann. Sie können geradezu an Ihrer Haut begrenzen, wo dieses Zusammentreffen von Empfindungsseele und Empfindungsleib stattfindet. Hieraus sehen Sie an einem Beispiel, wie dasjenige, was wir geistig betrachtet haben, wie diese verschiedenen Glieder des Menschen an dem Menschen selber formen. Wir sehen, wie die Seele am Leibe selber formt. Nun gehen wir weiter.

Wir können sagen: An dem Menschen ist ein Zusammenwirken von hinten und vorn, so daß Empfindungsseele und Empfindungs­leib zusammenstoßen. Geradeso gibt es ein Zusammenstoßen von Strömungen, die von rechts und von links kommen. Von links her kommt diejenige Strömung an den Menschen heran, welche seinem physischen Leib angehört, von rechts diejenige, welche seinem Äther­leibe angehört. Ätherleib und physischer Leib ergießen sich inein­ander, schieben sich ineinander, und wo die beiden sich ineinanderschieben, wo physischer Leib und Ätherleib gemeinschaftlich wirken, da ist dasjenige, was da entsteht, der eigentliche sinnlich wahrnehm­bare Mensch. Sozusagen ein Blendwerk entsteht vor dem Menschen. Von links kommt die Strömung des physischen Leibes, von rechts die Strömung des Ätherleibes; die beiden dringen ineinander und bil­den in der Mitte das, was erscheint als der sinnlich wahrnehmbare physische Mensch.

Und weiter. Ebenso wie es Strömungen von links und rechts, von vorn und hinten gibt, so gibt es eine Strömung von oben und eine von unten. Von unten herauf ergießt sich nämlich die Hauptströmung des astralischen Leibes und von oben herunter die Hauptströmung des Ich. Haben wir den Empfindungsleib vorhin so charakterisiert, daß er sich vorne abgrenzt, so ist es in Wahrheit so, daß der astralische Leib in seiner Strömung von unten herauf strömt, daß dann aber diese Strömung ergriffen wird von einer Strömung, die von hinten nach vorne geht, und dadurch in einer gewissen Weise begrenzt wird. Aber

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es ist nicht allein eine Strömung von unten nach oben und von rück­wärts nach vorne in diesem astralischen Leibe, sondern es ist auch eine wirkliche Strömung von vorne nach rückwärts, so daß der astralische Leib durch diese Stromrichtungen zustande kommt: von unten nach oben und von vorne und rückwärts. Im Menschen fließen wirklich alle diese Strömungen ineinander: eine von oben nach unten, eine von unten nach oben, eine von rückwärts nach vorn, eine von vorn nach rückwärts, eine von rechts nach links, eine andere von links nach rechts

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Was kommt denn zustande durch das Aufeinanderströmen der von unten herauf und der von oben nach unten sich ergießenden Strö­mungen? Was da zustande kommt, das will ich Ihnen in der folgenden Weise klarmachen. Eine Strömung geht von oben nach unten. Sie kann sich nicht ungehindert ergießen, weil sie aufgehalten wird von der andern Strömung, welche von unten nach oben strömt. Ebenso ist es bei der Strömung, die von rechts nach links geht und so weiter. Jede wird aufgehalten, und das bietet in der Mitte das Scheinbild des physischen Leibes.

Wenn wir die beiden Strömungen betrachten von rückwärts nach vorn und von vorn nach rückwärts, so müssen wir uns darüber klar sein, daß diese beiden Strömungen durchschnitten werden von den Strömungen von unten und von oben. Und durch dieses Durchschnei­den entsteht in der Tat eine Dreigliederung im Menschen. So daß der untere Teil der einen Strömung zu bezeichnen ist als der Empfindungsleib im engeren Sinne. Dann entsteht durch die Stauung etwas, was demjenigen entspricht, was man nunmehr im engsten Sinne bezeich­nen kann als die höchste Ausbildung des Empfindungsleibes, dort, wo sich die eigentlichen Sinne entwickeln, was Sie nicht mehr sehen können, weil die Augen selber dazugehören, was Sie nicht mehr rie­chen können, weil das Riechorgan selber dazugehört. Sie können nicht hineinsehen in das Innere des Auges, sondern Sie können nur herausschauen aus dem Auge.

Das ist die Ausgestaltung des gesamten Empfindungsleibes des Menschen. Warum aber habe ich Ihnen überhaupt zwei Glieder be­zeichnet, wenn das alles Empfindungsleib ist? Das ist richtig aus dem Grunde, weil da unten hauptsächlich die Wirkung geschieht von außen, und da oben ist wiederum das physische Scheinbild dessen, was wir Empfindungsseele nennen. Im Antlitz zunächst haben Sie den Ausdruck der Empfindungsseele. Das Antlitz wird von der Empfin­dungsseele gebaut. Und da oben, das oberste Stück, das am wenigsten zurückgeschobene, das ist das, wo die Verstandesseele sich ihr Organ baut. Nun aber merken Sie, daß nicht nur diese Strömungen von unten und oben kommen, sondern daß auch Strömungen von rechts und von links kommen, so daß das Ganze wiederum durchschnitten

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wird. Wir haben da eine Strömung, die durch die Längsachse des Körpers verläuft. Diese Strömung bewirkt, daß wiederum eine Art von Spaltung da oben entsteht. Es wird ein Stück abgespaltet von der

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Form der Verstandes seele; und dieses abgespaltene Stück, ganz oben an der Grenze, das ist die Form der Bewußtseinsseele. Diese Bewußt­seinsseele formt da oben bis ins Innerste des Menschen hinein, und sie formt da auch die Windungen des grauen Gehirns. Da haben Sie die Arbeit der Bewußtseinsseele an dem Menschen. Wenn Sie den Men­schen so als eine geistige Wesenheit kennen, dann können Sie rundweg das, was im Menschen als Form ist, aus dieser geistigen Wesen­heit heraus begreifen. So arbeitet der Geist an der Form des mensch­lichen Leibes. Alle einzelnen Organe werden aus dem Geistigen so­zusagen plastisch herausgemeißelt. Der Mensch kann den Bau des Gehirnes erst dann begreifen, wenn er weiß, wie die einzelnen Strö­mungen im Gehirn durcheinander wirbeln.

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Nun wollen wir einmal auf eine Einzelheit eingehen, damit Sie sehen, wie diese Dinge einmal fruchtbar wirken können, wenn sie Gemeingut einer wahren Wissenschaft werden, anstelle der heutigen, äußeren Wissenschaft. Wir haben jetzt gesehen: Da oben entstehen durch die verschiedenen Strömungen die äußeren Organe für die Be­wußtseinsseele, Verstandesseele, Empfindungsseele zum Beispiel. Zu zeigen, wie dann diese Organe im Innern sich fortsetzen, würde sehr weitläufige Erklärungen erfordern. Wir wollen aber eine andere Frage aufwerfen. Wir haben gesagt, daß das Ich von oben nach unten wirkt, und daß die Hauptmasse des astralischen Leibes von unten nach oben geht, so daß die Hauptmasse des astralischen Leibes und das Ich sich in einer Strömung berühren. Dadurch kommt eine Wechselwirkung zustande zwischen Ich und astralischem Leib, so daß sie sich inein­ander stauen. Da, wo das Ich eine bewußte Tätigkeit ausführen soll, da muß etwas zustande kommen können, was durch die Empfindungsseele, was durch die Verstandesseele und was durch die Bewußtseinsseele entsteht. So etwas, was zum Beispiel durch die Verstandesseele zustande kommt, ist ein menschliches Urteil. Wo muß denn also ein menschliches Urteil lokalisiert sein? Natürlich muß es im Kopfe lokalisiert sein, weil dort die betreffenden lebendigen Kräfte und Wesensglieder des Menschen ihren Ausdruck gefunden haben. Neh­men wir jedoch als ein besonderes Beispiel an, es sollte im Menschen ein solches Organ zustande kommen, an dem die Verstandesseele kei­nen Anteil hat, in dem nicht geurteilt wird, sondern an dem nur Anteil haben sollen der physische Leib, der Ätherleib, das Ich und der astralische Leib als Träger von Lust und Leid, Freude und Schmerz und so weiter. Nehmen wir an, diese vier Glieder der menschlichen Wesenheit, der astralische Leib, das Ich - ohne jene feinere Tätigkeit des Urteilens und des Bewußtseins -, der physische Leib und der Ätherleib sollten zusammenwirken. Wie müßte sich dann ein Organ ausnehmen, worinnen diese vier Strömungen zusammenwirken? Ein solches Organ würde so sein, daß es nicht urteilen ließe, daß es so­gleich folgen lassen würde auf den Eindruck des astralischen Leibes die Gegenwirkung. Physischer Leib und Ätherleib müssen zusam­menwirken, denn sonst könnte dieses Organ nicht da sein. Astralischer

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Leib und Ich müssen zusammenwirken, sonst könnte dieses Organ nicht Gefühle haben, und es könnte auch nicht auf einen Ein­druck hin irgendeine Sympathie oder Antipathie äußern. Wir wollen uns zusammenwirkend denken physischen Leib und Ätherleib, und wir wollen uns denken, daß es ein physisches Organ ist, und daß es natürlich einen entsprechenden Ätherleib haben muß, weil ja jedes physische Organ von einem Ätherleib aufgebaut werden muß. In die­sem Falle müßte zusammenwirken eine Strömung von rechts des Ätherleibes dieses Organs, und eine Strömung von links, diejenige des physischen Leibes dieses Organs. Die würden sich in der Mitte stauen, würden sich nicht übereinanderschieben können und würden daher eine Verdickung hervorrufen. Dann würde es die beiden andern Strömungen geben, die des astralischen Leibes von unten und die des Ich von oben; die würden eine andere Stauung hervorrufen. Nun wollen wir uns einmal schematisch dieses Zusammenwirken der Strö­mungen in einem einzelnen Organ denken. Ich will nur schematisch die Sache zeichnen; die einzelnen Formen eines solchen Organes wür­den aus ganz andern Voraussetzungen folgen. Ich will sagen: Es gäbe ein Organ, irgendwie geformt; da gäbe es die eine Strömung, die den physischen Körper repräsentiert, und die andere Strömung, welche den ätherischen Leib repräsentiert. Die rufen in der Mitte eine Ver­dickung hervor. Die beiden andern Strömungen von oben und von unten stauen sich ebenfalls und rufen auch ihrerseits eine Verdickung

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hervor. Da haben Sie das menschliche Herz gezeichnet: rechte Vor­kammer, rechte Herzkammer, linke Vorkammer, linke Herzkammer. - Wenn Sie sich alles, was das menschliche Herz kann, genau vergegen­wärtigen, so werden Sie sich sagen müssen: Gerade so muß das menschliche Herz aus dem Geiste heraus gebaut sein! - So baut sich der menschliche Geist dieses Herz. Es kann gar nicht anders sein.

Wollen wir ein anderes Beispiel nehmen. Wir haben gestern etwas Merkwürdiges gesagt. Wir haben gesagt, daß bei der Sehtätigkeit im Grunde genommen eine unterbewußte Denktätigkeit vorhanden ist. Denktätigkeit, wenn sie bewußt wird, kommt ja nur im Gehirn zustande. Nun wollen wir uns vergegenwärtigen, wie das Gehirn gebaut ist, damit eine bewußte Denktätigkeit zustande kommt.

Wir haben jetzt nicht Zeit dazu, um die einzelnen Formen des Ge­hirns herauszumeißeln. Wir könnten bei jedem einzelnen Organ zei­gen, daß es so sein muß, wie es ist. Wir wollen das Schema des Gehirns, soweit wir es brauchen, von vornherein voraussetzen. Wir wollen sagen: In dem Gehirn haben wir gegeben - um von allem andern abzusehen - die äußere Haut, dann eine Art von Gefäßhaut; dann da drinnen, zwischen der Gefäßhaut und der netzförmigen Haut, haben wir so etwas wie die Rückenmarksflüssigkeit. Von dort geht es dann in das Rückenmark hinein. Das Innere des Gehirns ist ausgefüllt mit der eigentlichen Gehirnmasse, mit Nervenmasse. Nervenmasse ist die äußere Form für die Denktätigkeit, so daß also, wenn durch irgend­ein Sinnesorgan ein Eindruck der Nervenmasse überliefert wird, das zustande kommt, was bewußte denkerische Verarbeitung dieses Eindruckes von außen ist. Das alles ist der Nervenmasse übertragen. Wenn der Eindruck kommt, wird er zuerst denkerisch verarbeitet, und nachdem er denkerisch verarbeitet ist, wird er von einem Nerven­system weiterverarbeitet zur Empfindung und so weiter.

Nehmen Sie nun einmal an, es soll keine bewußte denkerische Ver­arbeitung eines Eindruckes von außen geschehen. Da müßten Sie das zunächst in ähnlicher Weise machen. Es müßte also wiederum eine Art von, sagen wir, Umhüllung da sein; es müßte wiederum da sein an der Rückwand das, was man nennen könnte Gefäßhaut. Aus einem bestimmten Grunde - der auch ausgeführt werden könnte, was aber

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jetzt zu weit führen würde - wurde die Rückenmarksflüssigkeit verkümmern. Damit es nun geschehen kann, daß eine unterbewußte Denktätigkeit möglich wird, müssen wir die Gehirnmasse zurückschieben: dadurch wird vorne Platz, so daß eine unterbewußte, von keinem Nervensystem durchgearbeitete Denktätigkeit zustande kommt. Da muß etwas geschehen mit dem, was sonst gleich von der Nervenmasse in Empfang genommen wird. Dafür aber muß die Nervenmasse zurückgeschoben werden. Würde die Nervenmasse nicht zurückgeschoben werden, so würde hier gedacht werden. Wird sie zurückgeschoben, so kann hier nicht gedacht werden, kann auch nicht empfunden werden. Sie haben ein Organ, das einer unterbewußten Denktätigkeit dienen soll, dann, wenn Sie alles, was Nervensystem ist, zurückschieben bis an die hintere Wand, und den Eindruck, statt ihn gleich von einer Nervenmasse verarbeiten zu lassen, von etwas verarbeiten lassen, was von keinem Nervensystem durchzogen ist. -Nun sehen Sie sich an, was wir gemacht haben: wir haben aus dem Gehirn ein Auge gemacht.

Was ist das Auge? Das Auge ist ein kleines Gehirn, das von unserem Geiste so bearbeitet ist, daß der eigentliche Nervenapparat zurück­geschoben ist an die hintere Wand, wo sie zur Netzhaut des Auges geworden ist. So arbeiten die Baumeister der Natur, die Bildner der Formen. So formen sie. Im Grunde genommen herrscht ein Bauplan in allen menschlichen Organen, der nur im einzelnen, je nach Bedarf, abgeändert wird. Wenn ich wochenlang sprechen könnte, würde ich Ihnen zeigen, wie jedes Sinnesorgan nichts anderes ist als ein ab­geändertes kleines Gehirn, und das Gehirn wiederum ein Sinnesorgan auf einer höheren Stufe. Aus dem Geiste heraus ist der ganze mensch­liche Organismus aufgebaut.

Betrachten wir nun noch eine andere Einzelheit. Vorerst aber ge­statten Sie mir eine Art erkenntnistheoretischer Vorbemerkung, um an dieser Vorbemerkung wiederum den Standpunkt der Anthropo­sophie klarzumachen .

Wir haben gesagt, daß unten in den Einzelheiten des Sinnenlebens die Anthropologie ihren Standpunkt hat, daß die Theosophie oben auf dem Bergesgipfel und daß die Anthroposophie in der Mitte ihren

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Standpunkt hat. Wenn Sie sich nun an den Unterschied klammern wollen, der darinnen besteht, wie sich der Mensch einerseits verhält zur äußeren Sinneswelt und andererseits zu der geistigen Welt und den Tatsachen, die aus der Geistesforschung heraus mitgeteilt werden, so können Sie sagen: Von dem Dasein der Sinnenwelt und ihren Gesetzen kann sich jeder überzeugen, der Sinne hat und der seinen Verstand, der an die Sinnenwelt gebunden ist, anwendet. Daher glauben die Menschen auch im allgemeinen leichter an dasjenige, was ähnlich ist dem, was sie in der Sinnenwelt wahrnehmen, als an das, was aus der Geistesforschung heraus mitgeteilt wird. Denn das schauen sie leichter. Man könnte aber sehr leicht zeigen, daß formal kein Unterschied besteht zwischen dem Glauben, den Sie entgegen­bringen den Tatsachen, die Ihnen der Geistesforscher mitteilt, und dem Glauben daran, daß man Ihnen sagt, es hat einen Friedrich den Großen gegeben. Zu glauben, daß es Geister des Willens gibt und daß es einen Friedrich den Großen gegeben hat, dazwischen ist formal kein Unterschied. Der Unterschied ist nur der, daß aus dem, was in den Archiven vorhanden ist, erzählt wird: Das sind die Taten Fried­richs des Großen, die äußerlich geschehen sind ! - Und wenn Ihnen jemand aus den äußeren Tatsachen heraus den ganzen Gang der ge­schichtlichen Geschehmsse aufbaut bis rückwärts, wo Friedrich der Große gelebt hat, so glauben Sie ihm aus dem Grunde, weil damals nicht eine Wesenheit gelebt hat, die anders ausgeschaut hat als ein Mensch. Aus dem Grunde glaubt es der Mensch, der nicht an geistige Welten glauben will, weil ihm hier etwas Ähnliches erzählt wird, wie dasjenige ist, was er selber in seiner Umgebung hat. Der Geistes-forscher ist ja zunächst nicht in der Lage, aus seiner Forschung heraus über solche Dinge zu reden, die ähnlich schauen den Wesen­heiten und Dingen, die für den gewöhnlichen Menschen in seiner Umgebung sind. Daß trotzdem zwischen den beiden Arten kein Un­terschied ist, und trotzdem dies absolut begründet ist, so ist das, was ich jetzt gesagt habe, dennoch in einer gewissen Weise zu berück­sichtigen. Nun kommt aber noch etwas anderes.

Wir haben charakterisiert den Gesichtspunkt dessen, der zum Bei­spiel unten auf dem Standpunkt der Anthropologie steht, und den

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Gesichtspunkt dessen, der auf dem Standpunkt der Theosophie steht. Es ist voll begründet - das hat Ihnen ja Dr. Unger bewiesen -, Ver­trauen und Glauben in begründeter Weise zu haben zu dem, was aus der Geisteswissenschaft vorgebracht wird. Das ist durchaus eine voll begründete Art der Anerkennung geisteswissenschaftlicher Wahr­heiten. Nun fragt es sich aber: Gibt es vielleicht nicht noch ein Drit­tes? - Gibt es nur diese zwei Dinge: etwas anzuerkennen, weil es ähnlich schaut dem, was man gewohnt ist zu sehen in der Sinnenwelt, oder bloß anzuerkennen das Geistige daraufhin, daß man es als eine Mit­teilung empfängt aus den höheren Welten? Gibt es nicht doch noch ein Drittes? Mit andern Worten, kann der Mensch vernünftigerweise nur unterscheiden: Hier gibt es ein sinnlich Wahrnehmbares; ich glaube es, weil ich es sinnlich sehe. Dann gibt es ein geistig Wahr­nehmbares; ich glaube es, weil der Geistesforscher es sieht. - Gibt es dazwischen nicht noch etwas?

Ich will Ihnen an einem Beispiel klarmachen, daß es doch noch etwas Drittes gibt. Denken Sie, hier liege ein Hammer. Meine Hand ergreift ihn und stellt ihn vertikal auf. Jetzt hat der Hammer eine Be­wegung ausgeführt. Sie werden diese Bewegung darauf zurückführen, daß ein Wille da war, der den Hammer aufgerichtet hat. Das ist weiter nicht wunderbar, denn Sie sehen den dahinterstehenden Willen im Menschen verkörpert. Wenn Sie sehen, daß ein Mensch einen Hammer aufhebt, so werden Sie das nicht als etwas Besonderes betrachten. Aber nehmen Sie an, derselbe Hammer würde, ohne daß ein sicht­bares Wesen ihn anrührt, selber sich vertikal aufrichten. Was würden Sie jetzt dazu sagen? Jetzt werden Sie sagen: Ich wäre sehr töricht, wenn ich glauben würde, daß dasjenige, was sich da aufgerichtet hat, ein Hammer wäre wie ein jeder andere Hammer, der nur aufgerichtet werden kann durch einen Menschen. - Was werden Sie jetzt sich sagen müssen? Sie werden sich jetzt sagen: Es ist doch selbstverständlich, daß das kein gewöhnlicher Hammer ist, sondern daß in diesem Ham­mer etwas unsichtbar darinnen ist, etwas, was ein Wille ist. - Wenn Sie sehen, daß der Hammer sich aufrichtet, können Sie ihn als keinen gewöhnlichen Hammer mehr nehmen, sondern Sie müssen ihn als etwas nehmen, was die Verkörperung eines andern Willens, eines

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andern Geistigen ist. Und Sie werden sich sagen: Sehe ich, daß ein Ding etwas tut, was es sonst nach den Eigenschaften, wie ich es als äußeres Ding kenne, nicht tun kann nach der Kenntnis der gewöhn­lichen äußeren Sinnenbeobachtung, so muß ich sagen, zwar sehe ich nicht den Geist in dem Hammer, der sich aufgerichtet hat; aber in diesem Falle darf ich nicht bloß an den Geist glauben, sondern in diesem Falle wäre ich ein großer Tor, wenn ich nicht an den Geist im Hammer glauben würde.

Wenn Sie keine genaue Beobachtungsgabe haben, und Sie würden mit jemandem gehen, der hellsichtig ist, so könnte da jemand liegen, ein Mensch, der sich nicht rührt. Sie mit Ihrer ungenauen Beobach­tungsgabe könnten gar nicht unterscheiden, ob das ein wirklicher Mensch ist oder ein Mensch aus Papiermaché. Der andere aber sagt Ihnen: Das ist ein wirklicher Mensch; er hat einen astralischen Leib ! -Da müssen Sie es glauben. Aber ein Drittes gibt es auch noch, und das wäre, daß derjenige, der da liegt, plötzlich aufstände. Dann werden Sie nicht mehr daran zweifeln, daß der hellsichtige Mensch vorher recht gehabt hat und daß da ein Geist und eine Seele drinnen ist, wenn der Betreffende aufgestanden ist. Das ist das Dritte.

Nun will ich Ihnen einen Fall zeigen, wo Sie im Leben das beobach­ten können, allerdings nicht in nächster Nähe, und doch wiederum in nächster Nähe. Wir haben gesagt: Von links nach rechts im Menschen wirkt die Strömung des physischen Leibes, von rechts nach links die Strömung des Ätherleibes, von vorn nach rückwärts die Strömung, die zustande kommt in dem Empfindungsleib und so weiter. Von unten nach oben und von oben nach unten wirken astralischer Leib und Ich einander entgegen. Diese Strömungen fließen also alle durch­einander. Das Ich, sagten wir, wirkt im Menschen von oben nach unten. Wie muß das äußere Organ daher liegen, damit es der Mensch als einen Apparat des Ich haben kann? Das äußere Organ für das Ich, das wissen Sie ja, ist das zirkulierende Blut. Das Ich könnte nicht wirken von oben nach unten, wenn es nicht im physischen Leibe sein Organ fände, das von oben nach unten in der vertikalen Richtung den menschlichen Leib durchzöge. Wo kann kein Ich sein, wie es der Mensch hat? Da, wo die Hauptblutrichtung nicht von oben nach

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unten geht, sondern wo sie horizontal liegt. Das ist in der Tierwelt der Fall. Das Gruppen-Ich der Tiere findet kein Organ, weil die Haupt­blutlinie horizontal ist. Das ist der Unterschied, daß die Hauptblut­linie sich beim Menschen aufrichten mußte, damit in diese Hauptblut­linie das Ich des Menschen hineinkommen konnte. Da haben wir also die Tiere, bei denen das Ich das Blut nicht erfassen kann als sein Organ, weil die Hauptlinie des Blutes horizontal gerichtet ist, und da haben wir die Menschen, bei denen das Ich das Blut erfassen kann als sein Organ, weil die Hauptiinie dieses Blutes sich vertikal aufgerichtet hat. Nehmen wir nun einmal diejenige Anschauung, welche eine Ver­wandtschaft des Tieres mit dem Menschen aus bloß äußeren Gründen annimmt. Da müssen Sie sich sagen: Da sind tierische Formen; die sind erhalten aus früheren Zeiten. Jetzt aber mußte sich einmal die ganze Blutrichtungslinie aus der Horizontalen in die Vertikale auf­richten, damit der Mensch daraus werden konnte. - Hier haben Sie den geschichtlichen Fall: Sie haben etwas, was horizontal liegt. Das kann sich aber selbstverständlich aus den Eigenschaften, die Sie be­obachten können an dem tierischen Blutcharakter, ebensowenig selber aufrichten, wie der Hammer sich selber aufrichten könnte, wenn er nicht von einem Geiste durchseelt wäre. Ebenso wie es töricht wäre zu leugnen, daß in dem, was sich selber aufrichtet, ein Geist ist, ebenso töricht wäre es zu denken, daß sich die horizontale Blutlinie des Tieres von selber aufrichtet zur vertikalen Blutlinie des Menschen. Nur wenn darinnen ein Geist ist, wenn ein Wille sie durchströmt, kann sie sich aufrichten von der Horizontalen in die Vertikale, kann die tierische Gruppenseele übergehen in die individuelle Menschenseele. Und wer sich nicht eingesteht auf der einen Seite: Ich wäre ein Tor, wenn ich glauben wollte, daß der Hammer, der sich selber auf­richtete, nichts anderes wäre wie ein gewöhnlicher Hammer -, der wäre ein ebenso großer Tor, wenn er annehmen wollte: Ich denke, daß das, was im Blute ist, sich von selber vertikal aufstellt.

Hier haben Sie die dritte Art, wie Sie sich alle geisteswissenschaft­lichen Wahrheiten bewahrheiten können, indem es Ihnen einleuchtet, daß Dinge geschehen, bei denen anzunehmen, daß nur dasjenige daran beteiligt ist, was man mit äußeren Sinnen sieht, eine Torheit, ein

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Unding ist. Und je weiter man in die Dinge eindringt, desto mehr zeigt es sich, daß diese mittlere Art der Überzeugung für alles möglich ist, diese mittlere Art, die darin besteht, daß das gewöhnliche Denken befruchtet wird von der Geisteswissenschaft. Denn Sie müssen doch zugeben können, daß ein menschliches Herz nicht so gezeigt werden kann, wie wir es taten, ohne die vorherige geistige Forschung. An­geregt werden muß die Forschung von der Geisteswissenschaft. Dann aber, wenn die Resultate der Geisteswissenschaft gegeben sind, und wir betrachten dann die äußeren Erscheinungen, dann werden wir sehen, daß an diesen äußeren Erscheinungen etwas vorgeht, was un­möglich vorgehen könnte, wenn nicht die Dinge vorausgesetzt wür­den, die uns von der Geisteswissenschaft gesagt werden können. So gibt es eine Methode, die Dinge unbefangen zu beobachten, wenn Sie zum Beispiel sehen, wie die Blutlinie im Tier horizontal, im Menschen vertikal ist, und sich dann fragen: Was muß im Blute vorhanden sein, damit sich die ganze Hauptblutlinie aufrichten kann? und dann die Antwort aus der Geistesforschung erhalten: Im Blute herrschen geistige Wesenheiten ! so daß Sie sich dann sagen: Zeigt mir das Blut nicht ebenso die Anwesenheit einer geistigen Wesenheit, so wie ein Hammer, der sich selber aufstellen würde, mir die Anwesenheit einer geistigen Wesenheit zeigen würde? Hier haben Sie den mittleren Standpunkt der Anthroposophie, der die Tatsachen unten beobachtet, die Tatsachen der geistigen Welt beobachtet, beide miteinander ver­gleicht - und dadurch dasjenige vollständig erklärt, was äußerlich in der Welt vorhanden ist.

So haben wir jetzt an einzelnen Beispielen, wie an der Umwandlung des Gehirns in das Auge und an der inneren schematischen Kontrak­tion des menschlichen Herzens, gezeigt, wie jedes Organ in seinen Formen begriffen werden kann. So könnten wir die einzelnen Formen jedes Organs konstruieren aus dem Geiste heraus. Überall würde sich Ihnen zeigen, wie der Geist am Menschen arbeitet, um die Organe und die Formen des Körpers zustandezubringen. Nur im Prinzip sollte das angedeutet werden. Aber Sie sollten durch solche Dinge, wie sie heute angedeutet sind, ein Gefühl davon erhalten, daß es doch vieles in der Welt gibt, wovon sich Gelehrtenweisheit gar nichts

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träumen läßt, weil sie nicht eingehen will auf die Sachen. Wenn Sie dieses Gefühl davontragen, so werden Sie sehen, daß es eine Möglich­keit gibt für den Menschen, die Welt unbefangen zu betrachten, wo das Ineinanderweben dessen, was der Geistesforscher aus der geistigen Welt heraus mitteilt, mit den irdischen Dingen, zwar nicht jeder gleich sehen kann, wo man sich aber doch sagt: Es ist ein Unding, für ge­wisse Erscheinungen nicht jene Tatsachen anzunehmen, welche der Geistesforscher erzählt.

Wenn dieses Gefühl besteht, dann ist schon genügend gewonnen durch diese anthroposophischen Vorträge; denn wir können nur lang­sam und allmählich aufsteigen in der geistigen Forschung.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 27. Oktober 1909

Gestern sprachen wir über die verschiedenen Kraftströmungen, welche den menschlichen Organismus formen und ihm so seine Ge­stalt geben, daß uns diese Gestalt erklärlich erscheinen muß. Wir haben gesehen, wie sich in frappierender Weise ergibt, daß das Herz, das Auge gerade so aussehen müssen, wie sie eben aussehen, wenn wir die bildenden Kräfte kennenlernen. Wir haben, wie Sie gesehen haben; dasjenige, was im menschlichen Organismus übersinnlich vor­geht, um das sinnliche Bild zur Erscheinung zu bringen, zurück­geführt und zusammengesetzt aus Strömungen von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten und von unten nach oben, von vorne nach rückwärts und umgekehrt.

Nun könnte jemand sagen: Jetzt wollen wir dich in deiner eigenen Schlinge fangen! Du erklärst uns eine sehr bedeutsame Erscheinung im menschlichen Organismus nicht, wenn du von diesen Strömungen sprichst von rechts und links, oben und unten, vorn und hinten, du erklärst uns diejenige Erscheinung doch gar nicht, die in dem Fol­genden liegt: Es gibt beim Menschen Organe, die genau symmetrisch gelegen sind, links und rechts gleich, und andere Organe, die un­symmetrisch sind, Herz, Leber, Magen und so weiter. Wir könnten, so könnte eingewendet werden, zur Not begreifen den menschlichen Organismus aus deinen Strömungen, wenn er ganz unsymmetrisch gebaut wäre, wenn er, ebenso wie er von unten nach oben und von vorn nach rückwärts anders aussieht, auch anders aussehen würde von links nach rechts.

Das könnte eingewendet werden. Es wäre aber ein kurzsichtiger Einwand. Denn, wie wir schon angedeutet haben, ist dasjenige, was von links nach rechts und von rechts nach links strömt, gerade das­jenige, was bewirkt den physischen Leib und den Ätherleib. Also in derjenigen Richtung, in der der Mensch symmetrisch aufgebaut ist, strömen physischer Leib und Ätherleib; gerade in dieser Richtung, wo physischer Leib und Ätherleib strömen, ist der Mensch symmetrisch

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aufgebaut. Nun erinnern Sie sich aber, was die geisteswissen­schaftliche Forschung sagt zu dieser anthroposophischen Tatsache und der anthroposophischen Erklärung, daß diese Strömungen existieren, und fragen wir uns, ob wir irgendeine Möglichkeit haben, auch da begreiflich zu machen, daß alles so sein muß, wie es ist.

Die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt uns, daß dieser physische Leib des Menschen eine sehr alte Wesenheit ist, die vom alten Saturn her stammt, daß der Ätherleib auf der Sonne dazukam, daß der astralische Leib auf dem Monde und das Ich erst auf der Erde dazukam. Nun können wir uns fragen: Wie war denn die erste Anlage des physischen Menschenleibes, als sie auf dem alten Saturn angelegt worden war? Unsymmetrisch selbstverständlich, denn sie mußte in einer Richtung wirken, die in der heutigen Leibesrichtung der von links nach rechts entspricht. Wie war die Anlage des Ätherleibes, als sie auf der Sonne zunächst angelegt worden ist? Unsymmetrisch war sie, denn sie mußte in der Richtung angelegt werden, welche heute entspricht der von rechts nach links im Menschen. Nun geht aber die Entwickelung weiter. Es bleibt bei der alten Sonnenwirkung nicht stehen, sondern es kommt nun die Mondenwirkung hinzu. Da ent­wickelt sich der physische Leib weiter; da wird an seiner Gestalt weitergebildet. Wenn diese Mondenwirkung nicht gekommen wäre, dann wäre der Mensch in bezug auf seinen physischen Leib allerdings ein einseitig unsymmetrisches Wesen geblieben. Nun setzte sich aber die Bildung dieses physischen Leibes auf dem Monde fort, und es setzte sich weiter alles übrige fort auf der Erde. Es mußte also etwas eintreten, was die ganze frühere Bildung veränderte, was sie zu einer ganz andern machte. Es mußte sozusagen eine Umkehrung, eine Aus­wechselung der Richtungen entstehen. Es mußte dasjenige, was ge­schehen sollte, um die Einseitigkeit zu vermeiden, von der andern Seite her bewirkt werden. Das heißt, während die Richtung, die vom Saturn her der Bildung des physischen Leibes eingeprägt war, von links nach rechts geht, mußte das jetzt wieder ausgeglichen werden durch eine Bildung von rechts nach links. Wodurch geschah das?

fn früheren Vorträgen habe ich Ihnen gesagt, daß schon während der alten Mondenzeit die Sonne sich losgetrennt hat von dem Mond,

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und daß die Kräfte nun von außen herein wirkten, nicht mehr von derselben Seite, vom Mondenkörper aus. Und so war es auch mit dem Ätherleib, als die Bildung fortschritt. Was aus dem physischen Leibe bis zur alten Mondenzeit geworden war, das ist in Empfang ge­nommen worden von der Seite, die jetzt von der außenstehenden Sonne kam. Ja, dann können wir aber wieder nicht begreifen, könnte lemand sagen, warum, da diese andere Seite so viel später gebildet worden ist, sie nicht viel kleiner ist als die andere Seite, warum die beiden Seiten gerade symmetrisch sind.

Erinnern Sie sich dazu an etwas anderes, was ich Ihnen gesagt habe. Es mußten gewisse Wesenheiten, die höher entwickelt waren, um stärkere Wirkungen zu entfalten, sich gerade von dem alten Mond und von der Erde trennen. Gerade um in der Bildung von rechts nach links stärkere Wirkungen auszuüben, als die auf dem Saturn aus­geübten, mußten diese Wesenheiten einen andern, höheren Schau­platz gewinnen. Denn sie hatten es nicht so leicht wie die Saturnwesen, als diese einseitig den physischen Menschenleib angelegt hatten. Sie hatten das, was von der bisherigen Evolution da war, schon zu über­winden. Da staute sich schon der ganze Bildungsprozeß. Deshalb mußten sie stärker sein, sie mußten sich einen Schauplatz außerhalb der Erde, auf der Sonne wählen. Dadurch wurde die Kraft verstärkt, und es wurde die andere Seite gleich gemacht der ersten Seite. Es wurde der physische Leib ein symmetrisches Gebilde.

So werden Sie, wenn Sie nur Geduld haben, alles bis ins einzelne hinein bestätigt finden, was im Laufe der theosophischen Vorträge gesagt worden ist. Bis in die einzelnsten menschlichen Organe hinein könnten die Bildungskräfte verfolgt werden. Es würde ja natürlich zu weit führen, wenn ich Ihnen in diesen skizzenhaften Vorträgen auch das Ohrläppchen zum Beispiel erklären wollte, aber möglich wäre es.

Wenn Sie sich daran erinnern, was gestern gesagt worden ist: daß Strömungen stattfinden von vorne nach rückwärts, und daß das die Wirkungen des Empfindungsleibes sind, die Ausströmungen des Emp­findungsleibes in den menschlichen Organismus hinein, daß dagegen die Strömungen der Empfindungsseele von rückwärts nach vorwärts

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gehen, so haben wir also in einer Richtung zwei gegeneinander wirkende Strömungen, von vorne nach rückwärts und von rückwärts nach vorne. Wie müßten wir uns nun vorstellen, daß die Strömungen des Empfindungsleibes von vorne nach rückwärts und die Strömun-gen, die von der Empfindungsseele von rückwärts nach vorne gehen, am menschlichen Organismus bauen? Wir könnten das einmal durch eine kleine Skizze veranschaulichen.

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Wie gesagt, der physische Leib, der Ätherleib und der Hauptstock des astralischen Leibes waren schon da, und jetzt kommen jene Strömungen, die, vom Empfindungsleib kommend, von vorne nach rückwärts sich einbohren in den menschlichen Organismus. Und sie wirken so, daß sie hineinbilden in den menschlichen Organismus allerlei Organe in das, was schon darinnen ist. Nun, nehmen wir an, daß wiederum hineinarbeitet in den Organismus von rückwärts nach vorne die Empfindungsseele. Diese Arbeit ist eine innere, weil es eben Empfindungsseele ist. Vorne werden sich die Strömungen stauen. Sie werden sich so stauen, daß sie sich, wenn sie sich in den physischen Organismus hineinbohren, über das, was sie dort bilden, darüberlegen. Da gehen die Strömungen von der Empfindungsseele nach vorne, und da, wo der physische Leib begrenzt ist, dringen sie ein. Während die Strömungen des Empfindungsleibes von außen nach

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innen dringen - denn der Empfindungsleib ist ja außen -, gehen die Strömungen der Empfindungsseele von innen nach außen. Da müssen also an jener Stelle irgendwelche Öffnungen sein, da müssen einige Löcher gebohrt werden. Sie haben von rückwärts nach vorne gehend gewisse Strömungen und Sie haben von vorne nach rückwärts gehend gewisse Strömungen. Die Strömungen von rückwärts nach vorne gehen von der Empfindung sseele aus, von etwas Innerlichem; sie bohren sich hinein in den physischen Organismus.

Wenn Sie diese Skizze anschauen, haben Sie die Seitenansicht eines menschlichen Gesichts: vorn die Strömungen, welche die Sinnes­Organe hineinbohren, Gesichtsorgan, Geruchsorgan, Geschmacks-Organ, und von hinten nach vorne kommend die Bildungskräfte, die das Gehirn darüberlagern. Sie haben das Schema des Baues des menschlichen Kopfes, von der Seite angesehen.

So können wir also sagen: Wenn das wahr ist, was die Geistes­wissenschaft sagt, so kann eigentlich dieser menschliche Kopf gar nicht anders aussehen, als er wirklich aussieht. Wo ist denn eigentlich der Beweis für das, was die Geisteswissenschaft behauptet? Die Geisteswissenschaft zeigt: Wenn überhaupt jemals ein menschlicher Kopf hat entstehen sollen, so mußte er so aussehen. - Fragen Sie einmal den menschlichen Kopf, ob er so aussieht? Ja, er sieht so aus ! Da haben Sie die Bestätigung, den Beleg dafür, der uns von der Er­scheinungswelt selber entgegengebracht wird.

Oder betrachten Sie jetzt einmal eine andere Tatsache. Die Arbeit des Empfindungsleibes geht nach innen, und die Arbeit der Emp­findungsseele geht von innen nach außen, staut sich aber vorher noch. Sie kommt nicht bis nach außen, sie bleibt sozusagen gestaut in dem physischen Gehirnleib drinnen. Sie kann nicht heraus; sie kommt nur an den Stellen heraus, wo ihr entgegenkommen die Löcher, welche von vorne hineingebohrt sind. Da kommt die Tätigkeit der Emp­findungsseele heraus; da schreitet sie heraus. So daß wir also haben einen Teil unseres Innenlebens, der sich eben als Empfindungsseele nach außen ergießt. Das kann noch die Empfindungsseele.

Die Verstandesseele ist hiezu nicht fähig. Sie ruht auch im Innern; sie muß sich ebenso verhalten in ihren Wirkungen. Sie staut sich vollständig.

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Sie kann gar nicht nach außen, denn ihr begegnen keine Strömungen von außen. Daher verläuft das menschliche Denken im Innern; es kann nicht heraus. Der Mensch muß schon in seinem Innern nachdenken. Die Dinge denken nicht für ihn nach und sie zeigen ihm auch nicht die Gedanken von außen her, sondern er muß die Gedanken den Dingen entgegenbringen. Das ist das große Ge­heimnis, möchte man sagen, von dem Verhältnis der menschlichen Gedanken zu der Außenwelt. Durch die Sinnesorgane kommen dem Menschen keine Gedanken zu; so daß also, wenn die Sinnesorgane selber eine Unregelmäßigkeit haben, leicht Sinnestäuschungen vor­kommen. Während aber im normalen Leben die Sinne nicht irren können, kann der Verstand, der sich mit den Dingen nicht in eine Beziehung setzen kann, irren. Er ist das erste Glied des Menschen, das irren kann, weil sich seine Tätigkeit innerhalb des Gehirnes staut, weil seine Tätigkeit nicht nach außen kommt. Was folgt daraus? Daraus folgt, daß es ganz unmöglich ist, daß der Mensch Gedanken über die Außenwelt hat und sich etwas Richtiges über die Außenwelt denkt, wenn er nicht in seinem Innern eine Anlage dazu hat, richtige Gedanken aufsteigen zu lassen. Niemals - das können Sie daraus sehen - könnte die Außenwelt dem Menschen richtige Gedanken geben, wenn die richtigen Gedanken nicht in seinem Innern auf­steigen würden. Richtige Sinnesempfindungen kann sie ihm geben. Die Sinnesempfindungen aber können nicht denken. Der Gedanke aber ist dem Irrtum unterworfen, und der Mensch muß die Kraft in sich haben für die Richtigkeit des Gedankens.

Für denjenigen, der nachdenken will, zeigt schon diese Tatsache:

Wenn im Menschen richtige Gedanken aufsteigen sollen über die Dinge der Außenwelt und doch nicht im jetzigen Leben in Berüh­rung kommen können mit diesen Dingen, daß das hinweist auf ein vorzeitliches Dasein des Menschen. Denken Sie einmal: Der Mensch soll sich über die Weisheit der Welt richtige Gedanken machen, aber er kann mit seinen Gedanken gar nicht heraus. Was in der Welt draußen die Dinge als Weisheit durchströmt, das muß auch in ihm selber aufsteigen. Und es ist eine Grenze zwischen beiden; die zwei können gar nicht zusammenkommen. Sie müssen also einmal beieinander

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gewesen sein ! Das war in jener Vorzeit, in welcher das tnenschliche Ich diese Strömungen von oben nach unten noch nicht aufgehalten hat, sondern sie frei durchgelassen hat. Sie müssen also daraus notwendig folgern, daß der Mensch einmal anders organisiert gewesen sein muß, daß dasjenige, was heutiges Denken im Gehirn ist, einmal, wie die Sinneswahrnehmung des Auges, mit der Außenwelt verbunden war, so daß der Mensch seine Gedanken anschaute.

Was heißt denn das: Man schaute das an, was man jetzt bloß denken kann? Das heißt, man hatte eine Hellsichtigkeit. Aber weil das Ich es gerade ist, was den Menschen von der alten Hellsichtigkeit getrennt hat, so war das Ich damals noch nicht da. Man muß es also eine Hellsichtigkeit nennen, die noch nicht Ich-durchleuchtet ist, die noch dämmerhaft ist. Und wir können uns so geradezu das Wort zusammensetzen, das wir gebraucht haben für das alte Hellsehen: ein dämmerhaftes Hellsehen muß der Mensch gehabt haben. Er muß früher Zustände durchgemacht haben, wo er ein dämmerhaftes Hell­sehen gehabt hat.

Wiederum ist es die jetzige Organisation, die uns zeigt, daß in abgelaufenen Zeiten der Mensch mit einer andern Organisation gelebt hat. Wenn das so ist, was gesagt worden ist, dann folgt daraus aber etwas sehr Wichtiges für das praktische Leben. Es folgt daraus, daß für alle Verhältnisse der Sinneswelt die Sinneswahrnehmung - ab­gesehen von Sinnestäuschungen - etwas ist, was die Wahrheit aus­sprechen kann. Denn in bezug auf die Sinneswahrnehmung steht der Mensch in einem unmittelbaren Verhältnis zur Außenwelt, in un­mittelbarer Berührung mit der Außenwelt. Es geht daraus auch her­vor, daß der Mensch über das, was in seinem Innern ist, nur durch die Kraft seines Verstandes etwas wissen kann. Zum Beispiel, wenn das Ich nach innen strömt, so ist es ja darinnen. Wenn der Mensch also sein Denken anwendet auf das Ich, so ist es ganz natürlich, daß dieses Denken über das Ich - weil das Ich im Innern ist - imstande ist, etwas über dieses Ich zu entscheiden. Das haben Sie gesehen aus den Vor­trägen des Herrn Dr. Unger. Und jetzt werden Sie auch den Vorgang lokalisieren können. Es ist die Begegnung der Verstandesseele mit dem Ich, welche das reine Denken, das nach innen gerichtete Denken

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erzeugt. Und Sie werden begreifen, daß dieses Denken, welches sich selbst ergreift, nicht dem Irrtume ausgesetzt sein kann wie jenes Denken, das draußen in der Welt herumschweifen und sich aus den Dingen die Urteile holen will. Denn dieses Denken kommt nur so weit mit dem Nachsinnen über die Außenwelt, als es zuerst die Be­griffe, die Wahrheit über die äußeren Dinge in sich selber finden kann. Der Mensch muß den Dingen ihre Begriffe als Spiegelbilder entgegenhalten. Die Dinge selbst können nur die sinnliche Seite geben. Der Mensch muß in sich aus einer richtigen Wahrheitsanlage aufsteigen lassen die Begriffe der Dinge, die Gedanken der Dinge. Über was haben wir denn also nur ein Urteil in der Außenwelt? In Wahrheit hat der Mensch nur über dasjenige in der Außenwelt ein Urteil, was sich zunächst seinen Sinnen darbietet. Was sich den Sinnen entzieht, dar­über können die Sinne selber nichts entscheiden. Was ist denn eigent­lich also am Menschen, was einzig und allein nur in seiner Wahrheit erscheint? Einzig und allein ist am Menschen - und auch an den andern Wesen der Natur - lediglich das für den physischen Plan in seiner Wahrheit erscheinend, was wirklich die Sinne sehen können. Sobald sich etwas den Sinnen entzieht in seiner unmittelbaren Gegen­wart, dann kann vom physischen Plan aus kein Urteil über die Sache gefällt werden. Denn in dem Augenblick wird der Verstand, wenn er nicht gelenkt und geleitet wird von der inneren Richtigkeit oder Wahrheitsanlage, notwendigerweise in alle möglichen Jrrtümer hinein­kommen müssen.

Ich will Jhnen diese Sache lieber an einem Beispiel ausführen. Jch will Ihnen zwei Lehren vorführen. Die eine kennen Sie aus der geisteswissenschaftlichen Forschung: die Lehre, welche Formen der Mensch durchgemacht hat in den früheren Daseinszuständen durch die atlantische, lemurische Zeit und so weiter hindurch bis hinauf zum alten Monden-, Sonnen- und Saturndasein. Da wird Ihnen ge­zeigt aus der geisteswissenschaftlichen Forschung heraus, was der Mensch für Zustände durchgemacht hat. Und wir haben heute ein Beispiel gesehen, wie wunderbar das, was die Sinne sehen, uns be­greiflich erscheint, wenn wir diese Abstammungslehre des Menschen wirklich uns zu eigen machen und sie verarbeiten an der äußeren

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Welt. Und Sie können sich immer mehr und mehr davon überzeugen, wie frappierend es ist, daß alles Äußere eine Bestätigung liefert für das, was die geisteswissenschaftliche Forschung aus den Tatsachen der geistigen Welt heraus feststellt.

Nehmen wir jetzt als Gegenstück einmal die Sinnesforschung, die sinnliche Abstammungslehre, die ja erst in der neueren Zeit ihren Ausbau gefunden hat. Da zeigt sich uns vor allen Dingen, daß ein wichtiges Gesetz aufgestellt worden ist, das ich schon gestern erwähnt habe: das biogenetische Grundgesetz, welches die äußeren Tatsachen in der Weise feststellt, daß der Mensch in seinem Keimeszustand kurz durchmacht alle diejenigen Formen, die erinnern an gewisse Tier-gestalten; in gewissen Stadien erinnert er an ein Fischchen und so weiter. Er wiederholt, so könnte man sagen, die verschiedenen For­men des Tierreiches. Nun wissen Sie ja alle, daß insbesondere in dem­jenigen Stadium, wo diese Abstammungslehre wild geworden war, geschlossen worden ist aus dieser Tatsachenwelt, daß der Mensch nun wirklich in der Vorwelt diese Formen durchgemacht habe, welche sich da wiederholentlich zeigen in seinem Keimeszustand. Man möchte gegenüber dieser Tatsache sagen: Es war wahrhaftig für die Menschlieit ein Glück, daß diese Beobachtung durch die Sorgfalt der Götter so lange verborgen geblieben ist bis in die Zeit hinein, wo sie gleichzeitig fast - die Dinge schieben sich ja fast immer übereinander -, nachdem sie in ihren wilderen Formen aufgestellt worden war, ihre Korrektur erfahren konnte durch die Geisteswissenschaft. - Das, was der Mensch durchmacht bis zu dem Zeitpunkt, wo er auf dem physi­schen Plan für die Sinneswahrnehmung erscheint, das wurde ein­gehüllt von den Göttern und konnte nicht beobachtet werden. Denn wäre es noch früher beobachtet worden, so hätte sich der Mensch vielleicht noch verkehrtere Begriffe darüber gemacht. Die Tatsachen sind selbstverständlich richtig, denn sie werden durch die Sinne beobachtet. Soll aber nun darüber geurteilt werden, dann kommt das in Betracht, was die Kraft der Verstandesseele ist. Die kann nicht heran an das, was nicht sinnlich gesehen werden kann. Sie ist daher, wenn sie nicht die Wahrheitsanlage im Innern hat, notwendigerweise dem Irrtum unterworfen. Und hier haben wir ein eklatantes Beispiel

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dafür, wie die Urteilskraft, die aus der Verstandesseele kommt, in den Irrtum hineinsegeln kann.

Was zeigt denn die Tatsache, daß der Mensch auf einer gewissen Stufe seines Keimeslebens einem Fischchen ähnlich sieht? Diese Tat­sache zeigt, daß der Mensch dasjenige, was Fischnatur ist, nicht brauchen kann, daß er es ausstoßen mußte, bevor er sein Menschen­dasein antrat. Und die nächste Keimesgestalt ist wiederum eine solche, die der Mensch ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehört, so wie der Mensch alle Tierformen ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehören. Der Mensch hätte nicht Mensch werden können, wenn er jemals in einer solchen Gestalt auf der Erde erschienen wäre, wie diese Tierformen sind. Er mußte sie eben gerade von sich absondern, damit er hat Mensch werden können. Wenn Sie in richtiger Weise diese Gedanken verfolgen, so werden Sie auch zu einem richtigen Urteil kommen. Was zeigen die Tatsachen, daß der Mensch im Keimes stadium zum Beispiel wie ein Fischchen aussieht? Diese Tat­sachen zeigen, daß er niemals einem Fischchen ähnlich gesehen hat im Verlaufe seiner Abstammungslinie, daß er gerade in der Linie seiner Entwickelung ausgestoßen hat die Fischform, sie nicht brauchen konnte, weil er ihr nicht ähnlich sehen durfte. Nehmen Sie nun alle die andern aufeinanderfolgenden Gestalten, welche die moderne Wissenschaft in den Gestalten des Keimeslebens Ihnen zeigt. Was zeigen diese Formen? Sie zeigen alles dasjenige, was der Mensch in der Vorzeit nicht gewesen ist, was er gerade aus sich hat ausstoßen müssen. Sie zeigen alle diejenigen Bilder, denen er niemals ähnlich gesehen hat. So kann man in Wahrheit erfahren durch die Embryo­logie, wie der Mensch niemals in der Vorzeit ausgesehen hat. Alle die Dinge, die der Mensch nicht durchgemacht hat, sondern die er aus­gestoßen hat, kann man dadurch kennenlernen. Wenn man aber daraus den Schluß zieht, daß der Mensch von alledem abstamme, daß er das durchgemacht habe, um auf seine heutige Entwickelungsstufe zu kommen, so steht man dann auf demselben Standpunkt wie jemand, der etwa sagte: Hier steht der Sohn, hier der Vater. Wenn ich beide vergleiche, so werde ich nimmermehr glauben, daß der Sohn vom Vater abstammt. Ich werde glauben, daß der Sohn von sich selber

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abstammt, oder der Vater vom Sohn. - Gerade die umgekehrte Reihenfolge der Evolution wurde durch das Hineinsegeln in den Irr­tum angenommen, dadurch, daß der Verstand sich wirklich recht ungeeignet erwiesen hat, um diese Tatsachen der Wirklichkeit wahr­haftig zu durchdenken. Gewiß sind diese Bilder der Vorzeit für uns außerordentlich wichtig, weil wir eben daran erkennen, wie wir nie­mals ausgesehen haben.

Das kann man aber an etwas anderem viel besser erkennen. Man kann es erkennen an denjenigen Reichen, die uns durch die äußere Sinnenwelt selber geboten werden, die sich uns nicht entziehen. Näm­lich alle diese Formen sind uns ja auch in der Außenwelt gegeben. Die kann man beobachten mit dem, was man die gewöhnliche, richtig verwertete menschliche Anschauung nennen kann. Solange die Men­schen nur diese Beobachtung gehabt haben, solange sie ihren Ver­stand angewendet haben nicht auf das, was der Sinnesanschauung sich verschließt, sondern auf das, was vor der Sinnesanschauung aus­gebreitet liegt, so lange sind sie zu jenem falschen Urteil nicht ge­kommen. Freilich haben dazumal die Menschen nicht aus dem Ver­stande geurteilt über ihre Abstammung, sondern sie haben aus ihrem natürlichen, geraden Wahrheitssinn geurteilt. Sie haben den Affen angeschaut und haben jenes eigentümliche Gefühl empfunden, das jeder gesunde Sinn empfindet, wenn er den Affen anschaut, und das man mit nichts anderem vergleichen kann als mit einem gewissen Schamgefühl. Und dieses Schamgefühl war wahrer als das, was nach­her der irrende Verstand gesagt hat. In diesem Schamgefühl lag das Gefühisurteil darinnen, daß eigentlich der Affe ein von der Menschen-strömung abgefallenes Wesen ist, ein zurückgebliebenes Wesen ist, daß er herstammt aus der Menschenlinie und hat ausgesondert werden müssen. Also es lag das Gefühl darinnen, daß der Mensch nur hat auf seine heutige Höhe kommen können dadurch, daß er dasjenige, was die heutige Affengestalt geworden ist, erst aus sich aussondern mußte. Hätte er es behalten, so hätte er nie Mensch werden können. Das liegt in dem natürlichen, gesunden Gefühl. Dann wurden die Sachen durch den Verstand erforscht, und da zeigte sich durch den Verstand der Irrtum, daß der Mensch sagte, die Menschengestalt

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stamme her von der Affenströmung ! Das ist ein Irrtum. Je weiter Sie nachdenken, desto mehr werden Sie finden, wie tief berechtigt gerade dasjenige ist, was eben jetzt gesagt worden ist. Daß der Mensch vom Affen herstamme, ist ein Irrtum, was sich Ihnen schon ergeben kann aus etwas ganz Gewöhnlichem.

Nehmen Sie an, Sie betrachten diejenigen Glieder der Menschennatur, die Ihnen für die eigene Wahrnehmung offen vorliegen als das, was Sie selber an sich beobachten, oder Sie beobachten dasjenige an der Menschennatur, was Sie an den andern Menschen beobachten können, wiederum als das, was der Sinnesbeohachtung gegeben wird. Weil ja nun im Menschen zwei Strömungen ineinanderfließen, die Strömung des Empfindungsleibes von vorne nach rückwärts und die Strömung der Empfindungsseele von rückwärts nach vorne, so müssen wir unterscheiden bei dem, was uns da sozusagen an dem Menschen erscheint, wenn wir ihm gegenüberstehen, zwischen dem, was von vorne nach rückwärts wirkt als die Strömung des Emp­findungsleibes, und zwischen dem, was von rückwärts nach vorne wirkt als die Strömung der Empfindungsseele. Schauen wir von die­sem Gesichtspunkt einem Menschen ins Antlitz. Soweit wir den Menschen sinnlich sehen, ist das Bild natürlich richtig. Darüber können wir nicht irren; das gibt die Sinnesbeobachtung. Aber nun­mehr kommt, und hier noch auf einer unterbewußten Stufe, der menschliche Verstand hinzu. Und der irrt sich hier an einem geradezu klassischen Beispiel sofort. Denn als was betrachtet er das mensch­liche Antlitz in bezug auf seine Bildungskräfte? Er betrachtet es als etwas, was irgendwie von außen aufgebaut ist. In Wahrheit ist das, was wir am menschlichen Antlitz sehen, von innen nach außen durch die Empfindungsseele aufgebaut. Und wir geben ein falsches Urteil ab, wenn wir einem Menschen ins Antlitz schauen und sagen, daß das überhaupt äußerer Leib wäre. Wir müssen sagen: Was hier die Sinne sehen, das ist das äußere Bild der Empfindungsseele, überhaupt der Seele, die nach außen wirkt. Deutest du dir das menschliche Gesicht als Seele, und lenkst du eben davon deine Aufmerksamkeit ab, daß es Leib sein könnte, dann hast du das richtige Urteil. - Hier haben Sie das ungeheure Blendwerk: Sie schauen ein menschliches Gesicht an,

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das Bild einer Seele, und Sie halten es für einen Leib, indem Sie in das Bild der Seele schauen. Nur das Bild der Seele, selbstverständlich. -Das ist eben die grundfalsche Anschauung; es zeigt, wie der Mensch sogleich, wenn seine Urteilskraft in Betracht kommt, die Dinge falsch deutet. Die äußeren Bilder kann der Mensch erst dann richtig auf­fassen, wenn er sie in richtiger Weise versteht, wenn er davon spricht, daß das menschliche Antlitz das Bild der Seele ist, und daß alles zu einer falschen Erklärung führt, was man über dieses menschliche Antlitz erfahren kann aus den bloßen Kräften, die in Betracht kom­men als Kräfte der physischen oder der ätherischen Natur. Denn dieses menschliche Antlitz muß gedeutet werden aus den Kräften der Seele selber, das Sichtbare aus dem Unsichtbaren in diesem Falle. Das gerade werden Sie merken können an der Geisteswissenschaft, je tiefer Sie eindringen, daß sie eine hohe Schule des Denkens ist, daß das chaotische Denken, das heute alle Kreise beherrscht - und am meisten die wissenschaftlichen Kreise -, aufhören muß. Es mag Ihnen daher manchmal anstrengend sein, was Sie hier alles zu hören bekommen, namentlich in bezug auf die Gedanken, die Sie sich dabei bilden müssen. Aber dafür ist auch die Geisteswissenschaft zugleich die hohe Schule des logischen Denkens, weil sie dazu zwingt, die Dinge in der Welt sich in richtiger Weise zu deuten. Und richtig deuten müssen wir auch gewisse Erscheinungen, die aus dem Gebiet der Anthropo­sophie des einzelnen Menschen hinausführen in das Gebiet derAnthro­posophie der gesamten Menschheit.

Blicken wir noch einmal zurück auf das, was wir den Lautsinn genannt haben, und auf den Begriffs- oder Vorstellungssinn, und fragen wir uns einmal in bezug auf die menschliche Entwickelung auf der Erde: Hat sich der Mensch so entwickelt, daß zuerst der Lautsinn oder daß zuerst der Begriffs- oder Vorstellungssinn entstanden ist? -Damit haben wir eigentlich viel getan, wenn wir in die menschliche Entwickelung auf diesem niederen Gebiete so hineinschauen können, daß wir uns die Frage beantworten können: Hat der Mensch zuerst gelernt Worte zu verstehen, oder hat er zuerst gelernt die Vorstellun­gen, die an ihn herandringen, wahrzunehmen und zu begreifen? -Diese Frage gehört eigentlich noch wenig in das Gebiet der Geisteswissenschaft,

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denn jeder kann sie sich beantworten, wenn er beobach­tet, wie das Kind sprechen und Gedanken wahrnehmen lernt. Jeder wird wissen, daß das Kind zuerst sprechen lernt und dann erst Ge­danken wahrnehmen. Die Sprache ist die Voraussetzung für das Gedankenwahrnehmen. Warum ist sie das? Aus dem einfachen Grunde, weil der Lautsinn die Voraussetzung ist für den Vor­stellungssinn. Sprechen lernt das Kind, weil es hören kann, weil es hinhorchen kann auf das, was der Lautsinn wahrnehmen kann, und das Sprechen selbst ist dann die bloße Nachahmung. Daher werden Sie auch finden, daß das Kind immer Sprachlaute nachahmt, lange bevor es irgend etwas versteht, was schon eine Vorstellung ist. Be­trachten und beobachten Sie genau, und Sie werden sehen, daß es so ist: Zuerst entwickelt sich der Lautsinn, und an dem Lautsinn erst entwickelt sich der Begriffssinn. Lautsinn ist also die Möglichkeit, nicht nur Töne wahrzunehmen, sondern dasjenige wahrzunehmen, was wir Laute nennen, Sprachlaute. Und es entsteht jetzt für uns die Frage: Wenn der Mensch also einmal im Verlaufe seiner Entwicke­lung fähig geworden ist, Laute wahrzunehmen und als Folge davon fähig geworden ist, die Sprache sich anzueignen, wie muß denn das geschehen sein? Wie muß das zugegangen sein, daß der Mensch zur Sprache gekommen ist im Verlaufe seiner Entwickelung?

Da müssen wir uns einmal das eine klarmachen. Wenn also der Mensch sprechen lernen sollte, nicht nur hören, sondern sprechen lernen sollte, dann war notwendig, daß nicht nur von außen etwas an ihn herandrang und er etwas wahrnahm, sondern es war notwendig, daß etwas in ihm denselben Weg machte, den die Strömungen der Empfindungsseele machen, wenn sie von hinten nach vorne dringen. So etwas war notwendig. Es mußte also in der menschlichen Ent­wickelungso kommen, daß die Empfindungs seele von einer Strömung durchzogen wurde, die in derselben Richtung wirkt wie jene Strö­mungen in der Seele überhaupt, welche das erzeugen, was eben durch die Bewegung von rückwärts nach vorne erzeugt wird. Das mußte eintreten, damit die Sprache kam. Diese Sprache sollte aber früher kommen als der Vorstellungssinn, sie sollte kommen, ehe man in der Lage war, in den Worten selber - selbst in denjenigen Worten, die

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nian aussprach - dasjenige zu empfinden, was Vorstellung ist. Wirk­lich mußte die Menschheit zuerst Laute ausstoßen lernen und in der Empfindung dieser Laute leben können, bevor sie mit diesen Lauten gewisse Vorstellungen verband, die erst später kommen konnten. Zu­erst war es etwas, was noch nicht Begriff und Vorstellung war, son­dern ein Gefühl für das, was die Laute durchdrang, wenn sie aus­gestoßen wurden. Davon ging die Sprache aus.

Diese Entwickelung mußte zu einer Zeit vor sich gehen, als die Umlagerung, die Aufrichtung des Blutzirkulationssystems schon ge­schehen war, denn die Tiere können nicht sprechen. Es mußte schon das Ich von oben nach unten wirken. Aber obwohl dieses Ich, das von oben nach unten wirkte, schon da war, so konnte sich die Menschheit dieses Ich doch nicht vorstellen. Denn der Vorstellungssinn war noch nicht entwickelt. Was also folgt daraus? Es folgt daraus, daß der Mensch die Sprache nicht erhalten haben kann durch sein eigenes Ich, sondern durch ein anderes Ich, das wir vergleichen können mit dem tierischen Gruppen-Ich. Die Sprache ist also in diesem Sinne wirklich eine Göttergabe. Sie ist dem Menschen von oben herunter auf dem Wege, den das Ich nimmt, eingeflößt worden, als das Ich noch nicht imstande war, die Sprache selber auszubilden. Also das von oben herunterströmende Ich war nicht imstande, die Sprache auszubilden. Es hatte in sich noch nicht diejenigen Organe, welche den Impuls zum Ausbilden der Sprache hätten geben können. Das mußte das Gruppen-Ich tun. Aber nun war der Mensch ja schon fertig. Es war der Mensch schon ein aufgerichteter Mensch. Das Gruppen4ch mußte von oben nach unten in den physischen, den ätherischen Organismus und so weiter hineinwirken, um die Sprache zu bewirken. Diesem Gruppen-Ich strömte eine Strömung von unten entgegen. Von oben herunter kam die Strömung des Gruppen-Ich, von unten herauf eine Strömung, mit welcher sich die Strömung des Gruppen-Ich begegnet. Die kom­men zusammen und erzeugen eine Art von Wirbelgebilde. Wenn Sie eine gerade Linie ziehen durch die Mitte des Kehlkopfes, so ist das die Richtung der Strömung, welche von den die Sprache gebenden Geistern benützt wurde. Und aus diesen zwei sich stauenden Strö­mungen entstand in physischer Materie die eigentümliche Form des

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menschlichen Kehlkopfes. Damit müssen wir uns aber sagen, daß der Mensch unter dem Einfluß einer Gruppenseele, die im Umkreis der Erde lebt, diese Sprache ausbilden mußte.

Nun erinnern Sie sich vielleicht, daß ich davon gesprochen habe, wie die Gruppenseelen eigentlich auf der Erde wirken. Ich habe gesagt: Das Tier hat horizontal liegend sein Rückenmark, durch wel­ches die Strömung der Gruppenseele geht. Aber diese Kraftströmun­gen von oben nach unten umkreisen fortwährend die Erde, wie sie den alten Mond umkreist haben. Es sind also Strömungen, welche nicht an dem Orte bleiben, wo sie sind, sondern als Senkrechte um die Erde herumkreisen. Die Gruppenseelen, die in ihrer Bahnrichtung senkrecht sind, schweifen in Kreisen um die Erde herum. Was folgt daraus? Wenn der Mensch unter dem Einfluß von Gruppenseelen lernen sollte, die Sprache auszubilden, dann konnte das nicht so ge­schehen, daß er an demselben Orte bleiben konnte, wo er war, sondern er mußte sich bewegen, er mußte wandern, von einer Gegend zur andern kommen, damit er den Richtungen der Gruppenseele ent­gegenging. Der Mensch hätte niemals sprechen gelernt, wenn er an dem Orte, wo er einmal war, als er noch nicht sprechen konnte, ge­blieben wäre.

Nun fragen wir uns einmal: In welcher Richtung mußte dazuma] der Mensch getrieben worden sein? - Diese Richtung können Sie sehr leicht herausfinden auf folgende Art. Wir wissen, daß ätherische Strö­mungen im Menschen von rechts nach links fließen, daß physische Strömungen von links nach rechts fließen. Wo sind nun die Gruppen-seelen, welche den Menschen mit der Sprache begabt haben? Wir kommen der Antwort auf diese Frage nahe durch die folgende Erwägung.

Schauen wir uns die Erde in ihrer eigenartigen Bildung an. Wenn Sie bedenken, daß der Mensch die Sprache gelernt hat zu einer Zeit, wo er schon sozusagen fertig war, so werden Sie zugeben, daß eine starke Strömung notwendig war, denn es mußte der Kehlkopf in seiner weichen Gestalt zum menschlichen Kehlkopf erst umgeformt werden. Es mußte das geschehen unter ganz andern Erdenverhält­nissen, als wir sie heute vor uns haben. Aber wie mußten die sein?

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Schauen wir uns dazu die Erde an. Denken Sie sich, wir stellen uns einmal so auf der Erde auf, daß wir mit dem Gesicht nach Osten sehen; dann haben wir hinter uns Westen, links Norden und rechts Süden. Nun wollen wir sehen, was sich uns da für eine merkwürdige Tatsache ergibt. Von links nach rechts gehen die Strömungen beim Menschen, die mit der Bildung des physischen Menschenleibes zu­sammenhängen. Diese Strömungen sind auch in der Außenwelt vor­handen, sind daher auch bei der Bildung der Erde vorhanden ge­wesen. Da haben Sie die starken Strömungen, welche von Norden her kommen und nach Süden laufen. Die die physische Materie bewir­kenden Strömungen haben Sie da. Auf der andern Seite haben Sie die ätherischen Strömungen, welche von rechts nach links gehen und die nicht darauf zielen, die physische Materie dichter und dichter zu machen. An der Erde sehen Sie daher noch die Einseitigkeit, das Unsymmetrische: in der Richtung, in welcher die physische Strömung liegt, haben Sie die nördliche Hälfte mit ihren Kontinenten. Da zieht sich die verdichtete physische Materie zusammen. Und auf der andern Seite, auf der südlichen Hälfte, haben Sie die weiten Meeresflächen. Von Norden her wirkt die Strömung, die wesensgleich ist mit der Strömung von links nach rechts im Menschen; von Süden her wirkt die Strömung, die wesensgleich ist mit derjenigen von rechts nach links im Menschen. Betrachten wir jetzt die zwei andern Strömungen im Menschen: die Strömung, welche von vorne nach rückwärts geht, und die andere von rückwärts nach vorne. Die Strömung von vorne nach rückwärts geht, wie wir gesehen haben, von dem Empfindungs-leib in die Empfindungsseele hinein, überhaupt in die Seele hinein; die andere Strömung geht heraus. Wenn Sie nun dies ins Auge fassen -ich bitte, es aber ganz genau ins Auge zu fassen; es ist nicht ganz leicht -, dann werden Sie sich sagen: Zum Sprecheniernen mußte das geschehen, daß der Mensch eine Strömung erzeugte, die den Weg von innen nach außen, also in den Empfindungsleib hinein machte. Er mußte also einer Gruppenseelenströmung entgegengehen und ihr seine innere Organisation darbieten, damit sich da dasjenige stauen konnte, was da seinen eigenen Kehlkopf bilden konnte. Er mußte einer solchen Strömung entgegengehen innerhalb unseres Erdkreises,

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die hineinwirken konnte in sein Astralisches. Es mußte also weder die Richtung nach dem Norden noch die andere Richtung nach dem Süden eingeschlagen werden, als man sich anschickte, sprechen zu lernen, sondern die andere Richtung, die senkrecht darauf steht. Dar­aus werden Sie begreifen, daß der Mensch ziehen mußte in einer west-östlichen oder ost-westlichen Richtung, als er die Sprache lernen sollte. Die Geisteswissenschaft sagt, daß der Mensch einst im alten Lemurien lebte, da, wo heute das Meer liegt zwischen Asien und Afrika. Dann zog er aus, die Sprache zu lernen. Er konnte nicht nach Süden und nicht nach Norden ziehen; er mußte nach Westen ziehen, und zog in die alte Atlantis. Da zog er - auf diesem Wege in die alte Atlantis, nach Westen - entgegen jenen Gruppenseelen, welche in ihm die Sprache hervorbringen konnten. Indem Sie den Organismus der menschlichen Sprache wirklich verstehen, finden Sie das bewahr­heitet, was herausgeholt wird aus den geisteswissenschaftlichen Beobachtungen. So lernte der Mensch die Sprache in der alten Atlantis.

Dann aber sollte er an der Sprache den Vorstellungssinn entwickeln. Er sollte nicht bei der bloßen Sprache stehenbleiben, sondern zum Vorstellungs sinn weiterschreiten. Wie konnte das geschehen?

Da konnte er natürlich nicht in derselben Richtung weitergehen. Da mußte er so gehen, daß jetzt bei der gleichen Strömung die ent­gegengesetzte Richtung eingeschlagen wurde. Warum denn? Wir haben ja gesehen, was da eigentlich geschieht, wenn die Vorstellung aus dem Lautsinn entsteht . Wir haben gesehen, wie aus der Melodie der Laut entsteht, wenn man die Melodie zur Harmonie macht, dann von den Grundtönen absieht und nur das System der Obertöne auf­faßt. Dann mußte man, um den Vorstellungssinn zu entwickeln, aus der Sprache dasjenige, was man nach der einen Seite ausgebildet hatte, nach der andern Seite hin weglassen. Der Mensch mußte umkehren, nachdem er sprechen gelernt hatte. Er mußte von der Atlantis nach Osten ziehen, um an der gelernten Sprache weiter zu entwickeln den Vorstellungssinn. Und hier haben Sie den Sinn des Zuges, den Ihnen die Geisteswissenschaft zeigt, indem sie sagt, daß die alten Atlantier, die dazu reif waren, aufgebrochen sind, um von dem Westen wieder

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nach dem Osten hinüberzuwandern. Dadurch haben sie in frucht­barer Weise den Vorstellungssinn entwickeln können. Dann aber würde ja wiederum daraus folgen, daß die Menschen, wenn sie in der entgegengesetzten Richtung, das heißt, nach dem Westen, gezogen wären, keinen Vorstellungssinn in fruchtbringender Weise hätten ent­wickeln können. Es sind damals auch Menschen in der entgegen­gesetzten Richtung gezogen: das sind die Ureinwohner Amerikas. Warum haben sie sich nicht halten können? Warum mußte das, was im Osten gelernt worden war, später zu ihnen hinübergetragen wer­den? Weil sie in der entgegengesetzten Richtung gezogen waren. Das ist das kosmische Schicksal der Ureinwohner Amerikas, daß sie in der entgegengesetzten Richtung gezogen waren.

So können Sie geradezu mit Händen greifen, was Ihnen die geistes-wissenschaftliche Forschung sagt. Die ganze Gliederung der Erde können Sie verstehen. Alles, was Sie sehen an der Anordnung der Kontinente, der Festländer, der Meere, was Sie sehen in der Wande­rung der Menschen, alles können Sie verstehen, wenn Sie das Ge­heirnnis jener Strömungen kennen, die wir anthroposophisch an dem Menschen selber kennengelernt haben. Und so führt uns wirklich Anthroposophie hinein in jenes Leben, durch das uns der Mensch und die Außenwelt durchsichtig und verständlich werden. Und nun weiter.

Wir können uns weiter fragen: Aber die Menschheit sollte doch, nachdem sie den Vorstellungssinn entwickelt hatte, wieder weiter-lernen; diese Menschheit sollte nicht bloß bei Vorstellungen bleiben, sondern weiterkommen zu Begriffen? - Da mußte sie wiederum her­aufsteigen aus dem bloßen Vorstellungssinn in das Seelenieben hinein. Wiederum mußte sie da die entgegengesetzte Richtung nehmen. Die Menschheit nimmt zuerst die Richtung nach dem Osten, um zum Vorstellungsleben zu kommen. Die reinen Begriffe, die mußten erst wiederum erobert werden durch eine Rückwärtswanderung, die konn­ten erst wiederum im Westen - und zwar nach dem Hinübergewandert-sein nach dem Westen - errungen werden. Auch im einzelnen könn­ten wir die Wanderungen der Völker durch die vier nachatlantischen Kulturepochen hindurch verstehen, wenn wir Zeit hätten, alles, was

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uns die Anthroposophie dazu gibt, zusammenzutragen. Da würden Sie ein wunderbares Gewebe erhalten von dem, was arbeitet an Gei­steskräften an der ganzen Bildung der Erde - den Menschen mit inbegriffen.

Nun haben wir bisher betrachtet jene Strömungen, welche gehen von oben nach unten, von rechts nach links, von vorne nach rück­wärts und so weiter. Aber in einer gewissen Beziehung stocken wir da. Da werden wir aufgehalten. Wir können jetzt da nicht recht wei­ter. Die Geisteswissenschaft zeigt uns nun, daß über dem Vorstel­lungssinn vorhanden sind ein imaginativer Sinn, ein inspirativer Sinn und ein intuitiver Sinn, daß diese sich im gewöhnlichen Leben im Seelenleben nach innen ergießen, im hellseherischen Bewußtsein aber nach außen geben. Das zeigt uns die Geisteswissenschaft. Und nun entsteht die Frage: Alle diese Dinge müssen, wenn sie im physischen Menschen leben sollen, sich doch auch Organe bauen, auch in gewis­ser Weise wirken. Da wollen wir zunächst einmal etwas ins Auge fassen, was nur dem Menschen zukommt, was bei den Tieren in der­selben Art noch nicht zu finden ist: die innere Seelentätigkeit des Gedächtnisses. Denn daß Tiere Gedächtnis haben, ist eine Phantasie der Naturwissenschafter. Es ist nicht zu verwundern, daß Tiere Er­scheinungen zeigen, die aus demselben Prinzip zu erklären sind wie beim Menschen, aber es ist wiederum ein Fehler, wenn man sie als Gedächtniserscheinungen erklärt. Denn die Hauptrichtung, die das Tier hat, und die beim Menschen aufgerichtet werden mußte, damit das Ich einströmen konnte und Gedächtnis sich entwickeln konnte, sie bleibt beim Tier horizontal sowie nach vorne gerichtet, in der­selben Lage wie beim Menschen, so daß kein Hindernis dafür da ist, daß dort Strömungen der Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele durchgehen, aber ohne das Ich. Daher kann es sehr wohl sein, daß das Tier Handlungen vollführt, die zwar verständig sind, die aber durchaus nicht Ich-durchzogen sind. Deshalb darf man doch nicht vom «Verstand» der Tiere sprechen. Hier beginnt ein großes Irrtumsfeld unserer heutigen Wissenschaft. Die Tatsachen zeigen nur, daß man, ohne selber verständig zu sein, doch durch einen Verstand dirigiert werden kann. Das ist dasjenige, um was es sich bei

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den Tieren handelt. Daß man Erscheinungen antreffen kann in der Tierwelt, die ähnlich sein können den Erscheinungen des mensch­lichen Gedächtnisses, das ist aus der Form des Tieres selbstverständ­lich. Daß aber von der Form des Gedächtnisses gesprochen wird, das ist ein Unfug, der alle Begriffe durcheinanderwirft. Im Gedächtnis haben wir etwas ganz anderes vor uns als etwas, was wir haben zum Beispiel im bloßen verständigen Denken oder gar im Vorstellen. Im Gedächtnis haben wir das vor uns, daß eine Vorstellung, die wir gehabt haben, bleibt, daß sie auch da ist, wenn die Wahrnehmung, der Eindruck vorüber ist, nicht, daß man später etwas macht, was einem vorher Getanen ähnlich sieht. Wenn das das Wesen des Gedächtnisses wäre, so hätte der Professor H. recht, wenn er sagt: Wenn das Hühn­chen aus dem Ei heraus schlüpft, so kann es gleich picken; also habe es Gedächtnis, weil es etwas wiederholt, was die Vorfahren gemacht haben. - Man hat eben gar nicht begriffen, was Gedächtnis ist, wenn man das Unerhörte macht, was heute auf dem Gebiet der Psychologie geschieht. Dann hätte die Uhr auch Gedächtnis, denn sie wiederholt auch etwas, was sie gestern getan hat ! Das sind irreführende Begriffe im weitesten Sinne des Wortes. Von Gedächtnis hat man zu reden, wenn eine Vorstellung innerlich bleibt, nicht wenn eine Tatsache äußerlich wiederholt wird. Wenn eine Vorstellung innerlich bleibt, wird sie von einem Ich behalten. Das ist das Wesen des Gedächtnisses, daß sich das Ich der Vorstellung bemächtigt und diese Vorstellung behält.

Wenn sich aber das ausleben soll in einem menschlichen Organis­mus, dann muß dafür auch ein Organ gebildet werden, das heißt, es muß das Ich des Menschen wiederum Strömungen erzeugen. Vom Ich selber müssen solche Strömungen ausgehen in die verschiedenen andern Strömungen hinein, die von vorne, von rechts und so weiter kommen. Da hinein müssen sich vom Ich aus Strömungen ergießen. Das Ich muß sich hineinergießen in die andern Strömungen, in das­jenige, was ohne das Ich da ist. Das Ich muß Strömungen überwinden. Wenn die eine Richtung von außen nach innen geht, so muß das Ich imstande sein, eine Strömung in entgegengesetzter Richtung in sich selber zu erzeugen. Das Wesentliche dabei, daß das Ich nicht von

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vornherein dazu imstande ist, können Sie daran sehen, daß, als die Menschen die Sprache gelernt haben, eine solche entgegengesetzte Strömung entstehen mußte, und dazu war das Ich damals noch nicht imstande. Da mußte noch ein Gruppen4ch wirken, um diese Strö­mung hineinzutreiben in die Seele. Wenn aber das eigentliche Seelen-leben beginnt, an dem das Ich beteiligt ist, dann gehen vom Ich selber Strömungen aus, die sich hineinbohren in die schon bestehenden Strömungen .

Merkt das das Ich in einer gewissen Weise, wenn es eine Strömung in eine schon bestehende Strömung hineinbohrt? Ja, das Ich merkt das ganz genau. Bis zur Vorstellung hinauf wird sozusagen das Ich nicht engagiert, Strömungen da hineinzubohren. Soll das Ich aber ein höheres Vermögen, zum Beispiel das Gedächtnis ausbilden, so muß es eine Strömung in die schon bestehende Strömung hineinbohren, die entgegen dieser andern Strömung wirken muß. Das kommt da­durch zum Vorschein, daß, wenn das Ich sich weiter entwickelt, etwas anderes hinzutritt zu den drei unter einem rechten Winkel ge­neigten Strömungen des Raumes. Indem das Ich anfängt das Gedächt­nis auszubilden, bohrt es nach der einen Richtung des Raumes etwas hinein in entgegengesetzter Richtung, und das kommt ihm im Be­wußtsein der Zeit zur Wahrnehmung. Deshalb ist das Gedächtnis mit der Zeitvorstellung verknüpft. Eine Vorstellung, die wir nicht nach einer Richtung des Raumes verfolgen, sondern nach der Richtung der Vergangenheit, die ist hineingebohrt in die Richtungen des Raumes. So ist es bei alledem, was das Ich ausbildet von sich aus. Wir können -Ihnen das im einzelnen zu entwickeln, würde zu weit führen - hin­weisen auf die Strömung, welche verfließt, wenn das Ich das Gedächt­nis ausbildet. Das ist eine Strömung, die geht von der linken nach der rechten Seite. Ebenso gehen Strömungen von der linken nach der rechten Seite, wenn das Ich ausbildet so etwas wie Gewohnheiten. Das sind die Strömungen von links nach rechts, die entgegengesetzt sind den früheren Strömungen, welche ohne das Ich zustande ge­kommen sind. Ihnen bohrt sich zunächst das Ich entgegen.

Wir können, wenn wir das Seelenleben betrachten, darin unter­scheiden zwischen Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele.

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Die Verstandesseele kann noch trügerisch sein. Ich habe schon gesagt, man kann Verstand haben ohne verständig zu sein. Denn zum Verständigsein gehört das Ich. Um zum Ich auch wieder­um innerlich zu kommen, muß sich die Verstandesseele im Innern entwickelt haben bis zu diesem Ich hin. Dann schreitet sie hinauf zur Bewußtseinsseele. Nun sind das immer entgegengesetzte Richtungen. Wenn die Bewußtseinsseele bewußt wird, so ist die Richtung, die sie dabei einschlägt, entgegengesetzt der Richtung, welche die Verstan­desseele, die noch im Unbewußten wirkt, verfolgt.

Zeigt sich das irgendwo, daß die Strömungen der Verstandesseele und die Strömungen der Bewußtseinsseele einander entgegengesetzt sind? Unter gewissen Erdenverhältnis sen können wir das sehen. Denken Sie einmal, daß es in gewisser Beziehung eine sehr verstän­dige Tätigkeit ist, die aber nicht unbedingt von dem verständigen Ich ausgeht, wenn der Mensch lesen lernt. Was ich jetzt sage, das gilt vorzugsweise für europäische Verhältnisse, wo die Menschen, wie Sie ja wissen, gewartet haben in gewisser Beziehung auf spätere Kultur-verhältnisse. Daher kommen Sie da zu etwas, was schon in der grie­chisch-lateinischen Kultur vorhanden war, als sich die Verstandes-seele ausbildete zu dem, was man Schreiben nennt. Als die Verstandes-seele ausgebildet wurde, da haben die ersten Anfänge des Lesens und Schreibens begonnen; aber es waren eben die ersten Anfänge. Und dieser Charakter ist beibehalten worden. Dann kam die Wirkung der Bewußtseinsseele. Bewußte Tätigkeiten müssen ja die entgegen­gesetzten Richtungen einschlagen, weil die Strömung der Bewußt­seinsseele auf die Richtung der Verstandesseele im entgegengesetzten Sinne wirkt. Rechnen konnte der Mensch erst lernen, als er die Be­wußtseinsseele entwickelt hatte, denn das ist eine bewußte Tätig­keit.

Was hier als Richtung wirkt, das tritt uns im Bilde entgegen: Die europäischen Völker schreiben von links nach rechts, weil die Kräfte der Verstandesseele daran beteiligt waren, aber sie rechnen von rechts nach links. Wenn sie zum Beispiel addieren, so addieren sie von rechts nach links . Da sehen Sie die zwei verschiedenen Strömungen sich übereinanderschieben. Sie sehen sie im Bilde übereinandergehen, die

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Strömung der Verstandesseele und die Strömung der Bewußtseins-seele. Das ist nicht überall der Fall. Wir können geradezu die Natur der europäischen Menschen an diesem Beispiel begreifen. Wir können sehen, daß die Menschen in Europa dazu ausersehen waren, mit der Verstandesseele so lange zu warten, bis ein gewisser Zeitpunkt ge­kommen war, um die Entwickelung der Bewußtseinsseele nicht zu verfrühen. Dagegen hatten andere Völker auch schon innerhalb der Verstandesseele dasjenige zu entwickeln, was in der westlichen Kultur erst in der Bewußtseinsseele entwickelt werden sollte. Ihnen mußte daher die Möglichkeit gegeben werden, schon mit der Verstandes-seele etwas zu vollbringen, was diejenigen, welche gewartet haben, erst später mit der Bewußtseinsseele vollbringen konnten. Diejenigen Völker, welche die Mission hatten, schon bei der Entwickelung der Verstandesseele die Vorbereitungen zu schaffen für die Bewußtseins-seele, um so gleichsam Pioniere für die Bewußtseinsseele zu sein, das sind die semitischen Völker. Daher schreiben die semitischen Völker von rechts nach links !

Wir haben in diesen Dingen nicht nur ein Mittel, den Menschen als solchen zu verstehen, sondern auch ein Mittel, alle Kulturerscheinun-gen zu verstehen. Warum in einem gewissen Zeitpunkt der Erden-entwickelung so oder so geschrieben wird, so oder so gerechnet wird, das ist aus diesen Tatsachen zu verstehen. Wir würden noch weiter-gehen können und es bis in die Buchstabenformen verfolgen können, welche die einzelnen Völker haben, ob sie einen Strich von links nach rechts oder von rechts nach links ziehen und so weiter. Warum ein Volk einen Buchstaben in dieser oder jener Weise schreibt, folgt aus dem Verständnis dieser Geistestatsachen.

An solchen Tatsachen sehen Sie, welche Mission die Geisteswissen­schaft in der Zukunft hat, wenn es Licht werden soll in den Köpfen der Menschen, damit sie durchschauen können, was ihnen sonst un­verständlich bleiben würde.

Es wäre nun vielleicht doch nicht einmal recht, wenn wir diese Betrachtungen an diesem Punkte abschließen würden. Deshalb sollen sie morgen noch einmal in einer gewissen Weise fortgesetzt werden, wodurch ein, wenn auch nur skizzenhafter Abschluß erzielt werden

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soll. Ich werde daher morgen sprechen im anthroposophlschen Sinne über, man könnte sagen, eine der Töchter Goethes. Sie wissen, daß ich die Schrift geschrieben habe «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik». Da habe ich in Goethe die Vaterschaft geschildert in bezug auf die Auffassung und das Verständnis der Künste. Morgen will ich Ihnen nun die Tochter, das Kind Goethes, in einer wirklich neueren Auffassung der Kunstwissenschaft, der Ästhetik, zeigen.

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II Psychosophie

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ERSTER VORTRAG Berlin, 1. November 1910

Im Laufe der Vorträge dieser Abende wird es notwendig sein, daß von mir Bezug genommen wird auf diese oder jene Beispiele, die sich am besten geben lassen aus einzelnen Dichtungen. Und damit Sie im Laufe dieser vier Vorträge einiges von dem, worauf es als Illustration ankommen wird, vor sich haben können, wird an einzelnen Abenden eine kurze Rezitation gewisser Dichtungen stattfinden, die mir dann Gelegenheit geben werden, an ihnen manches ebenso ideell zu illu­strieren, wie ich Kleinigkeiten auf der Tafel zu illustrieren oder zu markieren haben werde. Heute wird der Vortrag in diesem Sinne ein­geleitet werden mit einer Rezitation, die uns Fräulein Waller geben wird und die uns bringen wird eine Jugenddichtung Goethes, die Be­arbeitung der Sage vom «Ewigen Juden» durch den jungen Goethe, wobei ich darauf Rücksicht zu nehmen bitte, daß ich etwas werde sagen müssen, wofür der Umstand bedeutsam sein wird, daß es sich um eine Dichtung des jungen Goethe handelt. Es ist durchaus ein psychosophisches Interesse, worum es sich handeln wird bei der Illu­stration dieser Vorträge durch das, was uns diese Rezitationen zu Gehör bringen können.

DER EWIGE JUDE
Fragmentarisch

Um Mitternacht wohl fang ich an,
Spring aus dem Bette wie ein Toller;
Nie war mein Busen seelevoller,
Zu singen den gereisten Mann,
Der Wunder ohne Zahl gesehn,
Die, trutz der Lästrer Kinderspotte,
In unserm unbegriffnen Gotte
Per omnia tempora in einem Punkt geschehn.

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Und hab' ich gleich die Gabe nicht
Von wohlgeschliffnen leichten Reimen,
So darf ich doch mich nicht versäumen.
Denn es ist Drang, und so ist's Pflicht.

In Judäa, dem heiligen Land,
War einst ein Schuster, wohlbekannt
Wegen seiner Herz-Frömmigkeit
Zur gar verdorbnen Kirchenzeit,

War halb Essener, halb Methodist,
Herrnhuter, mehr Separatist;
Denn er hielt viel auf Kreuz und Qual,
Genug, er war Original,
Und aus Originalität
Er andern Narren gleichen tät.

Die Priester vor so vielen Jahren
Waren, als wie sie immer waren
Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.

Der Schuster aber und seinesgleichen
Verlangten täglich Wunder und Zeichen,
Daß einer pred'gen sollt' für Geld,
Als hätt' der Geist ihn hingestellt.
Nickten die Köpfe sehr bedenklich
Über die Tochter Zion kränklich,
Daß, ach! auf Kanzel und Altar
Kein Moses und kein Aaron war,
Daß es dem Gottesdienste ging,
Als wär's ein Ding, wie ein ander Ding,
Das einmal nach dem Lauf der Welt
Im Alter dürr zusammenfällt.

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«O weh der großen Babylon!
Herr, tilge sie von deiner Erden,
Laß sie im Pfuhl gebraten werden,
Und, Herr, dann gib uns ihren Thron!»
So sang das Häuflein, kroch zusammen,
Teilten so Geists- als Liebesflammen,
Gafften und langweilten nun,
Hätten das auch können im Tempel tun.
Aber das Schöne war dabei,
Es kam an jeden auch die Reih',
Und wie sein Bruder welscht und sprach,
Durft' er auch welschen eins hernach;
Denn in der Kirche spricht erst und letzt
Der, den man hat hinaufgesetzt,
Und gläubigt euch und tut so groß
Und schließt euch an und macht euch los
Und ist ein Sünder wie andre Leut',
Ach! und nicht einmal so gescheit!

Der größte Mensch bleibt stets ein Menschenkind,
Die größten Köpfe sind das nur, was andre sind,
Allein, das merkt, sie sind es umgekehrt:
Sie wollen nicht mit andern Erdentröpfen
Auf ihren Füßen gehn, sie gehn auf ihren Köpfen,
Verachten, was ein jeder ehrt;
Und was gemeinen Sinn empört,
Das ehren unbefangne Weisen.

Die Priester schrieen weit und breit:
Es ist, es kommt die letzte Zeit,
Bekehr' dich, sündiges Geschlecht!
Der Jude sprach: Mir ist's nicht bang,
Ich hör' vom jüngsten Tag so lang.

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Es waren, die den Vater auch gekannt.
Wo sind sie denn? Eh! man hat sie verbrannt.

O Freund, der Mensch ist nur ein Tor,
Stellt er sich Gott als seinesgleichen vor.

Du fühlst nicht, wie es mir durch Mark und Seele geht,
Wenn ein geängstet Herz bei mir um Rettung fleht,
Wenn ich den Sünder seh' mit glühenden Tränen ...

Der Vater saß auf seinem Thron,
Da rief er seinen lieben Sohn,
Mußt' zwei- bis dreimal schreien.
Da kam der Sohn ganz überquer
Gestolpert über Sterne her
Und fragt: was zu befehlen?
Der Vater frägt ihn, wo er stickt -
«Ich war im Stern, der dorten blickt,
Und half dort einem Menschen
Vollbringen solch ein Werk,
Zu dem er selbst zu schwach sich fand.»
Der Vater war ganz aufgebracht
Und sprach: Das hast du dumm gemacht,
Sieh einmal auf die Erde.
Es ist wohl schön und alles gut,
Du hast ein menschenfreundlich Blut
Und hilfst Bedrängten gerne;

Als er sich nun hernieder schwung
Und näher die weite Erde sah
Und Meer und Länder weit und nah:
Ergriff ihn die Erinnerung,
Die er so lange nicht gefühlt,
Wie man da drunten ihm mitgespielt.

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Er auf dem Berge stille hält,
Auf den in seiner ersten Zeit
Freund Satanas ihn aufgestellt
Und ihm gezeigt die volle Welt
Mit aller ihrer Herrlichkeit.

Er fühlt in vollem Himmelsflug
Der irdischen Atmosphäre Zug,
Fühlt, wie das reinste Glück der Welt
Schon eine Ahnung von Weh enthält.
Er denkt an jenen Augenblick,
Da er den letzten Todesblick
Vom Schmerzen-Hügel herab getan,
Fing vor sich hin zu reden an:
Sei, Erde, tausendmal gegrüßt!
Gesegnet all, ihr meine Brüder!
Zum erstenmal mein Herz ergießt
Sich nach dreitausend Jahren wieder,
Und wonnevolle Zähre fließt
Von meinem trüben Auge nieder.
O mein Geschlecht, wie sehn' ich mich nach dir!
Und du, mit Herz- und Liebesarmen
Flehst du aus tiefem Drang zu mir!
Ich komm', ich will mich dein erbarmen!
O Welt! voll wunderbarer Wirrung,
Voll Geist der Ordnung, träger Irrung,
Du Kettenring von Wonn' und Wehe,
Du Mutter, die mich selbst zum Grab gebar,
Die ich, obgleich ich bei der Schöpfung war,
Im ganzen doch nicht sonderlich verstehe.
Die Dumpfheit deines Sinns, in der du schwebtest,
Daraus du dich nach meinem Tage drangst,
Die schlangenknotige Begier, in der du bebtest,
Von ihr dich zu befreien strebtest
Und dann, befreit, dich wieder neu umschlangst:

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Das rief mich her aus meinem Sternensaal,
Das läßt mich nicht an Gottes Busen ruhn;
Ich komme nun zu dir zum zweitenmal,
Ich säte dann, und ernten will ich nun.

Er sieht begierig rings sich um,
Sein Auge scheint ihn zu betrügen:
Ihm scheint die Welt noch um und um
In jener Weise da zu liegen,
Wie sie an jener Stunde lag,
Da sie bei hellem lichtem Tag
Der Geist der Finsternis, der Herr der alten Welt,
Im Sonnenschein ihm glänzend dargestellt
Und angemaßt sich ohne Scheu,
Daß er hier Herr im Hause sei.

Wo, rief der Heiland, ist das Licht,
Das hell von meinem Wort entbronnen!
Weh! und ich seh' den Faden nicht,
Den ich so rein vom Himmel 'rab gesponnen.
Wo haben sich die Zeugen hingewandt,
Die treu aus meinem Blut entsprungen!
Und, ach, wohin der Geist, den ich gesandt!
Sein Wehn, ich fühl's, ist all verklungen.
Schleicht nicht mit ew'gem Hungersinn,
Mit halbgekrümmten Klauenhänden,
Verfluchten eingedorrten Lenden
Der Geiz nach tückischem Gewinn,
Mißbraucht die sorgenlose Freude
Des Nachbars auf der reichen Flur
Und hemmt in dürrem Eingeweide
Das liebe Leben der Natur?
Verschließt der Fürst mit seinen Sklaven
Sich nicht in jenes Marmorhaus
Und brütet seinen irren Schafen

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Die Wölfe selbst im Busen aus?
Ihm wird zu grillenhafter Stillung
Der Menschen Mark herbeigerafft;
Er speist in ekeWafter Überfüllung
Von Tausenden die Nahrungskraft.
In meinem Namen weiht dem Leibe
Ein Armer seiner Kinder Brot.

Er war nunmehr der Länder satt,
Wo man so viele Kreuze hat
Und man, für lauter Kreuz und Christ,
Ihn eben und sein Kreuz vergißt.
Er trat in ein benachbart Land,
Wo er sich nur als Kirchfahn' fand,
Man aber sonst nicht merkte sehr,
Als ob ein Gott im Lande wär'.

Da sprach ein Mann: Hier ist der Ort,
Aller Wünsche sichrer Friedensport;
Hier ist des Landes Mittelthron,
Gerechtigkeit und Religion.

Sie kamen immer näher an,
Sah immer der Herr nichts Seinigs dran.
Sein innres Zutraun war gering,
Als wie er einst zum Feigbaum ging,
Wollt' aber doch eben weiter gehn
Und ihm recht unter die Äste sehn.
So kamen sie denn unters Tor.
Christus kam ihnen ein Fremdling vor,
Hätt' ein edel Gesicht und einfach Kleid.
Sprachen: der Mann kommt gar wohl weit.
Fragt ihn der Schreiber, wie er hieß?
Er gar demütig die Worte ließ:
«Kinder, ich bin des Menschen Sohn»,

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Und ganz gelassen ging davon.
Seine Worte hatten von jeher Kraft,
Der Schreiber stande wie vergafft,
Der Wache war, sie wußt' nicht, wie;
Fragt keiner: was bedienen Sie?
Er ging grad durch und war vorbei.
Da fragten sie sich überlei,
Als in Rapport sie's wollten tragen:
Was tät der Mann Kurioses sagen?
Sprach er wohl unsrer Nase Hohn?
Er sagt': er wär' des Menschen Sohn!
Sie dachten lang, doch auf einmal
Sprach ein branntwein'ger Korporal:
Was mögt ihr euch den Kopf zerreißen,
Sein Vater hat wohl Mensch geheißen!

Christ sprach zu seinem G'leiter dann:
«So führet mich zum Gottesmann,
Den Ihr als einen solchen kennt
Und ihn Herr Oberpfarrer nennt.»
Dem Herren Pfaff das krabbeln tät,
War selber nicht so hoch am Brett;
Hätt' so viel Haut' ums Herze ring,
Daß er nicht spürt', mit wem er ging,
Auch nicht einmal einer Erbse groß.

Kamen ans Oberpfarrers Haus,
Stand von uralters noch im ganzen.
Reformation hätt' ihren Schmaus
Und nahm dem Pfaffen Hof und Haus,
Um wieder Pfaffen 'nein zu pflanzen,
Die nur in allem Grund der Sachen
Mehr schwätzen, weniger Grimassen machen.
Sie klopften an, sie schellten an,
Weiß nicht bestimmt, was sie getan.

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Genug, die Köchin kam hervor,
Aus der Schürz' ein Krauthaupt verlor
Und sprach: Der Herr ist im Konvent,
Ihr heut nicht mit ihm sprechen könnt.
«Wo ist denn das Konvent?» sprach Christ.
«Was hilft es Euch, wenn Ihr's auch wißt!»
Versetzt' die Köchen porrisch drauf,
«Dahin geht nicht eines jeden Lauf.»

Im vorigen Jahr - gelegentlich unserer Generalversammiung - nannte ich eine Reihe von Vorträgen solche zur Anthroposophie. In diesem Jahr soll eine Reihe von Vorträgen, die von einem ähnlichen Gesichtspunkte aus gehalten sein werden, mit dem Titel Psycho­sophie belegt werden. Und wenn sich einmal Gelegenheit dazu finden sollte, so wird gleichsam als ein drittes Kapitel zu den Vorträgen über Anthroposophie und Psychosophie eine Vortragsreihe über Pneu­matosophie folgen. Dadurch werden sich diese drei Vortragsreihen zusammenschließen zu einer Brücke, die hinaufführen kann von der Welt, in der wir unmittelbar leben, zu den Welten, die von einem höheren Gesichtspunkte aus in der Theosophie betrachtet werden.

Psychosophie soll sein eine Betrachtung der menschlichen Seele, die zunächst von dem ausgeht, was diese Seele hier in der physischen Welt erleben kann, und die dann aufsteigt zu höheren Gebieten, um zu zeigen, daß dasjenige, was uns hier in der physischen Welt als für jeden beobachtbares Seelenleben entgegentritt, doch hinaufführt zu Ausblicken, aus denen uns gleichsam entgegenkommen wird das Licht der Theosophie. Mancherlei wird uns an diesen Abenden be­schäftigen. Wir werden heute ausgehen von scheinbar recht Ein­fachem, werden an uns vorüberziehen lassen alle diejenigen Erschei­nungen des Seelenlebens, die man bezeichnen kann mit den Worten Aufmerksamkeit, Gedächtnis, dann Erscheinungen wie etwa diejeni­gen, welche uns in den Leidenschaften und Affekten entgegentreten, dann Erscheinungen, die wir schon in das Gebiet des Wahren, Schönen

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und Guten rechnen. Erscheinungen werden uns entgegentreten, die fördernd im gesundheitlichen Sinne oder schädigend als Krank­heiten eingreifen in das menschliche Leben. Wirkliche seelische Ur­sachen von Krankheitserscheinungen werden uns entgegentreten. Da­durch werden wir hart die Grenze zu berühren haben, wo sich das Seelische herabsenkt in das leibliche Leben, und werden die Wechsel­beziehungen zu studieren haben zwischen Wohl und Wehe des Leibes und der Tätigkeit, der Arbeiten im inneren Leben der Seele. Dann werden wir uns zu erheben haben zu den hohen Idealen der Mensch­heit und werden das, was diese hohen Ideale der Menschheit sein kön­nen für das menschliche Seelenieben, zu betrachten haben. Wir wer­den Erscheinungen zu betrachten haben, die im alltäglichen Leben eine Rolle spielen wie, sagen wir, das, was den Menschen die Zeit ver­kürzt, und werden sehen, wie dieses letztere wiederum einwirkt auf das Seelenleben und sich in merkwürdiger Verkettung innerhalb des­selben zeigt. Wir werden zu betrachten haben die ganz merkwürdige Wirkung der Langeweile. Und vieles könnte noch angeführt werden, was wir sowohl seiner Erscheinung nach betrachten werden, wie auch darnach, welche Heil- und Hilfsmittel es gibt, um das zu korrigieren, was uns als krankhafte Erscheinung des Seelenlebens entgegentritt, wie zum Beispiel eine schiechte Denkkraft, ein schlechtes Gedächtnis oder dergleichen. Sie werden sich auch denken können, daß wir, um vom Seelenleben zu sprechen, notwendigerweise Gebiete berühren müssen, die an anderes angrenzen. Und der Theosoph hat ja in einer gewissen Weise geläufige Vorstellungen, wenn es sich darum handelt, das Seelenleben des Menschen mit anderem in Beziehung zu bringen.

Sie kennen alle die Gliederung der menschlichen Natur, die durch die Geisteswissenschaft vorgenommen wird in Leib, Seele und Geist. Schon dadurch werden Sie sich sagen können: Das Seelenleben des Menschen muß sich auf der einen Seite berühren mit dem leiblichen, auf der andern Seite aber sich hinaufwenden zu dem geistigen Leben. Haben wir uns mit dem mehr Leiblichen in der Anthroposophie be­schäftigt, so werden wir uns mit dem seelischen Leben zu beschäftigen haben in der Psychosophie, und wir werden aufsteigen zu dem geisti­gen Leben in der Pneumatosophie.

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Was ist nun das Seelenieben, wenn wir es jetzt innerhalb seiner bei­den Grenzen, die wir eben angedeutet haben, für sich betrachten wol­len? Was wir gewohnt sind die Außenwelt zu nennen, was wir gewohnt sind sozusagen vor uns und um uns in der Welt als hingestellt zu betrachten, das rechnen wir nicht zu unserem Seelenleben. Ein Mine­ral, eine Pflanze, ein Tier, die Luft, die Wolken, die Berge und Flüsse und so weiter, die um uns herum sind, gleichgültig was wir selber vielleicht aus unserem Geiste heraus dazugeben, wenn wir sie vor­stellen, alles, was so um uns ist und was wir als Außenwelt bezeichnen, rechnen wir nicht zu unserem Seelenleben. Die Rose, der wir begeg­nen, rechnen wir nicht zu unserem Seelenleben, wenn wir uns auf dem physischen Plan recht verstehen. Wenn wir aber der Rose ent­gegentreten und sie uns erfreut, wenn beim Anblick der Rose in unserer Seele etwas aufglänzt wie Wohlgefallen, so rechnen wir diese Tatsache wohl zu unserem Seelenleben. Wenn wir einem Menschen begegnen und ihn ansehen, uns eine Vorstellung von ihm machen, was für Haare, was für ein Gesicht er hat, wie sein Gesichtsausdruck ist und so weiter, so rechnen wir das nicht zu unserem seelischen Leben. Wenn wir aber Interesse für ihn gewinnen, wenn er uns sympathisch oder antipathisch ist, wenn wir in Liebe seiner gedenken müssen , so rechnen wir diese Erlebnisse der Sympathie oder Anti­pathie, der Liebe, des Interesses zum seelischen Erleben.

Sie wissen, ich liebe Definitionen nicht, sondern ich versuche zu charakterisieren; daher möchte ich Ihnen auch nicht eine Definition des seelischen Lebens geben. Damit ist wenig getan. Ich möchte cha­rakterisieren, wo die Dinge liegen, die man zum seelischen Leben rechnen kann.

Nehmen wir aber etwas anderes. Nehmen wir einmal an, wir sehen einen Menschen handeln. Wir beobachten seine Tat und finden, daß wir zu dieser Tat sagen müssen: Das ist eine gute Tat; das ist eine Tat, welche gebilligt werden kann von einem gewissen moralischen Ge­sichtspunkt aus. - Dann haben wir ein solches seelisches Erlebnis, das sich dadurch ausdrückt, daß wir sagen: Diese Tat war eine gute ! -dann haben wir in einem solchen Erlebnisse noch etwas anderes als das schon jetzt Charakterisierte. Da kommt es uns vor allen Dingen

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nicht so sehr darauf an, zu beschreiben, wie die Tat geschieht, wie die einzelnen Maßregeln zu bezeichnen sind, aus denen sie besteht; da kommt es aber auch nicht darauf an, ob wir das lieben oder hassen, was in dieser Tat liegt, sondern da spielen höhere Interessen mit Wenn wir diese Tat gut nennen, so wissen wir, daß es gar nicht von uns abhängen sollte, ob wir diese Tat gut oder nicht gut nennen. Dennoch müssen wir dieses Urteil in der Seele fallen, wenn wir ein Bewußtsein davon haben wollen, wie diese Tat ist. Aber nichts in der Außenwelt kann uns sagen, daß die Tat gut ist. Das Urteil: Diese Tat ist gut - muß in uns aufsteigen, muß heraufglanzen aus dem eigenen Erleben. Aber wenn das Urteil berechtigt sein soll, muß es unab­hängig von unserem eigenen Erleben sein. In allen solchen Seelenerleb­nissen, wo etwas mitspielt, das, um in unser Bewußtsein zu kommen, innerlich erlebt werden muß, was aber eine von unserem Bewußtsein unabhängige Bedeutung hat, so daß es etwas ist, wobei es nicht darauf ankommt, ob wir das Urteil nun fällen oder nicht, in allen solchen Vorgängen spricht im menschlichen Seelenleben der Geist mit. Und so schon könnten wir sagen: Wir haben in diesen drei Fällen, wo wir uns vergegenwärtigt haben, wie wir etwas als Außenwelt betrachten, wie wir etwas als rein inneres Erlebnis betrachten, als das Interesse an einem Menschen, das Wohlgefallen, das wir an einer Rose nehmen, und als drittes das innere Erlebnis, wo wir ein Urteil fällen, das von unserem Seelenleben unabhängig sein muß, wenn es gelten soll, wir haben in diesen drei Fällen charakterisiert, was wir nennen können das Verhältnis der Seele gegenüber der Außenwelt. Die Außenwelt muß sich von außen der Seele ankündigen durch das Leibliche; das seelische Erleben ist ein rein innerliches; der Geist aber kündigt sich wiederum im Innern der Seele an, wie wir sehen an diesen Beispielen, die wir eben angeführt haben.

So also handelt es sich darum, daß wir streng festhalten, daß dieses Seelenleben auf und ab wogt in inneren Tatsachen, und es wird sich zunächst darum handeln, jetzt irgend etwas zu finden, was uns auch innerlich gewissermaßen den Charakter des seelischen Erlebens an­gibt. Wir haben bis jetzt dieses seelische Erleben nach außen hin begrenzt, haben gezeigt, wo es angrenzt an anderes . Nun aber wollen

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wir einmal sehen, wie wir dieses Seelenieben im Inneren charakteri­sieren können. Mit andern Worten: Was müssen wir denn für Vor­stellungen anwenden, wenn wir von der Seele des Menschen sprechen, so daß wir in diesen Vorstellungen klar zum Ausdruck bringen, wir meinen nichts anderes als Seelisches? - Wir müssen uns Vorstellungen verschaffen, die uns die reine Natur des Seelischen, wie es sich darlebt auf dem physischen Plan, charakterisieren.

Was ist der Grundzug, der Grundcharakter des seelischen Erlebens? In einer zweifachen Weise läßt sich dieser Grundcharakter des seeli­schen Erlebens zunächst angeben. Zwei Vorstellungen können wir gewinnen, die wir nur auf das seelische Erleben anwenden können, und zwar zunächst nur auf das seelische Erleben des Menschen und auf gar nichts anderes, wenn wir genau mit Bezug auf die physischen Verhältnisse des Menschen sprechen. Meine Aufgabe wird es also sein, in exakter Weise die inneren Phänomene, die inneren Erschei­nungen des Seelenlebens genau bis an die Grenze, bis wohin dieses seelische Leben reicht, wie es im Innern wogt, zu charakterisieren, die Charakterzüge anzugeben.

Es gibt zwei Vorstellungen für das, was inneres seelisches Erleben sozusagen repräsentiert. Stoßen Sie sich nicht daran, daß wir es heute zu tun haben werden mit dem Zusammentragen von Vorstellungen. Sie werden in den nächsten Tagen schon sehen, daß uns dieses genaue Fassen von Vorstellungen eine sehr große Hilfe sein wird, um Er­scheinungen begreifen zu lernen, die uns allen naheliegen, und um solche Hinweise für unser Seelenlehen zu gewinnen, die im alltäg­lichen Seelenleben für das gesunde wie für das kranke Seelenleben von großer Wichtigkeit sind.

Eine Vorstellung, durch die wir das Seelenleben charakterisieren können, ist das Urteilen. Urteilen ist die eine Tätigkeit des Seelen­lebens. Und die Summe der andern Erlebnisse des Seelenlebens er­schöpft sich in dem, was man nennen kann die inneren Erlebnisse von Liebe und Haß. Wenn diese Worte im richtigen Sinne verstanden werden, umspannen sie innerlich, und zwar bis an seine Grenzen hin, das gesamte innere Seelenleben. Und wir werden sehen, wie fruchtbar die beiden Vorstellungen, das Urteilen und die Betrachtung der Erscheinungen

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von Liebe und Haß, für uns sein werden. Alles Seelische ist entweder ein Urteilen oder aber es ist ein Leben in Liebe und Haß. Im Grunde genommen gibt es nur in diesen zwei Vorstellungen das, was wirklich seelisch ist; alles andere bezeichnet etwas, was schon in das Seelische etwas anderes hineinträgt, entweder aus dem Äußeren durch das Leibliche, oder aus einem Grunde, den wir noch kennen­lernen werden, aus dem sogenannten Inneren, aus dem Geistigen. Urteilen auf der einen Seite, Liebe und Haß auf der andern Seite sind diejenigen - ob wir es nun so oder so nennen - Kräfte oder meinet­willen Tätigkeiten, die dem Seelenleben ganz allein angehören.

Wenn wir uns nun in der rechten Art verständigen wollen über die Rolle, welche diese beiden Tätigkeiten haben, so müssen wir uns zu­nächst eine deutliche Vorstellung vom Urteilen machen, und dann müssen wir sehen, welche Bedeutung Urteilen sowohl wie Liebe und Haß innerhalb des seelischen Lebens haben. Ich meine jetzt nichts Logisches; eine logische Betrachtung wäre etwas ganz anderes. Ich spreche nicht von dem Charakter des Urteils, nicht von den Gesetzen des Urteils; ich spreche nicht von einem logischen, sondern vom psychosophischen Standpunkte aus, von dem Standpunkte, der die innere Seelentätigkeit des Urteilens, den seelischen Vorgang des Ur­teilens ins Auge faßt. Alles also, was Sie durch die Logik erfahren können über das Urteil, ist zunächst ausgeschlossen. Ich spreche nicht vom Urteil, sondern vom Urteilen, von der Tätigkeit des Urteilens. Das ist ein Zeitwort: das Urteilen.

Wenn Sie veranlaßt werden - und wir wollen jetzt weniger Rück­sicht darauf nehmen, welche Veranlassung etwa vorliegt -, sich zu gestehen: «Die Rose ist rot», so haben Sie geurteilt. Dann liegt die Tätigkeit des Urteilens vor. «Die Rose ist rot», «Der Mensch ist gut», «Die Sixtinische Madonna ist schön», «Der Kirchturm ist hoch»: indem Sie dies im inneren Seelenleben als Tätigkeiten voll­ziehen, ist es Urteilen.

Nun betrachten wir die Erlebnisse von Liebe und Haß. Wer sich ein wenig bemüht, den Blick nach innen zu wenden, der wird finden, daß er an der Außenwelt nicht so vorübergeht, daß seine Seele von den meisten Erscheinungen sozusagen unberührt bleibt. Denken Sie,

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Sie fahren durch eine Landschaft. Sie sehen nicht nur das Grün der Berge, die Gipfel von Wolken bedeckt, Sie sehen nicht nur die Flüsse, die durch die Täler strömen, sondern Sie erleben in Ihrer Seele Ent­zücken über die Landschaft. Das, was da zugrunde liegt, ist nichts anderes, als daß Sie das Erlebnis lieben, um das es sich handelt. Und wenn sich auch diese Liebe in Ihren Seelenerlebnissen verbirgt, so ist dies doch etwas, was den Menschen im bewußten wachen Leben vom Morgen bis zum Abend fast gegenüber allen Dingen begleitet. Wenn Sie jemanden auf der Straße sehen, der eine schlimme Tat begeht, so daß Sie davon abgestoßen werden, so ist das nur, wenn man so sagen will, ein kaschiertes, ein verborgenes Auftreten des inneren Seelen-erlebnisses des Hasses. Wenn Sie eine Blume auf dem Felde treffen, die übel riecht, und sich von ihr abwenden, so ist das nur ein etwas verändertes Erlebnis des Hasses, das nicht gleich zu Tage tritt. Liebe und Haß begleiten das Seelenleben fortwährend. Urteilen ist ebenso etwas, was das Seelenleben nach der einen Seite hin fortdauernd be­gleitet. Fortdauernd urteilen Sie, während Sie seelisch leben, fort­während haben Sie die Erlebnisse von Liebe und Haß.

Man kann nun noch genauer die Erscheinungen des inneren Seelen­lebens kennenlernen, wenn man etwas am Urteilen ins Auge faßt, was wichtig ist für das Urteilen. Im Seelenleben hat näralich jedes Ur­teilen eine Wirkung; und darauf kommt es an für das Begreifen des Seelenlebens, daß das Urteilen eine Wirkung hat. Wenn Sie das Urteil bilden: «Die Rose ist rot», wenn Sie einen Menschen eine gute Tat vollbringen sehen und das Urteil bilden: «Der Mensch ist gut», dann tragen Sie ein Ergebnis in Ihrer Seele weiter fort. Dieses Ergebnis kann man in beiden Fällen in folgender Art charakterisieren. Man kann sagen: Wenn Sie das Urteil gefällt haben «Die Rose ist rot», so geht dann mit Ihnen durch das weitere Seelenleben etwas mit alls die Vor­stellung der roten Rose. - Das Urteil: «Die Rose ist rot», verwandelt sich im weiteren Seelenleben in die Vorstellung der roten Rose, und mit dieser Vorstellung leben Sie nun weiter als seelisches Wesen. Jedes Urteil spitzt sich zu im seelischen Erleben zu einer Vorstellung. Es ist also das Urteilen gleichsam etwas, was zusammengetragen wird, zusammenstrebt aus zwei Tendenzen: «Die Rose»ist das eine, «rot»

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ist das andere; dann wird dies beides eines: «Die rote Rose.» Das fließt zusammen in eine Vorstellung, und dieses eine nehmen Sie mit durch das weitere Seelenleben. Wenn wir die beiden Erlebnisse «rot» und «Rose» als zwei Strömungen zeichnen wollen, so müssen wir sagen: Sie fließen zuletzt zusammen, und was wir als Urteilen haben, spitzt sich immer zu in die Vorstellung.

# Bild s. 116a

Man versteht nicht das Seelenleben, und auch die Beziehungen des Seelenlebens zu den höheren Welten, die wir in den nächsten Tagen zu betrachten haben, versteht man nicht ganz genau, wenn man sich nicht vor die Seele schreibt, daß sich in der Tat Urteilen immer zuspitzt zur Vorstellung.

# Bild s. 116b

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Anders müssen wir fragen bei den Phänomenen, den Erscheinungen der Liebe und des Hasses. Da können wir nicht fragen: Wohin spitzen sie sich zu? - sondern wir müssen eine andere Frage aufwerfen, wenn wir sie verstehen wollen: Woher kommen sie? Woher stammen sie? -Beim Urteilen kommt es auf das Wohin an, darauf: Wohin bewegt es sich? - Bei den Phänomenen von Liebe und Haß kommt es darauf an: Woher kommen sie? - Und wir werden immer eines finden inner-halb des seelischen Lebens selber, woher Liebe und Haß kommen, etwas nämiich, was gleichsam von der andern Seite in das Seelenleben hereinbricht. Alles Lieben und Hassen führt zuletzt, wenn man es als Seelenerlebnisse betrachtet, auf das zurück, was man innerhalb dieses seelischen Lebens das Begehren, ein Begehren nennen kann. Legen wir also an die andere Seite des Seelenlebens das Begehren (siehe Zeichnung Seite 116), so können wir sagen: Hinter dem, was in unse­rer Seele als Liebe und Haß auftritt, steht immer das Begehren und strahlt sich hinein in unser Seelenleben. So daß wir sagen können:

Wir haben gleichsam eine Seite unseres Seelenlebens, die wir noch kennenlernen werden, von der fließt herein in das Seelenleben das Begehren. - Und wenn wir jetzt in unsere Seele hineinschauen, was wird da aus dem Begehren? Liebe oder Haß ! Dann schauen wir weiter in unsere Seele hinein, finden die Tätigkeit des Urteilens und fragen uns: Wohin führt diese Tätigkeit auf der andern Seite? Und wir fin­den: Das Urteilen führt zur Vorstellung.

Begehren ist etwas, an dem Sie leicht erkennen können, daß es immer so betrachtet werden muß, wie wenn es aufsteigen würde aus dem inneren Seelenleben. Von einer Begierde können Sie nicht so sprechen, als ob sie irgendwie durch diesen oder jenen äußeren Anlaß verursacht wäre; denn möglicherweise kennen Sie diesen äußeren Anlaß gar nicht. Das aber wissen Sie gewiß, daß sie, gleichgültig wo­her sie stammt, im Seelenleben auftaucht, und Sie können verfolgen, wie, sobald die Begierde aufgetaucht ist, als Ergebnis sich innerhalb des Seelenlebens Liebe und Haß einstellt. Ebenso können Sie sich sagen: Urteilen müssen Sie in der Seele: «Die Rose ist rot.» Wenn Sie aber dann das Urteil haben, zur Vorstellung zugespitzt, « Die rote Rose», so muß diese Vorstellung «Die rote Rose», wenn sie einen

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Wert für Sie haben soll, eine äußere Gültigkeit, eine äußere Bedeutung haben. So taucht gleichsam aus für den Geistesforscher bekannten Gründen, für uns heute, so dürfen wir sagen, zunächst unbekannten Gründen das Begehren in der Seele auf und lebt sich aus in den Phänomenen von Liebe und Haß. So fühlt sich die Seele in sich selbst veranlaßt, aus dem Quellborn ihres eigenen Wesens die Tätigkeit des Urteilens fließen zu lassen und spitzt die Urteile zu zu Vorstellungen mit dem Bewußtsein, daß, wenn das Urteilen in einer gewissen Weise voll­zogen ist, die Vorstellung eine gültige sein kann.

Es wird Ihnen sonderbar vorkommen, daß ich - nicht allein mit wenigen Worten, sondern vielleicht mit vielen Worten - diese elemen­taren Begriffe des Seelenlebens auseinandersetze, und Sie könnten leicht glauben, daß man auch kürzer über solche Dinge hinweggehen könnte. Was ich jetzt sage, sage ich gleichsam als eine Anmerkung unter den Zeilen. Man könnte vielleicht über diese Dinge kürzer hin-weggehen. Aber weil sie nicht beachtet werden, auch in dem weitesten Umkreise unseres heutigen wissenschaftlichen Lebens einfach nicht beachtet werden, deshalb werden in bezug auf sie Fehler über Fehler gemacht. Und gleichsam als Anmerkung unter den Zeilen möchte ich auf einen solchen Kapitalfehler hinweisen, weil die, welche ihn machen, sich keine klare Vorstellung von dem bilden, was wir jetzt kennengelernt haben und noch kennenlernen werden, und weil die, die diesen Fehler machen, weitgehende Konsequenzen ziehen in bezug auf eine gewisse Tatsache, die ganz falsch aufgefaßt wird.

Sie können in vielen physiologischen Büchern nachlesen: Wenn wir irgendwie die Hand oder das Bein bewegen, so komme das daher, weil wir innerhalb unseres Organismus nicht nur solche Nerven haben, die zum Beispiel von den Sinnesorganen zum Gehirn hingehen und gleichsam die Botschaften der Sinnesorgane von den Sinnesorganen zum Gehirn oder auch zum Rückenmark hinleiten; sondern überall wird die Sache so dargestellt, als ob diesen Nerven andere gegenüber-stünden - selbstverständlich stehen sie ihnen auf dem physischen Plan gegenüber -, die man, im Gegensatz zu den Empfindungs- oder Wahrnehmungsnerven, die Bewegungsnerven nennt. Und man sagt nun: Wenn ich einen Gegenstand sehe, so wird die Botschaft dieses

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Gegenstandes durch den Nerv, der von dem Sinnesorgan zum Gehirn führt, also zunächst zu diesem Zentralorgan geführt, und dann wird der Reiz, der dort ausgeübt wird, gleichsam übertragen auf einen andern Nerv, der wiederum vom Gehirn zum Muskel geht, und dieser Nerv spornt dann den Muskel an, in Bewegung zu geraten. So unter­scheidet man Empfindungsnerven und Bewegungsnerven.

Nun ist vor der Geisteswissenschaft diese Sache gar nicht so. Was da Bewegungsnerv genannt wird, ist als physisches Gebilde wirklich vorhanden, aber nicht um die Bewegung zu erregen, sondern um die Bewegung selber wahrzunehmen, um die Bewegung zu kontrollieren, um ein Bewußtsein von der eigenen Bewegung zu haben. Geradeso wie wir Nerven haben, mit denen wir einen äußeren Farbeindruck empfangen, so haben wir auch Nerven, die es uns ermöglichen, das, was wir tun, zu kontrollieren, um es dem Bewußtsein zu überliefern. Das ist ein Kapitalfehler, der im weitesten Umkreise heute grassiert und der die ganze Physiologie, wie sie heute getrieben wird, und auch die ganze Psychologie verdorben hat. Das nehmen Sie wie eine An­merkung unter den Zeilen.

Nun handelt es sich darum, daß wir uns klar werden darüber:

Welche Rolle im Seelenleben spielen denn nun die beiden Elemente, die wir in demselben gefunden haben, das Urteilen und die Phäno­mene von Liebe und Haß? Sie spielen eine ungeheuer große Rolle. Es setzt sich nämlich nichts Geringeres als das ganze Seelenleben aus ver­schiedenen Kombinationen dieser beiden Elemente zusammen. Nun würde man aber dieses Seelenleben falsch beurteilen, wenn man nicht darauf Rücksicht nehmen wollte, daß überall in dasselbe an seinen Grenzen fortwährend anderes, was im strengen Sinne zunächst nicht zum Seelenleben zu zählen ist, hereinspielt. Da fällt uns zunächst ge­wiß ein, was sozusagen überall in unserem alltäglichen Seelenleben anzutreffen ist, und wovon wir schon im vorigen Jahre bei den Vor­trägen über Anthroposophie gesprochen haben: daß unser Seelen-leben sich aufbaut auf Grund dessen, was wir die Sinnesempfindungen nennen, die verschiedenen Erlebnisse zum Beispiel des Gehörorganes in den Tönen, des Gesichtsorganes in den Farben, des Geschmacks­organes, des Geruchsorganes und so weiter. Was wir da an den äußeren

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Dingen erleben durch unsere Sinnesorgane, das nehmen wir in einer gewissen Weise in unsere Seele herein, und es lebt in unserer Seele weiter. Wenn wir dies, was wir so in unsere Seele hereinnehmen, ins Auge fassen, können wir davon sprechen, daß wir tatsächlich mit diesem Seelenleben an eine Grenze gehen, nämlich bis an die Grenze der Sinnesorgane. Gleichsam Wächter haben wir ausgestellt in unse­ren Sinnesorganen, und was uns diese Wächter künden von der Um­weit, das nehmen wir dann in unser Seelenleben auf und tragen es weiter. Wie verhält sich denn nun eigentlich innerhalb des Seelen­lebens das, was uns da die Sinneserlehnisse geben? Was stellt das inner­halb des Seelenlebens dar, was wir durch das Ohr als Ton, durch das Auge als Farbe, durch den Geschmackssinn als Geschmack und so weiter wahrnehmen und dann in uns weitertragen? Was stellt das für das Seelenleben dar?

Nun sehen Sie, die Betrachtung dieser Sinneserlehnisse wird ge­wöhnlich in einer recht einseitigen Weise gepflogen, und man macht sich dabei nicht klar, daß dasjenige, was uns da an der Grenze unseres Seelenlebens entgegentritt, sich aus zwei Faktoren, aus zwei Elemen­ten zusammensetzt. Das eine ist nämiich das, was wir unmittelbar erleben müssen an der Außenwelt: das ist die Wahrnehmung. Einen Farbeindruck, einen Toneindruck können Sie nur haben, wenn Sie die entsprechenden Sinnesorgane der Außenwelt aussetzen, wenn Sie der Außenwelt gegenüberstehen. Und Sie haben den Farb- oder Ton-eindruck so lange, als Sie mit dem äußeren Gegenstande in Zusam­menhang sind. Der Eindruck von außen, die Wechselwirkung zwi­schen außen und innen hört sofort auf, wenn Sie sich mit dem Auge von dem Gegenstand abwenden, oder wenn Sie mit dem Ohr so weit weggehen, daß Sie den Gegenstand nicht mehr hören können. Was beweist Ihnen diese Tatsache?

Wenn Sie diese Tatsache zusammenhalten mit der andern, daß Sie etwas mitgenommen haben von diesen Erlebnissen der Außenwelt, was Sie weitertragen, was Sie nachher wissen - Sie wissen, was es für ein Ton war, den Sie gehört haben, was es für eine Farbe war, die Sie gesehen haben, wenn Sie die Farbe nicht mehr sehen, den Ton nicht mehr hören -, was ist dann damit eigentlich gegeben? Etwas ist damit

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gegeben, was sich ganz in Ihrem Inneren abspielt, was ganz zu Ihrem Seelenleben gehört, was durchaus innerlich sich abspielen muß; denn wenn es zur Außenwelt gehörte, könnten Sie es nicht mittragen. Sie können die Empfindung eines Farbeindruckes, den Sie empfangen haben, indem Sie das Auge auf die Farbe gerichtet haben, nur dann in Ihrer Seele weitertragen, wenn sie drinnen ist in der Seele, wenn sie inneres Erlebnis der Seele ist, so daß es in der Seele bleibt. Also Sie müssen unterscheiden, was sich abgespielt hat zwischen der Seele und der Außenwelt als die Sinneswahrnehmung, und das, was Sie loslösen von der Wechselwirkung mit der Außenwelt und in der Seele weiter­tragen. Sie müssen streng unterscheiden zwischen diesen beiden Dingen, und es ist gut, auf solchen Gebieten streng zu unterscheiden. Nehmen Sie es nicht als Pedanterie, was ich sage; es soll eine Grund­lage geschaffen werden für das Folgende. Was Sie erleben, solange Sie den Gegenstand vor sich haben, können Sie für den weiteren Ge­brauch genau unterscheiden von dem, wovon es unterschieden wer­den soll, wenn Sie das, was Sie erleben an dem Ding, die Sinneswahr­nehmung nennen, und das, was Sie in der Seele weitertragen, die Empfindung; so daß Sie also unterscheiden zwischen Farbwahrneh­mung und Farbempfindung. Die Farbwahrnehmung müssen Sie las­sen, wenn Sie sich abwenden, die Farbempfindung tragen Sie weiter. Man macht im gewöhnlichen Leben nicht so strenge Unterscheidun­gen, und es ist auch nicht notwendig. Aber für unsere vier Vorträge müssen wir uns schon solche Vorstellungen schaffen, die uns dann weiterhelfen können.

Nun tragen wir also in unserer Seele die Empfindungen herum. Sind nun vielleicht diese Empfindungen, die wir an den äußeren Gegenständen gewinnen, ein ganz neues Element des Seelenlebens gegenüber dem Urteilen und den Phänomenen von Liebe und Haß? Wenn das der Fall wäre, so müßten Sie sagen: Ja, du hast etwas nicht genannt, was auch im inneren Seelenleben ist: die Empfindungen der Sinne, die Empfindungen, die durch die Sinne gewonnen werden. -So ist es aber nicht. Diese Empfindungen sind kein besonderes Ele­ment des Seelenlebens. Denn Sie müssen unterscheiden in der Emp­findung ihren Inhalt - so bei der Farbempfindung die Farbe, wenn Sie

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zum Beispiel «Rot» empfunden haben - von etwas anderem. Wenn das «Rot» inneres Seelenerlebnis wäre, würde Ihnen die ganze Farb­wahrnehmung des Roten nichts helfen. Der Inhalt, die Farbe, ist durchaus nicht inneres Seelenerlebnis. Was sich Ihnen gegenüber-gestellt hat, der Gegenstand, ist rot; nicht aus Ihrer Seele ist diese Qualität, diese Eigenschaft «rot» entsprungen. Aus Ihrer Seele ist etwas ganz anderes entsprungen, nämlich das, was Sie getan haben, um etwas mittragen zu können, eine Tätigkeit, die Sie verübt haben, während das Rot vor Ihnen stand. Und diese Tätigkeit, die sich da vollzogen hat, ist inneres Seelenerleben und ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Zusammenfügung von denjenigen Elementen des Seelenlebens, die ich Ihnen heute als die zwei Grundelemente genannt habe. Da müssen wir aber genau darauf eingehen: Was geschieht, wenn wir uns einer Farbe, zum Beispiel Rot, gegenüberstellen und dann in unserem inneren Seelenerleben den Eindruck des Rot weiter­tragen?

Wenn das wahr ist, was ich Ihnen gesagt habe, daß in unserem Seelenleben die zwei Elemente sind, Liebe und Haß, die auf ein Be­gehren zurückweisen, und Urteilen, das zu Vorstellungen sich zu­spitzt, so müßte auch, wenn wir uns einem Sinneserlebnis entgegen­stellen und Sinnesempfindungen feststellen wollen, nur etwas in Be­tracht kommen, was seelisch ist, was mit diesen beiden Elementen des Seelenlebens zusammenhängt. Denken Sie sich, Sie stellen sich vor einen Farbeindruck hin und haben ein Sinneserlebnis der Farbe. Was wird als Tätigkeit aus dem seelischen Erleben heraus entspringen kön­nen, wenn Sie diesem Sinneserlehnis gegenüberstehen, wenn Sie zum Beispiel Rot vor sich haben? Liebe oder Haß, und andererseits wird Urteilen auch hier aus der Seele entspringen.

Stellen wir es uns graphisch dar (siehe Zeichnung). Nehmen Sie an, hier sei die Grenze der Seele gegenüber der Außenwelt. Der horizon­tale Strich trennt dabei das Gebiet des Seelischen, das Untere, von dem Gebiet der Außenwelt, dem Oberen. Wenn es wahr ist, was ich gesagt habe, so muß, wenn an der Grenze zwischen der Seele und der Außenwelt ein Ding einen Eindruck auf ein Sinnesorgan macht -angenommen, bei c spiele sich ein Farbeindruck ab -, aus dem Innern

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der Seele entgegenkommen Urteilen und die Phänomene von Liebe und Haß. Denn sonst kann nichts aus der Seele herausströmen als diese Phänomene. Dann kann also, indem wir vor der Farbe Rot stehen, diesem Sinneserlebnis nichts anderes entgegenströmen als das, was in der Seele ist: Urteilen und die Phänomene von Liebe und Haß.

# Bild s. 123

Aber jetzt merken Sie einen wichtigen Unterschied, der bestehen kann zwischen Urteilen und Urteilen, und zwischen Begehren und Begehren. Nehmen Sie einmal an: Während Sie träumen oder irgend­wo sitzen und vielleicht in Langeweile auf einen Eisenbahnzug warten oder dergleichen, taucht auf in Ihrem Seelenleben aus der Erinnerung heraus die Vorstellung einer unangenehmen Tatsache, die Sie erlebt haben. Und neben dieser Tatsache tritt etwas anderes in Ihrem Seelen-leben auf: was Ihnen alles an Widrigem widerfahren ist durch diese Tatsache durch lange Zeiten hindurch. Da können Sie sozusagen empfinden, wie sich diese zwei Vorstellungen, die da auftauchen, neuerdings zusammensetzen zu einer intensiven Vorstellung von dem Eindrucke von dem unliebsamen Ereignisse. Da vollzieht sich ein Urteilen, und das bleibt rein innerhalb des seelischen Erlebens. Nichts von der Außenwelt ist dabei hinzugekommen. Aber mitgespielt haben auch Liebe und Haß, indem die Vorstellung heraufgezogen ist aus der

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Seele und sich gleichsam aus dem inneren Seelenleben heraus Liebe und Haß an sie angegliedert haben. Und wiederum gelangt dabei nichts nach außen. Während Sie so ruhig sitzen und das alles in Ihrem Seelenleben vor sich gegangen ist, kann jemand dabeistehen, und in alledem, was der andere sehen kann, ist nichts enthalten von dem, was in der Seele da sich abspielt. Die ganze Umgebung ist gleichgültig, die ganze Außenwelt hat keine Bedeutung für das, was da in der Seele durchlebt wird von Liebe und Haß und vom Urteilen.

Wenn wir eine solche innere Tatsache vollziehen, wie ich sie eben erzählt habe, wo Liebe und Haß Urteilen hervorrufen, bleiben wir gleichsam in dem Meer des Seelenlebens darinnen. Das können wir kurz graphisch in folgender Weise darstellen (siehe Zeichnung). Inner­halb der Grenzen der Seele sei a die erste Vorstellung, die auftaucht, b die zweite; beide gruppieren sich zusammen zu einer neuen Vor­stellung x, zu dem Urteile, und dabei kommen Liebe und Haß irgend­wie in Betracht. Aber das geht nicht bis an die Grenzen der Seele, das bleibt rein innerhalb des seelischen Erlebens.

# Bild s. 124

Ganz anders ist es nun , wenn es sich um ein Sinneserlebnis handelt. Taucht ein Sinneserlebnis auf, so müssen wir bis an die Grenze der Seele gehen, müssen an die Außenwelt herantreten. Da ist es so, wie

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wenn die Ströme unseres Seelenlebens hinfließen würden und un­mittelbar aufgehalten werden durch die Außenwelt. Was wird da auf-gehalten? Das Begehren, oder Liebe und Haß, können wir auch sagen, fließen hin bis zur Grenze, und die Urteilsfähigkeit fließt auch hin. Beide werden an der Grenze gehemmt, und die Folge davon ist, daß das Begehren stillestehen muß, und daß das Urteilen stiliestehen muß. Urteilen ist schon da und ebenso das Begehren, aber die Seele nimmt sie nicht wahr. Aber indem Begehren und Urteilen hinfließen bis an die Grenze des Seelenlebens und da gehemmt werden, bildet sich die Sinnesempfindung. Die Sinnesempfindung ist nichts anderes als auch etwas, was zusammengeflossen ist aus einem inneren un­bewußt bleibenden Urteilen und einem unbewußt bleibenden Phäno­mene von Liebe und Haß, die hinausstreben, die aber nach außen hin gehemmt, festgehalten werden. Das, was wirklich in der Seele als eine Sinnesempfindung weitergetragen wird, entsteht auf diese Weise. Da­her können wir also sagen - und wir werden alle diese Dinge in den nächsten Tagen ja bis zür Evidenz genau betrachten und auch noch klarer machen: Es wogt innerhalb des Meeres des Seelenlebens sub­stantiell möchte man sagen, seelisch substantiell dasjenige, was mit Liebe und Haß, was mit Urteilen bezeichnet werden darf. Wenn das Urteilen sich innerhalb des Seelenlebens selber zur Vorstellung zu­spitzt, dann merkt das Seelenleben diese Zuspitzung, die ganze Tätig­keit des Urteilens, und sieht zuletzt die Vorstellung als Ergebnis. Läßt die Seele aber denselben Strom bis an die Grenze fließen, so daß er an der Grenze aufschlägt, so wird sie gezwungen, stillestehen zu lassen den Strom des Begehrens und den Strom des Urtellens, und das Ganze, dieses Zusammenfließen von Begehren und Urteilen, ergibt sich in der Empfindung. Empfindung ist im strengen Sinne das Zu­sammenfließen von Urteilen und Begehren innerhalb des Seelenlebens.

Wenn wir den alltäglichen Umfang unseres Seelenlebens in Betracht ziehen und namentlich das ins Auge fassen, was diesem unserem Seelenleben reichlichen Inhalt gibt, so sind es eben gerade diese Sinneserlebnisse. Denn Sie werden sich leicht durch eine innere Selbstschau überzeugen können, daß das, was Sie innerlich erleben, im Grunde genommen in weitaus den meisten Fällen das ist, was Sie

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aus Sinneserlebnissen mitgenommen haben. Und wenn Sie sich Vor­stellungen über etwas Höheres machen wollen, Vorstellungen von dem, was nicht sinnlich erlebt werden kann, so werden Sie bemerken, daß es Ihnen auch ganz gut tut im Seelenleben, wenn Sie versuchen sich zu versinnlichen, was nicht sinnlich ist, das heißt, es sich bildlich vorzustellen durch irgendwelche Dinge, die - wenn auch noch so leise -, Farb- oder Tonempfindungen sind. Die Sprache selbst könnte Sie lehren, in wie weitem Umfange aus der Seele heraus das Bedürfnis immer wieder und wieder entsteht, in dieser Weise auch das Höhere so auszudrücken, daß es versirmlicht wird in Sinnesempfindungen. Ge­wöhnlich haben die Menschen gar kein Bewußtsein davon, daß dies der Fall ist, weil bei den Versinnlichungen, welche vielfach die des alltäglichen Lebens sind, die Bildartigkeit, die Sinnbildlichkeit eine sehr schattenhafte und nebulose ist. Und die Menschen glauben, sie haben etwas anderes als Bilder von Sinnesempfindungen zusammen-kombiniert, aber das ist nicht der Fall. Versuchen Sie einmal, un­sinnlich ein Dreieck sich vorzustellen, ein Dreieck, das aber auch keine Farben hat, das also in gar nichts an eine Sinnesempfindung irgendwie anknüpft ! Sie werden sehen, wie schwierig das ist und wie die meisten Menschen überhaupt unfähig sind, wenn sie sich zum Beispiel eine Vorstellung von einem Dreieck bilden wollen, es sich unsinnlich vorzustellen. Sie können das nur tun, wenn Sie sich die Sache versinnlichen. Wenn man sich ein Dreieck vorstellen will, muß man immer versinnlichen, man muß eine sinnliche Vorstellung an den Begriff des Dreiecks knüpfen. Das liegt schon ganz in unserer Sprache. Sie können bemerken, wie man bei jeder Gelegenheit durch die Sprache notwendigerweise gezwungen ist, zu versinnlichen. Ich habe zum Beispiel den Satz ausgesprochen: Eine sinnliche Vor­stellung muß geknüpft werden an den Begriff des Dreiecks-« Knüp­fen», was ist das für eine sinnliche Vorstellung? Etwas zusammen-knüpfen! In den Worten selbst liegt es schon, daß überall versinnlicht wird. So also können wir sagen: Im weitesten Umfange besteht das Seelenleben des Menschen aus dem, was als Sinnesempfindungen an der Außenwelt gewonnen wird.

Nur eine einzige Vorstellung hat der Mensch, die ihn sozusagen so

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begleitet, daß sie immer wieder und wiederum unter seinen inneren seelischen Erlebnissen auftritt, die er aber nicht direkt unter die äuße­ren Sinneserlehnisse stellen kann, trotzdem er sie mit den äußeren Sinneserlehnissen fortwährend verknüpfen muß. Und diese einzige Vorstellung ist die, die hier oft genannt worden ist: die Vorstellung des Ich. Wenn wir den reinen Tatbestand, den seelischen Tatbestand ins Auge fassen, so können wir sagen: Der Mensch lebt eigendich zum großen Teil in einer Welt von Sinnesempfindungen, und inner­halb dieser Welt von Sinnesempfindungen taucht auf, ab und zu immer wieder sich hervordrängend, die Vorstellung des Ich. Da­hinter liegt ein gewisses Bewußtsein, aber, nicht wahr, wenn Sie Ihr seelisches Leben prüfen, werden Sie leicht darauf kommen können, daß dieses Ich nicht immer als Vorstellung da ist. Sie stellen nicht immerfort nur Ich vor, sondern auch anderes: Rot, Grün, Blau, zusammenknüpfend und auflösend und so weiter, aber nicht immer­fort das Ich. Trotzdem aber wissen Sie, daß Sie in dem Ich etwas vor­stellen, was sozusagen bei jedem Sinneserlebnis dabei sein muß; denn Sie wissen, daß Sie es den Sinnesempfindungen entgegenstemmen in dem Begehren, in dem Urteilen. Und was wir seelisches Erleben nennen können, ist in einem gewissen Sinne auch Ich-Erleben. Ton­erleben, Farberleben ist in einem gewissen Sinne auch Ich-Erleben. Aber niemals kann an der Außenwelt nur die Vorstellung des Ich entzündet werden. Sie tritt immer auf zwischen den Vorstellungen, die Sie an den Sinneserlebnissen gewonnen haben. Aber sie kann nicht von der Außenwelt hineinkommen wie Rot oder Grün, wie dieser oder jener Ton. Sie steigt aus dem Meere des Seelenlebens auf und gesellt sich gleichsam als eine Vorstellung zu allen andern Vor­stellungen hinzu. Aus diesem Meere des Seelenlebens tauchen aber auch alle die andern Vorstellungen auf, die veranlaßt werden durch die äußeren Eindrücke, aber nur dann, wenn äußere Eindrücke da sind. Die Ich-Vorstellung taucht aber auf, ohne daß ein äußerer Ein­druck da sein muß. In dieser Tatsache ist zunächst der einzige Unter­schied gegeben zwischen der Ich-Vorstellung, der Ich-Empfindung könnten wir auch sagen, und den Vorstellungen und Empfindungen, die sich an die Sinneserlebnisse knüpfen.

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Nun können wir also sagen: Da tritt uns die bedeutsame Tatsache entgegen, daß mitten in unserem Seelenleben eine Vorstellung auf-taucht, welche sich zu den zunächst von außen veranlaßten Vor­stellungen hinzugesellt. Eine merkwürdige, bedeutsame Tatsache. Wie haben wir sie uns zu erklären?

Nun, sehen Sie, es gibt unter den gegenwärtigen Philosophen und Psychologen schon einige, auch außerhalb der geisteswissenschaft­lichen Bewegung, die auf die Wichtigkeit der Ich-Vorstellung hin­weisen, auf die ja immer wieder und wiederum durch unseren Herrn Dr. Unger in seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen in so ein­dringlicher Weise aufmerksam gemacht wird. Aber das Merkwürdige ist, daß die Betreffenden selbst da, wo sie es gut meinen, furchtbar über das Ziel hinausschießen. Ich will als Beispiel dafür herausgreifen den französischen Philosophen Bergson, bei dem Sie an unzähiigen Stellen lesen können über die Ich-Vorstellung und bei dem Sie immer wieder eines betont finden. Es fällt solchen Leuten auf das ganz Be­deutungsvolle, das Auszeichnende der Ich-Vorstellung. Und daraus schließen sie dann, daß die Ich-Vorstellung, weil sie wie aus un­bekannten Tiefen der Seele heraus, nicht durch einen äußeren Anlaß, auftaucht, ein Dauerndes darstelle oder auf ein Dauerndes hinweise, und sie begründen das damit, wie zum Beispiel Bergson, daß sie sagen: Das Ich unterscheidet sich von allen Erlebnissen der Sinne und allen andern Seelenerlebnissen dadurch, daß es gleichsam drinnen-steckt in seinem Erleben, also eigentlich drinnen ist in sich selber und darum seine wahre Gestalt erlebt. Wenn aber das Ich in seiner Vor­stellung seine wahre Gestalt erlebe, so sei damit etwas Dauerndes gegeben, nicht bloß etwas Vorübergehendes. - Das ist etwas, was Sie heute, hervorgerufen durch das Bedeutungsvolle der Ich-Vorstellung, als ein Ergebnis mancher Philosophie und Psychologie, auch außer­halb der Geisteswissenschaft, finden können.

Nun liegt dem aber, ich möchte sagen, etwas sehr Fatales zugrunde Und die Tatsache, die derartigen Ausführungen entgegengehalten werden muß, ist für eine solche Folgerung, wie sie Bergson zieht, wirklich fatal. Nehmen wir an, die Ich-Vorstellung ergebe etwas, worinnen man das eigentliche Menschenwesen habe, also etwas, wo

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die Seele innerhalb dieses Selbst ist. Nehmen wir an, die Ich-Vor­stellung ergebe das. Dann könnte und müßte die berechtigte Frage aufgeworfen werden: Wie steht es jetzt in der Nacht, im Schlafe? Da ist der Mensch nicht in der Ich-Vorstellung drinnen, da hört diese Ich-Vorstellung vollständig auf! - Also alle Begriffe, die man sich bildet von dem Drinnensein in dem Ich aus der Ich-Vorstellung heraus, gelten nur für das wache Leben, denn die Ich-Vorstellung hört auf mit dem Einschlafen. Da ist sie fort, und am Morgen tritt sie wieder neu auf. Sie ist also durchaus nichts Dauerndes ! Wenn die Ich-Vorstellung selber etwas beweisen sollte für die Dauer des Ich, so müßte sie als Vorstellung nach dem Einschlafen da sein. Das ist sie aber nicht. Aus der bloßen Ich-Vorstellung ist es also unmöglich, ein Zeugnis zu schöpfen für die Dauer oder die Unsterblichkeit des Ich. Weil sie in der Nacht nicht da ist, könnte jemand ganz berechtigt schließen: Also wird sie auch nach dem Tode nicht da sein ! - Sie kann fehlen. Sie ist durchaus nicht etwas Unvergängliches, denn sie vergeht jeden Tag. So müssen wir auf der einen Seite festhalten das ganz aus­zeichnend Bedeutungsvolle der Ich-Vorstellung, die durch nichts Äußeres veranlaßt ist, in der das Ich wirklich sich drinnen fühlt, die aber zu gleicher Zeit in einem gewissen andern Sinne wiederum nichts für das Ich beweist, weil diese Vorstellung in der Nacht nicht da ist.

So also haben wir heute sozusagen das Ergebnis zu verzeichnen, auf dem wir dann weiterbauen wollen von morgen ab: daß in dem auf und ab wogenden Meere unseres Seelenlebens vorhanden sind Urteilen und die Phänomene von Liebe und Haß, aus denen das Seelenleben im Grunde genommen besteht; daß an der Grenze der Seele mit der Außenwelt die Sinnesempfindungen auftreten als ein für uns nicht bewußtes Zusammenfließen von Begehren und Urteilen; daß hereingenommen werden in unser Seelenleben die Sinneserleb­nisse, und daß innerhalb der Sinneserlehnisse, nicht hervorgerufen durch Äußeres, die Ich-Vorstellung auftaucht; daß diese Ich-Vor­stellung aber mit allen Sinneserlebnissen, insofern sie seelische Erleb­nisse werden, ein Schicksal teilt: denn Ton- und Farbeindrücke und die andern Sinneserlehnisse sinken in der Nacht ebenso hinunter in

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das Dunkel des Unbewußten wie die Ich-Vorstellung auch. Wir werden uns nun fragen müssen: Woher kommt aber nun das Aus­zeichnende der Ich-Vorstellung? Und wie steht die Ich-Vorstellung mit dem im Zusammenhang, was wir die Elemente der Seele genannt haben, mit dem Urteilen und mit den Phänomenen von Liebe und Haß?

Mit dieser Frage nach dem Verhältnis der Ich-Vorstellung, des eigentlichen Seelenzentrums, zu dem übrigen Seelenleben, mit dieser Frage will ich heute schließen. An diesem Punkt werden wir morgen anknüpfen.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 2. November 1910

Wir haben gestern unsere psychosophische Betrachtung damit ge­schlossen, daß wir auf der einen Seite darauf hinwiesen, wie im Grunde genommen dieses auf und ab wogende menschliche Seelenleben sich zurückführen läßt gleichsam auf zwei Elemente: auf Urteilen und auf die inneren Erlebnisse von Liebe und Haß. Wir haben dann ferner darauf hingewiesen, daß nun wieder in unserem Seelenleben auftauchen die uns durch unsere Sinne gegebenen Empfindungen, und daß sich unser Seelenleben im Grunde genommen anfüllt mit diesen Empfindungen, daß sozusagen diese Empfindungen immer auf und ab wogen in unserem Seelenleben. Wir haben ferner darauf hingewiesen, daß innerhalb dieses seelischen Gewoges dann eines auftritt, was sich radikal von allem übrigen unterscheidet, was wir bei unserem Tagesleben in der Außenwelt erfahren. Unsere Empfindungen erleben wir, während wir sozusagen mit der Außenwelt leben, und sie wandeln sich in uns so um, daß sie dann in uns weiterleben. Wenn wir dieses Gewoge von Erlebnissen, das angeregt ist durch die Einflüsse unserer Sinne, überblicken, so tritt uns innerhalb desselben eine Wahr­nehmung auf, die ganz anderer Art ist als alle übrigen Wahrnehmun­gen. Alle übrigen Wahrnehmungen, die wir zunächst im gewöhn­lichen Leben haben, sind durch äußere Sinnesreize ausgelöst und sind dann weiter in uns verarbeitet worden. Sie sind aus Wahrnehmungen Empfindungen geworden und leben dann nach in dem, was die Emp­findungen in uns übriglassen. Ganz anders ist nun das, was als eine Ich-Wahrnehmung in uns lebt. Das tritt mitten unter dem Gewoge der andern, durch die Außenwelt veranlaßten Erlebnisse auf, ist ge­wissermaßen während unseres Seelenlebens überall dabei und unter­scheidet sich eben dadurch von allen andern Erlebnissen der Seele, daß es nicht von außen veranlaßt werden kann. Damit ist gleichsam eine Art von Gegensatz in unserem Seelenleben gegeben, die Ich-Empfindung und alle übrigen Seelenerlebnisse. Was für Geheimnisse sich hinter diesem Gegensatz verbergen, wird sich allerdings erst im

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Laufe dieser Vorträge zeigen. Aber ein Gefühl dafür sollten wir uns von Anfang an bei diesen Vorträgen erwerben dadurch, daß dieser Gegensatz uns so recht vor die Seele hintritt.

Gleichsam angewiesen sind wir auf die äußere Welt mit allem übri­gen Erleben, und hinein stellen wir in alles übrige Erleben unsere Ich-Wahrnehmung. Daß also in unsere Seele von zwei Seiten her das­jenige kommt, was da auf und ab wogt, das können wir schon an diesem, ich möchte sagen, ganz abstrakten Gegensatz empfinden lernen. Und es ist wichtig, daß wir dieses menschliche Seelenleben - und um das handelt es sich zunächst, denn auf anderes Seelenleben werden wir erst vom Menschen aus ein kleines Streiflicht werfen können - uns im Kleinen, im Abstrakten, und im Konkreten, im Großen vor Augen führen, so recht fühlend zunächst vor Augen führen.

Dieses menschliche Seelenleben ist wirklich von vornherein keine Einheit, sondern es ist etwas wie ein dramatischer Kampfplatz, auf dem sich Gegensätze fortwährend ausleben. Und derjenige Mensch, der mit einer etwas feineren Empfindung und einem tieferen Gefühl diesem Leben der menschlichen Seele, der menschlichen Psyche lauscht, wird wirklich nicht verkennen können den dramatischen Charakter dieses menschlichen Seelenlebens. Gegenüber den gegen­sätzlichen Mächten in der menschlichen Seele fühlt eigentlich der Mensch so etwas wie ein Nicht-Herr-Sein darin, ein Hingegebensein an diese Gegensätzlichkeit. An dieses Hingegebensein an die Gegen­sätzlichkeit des Seelenlebens, an, wir könnten sagen, diese zwei Natu­ren in unserem Seelenleben ist der kleinste Mensch, ist der größte Genius gebunden. Und um in Ihnen ein Gefühl hervorzurufen von dem, was als Gegensätze in der Menschenseele wogt, auch bei einem größten Genius noch, habe ich Ihnen gestern an die Spitze gestellt ein Gedicht Goethes.

Wenn etwa jemand von Ihnen von gestern auf heute seinen Goethe in die Hand genommen und dieses Gedicht nachgelesen hat, wird er zu einer eigentümlichen Empfindung gekommen sein, zu einer Emp­findung, von der es gut wäre, wenn sie unserem ganzen Vortragszyklus zugrunde liegen würde. Ich will Ihnen diese Empfindung ein

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bißchen verdeutlichen; denn nicht in abstracto wollen wir das Seelen­leben schildern, sondern wir wollen versuchen, sozusagen Blut hinein­zubringen und hineinkommen in das Lebendige dieses Seelenlebens.

Wenn Sie das gestern rezitierte Gedicht vom «Ewigen Juden>) nachgelesen haben, werden Sie sich gesagt haben: Das steht ja ganz anders dadrinnen! Es ist ja etwas anderes vorgelesen worden, als was in Goethes Werken steht! - Es ist nämlich etwas getan worden für die Rezitation, was gegenüber dem, was man philologische Wissenschaft nennt, eine Brutalität, eine ungeheure Barbarei sein mag: es ist dieses Gedicht vom «Ewigen Juden» besonders zubereitet worden und nicht so vorgelesen worden, wie es in Goethes Werken steht. Gewisse Dinge sind geändert worden, anderes ist weggelassen worden, und es ist durch das, was geboten worden ist, ein ganz anderes Bild hervor­gerufen worden. Das darf man natürlich vor den Philologen nicht tun. Aber man darf es dann tun, wenn man eine ganz besondere Absicht hat, wenn es sich darum handelt, eine tiefere Perspektive auf das menschliche Seelendrama zu eröffnen. Denn der «Ewige Jude» ist ein Gedicht Goethes, das er in seiner allerersten Jugend ge­schrieben hat. Und was Ihnen gestern vorgelesen worden ist, das ist in diesem Gedicht dasjenige, was ganz gewiß in bezug auf seinen Inhalt auch hätte vor die reife Goethe-Seele im höchsten Greisenalter hintreten können, und er würde dazu gesagt haben: Ja, das ist etwas, was ich selber vertreten will. - Dagegen würde er sich von dem, was gestern ausgelassen oder geändert worden ist, abgewendet haben und vielleicht gesagt haben, daß er sich ein wenig schame, diese Dinge geschrieben zu haben. Wer mit einer so tiefen, unbegrenzten An­erkennung Goethe gegenübersteht wie ich selber, der darf vielleicht auch einmal so über Goethe sprechen, wie ich heute zu sprechen genötigt bin, wenn ich über das Gedicht vom «Ewigen Juden» spreche. In Goethes frühester Jugend ist dieses Gedicht entstanden. Und seine Jugend spricht sich darin insofern aus, wie es eben natür­lich ist für die Zeit, in der er es geschrieben hat, wo er noch ein rechter Nichtsnutz war, einer, von dem man so ganz bestimmt nichts lernen kann. Oder darf man denn vielleicht nicht sagen, daß man in bezug auf manche Dinge von Goethe nichts lernen kann? Man kann frank

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und frei sagen, daß er damals noch nicht einmal ohne Fehler richtig orthographisch schreiben konnte. Warum darf man also nicht sagen, gewisse Dinge in dem Gedicht vom «Ewigen Juden» sind nichts­nutzig? Man wird allerdings nicht mitgehen können mit jenem elenden Zeitgeschmack, der alle Werke eines jeden großen Künstlers womög­tich in ihrer frühesten Gestalt ans Tageslicht zieht. Damit zeigt man nur seine eigene Schwäche. Ja, in Goethes Jugendgedicht ist etwas, was nicht er selbst war. In Goethes Jugendseele haben Dinge und Vorstellungen rumort, die ganz und gar nur aus seinem Milieu stamm­ten. Die gehen uns nichts an, die gehen nur ihn an. Es fügt sich da etwas zusammen, was man nennen könnte eine Ehe zwischen dem Zeitlichen in Goethes Seele und dem Ewig-Göttlichen in der Goethe-Seele. Und das, was da entstand, ist ein Ewiges für die ganze Mensch­heit. Das hat Wert für uns, und das hat Wert für alle Menschen, die auf uns folgen werden. Diese zwei Dinge, wovon das eine nur Goethe selber angeht, das andere uns und alle Nachwelt angeht, wurden aus-einandergeschält. Diese zwei Goethe in dem jungen Goethe, diese zwei Seelen in seiner Natur wurden durch einen Schnitt auseinander-gelegt, und was schon in dem jungen Goethe war von dem, was bis an sein Lebensende in ihm gewaltet hat, das wurde abgetrennt von dem, was nur im jungen Goethe war - was im alten Goethe abgestor­ben war - und wurde zurückbehalten.

Das zeigt uns, wie in den Genius hineinspielen die Kräfte, zu denen er sich erst in der Zukunft emporarbeitet, und diejenigen Kräfte, die aus dem Umkreis seiner Umgebung kommen. Und wenn wir hin-blicken auf Goethes Seele in der Jugend, erscheint sie uns wirklich wie ein Kampfplatz, auf dem sich abspielt der Kampf zwischen dem Helden Goethe, der durch das ganze Leben ihn begleitet und der eigentliche Träger seines Genius ist, und zwischen etwas anderem, was er niederzukämpfen hatte in seiner Seele. Und wäre dieser Kampf nicht dagewesen: Goethe wäre nicht Goethe geworden. Da haben wir etwas handgreiflich vor uns, was in der Seele arbeitet: diese Gegen­sätzlichkeit. Die Seele kann kein einheitliches Wesen sein, denn sonst würde sie stillestehen, würde nicht fortschreiten können. Es ist wich­tig, daß wir uns von vornherein das Gefühi aneignen von der Polarität,

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der Gegensätzlichkeit im Seelenleben. Wenn wir dieses Gefühl nicht haben, werden wir auch nicht dazu kommen, in der rechten Weise alles zu würdigen, was gerade mit Bezug auf das Seelenleben gesagt werden muß. Und gerade wenn wir ein so typisches Seelen-leben haben wie dasjenige Goethes, blicken wir auf ein solches Seelen-leben hin wie auf ein Drama und suchen uns ihm mit scheuer Ehr­furcht zu nahen, weil wir innerhalb einer einzigen Inkarnation in die­sem Kampfe, der sich als Seelenleben abspielt, das erblicken, was der wahre Inhalt, das wirkliche Schicksal des einzelnen Seelenlebens ist.

Und auf ein anderes noch dürfen wir bei diesem Seelendrama hin­weisen. Nehmen wir noch einmal die Gegensätzlichkeit in der Goethe-Seele, wie sie uns vor das geistige Auge tritt gerade durch die gestrige Rezitation und durch die Erklärung, die ich gegeben habe. Was kann sich uns daraus ergeben?

Wenn wir Goethes Seelenleben überblicken, können wir sehen, wie er im Alter dem einen nur folgt, was wir gestern in der Rezitation an Vorstellungen, Empfindungen, an Seeleninhalten loslösten von dem andern, was er dann durch die Kraft der eigenen Seele gleichsam aus sich herauswarf. An diese beiden Gewalten war Goethe ohne sein Zu­tun als Seelenwesen sein ganzes Leben hindurch hingegeben. So ist jeder Mensch, indem er eine Seele ist, ein Wesen, das nicht bloß Herr ist in sich, sondern er ist auch an etwas Inneres hingegeben, das über ihn Gewalt hat, das von seinem Wissen von vornherein nicht umfaßt werden kann. Denn hätte Goethe in der Zeit, als er den «Ewigen Juden» schrieb, alles umspannt in seiner Seele, was zu umspannen möglich gewesen wäre, so wäre dieses Gedicht künstierischer gewor­den und etwa so, wie wir es gestern vorgelesen haben, jedenfalls aber nicht mit dern Inhalt, wie er in Goethes Werken steht.

Hingegeben ist der Mensch an sein Seelenleben. Da wirkt etwas, was im Grunde genommen ebenso eine äußere Welt für sein Seelen-leben darstellt, wie etwas anderes in der Außenwelt. Wie wir keine Gewalt haben, wenn wir einer roten Rose gegenüberstehen, sie als nicht rot uns vorzustellen, sondern wie die Rose uns zwingt, die rote Farbe in der Vorstellung von der roten Rose in uns weiterlebend zu haben, so existiert etwas, was uns in gewisser Weise die Notwendigkeit

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auferlegt, das Seelendrama in einer ganz bestimmten Art auszu-leben. Herr über uns ist die Außenwelt bei allen unseren Sinneswahr­nehmungen. Einen solchen Herrn müssen wir auch im inneren Seelenleben anerkennen, wenn wir die Gegensätze dieses Seelenlebens ins Auge fassen und es in der Weise betrachten, daß wir es vor uns hinstellen, wie es in der Zeit verläuft von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Lebensepoche zu Lebensepoche, und durch eine innere Gewalt vorwärtsgetrieben wird und immer reicher und reicher wird.

Schon aus diesen einfachen, konkreten Darstellungen, wobei wir ganz auf dem physischen Plan geblieben sind, sehen Sie, daß wir durch unsere Sinneswahrnehmungen einen äußeren Zwang, einen Herrn in bezug auf das äußere Leben anerkennen müssen, und einen inneren Herrn in uns. Wo wir auch stehen, an welchem Punkt des Raumes, die Außenwelt ist Herr über unsere Sinneswahrnehmungen. Und wir würden in Phantastik verfallen, würden wir nicht diesen Herrn in bezug auf die Sinneswahrnehmungen anerkennen. Insofern wir nun selber vorwärtsschreiten in uns, haben wir auf den dramatischen Gegensatz in unserem Seelenleben hinzublicken, und da haben wir zu erkennen, daß wir, wie in der Außenwelt, einen ebensolchen Herrn in uns haben, der zum Beispiel bewirkt, daß wir mit sieben Jahren ein anderes Seelenleben haben als mit zwanzig oder dreißig Jahren oder später. Das sei zunächst zur Veranschaulichung gesagt für manches, was uns vor Augen treten wird.

Dieses Seelendrama, das wir so im Konkreten am Beispiele Goethes vor uns hingestellt haben, ist nun doch zuletzt nur zusammengesetzt aus den beiden Elementen des Seelenlebens, aus Urteilen und aus den Phänomenen von Liebe und Haß. Nun wurde gestern gesagt: Ur­teilen führt zu Vorstellungen, Liebe und Haß kommen aus dem Begehren. Sie könnten nun leicht in dem, was gesagt worden ist, einen Widerspruch gegenüber dem unmittelbaren Tatbestand, dem unmit­telbaren Erlebnis der Außenwelt sehen, denn Sie könnten sagen:

Wenn du behauptest, Urteilen führe zu Vorstellungen, so wider­sprichst du der ganz einfachen Tatsache, daß durch die Sinneswahr­nehmungen, dadurch, daß diese sich aufdrängen von der Außenwelt her, Vorstellungen entstehen. Wenn wir der Rose gegenüberstehen

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und den Eindruck « rot» haben, so entsteht die Vorstellung « rot», ohne daß ein Urteil dem zugrunde liegt. - Und Sie könnten weiter sagen: Also führt nicht das Urteilen zu Vorstellungen, sondern es ist sogar umgekehrt, erst muß die Vorstellung da sein, und dann muß der Mensch auf Grund der Vorstellung urteilen ! - Halten Sie diesen scheinbaren Widerspruch einmal fest. Er ist nämlich gar nicht so leicht zu durchdringen, er ist nicht so leicht zu durchschauen in seiner Art. Wir werden mancherlei zusammentragen müssen von dem, was wir durch die Beobachtung des Seelenlebens gewinnen können, damit wir einen Schlüssel erhalten, um über diesen scheinbaren Widerspruch hinwegzukommen.

Da müssen Sie vor allen Dingen Ihre Aufmerksamkeit darauf rich­ten, daß Vorstellungen etwas sind, was tatsächlich im menschlichen Seelenleben ein eigenes Dasein, ein eigenes Leben führt. Ich bitte, diesen Satz nicht leicht zu nehmen, sondern in seiner ganzen Schwere:

Vorstellungen sind etwas, was wie Parasiten, wie innere Lebewesen innerhalb des Seelenwesens ein eigenes Dasein führen. Und auf der andern Seite führt auch das Begehren ein eigenes Dasein im Seelen­leben. Unser Seelenleben steht in der Tat den Vorstellungen und den Begehrungen oder Begierden so gegenüber, daß sich beide wie selb­ständige Wesenheiten ausnehmen, denen wir als Seelenwesen hin­gegeben sind. Sie können sich leicht überzeugen, daß Vorstellungen etwas sind, was ein eigenes Leben in unserer Seele führt: Sie brauchen nur daran zu denken, daß Sie es nicht in den eigenen Kräften des Seelenlebens haben, eine Vorstellung, die Sie aufgenommen haben, ohne weiteres wieder in die Erinnerung zurückzurufen. Eine Vor­stellung, die wir vielleicht erst gestern gebildet haben, weigert sich zuweilen recht sehr, wieder in unser Seelenleben zurückzukehren. Wir sagen im trivialen Leben dann: Wir haben das, worum es sich handelt, vergessen. Es will nicht hinauf, es weigert sich zunächst. Da spielt sich ein Kampf ab zwischen dem, was unstreitig als eine Seelenkraft in uns existiert und was die Vorstellung herbeizerren will, und etwas anderem, was in unserer Seele gegenwärtig ist. Dies ist ein Kampf in unserer Seele mit der Vorstellung. Dennoch braucht sich nichts in der Außenwelt zu ereignen und wir können uns doch an die Vorstellung

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wieder erinnern. Sie war also in uns, aber sie hat sich geweigert, sich uns sogleich in ihrem Dasein zu ergeben. Sie wissen ferner aber auch, daß bei den verschiedensten Menschenindividualltäten dieser Kampf ein sehr verschiedener ist, der in der menschlichen Seele gekämpft wird zwischen den eigenen Seelenkräften und den wieder heraufzu­bringenden Vorstellungen, welche zwar in der Seele leben, sich aber sozusagen als Gegner der unmittelbaren Seelenkräfte ausnehmen. Und die Verschiedenheit dieser beiden ist so groß, daß wir sogar ihre äußersten Enden ziemlich erschreckend weit voneinander entfernt fin­den. Da finden Sie an dem einen Ende jene Menschenindividualitäten, die im Grunde genommen niemals in Verlegenheit sind, das gegen­wärtig zu haben, was in ihrer Seele je gelebt hat, wenn sie es brauchen, die sich immer leicht erinnern an ihren gesamten Vorstellungs- und Wissensschatz. Und auf der andern Seite haben wir Menschen, die an einer so großen Vergeßlichkeit leiden, daß sie ganz ohnmächtig sind gegenüber den Vorstellungen, die in ihnen leben, um diese wirklich ins bewußte Leben wieder hinaufzubringen. Für den wirklichen Seelenkenner ist es nun etwas außerordentlich Wichtiges, wie rasch ein Mensch sich erinnert, wie rasch Vorstellungen, die ein Mensch erlebt hat, sich ergeben gegenüber den Kräften, die sie wieder hinauf-bringen wollen. Das ist für einen Seelenkenner ein Maßstab für etwas viel Tieferes in der menschlichen Wesenheit. Es weist ihn darauf hin, daß dieses Entferntsein von den eigenen Vorstellungen ein Ausdruck ist von innerer Gesundheit oder Krankheit. Und da Gesundheit und Krankheit in ihren Nuancen in den Extremen ineinander übergehen, so kann man sagen: Wir haben selbst in diesen intimen Kleinigkeiten für den Seelenkenner einen tiefen Hinweis gegeben bis in die Leiblich­keit hinein in bezug auf die Konstitution eines Menschen. Aus der Art und Weise, wie eine Seele mit den Vorstellungen zu kämpfen hat, um sie wieder in die Erinnerung hinaufzurufen, wird der Seelen-kenner sogar in die Möglichkeit versetzt sein, schließen zu können , wo es sozusagen dem betreffenden Menschen fehlt. Wir blicken gleich­sam durch die Seele hindurch auf etwas, was noch etwas anderes ist als Seele, wenn wir dieses Seelenerlehnis des Kampfes mit der eigenen Vorstellungswelt erkennen .

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Aber noch in einer andern Weise können Sie sich ein Bild davon machen, wie die Vorstellungen tatsächlich ein eigenes Leben in unse­rer Seele führen. Die Vorstellungen, die wir in irgendeinem Lebens-alter haben, sind etwas in ihrer Gesamtheit, über das wir nicht ganz Herr sind, dem wir hingegeben sind. Und wir können uns an gewis­sen Erlebnissen eine Überzeugung dafür verschaffen, daß es so ist. Ob wir zum Beispiel einen Menschen, der zu uns spricht, verstehen oder nicht verstehen, hängt ja von uns, von unserem Seelenleben ab. Sie werden mich verstehen, wenn ich zu Ihnen in meinen verschiede­nen Vorträgen spreche. Wenn Sie aber jemanden, der nichts davon kennt, und wenn er noch so gebildet wäre in der heutigen Zeit-bildung, jetzt in diese Vorträge mitbringen würden, so würde er viel­leicht gar nichts verstehen. Warum ist das so? Weil Sie, vielleicht seit Jahren, andere Vorstellungen sich angeeignet haben ! Was den Vor­stellungen, die aus der heutigen Rede fließen, entgegenkommt, das sind jene Vorstellungen, welche Sie sich seit Jahren angeeignet haben. So sind es also Ihre Vorstellungen in der Seele, welche den neuen Vorstellungen entgegenkommen. Hier haben Sie sogar ein Beispiel dafür, daß der Mensch in der Willkür seines Seelenlebens eine äußerst geringe Macht hat. Es hilft gar nichts, irgend etwas verstehen zu wol­len, wenn man nicht die Vorstellungsmassen in sich hat, welche die­ses Verstehen möglich machen. Da kommt Vorstellung der Vorstel­lung entgegen. Und wenn Sie Ihr Seelenleben belauschen, werden Sie sogar bemerken können, daß Ihr Ich dabei eine äußerst geringe Rolle spielt. In dem Augenblick nämlich, wo Sie bei etwas zuhören, was Sie fesselt, haben Sie die beste Gelegenheit, Ihr Ich zu vergessen, und je mehr Sie zuhören, desto mehr haben Sie Gelegenheit, Ihr Ich zu ver­gessen. Versuchen Sie nur einmal, hinterher auf einen solchen Moment zurückzublicken, wo Sie so recht hingegeben waren an das, was Sie verstanden haben, dann werden Sie sich sagen müssen: Da war etwas in mir , wobei mein Ich nicht viel getan hat, wobei sich mein Ich ganz vergessen hat. - Man war wie hingegeben, wie selbst-verloren - sagt man dann. Und der Mensch ist immer wie selbstver­loren, wenn er etwas ganz besonders gut versteht. Da schalten Sie sogar Ihr Ich aus und setzen die Vorstellungsmasse, die Sie in sich

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haben, der andern Vorstellungsmasse entgegen, die in Ihre Seele her­einkommen soll. Und da gibt es etwas wie einen Kampf, nämlich Vorstellungen gegen Vorstellungen, und Sie selbst geben den Schau­platz ab für diesen Kampf von Vorstellungen, die schon da sind, gegenüber noch nicht vorhandenen Vorstellungen, die neu herein­kommen wollen.

Nun hängt im Seelenleben etwas ganz Bedeutsames davon ab, ob wir die Vorstellungen im Seelenleben haben, die notwendig sind, um etwas zu verstehen, oder ob wir sie nicht haben. Denken Sie, wir hören einer Sache zu, ohne daß wir die Vorstellungen haben, die not­wendig sind, um diese Sache zu verstehen. Wir hören, wie man im trivialen Leben sagt, unvorbereitet zu. Dann zeigt sich etwas sehr Merkwürdiges. In dem Augenblick, wo wir unvorbereitet zuhören und nicht verstehen können durch die Art des Seelenlebens, wie ich es jetzt eben charakterisiert habe, da tritt etwas wie von hinten an uns heran, tritt an uns heran wie ein Dämon. Was ist das? Es ist das im Seelenleben lebende Ich. Das zeigt sich so, daß es gleichsam wie von hinten uns überfällt. Solange wir hingegeben sein können, selbstver­loren sein können, meldet es sich nicht. In dem Augenblick aber meldet es sich, wo wir nicht verstehen können, nicht mitkönnen. Und wie meldet es sich da?

Wer das Seelenleben belauscht, wird bald bemerken, daß das, was da in das Seelenleben hineinspielt, etwas ist, was ihm Unbehagen machen wird. Da füllt sich die eigene Seele an mit etwas, was ihr Unbehagen macht. Halten wir uns das vor Augen, so dürfen wir sagen: Dieses Unbehagen zeigt uns ja, daß unser Seelenleben so geartet ist, daß die Vorstellungen, die wir schon haben, auf neue Vorstellungen wirken, die in uns eindringen wollen, aber durchaus nicht gleichgültig wir­ken, sondern so, daß sie gleichsam das eigene Seelenleben in Behagen, in ein innerlich In-sich-befriedigt-Sein bringen, oder aber in ein Un­behagen bringen. Da sehen wir wieder, wie der Mensch den Vorstel­lungen hingegeben ist. Und für den Seelenkenner liegt hier wieder etwas außerordentlich Wichtiges vor, wenn es auch nicht gleich brutal im Leben zutage tritt. Dieses Unbehagen, das sich gegenüber dem Nichtverstandenen in der Seele bildet, ist nun eine Kraft, die im

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Seelenleben so weiter wirkt, daß sie über dasselbe hinausgeht und etwas ergreift, was noch tiefer liegt in der menschlichen Natur. Es kann bis in die Leiblichkeit hinein schädigend wirken, was auf diese Weise aus dem Nichtverstehen, aus dem Unbehagen sich ergibt. Und es würde von einer großen Wichtigkeit sein, daß gerade bei feinen, bis in das Seelenleben hineinspielenden Gesundheits- oder Krank­heitsnuancen eines Menschen darauf Rücksicht genommen würde, ob er in seinem Leben viel in die Notwendigkeit versetzt ist, an Dinge heranzutreten, die er nicht versteht, oder ob er sein Seelenleben so verbringt, daß er allem mit Verständnis folgen kann. Das sind Dinge, die viel wichtiger sind, als man sie gewöhnlich im alltäglichen Leben nimmt. Aber gehen wir weiter.

Die Vorstellungen in uns, wurde gesagt, haben ein eigenes Leben; sie sind wie Wesen in unserem Innern. Sie können sich davon über­zeugen, wenn Sie sich noch etwas anderes vor die Seele halten. Er­innern Sie sich an diejenigen Momente Ihres Seelenlebens, wo die Außenwelt so war, daß, trotzdem Sie von dieser Außenwelt An­regungen empfangen wollten oder irgend etwas als Eindrücke haben wollten, um Erlebnisse zu haben, Ihnen diese Außenwelt nichts gab. Sie gab Ihnen einfach nichts. Sie ging an Ihnen vorbei, ohne daß Sie von ihr Eindrücke empfingen. Da erleben Sie wieder etwas in der Seele, nämlich das, was man gewöhnlich die Langeweile nennt. Bei der Langeweile ist es im Seelenleben so, daß die Seele ein Begehren entwickelt, nach Eindrücken verlangt, und diesem Begehren ist sie hingegeben. Aber diesem Begehren wird nicht entsprochen, es bleibt unbefriedigt. Woher kommt denn die Langeweile?

Wenn Sie ein wirklich guter Beobachter natürlicher Dinge sind, werden Sie eine allerdings oftmals nicht gemachte, aber trotzdem sich aufdrängende Beobachtung machen können: daß sich nämlich im Grunde genommen nur der Mensch langweilen kann. Tiere lang­weilen sich nie. Und der ist ein schlechter Beobachter, der glaubt, daß Tiere sich langweilen. Sie können sogar Merkwürdiges im Sich-Langweilen der Menschen wahrnehmen. Wenn Sie Menschen mit einem einfachen, primitiven Seelenleben betrachten, so langweilen sich diese im Grunde genommen viel weniger als Menschen mit einem

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komplizierteren Seelenleben in den gebildeteren Ständen und Klassen. Wer in der Welt herumgeht und Beobachtungen zu machen versteht, der wird sehen, wie viel weniger man sich langweilt auf dem Lande als in der Stadt. Das heißt, Sie müssen natürlich nicht darauf sehen, wie sich die Stadtmenschen auf dem Lande langweilen, sondern wie sich die Landmenschen auf dem Lande langweilen. Sie müßten da auf das Seelenleben blicken, wie es bedingt ist durch die kompliziertere Natur der Bildung. Also schon bei den Menschen ist ein Unterschied in bezug auf sich langweilen oder sich nicht langweilen.

Die Langeweile ist auch nicht etwas, was so ohne weiteres aus unse­rem Seelenleben kommt. Wodurch langweilen wir uns? Durch das eigene Leben der Vorstellungen ! Was da begehrt, neue Eindrücke zu haben, das sind unsere alten Vorstellungen. Die wollen neu befruch­tet sein, wollen neue Eindrücke haben. Daher haben die Menschen so wenig Gewalt über die Langeweile: es sind die Vorstellungen, die wir im vergangenen Leben in uns aufgenommen haben und die ein eigenes Leben in der Seele entwickeln, die nach neuen Anregungen verlangen. Begierden entwickeln sie. Und wenn diese Begierden nicht befriedigt werden, so drückt sich das unbefriedigte Begehren - also eine Eigenschaft, die wir im Seelenleben selber studieren müssen - im Seelenleben in der Langeweile aus. Daher hat der stumpfsinnige Mensch, der wenig Vorstellungen hat, auch weniger begierdevolle Vorstellungen, und je weniger er Begierden nach neuen Eindrücken entwickeln kann, desto weniger langweilt er sich. Nur dürfen Sie dar­aus nicht den Schluß ziehen, daß es der Ausdruck eines hochent­wickelten Menschen ist, wenn er sich ewig langweilt. Die Menschen, die ewig gähnen, sind auch nicht die, die es zur höchsten Entwicke­lung ihres Seelenlebens gebracht haben, obwohl sie es höher gebracht haben als die, welche sich gar nicht langweilen können, weil sie wenig Vorstellungen in sich haben. Es gibt nämlich eine Art Kur gegen die Langeweile, und bei einem Weitergehen der Seelenentwickelung wird wieder die Langeweile nicht möglich.

Warum langweilt sich das Tier nicht? Wenn es die Tore der Sinne gegenüber der Umwelt geöffnet hat, hat es fortwährend Eindrücke von der Außenwelt. Und nun denken Sie sich diese Eindrücke: es

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fließt das innere Seelenleben dahin und bekommt Anregungen. Was aaßen fließt als fortlaufender Weltenprozeß und was im Innern des Tieres fließt, das fließt eigentlich gleichzeitig, das hält das gleiche Zeitmaß ein. Das Tier ist mit einem Eindruck dann fertig, wenn ein neuer herankommt, und nun ist es wiederum diesem hingegeben. Da ist ein Gleichmaß vorhanden. Das ist nun der Vorzug des Menschen gegenüber dem Tier, daß er ein anderes Zeitmaß bei sich einführen kann. In der Aufeinanderfolge der Vorstellungen seines Seelenlebens kann er ein anderes Zeitmaß haben als das, was draußen im Welten-prozesse vor sich geht. Daher kann es beim Menschen so sein, daß er etwas vor sich hat, was ihm oft Eindruck gemacht hat, an dem er oft vorübergegangen ist; dann aber verschiießt er sich vor dem Ein­druck. Er schließt gleichsam den äußeren Gang der Ereignisse zu, den Gang der Zeit; er folgt ihm nicht. In seinem Innern aber vergeht die Zeit auch. Aber weil sie jetzt keine äußeren Eindrücke hat, bleibt sie unausgefüllt. Solange der Mensch nun die Vorstellungen des ver­gangenen Lebens in sich hat, so lange wirken diese Vorstellungen hinein in die Zeit, die er leer läßt, und wirken so in der Seele zunächst weiter. Und so kann nun folgendes eintreten.

Denken Sie sich noch einmal das seelische Erleben des Tieres, das parallel geht dem äußeren Zeirverlauf (siehe Zeichnung). Da verläuft

# Bild s. 143

dieses innere Seelenleben des Tieres so, daß es hingegeben ist dem äußeren Zeitverlauf oder auch den Wahrnehmungen des eigenen Lei­bes. Denn auch wenn die Tiere zum Beispiel verdauen, geben die Vor­stellungen, die von innen aufsteigen, eine innere Anregung. Und das ist etwas außerordentlich Interessantes für das Tier. Beim Tier wirkt der äußere Zeitverlauf so, daß er eine fortwährende Anregung bietet gegenüber dem Inneren. Man könnte sagen: Für das Tier ist jeder

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Moment in seinem Leben interessant. - Nicht so beim Menschen. Es können die äußeren Gegenstände aufhören, für ihn Interesse zu haben. Die Dinge interessieren ihn nicht mehr. Aber der äußere Zeit-verlauf geht doch weiter ! Stellen Sie sich also das innere Seelenleben des Menschen vor und dazu den äußeren Zeitverlauf:

# Bild s. 144

Es kommen an das Seelenleben des Menschen heran die äußeren Ein­drücke; die hat der Mensch unzählige Male erlebt, und deshalb inter­essieren sie ihn nicht mehr. Dann hört das innere Seelenleben auf, und da auch die Zeit fortfließt mit dem Seelenleben, so bleibt die Zeit leer und der Mensch langweilt sich. Wegen der unausgefüllten Zeit also kann sich der Mensch langweilen. Aber was wirkt da in die unaus­gefüllte Zeit doch hinein? Die früheren Vorstellungen, die ein Be­gehren jetzt haben, aber nichts bekommen. Während wir also in der einen Richtung fortwährend Reize haben beim Tier, haben wir beim Menschen in der Zeitrichtung von der Vergangenheit in die Zukunft hinein ein Begehren nach Eindrücken, weil die Vorstellungen selber nach neuem Inhalt, nach neuen Bereicherungen verlangen. Das ist der Vorzug des Menschen vor dem Tier, daß seine Vorstellungen von früher fortleben und ein eigenes Leben in die Zukunft hinein ent­wickeln. Auf Dinge, die dabei täuschen könnten, werde ich noch hinweisen.

Es gibt aber eine Kur gegen die Langeweile, die etwa in folgendem besteht. In den Vorstellungen, die fortfließen, lebt nicht nur ein Be­gehren, sondern auch ein Inhalt, so daß sie nicht nur als Begehrungen, sondern auch als ein Inhalt in der Seele weiterleben. Daher können wir selber Vorstellungen aus der Vergangenheit in die Zukunft hin-eintragen. Und das ist dann wieder die höhere Seelenentwickelung,

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wenn die Vorstellungen selber uns aus der Vergangenheit etwas her­eintragen. Und es ist ein großer Unterschied, ob der Mensch etwas hat an seinen Vorstellungen, was ihn interessieren kann und was sein künftiges Seelenleben ausfüllen kann, oder ob er nichts in sich hat. So kann sich der Mensch von einer gewissen Stufe an langweilen. Aber wenn er sich mit inhaltsvollen Vorstellungen erfüllt, können diese auch wiederum in die Zukunft hinein wirken. Das gibt dann den Unterschied zwischen solchen Menschen, die imstande sind, ihre Langeweile selber zu kurieren, und denjenigen, welche dazu nicht imstande sind. Das weist hin auf ein selbständiges Leben unserer Vor­stellungen in uns, auf ein Leben, das wir, wie sich klar herausgestellt hat, nicht in unserer Macht haben, sondern dem wir hingegeben sind. Wenn wir nicht dafür sorgen, daß unsere Vorstellungen inhaltsvoll sind, müssen wir uns langweilen. Nur durch inhaltsvolle Vorstellun­gen können wir uns vor der Langeweile schützen.

Das ist wieder etwas außerordentlich Bedeutsames für den Seelen-kenner. Denn das normale menschliche Leben verlangt nämlich, daß ein gewisses Maß gehalten werde zwischen der Erfüllung des Seelen­lebens und dem äußeren Leben überhaupt. Und eine inhaltsleere Seele, die trotzdem in der Zeit weiterlebt - denn die Zeit wartet ja nicht -, das heißt, eine sich langweilende Seele ist ein Gift auch in einer ge­wissen Beziehung für die Leiblichkeit. Viel Langeweile haben im Leben ist eine wirkliche Krankheitsursache. Es ist im Grunde ge­nommen gar keine schlechte Empfindung, wenn von einer «töten-den» Langeweile gesprochen wird, wenn naan auch nicht gleich daran stirbt. Aber es ist Langeweile etwas, was tatsächlich als psychisches Gift wirkt. Und es wirkt weit über den Bereich des Seelenlebens hinaus .

So haben Sie schon heute mancherlei aufnehmen müssen, von dem Sie vielleicht die Empfindung haben werden, daß es noch immer fast pedantisch klingende Ausführungen waren. Aber wir werden dadurch doch immer mehr in das wirkliche Seelenleben hineinkommen. Feine Unterschiede sind notwendig, wenn wir dieses wunderbare Drama in der Seele kennenlernen wollen mit dem Helden in der Mitte, mit dem Ich. Es ist in uns allen nämlich ein Jemand verborgen, der im Grunde

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genommen weiser ist, als wir selber gewöhnlich im Leben sind. Und wenn dieser Jemand in unserem Seelenleben nicht weiser wäre, als wir selber sind, dann wäre es eigentlich schlimm im Menschenleben.

Wie nun der einzelne Mensch sich darlebt, ist es in der Tat so, daß er sich den kuriosesten Vorstellungen hingibt über das, was Seele ist, was Geist ist, was Leib ist und dergleichen. Diese Dinge werden in der buntesten Weise durcheinandergeworfen. Und besonders inter­essant ist folgendes. Während man in alten Zeiten, als auch noch die äußere Wissenschaft mehr auf Heilsehertum beruhte, richtig unter­schieden hat, inwiefern der Mensch hineingestellt ist in ein leibliches, in ein seelisches und in ein geistiges Leben, hat sich ein Kirchenkonzil in verhältnismäßig früher Zeit gezwungen gefühlt, den Geist abzu­schaffen, und da wurde ein für allemal das Dogma aufgestellt: Der Mensch besteht aus Leib und Seele. - Ja, der Geist ist wirklich ab­geschafft worden. Und wenn Sie die Dogmatik der christlichen Kirche kennenlernen würden, so würden Sie einen Einblick bekommen in das, was da gespielt hat infolge der Abschaffung des Geistes. Natür­lich sind einige daraufgekommen, daß doch etwas da sei, demgegen­über man als von «Geist» reden müsse. Aber das waren die gewaltig­sten Ketzer. Wo man nicht ausreichte mit Leib und Seele und den Geist einführte als ein drittes, da war man ein gewaltiger Ketzer. Das beruht nur auf einer Unsicherheit, die man hatte gegenüber der ab­soluten Berechtigung, von Leib, Seele und Geist zu sprechen. Und in dem Augenblick, wo man aufhört von Leib, Seele und Geist zu sprechen, wirft man alles durcheinander. Aber die Menschen sind schon so, daß sie alles durcheinanderwerfen. Und wenn man nicht mehr recht weiß, was Geist ist und was Seele ist, dann kann etwas anderes dahinter verschwinden. So ist in der Tat ein freier Ausblick auf das Geistesleben verschwunden.

Aber wenn auch die Menschen schon immer wieder in den Fehler der mangelhaften Unterscheidung verfallen, so können wir doch sagen, daß etwas wie ein guter Geist über dem Menschen wacht, und daß der Mensch doch ein ganz dunkles Gefühl hat von der Wahrheit. Ein solches dunkles Gefühl von der Wahrheit kann der Mensch da­durch haben, daß in seiner Umgebung so etwas wirkt wie der Geist

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der Sprache. Die Sprache ist wirklich gescheiter als die Menschen. Die Menschen ruinieren ja viel an der Sprache, aber es läßt sich doch nicht alles ruinieren. Die Sprache ist korrekter und vernünftiger als der einzelne Mensch. Daher ist die Sprache auch so, daß sie in den Reizen und Eindrücken, die sie auf die menschliche Seele ausübt, zu­weilen recht richtig wirkt, während der Mensch, wenn er mit seinen Urteilen dazukommt, Fehler macht. Und nun möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie der Mensch, wenn er der Sprache hin­gegeben ist, doch Richtiges fühlt und empfindet.

Denken Sie, Sie stünden erstens einem Baum, zweitens einer Glocke und drittens einem Menschen gegenüber. Und aus demjenigen, was Ihnen die Außenwelt sagt, also aus den unmittelbaren Sinneseindrük­ken, fangen Sie nun an zu urteilen, das heißt, Sie bringen Ihr Seelen-leben in Regsamkeit. Urteilen ist etwas, was in der Seele vorgeht. Sie urteilen also dem Baum, dann der Glocke und dann dem Menschen gegenüber. Blicken Sie auf den Baum hin: er ist grün. Was da Ihr Urteil ergibt, drücken Sie aus, dem Genius der Sprache gemäß, indem Sie sagen: Der Baum ist grün. - Nehmen wir an, jetzt wollen Sie etwas an der Glocke ausdrücken, was aus den Sinneseindrücken folgt, nämlich daß die Glocke tönt, einen Ton gibt. Da werden Sie in dem Augenblick, wo die Glocke tönt, Ihre Wahrnehmung ausdrücken mit dem Sprachurteil: Die Glocke tönt. - So haben Sie die Grünheit des Baumes ausgedrückt, indem Sie sagen: Der Baum ist grün -, und was Sie an der Glocke erleben, drücken Sie aus, indem Sie sagen: Die Glocke tönt. - Jetzt gehen wir zum Menschen: der Mensch redet, spricht. Sie drücken dies aus, indem Sie Ihre äußere Wahrnehmung in die Worte kleiden: Der Mensch spricht. - Jetzt betrachten wir die drei Urteile, die gefällt worden sind, und was auf diese drei Arten ent­standen ist: Der Baum ist grün - Die Glocke tönt - Der Mensch spricht. - In allen drei Fällen haben Sie es, wenn ich so sagen darf, mit Sinneseindrücken zu tun. Aber Sie werden fühlen, daß in allen drei Fällen die Sinneseindrücke, wenn ich sie vergleiche mit dem sprach­lichen Urteil, sich als etwas ganz Verschiedenes ergeben. Da müssen Sie allerdings, wenn Sie das erste Urteil: Der Baum ist grün - in Be­tracht ziehen, daran denken, was drücke ich denn damit aus? Ich

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drücke im Grunde genommen damit etwas aus, was sich durch die Urteilsform auf den Raum beziehen muß. Wenn ich sage: Der Baum ist grün -, drücke ich etwas aus, was sich auf den Raum beziehen muß, etwas, was jetzt so ist, nach drei Stunden wieder so ist, nach sechs Stunden wieder so und so weiter. Es ist etwas Bleibendes. Nehmen Sie das andere Urteil: Die Glocke tönt. - Drücken Sie da auch etwas aus, was im Raume drinnensteht? Nein. Da drücken Sie etwas aus, was gar nicht im Raum drinnensteht, sondern was in der Zeit ver­läuft, etwas, was ein Werden ist, was im Flusse ist. Daher können Sie -weil der Genius der Sprache sehr gescheit ist - auch niemals in gleicher Weise sprechen von etwas, was in den Raum hineingestellt ist, wie von etwas, was in der Zeit verläuft. Für das, was sich auf das Urteil bezieht, insofern der Baum in den Raum hineingestellt ist, läßt Sie die Sprache kein richtiges Zeitwort unmittelbar gebrauchen. Sie müssen ein Hilfszeitwort zu Hilfe nehmen, etwas, was Ihnen hilft, sprachlich in der Zeit zu leben, und müssen sagen: Der Baum ist grün. - Aber Sie dürfen ein Zeitwort gebrauchen vielleicht für ein ganz ähnliches Faktum; wenn Sie nämlich etwas anderes im Auge haben, können Sie vielleicht so etwas sagen wie: Der Baum grünt. - Aber ich bitte Sie, sich zu fragen, ob Sie da nicht gerade an die Zeit appellieren? Wo Ihnen der Sprachgenius gestattet, in die Zeit überzugehen, müssen Sie übergehen in das, was in der Zeit verläuft, in das, was wird, in das Entstehen der Grünheit. In der Sprache wirkt tatsächlich ein Genius , ein wunderbarer Genius. Es ist zwar in ihr mancherlei durch den Menschen verdorben worden, aber in der Tat ist es so, daß uns die Sprache nicht gestattet, bei dem, was in den Raum hineingestellt ist, unmittelbar ein Zeitwort anzuwenden.

Und bei dem zweiten Urteil, wo wir einen Prozeß meinen , ein Werden, da können wir gar nicht mit «ist» ein Werdendes ausdrük-ken. Sie könnten es höchstens umschreiben: Die Glocke ist tönend -, und dadurch das Zeitwort selber zu etwas machen, was den ganzen Sinn in sich verkehrt. Wenn Sie so umschreiben, so verderben Sie die Sprache.

Nun das dritte Urteil: Der Mensch spricht. - Da drücken Sie die Sinneswahrnehmung aus mit dem Zeitworte «spricht». Aber überlegen

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Sie sich einmal, was für ein Unterschied besteht, wenn Sie das Urteil aussprechen: Die Glocke tönt, und: Der Mensch spricht. - In dem ersten Urteil ist damit etwas gesagt, worauf es ankommt, denn auf den Ton kommt es an. Aber wenn ich sage: Der Mensch spricht -, so ist damit etwas gesagt, worauf es gar nicht ankommt; sondern es kommt auf dasjenige an, was in dem «sprechen» gar nicht ausgedrückt ist , nämlich, was er sagt. Es kommt gar nicht auf den Sinnesreiz an -was in dem Zeitwort ausgedrückt ist -, sondern es kommt auf den Inhalt an, was mit dem Zeitwort ausgedrückt ist. Da machen Sie mit der Sprache halt vor dem Inhalt ! Warum machen Sie das eine Mal bei dem Urteil: Die Glocke tönt - nicht halt, und warum machen Sie das andere Mal mit der Sprache halt vor dem Inhalt? Warum bleiben Sie gleichsam stehen vor dem, worauf es ankommt? Weil Sie im letzteren Falle der lebendigen Seele unmittelbar gegenübertreten wollen ! Sie gehen auf den Inhalt nicht ein mit dem Wort, das Ihnen der Sprach-genius erlaubt, das heißt, Sie charakterisieren das, was Ihnen gegen­übersteht, als ein Äußeres. Das Innerliche der Glocke nehmen Sie in das Wort herein; da haben Sie das metaltische Innere in dem Worte «tönen». Wo Sie aber vor dem lebendigen Menschen mit seiner seeli­schen Innerlichkeit stehen, hüten Sie sich schon durch die Sprache davor, die Innerlichkeit in das Wort hereinzunehmen.

Da haben Sie im Genius der Sprache greifbar den Unterschied zwi­schen dem, was auf den Ort sich bezieht, auf den Raum, und was auf einen Prozeß sich bezieht, auf das Werden, und zwischen demjenigen, was sich bezieht auf das seelisch Innerliche. Wenn wir dieses von außen beschreiben, machen wir in der Sprache wie in scheuer Ehr­furcht halt vor dem Inneren, vor dem, worauf es ankommt. Wir er­kennen also an, indem wir sprechen, das seelisch Innerliche. Und wir werden nun im Verlauf der weiteren Vorträge sehen, daß es in der Tat wichtig ist, wieder zu einer bestimmten Empfindung zu erheben, daß wir Seelisches als ein sich ringsherum Begrenzendes auffassen, als ein bis an seine Grenzen hin von innen Herauswogendes und an seine Grenzen Aufbrandendes . Und wenn wir es bezeichnen von außen, sind wir durch den Genius der Sprache gezwungen, vor der Inner­lichkeit selbst in einer gewissen Weise halt zu machen. Das ist wichtig,

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daß Sie, man möchte sagen, die Seele in ihrer wahren Wesenheit er-kennen lernen als eine Art Binnengebilde, als Innengebilde, und sich klarmachen, daß das, was von außen kommen muß, aufschlägt an ein im Innern sich Wehrendes. Daher haben wir uns die Seele vorzustel­len wie einen Kreis, an den von allen Seiten herankommen die Sinnes-erlebnisse, und innerlich brandet und wogt das innere Seelenleben.

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Aber das hat sich uns heute gezeigt: daß dieses Seelenleben nicht innerlich unabhängig ist, sondern daß es innerlich erlebt das eigene Leben der Vorstellungen, der Vorstellungsmassen. Die in das Innen­leben hereingezogenen Vorstellungen führen ein Dasein in der Zeit.

Es wird sich in den nächsten Tagen nun zeigen, wie dieses Leben der Vorstellungen, das in der Seele gegenüber der äußeren Welt ab­gegrenzt ist, Ursache ist unserer höchsten Glückseligkeit und unserer tiefsten Schmerzen, insoweit sie in der Seele ihren Ursprung haben. Und wir werden sehen, wie der Geist der große Heiler ist für das, was

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die Vorstellungen an Schmerzen und Leiden in unserer Seele hervor­rufen. Aber wir dürfen zugleich sagen: Wie es im äußeren Leibesleben so ist, daß Hunger gestillt werden muß, und wie die Stillung des Hungers gesundend ist, so ist es auch im inneren Seelenleben: Vor­stellungen verlangen in einer gewissen Weise eine innere Ernährung durch andere Vorstellungen. - Wenn wir uns aber überladen, wenn wir essen über den Hunger hinaus, so führt das zur Untergrabung der Gesundheit. Und daher spielt sich das Schicksal der Seele so ab, daß neu eintretende Vorstellungen gesundend und auch krankmachend wirken können. Und wir werden sehen, wie der Geist nicht nur ge­sundend wirken kann gegenüber dem Hunger an Vorstellungen, son­dern auch wirken kann als der Heiler gegenüber dem Überladen mit Vorstellungen.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 3. November 1910

Wir werden diesen Vortrag wiederum beginnen mit der Rezitation einer Dichtung, die dienen soll zur Illustration einigem Dinge, die ich heute und morgen werde auszuführen haben. Diesmal soll es sich ge­wissermaßen handeln um eine Dichtung eines Nicht-Dichters, die gegenüber der andern Geistesbetätigung det betreffenden Persönlich­keit erscheint wie ein gelegentlicher Abfall aus dieser Geistesbetätigung. Wir haben es also mit einer Seelenoffenbarung zu tun, die gewissermaßen nicht aus dem allerinnersten Impuls dieser Seele her­vorgegangen ist. Und gerade an dieser Tatsache wird es uns dann möglich sein, innerhalb dieser Vorträge manches zum Thema gehörige besonders gut zu beobachten. Die Dichtung ist von dem deut­schen Philosophen Hege? und behandelt sein Verhältnis zu gewissen Einweihungsgeheimnis sen der Menschheit.

Eleusis

An Hölderlin

Um mich, in mir wohnt Ruhe. Det geschäft'gen Menschen

Nie müde Sorge schläft. Sie geben Freiheit

Und Muße mir. Dank dir, du meine

Befmeierin, o Nacht! - Mit weißem Nebelfior

Umzieht det Mond die ungewissen Grenzen

Der fernen Hügel. Freundlich blinkt

Det helle Streif des Sees herüber.

Des Tags langweil'gen Lärmen fetnt Erinnerung,

Als lägen Jahre zwischen ihm und jetzt.

Dein Bild, Geliebter, tritt vor mich,

Und det entfloh'nen Tage Lust. Doch bald weicht sie

Des Wiedersehens süßetn Hoffnungen.

Schon malt sich mir det langersehnten, feurigen

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Umarmung Szene; dann det Fragen, des geheimern,

Des wechselseitigen Ausspähens Szene,

Was hier an Haltung, Ausdruck, Sinnesart am Freund

Sich seit det Zeit geändert; - det Gewißheit Wonne,

Des alten Bundes Treue, fester, reifer noch zu finden,

Des Bundes, den kein Eid besiegelte:

Der freien Wahrheit nur zu ?eben,

Frieden mit der Satzung,

Die Meinung und Empfindung rege?t, nie, nie einzugebn!

Nun unterhandelt mit det trägern Wirklichkeit det Wunsch,

Det über Berge, Flüsse leicht mich zu dir trug.

Doch ihren Zwist verkündet bald ein Seufzer und mit ihm

Entflieht det süßen Phantasien Traum.

Mein Aug' erhebt sich zu des ew'gen Himmels Wölbung,

Zu dir, o glämzendes Gestirn det Nacht!

Und aller Wünsche, aller Hoffnungen

Vergessen strömt aus deinem Ewigkeit herab.

Det Sinn verliert sich in dem Anschau'n,

Was mein ich nannte, schwindet.

Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin.

Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es.

Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet,

Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend faßt

Er dieses Anschauns Tiefe nicht.

Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige,

Vermählt es mit Gestalt. - Willkommen, ihr,

Erhab'ne Geister, hohe Schatten,

Von deren Stirne die Vollendung strahlt!

Erschrecket nicht. Ich fühl', es ist auch meine Heimat,

Det Glamz, det Ernst, det euch umfließt.

Ha! Sprängen jetzt die Pforten deines Heiligtums,

0 Ceres, die du in Eleusis throntest!

Begeist'rungtrunken fühlt' ich jetzt

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Die Schauer deiner Nähe,

Verstände deine Offenbarungen,

Ich deutete det Bilder hohen Sinn, vernähme

Die Hymnen bei der Götter Mahle,

Die hohen Sprüche ihres Rats.

Doch deine Hallen sind verstummt, o Göttin!

Geflohen ist det Götter Kreis in den Olymp

Zurück von den entheiligten Altären,

Gefloh'n von det entweihten Menschheit Grab

Det Unschuld Genius, der her sie zauberte.

Die Weisheit deiner Priester schweigt.

Kein Ton det heil'gen Weih'n

Hat sich zu uns gerettet, und vergebens sucht

Det Forscher Neugier mehr, als Liebe

Zur Weisheit. Sie besitzen die Suchem und verachten dich.

Um sie zu meistern, graben sie nach Worten,

In die dein hoher Sinn gepräget war .

Vergebens! Etwa Staub und Asche nur erhaschen sie,

Worein dein Leben ihnen ewig nimmer wiederkehrt.

Doch unter Modem und Entseeltem auch gefielen sich

Die Ewigtoten, die Genügsamen! - Umsonst, es blieb

Kein Zeichen deiner Feste, keines Bildes Spur.

Dem Sohn det Weihe war det hohen Lehren Fülle,

Des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel zu heilig,

Als daß er ttock'ne Zeichen ihrer würdigte.

Schon det Gedanke faßt die Seele nicht,

Die, außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit

Versunken, sich vergißt und wieder zum Bewußtsein nun

Erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte,

Spräch' er mit Engelzungen, fühlt der Worte Armut.

Ihm graut, das Heilige so klein gedacht,

Durch sie so klein gemacht zu haben, daß die Red' ihm Sünde

Und daß er bebend sich den Mund verschließt. [deucht,

Was det Geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises

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Gesetz den ärmern Geistern, das nicht kund zu tun,

Was sie in heil'get Nacht gesehn, gehört, gefühlt,

Daß nicht den Bessern selbst auch ihres Unfugs Lärm

In seiner Andacht stört', ihr hohler Wörterkram

Ihn auf das Heil'ge selbst erzürnen machte, dieses nicht

So in den Kot getreten würde, daß man dem

Gedächtnis gar es anvertraute, daß es nicht

Zum Spielzeug und zur Ware des Sophisten,

Die er obolenweis verkaufte,

Zu des beredten Heuchlers Mantel, oder gar

Zur Rute schon des frohen Knaben, und so leer

Am Ende würde, daß es nur im Widerhall

Von fremden Zungen seines Lebens Wurzel hätte.

Es trugen geizig deine Söhne, Göttin,

Nicht deine Ehm' auf Gaß' und Markt, verwahrten sie

Im innern Heiligtum det Brust.

Drum lebtest du auf ihrem Munde nicht.

Ihr Leben ehrte dich. In ihren Taten lebst du noch.

Auch diese Nacht vernahm ich, heil'ge Gottheit, Dich.

Dich offenbart oft mir auch deiner Kinder Leben,

Dich ahn' ich oft als Seele ihrer Taten!

Du bist det hohe Sinn, det treue Glauben,

Det einer Gottheit, wenn auch alles untergeht, nicht wankt.

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Wenn wir an die Behauptung der beiden letzten Vorträge denken, daß das Seelenieben, wenn wir es überblicken, uns bis an seine Gren­zen hin im wesentlichen seine beiden Elemente zeige, das Urteilen und die Erlebnisse von Liebe und Haß, die mit dem Begehren zusammen­hängen, so könnte es scheinen, als ob mit dieser Behauptung gerade das Allerwichtigste des Seelenlebens außer acht gelassen wäre, wo­durch sich die Seele so recht in ihrer Innerlichkeit erlebt: das Gefühl, das Fühlen. So könnte es jemandem beikommen zu sagen, es sei in diesen Vorträgen das Seelenieben gerade durch das charakterisiert worden, was ihm gewissermaßen nicht eigentümlich ist, und es sei zunächst keine Rücksicht auf das genommen worden, was im Seelenleben hin und her, auf und ab wogt als Gefühl und ihm seinen je­weiligen Charakter gibt.

Wir werden nun sehen, daß wir allerdings das Dramatische des Seelenlebens, das wir gestern versuchten hervorzuheben, werden ver­stehen können, wenn wir uns dem Gefühle dadurch nähern, daß wir von den beiden charakterisierten Elementen des Seelenlebens aus­gehen. Da müssen wir zunächst wieder bei einfachen Tatsachen des Seelenlebens beginnen. Und die einfachsten Tatsachen des Seelen­lebens wurden ja schon öfter genannt. Es sind die durch die Tore unserer Sinne gewonnenen Sinneserlebnisse, die hereindringen in unser Seelenleben und in demselben dann weiter ihr Dasein haben. Vergleichen Sie einmal diese Tatsache, daß sozusagen das Seelenleben seine Wogen hin schlägt bis zu den Toren der Sinne und von diesen Toren der Sinne zurücknimmt in sich selber die Erlebnisse der Sinneswahrnehmungen, die dann selbständig weiterleben innerhalb des Seelenlebens, vergleichen Sie diese Tatsache mit der andern, daß alles, was sich zusammenfassen läßt in den Erlebnissen von Liebe und Haß, die aus den Begehrungen kommen, aufsteigt wie aus dem inneren Seelenleben selber. Wie aus einem Mittelpunkt des Seelen­lebens steigen zunächst für die bloße Seelenbeobachtung die Be­gehrungen anf, und diese Begehrungen sind es ja, die, selbst für eine oberflächliche Betrachtung, in der Seele zu den Erlebnissen von Liebe und Haß führen. Aber wir würden fehl gehen, wenn wir die Begeh­rungen etwa selber zunächst in der Seele suchen wollten. Für die

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Seelenbeobachtung sind diese Begehrungen nicht in der Seele selbst zu suchen. Da würden sie nicht gefunden werden können. Wenn Sie nur eine allseitige Seelenbeobachtung dagegen nehmen, so werden Sie finden, wenn Sie Ihr Seelenleben betrachten, wie die Begehrungen aufsteigen gegenüber der Außenwelt, und wie nun in der Seele selber hervorquellen Liebe und Haß, die Ausdrücke des Begehrens. So können wir sagen, daß weitaus der größte Umfang der seelischen Erlebnisse, soweit es sich um Vorstellungen handelt, gewonnen wird an den Grenzen des Seelenlebens durch die Tore der Sinne. Das­jenige dagegen, was im Seelischen sich als Begehren auslebt, als Liebe und Haß, das steigt aus dem Mittelpunkt der Seele au£

Nun werden wir uns am besten verständigen können, wenn wir in eine Art graphisches Bild bringen, was wir so als eine Tatsache er­kennen. Da werden wir dieses Seelenleben, das von uns in seiner Innerlichkeit zunächst betrachtet werden soll, gut charakterisieren können, wenn wir es als das Innere eines Kreises betrachten, das uns den Inhalt unseres vielgestaltigen Seelenlebens repräsentieren soll. Denken wir uns nun die Sinnesorgane wirk'ich wie Tore, als die wir sie auch zu betrachten haben. Das können Sie auch aus den Vorträgen über Anthroposophie entnehmen. Jetzt genügt es, daß wir sie als

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Tore, wie Öffnungen nach der Außenwelt hin betrachten. Wenn wir nun das Innere des Seelenlebens graphisch darstellen wollten, könnten wir nichts Besseres tun, als aus dem Mittelpunkt dieses Seelenlebens wie hervorquellen zu lassen allseitig in das Seelenleben hinein die Flut der Begehrungen, die sich ausleben in den Phänomenen von Liebe und Haß. So würden wir gleichsam unsere Seele ganz angefüllt haben mit Begehrungen und würden bis zu den Toren der Sinne die Flut der Begehmungen hinbrandend finden.

Was wird nun da zustande kommen, wo ein Sinnesemlebnis eintritt, zum Beispiel das des Tones durch das Gehörorgan oder das der Farbe durch das Gesichtsorgan? Die Außenwelt lassen wir zunächst in bezug auf ihren Inhalt unberücksichtigt und sagen: Nehmen wir auf dem einen Seite den Moment, in dem die sinnliche Wahrnehmung ge­schieht, diesem Wechselverkehr der Seele mit der Außenwelt. Ver­setzen wir uns lebendig in diesen Augenblick, wo die Seele, innerlich es erlebend, durch das Tor des Sinnesorganes an dem Außenwelt unmittelbar das Famb- oder Tonerlebnis hat. Jetzt denken Sie sich abgewendet von dem Sinneserlebnis, und denken Sie sich einmal, daß die Seele nun weitem in dem Zeit lebt und sich als Erinnerungsvorstel­lung das mitnimmt und behält, was sie sich gleichsam erobert hat an dem Sinneserlebnis. Das trägt also die Seele jetzt weiter.

Wir haben gesagt, wir müssen unterscheiden zwischen dem, was die Seele da weiterträgt als Erinnerungsvorstellung dem Sinneswahrnehmung und zwischen dem Sinneswahrnehmung selber; denn wenn man nicht ordentlich unterscheidet, kommt nicht Wahrheit heraus, sondern Schopenhauemianismus . Daher müssen wir unterscheiden das in der Seele als Erinnerungsvorstenllung fortdauernde Erleben und das in der Tätigkeit der Sinneswahrnehmung entstehende Erleben. Was ist geschehen in dem Augenblick, da die Seele durch das Tor der Sinneswahrnehmung ausgesetzt war dem Außenwelt?

Wie die Erfahrung unmittelbar ergibt, ist ja wirklich unsere Seele innerlich lebend in dem Flutenmeere der Begehrungen, der Phäno­mene von Liebe und Haß, in dem Umfange, wie ich es gestern und vorgestern charakterisiert habe. Und indem die Seele ihre eigenen Wogen bis zu den Toren der Sinne hinschlagen läßt, schlägt eben an

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das Tor der Sinne das Begehren an, und dieses Begehren berührt sich tatsächlich in dem Augenblick des Sinneserlebnisses mit der Außenwelt. Dieses Begehren ist es, das gleichsam von der andern Seite her einen Siegelabdruck erhält. Nehmen Sie ein Petschaft, auf dem der Name Müller steht, und drücken Sie es in Siegellack ab, dann bleibt der Name Müller in dem Siegellack zurück. Was ist in dem Siegelabdruck zurückgeblieben? Eine Prägung, durch das Petschaft verursacht. Sie können nicht sagen, was da hineingedrückt ist, stimme nicht überein mit dem, was die äußere Welt bewirkt hat! Das wäre wieder nicht unbefangene Beobachtung, sondern Kantianismus. In­sofern Sie bloß auf das äußere Materielle sehen wollen, ist es schon Kantianismus. Wenn Sie aber auf das sehen, worauf es ankommt, auf den Namen Müller in diesem Fall, und nicht auf das Messing, so müssen Sie sagen: In dem, was sich da entgegengestellt hat dem Sinneserlehnis, hat sich von außen eine Prägung hineingedrückt, ein Abdruck gebildet. Der wird mitgenommen. Geradeso wie Sie nicht das Petschaft mitnehmen, so nehmen Sie auch die Farbe oder den Ton nicht mit, aber Sie nehmen mit, was in der Seele als Prägung ent­standen ist. Was man Begehren, was man die Phänomene von Liebe und Haß nennen kann, das kommt den Sinneserlebnissen entgegen.

Kann man es denn so nennen? Ist denn wirklich, selbst bei dem bloßen Sinneserlebnis, etwas zu spüren von einem Phänomen von Liebe oder Haß? Gibt es etwas im unmittelbaren Sinneserlebnis, was wirklich wie eine Art von Begehren nach außen sich hindrängen muß? Wenn da nichts, was einem Begehren ähnlich oder gleichartig wäre, hindrängen würde zu dem Sinneserlebnis, so bekämen Sie es nicht mit im weiteren Seelenleben; dann bildete sich keine Erinne­rungsvorstellung. Es gibt aber eine Tatsache dafür, daß Begehren anschlägt nach außen, ob Sie nun Tonwahrnehmungen, Farbwahr­nehmungen, Geruchswahrnehmungen oder dergleichen haben, und diese Tatsache ist die Tatsache der Aufmerksamkeit. Ein Sinnes­erlebnis, auf das wir nur hinstieren, macht natürlich dann auch einen Eindruck auf uns nach den Gesetzen, die bestehen zwischen der Außenwelt und dem Sinnesorgan, aber der Eindruck, auf den Sie nur hinstieren, trägt sich nicht im Seelenleben weiter fort. Sie müssen ihm

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von innen entgegenkommen mit der Kraft der Aufmerksamkeit. Und je größer die Aufmerksamkeit ist, desto leichter trägt die Seele die Sinneserlebnisse als Erinnerungsvorstenllungen im weiteren Leben mit. So steht die Seele mit der Außenwelt so im Zusammenhang, daß gleichsam diese Seele das, was sie im Innern ist, substantiell, bis an die äußersten Grenzen ihres Wesens schlagen läßt, und das zeigt sich an den äußersten Grenzen ihres Wesens noch in der Tatsache der Auf­merksamkeit .

Das andere, was zum Seelenleben gehört, das Urteilen, wird gerade beim unmittelbaren Sinnesernlebnis ausgeschaltet. Da macht sich das Begehren, das Hingebende und Exponierende der Seele gegenüber den äußeren Eindrücken allein geltend. Ein Sinneseindruck ist gerade dadurch charakterisiert, daß die Aufmerksamkeit bei ihm so hingeordnet ist, daß die Urteilsfällung als solche ausgeschaltet wird. Wenn sich die Seele dem Rot oder irgendeinem Ton exponiert, lebt in diesem Exponieren nur Begehren, und die andere Seelentätigkeit, das Urteilen, wird in diesem Falle ausgeschaltet, unterdrückt. Nur muß man sich klar sein, daß man da ganz genau die Grenze ziehen muß, wenn man genau und nicht phantastisch betrachten will. Wenn Sie zum Beispiel eine rote Farbe gesehen haben und sagen: Rot ist - so haben Sie schon geurteilt; nur wenn Sie beim Farbeindruck stehen­bleiben, haben Sie es mit einer bloßen Korrespondenz der Seele mit der Außenwelt zu tun. Was entsteht nun bei det Wechselwirkung des Begehrungselementes mit der Außenwelt?

Wir haben ja, weil wir genau vorstellen wollen, unterschieden zwischen Sinneswahrnehmung und Sinnesempfindung und haben die Sinneswahrnehmung das Erlebnis genannt, das beim Exponieren den äußeren Eindrücken gegenüber durchgemacht wird, was erlebt wird während des Eindruckes, die Sinnesempfindung aber dasjenige, was da bleibt, was die Seele mitträgt. Daher können wir sagen: In dem, was wir mittragen, haben wir eine Modifikation des Begehrens. Die Aufmerksamkeit zeigt uns, daß Begehren da ist, und was bleibt, das entpuppt sich als Sinnesempfindung. Was in unserer Seele weiterlebt, ist daher modifiziertes Begehren als Empfindung. Wir tragen in der Tat das Wesen unserer eigenen Seele auch mit den Sinnesvorstellungen,

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mit den Sinnesempfindungen mit. Durch das, was da wogt und brandet durch unser ganzes Seelenwesen, durch die Begehrens­kraft in uns, entsteht die Sinnesempfindung.

Die Sinnesempfindung, haben wir gesehen, entsteht an der Grenze zwischen Seelenleben und Außenwelt, bei dem Tor der Sinne. Nehmen wir aber einmal an, die Begehrungskraft in uns ginge nicht bis an die Grenze des Seelenlebens, sie bliebe innerhalb desselben. Wenn wir von einem Sinneserlebnis sprechen, würden wir sagen, es dringe die Be­gehrungskraft bis an die Oberfläche der Seele. Denken wir uns aber nun, es würde sich eine Begehrung vorschieben, würde aber nicht bis an die Grenze des Seelenlebens kommen, sondern sie stumpfe sich gleichsam innerhalb des Seelenwesens ab, bliebe innerhalb desselben und griffe nicht vor bis zum Tore eines Sinnes. Was wäre in diesem Falle geschehen? Wir haben gesehen: Wenn die Begehrung vorstößt und genötigt ist, sich zurückzuziehen, so entsteht die Empfindung, die Sinnesempfindung. Die Sinnesempfindung entsteht nur dann, wenn das Zurückziehen durch einen Gegenschlag von außen bewirkt wird, also durch das, was det Sinn macht. Innere Empfindung ent­steht, wenn das Begehren nicht durch eine direkte Berührung mit det Außenwelt in sich zurückgeschoben wird, sondern innerhalb det Seele - ein Stück vor det Grenze irgendwie - zurückgeschlagen wird. Da entsteht die innere Empfindung, und diese ist das Gefühl. Gefühle sind daher für die Seelenbeobachtung modifiziertes Begehren. Ge­fühle sind gleichsam solche stehenbleibende, in sich selber sich zurück-schlagende Begehrungen, die nicht hinbrandend sind bis an die Grenze des Seelenlebens, sondern die innerhalb des Seelenlebens leben. So können wir sagen: Auch in den Gefühlen haben wir im wesentlichen dasjenige seelensubstantiell enthalten, was wir Begehren nennen. Wenn dies der Fall ist, sind Gefühle als solche nicht irgendwie etwas Neues im Seelenleben, wenn wir dessen Elemente betrachten, sondern Gefühle sind dann substantiell, real innerhalb des Seelenlebens selber sich abspielende Begehrungsvorgänge. (s. Zeichnung Seite 162.)

Diese Dinge, die wir jetzt gewonnen haben, wollen wir einmal fest­halten, und nun die beiden Elemente des Seelenlebens, Urteilen und die Erlebnisse von Liebe und Haß, die aus den Begehrungen stammen,

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einmal nach einer gewissen Seite hin charakterisieren. Wir können nämlich sagen: Alles, was als Urteilstätigkeit - und darauf kommt es ja an - sich in der Seele vollzieht, endet in einem gewissen Moment;

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aber auch was sich ans Begehrung abspielt, endet in einem gewissen Moment. - Die Urteinlstätigkeit der Seele endet da, wo die Entschei­dung zustande gekommen ist, wo wir sozusagen das Urteinl abgeschnlos­sen haben in einer Vorstellung, die wir dann als eine wahre mit uns weitertragen. Und fragen wir nach dem Ende der Begehrung, so finden wir die Befriedigung. So daß tatsächlich jede Begehrung in unserer Seele sozusagen nach Befriedigung strebt und jede Urteilstätigkeit nach Entscheidung. Wenn wir also gleichsam in unser Seelennleben hineinschauen, finden wir auf der einen Seite Urteilstätig­keit. Solange sie noch nicht zum Abschluß gekommen ist, drängt sie im Seelenleben zur Entscheidung. Und auf der andern Seite finden wir Begehrungen. Solange sie nicht ihre Befriedigung gefunden haben, drängen sie im lebendigen Seelenleben nach der Befriedigung. So können wir jetzt sagen: Weil unser Seelenleben aus den Elementen Urteilen und Begehren besteht, deshalb sind die wichtigsten Tat­sachen des Seelenlebens, die wir fortdauernd in jeder Seele finden

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müssen, weil jede Seele fortwährend diese Elemente in sich enthält, das Hinströmen der Seele zu Entscheidungen und zu Befriedigungen. Wenn wir also ein Seelenleben in seinem hinfließenden Strom be­trachten würden, würden wir es gewissermaßen erfüllt finden vom Streben zu Entscheidungen und vom Streben zu Befriedigungen. Das ist auch in der Tat der Fall.

Wenn Sie nun das Gefühlsleben des Menschen nach gewissen Seiten hin betrachten, werden Sie die Ursprünge einer großen Mannigfaltig­keit von Gefühlen leicht finden können, wenn Sie bedenken, daß das im Seenlenleben etwas herbeiführen muß, wenn fortwährend Stre­bungen nach Befriedigungen und nach Entscheidungen fortströmen. Betrachten Sie innerhalb des Gefühlslebens solche Erscheinungen, welche zum Beispiel fallen unter den Begriff der Ungeduld, unter den Begriff der Hoffnung, der Sehnsucht, des Zweifels, ja auch vielleicht der Verzweifelung, so haben Sie Anhaltspunkte, um etwas Reales, geistig Greifbares mit diesen Worten zu verbinden, wenn Sie sich sagen: Alles dies - Ungeduld, Hoffnung, Sehnsucht, Zweifel, Ver­zweifelung - sind verschiedene Arten, wie in der Seele der fortflie­ßende Strom sich äußert in dem Streben nach Entscheidungen der Urteilskräfte oder nach Befriedigungen der Begehrungskräfte. Ver­suchen Sie dies einmal real in dem Gefühl der Ungeduld zu fassen. Da werden Sie es lebendig spüren können, wie in der Ungeduld das Streben nach einer Befriedigung lebt. Da können Sie es fassen, wie in dem Gefühl der Ungeduld etwas lebt, was man nennen kann ein in dem Strom der Seele fortfließendes Begehren. Und das kann erst einen Abschluß finden, wenn es in die Befriedigung ausläuft. Urtellskräfte werden dabei kaum entfaltet. Oder nehmen Sie das Gefühl der Hoff­nung. In der Hoffnung werden Sie leicht erkennen können den fort­laufenden Strom des Begehrens, aber jenes Begehrens, das auf der andern Seite durchsetzt ist von dem andern Element des Seelenlebens, von dem, was wir genannt haben das Bewegen der Urteilskräfte nach der Entscheidung hin. Wer sich das Gefühl der Hoffnung analysiert, wird darin leicht diese zwei Elemente fließen sehen: das Begehren, das durchtränkt ist von dem Streben der Urteilstätigkeit nach der Entscheidung. Und weil gerade in diesem Gefühl diese zwei Elemente

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sich so das Gleichgewicht halten für das Seelenleben, sich absolut die Waage halten wie zwei gleiche Gewichte in den zwei Waageschalen, darum hat das Gefühl det Hoffnung das in sich Abgeschlossene. Es ist genau so viel Begehren nach Befriedigung da wie Aussicht auf günstige Entscheidung.

Nehmen Sie an, ein anderes Gefühl würde dadurch entstehen, daß ein Begehren da ist, das nach Erfüllung drängt; dieses Begehren wäre aber von einer Urteilstätigkeit durchsetzt in der Seele, die durch ihre eigene Stärke und Kraft keine Entscheidung herbeiführen könnte. Die Urteilstätigkeit wäre nicht fähig, eine Entscheidung herbei­zuführen. Das Begehren aber verbinde sich mit einer solchen Urteilstätigkeit, die keine Entscheidung herbeiführen kann. Da haben Sie das Gefühl des Zweifels.

So könnten wir im weiten Umkreis det Gefühle finden, daß zu­sammenspielen in merkwürdiger Weise Urteilstätigkeit und Begeh­rungen. Und wenn jemand die beiden Elemente in einem Gefühl noch nicht gefunden hat, so muß er weiter suchen. Er kann ganz sicher sein, daß er noch nicht weit genug gesucht hat.

Wenn wir die Bedeutung det Urteilstätigkeit für das Seelenleben als das eine Element nehmen, müssen wir sagen: Die Urteinlstätigkeit schließt ab in einer Vorstellung, und die Vorstellung hat nur dann im Leben eine Bedeutung, wenn sie eine wahre ist. Wahrheit hat ihren Grund in sich selber. Die Seele für sich selbst kann nicht entscheiden über die Wahrheit. Das muß jeder empfinden, wenn er das Seelenleben in seiner eigentümlichen Art vergleicht mit dem, was zuletzt in det Wahrheit von ihm erobert werden soll. Man braucht sich nur folgendes zu überlegen: Was wir für das Seenlenleben Urteilen nennen, ist etwas, was auch, mit einem andern Ausdruck, Überlegung genannt werden kann, und die Überlegung führt zuletzt zu dem, was wir uns als Urteil aus det Vorstellung bilden. Aber nicht dadurch, daß wir überlegen, wird die Entscheidung, das Urteil, richtig, sondern es wird richtig aus ganz andern, aus sachlichen Gründen, die herausgehoben sind aus der Willkür des Seelenlebens, so daß das Urteil, wonach die Seele in det Entscheidung strebt, außerhalb des Seelenelementes zu­stande kommt.

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Fragen wir nach dem andern Element, das wie aus unbekannten Untergründen, aus dem Mittelpunkt der Seele hereinquillt und sich im Seelenleben nach allen Seiten ausbreitet, fragen wir nach dem Ursprung des Begehrens, so finden wir es zunächst nicht im Seelenleben, sondern außerhalb desselben, so daß Begehrungen und Ent­scheidungen von außen hereinreichen in unser Seelenleben. Aber innerhalb des Seelenlebens spielt sich nun das ab, was das Ende det Begehrungen ist: die Befriedigung. Und innerhalb des Seelenlebens spielt sich gegenüber det Wahrheit, die ihren Grund außen hat, det Kampf um die Wahrheit, det Kampf bis zur Entscheidung ab. So sind wir in unserem Urteilen sozusagen Kämpfer, und so sind wir innerhalb unseres Seelenlebens gegenüber unseren Begehrungen Ge­nießer. Und es ist wichtig zu unterscheiden, daß vom Urteilen nur der Anfang dem Seelenleben angehörig ist; die Entscheidung führt uns über das Seelenleben hinaus. Beim Begehren ist es umgekehrt; da fällt nicht det Anfang, sondern das Ende, die Befriedigung, in das Seelenleben herein.

Prüfen wir einmal genauer, was da in das Seelenleben hereinfällt als die Befriedigung, und halten wir es zusammen mit dem, was wir vor­hin gesagt haben: die Empfindung sei im Grunde genommen ein Hinbranden des Begehrens bis an die Grenze des Seelenlebens, und das Gefühl sei etwas, was in det Mitte bleibe, wo das Begehren sich gleichsam in sich selber zurückstumpft. Was wird also an det Stelle sein, wo das Seelenleben in sich selber die Befriedigung, das Ende des Begehrens erlebt? Da wird das Gefühl sein. Daher können wir sagen:

Wenn innerhalb des Seelenbinnenlebens das Begehren sein Ende er­reicht in det Befriedigung, dann entsteht das Gefühl.

Das ist aber doch nur die eine Art von Gefühlen, wo das Begehren sein Ende erreicht inmitten des Seeleninnennlebens. Eine andere Art von Gefühlen entsteht auf eine noch andere Art, nämlich dadurch, daß in det Tat in den Untergründen des Seelenlebens Beziehungen bestehen zwischen dem seelischen Innenleben, gleichsam dem see­lischen Binnenleben, und det Außenwelt. Das drückt sich darin aus, daß sich unsere Begehrungen auf äußere Gegenstände richten. Aber sie reichen deshalb nicht überall - wie bei den Sinneswahrnehmungen -

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bis an die äußeren Gegenstände heran. Wenn wir die Farbe erkennen, reicht das Begehren bis an die Außenwelt heran. Aber aus dem Begeh-ren kann sich auch ein Gefühl entwickeln innerhalb des Seelenlebens, das doch einen Bezug hat zu einem äußeren Gegenstande. Das Be­gehren kann sich jedem Gegenstande gegenüber entwickeln, auch wenn es inmitten der Seele stehenbleibt. Es hat da doch einen Bezug zu dem Gegenstande wie in einer Fernwirkung, ähnlich wie eine Magnetnadel sich einstellt auf den Pol, ohne ihn zu erreichen. Daraus sehen wir: Begehrungen können sich im Seelenbinnenleben ab­schließen, auch wenn sie mit der Außenwelt in einer Beziehung stehen; so daß die Außenwelt auch mit dem Seelenleben ein Ver­hältnis hat, das nicht bis an die Grenze dieses Seeleniebens heran­prallt. Dann können diejenigen Gefühle entstehen, wo das Begehren dem Gegenstande gegenüber aufrecht bleibt, und wo es forthesteht gegenüber dem Gegenstande, auch wenn dieser nicht in der Lage ist, das Begehren zu befriedigen. Nehmen wir an, eine Seele naht sich einem Gegenstande, ein Begehren wird gegenüber dem Gegenstande erregt, der Gegenstand ist aber nicht in der Lage, dieses Begehren zu befriedigen: dann bleibt das Begehren aufrecht in der Seele und erlebt nicht die Befriedigung.

Betrachten Sie einmal diese Erscheinung ganz genau und ver­gleichen Sie sie mit einem Begehren, das innerhalb des Seelenlebens sein Ende erreicht. Es ist ein beträchtlicher Unterschied zwischen diesen zwei Begehrungen, wovon die eine in der Seele zu Ende ge­kommen ist, die andere nicht. Eine Begehrung, die in der Befriedi­gung geendet hat, die vom Seenlenleben so weitergetragen wird, daß sie gleichsam neutralisiert ist, wirkt innerhalb des Seelenlebens so, daß alles, was mit dem Seelenleben zusammenhängt, einen gesunden­den Einfluß erhält. Durch diejenige Begehrung aber, die unbefriedigt bleibt und nun in der Seele weitergetragen wird, weil sie der Gegen­stand nicht befriedigen konnte, erhält die Seele, nachdem der Gegen­stand weg ist, einen lebendigen Bezug - sozusagen zu nichts. Und die Folge ist, daß die Seele lebt in einer unbefriedigten Begierde als in einer nicht in der Realität begründeten inneren Tatsache. Dieses Faktum allein genügt, daß das Seelenieben auf das, womit es zusammenhängt,

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nämlich auf das Geist- und Leibesleben, durch die unbefriedigten Begierden einen ungünstigen Einfluß, einen krank­machenden Einfluß ausübt. Gefühle, die sich an befriedigte Begierden anschließen, sind daher für die unmittelbare Seelenbeobachtung sehr wohl zu unterscheiden von denjenigen, welche sozusagen von stehen-bleibenden Begierden sich bilden. Wenn die Dinge grob auftreten, sind sie ja leicht zu unterscheiden. Wenn sie aber feiner auftreten, glaubt der Mensch gewöhnlich nicht, daß er es mit dem zu tun hat, womit er es nun doch zu tun hat.

Nehmen Sie an, ein Mensch steht einem Gegenstande gegenüber. Er geht davon weg. Da kommt es jetzt nicht auf ein Begehren an, das bis zum Gegenstande gekommen ist, sondern auf ein Begehren, das bis zum seelischen Binnenleben gekommen ist. Er kann also weg­gehen und sagt nachher, der Gegenstand habe ihn befriedigt, oder er sagt, der Gegenstand habe ihn nicht befriedigt. Wenn er es auch anders ausdrückt, so ist es doch dasselbe, zum Beispiel wenn er sagt, es habe ihm gefallen oder nicht gefallen. Da liegt doch in dem einen Falle, wenn auch noch so versteckt, ein Begehren vor, das seine Befriedigung gefunden hat, oder, beim Mißfallen, liegt eine Begeh­rung vor, die als Begehrung aufrecht geblieben ist.

Nur eine einzige Art von Gefühlen gibt es zunächst - und das ist etwas tief Bezeichnendes für das Seelenleben -, die in einer etwas andern Art sich ausnehmen im Seelenleben. Sie werden leicht ein­sehen, daß Gefühle - also entweder solche Begehrungen, die ihr Ende gefunden haben oder solche, die es nicht gefunden haben - sich nicht nur anlehnen können an äußere Gegenstände, sondern auch an innere Seelenerlebnisse. So kann sich das Gefühl, das wir bezeichnen müssen als eine unbefriedigte Begierde, anlehnen an eine Empfindung, die vielleicht etwas ins Gedächtnis zurückbringt, das wir längst hinter uns haben. Also in uns selbst finden wir Anlässe für unsere Gefühle, für befriedigte oder nicht befriedigte Begehrungen. Unterscheiden wir einmal in uns die Erregung von Begehrungen durch äußere Gegen­stände und die Erregung von Begehrungen durch uns selber, durch unser eigenes Seelenleben. Es gibt zum Beispiel noch andere, gar sehr hervortretende innere Erlebnisse, die uns zeigen können, wie wir

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durch unser Innenleben stehengebliebene Begierden haben, die nicht bis zum Endziel gekommen sind.

Stellen Sie sich vor, Sie denken nach über eine Sache. Ihre Urteils­kraft ist zu schwach, Sie kommen in Ihrem Nachdenken zu keinem Ende und müssen ohne Entscheidung schließen. Da stehen Sie Ihrern Seenlennleben, Ihren eigenen Begehrungen gegenüber mit einem Un­befriedigtsein. Da haben Sie ein Schmerzerlebnis an Ihrem Gefühl des Unbefriedigtseins. Nur eine einzige Art von Gefühlen gibt es, wo wir weder mit dem Urteilen zur Entscheidung kommen, noch das Be­gehren in der Befriedigung endet, und wo doch kein Schmerzgefühnl entsteht. Es sind Gefühle, wo wir weder einem äußeren Gegenstande mit unseren Begehrungen unmittelbar gegenüberstehen, noch auch unseren inneren Erlebnissen unmittelbar. Bei den gewöhnlichen Sinneserlehnissen des Alltags stehen wir mit unseren Begehrungen dem Gegenstande unmittelbar gegenüber, aber wir urteilen dabei nicht. Sobald das Urteilen beginnt, sind wir über das Sinneserlebnis schon hinausgegangen. Nehmen wir an, wir tragen das Urteilen wie auch das Begehren bis an die Grenze des Seelenlebens, wo der Sinnes-eindruck aus der Außenwelt unmittelbar an uns heranbrandet; wir entwickelten also ein Begehren, das wir, indem es durch den Gegen­stand erregt wird, ganz durchdringen bis an die Grenze, aber nun bis an die genaue Grenze des Eindruckes hin mit Urteilskraft, mit Urteils-fähigkeit. Dann wird ein eigentümliches Gefühl entstehen, das sozu­sagen zusammengesetzt ist in einer ganz merkwürdigen Art. Das können wir uns am besten in folgender Weise klarmachen.

Wir lassen (angedeutet in den Querlinien) unser Begehren hin-fließen bis an die Grenze unseres Seelenlebens, zum Beispiel bis zum Auge hin. Wir strengen unser Seenlenleben in bezug auf die Begeh­rungen an, lassen es hinfließen - insofern es ein Begehrungsvermögen ist - bis an die Tore des Sinneserlehnisses, A. Wir strengen aber auch unsere Urteilskraft an und lassen sie ebenso bis zum äußeren Eindruck hinströmen (angedeutet in den Längslinien). Dann hätten wir ein Symbol für das eben angedeutete, in ganz einzigartiger Art zusammen­gesetzte Gefühl.

Den Unterschied zwischen diesen beiden Strömungen, die da bis

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zum äußeren Eindrucke hingehen, werden wir recht würdigen, wenn wir ins Auge fassen, was bereits gesagt worden ist. Wenn wir Urteils­kraft entwickeln, so liegt die Spitze der Tätigkeit der Seele nicht in der Seele, sondern außerhalb derselben. Denn über Wahrheit entscheidet

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nicht die Seele. Wahrheit überwältigt das Begehren. Das Begehren muß kapitulieren vor der Wahrheit. Und wenn wir in unserer Seele etwas durch unsere Urteilskraft entscheiden sollen, was im eminentesten Sinne wahr sein soll, so müssen wir in unsere Seele eben etwas hereinnehmen, was der Seele fremd ist. Wir können also sagen: Die Linien von unten nach oben, die die Kräfte der Urteils-fähigkeit darstellen sollen, gehen aus uns heraus, unifassen etwas Äußeres. Unser Seelenleben kann aber als das Leben der Begehrungen überhaupt nicht weiter als bis an die Grenze kommen. Dort wird es entweder in sich zurückgeschleudert, oder es nimmt sich vorher selber in sich zurück, bleibt auf sich selber beschränkt. Es fühlt sich unser Begehren überwältigt, wenn das Urteil in der Seele abschließt mit der Entscheidung der Wahrheit. Aber wir nehmen in unserem Beispiel ja gerade an, daß bis zum Eindruck hin sowohl das Begehren fließe wie auch das Urteilen, und daß die beiden Ströme sich gegenüber dem Eindruck vollständig decken. Und da sehen wir dann: Es fließt nicht unser Begehren aus und bringt uns sozusagen ein Fremdes zurück in

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der Wahrheit, sondern da geht unser Begehren fort und bringt uns das Urteil zurück, das bis an die Grenze des Seeleniebens gegangen ist. Da wogt das Begehren bis an die Grenze der Seele, kehrt da gleichsam um und kehrt mit dem Urteil in sich selber zurück. Aber was für Urteile können wir da nur zurückbringen? Nur ästhetische Urteile, die irgendwie zusammenhängen mit Kunst und Schönheit. Das kann nur bei der Kunstbetrachtung vorliegen, daß sozusagen unser eigenes Seelenieben just bis an die Grenze seiner Wirksamkeit geht und da unmittelbar an dem Objekt der Außenwelt kehrtmacht und mit dem Urteil in sich selber zurückkehrt. Sie können das zu-nächst sonderbar finden, aber die eigene Seelenbeobachtung könnte es Ihnen bestätigen.

Nehmen Sie einmal an, Sie stehen vor der Sixtinischen Madonna oder der Venus von Milo oder vor irgendeinem Kunstwerke, das im wahren Sinne wirklich ein Kunstwerk ist. Können Sie sagen, daß det Gegenstand in diesem Falle Ihr Begehren erregt? Ja, er erregt es; aber nicht durch sich selber. Wenn der Gegenstand durch sich selber das Begehren erregen würde, was ja möglich ist, so würde es nicht abhängen von einer gewissen Entwickelung der Seele, ob überhaupt das Begehren erregt wird. Es ist durchaus denkbar, daß Sie etwa vor der Venus von Milo stehen und gar kein inneres Bewegen dem Kunstwerke gegenüber verspüren. Gewiß, das kann bei andern Ob­jekten auch sein. Aber wenn das bei andern Objekten vorkommt, dann entsteht diesen andern Objekten gegenüber die gewöhnliche Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit entsteht auch bei denjenigen, die keine entsprechende Seenlentätigkeit der Venus von Milo entgegen­bringen. Diejenigen aber, die ein entsprechendes Seenlenleben dem Kunstwerke entgegenbringen, lassen den Strom des Begehrens bis an die Grenze fließen, und dann kommt ihnen etwas zurück. Den andern kommt nichts zurück. Es kommt aber nicht ein Begehren zurück. Es kommt auch gar kein Begehren zurück, das nach dem Objekt zurück-drängt, sondern es kommt das Begehren zurück, was sich in einem Urteil ausspricht: Dies ist schön. - Da setzen sich in der Seele Be­gehrungskräfte und Urteils kräfte mit sich selber auseinander. Und der Mensch kann sich dabei an der Außenwelt nur dann befriedigen,

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wenn die Außenwelt nur die Erregerin ist seiner eigenen inneren Seelentätigkeit. Geradesoviel kann det Mensch an det Venus von Milo erleben, als er selber in det Seele schon hat, und geradesoviel wird ihm zurückkehren, als er nach außen strömen läßt an dem un­mittelbaren Eindruck. Daher gehört zum Genießen des Schönen die unmittelbare Gegenwart des Kunstwerkes, weil in det Tat die Seelen-substanz streben muß bis an die Grenze des Seelenlebens. Und jede Erinnerung an das Kunstwerk gibt im Grunde genommen etwas anderes als ein ästhetisches Urteil. Das ästhetische Urteil entsteht unter dem unmittelbaren Eindruck des Kunstwerkes, wo bis an die Grenze die Wogen des Seelenlebens gehen, willig bis an die Grenze gehen, und als ästhetische Urteile wieder zurückkommen.

So haben wir in det Wahrheit etwas, wovor, gewissermaßen als vor einem dem Seelenleben Äußeren, die Begehrung kapituliert, und so haben wir in dem Schönen etwas, wo die Begehrung unmittelbar zusammenfällt mit dem Urteilen, wo die Entscheidung selber herbei­gerufen wird durch die freiwillig sich an den Grenzen des Seelen­lebens abschließende Begehrung, die als Urteil zurückkommt. Daher breitet das innere Seelenerlebnis im Schönen eine so unendlich warme Befriedigung innerhalb det Seele aus. Und es ist das höchste Gleich­maß det Seelenkräfte im Grunde genommen vorhanden, wenn die Begehrung brandet bis an die Grenze des Seelenlebens und nun nicht in sich wieder zurückkehrt als bloßes Begehren, sondern als ein Urteil, was det Seele nun ist wie eine Sache det Außenwelt. Daher gibt es auch nicht leicht etwas, wo eine Bedingung für ein gesundes Seelen-leben so stark entwickelt werden kann als in det Hingabe an das Schöne. Wenn wir streben nach den denkerischen Früchten det Seele, arbeiten wir im Grunde genommen innerhalb det Seele mit einem Material, vor dem das Begehrungsvermögen fortwährend kapitu­lieren muß. Dieses Begehrungsvermögen wird ja gewiß vor det Maje­stät det Wahrheit kapitulieren müssen; aber das ist nicht möglich ohne eine Beeinträchtigung det Seelengesundheit und desjenigen, was mit dem Seelenleben zusammenhängt. Ein sozusagen fortdauerndes Streben auf dem denkerischen Gebiet, wobei fortdauernd Begeh­rungen kapitulieren müssen, das ist etwas, was in einer gewissen

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Beziehung den Menschen doch leiblich und seelisch ausdörren wird. Bei denjenigen Urteilen dagegen, die zu gleicher Zeit ein gleiches Maß von befriedigten Begehrungen mit zurückbringen in unser Seelen-leben, ist es so, daß die Begierden als solche mit dem Urteil sich am meisten ausgleichen.

Nun mißverstehen Sie mich nicht. Es soll mit alledem nicht gesagt sein, daß etwa det Mensch gut tue, wenn er fortwährend im Genuß des Schönen schwelgen würde und der Wahrheit gegenüber geltend machen würde, daß sie ungesund sei. Damit gäbe es eine leichte Ent­schuldigung für ein faules Wahrheitsstreben, wenn jemand anführen wollte: Sie haben gesagt, Denken ist ungesund, und in Schönheit schwelgen ist gesund; also tue ich das letztere! - Das ist nicht etwas, was eintreten sollte, sondern es sollte sich als Folge für die Seele folgendes ergeben. Weil Wahrheit in bezug auf den Fortgang der menschlichen Kultur wie auch des einzelnen menschlichen Lebens eine Pflicht ist, so ist der Mensch gegenüber dem Wahrheitsstreben gezwungen, sein Begierdenieben zurückzudrängen. Weil die Ent­scheidung über die Wahrheit nicht bei ihm selbst liegt, zwingt uns die Wahrheit, das Begierdenleben in uns selber zurückzudrängen. Und das müssen wir auch ruhig tun innerhalb des Wahrheitsstrebens. Daher ist das Wahrheitsstreben im Grunde genommen dasjenige, was unser Senlbstgefühl am allermeisten in das richtige Maß zurückdrängt. Wenn wir an uns selbst erleben, wie unser Wahrheitsstreben fort-dauernd seine Grenze findet an der eigenen Urteilsfähigkeit und objektiv die Sachlage betrachten, dann können wir ganz zufrieden sein. Wahrheitsstreben macht uns immer bescheidener und beschei­dener. Aber wenn der Mensch es immer so machte, wenn er immer bloß so weiterlebte, daß er auf diese Weise immer bescheidener und bescheidener würde, so würde er schließlich bei seiner eigenen Auf­lösung ankommen; es würde ihm etwas fehlen, was zur Erfüllung des Seelenlebens notwendig ist: das Spüren, das Empfinden des eigenen Innern. Der Mensch darf sich nicht entselbsten, indem er sich bloß dem hingibt, vor dem das innere Gewoge seines Begierden-lebens kapitulieren muß. Und hier tritt nun das Wirken des ästheti­schen Urteils ein. Das Leben des ästhetischen Urteils ist so, daß der

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Mensch das, was er an die Grenze det Seele hinbringt, auch zurück­bringt. Das ist ein solches Leben, wo det Mensch das darf, was er in det Wahrheit soll. Was man in det Wahrheit soll, das ist: absolut unselbstisch, unegoistisch die Entscheidung sich herbeiführen lassen. Anders geht das Wahrheits streben nicht. Wie ist es aber in det Schön­heit? Da ist es etwas anders. Da geben wir uns auch ganz hin, lassen, fast wie bei det Sinnesempfindung, das innere Seelengewoge bis an seine Grenze fließen. Was kommt uns dann aber zurück? Was uns von außen gar nicht gegeben werden kann, was von außen gar nicht ent­schieden werden kann: wir selbst kommen uns wieder zurück. Wir haben uns hingegeben und werden uns zurückgegeben. Das ist das Eigentümliche des ästhetischen Urteils, daß es das Moment des Selbst­losen wie die Wahrheit in sich enthält, und zugleich das Geltend-machen des menschlichen Selbstsinnes, dessen, was wir gestern und vorgestern den «inneren Herrn» genannt haben. Wie ein freies Ge­schenk werden wir uns selbst zurückgegeben im ästhetischen Urteil.

Sie sehen: Ich muß insbesondere in diesen Vorträgen Ihnen etwas geben, was am wenigsten zu Definitionen und so weiter führen kann. Ich habe mich ja öfters gegen das Definieren ausgesprochen. Und ich werde deshalb auch nicht sagen: Dies ist ein Gefühl und so weiter, sondern ich werde versuchen zu charakterisieren, indem wir einfach den Urafang des Seeleniebens abstecken, indem wir uns einfach er­gehen in dem Urrifang des Seelenlebens.

Bei den Vorträgen über Anthroposophie im vorigen Jahr haben wir ja gesehen, daß nach unten die Leiblichkeit an das Seelenieben an­grenzt, und an det Grenze des Leiblichen und des Seelischen haben wir den Menschen zu erfassen versucht und abzuleiten versucht, was mit det äußeren Leibesgestalt zusammenhängt. Wenn Sie sich das zurückrufen, werden Sie eine Grundlage bekommen für manches, was in diesen Vorträgen zu sagen ist, und worauf eigentlich diese psycho­sophischen Vorträge sich zuletzt zuspitzen. Sie sollen ja zuletzt auch Lebensregeln, Lebensweisheit bieten. Dazu mußten wir in den frühe­ren Vorträgen eine breite Grundlage erst schaffen.

Durch die heutigen Charakterisierungen haben wir vielleicht einen Hinweis darauf gewonnen, daß im inneren Seelenleben dasjenige

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wogt, was wir begehren. Nun haben wir gestern gesagt, daß gewisse, auch gefühisartige Erlebnisse wie die Urteile, in einer gewissen Be­ziehung abhängen von dem, was unsere Vorstellungen in uns selber für ein eigenes Leben führen. Wir haben gestern damit geschlossen, daß wir gesagt haben: Unsere Vorstellungen, die wir uns in der Ver­gangenheit angeeignet haben, werden lebendig, sind wie Blasen in unserem Seelenieben, indem sie wieder ein eigenes Seelenleben, ein eigenes Begehrungsleben führen. - Was sie für ein Leben führen, davon hängt in einem gewissen Momente unseres Daseins für uns vieles ab. Was wir gestern charakterisieren konnten als Langeweile oder als sonst den Menschen schädigende oder nützende Seelen-ereignisse, das macht es aus, ob der Mensch glücklich oder unglück­lich in einem gewissen Moment ist. Also, wie unsere Vorstellungen, die wir uns früher angeeignet haben, sich als selbständige Wesenheiten benehmen, davon hängt unser gegenwärtiges Seelenempfinden ab.

Da entsteht dann die Frage: Wie müssen wir uns verhalten, wenn wir das Seenlenleben betrachten gerade mit Bezug darauf, daß wir zum Beispiel gewissen Vorstellungen gegenüber, die wir in unser gegen­wärtiges Seelenleben hereinbekommen sollen, in einer gewissen Weise machtlos sind? Andere Vorstellungen gehen leichter in unser Seelen-leben herein. Und Sie wissen, wieviel davon abhängt, ob wir in dieser Beziehung mächtig oder machtlos sind, leicht oder schwer die Vor-stellungen hervorbringen, ob wir imstande sind, sie aus der Erinne­rung leicht oder schwer heraufzuholen. Wo wir uns erinnern an eine bestimmte Sache, da müssen wir fragen: Welche Vorstellungen sind es, die sich leichter ergeben, und welche sind es, die sich schwerer ergeben? - Denn das kann im Leben außerordentlich wichtig sein. Können wir von vornherein etwas tun bei der Aufnahme von Vor­stellungen, so daß wir ihnen etwas mitgeben, wodurch sie sich uns leichter wieder ergeben? Ja, wir können ihnen etwas mitgeben. Und schon allein die Betrachtung dieser Tatsache würde für viele Men­schen unendlich nützlich sein, denn es würden sich viele Menschen ihr äußeres Leben und ihr Seelenleben ungeheuer erleichtern, wenn sie beachten würden, wodurch eine Vorstellung leichter erinnert werden kann, wodurch man das Leichter-erinnert-Werden fördern kann.

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Wenn Sie die Seelenbeobachtung allseitig pflegen, kann sie Ihnen zeigen, daß Sie der Vorstellung etwas mitgeben müssen, wenn sie leichter in die Erinnerung kommen soll. Wir haben als Elemente des Seelenlebens gefunden Begehren und Urteilen. Da das Seelenleben aus diesen zwei Elementen besteht, werden wir auch nur innerhalb dieser beiden Elemente das finden können, was wir einer Vorstellung mitgeben müssen, wenn sie leichter erinnert werden soll. Was können wir einer Vorstellung von unserem Begehren mitgeben? Wir können der Vorstellung eben nur Begehren mitgeben. Wie tun wir denn das? Dadurch, daß wir im Momente, wo wir die Vorstellung aufnehmen, möglichst viel von unseren eigenen Begehrungen auf sie übertragen. Das ist ein guter Paß für unser Seelenleben, wenn wir der Vorstellung einen Teil unseres Begehrens abgeben. Das können wir nur dadurch tun, daß wir die betreffende Vorstellung mit Liebe aufnehmen, mit Liebe durchdringen. Je liebevoller wir eine Vorstellung aufnehmen -und das kann noch in einer andern Weise ausgedrückt werden: Je mehr Interesse wir einer Vorstellung zuwenden, je mehr wir uns beim Aufnehmen einer Vorstellung selbst verlieren mit unserem Egoismus, desto besser wird sie in der Erinnerung bleiben. Wer sich nicht gegen­über einer Vorstellung verlieren kann, dem gegenüber wird sie nicht leicht im Gedächtnis bleiben. Wir werden im weiteren Verlauf der Vorträge auch noch Anhaltspunkte gewinnen, wie wir eine Vor­stellung umgeben können mit einer Atmosphäre von Liebe.

Das andere, was wir einer Vorstellung mitgeben können, ist das, was wir in der Seele an Urteilskraft haben. Das heißt mit andern Worten: Eine jede Vorstellung wird leichter erinnert werden können, wenn sie durch urteilende Seelenkraft aufgenommen worden ist, als wenn sie nur einfach eingeprägt worden ist. Also, wenn Sie einer Vorstellung gegenüber, die Sie in Ihr Seelengefüge aufnehmen, urtei­len und sie aufnehmen, indem Sie sie umfassen, umspannen mit dem Urteil, geben Sie ihr wieder etwas mit, was die Erinnerung an sie fördert. So geben Sie ihr etwas mit wie eine Atmosphäre. Und es hängt von dem Menschen selber ab, wie er seine Vorstellungen zu­bereitet, ob sie leichter oder schwieriger wieder auftreten. Wir werden sehen, daß die Art, wie wir eine Vorstellung mit Liebe oder Urteilskraft

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umgeben, etwas außerordentlich Wichtiges ist für unser Seelen­leben.

Das ist die eine Frage für morgen. Das andere ist das, daß Unser Seelenleben in einer fortlaufenden Beziehung steht zu dem Ich-Zentrum. Und wenn wir den Weg gehen, den wir heute mit einer gewissen Schwierigkeit hingestellt haben, so werden wir morgen die Möglichkeit finden, die beiden Richtungen, die Richtung des Ge­dächtnisses und die Richtung des Ich-Erlebnisses, zusammenzuführen.

Es könnte manchen wundern, daß alle Gefühle im Menschen im Grunde genommen Begehrungen sein sollen. Und es könnte nament­lich denjenigen wundern, welcher weiß, daß mit dem höheren Seelen-leben, mit dem Seelenleben, das durch eine esoterische Entwickelung angestrebt wird, gerade verbunden ist, das Begehren in einer gewissen Weise zu überwinden. Wenn man jedoch sagt: Das Begehren über­winden -, so ist das gegenüber der Seelenkunde ein nicht genauer Ausdruck; denn das Begehren entspringt nicht in der Seele selbst, es wogt herein aus unbekannten Tiefen. Was ist es, was da in die Seenle hereinwogt? Wofür ist es ein Ausdruck? Wir können es vorläufig abstrakt - morgen werden wir es konkret fassen - auffassen als das, was auf einem höheren Gebiet dem Begehren entspricht und aus des Menschen ureigenstem Wesen hervorgeht als der Wille. Und wenn wir das Begehren zum Zwecke einer höheren Entwickelung bekämpfen, so bekämpfen wir nicht den Willen, der einer Begehrung zugrunde liegt, sondern nur die einzelnen Modifikationen, die einzelnen Gegen-stände des Begehrens. Dadurch machen wir den Willen rein, und dann wirkt der Wille in uns rein. Und ein solcher Wille, der frei geworden ist von den Gegenständen, der gegenstandslos ist, stellt gerade in einer gewissen Beziehung ein Höchstes in uns dar. Sie dürfen dabei nicht an den «Willen zum Dasein» denken - das wäre kein gegenstands­loserWille -, sondern Sie müssen denken an Willen mit einem Inhalt des Begehrens, der sich an keinen Gegenstand wendet. Wille ist nur dann rein und frei, wenn er zunächst nicht modifiziert ist zu einem bestimmten Begehren, wenn er also hinwegführt von einem bestimm­ten Begehren.

So können wir selbst noch bis in unser Gefühlsleben hereinwogen

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sehen das Willensleben. Wenn das der Fall ist, so müßte man daran so recht studieren können, daß Wille und Gefühl etwas Verwandtes haben. Man kann ja allerlei phantastische Definitionen für Wille und Gefühl geben, und so könnte zum Beispiel jemand sagen: Wille muß hinführen zu einem Gegenstande, muß in Tat übergehen. - Aber mit solchen Definitionen ist der Wirklichkeit gegenüber gar nichts getan, und wir werden sehen, daß sie gewöhnlich ganz und gar unberechtigt sind und daß der Mensch, der solche Definitionen abgibt, gut daran tun würde, wenn er sich dem Genius der Sprache hingeben würde, der gescheiter ist als die persönliche Menschenseele. So hat die Sprache zum Beispiel ein geniales Wort für dasjenige innere Erlebnis, wo der Wille unmittelbar Gefühl wird. Denken Sie, der Wille würde bis zu einer Grenze gehen, sich dann in sich selber abstumpfen, und der Mensch würde das in sich selber sich abstumpfende Willensstreben von innen beschauen, gleichsam den Willen in sich zurückgehen lassen und dann beschauen (siehe Zeichnung). Das würde eintreten, wenn

# Bild s. 177

der Mensch einem andern Wesen gegenüberträte, und das innere Gewoge des Willens bis zu einem Punkte gehen würde und dann zurückgehalten würde. Das ist ganz gewiß ein tiefes Gefühl des Un­befriedigtseins des Willens. Da erfindet die Sprache für diesen Willen, der ganz gewiß nicht zur Tat wird, denn er geht in sich zurück, ein geniales Wort. Da erfindet sie das Wort «Widerwille», und das ist für

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jeden ganz deutlich kein Wille; so daß dieser Wille, wenn er sich selbst erkennt, für das Gefühl der Wille ist, der sich in sich selbst zurückzieht. Und die Sprache hat für diese Selbstanschauung des Willens das Wort «Widerwille» und drückt damit ein Gefühl aus. Daran können wir sehen, wie unsinnig die Definition wäre, daß Wille der Ausgangspunkt zur Tat wäre. Und innerhalb des Willens wogt dann der modifizierte Wille, das Begehren; und je nachdem er sich so oder so auslebt, zeigen sich die verschiedenen Seelengebilde.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 4. November 1910

Auch heute wird vor dem Vortrag eine kurze Dichtung zur Rezitation gebracht werden, und zwar wieder von dem jungen Goethe.

Poetische Gedanken
über die Höllenfahrt Jesu Christi

Welch ungewöhnliches Getümmel!
Ein Jauchzen tönet durch die Himmel,
Ein großes Heer zieht herrlich fort.
Gefolgt von tausend Millionen,
Steigt Gottes Sohn von Seinen Thronen,
Und eilt an jenen finstern Ort.
Er eilt, umgeben von Gewittern,
Als Richter kommt Er und als Held;
Er geht, und alle Sterne zittern,
Die Sonne bebt, es bebt die Welt.

Ich seh Ihn auf dem Siegeswagen,
Von Feuerrädern fortgetragen,
Den, der für uns am Kreuze starb.
Er zeigt den Sieg auch jenen Fernen,
Weit von der Welt, weit von den Sternen,
Den Sieg, den Er für uns erwarb.
Er kommt, die Hölle zu zerstören,
Die schon Sein Tod darnieder schlug;
Sie soll von Ihm ihr Urteil hören:
Hört! jetzt erfüllet sich der Fluch.

Die Hölle sieht den Sieger kommen,
Sie fühlt sich ihre Macht genommen,

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Sie bebt und scheut Sein Angesicht;
Sie kennet Seines Donners Schrecken,
Sie sucht umsonst sich zu verstecken,
Sie sucht zu fliehn und kann es nicht;
Sie eilt vergebens sich zu retten
Und sich dem Richter zu entziehn,
Der Zorn des Herrn, gleich ehrnen Ketten,
Hält ihren Fuß, sie kann nicht fliehn.

Hier lieget der zetlretne Drache,
Er liegt und fühlt des Höchsten Rache,
Er fühlet sie und knirscht vor Wut;
Er fühlt der ganzen Hölle Qualen,
Er ächzt und heult bei tausend Malen:
Vernichte mich, o heiße Glut!
Da liegt er in dem Flammen-Meere,
Ihn foltern ewig Angst und Pein;
Er flucht, daß ihn die Qual verzehre,
Und hört, die Qual soll ewig sein.

Auch hier sind jene großen Scharen,
Die mit ihm gleichen Lasters waren,
Doch lange nicht so bös als er.
Hier liegt die ungezählte Menge
In schwarzem, schrecklichem Gedränge,
Im Feuer-Orkan um ihn her.
Er sieht, wie sie den Richter scheuen,
Er sieht, wie sie der Sturm zerfrißt,
Er sieht's und kann sich doch nicht freuen,
Weil seine Pein noch größer ist.

Des Menschen Sohn steigt im Triumphe
Hinab zum schwarzen Höllen-Sumpfe,
Und zeigt dort seine Herrlichkeit.
Die Hölle kann den Glanz nicht tragen;

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<poem>
Seit ihren ersten Schöpfungstagen
Beherrschte sie die Dunkelheit.
Sie lag entfernt von allem Lichte,
Erfüllt von Qual im Chaos hier;
Den Strahl von Seinem Angesichte
Verwandte Gott auf stets von ihr.

Jetzt siehet sie in ihren Grenzen
Die Herrlichkeit des Sohnes glänzen,
Die fürchterliche Majestät.
Sie sieht mit Donnern Ihn umgeben,
Sie sieht, daß alle Felsen beben,
Wie Gott im Grimme vor ihr steht.
Sie sieht's, Er kommet, sie zu richten,
Sie fühlt den Schmerzen, der sie plagt,
Sie wünscht umsonst, sich zu vernichten;
Auch dieser Trost bleibt ihr versagt.

Nun denkt sie an ihr altes Glücke,
Voll Pein an jene Zeit zurücke,
Da dieser Glanz ihr Lust gebar;
Da noch ihr Herz im Stand der Tugend,
Ihr froher Geist in frischer Jugend
Und stets voll neuer Wonne war.
Sie denkt mit Wut an ihr Verbrechen,
Wie sie die Menschen kühn betrog;
Sie dachte, sich an Gott zu rächen,
Jetzt fühlt sie, was es nach sich zog.

Gott ward ein Mensch. Er kam auf Erden.
«Auch dieser soll mein Opfer werden»,
Sprach Satanas und freute sich.
Er suchte Christum zu verderben,
Der Welten Schöpfer sollte sterben;
Doch weh dir, Satan, ewiglich!
Du glaubtest Ihn zu überwinden,

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Du freutest dich bei Seiner Not;
Doch siegreich kommt Er, dich zu binden:
Wo ist dein Stachel hin, o Tod?
Sprich, Hölle! sprich, wo ist dein Siegen?
Sieh nur, wie deine Mächte liegen;
Erkennst du bald des Höchsten Macht?
Sieh, Satan! sieh dein Reich zerstöret,
Von tausendfacher Qual beschweret,
Liegst du in ewig finstrer Nacht.
Da liegst du wie vom Blitz getroffen,
Kein Schein vom Glück erfreuet dich.
Es ist umsonst. Du darfst nichts hoffen,
Messias starb allein für mich!

Es steigt ein Heulen durch die Lüfte,
Schnell wanken jene schwarzen Grüfte,
Als Christus Sich der Hölle zeigt.
Sie knirscht aus Wut; doch ihrem Wüten
Kann unser großer Held gebieten;
Er winkt - die ganze Hölle schweigt.
Der Donner rollt vor seiner Stimme,
Die hohe Siegesfahne weht;
Selbst Engel zittern vor dem Grimme,
Wenn Christus zum Gerichte geht.

Jetzt spricht Er; Donner ist Sein Sprechen,
Er spricht, und alle Felsen brechen,
Sein Atem ist dem Feuer gleich.
So spricht Er: «Zittert, ihr Verruchte!
Der, der in Eden euch verfluchte,
Kommt und zerstöret euer Reich.
Seht auf! Ihr waret Meine Kinder,
Ihr habt euch wider Mich empört,
Ihr fielt und wurdet freche Sünder,
Ihr habt den Lohn, der euch gehört,

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Ihr wurdet Meine größten Feinde,
Verführtet Meine besten Freunde,
Die Menschen fielen so wie ihr.
Ihr wolltet ewig sie verderben,
Des Todes sollten alle sterben;
Doch, heulet! Ich erwarb sie Mir.
Für sie bin Ich herabgegangen,
Ich litt, Ich bat, Ich starb für sie.
Ihr sollt nicht euren Zweck erlangen;
Wer an Mich glaubt, der stirbet nie.

Hier lieget ihr in ew'gen Ketten,
Nichts kann euch aus dem Pfuhl erretten,
Nicht Reue, nicht Verwegenheit.
Da liegt, krümmt euch in Schwefel-Flammen,
Ihr eiltet, euch selbst zu verdammen,
Da liegt und klagt in Ewigkeit!
Auch ihr, so Ich Mir auserkoren,
Auch ihr verscherztet Meine Huld;
Auch ihr seid ewiglich verloren.
Ihr murret? Gebt Mir keine Schuld.

Ihr solltet ewig mit Mir leben,
Euch ward hierzu Mein Wort gegeben,
Ihr sündigtet und folgtet nicht.
Ihr lebtet in dem Sünden-Schlafe;
Nun quält euch die gerechte Strafe,
Ihr fühlt Mein schreckliches Gericht.»
So sprach Er, und ein furchtbar Wetter
Geht von Ihm aus, die Blitze glühn,
Der Donner faßt die Übertreter
Und stürzt sie in den Abgrund hin.

Der Gott-Mensch schließt der Höllen Pforten,
Er schwingt Sich aus den dunklen Orten

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In Seine Herrlichkeit zurück.
Er sitzet an des Vaters Seiten,
Er will noch immer für uns streiten,
Er will's! O Freunde, welches Glück!
Der Engel feierliche Chöre,
Die jauchzen vor dem großen Gott,
Daß es die ganze Schöpfung höre:
Groß ist der Herr, Gott Zebaoth!


Es wird einiges beitragen können zu einem intimeren Verständ­nisse dessen, was gestern gesagt worden ist und was noch heute gesagt werden wird, wenn wir einen Vergleich zu ziehen versuchen zwischen der gestern vorgetragenen Dichtung Hegels und der Dichtung des jungen Goethe, die wir soeben gehört haben. Dieser Vergleich wird aus dem Grunde gut sein, weil uns durch ihn zum Bewußtsein kom­men kann die Verschiedenartigkeit der Seelen derjenigen, von denen die beiden Gedichte herrühren. Versuchen wir uns einmal zu ver­gegenwärtigen, wie gewaltig verschieden die beiden Dichtungen sind, die gestern und die heute vorgetragene. Durch die Kürze der Zeit ist es ja geboten, daß gewisse Dinge mehr oder weniger nur angedeutet werden können. Allein ich denke, es wird möglich sein, daß wir uns verständigen.

Wir haben gestern gehört die Dichtung eines Philosophen, eines Menschen, der es im Reiche des reinen Gedankens zu einer ungeheu­ren Höhe gebracht hat. Und wir haben gesehen, daß in dieser Dich­tung «Eleusis» gewissermaßen der Gedanke selber in der Seele Hegels schöpferisch geworden ist. Wenn Sie sich nun vergegenwärtigen, wie die gestrige Dichtung auf Sie gewirkt hat, so werden Sie sich sagen können: Man fühlt gewaltige Gedanken, die da ringen mit den größ­ten Fragen der Menschheit ebenso wie mit den großen Fragen der Zeiten, die anknüpfen an die sogenannten Mysterien. Man fühlt, daß jemand den Gedanken eingebohrt hat in diese großen Weltengeheim­nisse, aber man fühlt eine gewisse Ungelenkigkeit in der dichterischen

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Behandlung. Man fühlt sozusagen an dieser Dichtung heraus, daß sie etwas ist, was nicht in der Hauptmission derjenigen Persönlichkeit liegt, von der sie herrührt. Es ist ein Ringen mit der dichterischen Form, und man sieht es der Dichtung an, daß sich der Gedanke nur schwer hat zu der Form heranringen können, durch welche die dich­terische Form überhaupt erst möglich wird. Man sieht es der Dichtung an, daß derjenigen Persönlichkeit, von der sie herrührt, nicht viele Dichtungen im Leben möglich gewesen wären.

Vergleichen wir damit die Dichtung, die wir eben gehört haben, aber an der Hand eines bestimmten Umstandes. Ich habe Ihnen vor dem ersten Vortrage vorlesen lassen eine Jugenddichtung Goethes, die zu diesem Zwecke umgeändert worden war, und an der uns so recht hat anschaulich werden können, wie zwei Seelen in Goethes Brust lebten, zwei Seelenmächte, zwei Seelenkräfte, und wir sahen, was in dieser Dichtung - würdig auch dessen, was in dem alten Goethe als sein Wesenskern gelebt hat - dennoch in gewaltigen Bildern vor den Menschen hintritt. Aber wir sehen an der Dichtung des jungen Goethe, daß eine ganz andere Seelenkraft zunächst wirkt in Goethe als etwa in Hegel. Überall ist es in Goethe das, was wir nennen kön­nen: es fließen ihm die vollsaftigen Bilder zu. Und wie bilderinhalt­voll ist nun auch die Dichtung, die jetzt eben als ein Gedicht des jun­gen Goethe vor uns hingetreten ist! Das also lag schon in seinen An­lagen, daß ihm zuflossen volisaftige, inhaltvolle Bilder. Und wo die Größe des Gegenstandes ihn überwältigt, da werden wir gewahr, wie das, was sich in der ersten Dichtung ihm noch störend in den Weg gestellt hat, zurückgedrängt wird durch ein mächtiges Seelenieben, das sich in vollsaftigen Bildern auslebt.

Wir sehen gewissermaßen ein Dreifaches an den vorgetragenen Dichtungen. Wir sehen, wie in Hegel der Gedanke wirkt, der es mehr oder weniger zu Bildern nur dadurch bringt, daß er ein ungeheures Ringen durchmacht. Wir sehen es der Blässe der Bilder noch an, wie stark das Ringen nach ihnen war. Wir sehen es den Dichtungen des jungen Goethe an, wie sie in vollsaftigen Bildern dahinrollen. Und wir sehen, wie diese vollsaftigen Bilder in der Dichtung Goethes, wo er die Sage vom «Ewigen Juden» behandelte, in einer gewissen Weise

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so beeinträchtigt werden konnten - weil jene zwei Seelen in ihm kämpften -, daß er sie gar nicht hat zu Ende führen können. Sie ist ja nur Fragment geblieben. Da werden wir auf eine Vielgestaltigkeit des Seeleniebens hingewiesen. Halten wir uns das einmal vor Augen, wie eine Seelenkraft, die wir in gewissem Sinne gedankenhaft nennen kön­nen , wie bei Hegel, sich nur schwer hineinbohrt in jene Seelenkraft, die bei Goethe die größte ist, und wie diese Seelenkraft in der Seele Goethes selber wiederum sich in ein Entgegengesetztes hineinbohrt.

Und nun wollen wir in unseren psychosophischen Betrachtungen fortfahren. Erinnern wir uns, daß innerhalb unseres Seelenlebens wir­ken Urteile und die Erlebnisse von Liebe und Haß, die aus dem Be­gehrungsvermögen stammen. Wir können auch noch in anderer Weise, als wir es gestern getan haben, zusammentragen, was in unse­rer Seele einerseits lebt als urteilende Kraft, indem wir uns erinnern, daß uns diese Urteilskraft da entgegentritt, wo wir von der Verstan­desfähigkeit der Seele reden, von der Fähigkeit, die Wahrheiten der Welt zu verstehen, und wenn wir andererseits daran denken, daß uns eine ganz andere Seelenkraft entgegentritt, wenn wir davon sprechen: eine Seele ist in der oder jener Weise an der Außenwelt interessiert. -Je nachdem die Erlebnisse von Liebe und Haß wirken, ist eine Seele an der Außenwelt interessiert. Aber diese Phänomene von Liebe und Haß selbst haben nichts zu tun mit der Denktähigkeit, mit der Intel­ligenz. Urteilsfähigkeit und Interessiertheit sind zwei in der Seele ver­schieden wirksame Kräfte. Das zeigt schon eine einfache Beobach­tung. Wer glaubt, daß das Wollen noch etwas Besonderes in der Seele sei, der kann sehen, wenn er in seine Seele blickt, daß er in ihr nur begegnet dem Interesse an dem Gewollten. Kurz, außer Interesse durch Liebe und Haß und Urteilsfähigkeit, die sich äußert in dem Urteilen, außer diesen beiden Gebieten werden Sie im Binnengebiet der Seele nichts finden. Damit haben Sie das Seelenieben in bezug auf seinen Inhalt erschöpft. Aber eines lassen Sie dabei vollständig un­berücksichtigt, was zum Wichtigsten gehört, was uns sogleich am Seelenleben entgegentritt, närmlich das Bewußtsein. Zum Seelenleben gehört Bewußtsein. Das heißt, wenn wir den Inhalt des Seelen­lebens nach allen Seiten zu durchforschen trachten, treten uns entgegen

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Urteilsfähigkeit und Interesse; wenn wir aber auf die innere Eigentümlichkeit, auf die Artung des Seelenlebens sehen, so müssen wir sagen: Wir dürfen nur insofern die Erlebnisse von Liebe und Haß und die Urteilsfähigkeit zum Seelenleben rechnen, als wir sie mit dem Wort «Bewußtsein» belegen. Wir müssen uns daher fragen: Was ist denn Bewußtsein? Das werde ich Ihnen nun wieder nicht definieren, sondern ich werde es charakterisieren.

Wenn Sie mit Hilfe dessen, was wir schon betrachtet haben, an das menschliche Bewußtsein herantreten, werden Sie gerade über den fortfließenden Strom der Vorstellungen, die Sie aufgenommen haben, sagen: Es zeigt sich in der Seele, daß die Bewußtheit doch nicht zu­sammenfällt mit dem Seelenleben. Denn wir haben ja gesehen, daß ein gewisser Unterschied ist zwischen dem Seelenleben überhaupt und der Bewußtheit. Eine Vorstellung, die wir vor Tagen, Wochen oder Jahren einmal aufgenommen haben, lebt in uns weiter, denn wir kön­nen uns ihrer erinnern. Aber wenn wir uns ihrer in diesem Augenblick nicht erinnern, sondern vielleicht erst nach zwei Tagen, so hat diese Vorstellung zwar weitergelebt, aber sie war in diesem Augenblick nicht bewußt, das heißt, sie war in unserer Seele, aber nicht im Be­wußtsein.

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Also der Strom des Seeleniebens fließt dahin, und das Bewußtsein ist wieder etwas anderes noch als der fortfließende Strom des Seelen­lebens. Kurz, wir müssen sagen: Wenn wir die Vorstellungen, an die

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wir uns einmal wieder erinnern können, bezeichnen mit einem Strom, der - die Seele als Kreis gedacht - in der Richtung des Pfeiles geht (siehe Zeichnung), dann kann dieser Strom in sich enthalten alle Vor­stellungen, die sozusagen in unserer Seele fließen von der Vergangen­heit in die Zukunft hinein; aber wenn sie bewußt werden sollen, müssen sie aus der Art, wie sie unbewußt in der Seele leben, erst durch ein Streben heraufgeholt werden ins Bewußtsein. Bewußtheit ist also etwas, was zur Seele gehört. Aber Bewußtheit gehört nicht so zum Seelenleben, daß alles, was in der Seele ist, in das Bewußtsein hereinfallen müßte. Es fließt der Strom des Vorstellungslebens weiter, und das Bewußtsein beleuchtet nur in einem gewissen Momente einen gewissen Teil unseres Seelenlebens .

Weil wir nun doch auch mit andern Leuten zu tun haben und auf Einwendungen gefaßt sein müssen, so muß folgendes wie in Paren­these gesagt werden. Es könnte jemand jetzt einwenden: Was du den fortfließenden Strom der Vorstellungen nennst, ist nichts weiter als die Seelen- oder Gehirndisposition, die einmal hergestellt worden ist und dann bleibt; und es braucht dann nichts weiter zu erfolgen, als daß die Gehirndisposition in einem gewissen Momente vom Bewußt­sein beleuchtet würde. - Das wäre dann der Fall, wenn es nicht not­wendig wäre, daß gleich nach dem Wahrnehmen etwas losgelöst würde von der Wahrnehmung, damit dieselbe weitergetragen werden kann. Wenn wirklich von der Wahrnehmung schon die Disposition geschaffen wäre zur Erinnerung, brauchte nicht erst etwas losgelöst werden von dem ganzen Prozeß und die Wahrnehmung in eine Vor­stellung umgeändert zu werden. Die Wahrnehmung entwickelt sich am äußeren Gegenstande, die Vorstellung aber nicht. Die Vorstellung ist eine Antwort von innen heraus. Wir haben also in uns dasjenige, was erlebt worden ist an der Welt, und was mit dem Strom der Zeit weiterfließt von der Vergangenheit in die Zukunft, aber doch nicht immer mit dem Bewußtsein zusammenfällt, sondern erst von dem Bewußtsein beleuchtet werden muß, wenn es erinnert werden soll.

Wie geschieht es nun, daß auf den fortfließenden Strom der Vor­stellung in unserer Seele Licht geworfen werden kann, so daß Teile davon sichtbar werden können in der Erinnerung oder sonstwie?

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Eine Tatsache des gewöhnlichen Seelenlebens, wie es sich auf dem physischen Plan abspielt, kann uns darauf führen, wie das geschieht. Das ist folgende Tatsache, die ja in der äußeren Psychologie überhaupt nicht berücksichtigt wird, weil man da nicht mit den Tatsachen, son­dern mit den Vorurteilen arbeitet. Wir aber wollen unbefangen mit den Tatsachen arbeiten.

Unter den Gefühlen des Menschen gibt es mancherlei Arten. Ich will nur auf einige aufmerksam machen, die wir gestern schon ge­nannt haben, und auf einige andere, auf Gefühle zum Beispiel, welche sich aussprechen in der Sehnsucht, in der Ungeduld, in der Hoffnung, im Zweifel; ich will Sie verweisen auf solche Gefühle, wie Angst und Furcht sind. Was sagen uns denn alle derartigen Gefühle? Wenn wir sie wirklich prüfen, haben sie alle etwas merkwürdig Gemeinsames: sie beziehen sich alle auf die Zukunft, sie beziehen sich auf das, was eintreten kann, oder von uns als eintretend gewünscht wird. Der Mensch also lebt in seiner Seele so, daß ihn in seinen Gefühlen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft interessiert. Und sogar recht lebhaft interessiert ihn die Zukunft! Sie können weitergehen: Sie können die Tatsache, daß Gefühle in uns leben, die sich auf die Zukunft beziehen, mit einer andern vergleichen. Versuchen Sie in Ihren Erinnerungen wachzurufen irgend etwas, was Sie in Ihrer Jugend oder vielleicht auch erst vor kurzer Zeit erlebt haben als Freude oder als Schmerz. Versuchen Sie einmal, nur ein klein wenig zu vergleichen, was in Ihren Gefühlen lebt von der Vergangenheit herein von einem überstandenen Schmerz oder auch von einer erleb­ten Freude, und wie unendlich blaß die Erinnerung an solche Dinge nur wieder aufgefrischt werden kann. Wenn sie etwas hinterlassen haben, wenn sie auf unsere Gesundheit oder sonstwie eingewirkt haben, da machen sie sich geltend, da drängen sie sich in das Bewußt-sein herein. Da ist es aber die Gegenwart! Was wir aber in der Ver­gangenheit erfahren haben in bezug auf unser Gefühlsleben, das ver­blaßt, je mehr wir uns davon entfernen. Und nun denken Sie, wie es bei den ausgesprochenen Begehrungen ist. Wenn Sie etwas begehren, was Ihnen in der Zukunft beschert werden soll, da versuchen Sie ein­mal das Rumoren in der Seele so recht zu beobachten. Ich möchte

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aber wissen, wieviele Leute darüber jammern, daß ihnen dieses oder jenes vor zehn Jahren nicht zugekommen ist, wenn es sich nicht etwa in die Gegenwart fortgesetzt hat und einen gegenwärtigen Mangel bewirkt. Da ist ein gewaltiger Unterschied zwischen unserem Inter­esseleben, insofern wir der Zukunft entgegenschauen und insofern wir nach der Vergangenheit den Blick richten. So weit Sie sich auch umsehen, wenn Sie alles zu Rate ziehen, gibt es nur eine Erklärung für die Ihnen eben charakterisierte Tatsache. Die Tatsache ist ja offenbar; Erklärungen aber gibt es nur die eine einzige: daß das, was wir be­gehren, überhaupt nicht in derselben Richtung fließt wie der dahinfließende Strom der Vorstellungen, sondern daß es diesem Strom ent­gegenkommt. Sie werden einen ungeheuren Lichtblitz auf Ihr ganzes Seelenieben werfen können, wenn Sie das eine Einzige nur voraus­setzen: daß alles, was Begehrungen, Wünsche, Interessiertsein, was die Phänomene von Liebe und Haß sind, einen Strom darstellen im Seelenleben, der gar nicht fließt von der Vergangenheit in die Zu­kunft, sondern der uns entgegenkommt von der Zukunft, der von der Zukunft in die Vergangenheit fließt (siehe Zeichnung, D-C). Mit

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einem Male wird die ganze Summe der Seelenerlebnisse klar! Ich brauchte Tage, um das weiter auszuführen, und kann daher jetzt nur folgendes sagen.

Wenn Sie voraussetzen, daß der Strom der Phänomene von Liebe

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und Haß, von Begehrungen und so weiter Ihnen entgegenkommt aus der Zukunft und sich begegnet mit dem Strom der Vorstellungen, den wir vorhin charakterisiert haben, was ist dann im Moment unser Seelenieben? Es ist nichts anderes als die Begegnung eines Stromes aus der Vergangenheit in die Zukunft, und eines Stromes, der aus der Zukunft in die Vergangenheit fließt. Und wenn der gegenwärtige Augenblick in unserem Seelenleben eine solche Begegnung ist, dann werden Sie leicht begreifen, daß diese zwei Ströme in der Seele selber zusammenkommen, sozusagen übereinanderschlagen. Dieses Über­einanderschlagen ist das Bewußtsein. Es gibt keine andere Erklärung für das Bewußtsein, als die eben gegebene. So nimmt also unsere Seele teil an allem, was aus der Vergangenheit weiterfließt in die Zu­kunft, und an allem, was uns aus der Zukunft entgegenkommt. Wenn Sie also in irgendeinem Moment in Ihr Seelenieben schauen, können Sie sagen: Da ist etwas wie eine Durchdringung von dem, was aus der Vergangenheit in die Zukunft fließt, mit dem, was aus der Zu­kunft in die Vergangenheit fließt und sich dem ersteren entgegen-stemmt als Begehrungen, als Interessiertheit, als Wünsche und so weiter. Zweierlei durchdringt sich.

Wir wollen, weil das ganz deutlich zu unterscheiden ist, diesen Strömungen im Seelenleben zwei Namen geben. Wenn ich jetzt so vor einem Publikum sprechen würde, als ob es gar keine geistes-wissenschaftliche Bewegung gäbe, so würde ich möglichst sonderbare Namen wählen, welche die zwei Strömungen bezeichnen sollen. Aber es kommt ja nicht auf die Namen an. Ich möchte in diesem Augen­blick Namen wählen, in denen Sie wiedererkennen, was Sie schon von anderer Seite her kennengelernt haben, so daß Sie es jetzt von zwei Seiten betrachten können: einmal von der Seite des reinen Empiri­kers, der Ihnen die Seelenphänomene schildert, wie sie sich auf dem physischen Plan abspielen, und der daher Namen wählen kann für etwas, was er konstatiert hat, so wie er will; und dann können Sie es betrachten von der Seite der okkulten Forschung. Betrachten wir zu­nächst diese letzte Seite. Namen sind da ganz gleichgültig, aber ich möchte doch solche Namen wählen, wie sie derjenige wählt, der vom Standpunkte der Hellsichtigkeit die Dinge anschaut und sie daher

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wirklich ineinanderfließen sieht, Namen aus der Geisteswissenschaft, durch welche Sie in der Psychosophie wiedererkennen werden, was Sie in der Geisteswissenschaft gelernt haben. Bezeichnen wir daher den Strom, der die für den Moment unbewußten Vorstellungen birgt, der aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft fließt, als den Ätherleib, und den andern Strom, der von der Zukunft in die Ver­gangenheit geht, der sich mit dem ersteren staut und zum Schnitt bringt, als den Astralleib. Und was ist das Bewußtsein? Das sich gegenseitige Treffen des Astralleibes und des Ätherleibes.

Versuchen Sie einmal die Probe darauf zu machen: Alles, was Sie aus den Forschungen des hellsichtigen Bewußtseins gelernt haben über den Ätherleib, versuchen Sie es anzuwenden auf das hier Ge­sagte. Sie werden es schon wiedererkennen. Und versuchen Sie alles, was Sie über den Astralleib gelernt haben, mit dem zu vergleichen, was hier gesagt worden ist: Sie werden auch damit zurecht kommen und Ihre Wahrheiten von dort wiedererkennen. Sie brauchen sich nur die Frage vorzulegen: Was ist es, was da die Stauung hervorbringt, was den Durchschnitt hervorbringt? - Daß sich da etwas staut, das liegt daran, daß sich die beiden Ströme im physischen menschlichen Leben begegnen. Nehmen Sie an, der physische menschliche Leib sei weg­genommen, und der Ätherleib sei auch weggenommen. Das ist aber der Fall nach dem Tode, wo die von der Vergangenheit in die Zu­kunft gehende Strömung nicht mehr da ist. Dann hat die von der Zukunft in die Vergangenheit drängende Strömung, das heißt, der Astralleib, freien Lauf und macht sich nun nach dem Tode unmittel­bar geltend. Und die Folge ist, daß das Leben in Kamaloka rückwärts verläuft, wie es Ihnen erzählt worden ist.

So sehen Sie, daß wir auf psychosophischem Gebiet wiederfinden, was wir auf geisteswissenschaftlichem Gebiet gelernt haben. Jch möchte allerdings, daß Sie dabei noch eines bemerken: daß in der Tat manchmal ein recht weiter Weg ist von dem Wissen der geisteswissen­schaftlichen Wahrheiten aus Mitteilungen hellseherischer Forschung heraus zu dem, was auf dem physischen Plan wirklich erfahren werden kann, denn dies muß erst in Ordnung gebracht werden. Wenn es aber in Ordnung gebracht ist, dann werden Sie überall finden, daß die Forschungen

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des hellsichtigen Bewußtseins sich durch die Beobachtun­gen des physischen Planes überall rechtfertigen lassen.

Jetzt aber betrachten wir eine andere Erscheinung unseres Seelen­lebens, eine solche Erscheinung, die gewöhnlich bezeichnet wird durch Worte wie «Überraschung», «Erstaunen» gegenüber irgend­einer Sache. Wann können wir von einer Sache, die uns begegnet, überrascht sein? Nur dann, wenn wir in dem Augenblick, wo sie an uns herantritt, nicht in der Lage sind, sogleich zu urteilen, wo sozu­sagen auf unser Seelenleben ein Eindruck gemacht wird und wir also nicht gleich mit unserem Urteil der Sache gewachsen sind. Im Augen­blick, wu wir mit dem Urteil der Sache gewachsen sind, hört das Er­staunen, hört die Überraschung auf. Und was uns so begegnet, daß wir gleich der Sache gewachsen sind, das bringt uns überhaupt nicht zur Überraschung, zum Erstaunen. So also können wir sagen: Wenn uns eine Erscheinung so gegenübertritt, daß wir überrascht sind, viel­leicht sogar Furcht empfinden - denn auch da werden wir das Gefühl so charakterisieren können, daß wir mit unserem Urteil der uns ent­gegentretenden Erscheinung nicht gewachsen sind -, wo also die Er­scheinung auf unser Seelenieben einen bewußten Eindruck macht, ohne daß unser Urteil sogleich eintreten kann, da drängt sich die Zu­kunft in unser Seelenleben hinein. Da tritt unser Gefühl, unser Inter­esse in Kraft, aber unser Urteil kann nicht sogleich heran. Daraus mussen wir uns sagen, daß in der Tat unsere Interessiertheit, unsere Gefühle und unser Begehrungsleben nicht die Richtung haben kön­nen, die von der Vergangenheit in die Zukunft geht, denn da würde unmittelbar aus derselben Richtung her das Urteil fließen können. Also muß das Urteil noch etwas anderes sein als die Interessiertheit. Das haben wir schon aus der gewöhnlichen Beobachtung heraus ge­wonnen. Aber dieses Urteil kann auch nicht zusammenfließen, kann auch nicht ein und dasselbe sein mit dem aus der Vergangenheit in die Zukunft fließenden Strom des Seelenlebens. Wenn das der Fall wäre, müßte in jedem Augenblick das Urteil sich decken mit dem Strom der Vorstellungen. Es müßte in jedem Augenblick, wo wir urteilen, unser ganzes Seelenleben tätig sein. Es müßte in jedem Augenblick fertig sein mit den Vorstellungen. Das Urteilen ist aber etwas Bewußtes.

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Denken Sie aber, wie weit Sie entfernt sind in dem Augenblick, wo Sie urteilen, von dem Gegenwärtig-Haben aller Ihrer Vorstellungen, die Sie haben könnten! Das Urteilen fällt ins Bewußtsein herein, ist aber nicht imstande, den fortfließenden Strom des Seelenlebens auf­zufangen. Es stehen Ihnen nicht immer alle Ihre Vorstellungen zu Gebote. Also mit dem fortfließenden Strom des Seelenlebens kann unser Urteilen nicht zusammenfallen. Es kann aber auch nicht zu­sammenfallen mit dem von der Zukunft in die Vergangenheit gehen-den Strom, weil sonst solche Gefühle, wie Furcht, Überraschung, Staunen, nicht möglich sein würden. Daraus folgt, daß mit keiner die­ser Richtungen zusammenfällt, was wir Urteilen nennen.

Halten wir das fest und betrachten wir jetzt einmal den fortfließen­den Strom unseres Ätherleibes, der von der Vergangenheit in die Zukunft sich bewegt. Er zeigt als sein Eigentümiichstes, daß er so­wohl unbewußt fortfließen kann in der Seele, wie auch bewußt wer­den kann. Fassen wir nun ins Auge, wodurch unbewußte, in der Seele fortfließende Vorstellungen bewußt werden können. Darüber müssen wir uns klar sein: vorhanden sind diese Vorstellungen fortwährend. Aber was geschieht in dem Moment, wo sie bewußt werden? Be­trachten wir einmal den Moment, wo, in einer höchst eigenartigen Weise, uns entschwundene Vorstellungen bewußt werden. Ich will Ihnen einen solchen Moment vor die Seele rufen. Sie gehen durch eine Bildergalerie; Sie sehen ein Bild, schauen es an. In diesem Augenblick taucht in Ihnen dasselbe Bild auf: Sie haben es nämlich schon gesehen. Nehmen wir das an. Was hat da die Erinnerung hervorgerufen? Sie ist hervorgerufen worden durch den Eindruck des neuen Bildes . Der Eindruck des neuen Bildes war es also, der Ihnen, wenn ich so sagen darf, in die Seelensichtbarkeit hereingezaubert hat die alte Vorstellung von dem Bilde, die in Ihnen fortgelebt hatte. Wenn das neue Bild nicht gekommen wäre, würde sie nicht aufgetreten sein.

Diesen Vorgang können wir uns überhaupt nur verdeutlichen, wenn Sie sich folgendes klarmachen. Was ist geschehen, indem Sie das neue Bild gesehen haben? Ihr Ich ist willens, dem Bilde entgegen-zutreten. Es tritt in Wechselverkehr mit dem Bilde durch die Sinne. Und dieser Umstand, daß Ihr Ich einen neuen Eindruck hat, etwas

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Neues in sich hereinnimmt, der wirkt merkwürdigerweise auf etwas in dem fortfließenden Strom des Seelenlebens derartig, daß dieses nun auch sichtbar wird. Versuchen wir ein Bild zu gewinnen, um diesen Vorgang zu charakterisieren. Denken Sie einmal an alle die Gegen­stände, die, wenn Sie in einer Richtung stehen, hinter Ihnen sind. Sie sehen sie nicht, weil sie hinter Ihnen sind. Sie können sie nur sehen, wenn Sie sich einen Spiegel vorhalten; dann sehen Sie im Spiegel die Gegenstände, welche hinter Ihnen sind. Daraus können Sie schon schließen, daß etwas ganz Ähnliches der Fall sein muß mit den Vor­stellungen, die in der Seele unbewußt fortleben. Wenn der neue Ein­druck kommt, stellt er sich so in das Seelenleben herein, daß der alte Eindruck seelisch sichtbar wird. Wenn Sie sich nun vorstellen, daß das Ich im Seelenleben etwas ist, was vor den alten Vorstellungen steht, die unbewußt sind, und der Moment des Erinnerns dadurch charak­terisiert ist, daß diese Vorstellungen durch einen inneren Seelenvor­gang veranlaßt werden, sozusagen sich zu spiegeln, dadurch, daß eine Ursache für die Spiegelung geschaffen wird, dann haben Sie den Vor­gang des Erinnerns, des Bewußtwerdens der alten Vorstellungen.

Und wo ist denn der Grund, daß eine solche Spiegelung entsteht? Sie können ihn leicht finden, wenn Sie nur nachdenken wollen. Sie gewinnen eine Anschauung über den Grund, daß eine solche Spiege­lung entsteht, wenn Sie sich an etwas erinnern, was ich sogar schon neulich im öffentlichen Vortrage über «Leben und Tod» gesagt habe: daß als eine höchst wichtige Tatsache im Seelenleben zu beobachten ist, daß die rückwärtslaufende Erinnerung des Seelenlebens bei einem bestimmten Punkt aufhört. Von diesem Punkte an rückwärts, er­innert sich der Mensch nicht mehr. Bei diesem Punkte fängt dann im Menschen die Erinnerung an. Mit andern Worten: Welche Vorstel­lungen werden überhaupt im gewöhnlichen physischen Leben des Menschen erinnert? Nur diejenigen, bei denen das Ich dabeigewesen ist, die wirklich das Ich hereingenommen hat. Denn ich habe schon darauf aufmerksam gemacht: Ungefähr so weit zurück, als die Erinne­rung an die früheren Ereignisse zurückreicht, liegt auch der Moment, wo das Kind überhaupt fähig geworden ist, die Ich-Vorstellung, das Ich-Bewußtsein zu entwickeln. Nur diejenigen Vorstellungen, die so

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aufgenommen worden sind, daß das Ich tätig dabei war, daß eine aktive Kraft dabei war, indem das Ich sich als bewußtes Ich gefühlt hat, nur diese Vorstellungen werden im gewöhnlichen Menschenleben überhaupt erinnert, können nur erinnert werden. Was macht denn also dieses Ich, indem es sozusagen geboren wird, sagen wir im zweiten oder dritten Jahre des kindlichen Lebens? Früher hat es sozusagen unbewußt die Eindrücke aufgenommen, war nicht selbst dabei. Dann fängt es an, als Ich-Bewußtsein sich wirklich zu entwickeln, und mit diesem Ich-Bewußtsein beginnt dann das Kind alle Vorstellungen zu verknüpfen, die es von außen heremnnimmt. Das ist der Moment, wo das menschliche Ich beginnt, sich vor seine Vorstellungen zu stellen und diese hinter sich zu setzen. Sie können das fast handgreiflich er­fassen: Vorher war das Ich sozusagen in seinem ganzen Vorstellungs­leben darinnen; dann tritt es heraus und stellt sich so, daß es nunmehr frei der Zukunft entgegengeht und sozusagen gewappnet ist, alles das, was aus der Zukunft herankommt, aufzunehmen, aber hinter sich stellt die vergangenen Vorstellungen.

Wenn wir das, was wir jetzt gesagt haben, festhalten, was muß denn dann geschehen in dem Moment, wo das Ich anfängt, alle Vor­stellungen sozusagen in sich hereinzunehmen, wo das Ich bewußt wird? Da muß das Ich sich verbinden mit dem fortfließenden Strom, mit dem, was wir den Ätherleib genannt haben. Und in der Tat, in dem Moment, wo das Kind anfängt, sein Ich-Bewußtsein zu ent­wickeln, da hat der Strom des Seelenlebens einen Eigeneindruck auf den Ätherleib gemacht. Dadurch entsteht aber auch die Ich-Vorstel­lung. Denn bedenken Sie einmal, daß die Ich-Vorstellung Ihnen nie­mals von außen gegeben werden kann. Alle andern Vorstellungen, die sich auf die physische Welt beziehen, sind Ihnen von außen gegeben. Die Ich-Vorstellung, schon die Ich-Wahrnehmung kann Ihnen nie­mals von außen zufließen. Das wird Ihnen erst erklärlich, wenn Sie sich jetzt vorstellen, daß das Kind, bevor es die Ich-Vorstellung hat, unfähig ist, den eigenen Ätherleib zu verspüren; in dem Augenblick, wo es anfängt, das Ich-Bewußtsein zu entwickeln, verspürt es seinen Ätherleib, und es spiegelt zurück in das Ich das Wesen des eigenen Ätherleibes. Da hat es den «Spiegel». Während also alle andern

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Vorstellungen, die sich auf den physischen Raum und auf das Leben im physischen Raum beziehen, durch den physischen Leib des Menschen aufgenommen werden, nämlich durch die Sinnesorgane, entsteht über­haupt das Ich-Bewußtsein dadurch, daß das Ich den Ätherleib ausfüllt und sich gleichsam an seinen Innenwänden spiegelt. Das ist das Wesentliche des Ich-Bewußtseins, daß es der nach innen sich spie­gelnde Ätherleib ist.

Durch was kann das Ich denn nur veranlaßt werden, sich so im Innern zu spiegeln? Dadurch allein kann es dazu veranlaßt werden, daß der Ätherleib einen gewissen inneren Abschluß erlangt. Wir sahen ja, daß dem Ätherleib entgegenkommt der Astralleib. Es ist also sozusagen das Ich, welches den Ätherleib ausfüllt und sich dieses Ätherleibes als solchem, wie durch innere Spiegelung, bewußt wird.

Aber eines hat diese Ich-Vorstellung, dieses Ich-Bewußtsein: es wird mächtig ergriffen von aller Interessiertheit und von allen Be­gehrungen. Denn die setzen sich gehörig fest in dem Ich. Aber trotz­dem sich die Interessiertheit, die Begehrungen so in dem Ich fest­setzen was wir als die verschiedenen Egoismen bezeichnen , müs­sen wir sagen: Diese Ich-Wahrnehmung hat wieder etwas sehr Eigen­tümliches. Sie hat in gewisser Beziehung doch wieder etwas Unab­hängiges von den Begehrungen. Es gibt nämlich eine gewisse For­derung in der Menschenseele, die sie sich selbst stellt und die ja sehr leicht für die Seele selber beglaubigt werden kann. Es wird sich jede Seele sagen: Durch das bloße Begehren kann ich unmöglich mein Ich hervorrufen. Wenn ich noch so sehr mein Ich wünsche: dadurch ist es nicht da, daß ich es wünsche. Ebensowenig wie das Ich etwa nur besteht aus dem fortfließenden Strom der Vorstellungen, ebenso­wenig besteht es aus dem andern Strom, der aus der Zukunft in die Vergangenheit geht, dem Strom der Begehrungen. Es ist ein von bei­den Strömen grundverschiedenes Element, das aber beide Ströme in sich aufnimmt.

Das können wir uns graphisch darstellen und die graphische Dar­stellung entspricht in diesem Falle vollständig dem Tatbestand , in­dem wir den Strom des Ich senkrecht auf den Strom der Zeit fassen. So muß man es nämlich tun, wenn man alle Seelenerscheinungen rich­tig

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in Betracht zieht. Sie kommen zurecht mit den Seelenerscheinun­gen, wenn Sie außer den beiden Strömen dem aus der Vergangenheit in die Zukunft und dem aus der Zukunft in die Vergangenheit noch eine solche Strömung in der menschlichen Seele annehmen, welche senkrecht auf den beiden andern steht. Das ist die, welche dem mensch­lichen Ich-Einschlag selber entspricht.

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Nun ist aber mit dem Ich etwas verbunden, was Sie auch wieder durch eine bloße Beobachtung des Seelenlebens leicht finden können, nämlich die Urteilsfähigkeit. Mit dem Ich schlägt die Urteilsfahigkeit herein. Sie können das an einer solchen Erscheinung wie der der Überraschung ganz leicht jetzt begreifen. Wenn das Ich seitlich allerdings wirkt, kann ein Ereignis an Sie herantreten, das Ihnen ent­gegenbringen wird eine Fülle von Interessiertheit. Aber wenn nicht seitlich zugleich einschlagen kann die urteilende Tätigkeit des Ich, dann ist es unmöglich, daß sich das Ereignis mit dem Urteil begegnet. Aber was geschieht denn, wenn das Ich seitlich einschlägt? Wir haben

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gesehen, es ist die Ich-Wahrnehmung wie eine innere Spiegelung in der Seele. Die Spiegelung müßte so geschehen, daß das Ich förmlich die Vorstellungen hinter sich hätte, die da unbewußt fließen. Das würde dann der Fall sein, wenn die Ich-Strömung so einströmte, daß sie tatsächlich in ihrem eigenen Einströmen die Richtung hat, die ich mit dem Pfeil EF bezeichnet habe, im Leben aber die Richtung

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hätte, die ich mit dem Pfeil GH bezeichne, nämlich der Zukunft ent­gegen. Nun nehmen Sie an, das Ich wäre, insofern es in den Ätherleib eingeschlagen hat, selber ein Spiegel geworden. Die Sache stimmt in ganz auffälliger Weise. Wenn das Ich die Vorstellungen, die unbewußt weiterfließen, hinter sich hat, was hat es denn dann vor sich, wenn es nach der Zukunft schaut, wie es ja die Natur des Ich ist, der Zukunft entgegenzuleben? Was müßte da sein?

Denken Sie sich: Sie stehen vor einem Spiegel und sehen hinein. Wenn auf der Rückseite des Spiegels kein Spiegelbelag ist, sehen Sie überhaupt nichts; dann sehen Sie in die unendliche Ferne hinein. Das

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ist zunächst der Blick des Menschen in die Zukunft. So sieht der Mensch in der Tat in den Strom hinein, der von der Zukunft herein­kommt. Der fließt seelisch auf ihn zu: er sieht nichts. Wann nur sieht er etwas? Wenn er dadrinnen im Spiegel etwas sieht von der Ver­gangenheit. Dann sieht er natürlich nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit! Sie sehen nicht die Gegenstände, welche vor Ihnen sind, wenn Sie in den Spiegel schauen, sondern die, welche hinter Ihnen sind. Wenn das Ich in dem Augenblick, wo das Kind zum Selbstbewußtsein kommt, das dadurch entsteht, daß das Ich ein­schlägt in den Ätherleib, sich innerlich spiegelt, so bedeutet alles seelische Leben von da ab ein Mitspiegeln der Erlebnisse, ein Mit-spiegeln der Eindrücke. Daher können Sie sich an nichts erinnern, bevor sich das Ich zum Spiegelapparat gemacht hat. Die allerersten Kindheitseindrücke bleiben außer der Erinnerung. Das Wesentliche ist nämlich, daß das menschliche Ich, insofern es in den Ätherleib hineinschlägt, das heißt, aufnimmt die Vorstellungen aus der Ver­gangenheit, dadurch selber zu einem Seelen-Spiegelungsapparat wird. Und für alles, was es von da ab hereinnimmt in seinen Spiegelungs­apparat, ist es zugänglich. Was muß denn also geschehen, damit nun das Ich sozusagen Vergangenes wirklich widerspiegeln kann?

Man könnte sagen: Wenn Sie einen äußeren Eindruck haben, wie ich ihn vorhin geschildert habe wenn Sie ein Bild neuerdings sehen, das sie schon gesehen haben , so wird dadurch die Spiegelung be­wirkt in bezug auf die alte Seelenvorstellung, die früher unbewußt war; die wird dadurch von der andern Seite so in ihrer Strahlung zurückgehalten, daß sie in den inneren Seelenspiegel hereinfällt. Wenn aber kein neuer Eindruck, keine Wiederholung irgendeines alten Ein-druckes geschieht, so muß das Ich selbst herbeiziehen, was als Spiege­lung auftreten soll; da muß es von der andern Seite wirken und Ersatz schaffen für das, was sonst der äußere Eindruck bewirkt hat. Was ist denn aber dieses Ich zunächst, wie es sich im physischen menschlichen Leben auslebt? Es ist die innere Erfüllung des Ätherleibes. Also es muß innerlich diesen Ätherleib, damit es sich an seinen Innenwänden spiegeln kann, zum Spiegeln gebracht haben. Das kann nur dadurch geschehen, daß der Ätherleib wirklich abgeschlossen wird. Für die

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äußeren Sinneseindrücke wird er abgeschlossen, indem Sie im physi­schen Leibe sind, denn dadurch sind Sie mit Augen, Ohren und so weiter umgeben, und was innerhalb des Ätherleibes lebt, kann da­durch zurückgeworfen werden. Für das aber, dessen Sie sich frei erinnern sollen, müssen Sie eine andere Kraft haben, denn wenn der Ätherleib spiegeln soll, muß er einen Spiegelbelag haben. Diesen Spiegelbelag geben für die neuen Eindrücke die Sinnesorgane, das heißt der physische Leib. Wenn aber der physische Leib nicht wirkt, wie das bei einer freien Erinnerung ist, wenn wir keine neuen Ein­drücke zur Auffrischung haben, so muß der Belag von der andern Seite hergenommen werden. Das kann nur dadurch geschehen, daß wir das, was entgegenschlägt dem Ich, wir könnten sagen, seitlich entgegenschlägt dem Ich, als eine Hauptkraft verwenden, indem wir das Begehren heranziehen, den uns entgegenkommenden Strom her-einschieben und ihn zum Spiegelbelag machen. Das heißt, nur durch eine entsprechende Stärkung unseres Astralleibes können wir be­wirken, daß wir die Strebenskräfte, die Begehrungskräfte entwickeln können, die uns fähig machen, eine Vorstellung, die sich weigert zur Spiegelung zu kommen, in die Erinnerung heraufrufen. Nur dadurch, daß wir unser Ich, wie es sich in der physischen Welt auslebt, stärker machen, sind wir allein imstande, diesen Strom, der sonst nicht von uns ergriffen wird, der von der Zukunft kommt, tatsächlich herein-zuziehen und ihn zum Spiegelbelag zu machen. Also nur durch eine Stärkung unseres Ich, nur durch den Umstand, daß wir das Ich zum Meister des Astralleibes, des Stromes aus der Zukunft machen, können wir das Ich zur Erinnerungsfähigkeit bringen von Vorstellungen, die sich nicht spiegeln wollen, die sich weigern, sich uns zu ergeben. Es ist da ein Kampf~ den wir kämpfen mit den unbewußten Vorstellungen. Das Ich ist nicht stark genug, sie herbeizuholen, und da müssen wir eine Anleihe machen bei dem, was uns entgegenkommt.

Um das zu verdeutlichen, will ich ein Beispiel nehmen aus der Lebenspraxis, um zu zeigen, wodurch es geschehen kann, daß Sie tatsächlich eine Stärkung Ihres Ich herbeiführen. Gewöhnlich erleben Sie die Lebensereignisse so, daß Sie einfach dem fortlaufenden Strom des Erlebens folgen. Wenn eine Glocke tönt, einmal, ein zweites, ein

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drittes Mal anschlägt, so hören Sie zuerst den ersten, dann den zweiten und dann den dritten Ton. Dann sind Sie aber fertig. Wenn Sie ein Drama anhören, hören Sie die einzelnen Teile hintereinander; dann sind Sie fertig. Das heißt, Sie leben in dem Ätherleibe mit dem fort­laufenden Strom. Nehmen wir aber an, Sie betreiben es systematisch, den umgekehrten Strom sich anzueignen, Sie gewöhnten sich daran, Dinge, die Sie sonst nur in der einen Richtung verfolgen, auch um­gekehrt zu verfolgen. Zum Beispiel, Sie nehmen sich vor, einige Ereignisse des Tages in umgekehrter Reihenfolge zu erinnern. Wenn Sie so das Tagesleben rückwärts betrachten, dann folgen Sie nicht dem gewöhnlichen Ich-Strom, der dadurch zustande kommt, daß das Ich im Ätherleibe lebt, sondern Sie folgen dann dem entgegengesetzten Strom, dem Strom des Astralleibes. Wenn Sie zum Beispiel das Vater­unser statt, wie Sie gewohnt sind, es vorwärts zu beten, es jetzt rück­wärts beten, dann folgen Sie einem dem gewöhnlichen Strom der Ereignisse entgegengesetzten Strom. Das ist nicht der gewöhnliche Strom, der dadurch zustande kommt, daß das Ich den Ätherleib aus­füllt. Und die Folge ist, daß Sie Ihrem Ich dadurch eine Kraftzufuhr bereiten aus dem astralischen Strom heraus. Dann tritt in der Tat eine Erinnerungsfähigkeit ein in ganz gewaltigem Maße. Ich selbst habe in meiner Erziehertätigkeit bei meinen Schülern dahin gewirkt, damit sie eine Stärkung des Gedächtnisses für später haben sollten, daß sie gewisse Dinge, die man sonst nur in einer Richtung lernt, auch in der umgekehrten Richtung lernten und immer wieder und wieder üben mußten. So wird die Härteskala der Mineralien gewöhnlich in der folgenden Reihenfolge gelernt: 1. Talk, 2. Steinsalz, 3. Kalkspat, 4. Flußspat, 5. Apatit, 6. Orthoklas oder Kalifeldspat, 7. Quarz,

8. Topas, 9. Korund, 10. Diamant. Da habe ich nun die Schüler neben dieser Aufzählung auch immer wieder die umgekehrte Reihen­folge üben lassen: Diamant, Korund, Topas, Quarz, Orthoklas, Apatit, Flußspat, Kalkspat, Steinsalz, Talk. Das ist eine außerordent­lich gute Übung besonders wenn sie zu guter Zeit im Kindheitsalter vorgenommen wird für die Stärkung der Gedächtniskraft.

Eine andere Übung gibt es dafür noch, eine Übung, die wieder mit alledem zusammenhängt, was wir in den verflossenen Tagen und auch

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heute betrachtet haben, und die besteht in folgendem. Nehmen wir an, jemand leide an auffallendem Gedächtnisschwund, und er gibt sich die Mühe, irgendeine Beschäftigung, die er in der Jugend vor­genommen hat, mit voller Hingabe wieder vorzunehmen. Denken Sie, der Betreffende stände jetzt im siebenundvierzigsten Lebensjahr, und er habe sich mit fünfzehn Jahren besonders befaßt mit einem Buche, das ihm damals sehr große Freude gemacht hat, und er nimmt dieses Buch jetzt wieder vor und versucht es von neuem durch-zugehen. Wenn Sie in einem solchen Falle dieselben Tatsachen wieder vor Ihre Seele rufen, kommt Ihnen der neue Strom entgegen, und Sie stärken sich aus dem astralischen Strom, der Ihnen aus der Zukunft entgegenkommt. Wenn das ausgeführt wird von einem Menschen, wenn er zum Beispiel als ein Greis wieder an Beschäftigungen geht, die er zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre getrieben hat, dann ist das eine ganz besondere Hilfe zur Aufbesserung des Ge­dächtnisses.

Diese Dinge können Ihnen also zeigen, daß tatsächlich unser Ich sich stärken muß aus dem dem Strom des Ätherleibes entgegen­kommenden astralischen Strom, wenn es die Erinnerungsfählgkeit fördern will. Das alles sind außerordentlich wichtige Dinge für die Lebenspraxis. Und wenn zum Beispiel beim Unterricht mehr Auf­merksamkeit auf solche Dinge verwendet würde, so könnte man da­durch ungeheuer segensreich wirken. So könnte man zum Beispiel segensreich wirken, wenn man die aufeinanderfolgenden Schulklassen in einer siebenklassigen Schule so einteilen würde, daß man sozusagen eine Mittelklasse einrichtete, die gewissermaßen für sich dann be­stünde, und daß dann in dieser fünften Klasse verändert sich das wiederholen würde, was in der dritten durchgenommen worden ist, und ebenso in der sechsten Klasse sich wiederholen würde, was in der zweiten, und in der siebenten, was in der ersten Klasse behandelt wor­den ist. Das würde eine vorzügliche Stärkung des Gedächtnisses be­deuten, und die Menschen würden schon sehen, wenn sie dies in die Praxis einführten, wie segensreich sich diese Dinge auswirken würden, einfach aus dem Grunde, weil sie den Gesetzen des wirklichen Lebens entstammen.

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Daraus sehen wir zugleich, daß der Mensch in seiner Ich-Vorstel­lung, in seinem Ich-Bewußtsein überhaupt etwas hat, was erst ent­steht. Es entsteht ja erst im kindlichen Alter. Und wir haben auch hin­gewiesen darauf, wodurch es entsteht: nämlich dadurch, daß sich der Ätherleib nach innen spiegelt. Kein Wunder daher für denjenigen, der die Geisteswissenschaft kennt, gewiß nicht, da er weiß, daß der Mensch in der Nacht außer dem physischen Leib und Ätherleib ist , daß das Ich-Bewußtsein in der Nacht nicht da sein kann, weil sich das Ich nicht im Ätherleibe spiegeln kann. Wir sind also gar nicht über­rascht, wenn wir hören, daß die Ich-Vorstellung während des Schlaf-zustandes auch in die Unbewußtheit hinuntergehen muß, denn der Ätherleib ist der fortlaufende Strom der Zeit; er enthält die Vor­stellungen, die erst von der andern Seite beleuchtet werden müssen, das heißt vom Astralleib. Dann kann das, was im Ätherleib sozusagen vorwärtsschwimmt, beleuchtet werden vom Seelenleben. Was der Mensch als Ich-Vorstellung hat, ist selbst nur im Ätherleibe; das ist selbst nur der gesamte Ätherleib von innen gesehen. Die Ich-Vor­stellung ist selbst nur im Ätherleibe wirksam, nicht aber das Ich selber, denn haben wir gesagt das Ich ist die seitlich einfallende Urteilskraft. In dem Augenblick, wo Sie das Ich begreifen wollen, dürfen Sie nicht zum Ich-Bewußtsein gehen, sondern da müssen Sie zum Urteil gehen. Und merkwürdigerweise erklärt sich das Urteil ziemlich souverän gegenüber dem Ich-Bewußtsein. Wir haben ganz genau unterschieden zwischen dem, was vom Urteilen ergriffen ist, und dem, was noch nicht davon ergriffen ist. Wenn wir den Eindruck der roten Farbe haben, so ist noch kein Urteil gefällt vom Seelenleben. Da steht die Urteilsfähigkeit still. Es brandet von außen herein, was entscheidet über den Eindruck. In dem Augenblick, wo wir das ein­fachste Urteil fällen: «Rot ist», wenn wir dem Rot das Sein zu­schreiben, findet schon eine Urteilsfällung des Seelenlebens statt. In dem Augenblick, wo wir Urteile fällen, regt sich das Ich. Wenn nun das Ich seine Urteile fällt auf Grund der Ergebnisse der äußeren Ein­drücke, so kommen die äußeren Eindrücke ins Urteil herein, dann sind die äußeren Eindrücke Gegenstand des Urteilens, zum Beispiel «Rot ist». Was muß denn aber möglich sein, wenn das Ich eine Wesenheit

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ist, verschieden von allen Vorstellungen und auch von seiner eigenen Wahrnehmung? Wenn das Ich der Veranlasser ist der Ich-Wahrnehmung, was muß da sein? Dann muß eine Urteilsmöglichkeit sein. Unter den verschiedenen Urteilen in unserem Seelenleben muß es eines geben, dem gegenüber sich das Ich souverän fühlt, nicht an­gewiesen auf einen äußeren Eindruck. Das tritt in der Tat ein, wenn Sie das Urteil fällen: «Ich ist. » «Ich bin», ist ja nur ein anderer Aus­druck dafür. Da haben Sie das, was sonst im Ich lebt, was Sie aber noch nicht zum Bewußtsein gebracht haben, mit Urteilsfähigkeit aus­gefüllt im «Ich ist» oder «Ich bin». Was vorher eine leere Blase war, die wie Schaum zerfließt, wenn das Seelenleben unbewußt wird, das haben Sie ausgefüllt mit Urteilskraft.

Wenn das so ist, wenn das Ich sich selber ausfüllt, was geschieht dann? Urteilen ist eine Seelentätigkeit. Seelentätigkeiten entstehen im Seelenbinnenleben, innerlich. Sie führen zu Vorstellungen. Im Be­reiche dieser Vorstellungen taucht auch auf die Ich-Vorstellung. Aus der Ich-Vorstellung haben wir aber nichts über das Ich selbst lernen können. Aber eines zeigt sich jetzt: Nichts von äußeren Eindrücken kann uns zur Ich-Vorstellung bringen. Mit andern Worten: Die Ich-Vorstellung stammt nicht aus der physischen Welt. Da sie also nicht aus der physischen Welt stammt, sonst aber ganz den Charakter hat wie Vorstellungen, die aus der physischen Welt stammen, und da doch das Urteilen in der Seele, das eben zu den elementaren Inhalten des Seelenlebens gehört, auf das Ich angewendet wird, so muß das Ich von woanders her in das Seelenleben hereinkommen. Das heißt, wir haben damit zur Evidenz gezeigt, daß geradeso wie die Vorstellung «Rot» von der äußeren Welt in die Seele hereinkommt und vom Ich durch das Urteil umspannt wird, so von der andern Seite her etwas in die Seele hereinkommt, das vom Urteil umspannt wird. Nehmen wir den Eindruck «Rot» und umspannen ihn mit einem Urteil, so haben wir «Rot ist». Nehmen wir in ähnlicher Weise das Ich und sagen «Ich ist», so nehmen wir einen Eindruck aus derjenigen Außenwelt, die wir die geistige Welt nennen, auf und umspannen ihn mit einem Urteil. «Rot» als solches entspricht den Daseinsformen der physischen Welt. «Rot ist » ist ein Urteil und kann nur innerhalb des Seelenlebens

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zustande kommen. «Ich» ist eine Tatsache, wie «Rot» eine Tatsache ist, und es kann nur in das Seelenleben eintreten, das heißt, von einem Urteil umspannt werden, wenn das Urteil von der andern Seite der Seele entgegenkommt und das Ich umspannt mit dem Urteil und sagt «Ich bin» oder «Ich ist». «Ich ist» ist nur die Umkehrung des «Ich bin» nach der andern Seite. Der Sprachgenius ist eben sehr gescheit und drückt die Dinge sehr prägnant aus.

#Bild s.206

Wenn ich nun die vierte Richtung zeichne, von unten nach oben, so würde ich die dem Ich entgegengesetzt laufende Richtung als die Richtung der physischen Welt bezeichnen müssen (siehe Zeichnung, IK). Darin hätten wir das, was dem physischen Leib entspricht. Die

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Eindrücke der physischen Welt gehen also, graphisch dargestellt, von unten nach oben und offenbaren sich in der Seele als Sinneseindrücke. Auf der einen Seite sind entgegengesetzt das Ich und seine physisch-leiblichen Sinnesorgane, auf der andern Seite stehen sich entgegen die Strömung des Ätherleibes und die des Astralleibes. Wenn nun das Ich aufstößt an das, was der physische Leib ist, wenn es gerade hinströmt gegen sein Auge, gegen sein Ohr, so bekommt es die Eindrücke der physischen Welt. Die werden in der Seele weitergebracht dadurch, daß die Seele ein Bewußtsein hat durch das Gegenströmen von astrali­scher und ätherischer Welt. Und aus dem ganzen Bilde können Sie sich klarmachen, daß man verhältnismäßig eine gute graphische Dar­stellung bekommt von dem Verhältnis der verschieden zusammen-wirkenden Welten in der menschlichen Seele, wenn man sich sagt:

Auf der einen Seite ist entgegengesetzt Ich und der physische Leib mit seinen Sinnesorganen; die stehen sich direkt gegenüber. Dann stehen sich direkt gegenüber, indem sie gleichsam zu den beiden andern Strömungen einen rechten Winkel bilden, Ätherleib und Astralleib.

Nun kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß sich Ihnen un­zählige Rätsel der Seele lösen werden, wenn Sie dieses Schema zu­grunde legen. Sie werden dann schon begreifen, daß in diesem Kreuz, das von einem Kreis durchzogen ist, ein sehr gutes Schema des Seelenlebens gegeben ist, wie es angrenzt an das Geistige nach oben, an das Physische nach unten, an das Ätherische nach links und an das Astralische nach rechts. Nur müssen Sie sich dabei zu der Vorstellung aufschwingen, daß der Strom der Zeit nicht nur etwas ruhig Dahin-fließendes ist, sondern daß ihr etwas entgegenkommt, daß aber das Ich-Leben und das Sinnesleben nur begriffen werden können, wenn sie wieder im rechten Winkel auf die Zeitströmung auftreffend ver­standen werden. Wenn Sie dies ins Auge fassen, werden Sie wohl verstehen, daß in unserer Seele wirklich recht verschiedene Kräfte sich treffen. Unsere Seele ist gewissermaßen der Schauplatz, auf dem sich Kräfte treffen der verschiedensten Richtungen.

Nehmen wir einmal an da ja diese Kräfte gerade bei der Mannig­faltigkeit der Menschen sich auch in der mannigfaltigsten Weise gel­tend machen werden , bei einem Menschen sei das urteilende Ich

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vorherrschend. Dann wird es seiner Seele außerordentlich schwer sein, die abstrakten Begriffe so vollsaftig zu machen, daß sie unmittelbar die Gefühle ansprechen. Daher werden wir erwarten können, daß bei einem Menschen, dessen Hauptgeschäft das Urteilen ist, sich nicht so leicht aus dem, was in seinen Worten liegt, Vollsaftiges ergeben wird, was zu unserem Gefühlsleben spricht. Ein Mensch dagegen, dessen Seelenleben so veranlagt ist, daß schon in seinen Anlagen reiches astralisches Leben fließt, reiche Interessen fließen, die entgegen-strömen dem fortlaufenden Strom des physischen Lebens, der wird hereinbringen in das Leben die Anlagen für volisaftige Begriffe. Der wird sozusagen nicht als ein Gedankenmensch auf den physischen Plan treten, sondern so, daß er zeigt, wie leicht es ihm wird, was er innerlich erlebt, in solche Worte zu kleiden, die zu unserem Interesse sprechen. Und da nun der Mensch in verschiedenen Inkarnationen lebt und sich mitbringt in seinen Anlagen die Disposition für den einen oder den andern Strom, so müssen Sie sich denken in die Goethe-Seele hereingebracht die Disposition für den aus der Zukunft entgegenkommenden Strom. Und wenn er sich dem überläßt, dann bringt er von vornherein die in der Zukunft liegenden Ideen als voll-saftige Begriffe in das Leben. Wenn er aber einmal dieses Element, was sein eigenes Leben ist, in Kampf treten läßt mit dem, was da unter der Schwelle des Bewußtseins die in seinem Ätherleib fort-schwebenden Vorstellungen sind, kurz, was er aufgenommen hat aus der Umgebung, dann kommt etwas heraus, was nicht zusammen-stimmt, so wie die beiden Dinge, welche wir als die nichtsnutzigen in dem Gedicht vom «Ewigen Juden» bezeichnet haben, und diejenigen, die wir davon herausgehoben haben. Und bei einem Menschen wie Hegel, der sich die Urteilsdisposition mitgebracht hat, ist es so, daß er ringt mit alledem, was jener Strom ihm entgegenströmen läßt, der von der Zukunft in die Vergangenheit fließt. In der Tat ist es so, daß sich der Mensch mit seinem Ich fortwährend so stellt, daß der fort­laufende Strom von der Vergangenheit in die Zukunft in jeder Gegen­wart zugedeckt ist. Das Ich deckt ihn zu, und es läßt sich entgegen­kommen den Strom des Begehrungsvermögens. Es sieht in die un­endliche Zukunft hinein wie in einen Spiegel, der keinen Belag hat.

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Und in dem Augenblick, wo der Spiegel den Belag bekommt, werden die vergangenen Dinge sichtbar.

Ich konnte nur einiges in diesen Vorträgen aus dem unendlich reichen Gebiet der Psychosophie Ihnen vor die Seele stellen. Sie wer­den aber aus dem Gesagten, wenn Sie die Dinge wirken lassen, mancherlei Schlüsse ziehen können. Besonders wird Ihnen manches aufgehen, wenn Sie sich klarmachen, daß der von der Vergangenheit in die Zukunft fortlaufende Strom im Seelenleben, der Ätherleib, die unbewußten Vorstellungen enthält, die da sind, auch wenn sie nicht ins Bewußtsein hereintreten. Wenn Sie aber aus der Geisteswissen­schaft wissen, daß der Ätherleib der Architekt des physischen Leibes ist, dann werden Sie sich sagen können: Wenn die Vorstellungen auch nicht im Bewußtsein sind, vorhanden sind sie doch; der Ätherleib trägt sie. Und solche im Ätherleib vorhandenen Vorstellungen kön­nen gerade wenn sie nicht bewußt sind eine rege Tätigkeit nach der andern Seite entwickeln. Und wer Leibes- und Seelenkenner ist, der weiß, wie unendlich zerstörend Vorstellungen sein können, die das Bewußtsein nicht herauf locken kann aus dem unbewußten Seelen-leben, und die dennoch in dem unbewußten Seelenleben fortschwim­men mit dem ätherischen Strom. Sie entwickeln dann alle Kräfte in die Leiblichkeit hinein.

Es gibt eine diesbezügliche Tatsache im Leben. Denken Sie, der Mensch habe im zehnten bis zwölften Jahre seines Lebens etwas er­fahren oder erlebt, was ganz und gar von ihm vergessen worden ist. Es kann nicht ins Bewußtsein heraufgerufen werden. Es wirkt aber doch im Ätherleibe weiter und kann ihn krank machen. Da unten in der Unbewußtheit wirken gar manche Vorstellungen, die wirklich als Vorstellungen Krankheitsursachen sind. Wer das weiß, der weiß aber auch, daß es in einer gewissen Weise eine Hilfe dafür gibt. Sie besteht darin, daß man diesen Vorstellungen ihre Kräfte nimmt, das heißt, daß man sie nach andern Richtungen hinleitet, indem man versucht, dem betreffenden Menschen, der selbst dazu nicht stark genug ist, Anhaltspunkte zu geben, daß seine Vorstellungen ihm ins Bewußtsein hinaufkommen können. Damit hat man recht viel bewirkt. Wenn man jemandem bei Vorstellungen, denen gegenüber er machtlos ist und

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die im Ätherleibe weiterwirken, dazu verhilft, daß sie ins Bewußtsein heraufkommen, so wirkt man ungeheuer gesundend im Leben.

Vielleicht sagen jetzt einige von Ihnen: Das versucht man auch schon! Es gibt sogar schon eine Schule, die Freudsche Psychiaterschule, die sich damit befaßt, Vorstellungen von dem früher Getanen und Erlebten heraufzurufen in das Bewußtsein. Aber ich kann diese Schule nicht auffassen als irgend etwas, was mit dem zusammenhängt, was ich jetzt gesagt habe, weil diese Schule gerade dort dieses Mittel versucht, wo es nicht wirksam ist: nämlich gerade für die Vor­stellungsmassen des sexuellen Lebens gilt es nicht. Bei allem übrigen gilt es. Und gerade mit Vorliebe wird dieses Mittel auf die Vor­stellungen des sexuellen Lebens ausgedehnt. Aber da fruchtet es nicht. Und das muß ins Auge gefaßt werden. Also es handelt sich nicht darum, daß man unter dem Einfluß der materialistischen Vorstellungen hintappt auf etwas, worauf die Tatsachen schon stoßen, sondern daß man die Tatsachen ganz genau kennt.

So werden Sie vielleicht außer den einzelnen Bemerkungen, die Sie mit nach Hause tragen können, noch eines gewonnen haben. Wenn man gewissenhaft und mit Urteilskraft zu Werke geht in der Beobach­tung des gewöhnlichen Lebens auf dem physischen Plan, so bietet sich durch solche Beobachtung überall das, was man Belege nennen kann für die Geisteswissenschaft. Und Sie werden gerade durch solche Vorträge eine gewisse Sicherheit gewinnen können für das, was Ihnen an Mitteilungen, die auf hellseherischer Forschung be­ruhen, zukommen kann. Hellseherische Forschung sucht allerdings nicht durch solche Dinge im physischen Leben die Tatsachen auf. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß der Hellseher selbst oft über­rascht ist, wenn er, nachdem er etwas auf dem hellseherischen Wege gefunden hat, daran geht, die Dinge im physischen Leben zu prüfen und dann eine wunderbare Harmonie findet. Umgekehrt würde viel­leicht der Weg nicht gelungen sein. Wenn man versucht, bloß auf dem physischen Plan zu bleiben, gruppiert man die Dinge falsch; da be­kommt man gar nicht die richtigen Gruppierungen heraus und schlägt fortwährend den Tatsachen ins Gesicht.

Also das Grundgefühl, das Sie haben gewinnen können, und das

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sein kann eine gewisse Sicherheit auch gegenüber den geisteswissen­schaftlichen Forschungen, das ist etwas, was Sie mitnehmen können auch als Sicherheit für die psychosophische Forschung. Daher be­mühe ich mich auch, Ihnen da, wo ich Ihnen erzähle aus höheren Welten, ab und zu mit Nüchternheit, mit Trockenheit zu kommen, entsprechend einer streng wissenschaftlichen Betrachtung des physi­schen Planes. Das entspricht der Pflicht: zu beobachten, daß der Mensch auf den physischen Plan gestellt ist, damit er den physischen Plan verstehen lernt. Unsere Zeit hat ein Zweifaches notwendig. Das eine ist, wirklich in entsagungsvollem Denken den physischen Plan zu studieren, auf den wir nicht umsonst durch die großen Weltgesetze gestellt sind. Auf der andern Seite sind wir heute schon in jenem Stadium, wo wir nicht mehr mit den gewöhnlichen Mitteln den physischen Plan bewältigen können, wenn uns nicht die okkulte For­schung zu Hilfe kommt. Mag heute noch so viel Scharfsinn aufgewen­det werden von der gewöhnlichen Wissenschaft auf die Dinge: sie wird notwendig irren, wenn sie nicht zum Führer hat die okkulte Wissenschaft, die ihr die Richtung geben kann. Nachdem die Mensch­heit an der Wende des 15., 16., 17. Jahrhunderts an einem Punkt ge­standen hat, wo die physische Forschung im heutigen Sinne geboren worden ist und daher das Hauptaugenmerk darauf gewendet werden konnte, sind wir heute schon wieder so weit, daß neben diese physische Forschung jetzt eine andere, die okkulte Forschung treten muß, die der physischen Forschung die Richtlinien geben kann. Damit aber, daß er dies nicht nur weiß, sondern es in seine Pflichten aufnimmt, erfüllt der Okkultist etwas, was unsere Zeit als ein Zweifaches in sich aufnehmen muß: ein Gefühl dafür, daß wir fest stehen sollen auf dem physischen Plan, nicht davor zurückscheuen, uns auch in entsagungs­voller Weise dem Denken hinzugeben, und gerade die physischen Tatsachen erfordern ein entsagungsvolles Denken. Ein Gefühl dafür hervorrufen sollen diese Vorträge, wo ich Ihnen mit Nüchternheit komme. Und ganz gewiß wird andererseits derjenige, der den Ge­danken aufnimmt des Hereinspielens des astralischen Stromes von der Zukunft her, ungeheuer viel für das Leben gewinnen können.

Ich muß gestehen ich könnte es Ihnen fast ad oculos beweisen,

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daß es so ist; ich habe die entsprechende Tatsache an einem andern Orte einmal erwähnt , unter allen Psychologen der Gegenwart, die, ohne von Okkultismus etwas wissen zu wollen, mit einer feinen Schulung an die Seelenphänomene l~rangegangen sind und daher, wenn auch in schiefer Weise, für die allerelementarsten Dinge das Richtige auch gefühlt haben, von diesen ist eigentlich nur zu nennen der Name Fraw~ Brentano. Franz Brentano hat sich an die psycholo­gischen Probleme herangemacht in den sechziger, siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Und obwohl eigentlich das, was in seinerPsycho­logie steht, ein scholastisches Spintisieren ist, so lebt doch darin etwas, was einem so vorkommt wie die ersten kindlichen Schritte, die wir jetzt weitergehen sollen. So ist zum Beispiel die Lehre vom Begehren und vom Fühlen und auch was er über das Urteilen sagt, schief; aber die Tendenz ist eine solche, die merkwürdig richtige Linien hätte nehmen können, wenn nicht eine absolute Ignoranz in bezug auf alle okkulten Einschläge dagewesen wäre. Da ist sozusagen der fähigste Psychologe auf den physischen Plan getreten. Er hat auch den ersten Band seiner «Psychologie» erscheinen lassen im Frühjahr 1874, mit dem Versprechen, daß im Herbst der zweite Band folgen werde. Aber dieser zweite Band ist bis heute noch nicht erschienen. Es gibt nur den ersten Band. Warum ist das? In den psychosophischen Vorträgen können Sie sich die Antwort suchen: Franz Brentano mußte steckenbleiben, konnte überhaupt nicht weiter. Er hat in einer ganz netten Weise abgegrenzt, was die nächsten Abschnitte hätten bringen sollen. Er hat sogar einen Ausblick geben wollen von dem Ich aus auf das Geistes­leben und von da in die Unsterblichkeit. Das ist alles abgesteckt. Aber er ist steckengeblieben! Denn es hätte ausgeführt werden müssen, indem von der andern Seite eingezogen wäre der Strom des okkulten Forschens, so daß beobachtet worden wäre der Strom der Seelen-phänomene von der Seite der okkulten Forschung aus.

Da haben Sie den Tatsachenbeweis: Franz Brentano lebte als ein Kind unserer Zeit. Er fing an, die Tatsachen zu gruppieren, die Sie auf dem physischen Plan finden. Aber er blieb stecken, konnte nicht weiter. Er lebt heute als ein alter Herr in Florenz. So wird alles in unserer Zeit steckenbleiben müssen, wenn es auf die Wirklichkeit

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losgehen will. Selbstverständlich kann man Psychologien schreiben, wie zum Beispiel Lipps und Wundt; aber das sind alles vorgefaßte Begriffe und keine Vorgänge, welche im Seelenleben wirklich ge­schehen, sondern die nur existieren in den vorgefaßten Meinungen der betreffenden Autoren. Gerade da, wo sie auf das psychologische Gebiet gehen, da dreschen sie es ist nicht so böse gemeint, es soll nur deutlich ausgedrückt sein nur leeres Stroh, selbst in der Völker-psychologie oder Sprachenpsychologie. Und so würden alle Wissen­schaften steckenbleiben, wenn nicht das, was von der andern Seite kommt, ihnen entgegenkommt.

Fassen Sie daher von dieser Seite das Gefühl auf, daß Sie sich durch Ihre eigenen Interessen hineingestellt haben in eine Bewegung, wo zu verstehen gesucht wird, was so recht die Mission der Zeit ist, und daß Ihr Vertrauen, Ihr Wissen und Glauben wachsen kann, wenn Sie dies so als eine karmische Tatsache auffassen, daß Sie sich sagen: Mein Karma hat mich dazugeführt, teilzunehmen an einem Kreuzungs­punkt einer Zeitenströmung, und ich muß gerade aus dieser Er­kenntnis Mut, Kraft und Zuversicht gewinnen, um energisch mit­zuarbeiten auf diesem Gebiet! Und fruchtbar muß diese Arbeit sein, weil sie von der Notwendigkeit des Menschheitsfortschrittes ge­fördert wird. Und wenn ich selber mitwirken kann, so werde ich selbst Gelegenheit nehmen, eine so selbstlose Arbeit jetzt oder in einem späteren Leben in der Zukunft zu wirken, welche der Weiter-entwickelung der ganzen Menschheit dienen kann. Und damit kommen wir zu dem größten Ideal, das derjenige fühlen kann, der an den Geist glaubt. Dieses Ideal fassen Sie nicht bloß als ein abstraktes Ideal auf, sondern gewinnen Sie es durch das immer wieder stetige Zurückkehren zu unserer geisteswissenschaftlichen Arbeit, wozu ja in unseren Versammlungen hinreichend Gelegenheit geboten ist. Und versuchen Sie mitzunehmen das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu dieser Arbeit. Habe ich etwas dazu getan, was dieses Gefühl Ihnen in die Seele geben kann, dann habe ich Ihnen den Gruß mitgegeben in die Heimat, denen, die sich jetzt an die einzelnen Orte ihrer Heimat zerstreuen. Nehmen Sie diesen Gruß mit als einen Ausfluß der Kraft des Zusammenhaltes, der bestehen soll zwischen allen Gliedern unse­rer

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geisteswissenschaftlichen Bewegung. Fühlen Sie dies, auch wenn wir nicht räumlich zusammen sind, und versuchen Sie aus unserem räumlichen Zusammensein, wenn wir uns wieder in die Welt zer­streuen, Mut, Zuversicht und Energie zu schöpfen, so wie sie jetzt charakterisiert worden sind.

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III Pneumatosophie

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ERSTER VORTRAG Berlin, 12. Dezember 1911

Es ist Ihnen bekannt, daß von dieser Stelle aus im Verlaufe der beiden letzten Jahre, anläßlich unserer Generalversammlungen, von mir zwei kurze Vortragszyklen gehalten worden sind über Anthroposophie und Psychosophie. Dieser jetzige kurze Vortragszyklus von drei Vorträgen und der heutigen Einleitung, über Pneumatosophie, soll die beiden andern ergänzen, und es soll das, was diese drei Vortragszyklen geben, von einem gewissen Gesichtspunkt aus eine Betrachtung über das Wesen des Menschen sein. Vor zwei Jahren wurde gehandelt unter dem Titel «Anthroposophie» von alledem, was von dem Ge­sichtspunkt aus, der gemeint ist und der uns insbesondere in diesen Vorträgen genauer entgegentreten wird, über die physische Natur des Menschen zu sagen ist. Im vorigen Jahre wurde über das gesprochen, was über die seelische Natur des Menschen zu sagen ist, und in diesem Jahre soll gesprochen werden über die geistige Natur des Menschen. Dazu soll der heutige Vortrag im wesentlichen eine Art vorbereitender Einleitung sein.

Zunächst könnte gegenüber dem, was in unserer heutigen Zeit sonst auf diesem Felde üblich ist, schon auffallen, daß die Gesamtnatur des Menschen hier eingeteilt wird in drei Glieder: in die physische Natur, in das Wesen des Seelischen und in das Geistige. Diese Einteilung braucht ja natürlich nicht aufzufallen gegenüber dem, was üblich ist innerhalb unseres geisteswissenschaftlichen Feldes. Allein wir wollen ja gerade mit diesen Vorträgen anstreben, eine Art Brücke zu bauen von der Geisteswissenschaft aus zu der heute üblichen Wissenschaft dieser Gebiete. Deshalb soll auch berücksichtigt werden, was in bezug auf eine solche Menschenbettachtung gebräuchlich ist in der heutigen, außerhalb der Geisteswissenschaft stehenden Wissen­schaft. Und da gliedert man seit langer Zeit und auch vielfach heute noch die Gesamtnatur des Menschen - auch da, wo man nicht auf einem mehr oder weniger offenen oder versteckten materialistischen Boden steht - nur in die beiden Teile, in das Körperlich-Leibliche,

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also in die physische Natur, und in das Seelische. Von dem Geist zu sprechen ist heute in der anerkannten Wissenschaft nicht üblich. Ja, wo aus gewissen Voraussetzungen heraus auf diese Dreigliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist zurückgegangen wird, wie zum Beispiel bei dem katholisierenden Wiener Philosophen Anton Günther im 19. Jahrhundert, da machte sich nicht nur dasjenige gel­tend, was wissenschafdiche Bedenken ergeben, sondern bei Günther hat diese Dreigliederung der menschlichen Natur in Leib, Seele und Geist im wesentlichen die Gründe abgegeben, daß seine von diesem Gesichtspunkt aus interessanten Bücher in Rom auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt worden sind, weil nämlich die katho­lische Kirche entgegen der Bibel, sowohl des Alten wie des Neuen Testamentes, aus denen man nachweisen kann, daß es durchaus biblisch ist, von einer dreigliedrigen Menschenwesenheit, von Leib, Seele und Geist zu sprechen, verhältnismäßig sehr früh, schon in den ersten Jahrhunderten sozusagen den Geist abgeschafft hat, das heißt, in einer gewissen Weise die Evolution der Dogmatik so geführt hat, daß die Gliederung des Menschen nur umfassen dürfe Leib und Seele. Und es galt zum Beispiel bei den mittelalterlichen Philosophen in außerordentlichem Maße als häretisch - und bei allen, die noch heute auf dem Boden dieser mittelalterlichen Philosophie stehen, gilt es auch heute noch innerhalb der katholischen Kirche für absolut häre­tisch -, eine dreigliedrige Menschennatur anzunehmen. Im Grunde genommen hat sich in diesem Falle ganz merkwürdigerweise diese Entwickelung der katholischen Anschauung bis in unsere gegen­wärtige Wissenschaft hereingezogen. Denn wenn man einmal ver­sucht, sich klarzumachen, warum auch solche Persönlichkeiten, die sich heute auf dem Boden wissenschaftlicher Psychologie, wissen­schaftlicher Seelenlehre stellen, im Grunde genommen nur von Leib und Seele, und nicht von Leib, Seele und Geist sprechen, so gibt es eigentlich für eine geschichtliche Betrachtungsweise kaum einen an­dern Grund als den, daß eben im Laufe der Zeit sozusagen der Geist vergessen worden ist, und daß man heute in den Denkgewohnheiten der maßgebenden Kreise gar nicht mehr die Möglichkeit hat, irgend­wie zu Ideen, zu Begriffen zu gelangen, die es möglich machen würden,

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neben der Seele des Menschen auch noch von einem Geist im besonderen zu sprechen.

In dieser Einleitung, die vielleicht manches enthalten muß, was in engeren Theosophenkreisen fremd klingen könnte, weil die ent­sprechende Literatur hier unbekannt ist, muß aber doch ein wenig auf die Fäden aufmerksam gemacht werden, die uns zunächst mit dem verbinden, was sonst als Psychologie oder Seelenlehre existiert. Denn aus dem, was ich eben gesagt habe, ersehen Sie schon, daß wir eine eigentliche Geistlehre kaum finden, wenn wir absehen von der Geist­lehre, die sich etwa innerhalb der Hegelschen Philosophie findet, die aber dort mit einem gewissen Unrecht Geistlehre genannt wird, denn es ist eigentlich auch dort im wesentlichen nur eine Art Seelenlehre gemeint. Was wir als Seelenlehre anzusprechen haben, das haben wir im vorigen Jahre nun abgehandelt in dem, was wir Psychosophie ge­nannt haben. Inwiefern es ganz in den Denkgewohnheiten - und zwar auf eine merkwürdige Weise - liegt, daß unserer heutigen Zeit der Begriff des Geistes abhanden gekommen ist, das können wir sehen, wenn wir einmal einleitungsweise Rücksicht nehmen auf die Leistun­gen des auch vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus unter allen nichtgeisteswissenschaftlichen Psychologen bedeutendsten Psy­chologen oder Seelenforscher der Gegenwart. Gerade an diesem be­deutendsten, der Geisteswissenschaft nicht nahestehenden Seelen-forscher, der in einer gewissen Weise - ich habe ihn schon im vorigen Jahre gelegentlich der Psychosophievorträge erwähnt -, soweit es auf einem außergeisteswissenschaftlichen Standpunkte möglich ist, am allernächsten dem kommt, was rein wissenschaftlich - ich meine nlcht­hellseherisch - die Geisteswissenschaft über die Seele zu sagen hat, bei diesem also nlchtgeisteswissenschaftlich bedeutsamsten Psychologen können wir gerade sehen, wie diese Denkgewohnheiten der Gegen­wart wirken, indem sie den Menschen nlcht kommen lassen zu einer Idee, zu einem Begriffe des Geistes. Ich meine mit diesem auch vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus bedeutendsten Psychologen Franz Brentano.

Franz Brentano hat ein merkwürdiges Buch geschrieben, das heißt aber im Grunde genommen - auch darauf habe ich im vorigen Jahre

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hingedeutet -, er hatte sich vorgenommen, ein sehr merkwürdiges Buch zu schreiben, hatte sich vorgenommen, eine Psychologie, eine Seelenlehre zu schreiben. Von ihr ist im Jahre 1874 der erste Band erschienen. Es wurde damals versprochen, daß noch im Herbste des­selben Jahres der zweite Band erscheinen sollte, und dann ent­sprechend rasch die nächsten. Es ist bis jetzt bei diesem ersten Bande, der 1874 erschienen ist, geblieben; die folgenden sind bis heute noch nicht erschienen. Nur in den letzten Tagen ist eine interessante Neu­auflage - nicht dieses ganzen ersten Bandes vom Jahre 1874, heraus­gekommen, sondern ein Teil desselben, ein besonderes Kapitel, näm­lich das über die Einteilung der psychischen Phänomene. Und dieses besondere Kapitel ist zugleich in italienischer und in deutscher Sprache erschienen. Zu dem, was dieses besondere Kapitel im Jahre 1874 brachte, ist einiges als «Anhang» dazugekommen. Wenn wir bedenken, daß der erste Band von Brentanos Psychologie oder Seelenlehre gewisse Versprechungen gegeben hat, so dürfen wir es insbesondere auf geisteswissenschaftlichem Boden schmerzlich be­klagen, daß weitere Fortsetzungen dieses Buches nicht erschienen sind. Aber ich habe es schon im vorigen Jahre gesagt, daß es einen gewissen Grund gibt, der gerade vom Gesichtspunkte der Geistes­wissenschaft aus leicht einzusehen ist, war um die Fortsetzung dieses Buches nicht erschienen ist. Für den geisteswissenschaftlich Denken­den ist es geradezu so, daß sich aus unseren gegenwärtigen wissen­schaftlichen Zeitverhältnissen heraus die Unmöglichkeit ergeben hat, dieses Buch unter den Voraussetzungen, unter denen sein erster Band erschienen ist, fortzusetzen. Nach allen Denkgewohnheiten der gegen­wärtigen Wissenschaft wollte Brentano in den siebziger Jahren an der Seelenlehre arbeiten, und er setzte einen ganz besonderen Stolz darein, nicht etwa von einem materialistischen Standpunkte aus vorzugehen -denn davon ist er das Gegenteil -, sondern von einem rein metho­dischen Standpunkte aus; er setzte einen gewissen Stolz darein, ganz nach Art der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erklärungen über die Seele zu forschen. Also es sollte aus dem Geist der natur-wissenschaftlichen Methodik der Gegenwart heraus eine Seelenlehre geliefert werden. Und wenn wir sehen, daß unter den mancherlei

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andern, höchst interessanten Dingen, die im ersten Bande von Franz Brentano versprochen wurden, auch eine Auseinandersetzung ist über die Unsterblichkeitsfrage, dann ist schon gegeben, daß man es ins­besondere vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus schmerzlich empfinden muß, daß dieses Buch keine Fortsetzung erfahren hat. Wundern Sie sich nicht, daß ich, als auf einem geisteswissenschaft­lichen Boden stehend, über ein solches Buch spreche. Ich mußte dieses Buch und sein Schicksal betrachten. Ja, ich möchte das ganze wissenschaftliche Schicksal des Verfassers als etwas für unsere Gegen­wart und auch für das, was man in unserer Gegenwart Pneumato­sophie nennen kann, außerordentlich bedeutsam und bezeichnend finden. Denn es ist versprochen worden, über die Unsterblichkeit der Seele zu handeln. Und wenn man aus den mancherlei Andeutungen, die Brentano gegeben hat, weiß, daß er auf dem Standpunkte steht, in einer gewissen Weise wenigstens, wenn auch nicht das Faktum, die Tatsache der Unsterblichkeit beweisen zu können, so doch beweisen zu können, daß der Mensch begründete Hoffnungen auf Unsterblich­keit haben kann - ich bitte das wohl zu unterscheiden! -, dann muß man sagen: Es ist dies eine außerordentlich interessante Tatsache für den Charakter der gegenwärtigen psychologischen Denkweise. Aber es ist eben nicht dazu gekommen, daß Brentano mehr als das erste Buch geliefert hat, das nichts weiter enthält als Auseinandersetzungen mit andern psychologischen Richtungen, eine Art Begründung der naturwissenschaftlichen Methodik der Psychologie, und eben die in­teressante Brentanosche Einteilung der menschlichen Seelentätigkeiten oder -fähigkeiten. Und weiter ist nichts erschienen als eben die Neu-auflage wiederum eines Teiles jenes Buches.

Wir werden gerade in diesen Vorträgen auf die für unsere Zeit außerordentlich bedeutsamen Gründe etwas zu sprechen kommen müssen, warum dieses Buch keine Fortsetzung hat erfahren können. Denn wir werden innerhalb dieser Gründe vieles finden von dem, womit wir uns vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus mit der zeitgenössischen Wissenschaft in bezug auf die Seele - da ja der Geist nicht im besonderen von der Seele unterschieden wird - aus­einanderzusetzen haben. Ich kann wegen der Kürze der uns zur Verfügung

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stehenden Zeit nicht auch dieses Jahr wieder eingehen auf die Charakteristik der menschlichen Seele, die ich im vorigen Jahre ge­geben habe. Aber ich muß, um eben die Fäden zu ziehen, welche nach der in den gegenwärtigen Denkgewohnheiten ablaufenden Wissen­schaft hinüberführen, gerade heute in diesem einleitenden Vortrage eingehen auf die ja auch jetzt wieder in der Neuauflage des betreffen­den Kapitels gegebene Einteilung Brentanos der menschlichen Seelen-fähigkeiten.

Gegenüber der sonst üblichen Einteilung der menschlichen Seelen-fähigkeiten in Denken, Fühlen und Wollen steht bei Brentano - also bei dem in dieser Beziehung zweifellos auch für die Geisteswissen­schaft bedeutsamsten Psychologen der Gegenwart - eine andere Ein-teilung der menschlichen Seele. Das ist - und Sie werden gleich sehen, daß in einer gewissen Weise diese Einteilung anklingt an das, was hier in den psychosophischen Vorträgen im vorigen Jahre aus ganz andern Quellen heraus gesagt worden ist - die Einteilung der menschlichen Seele in drei Glieder: in das Vorstellen, in das Urteilen und in die Er­scheinungen von Liebe und Haß oder auch in die Erscheinungen der Gemütsbewegungen. Was Vorstellen in unserem Sinne ist, das brauche ich hier, nachdem so oft von diesen Dingen in der Geisteswissenschaft geredet worden ist, wohl nicht wieder zu erwähnen, und wir brau­chen auch im Hinblick auf das, was wir hier einleitungsweise über die Brentanosche Psychologie zu sagen haben, auf den Begriff des Vor­stellens als solchen nicht besonders einzugehen, weil für uns im Grunde genommen der Begriff des Vorstellens sichergestellt ist, wenn wir eben nur wissen - gleichgültig, wie man das sonst definiert -, daß wir uns unter Vorstellen zu denken haben die in der Seele sich voll-ziehende Vergegenwärtigung irgendeines Denkinhaltes . Irgendein Denkinhalt, der in der Seele eben gegenwärtig ist und der sozusagen nicht an sich hat irgend etwas von Gemütsbewegungen oder irgend etwas, was eine Feststellung in bezug auf etwas Objektives bedeutet, würde ein Vorstellen sein. Von dem Vorstellen selbst unterscheidet sich nun innerhalb der herangezogenen Psychologie das Urteilen. Vom Urteilen sagt man gewöhnlich, daß es eine Zusammenfügung von Begriffen sei. Man spricht etwa davon, die «Rose» würde an Begriffen

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eine Vorstellung sein, «rot» eine andere, «Die Rose ist rot» wäre ein Urteil. Brentano sagt, und wir werden eben gerade mit Rück­sicht auf die wissenschaftliche Begründung der Pneumatosophie nötig haben, ein wenig die Brentanosche Definition des Urteilens zu beachten: Damit ist ein Urteil nicht charakterisiert, daß man Begriffe zusammenfügt; sondern wenn man den Satz ausspricht: «Die Rose ist rot», so hat man eigentlich entweder nichts Besonderes gesagt, oder aber, wenn man etwas Besonderes damit sagen will, dann liegt in dem Satz «Die Rose ist rot» eigentlich in versteckter Weise ein anderer darin, nämlich der Satz: «Eine rote Rose ist», das heißt, es findet sich unter den Dingen der Realität eine rote Rose. - Es ist sehr viel Richtiges - wie Sie schon bei einer oberflächlichen Beobachtung Ihrem eigenen Seeleninhalte werden entnehmen können - an einer solchen Darstellung. Denn was hat man denn eigentlich über das Vorstellen hinaus geleistet, wenn man sagt «Die Rose ist rot»? Ob man «Rose» und «rot» vorstellt, oder ob man die Begriffe zusammen-fügt, das unterscheidet sich nicht im wesentlichen voneinander. Man bleibt innerhalb des Vorstellens. Es ist nicht mehr getan dadurch, daß ich sage «Die Rose ist rot», als getan ist, wenn ich vorstelle «Rose» und «rot». Aber es ist wesentlich etwas anderes getan als eine bloße Zusammenfügung von Begriffen, wenn ich das Anerkennmis mache «Eine rote Rose ist». Da habe ich hingedeutet auf etwas, was aus der Vorstellung herausweist, was sich nicht innerhalb der Vorstellung erschöpft, was, mit andern Worten, eine Feststellung in bezug auf Realität ist. «Die Rose ist rot», das besagt nichts anderes, als daß sich in der Seele irgendeines Menschen die Vorstellungen «rot» und «Rose» zusammenfinden. Da hat man nichts anderes gesagt als etwas über einen Denkinhalt. In dem Augenblick aber, wo man etwas fest­stellt, wenn man sagt «Eine rote Rose ist» oder «Die rote Rose ist», hat man erst im Brentanoschen Sinne ein Urteil. Und man hat in sei­nem Sinne kein Recht, davon zu sprechen, daß man irgendwie über die Idee der Vorstellung hinausgehe, wenn man bloß Begriffe zu­sammenfügt; sondern erst dann geht man über das Vorstellen hinaus, wenn im Vorstellungsleben etwas ausgesprochen wird, was eine Fest­stellung bedeutet. Es ist hier nun nicht möglich, auf die außerordentlich

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geistvollen Begründungen einzugehen, die Brentano für diese seine Unterscheidungen von Vorstellen und Urteilen gegeben hat.

Dann aber unterscheidet Brentano als drittes Glied gegenüber Vor­stellen und Urteilen die Gemütsbewegungen oder die Phänomene von Liebe und Haß. Die sind wieder etwas anderes als ein bloßes Fest­stellen. Wenn ich sage «Eine rote Rose ist», so ist das etwas anderes, als wenn ich etwas über die rote Rose empfinde. Das sind Seelen-erscheinungen, die einer besonderen Klasse angehören, und die man zusammenfassen kann unter dem Begriff der Gemütsbewegungen. Damit ist nicht bloß etwas festgestellt über die Objekte, die wir durch unsere Vorstellungen repräsentieren, sondern damit ist etwas ausgesagt über Seelenerlehnisse des Subjektes. Dagegen spricht Brentano nicht im besonderen von den Phänomenen des Willens, weil er im Grunde genommen keinen Unterschied findet, der genü­gend groß ist, um bei den Phänomenen der Liebe und des Hasses, bei den Gemütsbewegungen, noch besonders unterschiedene Willens-phänomene anzunehmen. Dasjenige, was man liebt, will man mit Liebe, und es ist mit der Gemütsbewegung der wohlwollenden Emp­findung eben auch schon der Wille gegeben, der sich auf das Betref­fende bezieht. Und mit dem Phänomen des Hasses ist auch das Nicht-wollen, das Abwehren gegeben. So scheint es in einer gewissen Weise nicht berechtigt zu sagen, man trenne ab von den Erscheinungen der Liebe und des Hasses noch im besonderen Willensphänomene, wie es berechtigt ist, von den bloßen Phänomenen des Vorstellens diejeni­gen abzutrennen, welche sich auf ein Feststellen, das heißt, auf ein Urteilen beziehen.

So haben wir sozusagen die menschliche Seele zerlegt in Vorstellen, Urteilen und in die Erscheinungen der Gemütsbewegungen. Es ist außerordentlich interessant, daß ein im hohen Grade scharfsinniger Denker, als er daran ging, eine Psychologie, eine Seelenlehre zu be­gründen, diese Einteilung machte. Denn diese Einteilung rührt näm­lich - wie Sie vielleicht schon aus einigen Bemerkungen von heute und morgen weiter ersehen werden - von dem Umstande, von der Tatsache her, daß einmal ein Mann aufgetreten ist, der Ernst gemacht hat mit der Nichtberücksichtigung des Geistes. Sonst hat man immer

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in einer gewissen Weise das, was unter die Phänomene des Geistes gehört, hineingemischt in das Seelenleben. Dadurch war eigentlich ein sonderbares Zwitterwesen geschaffen worden: eine Art Geistseele oder eine Art Seelengeist. Und diesem Seelengeist oder dieser Geist-seele konnte man mancherlei zuschreiben, was natürlich der, welcher nun ordentlich zu Werke geht und die Dreigliederung vornimmt, nicht der Seele, sondern dem Geiste zuschreiben muß. Aber Brentano hat einmal damit Ernst gemacht, die Frage zu beantworten: Was fin­det sich denn eigentlich in der Seele, wenn wir die Seele als solche nehmen? - Er war scharfsinnig genug, darüber zu entscheiden, was aus dem Begriffe der Seele herausbleiben muß, wenn man vom Geist absieht. So hat er gleichsam durch Ernstmachen mit dieser Tendenz die Seele reinlich abgegliedert vom Geist. Es wäre nun im höchsten Grade interessant gewesen, zu sehen, wie Brentano, wenn er sein Werk weiter fortgesetzt hätte, gefunden hätte, daß irgendwo die Sache abbrechen muß, weil in der Realität die Seele den Geist empfangen muß, mit dem Geiste in Verbindung treten muß - oder sich hätte ge­stehen müssen, daß von der Seele zum Geist vorgerückt werden muß.

Nehmen wir einmal die zwei äußersten Glieder, abgesehen vom Urteilen, in der Brentanoschen Einteilung: das Vorstellen und die Phänomene der Liebe und des Hasses, also der Gemütsbewegungen. Zunächst ist bei Brentano das Vorstellen lediglich das, was in der Seele vor sich geht. Es wird nichts dadurch festgestellt, daß wir irgend etwas vorstellen. Denn soll etwas festgestellt werden über irgendeine Realität, so muß das Urteilen eintreten. Da kann sich das Seelenleben nicht erschöpfen in dem Vorstellen. Das würde mit andern Worten einschließen, daß das Vorstellen aus sich selber heraus zu keiner Feststellung kommen kann, daß man im Vorstellen überhaupt nicht aus der Seele herauskommen könnte; denn nur im Urteilen könnte man aus der Seele herauskommen, nicht im Vorstellen. Auf der andern Seite ist es interessant, daß Brentano alles, was Erschei­nungen des Willens sind, zusammenrechnet mit den Erscheinungen der bloßen Gemütsbewegungen. Gewiß, es hat sehr viel für sich, zu sagen: Innerhalb der Seele ist erschöpft ein Verhälmis zur Außenwelt, wenn die betreffende Gemütsbewegung eingetreten ist. - Sie können

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sich sehr wohl sagen: In der Seele sind im Grunde genommen nichts als Gemütsbewegungen; wenn die stark genug sind, wollen sie das eine oder das andere. Kein Seelenforscher kann mehr in der Seele fin­den als Sympathie oder Antipathie oder als die Phänomene von Liebe und Haß, auch wenn der Mensch ganz willenhaft zugreift: er tut es -aber während er es tut, findet man in der Seele nur die Phänomene von Liebe oder Haß.

So innerhalb der Seele. Aber wenn wir von der Seele übergehen zur Gesamtrealität, dann müssen wir sagen: Das Verhältnis der Seele zur Außenwelt ist nicht erschöpft in dem, was die Seele als Gemüts­bewegungen erlebt. Es ist ja allerdings ein Schritt, der gemacht wer­den muß, der sich nur nicht innerhalb der Seele erschöpft, sondern der aus der Seele heraus gemacht werden muß, wenn wir von einer Ge­mütsbewegung übergehen zu dem, was erst ein Wollen ist, ein Wollen, das sich nicht in der Seele erschöpft, sondern das sich erst dann er­schöpft, wenn die Seele aus sich herausgeht. Denn wie sehr wir auch ein Ding oder eine Tatsache lieben, wie sehr auch die Gemütsbewe­gungen in uns Platz greifen: es ist nichts damit geschehen. Und es mag auch noch so viel in der Seele an Gemütsbewegungen geschehen: so weit wir Gemütsbewegungen finden, ist das etwas, von dem abge­sehen werden muß, wenn etwas geschehen soll. So steht das Vorstel­len in einer solchen Psychologie vor uns wie etwas, was gar nicht aus sich herauskommt, was gar nicht in irgendeine Realität hineinkommt, und so stehen die Gemütsbewegungen da als etwas, was in keinem eigentlichen Willen wurzelt, sondern sich bloß in den seelischen Vor­bedingungen des Willens erschöpft. Es ist das außerordentlich inter­essant, und wir werden sehen, daß beim Vorstellen genau dort der Geist einsetzt, wo Brentano zu charakterisieren aufgehört hat, und daß die Brücke von der Seele zum Geist - im Vorstellen - genau dort beginnt, wo, wenn diese Brücke nicht da wäre und der Seele kein Geist gegenüberstünde, das Vorstellen nur in sich selber gefaßt würde. Und auf der andern Seite werden wir sehen, daß überall, wo aus den Ge­mütsbewegungen heraus der reale Übergang zum Willen gemacht wird, wiederum der Geist beginnt.

So sehen wir hier an einer bedeutenden wissenschaftlichen Leistung

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der letzten Jahrzehnte, daß genau an dem Punkt, und zwar scharf an dem Punkt Halt gemacht worden ist, wo eintreten muß die geistes­wissenschaftliche Forschung, wenn man überhaupt weitergehen will. Und es ist interessant, sich vor Augen zu führen, wie gerade scharf­sinnige Forscher aus den Denkgewohnheiten der Gegenwart heraus zu Werke gehen müssen. Es konnte gar nicht anders kommen.

Und wenn wir von diesem Punkte zu einem andern übergehen, so zeigt sich das Interessante in bezug auf die Fäden zwischen der heuti­gen wissenschaftlichen Psychologie und der Geisteswissenschaft ge­rade wiederum an demselben Manne. Diejenigen, welche sich mit Brentanös Schriften bekanntgemacht haben, wußten es immer schon, daß Brentano in intensiver Weise, man möchte fast sagen, sein ganzes langes Gelehrtenleben hindurch sich beschäftigt hat mit dem griechi­schen Philosophen Aristoteles. Nun ist es für das Schicksal dieser Vor­träge merkwürdig, daß gerade wieder in diesen Tagen ein Buch von Brentano über Aristoteles, zusammenfassend seine Aristoteles-For­schungen, erschienen ist, so daß wir also heute - was wir vor drei Wochen noch nicht haben konnten - eine Darstellung dieses Philo­sophen über seine Aristoteles-Forschungen haben, die er in einem langen Leben gegeben hat, unter dem Titel «Aristoteles und seine Weltanschauung». Nun steht ja Brentano heute, im 20. Jahrhundert, nicht auf dem Standpunkte des Aristoteles, aber er steht in einer ge­wissen Beziehung dem Aristoteles nahe und hat in einer sehr weit­herzigen, in einer gewissen bewundernswürdigen Art des Aristoteles Geistlehre dargestellt in diesem Buche «Aristoteles und seine Welt­anschauung». Zu Hilfe kommt dazu noch, daß außerdem von Bren­tano ein drittes Buch erschienen ist, nachdem er jahrelang geschwie-gen hat: «Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen Gei­stes.» Es ist nun interessant, auch darüber ein paar Worte zu sprechen, weil in einer gewissen Beziehung Brentano nicht nur der interessan­teste Psychologe der Gegenwart ist, sondern auch der interessanteste, in einer gewissen Beziehung bedeutsamste Aristoteles-Kenner, namentlich als Kenner der Geistlehre des Aristoteles. Führen wir uns einmal mit ein paar Worten diese Geistlehre des Aristoteles vor Augen.

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Wir haben in Aristoteles eine Geistlehre gegeben, welche, da sie Jahrhunderte vor der Entstehung des Christentums begründet worden ist, nichts aufgenommen hat von irgendeinem christlichen Begriff, und welche in einer gewissen Beziehung doch alles zusammenfaßt, was in den letzten Jahrhunderten vor der Entstehung des Christen­tums die abendländische Kultur darstellt, die in einer gewissen Be­ziehung zugleich aufgenommen hat, was auch sonst, namentlich philo­sophisch, über diesen Gegenstand geleistet worden ist, so daß es für Aristoteles im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung möglich war, wissenschaftlich über diese Sache zu denken, wissenschaftlich über das Verhältnis des Geistes zur Seele zu denken. Wer genau Brentanos Stellung zu Aristoteles berücksichtigt - namentlich wie sie sich darlegt in den beiden Büchern «Aristoteles und seine Weltanschauung» und «Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes», wo man überall durchfühlt, wie Brentano in bezug auf Aristoteles so denkt, daß er gewissermaßen in bezug auf die Hauptfragen doch auf dessen Standpunkt steht -, der wird es außerordentlich interessant finden, inwiefern die nicht geisteswissenschaftliche Geistlehre berech­tigt ist, über Aristoteles hinauszugehen, wobei es in außerordentlich hohem Maße auch noch interessant ist, die aristotelische und die theo­sophische Geistlehre zu vergleichen, insofern die letztere wissenschaft­lich ist. Ich möchte Ihnen nun zunächst ohne besondere Begründung die aristotelische Geistlehre skizzieren.

Aristoteles spricht durchaus von Geist im Verhältnis zur Seele und zum Leibe des Menschen. Und er spricht vom Geist nicht etwa so wie irgend jemand, der auch nur im entferntesten auf materialistischem Boden stünde, sondern er spricht vom Geist als von etwas, das aus den geistigen Welten hinzukommt zu Leib und Seele des Menschen. Das ist etwas, von dem man bei Brentano ganz genau verfolgen kann, wie er in dieser Beziehung durchaus auch auf aristotelischem Boden steht, denn auch Brentano muß, wenn er nicht noch etwas Besonderes im Hintergrunde hat, ebenso wie Aristoteles, sprechen von dem Geist, der zu Leib und Seele des Menschen hinzukommt. Wenn also der Mensch durch die Geburt ins Dasein tritt, ins Dasein tritt auf dem physischen Plan, so haben wir es im aristotelischen Sinne nicht etwa

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bloß mit irgend etwas zu tun, was in der Vererbungslinie der Vor­fähren hinauf sich erschöpfte, sondern wir haben es zu tun erstens mit diesem, was als vererbte Merkmale von Vater und Mutter, Großvater und Großmutter und so weiter sich vererbt. In diesen vererbten Merkmalen drinnen ist im aristotelischen Sinne durchaus das, was Aristoteles unter dem Seelenhaften versteht, so daß mehr oder weni­ger bei Aristoteles zunächst für den Menschen das Seelische erscheint wie eine Art das Leibliche Durchseelende, wie eine Art das Leibliche Zusammenhaltende. Was aber der Mensch als Leiblich-Seelisches er­erbt von seinen Vorfahren, das erschöpft nicht für Aristoteles - und auch nicht für Brentano - die Wesenheit des Menschen, sondern da­zu kommt der Geist. So daß wir im Sinne des Aristoteles sagen müs­sen: Wenn der Mensch auf dem physischen Plan ins Dasein tritt, ver­einigt sich das aus der Vererbungslinle stammende Seelisch-Leibliche mit dem Geist. Woher kommt nun der Geist im Sinne des Aristoteles?

Für Aristoteles war, bevor der Mensch in der physischen Welt ins Dasein tritt, der Geist des einzelnen Menschen, der einzelnen mensch­lichen Persönlichkeit, als solcher überhaupt nicht vorhanden, sondern der Geist kommt unmittelbar, indem ein Mensch auf dem physischen Plane entsteht, als eine Neuschöpfung aus der geistigen Welt. Das ist etwas, was man nicht anders bezeichnen kann als eine «Schöpfung der Gottheit», die unmittelbar aus der geistigen Welt heraus hinzugefügt wird zu dem, was von Vater und Mutter her entsteht. So daß Brentano sehr klar in seinem Aristoteles-Buche definiert: Wenn ein Mensch ins physische Dasein tritt, so entsteht er durch das Zusammenwirken von Vater und Mutter und durch den Gott. - Das heißt, es vererbt sich von Vater und Mutter das Seelisch-Leibliche, und durch den Gott wird, sogar erst eine gewisse Zeit nach der Empfängnis, hinzu-gefügt zu dem Seelisch-Leiblichen dasjenige, was der Geist des Men­schen ist.

Nun ist es interessant zu sehen, wie unter solcher Voraussetzung, daß im Grunde genommen durch eine «Creatio», durch eine wirkliche Schöpfung, der Geist des Menschen von dem Gotte hinzugefügt wird zu dem Leiblich-Seelischen, Aristoteles über die Unsterblichkeit denkt. Der Geist des Menschen also, wie er da ist - wie wir sagen würden -

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in der Inkarnation des Menschen, ist vorher überhaupt nicht da­gewesen. Der Gott schafft ihn. Das bedingt aber für Aristoteles und auch für Brentano nicht, daß nun dieser Geist etwa auch aufhören würde, wenn das Seelisch-Leibliche durch die Pforte des Todes geht, sondern der Geist, der geschaffen ist, bleibt nun, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, und geht über - trotzdem er erst für diesen besonderen Menschen geschaffen ist - nach dem Tode in die übersinnliche Welt, ganz in dem Sinne «übersinnliche Welt», wie wir auch von einer übersinnlichen, geistigen Welt sprechen, in die spiri­tuelle Welt. Es ist nun ferner interessant, daß Aristoteles im Grunde genommen - und ich kann nichts anderes sehen, als daß Brentano heute noch in dieser Beziehung auf aristotelischem Boden steht - den Menschen verfolgt, wie er durch die Pforte des Todes geht und ihn weiterleben läßt in einer rein geistigen Welt, das heißt, dasjenige vom Geist weiterleben läßt, was vom Gotte geschaffen ist für den einzelnen Menschen. Darüber sind sich nun wohl alle Aristoteles-Forscher einig, daß von einem Zurückkommen des Geistigen, das in der geistigen Welt weiterlebt, wieder in eine leibliche Verkörperung in die physi­sche Welt nicht die Rede sein kann. Also von Reinkarnation kann bei Aristoteles nicht die Rede sein. Es würde zu weit führen, auf mancher­lei rein logische Auseinandersetzungen des Aristoteles einzugehen, die zeigen könnten, daß von Reinkarnation bei ihm nicht die Rede sein kann. Man braucht sich aber, wenn man auch darauf nicht ein­geht, nur zu überlegen, daß ja dasselbe, was Aristoteles als das Ent­stehen des Menschen in einer Inkarnation aufstellen muß, nämlich die Schöpfung des Geistes durch den Gott, bei jeder einzelnen Mensch­werdung in alle Zukunft hinein stattfinden muß. Es wäre keine Neu­schöpfung, wenn sich die alten Geister reinkarnieren würden, und es würden alle die Theorien durchbrochen, wenn ein Geist, der schon einmal in einem Menschen da war, sich wieder inkarnieren könnte. Es wäre dann nicht von Neuschöpfungen zu sprechen. Daraus geht schon hervor, daß die Lehre von der Reinkarnation bei Aristoteles im Widerspruch stehen würde mit seiner «Creatio».

Nun ist es sehr merkwürdig - und das ist ein Punkt, der bei der Betrachtung Brentanos über Aristoteles klar hervortritt -, daß Aristoteles

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im Grunde genommen für dieses Leben des Geistes nach dem Tode keine andere Vorstellung bekommt, als daß der Geist eigent­lich zunächst in einer ziemlich bloß theoretischen Lebenslage ist. Denn alles Tun, von dem eigentlich Aristoteles sprechen kann, setzt voraus die physische Welt und die physische Leiblichkeit. Der Geist hat eigentlich - ja selbst der ewige Gottesgeist im Sinne des Aristote­les - nur eine theoretische, das heißt nur eine betrachtende Tätigkeit, so daß kaum auf dem Boden des Aristoteles etwas anderes aufge­bracht werden kann an Eigentümlichkeiten für das menschliche Leben des Geistes nach dem Tode als die Betrachtung des Lebens von der Geburt bis zum Tode, das Hinunterschauen der Seele von der geisti­gen Welt aus auf das Leben von der Geburt bis zum Tode. Nicht etwa, daß dieses im Sinne des Aristoteles eine Weiterentwickelung der Seele ausschließen würde. Aber die Seele muß, da dieses Leben im Sinne des Aristoteles für sie eine Bedeutung hat, immerzu auf dieses eine Leben hinunterschauen, muß es besonders bedeutsam finden und allen späteren Fortschritt in einer gewissen Weise auf dieses eine Leben begründen. So stellt sich also der Geist nach dem Tode dar:

zurückschauend auf das Erdenleben, die Geschehnisse, die Mängel und die Vorzüge dieses Erdenlebens schauend, der eine vielleicht auf ein vorzügliches Leben, und darauf seine Weiterentwickelung be­gründend, der andere auf ein Leben in Lüge und Verbrechen viel­leicht, und darauf seine Weiterentwickelung begründend. So etwa würde sich der Geist zu dem Leiblich-Seelischen im Sinne des Aristo­teles verhalten.

Nun fragen wir uns: Wie nimmt sich dem unbefangenen Denken gegenüber eine solche Geistlehre aus? Das tritt bei Aristoteles klar hervor, daß nicht etwa dieses Erdenleben für das Gesamtleben des Menschen nur ein Leben in einem irdischen Jammertale wäre, bedeu­tungslos für die spätere menschliche Entwickelung. Davon ist bei Aristoteles nicht die Rede. Dieses Erdenleben hat seine gute Be­deutung, hat seine große Wichtigkeit. Es bleibt ja gewiß vieles un­gewiß von dem, wie sich Aristoteles das weitere Fortschreiten der Seele nach dem Erdenleben vorstellt, aber das eine bleibt nicht un­gewiß: daß für alles spätere Fortschreiten der Seele dieses eine Erdenleben

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eine wesentliche Bedeutung hat. Denn wenn auch der Gott die­sen Menschengeist hat entstehen lassen, der dann verkörpert erscheint, ohne sich wieder zu inkarnieren, so hat er doch dafür sorgen können, daß dieser Geist - ohne in neue Verkörperungen zu kommen - weiter-schreitet. Es zeigt sich nun, daß Aristoteles Wert darauf legt, daß er eine menschliche Verkörperung annimmt, und daß es ein Ziel der Gottheit ist und einen Zweck auch für die Gottheit hat, den Menschen in einen menschlichen Erdenleib hineinzuführen. Also gehört es in die Intentionen der Gottheit, nicht etwa bloß den Geist, der in uns wohnt, als solchen zu erzeugen, sondern so zu erzeugen, daß er zurn weiteren Fortschritt die Umkleidung braucht mit einem physischen Erdenleib. Es liegt also in dem Menschengeist von dem Moment ab, da die Gottheit den Geist erschafft, um ihn in einen physischen Erden-leib herunterzurücken, das Ziel, der Zweck zugrunde, zu einem irdi­schen Dasein zu kommen. Man kann sich also einen von der Gottheit geschaffenen Menschengeist nicht denken, ohne daß dieser verlangen würde die Einkörperung in einen menschlichen Leib.

Nun denke man - was im Sinne des Aristoteles richtig ist -, daß dieser Menschengeist, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, den Leib ablegt, in die geistige Welt geht, die wir auch die spirituelle Welt nennen können, und zurückblickt auf die physi­sche Verkörperung. Und nehmen wir nun an, beim Herunterblicken auf diese physische Verkörperung finde dieser Menschengeist sein physisches Erdenleben unvollkommen. Und wie sollte es denn nicht so kommen, daß selbstverständlich die meisten der Menschengeister, die durch den Tod gegangen sind, das Erdenleben unvollkommen finden! Denn würde es auch noch so vollkommen erscheinen, etwas noch Vollkommeneres hätte man innerhalb dieses Erdenlebens doch noch erreichen können. Wir müssen also in diese entkörperten Gei­ster, im Sinne des Aristoteles, beim Hinunterblicken auf das durch-lebte Erdenleben selbstverständlich das Verlangen legen nach einer weiteren physisch-leiblichen Inkarnation. Denn da der Geist zu seiner Vervollkommnung eine physisch-leibliche Inkarnation braucht, so muß er doch, wenn die Inkarnation, die ihm gegeben war, nicht voll­kommen gewesen ist, selbstverständlich das Verlangen haben, das

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noch einmal durchzumachen, denn sonst hätte er mit der einen In­karnation und durch dieselbe vollständig seinen Zweck verfehlt. Des­halb ist es unmöglich, im Sinne des Aristoteles von einem zweckvollen Sich-Verkörpern in einer einmaligen Inkarnation zu sprechen, wenn diese einmalige Inkarnation nicht bei jedem Menschen eine vollkom­mene Entwickelungsstufe für das Fortschreiten dieses Geistes wäre. In demselben Augenblick wo man zugibt, daß das Leben des Men­schen auf der Erde nicht ein vollkommenes ist, in demselben Moment muß man auch zugeben daß der gottgezeugte Geist nach dem Tode wieder das Verlangen haben muß nach einem irdischen Leibe.

Und jetzt betrachten Sie diese sonderbare Gottesschöpfung des Aristoteles: die Erzeugung des Menschengeistes, der hineingehört in einen physischen Leib, der aus diesem physischen Leibe hinausgeht mit dem Tode, aber nur hinausgehen kann - wenn man wirklich kon­sequent denkt im Sinne des Atistoteles - mit dem Verlangen nach einem physischen Leib der aber doch nicht wieder in einen physi­schen Leib kornrnen konnte. Denn Aristoteles nimmt keine Wieder-verkörperung an, so daß die Menschengeister nach dem Tode in ihrer spirituellen Welt leben müßten mit dem fortwährenden Verlangen nach einer neuen Inkarnation, das ihnen aber nicht erfülk werden könnte. Aristoteles' Lehre verlangt die Wiederverkörperung aber sie gibt sie nicht zu. Und wir werden sehen , daß von einem andern Ge­sichtspunkte aus bei Aristoteles diese Wiederverkörperungslehre nicht zugegeben werden kann.

Wir stehen hier vor einer Geistlehre, die durchaus nicht inateria­listisch ist, die sogar bis heute noch immer die scharfsinnigste Geist­lehre des Abendlandes - außer der geisteswissenschaftlichen - ist, die bis in unsere Tage hereinrag. Denn lesen Sie Brentano und fühlen Sie, wie sehr er auf atistotelischem Boden steht: daß der Gott im Verein mit Vater und Mutter den Geist erzeugt zu dem Leiblich-Seelischen, und der gottgezeugte Geist wiederum in eine spirituelle Welt geht, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, daß aber der Gott, der unter dieser Voraussetzung Geister schafft, sie doch nur einnial durchgehen läßt durch eine irdische Inkarnation und sie aus­stattet durch dieses Durchgehen durch eine irdische Inkarnation mit

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dem fortwährenden Verlangen, diese Inkarnation auch so zu machen, daß sie wirklich auch ihre Aufgabe erfüllt.

Da sehen wir, wie herüberleuchtet durch Jahrtausende dasjenige, was heute noch immer auf eigentlich wissenschaftlichem Boden einen großen Einfluß auszuüben vermag. Mit Recht! Denn wir werden sehen, daß Aristoteles groß und bedeutend ist gerade durch das Scharfsinnige dieser seiner Schlußfolgerungen in bezug auf seine Geistlehre, und daß es erst in dem Augenblick möglich ist, über Aristoteles hinauszugehen, wenn man eine wissenschaftliche Begrün­dung schafft für die Reinkarnation. Diese wissenschaftliche Begrün­dung für die Reinkarnation ist aber niemals vor unserer Zeit geschaf­fen worden, so daß wir in bezug auf die Geistlehre eben jetzt an dem Wendepunkt stehen, daß im Grunde genommen erst durch die Geisteswissenschaft in wahrer und echt prinzipieller Weise über Ari­stoteles hinauszukommen ist. Und es ist wieder interessant, wie ein so scharfsinniger Mann wie Brentano in bezug auf diese Dinge auf aristotelischem Boden stehenbleiben mußte, wie er auf der andern Seite durch seinen Scharfsinn bei einer bloßen Seelenlehre stehen­bleiben mußte, weil er Ernst gemacht hat mit dem Weglassen des Geistes. An den Fehlern, die gemacht worden sind dadurch, daß durch das Weglassen des Geistes eine in sich selbst widerspruchsvolle Geistlehre beziehungsweise Seelenlehre geschaffen worden ist, wer­den wir sehen, daß es auch vom Standpunkte der gegenwärtigen Wissenschaft aus unmöglich ist, überhaupt noch zu einer wider­spruchslosen Weltanschauung zu kommen, wenn man die Geistes­wissenschaft abweisen will.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 13. Dezember 1911

Es erscheint vielleicht manchem gerade in unseren Kreisen als etwas Überflüssiges, wenn anläßlich dieser Vorträge unserer Jahresver­sammlung von mir bei Besprechung dieser unserer wichtigen Themen auch ein wenig auf dasjenige Rücksicht genommen wird, was die zeitgenössische Wissenschaft, die zeitgenössische Gelehrsamkeit über die betreffenden Gegenstände zu sagen hat, und was - wie es hier der Fall ist - auch in andern Zeiten unserer Menschheitsentwickelung dar­über gesagt worden ist von seiten derjenigen, die wieder von unserer zeitgenössischen Gelehrsamkeit anerkannt werden. Nicht, als ob in irgendeiner Weise hier in ausführlicher Art eine Verbindungsbrücke geschaffen werden sollte mit dieser angedeuteten Gelehrsamkeit. Ein solches ist vielleicht durchaus innerhalb unserer Kreise unnötig, un­nötig wohl schon aus dem Grunde, weil weitaus die meisten derjeni­gen Persönlichkeiten, die in unsere Kreise eintreten, aus ihrer Seele, aus ihrem Gemüte heraus eine gewisse Sehnsucht und Beziehung zurn geistigen Leben haben und wohl eigentlich nicht aus dem Grunde zu uns kommen, um sich diese geistigen Welten in einer sogenannten wissenschaftlichen Art «beweisen» zu lassen, sondern um das, wozu sie ihr Herz, ihre Seele drängt, in einer konkreten Form kennenzu­lernen, so daß wohl manchem unter uns ein Heranziehen der Gelehr­samkeit von heute höchst überflüssig erscheinen könnte. Auch ein anderer Grund, der etwa vorgebracht werden könnte für ein solches Rücksichtnehmen auf die Gelehrsamkeit, gilt vielleicht nicht ganz, wenn auch ein wenig. Es ist der, daß man sagen könnte, der Theo­soph komme gegenüber den Menschen der Außenwelt in die Lage, Zeugnis ablegen zu müssen für seine Weltanschauung, und da sei es notwendig, daß er sozusagen in der Art, wie man außerhalb der Geisteswissenschaft denkt, etwas habe, was ihm die Möglichkeit gibt, Einwände zu widerlegen, Bekräftigungen vorzubringen für diese gei­steswissenschaftliche Weltanschauung. Allein, wir haben auch das oft besprochen, daß es nur in sehr geringem Maße möglich ist, diejenigen,

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die heute Gegner der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung sind, mit irgendwelchen Beweisen zu überzeugen. Weltanschauungen be­ruhen im Grunde genommen - insofern die Menschen Gegner dieser geisteswissenschaftlichen Weltanschauung sind - nicht auf Beweisen, sondern auf Denkgewohnheiten. Und wer mit seinen Denkgewohn­heiten eben durchaus nicht hinein kann in die geisteswissenschaftliche Art, die Welt anzuschauen, dem wird man ganz gewiß zunächst mit Beweisen nicht beikommen können. Also der Grund, der eben ge­kennzeichnet worden ist, kann auch nicht, wenigstens nicht in einem starken Maße, gelten für das Vorbringen solcher Dinge, die im übri­gen spärlich genug vorgebracht werden, sondern das Vorbringen sol­cher Dinge wie die, von denen gestern gesprochen worden ist, soll innerhalb unserer Kreise hauptsächlich dazu dienen, die Beirrung zu beheben, die in Persönlichkeiten unserer Kreise doch dann eintreten könnte, wenn sie immer wieder und wieder hören müssen: Eure Weltanschauung steht auf keinem irgendwie zu rechtfertigenden, namentlich auf keinem wissenschaftlichen Grund. - Nicht also, um zunächst die Gegner zu widerlegen, oder um Zeugnis abzulegen für die geisteswissenschaftliche Weltanschauung vor diesen Gegnern, werden diese Dinge dargelegt, sondern damit der Theosoph immer mehr und mehr das Gefühl erhalten kann, daß seine Weltanschauung auf einem festen Grund und Boden steht, der auch sicher ist gegen­über alledem, was die anerkannte Wissenschaft zu sagen hat, damit also der Theosoph selber in sich nicht beirrt werde. Um in einiger Ausführlichkeit alles das zu sagen, was etwa heute gesagt werden müßte, also zu einer Auseinandersetzung mit der offiziell anerkannten Wissenschaft, dazu bedürfte es langer Zeit. Wenn aber gelegentlich dieser Vorträge, die doch auch für unsere Gesamtweltanschauung wichtig werden könnten, zuweilen dieser oder jener Hinblick gegeben wird auf die äußere Wissenschaftlichkeit, so sollen diese Hinblicke zu weiter nichts anderem dienen, als ein Gefühl davon hervorzurufen , daß es allerdings Mittel und Wege gibt, um sich mit dieser Wissen­schaft auseinanderzusetzen, und daß man auf sicherem Boden steht, wenn man die Geisteswissenschaft vertritt. Also mehr auf die Art und Weise, wie man sich auseinandersetzen könnte, wenn man dazu Zeit

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und Gelegenheit hätte, soll hingedeutet werden, als daß etwa diese Auseinandersetzungen in einem auch nur annähernd umfassenden Sinne gegeben werden könnten.

Wenn man heute von einer Wissenschaft der äußerlichen Körper­lichkeit, der äußeren Leiblichkeit spricht, dann mag mancher Zwie­spalt in einer solchen Wissenschaft möglich sein, dann mögen manche Zweifel auftauchen. Eines aber hat eine solche Wissenschaft als ein Gutes: daß das Objekt, die äußere Leiblichkeit, die äußere Körper­lichkeit dieser Wissenschaft nicht bestritten wird. Wenn man spricht von Seelenwissenschaft, oder, wie wir im vorigen Jahre von einem gewissen Gesichtspunkt aus dieses Gebiet beleuchteten, von Psycho-sophie, dann allerdings kommt man zunächst in Regionen hinein, für die es sogar Menschen gibt, die sozusagen das Objekt, die Seele selbst, bestreiten. Und in unserer heutigen Zeit steht man damit nicht nur der materialistischen Welt gegenüber, sondern auch einer gewissen Art von Psychologie, die da sein will eine «Seelenkunde ohne Seele», wie ja das Wort geprägt worden ist. Gestern haben wir an Aristoteles und an einem genauen Aristoteles-Kenner unserer Zeit Beispiele angeführt für eine Wissenschaftlichkeit, der es wohl nicht einfällt, das Objekt der Seele zu leugnen, ja, die sogar in einer sehr scharfsinnigen Weise sich auseinandersetzt mit dem Objekt, das wir als Seele bezeichnen. Und bei Aristoteles selber muß man wahrhaftig sagen - schon aus den wenigen Andeutungen, die gestern gegeben worden sind -, daß bei ihm auch von einer Leugnung des Geistes nicht die Rede sein kann. Aber wir haben an dem Beispiel der Brentanoschen Psychologie ge­sehen, wie ein scharfsinniger Geist unserer Zeit gerade in der Be­schreibung der einzelnen Seelenfähigkeiten Halt macht vor dem, was wir als Geist zu bezeichnen haben. Deshalb steht man allerdings mit Bezug auf die Pneumatosophie oder die Wissenschaft vom Geiste auf einem Boden , wo einem vielleicht von einer gewissen Seite her nicht nur geleugnet wird das oder jenes an Gesetzen dieser Wissenschaft, der Darstellungen des inneren Wesens, sondern wo einem auch das Objekt als solches geleugnet wird. Der Geist ist ja - das kann aus dem entnommen werden, was gestern gesagt worden ist - für viele Men­schen eine höchst strittige Tatsache überhaupt. Daher muß uns zunächst

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ernstlich die Frage beschäftigen: Woher kommt es denn, daß der Geist als solcher für die Menschen eine so höchst strittige Tat­sache sein kann?

Die nächste Antwort darauf ist natürlich diese: Den Leib oder das Körperliche überhaupt nimmt der Mensch wahr mit seinen äußeren Sinnen. Und mit all der Kraft, mit welcher Tatsachen wirken, die un­willkürlich für den Menschen da sind, mit all der Kraft wirken eben die äußeren physischen Tatsachen auf den Menschen ein, und er ist nicht in der Lage, das, was die Tatsachen sprechen, abzuleugnen. In einer gewissermaßen ähnlichen Lage ist der Mensch auch in bezug auf die Seele. Denn er erlebt doch einmal, was in seiner Seele abfließt:

Gefühle, Vorstellungen, Willensimpulse und alles dasjenige, was sich als Schicksalsmäßiges aus dem Ablauf dieser Seelenerlehnisse ergibt, seine Leiden und Freuden, Lust und Schmerzen und so weiter. Und wer da nicht von vornherein behaupten will, daß alles, was er so er­lebt, ein Nichts sei oder vielleicht höchstens eine Art von Wellen-schaum an der Oberfläche der körperlichen Tatsachen, der kann doch nicht umhin, die Seele in einem gewissen Sinne - wenigstens in bezug auf ihre Realität - anzuerkennen. Aber der Geist ist ja doch, selbst wenn er da ist - so wird sich der Mensch sagen -, ein Übersinnliches, ein zunächst nicht Wahrnehmbares; und schon daraus geht hervor , daß die Leugnung des Geistes verhältnismäßig recht naheliegen könnte.

Nun handelt es sich darum, daß im Grunde genommen alles Suchen nach dem Geiste gewissermaßen einen erstaunen machen könnte, wenn in der Tat dieser Geist absolut nur zur übersinnlichen Welt gehören würde, und in die Welt, in der wir gewöhnlich leben, gar nicht hereinkäme. Wir beschäftigen uns ja auf dem Boden der Geistes­wissenschaft mit Forschungen über die geistige Welt, und wir betonen es oft genug, daß die Tatsachen, die wir da angeben über die geistige Welt, im Grunde genommen entstammen einer Anschauungsweise des Menschen, die erst durch eine gewisse Selbstkultur, durch eine gewisse Selbsterziehung, durch Meditationen, Konzentrationen und so weiter herbeigeführt werden müsse, so daß also die Tatsachen der geistigen Welt dem Menschen nicht von vornherein gegeben sind,

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sondern erst dadurch erlangt werden können, daß der Mensch zu einer höheren Erkenntnis aufsteigt, als die ist, welche er im Alltag hat. So könnte es scheinen, als ob diese geistige Welt ganz und gar verborgen wäre gegenüber der äußeren Welt und erst dann für den Menschen überhaupt in Betracht kommen könnte, wenn er sein gewöhnliches Erkenntnisvermögen völlig übersprungen hätte und zu einem andern Erkenntnisvermögen aufgestiegen wäre. Wenn die Sache so ist, so muß man ja allerdings die Frage aufwerfen: Wie kommt der Mensch dazu, nach einer Welt zu verlangen, Sehnsucht zu haben nach einer Welt, die im Grunde genommen für ihn, so wie er einmal im Alltag ist, sich dürch gar nichts verrät?

Gegen diesen Einwand kann eigentlich nur der Gläubige, nicht der Wissenschafter im Grunde genommen, sich zunächst gewappnet füh­len. Der Gläubige wird ja allerdings gegen diesen Einwand wieder einwenden können, daß die geistige Welt durch ihre Offenbarungen, die heruntergedrungen sind aus ihr im Laufe der Entwickelung der Menschheit, sich geoffenbart habe, so daß also der Mensch das, was er über die geistige Welt weiß, haben könne durch die Offenbarungen aus der Übersinnlichkeit. Wenn aber der Mensch nicht geneigt ist, solche Offenbarungen aus der Übersinnlichkeit anzuerkennen, sich hinzugeben einem Glauben, ja, dann gibt es eigentlich zunächst kaum etwas anderes, als was eben gesagt worden ist, so daß der Wissen­schafter zu dem Ausspruche kommen mag, selbst wenn er recht gut­mütig in seiner Art ist: Es mag ja eine geistige Welt geben; aber zu­nächst haben wir keine Veranlassung, auf dieselbe Rücksicht zu neh­men, denn sie kündigt sich ja durch nichts an in der äußeren Welt.

Dagegen ist aber auch ein Einwand erhoben worden von idealisti­schen oder spirituell-philosophischen Kreisen aus, und der ist im Laufe der Zeiten immer wieder und wieder erhoben worden. Ja, es beruht gerade ein großer Teil der Anerkenntnis der geistigen Welt bei diesen oder jenen Philosophen darauf, daß mit diesem Einwand gegen den ersten Einwand Ernst gemacht wird. Er besteht darin, daß gesagt wird: Aber der Mensch kann ja doch über diejenige Welt hin­ausgehen, die zunächst durch die äußere Wahrnehmung gegeben werden kann. Der Mensch kann sich in seinem eigenen Innern eine

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Wahrheitswelt aufbauen, und er würde ja niemals zufrieden sein kön­nen - einfach aus dem Grunde, weil er Mensch ist - mit dem, was ihm die äußere Wahrnehmungswelt geben kann. - So baut sich der Mensch in sich selbst eine Wahrheitswelt auf. Und wenn man die­selbe dann im Ernste prüft, so sieht man, was in ihr über alles Körper­liche schon hinausgeht. Man führt dann das an, was der Mensch auf­bringt an Ideen über die Welt, an großen, umfassenden Gesichts­punkten, die ja niemals durch die äußeren Sinne bloß in den Menschen hineinkommen können, die ihm also von einer andern Seite her als durch die Sinne gegeben sein müssen. So sieht man leicht in der Tat­sache der Wahrheitswelt selber einen Umstand, der einem die Über­zeugung dafür bringen kann: Der Mensch ist teilhaftig einer geistigen Welt, denn er lebt mit seiner Wahrheit in der geistigen Welt dar­innen. - Selbstverständlich würde ein solcher Philosoph, wie zum Beispiel Hegel darin gegen den charakterisierten Einwand einen ge­nügenden Grund anerkennen für die Berechtigung einer geistigen Welt, zu der auch das Denken, insofern es sinnlichkeitsfrei ist, gehört. Philosophen, welche zunächst durch ihre ganze Art und Weise in der Lage sind, das durchaus Selbständige der Wahrheitswelt gegenüber aller übrigen Welt anzuerkennen, die werden in dieser Selbständigkeit der Wahrheitswelt, in diesem Sich-selbst-Bewegen des Geistes, wenn er in der Wahrheit sich bewegt, eine genügende Begründung für die Annahme eben eines Geistes finden. Und dann könnte man sagen:

Es wird genugsam Menschen in der Welt geben, für welche das Da­sein der Wahrheit, das konkrete Dasein der Wahrheit, der wahren Ideenwelt, der Beweis für den Geist ist. Ja man kann in einer gewis­sen Weise sagen, daß sich bei Aristoteles selbst etwas Ähnliches findet, daß bei ihm auch vorhanden ist der Glaube: Der Mensch lebt in sei­nen Begriffen, in seinen Ideen, in dem, was Aristoteles den Novs (Nus) nennt, den Verstand, in einer geistigen Welt; und weil beim Menschen diese geistige Welt vorhanden ist, so ist sie eben vorhanden, so ist sie eben auch genügend begründet. Und man darf dann auch von dem aus, was man innerhalb dieser geistigen Welt als solcher er­kennen kann , wenn man sich in ihr bewegt, über andere Wesen und Tatsachen der geistigen Welt Schlüsse ziehen. So zieht Aristoteles

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seine Schlüsse über die Gottheit, über die Unsterblichkeit der Seele und kommt zu solchen Ergebnissen, wie wir sie gestern erwähnen konnten. Hegel, der moderne Philosoph, redet von einer «Selbst­bewegung des Geistes» und meint damit die Selbstbewegung der Be­griffe, die in ihrer Gesetzmäßigkeit nichts zu tun hat mit dem, was für den Menschen die äußere Welt ist, meint damit das, was die Selbsttat des Geistes ist; und in dem Dasein dieser Selbsttat des Geistes beweise sich eben der Geist als solcher, zeige sich, offenbare sich der Geist. Neuere Versuche, wie der ja wahrhaftig von der Geisteswissenschaft nicht als besonders genial anzusehende Versuch von Rudolf Eucken, reden wiederum von einem Sich-selbst-Erfassen des Geistes und da­mit von einem Sich-selbst-Beweisen des geistigen Lebens. Aber man kann doch bei einem genaueren Zusehen auf diesem Wege zu keinem Beweise vom Geiste kommen. Und das ist außerordentlich wichtig, daß der Theosoph dies wisse, aus dem Grunde, damit er selber eine Vorstellung davon habe, wie schwierig es im Grunde genommen ist, mit alledem zurecht zu kommen, was von der Außenwelt, auch von der Philosophie, beigebracht wird, wenn es sich darum handelt, den Geist als solchen zu beweisen. Das macht man sich denn doch noch immer viel zu leicht. Das Dasein der Wahrheit als solcher braucht nämlich nichts für den Geist zu beweisen. Denn nehmen wir einmal an - und ich will etwas, was, wenn es gründlich ausgeführt werden sollte, in einer ganz langen Reihe von Vorträgen dargestellt werden müßte, nur kurz und daher fast vergleichsweise anführen -, nehmen wir einmal an, es bestünde wirklich nichts anderes als die leibliche, die äußere physische Welt. Diese äußere Welt mit ihren Kräften oder, wie es jetzt Mode geworden ist zu sagen, mit ihren Energien, wirke sich aus in dem, was wir die mineralische Welt nennen, kompliziere sich -bereichere sich also nicht mit einer neuen Energie, sondern kompli­ziere sich nur in der pflanzlichen Welt, in der tierischen Welt. Und denken wir uns, sie wirke sich zuletzt auch so aus, daß sie aus dem reinen Zusammenfügen und reinen Zusammenwirken von allein in der physischen Welt vorhandenen Energien den Menschen aufbaue, so aufbaue, daß durch dieses Aufbauen des Menschenleibes aus den Energien der physischen Natur heraus der Mensch dazu kommt, in

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dem komplizierten Werkzeug seines Gehirnes aufsprießen zu lassen seine Gedankenwelt, die nun - wie eben physische Vorgänge - sich bilde innerhalb der Leiblichkeit. Nehmen wir einmal an, es wäre die­ser, vielen ja außerordentlich roh erscheinende Ausspruch mehrerer Materialisten ernst zu nehmen, daß das Gehirn Gedanken absondere wie die Leber die Galle. Nehmen wir ihn für eine Weile ernst. Neh­men wir an, dieses menschliche Gehirn wäre aus rein unorganischen, physischen Energien so kompliziert aufgebaut, daß es durch seine Tätigkeit dasjenige hervorsprießen ließe, was dem Menschen er­scheint als sein geistiges Leben. Nehmen wir also für einen Moment an, die Materialisten hätten recht, es gäbe kein Geistiges als solches. Wäre es im Sinne dieser Materialisten doch noch möglich, von einer Wahrheitswelt zu sprechen, also von der Wahrheitswelt, wie sie sich zum Beispiel in der Hegelschen Philosophie als «Selbstbewegung der Begriffe» gibt?

Sie sehen, daß es nicht unbedeutend ist, diese Frage aufzuwerfen. Denn in der Beantwortung dieser Frage liegt es schon, daß der Mate­rialismus , wenn sich nur irgendwie eine bejahende Antwort auf diese Frage erhalten ließe, selbst solch eine Philosophie wie die Hegelsche mit seinen Mitteln erklären könnte, das heißt aber nichts anderes, als alle idealistisch oder spiritualistisch sich nennende Philosophie ab­weisen könnte! Man braucht sich - und eben das ist es, was nur an­gedeutet werden kann und was nur in vielen Vorträgen klar ausein­andergesetzt werden könnte - nur vorzustellen, daß dasjenige, was aus dem komplizierten menschlichen Gehirn sich als Gedanken ergibt, eben insofern diese Wahrheitswelt, diese Gedankenwelt eben Ge­danken sind, nichts weiter wäre als Spiegelungen der Außenwelt, Spiegelungen der äußeren physischen Welt. Sie können einen Gegen­stand vor einen Spiegel stellen: der Spiegel gibt Ihnen ein Bild zurück von diesem Gegenstand. Das Bild gleicht dem Gegenstande. Es ist nicht der Gegenstand, aber es wird durch die rein materiellen Vor­gänge im Spiegel dieses Bild bewirkt. Und Sie brauchen nichts ande­res zuzugeben, als daß Sie es eben zu tun haben mit einem bloßen Bilde, das keine Realität hat, dann haben Sie es nicht nötig, die Reali­tät des Spiegelbildes zu beweisen. Sie brauchen sich also bloß auf den

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materialistischen Standpunkt zu stellen und zu sagen: Es ist wirklich nichts vorhanden als die äußeren physischen Energien, die sich kom­plizieren zu dem menschlichen Gehirn und eine Art Spiegel hervor­rufen für die äußere Welt, und alles, was sich als Gedanken spiegelt, sind bloß Bilder der äußeren Welt -, dann haben Sie nicht nötig, den Geist zu beweisen. Denn das einzige, die Gedanken, sind bloß Bilder der äußeren Welt. Und ebensowenig wie man die Realität eines Spiegelbildes zu beweisen hat, ebensowenig hat man die Realität der Gedanken zu beweisen. Es wird sich dann auch kaum viel machen lassen demgegenüber, daß Menschen auftreten und sagen: Aber es gibt doch auch solche Begriffe, die nicht aus einer äußeren Wahrneh­mung entnommen werden können, denn ein Kreis tritt uns nie so entgegen, wie wir ihn in der Geometrie kennen, auch kein Dreieck, überhaupt die mathematischen Wahrheiten nicht. - Aber da kann man wieder sagen: Wir sehen sie als Bilder, die uns aus dem Gehirn auftreten. Sie sind draußen ja nicht vorhanden, aber es treten viele einzelne Fälle auf als Annäherungen, und da bildet sich dann das, was als die abstrakten Begriffe erscheint. - Kurz, fertig werden mit dem Einwand, das der Mensch in sich die übersinnliche Wahrheit erzeuge -daß sie übersinnlich ist, das ist wahr, das ist nicht abzuleugnen -, aber fertig werden damit kann der Materialist durchaus. Die Wahrheit als solche also wäre damit kein Einwand gegen den Materialismus.

Nun stehen wir auf einem schönen Boden: Diese Wahrheit, deren Bestand - weil sich die Übersinnlichkeit nicht ableugnen läßt - für unzählige Persönlichkeiten als ein genügender Beweis für das Dasein einer geistigen Welt erscheint, oder wenigstens für den Hinweis auf eine geistige Welt, sie ist nun auch nicht einmal ein Beweis für die geistige Welt. Denn übersinnlich ist sie ja, diese Wahrheit; aber real braucht sie nicht zu sein! Sie braucht nur eine Summe von Bildern zu sein; dann braucht eben niemand ihre Realität anzunehmen. Also müs­sen wir festhalten: Wahrheitsbesitz ist kein Beweis für die Realität einer geistigen Welt! Und indem der Mensch zur Wahrheit dringt und in der Wahrheit webt und lebt, kann er niemals an den Geist heran­kommen, denn er muß sich immer einwenden, daß die Wahrheit ein bloßes Spiegelbild der äußeren physischen Welt sein kann.

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Nun könnte gesagt werden: Dann aber kann man wirklich kaum mehr den Glauben haben, daß es irgendwo in der weiten Welt etwas gibt, was den Menschen, wie er im Alltag ist, dazu führen kann, einen Geist anzuerkennen! - Und wenn dann Leute kommen wie etwa Feuerbach, der Philosoph des 19. Jahrhunderts, und sagen: Nun, was waren die Götter, oder was war ein Gott der Menschheit? Die Men­schen erleben in sich eben ihren Seeleninhalt, ihre Gedanken, und projizieren sie hinaus in die Welt. Das machen sie zu ihrem Gott! -, dann ist es leicht, die Unrealität der göttlichen Welt zu beweisen, weil sie nur die Hinausprojizierung der unrealen Gedankenwelt ist. Ari­stoteles macht das unrichtig, meint Feuerbach, daß er aus dem Vor­handensein der menschlichen Gedankenwelt, der Verstandeswelt, aus ihrer Objektivität einen Beweis bildet für das Dasein eines Gottes, indem er sagt: In der Seele hat der Mensch diesen Verstand; derselbe ist anwendbar auf die Dinge. Das setzt voraus, daß überall in den Dingen der allwaltende «Nus» ist. Aber wie er ihn beschreibt, so ist er nur der hinausprojizierte menschliche Verstand. Wenn der aber nur ein Spiegelbild ist, dann gibt es keine Möglichkeit, darauf irgend etwas zu begründen.

So klar muß eigentlich der Kenner der Geisteswissenschaft diesen Dingen gegenüberstehen. So klar muß er sich sagen können: Die Wege, die gewöhnlich eingeschlagen werden, um von außen zur Anerkenntnis der geistigen Welt zu kommen, sie erweisen sich doch als ziemlich brüchig. - Und beim genauen Zusehen erweisen sie sich durchaus als brüchig.

Sollen wir nun also durchaus zugeben, daß es vor dem Ein­dringen in die Welt des Hellsehers keinerlei Möglichkeit gibt, eine Überzeugung von dem Dasein des Geistes zu gewinnen? Es könnte fast so scheinen. Es könnte so scheinen, als ob es überhaupt nur für diejenigen Menschen eine Berechtigung gäbe, von der geistigen Welt zu sprechen, die entweder als Hellseher in dieselbe hineinschauen oder die den Hellsehern glauben. Das könnte so scheinen; es ist aber doch nicht so. Und hier kommen wir zu der Frage: Die äußere Welt als solche, mit ihrem materiellen In­halte, weist uns zunächst - wenn man nicht schon von ihr weiß -

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auf keine geistige Welt hin. Auch die innere Welt der Wahrheit weist uns auf keine geistige Welt hin, denn sie könnte ein Spiegelbild der äußeren, bloß physischen Welt sein. Haben wir dann überhaupt noch etwas außer dem, was da skizzenhaft angedeutet ist? Ja, wir haben etwas, und das ist der Irrtum! Man darf nämlich nichts in der Welt vergessen, wenn es sich handeln soll um ein Gesamtverständnis der Welt. Neben der Wahrheit hat der Mensch noch den Irrtum. Nun kann der Irrtum - so werden Sie sagen - doch selbstverständlich nicht zur Wahrheit führen, und es wäre eine sonderbare Sache, von dem Irrtum auszugehen. Es ist aber auch gar nicht von mir gesagt worden, daß wir - weil wir gesehen haben, daß es fruchtlos ist, uns auf den Boden der Wahrheit zu stellen - uns jetzt auf den Boden des Irrtums stellen wollen. Denn das würde ja die Zahl der Gegner nicht gerade verringern, wenn wir, um die Realität der geistigen Welt einzusehen, uns jetzt auf den Boden des Irrtums stellen würden. Aber es soll jetzt auch gar nicht der Irrtum als etwas angeführt werden, von dem wir ausgehen, um die Wahrheit zu erkennen; das wäre nicht nur eine Tor­heit, sondern eine Absurdität. Aber etwas ist doch nicht zu leugnen in bezug auf den Irrtum: er ist da, er ist vorhanden in der Welt, er ist real. Und vor allen Dingen: er kann sich ergeben in der menschlichen Natur und in ihr zum Sein gelangen. Wenn nun die äußere Welt sich in dem Gehirn einen Spiegelungsapparat geschaffen hat und sich spie­gelt, und der Wahrheitsgehalt die Summe der Spiegelbilder ist, dann natürlich könnte noch immer in einem Menschen statt der Wahrheit der Irrtum dadurch auftreten, daß der Mensch sich etwa vergleichen ließe mit einem falschen Spiegel oder mit einem Spiegel, der Karika­turen gibt von dem, was draußen ist. Wenn wir einen Spiegel nehmen, der statt eines richtigen Bildes eine Karikatur gibt, so spiegelt er falsch. Also es ließe sich der Irrtum verhältnismäßig leicht dadurch erklären, daß man sagte, er ist dadurch möglich, daß unser Organ, das aus der äußeren Welt aufgebaut ist, falsch spiegelt. Man kann die Wahrheit als ein Spiegelbild erklären und kann auch den Irrtum als ein Spiegelbild erklären. Aber etwas kann man nicht: Die Korrektur, die Überführung des Irrtums in die Wahrheit kann man nicht als ein Spiegelbild erklären. Denn versuchen Sie noch so stark einem Spiegel,

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der eine Karikatur von einem äußeren Gegenstande zeigt, zuzureden, er solle aus sich selber diese Karikatur in ein richtiges Bild verwandeln:

er bleibt so, wie er ist. Er zeigt das falsche Bild, bleibt bei seinem Irr­tum.

Daß der Mensch nicht beim Irrtum zu bleiben nötig hat, sondern den Irrtum zu überwinden und in die Wahrheit überzuführen in der Lage ist, das ist das Maßgebende! Das ist es, worauf es ankommt. Da­durch zeigt der Mensch, daß es in der Tatsache der Wahrheit eben wohl ein Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit gibt; aber in der Um­wandlung des Irrtums in die Wahrheit zeigt sich, daß der Irrtum als solcher nicht ein Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit ist. Das heißt mit andern Worten, daß der Irrtum, wenn er da ist, keine Existenz­berechtigung in der Welt hat, die uns zunächst umgibt. Die Wahrheit hat ihre Existenzberechtigung in der Welt, die uns zunächst umgibt, und zur Annahme der Wahrheit brauchen wir nichts anzunehmen als die Existenz einer äußeren physischen Welt. Zur Annahme eines Irr­tums genügt nichts, was sich spiegeln kann von der äußeren Welt, sondern da muß etwas da sein, was nicht zur äußeren Welt gehört, etwas, was keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der äußeren Welt hat. Wenn sich das Sinnliche als übersinnliches Bild in der Wahr­heit spiegelt, dann muß sich, wenn sich das Sinnliche als Irrtum spie­gelt, ein anderer Grund als der, welcher im Sinnlichen selber liegt, für den Irrtum ergeben. Worauf blicken wir also, indem wir darauf sehen, daß der Irrtum da ist? Wir blicken auf eine Welt, die eben nicht inner­halb der Sinneswelt, der äußeren physischen Tatsachenwelt sich er­schöpft! Der Irrtum kann nur urständen in einer übersinnlichen Welt, kann nur aus einer ubersinnlichen Welt kommen.

Das ist zunächst ein Schluß. Nun wollen wir einmal sehen, was die übersinnliche Forschung zu sagen hat - nicht um etwas zu beweisen , sondern um uns die Sache zu beleuchten - zu dieser eigentümlichen Stellung des Irrtums in der äußeren Welt. Nehmen wir an, daß wir so schnöde wären gegen uns selbst, zunächst aus einem rein inneren Drang, aus unserer Willkür heraus eine Vorstellung zu denken, von der wir ganz gewiß wissen, daß sie ein Irrtum ist. Nehmen wir also an , wir denken willkürlich einen Irrtum. Das ist ja vielleicht, wie es zunächst

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scheint, keine sehr begehrenswerte Tat, willkürlich einen Irr­tum zu denken. Aber in einem höheren Sinne kann es eine sehr nütz­liche Tat sein. Nämlich, wer das wirklich ausführt, einen Irrtum will­kürlich zu denken, der wird, wenn er mit der nötigen Energie, mit der nötigen Sorgfalt und mit öfterer Wiederholung dabei ist, merken, daß dieser Irrtum schon etwas recht Reales in der Seele ist, in seiner Seele. Er wird merken, daß dieser Irrtum schon etwas tut. Durch den Irrtum, den wir willkürlich denken und bei dem wir uns klar darüber sind, daß er ein Irrtum ist, beweisen wir nichts, klären uns über nichts auf. Aber er wirkt in uns. Ja, es ist diese Wirkung eine recht bedeut­same aus dem Grunde, weil wir durch gar keinen Ausblick auf eine Wahrheit gestört werden, wenn wir wissen, wir denken einen Irrtum. Da sind wir so recht bei uns selber, wenn wir willkürlich einen Irrtum denken. Und man braucht diesen Prozeß nur lange genug fortzu­setzen, dann wird man sehen, daß man gerade dadurch zu dem kommt, was wir immer beschrieben haben in der Geisteswissenschaft, in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» etwa, als das Aufrufen von in der Seele verborgenen Kräften, von Kräften, die vorher nicht da waren. Das fortwährende Sich-Hingeben der äußeren Wahrheit führt nicht sehr weit in bezug auf das, was jetzt gemeint ist, aber das willkürliche Kraftenlassen des Irrtums in sich selber kann allerdings zur Hervorbringung gewisser verborgener Seelenkräfte führen.

So wie ich es jetzt gesagt habe, ist es nicht eigentlich als eine Vor­schrift aufzufassen. Daher werden Sie auch in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» das ausgelassen fin­den, mit Berechtigung ausgelassen finden: man solle ja nur recht energisch immer wieder und wieder willkürlich so viel Falsches als nur möglich denken zur Hervorbringung von verborgenen Seelenkräf­ten. - Aber in einer gewissen andern Art ist die Sache doch wieder etwas dem ähnlich, wie dort dargestellt worden ist. Es wird dargestellt, daß wir allerdings nicht von einem grobklotzigen Irrtum auszugehen haben, sondern daß wir zweierlei Bedingungen erfüllen sollen. Wir müssen uns allerdings eine Vorstellung bilden, die mit keiner äußeren Realität übereinstimmt. Nehmen Sie die Vorstellung, die immer wieder

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anempfohlen wird: die Vorstellung des Rosenkreuzes. Das ist, wenn man es einseitig vom Standpunkte der äußeren Wirklichkeit aus nimmt, eine irrtümliche Vorstellung, ein Irrtum. Es wachsen auf einem schwarzen, toten Holzstamm keine roten Rosen. Aber es ist eine symbolische Vorstellung, eine sinnbildliche Vorstellung. Es drückt zwar unmittelbar keine Wahrheit aus, aber es versinnbildlicht eine Wahrheit, ist also gegenüber der rein äußeren sinnlichen Wahr­heit eine irrtümliche Vorstellung, aber doch nicht so vollständig eine irrtümliche Vorstellung, weil sie doch wieder Bedeutsames, geistig Berechtigtes versinnbildlicht. Wir geben uns, wenn wir über das Rosenkreuz meditieren, einer Vorstellung hin, die für die äußere materielle Wahrheit ein Irrtum ist, also die Bedingung erfüllt, daß wir willkürlich einen Irrtum in unsere Seele aufnehmen. Aber nicht einem gewöhnlichen Irrtum geben wir uns hin. Denn wir erfüllen doch ganz bestimmte Bedingungen, indem wir nicht dem gewöhnlichen Irrtum, sondern der sinnbildlichen, der bedeutungsvollen Vorstellung uns hingeben. Und da kommen wir auf die zweite Bedingung. Das ist die, daß wir gewisse andere Voraussetzungen erfüllen müssen, wenn wir uns so der Meditation, der Konzentration und so weiter hingeben. Dringen Sie ein in den ganzen Geist dessen, was in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder in dem zweiten Teil der «Geheimwissenschaft im Umriß» auseinandergesetzt ist, so werden Sie sehen, daß eine gewisse Seelenverfassung notwendig ist, um in einer richtigen Weise sich der Meditation und so weiter hin­zugeben. Es werden da gewisse moralische Qualitäten der Seele an­gegeben, die dasein müssen , wenn das, was vor sich gehen soll, in einer richtigen Art geschehen soll. Warum wird denn das als eine Bedingung angegeben? Warum werden gewisse moralische Qualitä­ten verlangt, damit der Mensch sich einer solchen sinnbildlichen, also im äußeren Sinne falschen Vorstellung hingeben dürfe?

Das ist wieder eines von den Dingen, die wohl berücksichtigt wer­den müssen. Es führt in der Regel zu nichts Gutem, wenn man bloß der Meditation, Konzentration und so weiter sich hingibt und nicht jene ganze Seelenverfassung sucht, die ja auch genügend charakteri­siert worden ist. Die Erfahrung zeigt nämlich, wenn der Mensch nicht

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den Boden einer solchen Seelenverfassung hat, wie sie eben angedeutet worden ist, daß die Welt, die dem Menschen dann eröffnet wird da­durch, daß verborgene Seelenkräfte wachgerufen werden, wahrhaftig eine Welt ist, die eher zerstörend, auflösend auf das menschliche Leben wirkt, als gesundend, weiterentwickelnd. Gesundend wirken und das, was schon da ist, zu einem höheren Dasein weiterentwickelnd, wird das, was als Meditation, Konzentration und so weiter gegeben wird, nur dann, wenn es aus dem Boden einer solchen angedeuteten Seelen­verfassung herauswächst. Das zeigt die Erfahrung. Und sie zeigt ja hinlänglich, zu welchen pathologisch zu nennenden Erscheinungen diejenigen kommen, welche nicht auf dem Boden einer solchen Seelen-verfassung, sondern aus einer bloßen Neugierde, einer Leidenschaft oder dergleichen zu einer höheren Welt durch Meditation und so wei­ter aufsteigen wollen. Solche Menschen nehmen ja doch eine Realität auf; denn der Irrtum ist eine Realität. Er wirkt auch in der Seele. Er ist eine Realität, die nicht in der äußeren Welt, wie sie uns zunächst für die Sinne gegeben ist, enthalten ist. Solche Menschen nehmen in der Tat eine übersinnliche Kraft, eine übersinnliche Entität auf in ihre Seele. Der Irrtum mlt seinen Kräften, mlt seinem Sein ist ein real Wirksames, das aber nicht seinen Grund und Boden in der äußeren Sinneswelt haben kann. Aber er darf so nicht wirken. Sie darf nicht wirken, diese übersinnliche Kraft, ohne daß man auf einem besonde­ren Boden, auf dem Boden einer guten Seelenverfassung steht. Das kann aus keinem andern Grunde sein als aus dem, daß man sagt: Da haben wir allerdings in dem Irrtum eine übersinnliche Kraft gegeben; aber diese übersinnliche Kraft ist, wenn sie so auftritt, daß sie sich als Irrtum kundgibt, ganz gewiß keine gute Kraft. Sie kann erst eine gute werden, wenn sie eingesenkt wird in den Boden einer guten Seelen-verfassung.

Übersetzen Sie sich das in die Worte, mit denen oftmals in der Geisteswissenschaft diese Dinge besprochen werden. Da wird gesagt:

Der Mensch kann kennenlernen eine übersinnliche Welt, denn er lernt erkennen den Irrtum. Er braucht also nicht auf künstliche Art hinauf­gehen in die übersinnliche Welt, denn sie ragt herein in den Menschen, indem sie ihn in den Irrtum schickt. Und der wirkt. Aber es ist keine

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gute Welt, die der Mensch da kennenlernt. Er muß hinzubringen von einer andern Seite her eine gute Welt in einer Seelenverfassung, aus der erst der Irrtum in der richtigen Weise in der Seele wirken kann. Wenn ich in eine Art Paradoxon kleiden wollte, was damit gemeint ist, so müßte ich sagen: Die Menschen lernen die übersinnliche Welt schon in der sinnlichen kennen, denn sie haben dort den Irrtum. -Also sie lernen ohne übersinnliche Welt zunächst den Teufel kennen . sie lernen das kennen, was nichts Gutes ist, und was sich auch als nichts Gutes kundgibt, sich als nichts Gutes offenbart. So hätte es also seinen guten Grund, wenn einmal jemand gesagt hat: «Den Teu­fel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.» Denn der Teufel ist da, so wahr als der Irrtum da ist. Oder wenn wir es in unsere Sprache kleiden wollen, können wir sagen: Der Mensch lernt die luziferischen Kräfte kennen. Er lernt die übersinnliche Welt zuerst in Form von luziferischen Kräften kennen. Und dem entgeht er nur dadurch, daß er Vogel-Strauß-Politik treibt, daß er den Kopf in den Sand steckt und diese Welt nicht anerkennt. Das kann er zwar machen, aber damit ist die Sache nicht aus der Welt geschafft. Das ist es eben, und was man in einer großen Anzahl von Vorträgen erst aus­führen müßte, wenn man mehr geben wollte als etwas Skizzenhaftes:

daß durch das Dasein des Irrtums in der äußeren Welt ein innerer Beleg erbracht ist für die Übersinnlichkeit, aber zunächst für das luziferische Übersinnliche, was ein Gegner der Menschennatur ist. Wenn der Mensch bei dem Eindringen in die übersinnliche Welt durch den willkürlich in sein Denken aufgenommenen Irrtum nicht die nötige moralische Seelenverfassung hat, so verfällt er dem Luzifer.

Hat es nun einen besonderen Zweck, gerade über diese Dinge zu sprechen? Wir haben gestern den Aristotelischen Satz angeführt, daß zu dem, was der Mensch aus der Vererbungslinie von Eltern und Voreltern überkommen hat, ihm vom Gotte dasjenige gegeben würde, was seine übersinnliche Natur ist, daß also vom Gotte im Zusammen-hange mit den Eltern für jeden in die Sinneswelt hereintretenden Menschen der übersinnliche Teil geschaffen würde. Und wir kamen -wenn Sie sich an das erinnern , was gestern am Schiusse gesagt worden ist - durchaus nicht zurecht mit dieser Aristotelischen Behauptung.

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Wir mußten darin allerlei finden, was sich mit dieser Aristotelischen Behauptung selber nicht verträgt. Nun hat zwar mit selbstverständ­lich großem Recht unser lieber Freund Dr. Unger die Berechtigung des Widerspruches in der Welt gezeigt und klar bewiesen. Aber ich müßte jetzt wieder lange Auseinandersetzungen machen, wenn ich es Ihnen belegen wollte, daß ein Widerspruch doch als nicht gerecht­fertigt anzuerkennen wäre, wo ein Mensch eine Behauptung aufstellt, die dann zu Konsequenzen führt, welche seine eigene Behauptung widerlegen. Das wäre bei Aristoteles der Fall. Denn wenn der Gott das Übersinnliche des Menschen schüfe, wenn er hereintritt in die physische Welt, so würde dadurch, wie es sich zeigt in seiner eigenen Entwickelung, in all den Menschen, welche da nach dem Tode im Übersinnlichen leben, ein unbefriedigter Zustand entstehen. Es müßte vorausgesetzt werden, daß der Gott den Menschen zur Unbefriedi­gung schüfe. Das kann auch im Sinne des Aristoteles nicht richtig sein. Wir können unmöglich irgendeinem Weltweisen zugestehen, daß mit dem, was vom Menschen durch die Vererbungslinie ins Dasein tritt, verbunden wäre, was unmittelbar von einem Gotte aus dem Menschen als sein übersinnlicher Teil gegeben würde. Denn erstens gründet sich dies auf einen Beweis aus der Wahrheit. Aristoteles sucht nur einen Beweis aus der Wahrheit zu geben. Aber das kann man nicht, wie wir gesehen haben. Denn das Dasein der Wahrheit beweist nichts für die übersinnliche Welt, so daß von vornherein der Beweis aus der Wahrheit für die übersinnliche Welt nichts taugt. Das zweite ist das:

Wenn wir annehmen, der Mensch wäre von einem Gotte geschaffen seinem übersinnlichen Teile nach, wenn er hereintritt in die physische Welt, dann wäre es unerklärlich, daß er nach dem Tode in einen un­vollkommenen Zustand übergehen könnte. Also ist es ebenso nicht möglich, was gestern als Aristotelische Annahme dargestellt worden ist. Aristoteles hat eben nicht berücksichtigt, daß das nächste Über­sinnliche, das dem Menschen gegeben ist, und das sich sehr stark als wirksam erweist, ja, als Wirksames sich erweisen kann gegenüber der unmittelbaren menschlichen Erfahrung, daß dies das übersinnliche luziferische Prinzip ist, und daß wir dann erst zurecht kommen, wenn wir bei der Entstehung des übersinnlichen Menschen zunächst dem

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luziferischen Prinzip den Zutritt gestatten, also sozusagen das luzife­rische Prinzip beteiligt sein lassen, insofern wir vom Menschen, wie er da ist in der physischen Welt, hinaufblicken zur übersinnlichen Welt. So kann also nicht der Mensch von einem Gotte bloß her-stammen. Er muß herstammen nicht nur von einem Gotte, sondern von einem Gotte in Verbindung mit dem luziferischen Prinzip! Und hier stehen wir auf einem Boden, der - wie ich Sie bitte - von Ihnen wohl ins Auge gefaßt werden mag aus dem Grunde, weil wegen der eben berührten Tatsache, die gerade den abendländischen Völkern gegenüber aller Annahme einer geistigen Welt, man möchte sagen, unbewußt ins Gefühl übergegangen ist, diese abendländischen Völker bis in unsere Zeit herein in ihren Leuchten der Gelehrsamkeit nicht zu einer Unbefangenheit haben kommen können gegenüber dem, was wir die Reinkarnation, die wiederholten Erdenleben nennen.

So wie ich es Ihnen heute auseinandergesetzt habe, daß der Mensch eigentlich an den Teufel viel eher glauben müsse als an ein anderes Übersinnliches, daß der Teufel ihm eigentlich recht naheliegt, so haben sich die Menschen in früherer Zeit keineswegs damit aus­einandergesetzt. Aber sie haben dasselbe gefühlt, was ich vor Ihnen jetzt ausgesprochen habe in Ideen. Sie haben gefühlt, daß neben dem Göttlichen das Luziferische vorhanden ist. Und sie haben noch etwas anderes gefühlt, dessen Berechtigung uns allerdings erst im Laufe dieser Vorträge vor Augen treten wird: sie haben doch gefühlt, daß mit demjenigen, was uns in des Menschen äußerer Leiblichkeit ent­gegentritt, zugleich ein Geistiges mitgegeben ist, mitgegeben ist ein göttlich Gezeugtes. Und sie kamen und kamen nicht zurecht gegen­über der Anerkenntnis der äußeren menschlichen physischen Wesen­heit auf dem physischen Plan mit der Annahme der Abstammung des Menschen aus Göttlich-Übersinnlichem oder überhaupt aus einem übersinnlichen Urgrunde. Damit kamen sie nicht zu Rande. Denn für den abendländischen Menschen gab es eine ganz andere Schwierigkeit als zurn Beispiel für den Buddhisten, der es leicht hat mit seiner ganzen Art und Weise des Denkens und Fühlens, die Wiederverkörperungs-lehre anzunehmen. Denn ihm ist es, man möchte sagen, eingeboren, daß das äußere Leibliche eigentlich eine Art Verleugnung des Göttlichen

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darstellt, daß in dem äußeren Leiblichen eine Art Abfall des Göttlichen dargestellt ist, und daß berechtigt ist das Streben, befreit zu werden von der äußeren Leiblichkeit und zu Welten aufzusteigen, für welche das äußere Leibliche keine Bedeutung hat. Aber anders steht Aristoteles da - und anders stehen etwa die Schüler des Buddha da. Aristoteles steht da vor der Welt mit seiner übersinnlichen Welt­anschauung, indem er sagt: Wir gehen durch die Pforte des Todes, nehmen durch die Pforte des Todes unseren übersinnlichen Teil mit, aber müssen dann hinunterschauen auf das, was wir im Leibe waren, und unsere Entwickelung in der übersinnlichen Welt hängt von die­sem Leben in einem irdischen Leibe ab. Da ist nichts nutzlos. Die Gottheit hat uns hereingeführt in einen Leib, weil sie es brauchte zu unserer Gesamtentwickelung. Sie hätte uns nicht, wenn sie uns leib-frei gelassen hätte, diese Entwickelung geben können. - Mit andern Worten: Aristoteles legt einen Wert auf die Erlebnisse in dem äußeren physischen Leben. Jetzt handelt es sich nicht um Begriffe und Abstrak­tionen, sondern um einen Empfindungsgehalt. Einen solchen Emp­findungsgehalt, wie Aristoteles ihn kennt, hat der buddhistische Be­kenner nicht. Ich habe es oft auseinandergesetzt, wie er ihn nicht hat. Er hat wirklich eine Empfindung dafür, daß der Mensch durch-geschritten ist durch das Nichtwissen, was ihn hingeführt hat zur Berührung mit der Sinneswelt, daß der Mensch, wenn er zu dem Sinnlichen gekommen ist, durch etwas dazu gekommen ist, wovon er sich zu befreien hat. Also es liegt im Buddhismus das Gefühl vor, daß der Mensch erst eigentlich recht Mensch ist, wenn er alles abgestreift hat, was im Sinnlichen ist. Aristoteles, als ein Angehöriger des Geistes­lebens des Abendlandes, konnte nicht buddhistisch fühlen, wie kein im geistigen Leben des Abendlandes stehender Mensch in Wahrheit buddhistisch fühlen kann. Er kann es sich einreden, er kann die buddhistische Anschauung anerkennen, sie kann ihm sogar ungemein gefallen, aber das geschieht immer mit Verleugnung des Gemüts-gehaltes der Seele.

Das aber gehört zu dem Menschen des Abendlandes dazu: die Gött­lichkeit in der Sinneswelt, das durchgeistigte, das durchgöttlichte Sinnliche anzuerkennen. Und wenn der abendländische Mensch unter

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dem Einfluß des Buddhismus auch nur für kurze Zeit die Geistigkeit des Sinnlichen verleugnet, in den Gemütern lebt es und wird immer vorhanden sein. Und in Aristoteles lebte gerade dieses Wert-Legen auf das äußerlich Physische, nicht um seiner selbst willen, sondern als einen notwendigen Durchgangspunkt, als eine notwendige Voraus­setzung für die Gesamtevolution des Menschen. Dieses Wert-Legen auf das äußere Physische lebte immer in den Menschen des Abend­landes, bis ins 19. Jahrhundert herein. Und das ist eines der Elemente, warum hervorragende Geister des Abendlandes sich nicht befreunden konnten mit der Reinkarnation. Das Fühlen der Berechtigung des luziferischen Prinzips auf der einen Seite und das Anerkennen des Göttlichen auch in dem äußeren sinnlichen Dasein auf der andern Seite wirkten sozusagen zusammen, und das erzeugte Gefühle von der Art, wie ich Ihnen eines mitteilen will bei einem Manne, der wirklich zu den geistvollsten Persönlichkeiten des Abendlandes gehört. An dem bedeutsamen Philosophen Frohschammer möchte ich Ihnen dieses Gefühl nachweisen. Sie finden es beschrieben in seinem Werke, das er geschrieben hat über die Philosophie des Thomas von Aquino. Da gibt er eine sehr ausführliche Auseinandersetzung seiner eigenen Philosophie mit dem Thomismus und spricht sich an einer Stelle in seiner Art aus über die Möglichkeit dessen, was wir die Reinkarnation nennen. Frohschammer muß nun in dieser Beziehung durchaus auf­gefaßt werden als ein Repräsentant der abendländischen Welt­anschauung, das heißt als ein Geist, an dem wir erkennen können , wie schwierig es den verflossenen Jahrhunderten wurde, dasjenige anzuerkennen, was einen Grundnerv unserer Pneumatosophie aus­machen muß: die Lehre von der Reinkarnation. Frohschamrner sagt:

«Als von Gott stammend kann die Menschenseele nur als Produkt oder Werk göttlicher Imagination gelten; denn es muß die Menschen-seele wie die Welt selbst in diesem Falle zwar aus göttlicher Kraft und Wirksamkeit kommen (da aus bloßem Nichts eben Nichts werden kann), aber diese Kraft und Wirksamkeit Gottes muß, wie vorbildend für die Schöpfung, so auch bildend bei deren Realisierung und Fort-erhaltung wirken; also als Gestaltungskraft (nicht bloß formaler, son­dern auch realer Art), demnach als Phantasie, das heißt als in der Welt

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immanent fortwirkende und fortschaffend erhaltende Kraft oder Po­tenz, also als Weltphantasie -, wie dies schon früher erörtert wurde.»

Ich möchte hier dazu bemerken, daß Frohschammer auch ein Buch geschrieben hat «Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses», in dem er - wie Hegel die Idee, wie Schopenhauer den Willen - die Phantasie selbst als das schöpferische Weltenprinzip darstellt.

«Was die Lehre von der Präexistenz der Seelen betrifft (der Seelen, die entweder als ewig betrachtet werden oder als zeitlich geschaffen, aber schon am Anfang und insgesamt auf einmal), die man, wie be­merkt, in neuerer Zeit wieder hervorgezogen und zur Lösung aller möglichen psychologischen Probleme für tauglich hält -, so steht sie mit der Lehre von der Seelenwanderung und Einkerkerung der Seelen in irdische Leiber in Verbindung.»

Dies wurde geschrieben im Jahre 1889, und ich habe auch schon in dem Karlsruher Zyklus angedeutet, daß es allerdings auch im 19. Jahr­hundert immer Bekenner der Lehre von den wiederholten Erdenleben gegeben hat. Das weiß natürlich Frohschammer auch, und deshalb sagt er weiter:

«Danach fände also bei der Zeugung der Ältern weder eine direkte göttliche Schöpfung der Seelen statt, noch eine schöpferische Pro­duktion neuer Menschennaturen nach Leib und Seele durch die Eltern, sondern nur eine neue Verbindung der Seele mit dem Leibe, also eine Art Fleischwerdung oder Versenkung der Seele in den Körper -, wenigstens einer teilweisen, so daß sie teils vom Körper umfangen und gebunden ist, teils darüber hinausragt und eine gewisse Selb­ständigkeit als Geist behauptet, aber doch nicht davon loskommen kann, bis der Tod die Verbindung aufhebt und für die Seele Befreiung und Erlösung bringt (wenigstens von dieser Verbindung). Der Geist des Menschen gliche da in seinem Verhältnis zum Körper den armen Seelen im Fegfeuer, wie sie von malenden Pfuschern auf Votivtafeln dargestellt zu werden pflegen, als Körper, die halb in die auflodernden Flammen versenkt sind, mit dem obern Teil aber (als Seelen) hervor­ragend und gestikulierend! Man bedenke doch, welche Stellung und Bedeutung bei dieser Auffassung dem Geschlechtsgegensatz, dem Gattungswesen der Menschheit, der Ehe und dem Elternverhältnis

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zu den Kindern zukäme! Der Geschlechtsgegensatz nur eine Ein­kerkerungseinrichtung, die Ehe ein Institut zur Ausführung dieser schönen Aufgabe, die Eltern den Kinderseelen gegenüber die Scher­gen zurn Festhalten und Einkerkern derselben, die Kinder selbst den Eltern diese elende, mühselige Gefangenschaft verdankend, während sie weiter nichts mit ihnen gemein haben! All das, was sich an dieses Verhältnis knüpft, beruhte auf elender Täuschung! Und ebenso alles, was sich in der Menschheit an den Geschlechtsgegensatz knüpft! Welch eine Rolle spielt doch das Geschlechtsverhältnis! Wie ist so sehr das Sinnen und Trachten der Menschen von ihm bestimmt! Welche Sehnsucht erregt es, welche Beglückung geht von ihm aus , für welch körperliche und geistige Entzückungen ist es die Quelle! Und wie ist es der Gegenstand unerschöpflichen künstlerischen , ins­besondere poetischen Schaffens! Und nun soll dieser Gegensatz nur eine Veranstaltung zur Verleiblichung und Einkerkerung armer See­len sein, die dadurch dem irdischen Elend preisgegeben werden, den Mühen, Leidenschaften, Versuchungen und Gefahren dieses irdischen Daseins verfallen und nur allenfalls mit einem Stück ihres Wesens noch in ein Jenseits hineinragen oder, wie man sagt, transzendental (eigentlich transzendent) sind! Die Bedeutung dieses Geschlechts-verhältnisses liegt demgemäß nicht darin, daß eine beständige Wieder-erneuerung, Verjüngung stattfindet, dem Frühling des Daseins ent­sprechend, sondern vielmehr das Gegenteil davon. Und die Sehn­sucht, die zu Grunde läge, und das Entzücken, das davon ausgeht, wäre nicht in der Befriedigung höchster Schaffenslust begründet, wie man doch meinen sollte, sondern entspringt aus einem traurigen Streben nach Einkerkerung neuer Seelen in leibliche Formen, die ihnen den größten Teil ihres Selbst verdunkeln und entfremden.»

Sie sehen, das ist ein Mensch, der aufrichtig und ehrlich spricht, spricht aus dem Geistesleben seiner Zeit heraus. Und wir haben wohl Grund, uns bekanntzumachen mit den Schwierigkeiten, welche die Weltanschauungen der verflossenen Jahrhunderte im Abendlande hatten, um das anzuerkennen, was der Grundnerv unserer Welt­anschauung sein muß. Und gerade, wenn wir zu so wichtigen Pro­blemen kommen wie in diesen Vorträgen, wird es nicht unnötig sein,

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sich klarzumachen, daß schon alle die, welche herankommen wollen, als Ehrliche herankommen wollen, können wir sagen, an die Geistes­wissenschaft, große Schwierigkeiten haben. Und es gehört mit zu den Aufgaben der Theosophen, nicht leichtsinnig zu sein, sondern sich voll bekanntzumachen mit den Schwierigkeiten, welche die haben, die, aus dem abendländischen Kulturleben herausgewachsen, sich er­heben wollen zu dem Leben des Geistes, wie es sich uns darstellt in der Geisteswissenschaft im allgemeinen, und im besonderen in dem, was wir Pneumatosophie nennen können.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 15. Dezember 1911

Wir haben gestern gesehen, wie es doch in einer gewissen Art auch schon für das gewöhnliche Bewußtsein, wenn dieses sich nur selber recht versteht, etwas gibt wie einen Beweis von dem Dasein des Geistes. Wir haben sagen können, daß für dieses gewöhnliche Be­wußtsein zunächst der Irrtum und die Überwindungsmöglichkeit des Irrtums ein Beleg für das Vorhandensein des Geistes sind. Wir haben, um das einsehen zu können, eine Eigenschaft des Geistes heran­gezogen, die uns wie selbstverständlich erscheint, nämlich die Eigen­schaft, die man als die Übersinnlichkeit bezeichnet; denn wir haben uns ja darauf berufen, daß der Irrtum im Übersinnlichen seine Wur­zeln haben müsse. Ich habe gesagt, daß es natürlich nicht möglich ist, alle Einzelheiten herbeizutragen, um eine solche Sache in aller Aus­führlichkeit zu belegen. Aber das könnte geschehen. Es könnte sogar ein großes Interesse haben, zu zeigen, wie gewissermaßen die Irrtumsmöglichkeit sich erst ergibt auf demjenigen Gebiet, zu dem sich der Mensch erhebt, indem er sich von dem Zwange der äußeren physi­schen Welt frei macht, also von alledem frei macht, was er ja selbst durch die Wahrnehmung nur erkennen kann. Es braucht zunächst nur auf eine Tatsache hingewiesen zu werden, um gewissermaßen die Methode anzudeuten, in der man zeigen könnte, wie im Grunde ge­nommen der Versuchung, durch eine Beziehung zur äußeren Welt in Irrtum zu verfallen, nur der Mensch ausgesetzt sein kann, wohlgemerkt: ausgesetzt sein kann durch seine eigene innere Natur und Wesenheit. Bei andern Gelegenheiten ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, wie im Grunde genommen auch die moderne Wissenschaft von allen Seiten das heranträgt, was man Beweise nennen könnte für die Feststellungen der Geisteswissenschaft. Nur werden diese Belege der äußeren Wissenschaft von deren Bekennern eben heute nicht vorurteilsfrei genug gedeutet.

Nehmen wir eine solche Tatsache, wie sie durch den Naturforscher Huber festgestellt worden ist, indem er eine Raupe, welche ein Gespinst

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anlegt, untersuchte. Es gibt Raupen, welche ein solches Ge­spinst in aufeinanderfolgenden Stufen, in aufeinanderfolgenden Etap­pen anlegen, so daß man sagen kann, die Raupe spinnt in der ersten, zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten Stufe. Nun nahm Huber eine solche Raupe, die bis zur dritten Stufe ihr Gespinst gebracht hatte, und setzte sie in ein anderes Raupengespinst, das bis zur sechsten Stufe schon fertig war. Da stellte sich etwas Merkwürdiges heraus. Diese Raupe, die bis zur dritten Stufe ihr Gespinst vollendet hatte und jetzt in ein anderes Gespinst versetzt worden war, das aber schon von einer andern Raupe bis zur sechsten Stufe vollendet war, fuhr ruhig fort, aus sich selbst, wenn auch mit Hindernissen, nicht etwa die siebente und achte Stufe zu spinnen, sondern die vierte und fünfte. Also sie spann ruhig weiter, wie es ihr der Trieb eingab, von der Stufe ab, bis zu der sie gekommen war, das heißt, sie folgte einem Innenleben, das unbeirrbar war, das nur sich selbst folgen kann. Wenn man dann eine solche Raupe aus ihrem eigenen Gespinst nahm, das sie bis zur dritten Stufe gebracht hatte, und setzte sie in ein anderes Gespinst, das auch bis zur dritten Stufe fertig war, so setzte sie es ruhig fort und hat dies Gespinst in einer regulären Weise vollendet, weil sie auch da nicht einem äußeren Eindruck folgte, sondern ihrem inneren Trieb, nach der dritten Stufe die vierte weiterzuspinnen. Das tut sie aber auch, wenn der äußere Eindruck da ist von einem Ge­spinst, das schon bis zur sechsten Stufe gediehen ist.

Es ist dies eine außerordentlich interessante Tatsache, weil wir daran sehen, daß in den Wesenheiten, die uns im Tierreich gegeben sind, durch äußere Eindrücke gar nicht dasjenige bewirkt werden kann, was man einbeziehen kann in diejenigen Begriffe, die wir beim Menschen bezeichnen als richtig oder unrichtig, als in die Sphäre der Irrtumsmöglichkeit fallend. Der Mensch kann sich durch etwasÄußer­liches deshalb beirren lassen, weil er so organisiert ist, daß er nicht bloß seinem inneren Triebleben, den inneren Impulsen folgt, sondern bei dem, was er tut, auch den Impulsen, die von außen auf ihn ein­dringen, zu folgen hat. In diesem Sinne sehen wir eigentlich nur den Menschen einer Außenwelt gegenüberstehen. Das aber ergibt im Grunde genommen alle jene Täuschungen, die man hegen kann in

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bezug auf den Begriff des Geistes. Es hängt eng damit zusam­men.

Wir wollen heute einmal, um aus dem Wissenschaftlichen heraus den richtigen Anschluß an unsere geisteswissenschaftliche Geistlehre zu finden, uns noch einmal das vor Augen stellen, was von einem scharfsinnigen Seelenforscher der Gegenwart vorgebracht worden ist, um die Seele und ihre Fähigkeiten als solche zu charakterisieren. Brentano - und ich will, damit wir in einer entsprechenden Weise den Übergang finden in das Gebiet des Geistigen hinein, schematisch auf die Tafel zeichnen, um was es sich handelt - hat die Seelenfähigkeiten eingeteilt, wie ich im ersten Vortrag angeführt habe, in das, was in uns ist als Vorstellen, in das, was in uns ist als Urteilen, und in das, was wir nennen können die Gemütsbewegungen, die Phänomene der Liebe und des Hasses (siehe Zeichnung). Wenn wir uns nun den ganzen

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Umiang des Seelenlebens in dieser Art eingeteilt denken würden, so würden wir uns sagen müssen, daß Vorstellen und Gemüts­bewegungen bei einem wirklich genauen Zusehen doch anders zur Seele stehen und zu dem, was der Mensch sonst in seine Erwägungen einbeziehen kann, als das Urteilen. Das ist ja gerade das, was dieser Seelenlehrer, der Psychologe, besonders für sich in Anspruch nimmt:

hinzuweisen darauf, daß er das Urteilen von dem Vorstellen so abtrennt,

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daß er in einem Urteil etwas anderes sieht als eine bloße Ver­bindung von Vorstellungen. Ich habe schon im ersten Vortrage dar­auf hingewiesen, daß man gewöhnlich sagt, ein Urteil würde dadurch gebildet, daß man Vorstellungen verbindet. «Baum» ist eine Vor­stellung, «grün» ist ebenfalls eine Vorstellung; «Der Baum ist grün», ergebe eine Verbindung von Vorstellungen: man hätte darin ein Urteil. Unser Seelenlehrer oder Psychologe sieht das durchaus nicht als das Wesen des Urteilens an, in dem ein Feststellen liegen soll, denn er sagt - und alles, was da vorgebracht wird, hat vielen Grund für sich -: Wenn wir Vorstellungen verbinden, kann es sich auch darum handeln, die Verblndungsunmöglichkeit dieser Vorstellungen zu kon­statieren. Es könnte sich zum Beispiel auch darum handeln, zu ver­binden die Vorstellungen « Baum» und «golden»; dann würden wir, wenn wir nicht die Vorstellungen «Baum» und «grün», sondern «Baum» und «golden» bilden müßten für einen Wahrheitssatz:, ge­nötigt sein zu sagen: «Kein Baum ist golden» oder etwas dergleichen. Was ist denn eigentlich die Voraussetzung eines Urteiles in diesem Sinne? Es ist die, daß wir sozusagen aus einem jeden solchen Urteil einen Existentialsatz bilden können, und daß dieser Existentialsatz Gültigkeit hat. Ich kann aus der Zusammenstellung der Vorstellungen «Ein Baum ist grün» den Existentialsatz bilden: «Ein grüner Baum ist»; dann erst habe ich geurteilt. Und wenn ich versuche, den Exi­stentialsatz zu bilden, so merke ich erst, daß etwas festgestellt werden kann durch eine Zusammenstellung von Vorstellungen. «Ein goldener Baum ist» - das geht nicht. Also es würde sich darum handeln, ob aus einer Verbindung von Vorstellungen ein Urteil hervorgehen kann, ob ein Existentialsatz gebildet werden kann.

Aber nun frage ich Sie, wenn Sie den ganzen Umfang des Seelen­lebens durchmessen, überall in Ihrer Seele nachschauen, ob Sie irgend­eine Möglichkeit finden, einen Existentialsatz so ohne weiteres aus einer Verbindung von Vorstellungen zu bilden? Was kann Sie denn veranlassen, aus der Vorstellungsverbindung «Ein Baum ist grün», den Existentialsatz zu bilden: «Ein grüner Baum ist»? Doch lediglich etwas, was zunächst nicht in Ihrer Seele liegt; denn im weiten Um­fange Ihrer Seele können Sie nichts finden. Und wenn Sie den Übergang

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finden wollen von einer Vorstellungsverbindung zu einem Exi­stentialsatz, zu einem Satz, der etwas entscheidet, durch den eine Fest­stellung geschieht, so können Sie gar nicht anders, als hinausgehen über Ihr Seelenleben zu demjenigen, wo Sie innerlich in der Seele noch fühlen, daß diese Seele mit anderem, als sie selber ist, in Be­ziehung tritt. Das heißt: Es gibt keine andere Möglichkeit, den Über­gang zu finden von einer Vorstellungszusam­menstellung zu einem Urteil, als zunächst die Wahrnehmung (siehe Zeichnung). Tritt zu einer Vorstellungszusam­menstellung das hinzu, was wir nennen kön­nen die Wahrnehmung, dann ist uns überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, davon zu sprechen, daß wir im Sinne dieser Aufstellung ein Urteil bilden können. Damit aber haben wir gezeigt, daß wir von alledem, was wir vorstellen, zunächst nichts anderes sagen können, als daß es eben in unserer Seele lebt und daß wir etwas anderes brau­chen, als was in unserer Seele ist, wenn wir vom Vorstellen zum Urteilen kommen wollen.

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Bei den Gemütsbewegungen wird wohl ein jeder noch viel leichter als bei den Vorstellungen davon überzeugt sein können, daß sie nur in der Seele leben, denn sonst könnten die Gemütsbewegungen nicht einen solchen individuellen Charakter tragen bei den verschiedensten Menschen, als sie ihn tragen, wenn diese Gemütsbewegungen in etwas

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anderem leben würden als in der Seele. Da brauchen wir also nicht besonders viele Worte zu verlieren über die Tatsache, daß die Gemüts­bewegungen zunächst in der Seele leben.

Nun aber fragen wir uns: Ist denn nun irgendeine Möglichkeit vor­handen, den Vorstellungen und Gemütsbewegungen ein bloßes Sein in der Seele zuzuschreiben, trotzdem wir wissen, daß wir von ihnen aus zunächst zu keinem Urteil kommen können, weil sie innere Vor­gänge der Seele sind? Wenn nicht durch die Wahrnehmung eine Berührung mit der Außenwelt stattfindet, wenn wir nicht berechtigter-weise von Wahrnehmungen sprechen können, so müssen wir fragen:

Sind wir denn irgendwie berechtigt, von unseren Vorstellungen und Gemütsbewegungen so zu sprechen, als ob sie nur innerhalb der Seele leben würden? Wir könnten in bezug auf das Vorstellungsleben zu­nächst darauf hinweisen, daß der Mensch, wenn er in seinen Vor­stellungen lebt, keineswegs sich so fühlt, als ob er durchaus in seiner Seele Herr wäre über diese Vorstellungen, als ob in diesen Vor­stellungen nichts irgendwie Zwingendes oder dergleichen leben würde. Wenn wir gerade das festhalten, was wir vorgestern im zweiten Vortrag erkannt haben: daß der Irrtum ein Geistiges, ein Übersinn­liches ist und hereintreten kann in den Bereich unserer Vorstellungen, und unsere Vorstellungen wiederum den Irrtum überwinden können -denn sonst wäre es nie möglich, über den Irrtum hinauszukommen -, dann müssen wir sozusagen anerkennen, daß wir in unserer Seele eine Art Schauplatz eines Kampfes haben zwischen dem Irrtum und eben etwas anderem. Aber der Irrtum ist ein Geistiges. Wir müssen also etwas dem Irrtum Entgegengesetztes haben, das dem Irrtum ge­wachsen sein kann, sonst würden wir nie über irgendeinen Irrtum hinauskommen können. Und eine Möglichkeit, den Irrtum zu über­winden, gibt es. Es weiß jeder, daß es innerhalb des Vorstellungs­lebens die Möglichkeit der Überwindung des Irrtums gibt. Da der Irrtum ein Geistiges ist, so können wir ihn nicht durch die bloßen Wahrnehmungen aus der Sinneswelt überwinden. Ich habe schon bei Gelegenheit der Vorträge über Anthroposophie darauf aufmerksam gemacht, daß die Sinne eigentlich im Grunde genommen nicht irren. Das hat einmal Goethe ganz besonders stark hervorgehoben. Die Sinne

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können nicht täuschen. Irren kann nur das, was in der Seele vorgeht. Daher aber - das zeigt ein geringes Nachdenken - kann der Irrtum auch nur innerhalb der Seele, und zwar durch das Vorstellen zunächst, überwunden werden. Wir kommen also durch das Vorstellen über den Irrtum hinaus. Nun haben wir gestern aber gesehen, daß der Irrtum in einer gewissen Weise eine Art entarteter Spezies ist von etwas anderem, von dem, was wir gerade anführen konnten als das Element in uns, das uns in höhere Regionen unseres Seelenlebens hinaufhebt. Das Wesentliche des Irrtums ist ja seine Nichtübereinstimmung mit der Wahrnehmungswelt. Und wir haben uns gesagt: Bei dem Wege, den wir in die geistige Welt hinauf nehmen müssen, müssen wir uns allerdings auch - in den Meditationen, Konzentrationen und so weiter -Vorstellungen hingeben, die nicht mit der äußeren Wahrnehmung übereinstimmen. Das Rosenkreuz selber, wir haben es angeführt als ein Beispiel einer Vorstellung, die nicht mit der äußeren Wahrneh­mung übereinstimmt, die also das mit dem Irrtum ähnlich hat, daß sie nicht mit der äußeren Wahrnehmung übereinstimmt. Aber wir haben gesagt, daß der Irrtum, wenn wir ihn gebrauchen würden auf dem Pfade des geistigen Lebens, zerstörend wirken müßte in uns, und daß auch die Erfahrung zeigt, daß er zerstörend wirkt.

Wie kommen wir nun zu solchen Vorstellungen, die zwar mit dem Irrtum das gemeinschaftlich haben, daß sie nicht mit der äußeren Wahrnehmungswelt übereinstimmen, aber auf der andern Seite dennoch in einer gesunden, richtigen Weise in uns höhere Seelenkräfte wachrufen? Wie kommen wir, mit andern Worten, aus einer bloßen falschen Vorstellung zu einer sinnbildlichen Vorstellung, wie wir sie öfter beschrieben haben, und wie wir sie im Rosenkreuz als eine der hervorragendsten haben? Dazu kommen wir, wenn wir uns nicht von der äußeren Sinneswelt, nicht von der Wahrnehmungswelt leiten lassen in der Zusammenstellung solcher Vorstellungen, aber wenn wir uns auch nicht leiten lassen von denjenigen Kräften, welche uns zum Irrtum bringen. Wir müssen von beidem absehen, von der Leitung der äußeren sinnlichen Wahrnehmungswelt und von jener Welt, die uns in den Irrtum führt. Wir müssen appellieren an Kräfte in unserer Seele, die wir zunächst erst wachrufen müssen. Vorgestern

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wurden sie charakterisiert als nur aus dem Boden des Moralischen und des Schönen hervorgehende innere Regungen. Wir müssen in einer gewissen Weise brechen mit unseren Trieben und Leidenschaften, wie sie uns eingeprägt sind durch eine Welt, die wir doch nur als eine äußere bezeichnen können. Wir müssen an uns arbeiten, um geradezu probeweise aus unserer Seele solche Kräfte hervorzurufen, die wir zunächst gar nicht haben. Und wenn wir solche Kräfte, die wir zu­nächst gar nicht haben, aus unserer Seele wachrufen, dann bringen wir es dazu, sinnbildliche Vorstellungen zu bilden, die in einem ge­wissen Sinne doch eine, wenn auch nicht auf die Wahrnehmungs­welt bezügliche, so doch objektive Gültigkeit haben. Da bilden wir uns zunächst einmal, wie das öfter auseinandergesetzt worden ist, die Vorstellung von dem Menschen, wie er vor uns jetzt in der Gegen­wart dasteht, wie er dasteht als ein Wesen, zu dem er in gewissem Sinne durchaus nicht Ja sagen kann, mit dem er selber nicht ein­verstanden sein kann, von dem er selber sagen muß, dieser Mensch:

Es muß überwunden werden, so wie es ist! - Und dann setzen wir daneben die andere Vorstellung, die schon aus dem Grunde nicht in die Wahrnehmung hineinfallen kann, weil sie sich nicht auf die Gegen­wart oder Vergangenheit bezieht, sondern auf die Zukunft des Men­schen, jene andere Vorstellung, welche uns sagt: Der Mensch fühlt in sich, daß er anstreben muß eine höhere Selbstnatur, eine solche Natur, welche ganz und gar den Menschen zum Herrn macht über alles dasjenige, was er in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht an-erkennt. Und dann fügen wir aus solchen inneren Regungen Vor­stellungen zusammen, die sonst unter der Leitung der Wahrneh­mungswelt nicht zusammenfallen würden, fügen zusammen das Sym­bol des zum Ersterben zu Bringenden, das schwarze Kreuz, und das Symbol des Lebens, das daraus sprießen muß, die roten Rosen, und stellen uns vor in innerer Meditation das Rosenkreuz als eine solche Vorstellung, die wir nur als eine unwirkliche bezeichnen können, die wir aber doch nicht auf dieselbe Weise haben zusammenstellen kön­nen, wie ein einfacher Irrtum zustande kommt, sondern die wir herausgeboren haben aus den edelsten Regungen unserer Seele.

Wir haben also aus den edelsten Regungen unserer Seele eine Vorstellung

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herausgeboren, die keiner äußeren Wahrnehmung entspricht. Und wenn wir nun diese Vorstellung anwenden, das heißt, wenn wir uns in strenger innerer Versenkung einer solchen Vorstellung hingeben, sie in unserer Seele wirken lassen, dann zeigt es sich, daß unsere Seele in gesunder Art weiterentwickelt wird, daß sie zu höheren Höhen kommt, als sie vorher innehatte. Es zeigt sich dann die Er­fahrung, daß diese Seele entwickelbar ist. Da haben wir also mit einer Vorstellung, die zunächst gegenüber der äußeren Wahrnehmungswelt wirklich mit dem Irrtum zusammenfällt, insofern sie nichts von dieser äußeren Wahrnehmungswelt abbildet, etwas ausgeführt, was zum Richtigen führt, zu dem führt, was sich in sich als ein Richtiges ankündigt.

Nun fragen wir uns: Können wir alledem, was von außen, von der äußeren Wahrnehmung zunächst in uns hereindringt, die Macht geben über eine solche Vorstellung, die mit dieser äußeren Wahr­nehmung eben nichts gemein hat, können wir dem die Macht geben, irgendeine Kraft auszuüben, eine Kraft auszuüben, welche aus ihr etwas ganz anderes macht in unserer Seele als aus dem Irrtum? Da müssen wir sagen: Dasjenige in uns, was aus dieser sinnbildlichen Vor­stellung etwas ganz anderes gemacht hat, als was sonst aus dem Irr­tum entstehen könnte, das ist genau dem entgegengesetzt, was im Irrtum kraftet, was im Irrtum wirkt. Und wenn wir vorgestern sagen konnten: Im Irrtum merken wir die luziferischen Kräfte - so können wir jetzt sagen: In der Umgestaltung der sinnbildlichen Vorstellung, die sich in der eigenen Seele vollzieht, in dem gesunden Hinleiten der sinnbildlichen Vorstellung zu einer höheren Anschauung der Seele, zeigt sich uns, daß in dem, was wir da als edle Regungen in uns ver­spüren, wir das Entgegengesetzte des Luziferischen haben, also das Geistig-Göttliche. - Und je tiefer Sie eingehen werden auf diesen Zusammenhang, desto mehr wird sich Ihnen zeigen, daß durch diese innere Erfahrung der Umgestaltung einer sinnbildlichen Vorstellung unmittelbar wahrgenommen und verspürt wird das innere Wirken des Übersinnlichen. Wenn es sich aber so zeigt, daß das Übersinnliche in uns etwas macht, etwas vollbringt, etwas kraftet, dann wird aus dem, was bisher bloß Vorstellung in der Seele war, was innerhalb der Seele

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lebte, etwas ganz anderes, etwas, was wir jetzt ebenso bezeichnen müssen als eine Feststellung, wie etwas, was nicht durch die Seele selber, wie sie zunächst ist, hervorgebracht werden kann. Geradeso wie die Feststellung im Urteilen hervorgebracht werden kann durch die Wahrnehmung, so kann durch den ganzen jetzt charakterisierten Prozeß die Vorstellung im Innern durch sich selbst dasjenige leisten, was da geschildert worden ist. So wie die Vorstellung dann, wenn sie durch die Wahrnehmung in Berührung kommt mit der gewöhnlichen Außenwelt, zum Urteil führt, so führt das innere Leben der Vor­stellung, das nicht richtungslos ist, sondern sich leiten läßt in der Art, wie es geschildert worden ist, auch über diese bloße Vorstellung hinaus dazu, daß die Vorstellung etwas anderes wird, wenn auch jetzt nicht ein Urteil, so doch etwas, was diese Vorstellung zu einer inhaltsvollen, aus der Seele hinausweisenden Vorstellung macht. Dies ist dasjenige, was wir dann im wahren Sinne des Wortes die Imagination nennen können (siehe Zeichnung) .

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So können wir sagen: Die Vorstellung weist auf der einen Seite, indem sie in Berührung kommt mit der Außenwelt, hin auf das Urteil, und sie weist auf der andern Seite hin, indem sie den geschilderten Prozeß durchmacht, auf das, was wir jetzt im wahren Sinne des Wortes die Imagination nennen. Ebensowenig wie eine Wahrnehmung eine

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Vorstellung bloß ist, ebensowenig ist eine Imagination eine Vor­stellung. Durch die Wahrnehmung berührt das Vorstellungsleben eine ihm zunächst noch unbestimmte Außenwelt; durch den ge­schilderten Prozeß lebt sich das Vorstellen in dasjenige hinein, was wir die imaginative Welt nennen können. Und so wie in der Tat ein Übergang ist von der bloßen Vorstellungszusammenstellung «Ein Baum ist grün» zu dem Urteil « Ein grüner Baum ist», ebenso besteht ein solcher Übergang von dem bloßen Vorstellungsleben zu dem, was in der Imagination in der erfüllten - und zwar nicht von irgend­einer äußeren, räumlich äußeren Welt erfüllten - Vorstellung liegt. So haben wir den Prozeß vor uns, der uns im imaginativen Leben die Vorstellungen erfüllt.

Zwischen der Imagination und dem Vorstellen liegt nun noch etwas dazwischen. Die Imagination ist in der Tat so, daß in dem Augenblick, wo sie eintritt, sie sich schon ganz real ankündigt. Wenn unsere Seele wirklich zu ihren Imaginationen kommt, dann fühlt sie in ihrem Vorstellungsleben etwas ganz Ähnliches, als sie im Wahr­nehmungsleben fühlt. In letzterem fühlt sie eben ihre unmittelbare Berührung mit einer äußeren Welt der Körperlichkeit; in dem Imagi­nieren fühlt sie ihre unmittelbare Berührung mit einer ihr zunächst auch äußerlichen Welt, aber einer äußerlichen Welt des Geistes. Dieser Geist ist, so wie er sich in die Vorstellungen einlebt, wenn diese wirk­lich zur Imagination hinandringen, in derselben Weise zwingend, wie die äußere Körperwelt zwingend ist. So wenig wir, wenn wir mit der äußeren Welt in Berührung kommen, uns einen Baum als golden vorstellen können, sondern wie uns da die äußere Welt zwingt, in einer bestimmten Weise vorzustellen, und wir nichts anderes haben für diesen Zwang als die Berührung mit der äußeren Welt, so fühlen wir auch jenen Zwang, der vom Geiste ausgeht, wenn das Vorstellen sich erhebt zur Imagination. Wenn aber die Vorstellungen sich zur Imagination erheben, dann wissen wir zugleich, daß dieses Vorstel­lungsleben unabhängig von all denjenigen Wegen sich auslebt, auf denen sonst Vorstellungen mit Inhalt erfüllt werden. Im gewöhn­lichen Leben werden Vorstellungen dadurch mit Inhalt erfüllt, daß unsere Augen, Ohren und so weiter Wahrnehmungen haben und von

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diesen Wahrnehmungen herein das Vorstellungsleben speisen, so daß das Vorstellungsleben mit dem Inhalt unserer Wahrnehmungen er­füllt ist. Im Imaginieren lassen wir uns die Vorstellungen von der Seite des Geistes her erfüllt sein. Da darf nichts mitwirken, was auf dem Wege der körperlichen Organe unseren Seeleninhalt bilden kann; da darf nichts mitwirken und wirkt auch nichts mit, was durch Augen oder Ohren in uns hereinkommt. Da haben wir ein unmittelbares Bewußtsein davon, daß wir von allem frei sind, was zu unserer eigenen Leiblichkeit, zu unserer eigenen Körperhaftigkeit gehört. Von alle­dem sind wir unmittelbar frei, so frei, wie wir, wenn wir die Dinge unbefangen betrachten, nur sagen können, daß wir frei sind von allen Prozessen des äußeren Leibes im Schlafe. Daher ist bei dem Menschen, der imaginiert, in bezug auf seine Gesamtorganisation alles so wie im Schlafe, nur daß an die Stelle der Bewußtlosigkeit des Schlafes das imaginative Bewußtsein tritt, so daß dasjenige, was sich sonst als voll­ständig leer erweist, also das, was sich vom Leibe getrennt hat, erfüllt ist mit dem, was wir imaginative Vorstellungen nennen können. Ein anderer Unterschied ist also nicht zwischen einem schlafenden Men­schen und einem imaginierenden als der, daß das, was im Schlafe außerhalb des physischen Leibes ist, beim gewöhnlichen schlafenden Menschen in einer gewissen Beziehung vorstellungsleer ist, während es beim Imaginieren von den imaginativen Vorstellungen erfüllt ist.

Nun kann ein Zwischenzustand eintreten. Der würde sich dann ergeben, wenn der Mensch zwar im Schlafe erfüllt wäre von den imaginativen Vorstellungen, aber nicht Kraft genug hätte, diese Vor­stellungen sich zum Bewußtsein zu bringen. Das könnte auch ein­treten; denn das ist ein möglicher Zustand. Daß er möglich ist, können Sie aus dem gewöhnlichen Leben schon entnehmen. Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Sie im gewöhnlichen Leben eine ganze Menge Dinge wahrnehmen, welche Sie sich nicht zum Bewußt­sein bringen, zum Beispiel wenn Sie auf der Straße gehen: eine ganze Welt nehmen Sie dann wahr, aber Sie bringen sich nicht alles zum Bewußtsein. Sie können sich oft davon überzeugen, daß Sie die Dinge schon wahrgenommen haben, aber sich nicht zum Bewußtsein ge­bracht haben, wenn Sie zum Beispiel von merkwürdigen Dingen

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träumen. Es gibt Träume, die in dieser Beziehung ganz merkwürdig sind. Nehmen Sie zum Beispiel an, Sie träumen, daß ein Mann neben einer Dame steht und ihr dieses oder jenes sagt. Nun, der Traum bleibt im Bewußtsein, Sie erinnern den Traum, aber Sie müssen sich gestehen, wenn Sie nachdenken über den Traum, daß die Situation tatsächlich da war, daß Sie aber nichts davon gewußt hätten, wenn Sie es nicht geträumt hätten. Dieselbe Dame, derselbe Mann hat vor Ihnen gestanden, nur haben Sie es nicht beachtet; erst als Sie von allen andern Eindrücken frei waren und träumten, kam dieses sonst ganz unbeachtete Bild zum Bewußtsein. Dergleichen kommt oft vor. So können Wahrnehmungen, welche durchaus gemacht worden sind, das Bewußtsein unberührt lassen. So können aber auch Imaginationen, die in der Seele leben, das Bewußtsein unberührt lassen, können nicht als Imaginationen in der Seele unmittelbar auftreten. Dann treten sie auf eine ähnliche Weise wie die Wahrnehmungen, von denen ich eben gesprochen habe, ins Bewußtsein herein. Nämlich solche Wahr­nehmungen, die gemacht worden sind und ins Bewußtsein unbeachtet herübergelangt sind, treten in jenem Halbbewußtsein, das das Traum-bewußtsein ist, zuweilen an den Menschen heran. Und ebenso können solche Imaginationen, für die der Mensch noch nicht die Kraft hat, sie sich zum Bewußtsein zu bringen, ins wache Tagesleben herein-leuchten und da ähnlich umgestaltet wirken wie im Traum, fiuktuie­rend und verfließend in solche Wahrnehmungen, die sonst klar vor dem Menschen stehen. Und das geschieht, daß solche Imaginationen wirklich hereintreten in das Bewußtsein des sonstigen Alltages, aber dabei eine Veränderung erleben, dann, wenn sich auslebt im mensch­lichen Bewußtsein dasjenige, was man die im Wahrhaftigen der Welt begründete Phantasie nennt, die der wahrhaftige Grund ist für alles künstlerische Schaffen, für alles Schaffen, das überhaupt mit Produkti­vität im Menschen zusammenhängt (siehe Zeichnung).

Weil das so ist, deshalb hat zum Beispiel Goethe, der den künstle­rischen Prozeß wohl kannte, so oft betont, daß die Phantasie durchaus nicht etwas ist, was in beliebiger Weise die Welterscheinungen zu­sammenstellt, sondern daß sie Wahrheitsgesetzen unterliegt. Aber die Wahrheitsgesetze sind so, daß sie durchaus aus der Welt der

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Imaginationen heraus wirken. Nur weil sie in das Alltagsleben herein­wirken, verändern sie sich und verweben sich mit dem, was das All­tagsleben im Bewußtsein hat, gliedern die gewöhnliche Wahr­nehmungswelt in einer freien Weise, so daß wir in der wahren Phan­tasie wirklich etwas haben, was zwischen dem bloßen Vorstellen und zwischen der Imagination mitten drinnen liegt. Wenn die Phantasie nicht so aufgefaßt wird, daß sie etwa dem Menschen doch nur als das gilt, wovon oft gesagt wird: Phantasie ist etwas, was nicht wahr ist -, sondern wenn sie wirklich verstanden wird, so liegt in ihr ein un­mittelbarer Zeuge für ein Weitergehen der Vorstellungen nach der Richtung hin, wo die Vorstellungen sich ergießen können in das Gebiet des Übersinnlichen, der imaginativen Welt. Hier haben wir einen derjenigen Punkte, wo wir das unmittelbare Hereinströmen der geistigen Welt in unsere gewöhnliche Welt wahrzunehmen in der Lage sind.

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Betrachten wir aber jetzt einmal die andere Seite der Sache, die Seite der Gemütsbewegungen. Es ist schon gesagt worden, daß jener Seelenforscher, der hier in Betracht kommt, innerhalb der Seele bleibt und daher auch für alles, was Willensimpulse sind, die Sache nur so weit verfolgt, daß er, innerhalb der Seele bleibend, bei den Gemüts­bewegungen Halt macht. Wenn irgend etwas von dem Menschen ausgeführt wird, so liegt selbstverständlich einer solchen Ausführung

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ein Begehren, ein Affekt oder ein Trieb zugrunde, dasjenige also, was, wenn es innerhalb der Seele betrachtet wird, als eine Gemütsbewegung zu gelten hat. Aber durch eine bloße Gemütsbewegung geschieht ja doch nichts. So lange wir in der Seele bleiben, braucht auch nichts zu geschehen. Wir können irgendeine Gemütsbewegung ungeheuer in­tensiv durchmachen: es wird dadurch noch nicht dasjenige erreicht, was durch den Willen doch erreicht werden soll, nämlich daß etwas geschieht, was nun unabhängig von der Seele ist. Denn alles, was innerhalb der Seele bleibt, ist kein wahrer Ausdruck des Willens. Wenn die Seele nie über sich hinauskommen würde, wenn sie nur im Begehren und so weiter dieses oder jenes an Gemütsbewegungen in sich erleben würde, auf der einen Seite bis zum Ekel, auf der andern Seite bis zur höchsten Ehrfurcht, so wäre dadurch nichts geschehen, was von der Seele unabhängig wäre. Wir müssen also sagen: Indem wir den Willen in seiner wahren Gestalt als eine Tatsache anerkennen müssen, weist uns auch das ganze Gebiet der Gemütsbewegungen über die Seele hinaus. Aber auf eine ganz eigenartige Weise weist uns diese Sphäre der Gemütsbewegungen über die Seele hinaus. Wo weist sie uns denn zunächst hin? Wenn der einfachste Ausdruck eines Willens geschieht, wenn wir zum Beispiel eine Hand heben, oder gehen, oder mit irgendeinem Instrument auf den Tisch schlagen, also etwas ausführen, was mit dem Willen etwas zu tun hat, so können wir sehen, daß in der Wirklichkeit sich etwas vollzieht, was wir nennen können einen Übergang unserer Gemütsbewegungen - des inneren Impulses also zu der Handlung - zu etwas, was wahrhaft nicht mehr innerhalb unserer Seele ist, aber doch in einer gewissen Weise inner­halb von uns. Denn dasjenige, was da durch einen wirklichen Willensimpuls geschieht, indem wir unseren eigenen Leib in Tätigkeit ver­setzen, und wodurch dann sozusagen als Fortsetzung dieses In-Tätig­keit-Versetzens die äußere Handlung geschieht, das steht durchaus nicht innerhalb desjenigen, was sich in der Seele erschöpft; denn der Mensch kann unmöglich alle die Handlungen verfolgen, die von dem Entschluß, eine Hand zu heben, bis zum wirklichen Heben der Hand verlaufen müssen. Da wird der Mensch auf der andern Seite von seinen Gemütsbewegungen in ein Äußeres hineingeleitet, aber in ein

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Äußeres, das jetzt in einer ganz andern Weise ein Äußeres ist, nämlich das Äußere an uns selber: unsere Leiblichkeit, unsere eigene Körper­lichkeit. Wir gehen hinunter von der Seele in unsere eigene Leiblich­keit, in unsere eigene Körperlichkeit; aber wir wissen zunächst nicht, wie wir das machen im äußeren Leben. Denken Sie einmal, was Sie für Anstrengungen machen müßten, wenn Sie, anstatt Ihre Hand zu bewegen, einen Apparat konstruieren müßten, welcher, indem Sie ihn von außen durch Federn und so weiter bewegten, denselben Effekt hervorrufen würde, wie wenn Sie sagen würden: Ich will die Kreide aufheben - also wenn Sie einfach sagten: Ich will die Kreide auf­heben - und dann Ihre Hand dazu heben. Denken Sie nur, was Sie alles, was da geschieht zwischen der Vorstellung: Ich will die Kreide aufheben - und dem wirklichen Aufheben der Kreide, bewerk­stelligen müßten, um es durch ein Werkzeug wirklich in Realität umzusetzen! Denken Sie, was Sie da für Anstalten machen müßten! Das kann man nicht denken, aus dem einfachen Grunde, weil man dazu auch gar nicht imstande ist. Es ist auch nicht ein solcher Apparat da. Dennoch ist er vorhanden am Menschen. Da geschieht etwas in der Welt, was ganz offenbar nicht in unserem Bewußtsein ist; denn wenn es in unserem Bewußtsein im Alltag wäre, so würden wir den Apparat mit Leichtigkeit herstellen können. Würde man alles kennen, was verläuft zwischen der Vorstellung: Ich will die Kreide auf­heben - und dem Kreide-Aufheben selbst, so würde man den ent­sprechend konstruierten Apparat herstellen können. Also es verfließt da etwas, was wir zu unserer Leiblichkeit rechnen müssen, was aber dem Menschen ganz und gar unbekannt ist.

Wir müssen also fragen: Was müßte denn geschehen, wenn in das, was da in der Handbewegung oder in irgendeiner andern, dem Willen folgenden Körperbewegung ausgeführt wird, Bewußtsein hereindringen soll? Dann müßte auch eine solche Realität, die außer uns ist, nicht Halt machen vor unserem Bewußtsein, sondern müßte herauf­kommen in unser Bewußtsein. Ein ebensolches Geschehen, einen ebensolchen Verlauf, wie er sich da an unserer eigenen Leiblichkeit vollzieht und nicht heraufdringt in unser Bewußtsein, müßten wir so vor uns haben, daß er uns ebenso äußerlich wäre, ebenso aber wieder

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intensiv mit uns verbunden wäre wie für unser Bewußtsein unsere Handbewegung. So etwas müßten wir haben, was so intensiv zu uns gehörte und doch in uns wie von außen hereinfiele, also etwas, was wir in unserer Seele erleben würden und dennoch in unserer Seele als ein Äußeres erlebten. Also wir müßten ein so Kunstvolles haben wie einen Apparat für das Aufheben der Kreide und müßten dieses Kunstvolle ebenso wie ein in festen äußeren Gesetzen Begründetes innerhalb unseres Bewußtseins haben. In unser Bewußtsein müßte etwas hereinfallen, was in gesetzmäßiger Weise innerhalb dieses Be­wußtseins wirkte, so daß wir jetzt nicht so denken würden, wie wir bei einer sonstigen Willenshandlung denken, daß wir uns sagen: Da ist auf der einen Seite in uns lebend der Gedanke: Ich will die Kreide aufheben - und dann, wie streng davon getrennt, etwas, wovon ich gar nichts weiß, nämlich der Vorgang, den ich höchstens dann wie eine äußere Wahrnehmung anschauen kann -, sondern die beiden Dinge müßten zusammenfallen, müßten ein und dasselbe sein. Das Geschehen müßte unmittelbar mit dem seelischen Bewußtsein ver­bunden sein, so daß es in dasselbe hineinfällt, so etwa hineinfallt, wie wenn alle Einzelheiten der Handbewegung nicht außerhalb, sondern innerhalb des Bewußtseins sich vollzögen. Das ist aber der Vorgang, der sich vollzieht bei der Intuition (siehe Zeichnung).

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Daher können wir sagen: Wenn wir mit unserem eigenen Bewußt­sein etwas, was vollständig innerhalb desselben sich auslebt, erfassen können, nicht als ein bloßes Wissen, sondern als ein Geschehen, als ein Weltgeschehen, so haben wir es zu tun mit der Intuition, und zwar mit jener Intuition im höheren Sinne, wie es auch gemeint ist in dem Buche « Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», so daß wir es also innerhalb der Intuition zu tun haben mit dem waltenden Willen. Während also Brentano, dieser scharfsinnige Psychologe, bei den gewöhnlichen Seelenerscheinungen innerhalb der Seele nur die Gemütsbewegungen findet und den Willen gar nicht findet, weil er dort nicht vorhanden ist - denn der Wille fällt heraus für das gewöhn­liche Bewußtsein -, findet erst das in die höheren Regionen hinauf­steigende Bewußtsein in sich etwas, was zugleich ein Geschehen ist. Das ist das, wo die Welt hereinspielt in das Bewußtsein. Das ist die Intuition.

Auch hier gibt es wieder eine Art von Übergang, nur ist derselbe nicht so leicht zu bemerken wie der Übergang, der vom Vorstellen durch die Phantasie zur Imagination führt. Dieser Übergang tritt dann ein, wenn der Mensch lernt, so auf sich achtzugeben, daß er nicht nur in die Lage kommt, irgend etwas zu wollen und dann die Handlung daranzuschließen - und sozusagen klaffend nebeneinanderstehend hat Gedanken und Handlung -, sondern wenn er beginnt, seine Gemüts­bewegungen selber über die Qualität der Handlungen auszudehnen Das ist etwas in vielen Fällen sogar recht Mißliches; aber es tritt im Leben doch ein, daß man, indem man handelt, eine Art Wohlgefallen oder Ekelgefühl an seinen eigenen Handlungen haben kann. Ich glaube nicht, daß ein unbefangener Beobachter des Lebens leugnen kann, daß man die Gemütsbewegungen erweitern kann bis zu einer Art Hereinströmen-Lassen der Eigenschaften der eigenen Zustände in die Handlungen, so daß man innerhalb der Gemütsbewegungen auch vorhanden hat, was man als Sympathie oder Antipathie an einer Handlung bezeichnen kann. Aber steigern kann sich auch dieses Mit­erleben seiner eigenen Handlungen in den Gemütsbewegungen. Und wenn es sich steigert, wenn es auftritt als das, als was es eigentlich auf­treten soll, dann haben wir an dem Übergang zwischen den Gemütsbewegungen

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und der Intuition dasjenige gegeben, was wir nennen können das menschliche Gewissen, also die Gewissensregungen. Das Gewissen ist etwas, was in diesem Übergange sitzt, wenn wir es seiner Stelle nach suchen. Deshalb können wir sagen: Eigentlich ist unsere Seele nach zwei Seiten hin offen, nach der Seite der Imagination und nach der Seite der Intuition, und die Seele ist geschlossen nach der Seite, wo wir gleichsam aufstoßen durch die Wahrnehmung auf die äußere Körperlichkeit. Sie kommt in eine Erfüllung, wenn sie sich in das Reich der Imaginationen hineinbegibt, und sie kommt auch in eine Erfüllung, und zwar mit einem Geschehen, wenn sie sich ins Reich der Intuition hineinbegibt.

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Wie kann nun, da doch Intuition und Imagination in einer Seele leben müssen, in dieser einen Seele eine Art Vermittelung, eine Art Verbindung entstehen zwischen Imagination und Intuition? In der Imagination haben wir zunächst ein Bild, ein erfülltes Bild der geisti­gen Welt. In der Intuition haben wir ein Geschehen, das hereinfällt aus der geistigen Welt. Ein Geschehen, wenn es uns entgegentritt in der gewöhnlichen physischen Welt, ist etwas, was uns sozusagen nicht in Ruhe läßt. Wenn es uns entgegentritt, suchen wir dahinter-zukommen; dann suchen wir dasjenige, was als Wesenheit hinter diesem Geschehen liegt. So ist es auch mit demjenigen Geschehen, das in der geistigen Welt liegt und in unser Bewußtsein hereindringen

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soll. Betrachten wir die Sache noch einmal näher, wie sie eigentlich ist. Wie dringt zunächst die Intuition in unser Bewußtsein herein? Wir mußten sie zunächst suchen auf der Seite der Gemütsbewegungen. Da dringt sie zwar in unser Bewußtsein, in unsere Seele herein, aber auf der Seite der Gemütsbewegungen, nicht auf der Seite des Vor­stellens. So ist es zunächst mit der Intuition. Diese Intuition kann nämlich in unser Bewußtsein, in unsere Seele hereindringen, ohne daß wir die Möglichkeit haben, sie vorzustellen. Von der Imagination haben wir auch gesagt, daß der Mensch sie haben kann, ohne sich ihrer bewußt zu sein; sie kommt dann in die Phantasie herein, weil sie unmittelbar im Vorstellen wirkt. Aber die Intuition mußten wir auf die andere Seite, auf die Seite der Gemütsbewegungen stellen. Die Intuition stellt sich im ganzen menschlichen Leben überhaupt auf die Seite der Gemütsbewegungen. Ich möchte da noch einmal das Bei­spiel anführen, das ich vor kurzem schon anführte, und das ein be­kannter Traum ist.

Ein Elternpaar hatte einen Sohn. Der wurde einmal ganz plötzlich krank, und trotzdem man alle Mittel anwandte, die anzuwenden waren, starb er innerhalb eines einzigen Tages. In einer ungeheuren Weise waren die Eltern berührt von dem Hinsterben ihres Sohnes, und ihre Gedanken waren ganz beschäftigt mit diesem Sohn, das heißt in diesem Falle: ihre Erinnerung war beschäftigt mit dem Sohn. Sie dachten viel an diesen Sohn. Eines Tages aber stellte sich heraus, daß in der Nacht die Eltern, Vater und Mutter, denselben Traum hatten. Sie erzählten sich denselben gegenseitig. Sie können dieses Beispiel bei einem mehr oder weniger materialistisch denkenden Traum-forscher angeführt finden, der in der Erklärung dieses Traumes die groteskesten Purzelbäume schlägt, aber die Tatsache nicht ableugnen kann. Es erschien nämlich den Eltern im Traume ihr Sohn und for­derte sie auf, im Grabe nachsehen zu lassen, denn er sei lebendig begraben worden. Die beiden Eltern haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um nachforschen zu lassen, ob ihr Sohn lebendig begraben worden sei, aber sie lebten nicht in einem Lande, wo es die Behörden nach so langer Zeit gestattet hätten, in einem Grabe Nachforschungen anzustellen.

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Wie können wir uns nun - ich führe das nur an, um eine Möglich­keit zu haben, die Beziehungen der Intuition zu den Gemütsbewegun­gen abzuleiten - gewissermaßen eine Art Erklärung bilden für das Faktum, das mit diesem Traume vorliegt? Nun, das können Sie wohl von vornherein voraussetzen: Weil die Eltern in ihren Erinnerungen sich fortdauernd mit dem Sohne beschäftigten, der, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen war, in der geistigen Welt als geistiges Wesen vorhanden war, so war dadurch eine Art Brücke geschaffen mit dem Sohn. Es ist durch das Hinlenken der Gedanken eine Ver­bindungsbrücke mit der fortdauernden Individualität des Sohnes vor­handen. Aber das können Sie unmöglich annehmen, daß, wenn man nun einmal durch alle die Schleier, die da liegen zwischen den Leben­den und den Toten, hindurchdringt, in den Offenbarungen von dem Toten, wie sie vorhanden gewesen sein müssen, da die beiden Leute denselben Traum hatten, etwas nur Subjektives vorgelegen habe. Oder es muß ein sogenannter Zufall sein - aber auf diese Weise könnte man alles Mögliche erklären -, wenn das vorliegt, daß die beiden denselben Traum haben, wie ich es angeführt habe. In Wirk­lichkeit aber gab es eine Verbindung in jener Nacht zwischen den Eltern und dem Sohn. Er hatte ihnen auch etwas gesagt, oder besser gesagt, er hatte ihnen etwas eingeträufelt in ihr Gemüt. Aber da die Eltern in keiner Weise eine Möglichkeit hatten, das ins Bewußtsein hereinzubringen, was ihnen der Sohn eingeträufelt hatte, so stellte sich nur das Traumbild, das Vorstellungen enthielt, die sie gewöhnt waren, vor das wirkliche Ereignis hin. Es war also etwas ganz anderes, was der Sohn eigentlich offenbaren wollte; aber die Eltern mußten eine Vorstellung gewinnen, die sie nur aus dem Material ihres Vor­stellungslebens nehmen konnten. Das stellte sich als Traum vor das Ereignis hin.

Oder ein anderer Traum: Eine Bauernfrau träumt, sie ginge in die Stadt zur Kirche. Sie träumt dabei jedes einzelne Stadium: wie sie zur Kirche hineingeht, wie der Prediger dasteht mit zum Himmel er­hobenen Händen und außerordentlich begeistert predigt; sie träumt, wie sie darüber voll Enthusiasmus wird. Da aber stellt sich eine merk­würdige Veränderung ein: Der Prediger verändert seine Gestalt, er

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bekommt Flügel und Federn und verändert zuletzt die Stimme; die wird immer krähender und krähender, und zuletzt verwandelt sich die ganze Gestalt in einen Hahn, der kräht. Die Frau wacht auf - und draußen kräht der Hahn wirklich! - Dieses Hahnenkrähen hat, wie Sie sich denken können, den ganzen Traum hervorgerufen. Sie werden aber auch zugeben müssen, daß dieses Krähen in der mannigfaltigsten Weise andere Träume hätte hervorrufen können. Ein Spitzbube hätte etwa träumen können, er wäre aufgeschreckt worden durch den Hahnenschrei und hätte vielleicht dann geträumt, daß er eine ganz lange Zeit darüber nachgedacht hätte, wie er irgend etwas, zum Bei­spiel ein Schloß öffnen könnte. Da habe ihm dann ein anderer Spitz­bube, der schlauer war als er, eine Anleitung gegeben, was sich dann in einen Hahnenschrei verwandelt hat. - Daraus sehen Sie, wie das, was sich als Vorstellungsbild vor das wirkliche Erlebnis hinlegt, gar nichts zu tun zu haben braucht mit dem, was die Seele wirklich erlebt. Was hat zum Beispiel das erwähnte Elternpaar erlebt? Eine Ver­bindung, eine Offenbarung von dem Sohn, die unmittelbar ein­geflos sen ist ins Gemüt. Und in dem andern Falle: Die Bauernfrau war eine sehr fromme Frau, die ganz in einer Atmosphäre schwelgte, die von Frömmigkeit durchaogen war. Das hat sie wirklich durchgemacht. Und als sie dann herausgerissen wird aus dem Schlaf, da hat sie noch eben das Gefühl, sie komme aus irgend etwas her; aber ihr ganzes Bewußtsein wird von dem Hahnenschrei in Anspruch genommen, der sich vor ihr Erlebnis hinlegt, indem er sich ausmalt zu dem Pra diger in der Kirche. So wird das seelische Erlebnis zu dem, was da geträumt worden ist.

Wenn sich dann jemand eine gewisse Praxis erwirbt, von den Träu­men zu den entsprechenden Wirklichkeiten zu gehen, so stellt sich auch heraus, daß er, bevor er an die innere Wirklichkeit herankommt, durchdringen muß eine Gemütsverfassung von Erhebung oder Trauer, kurz, irgendeine Spannung oder Lösung von Gefühlen. Die Vorstellungen in bezug auf das, was da in der geistigen Welt erlebt wird, verfließen gewöhnlich in eine Art von Nichtigkeit; man muß sich ganz andere Vorstellungen bilden von dem wirklichen Ge­schehen. Oder mit andern Worten: Das geistige Geschehen steht den

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Gemütsbewegungen näher als dem Vorstellen, denn die Vorstellungen sind alle nicht maßgebend für die seelisch-geistigen Geschehnisse. Da ist in der geistigen Welt das Geschehen, das hereinragt in die Gemüts­bewegungen während des ganzen Nachtlebens; aber mit seinem Vor­stellen kann der Mensch nicht an dieses Geschehen heranreichen, um dieses Erleben zu charakterisieren.

So haben wir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, daß auch die Intuition mit den Gemütsbewegungen in einer bestimmten Ver­bindung steht. Daher auch kommen Mystiker, bevor sie zu irgend­welchen klar umrissenen Vorstellungen über die höheren Welten kommen, zu einer Art allgemeinen dumpfen Gemütserlebens dieser höheren Welten, und viele sind damit zufrieden, viele sogar mit noch weniger. Aber diejenigen, welche sich wirklich in die höheren Welten versenken mit dem Gemüt, die beschreiben dann alle in gleicher Weise die Zustände von seelischer Hingabe, die sie da durchmachen, kurz, lauter Gemütsverfassungen an dem, was man unmittelbares Erleben der geistigen Welt nennen kann.

Wenn wir dann durch diese Intuition, die in das Gemüt herein-spielt, weitergehen wollten, so würden wir nicht gut weiterkommen können, sondern wir müssen eigentlich mehr von der andern Seite ausgehen. Um nicht so allgemein in den Gemütsbewegungen zu schwelgen, sondern um zum konkreten Anschauen der geistigen Welt zu kommen, müssen wir schon versuchen, Imaginationen auszubilden und darauf dann mit Bezug auf die geistige Welt unsere Aufmerksam­keit wenden. Dann tritt allmählich eine Verbindung ein in unserem Leben zwischen der noch unverstandenen, mehr nur gefühlten In­tuition und der noch mehr oder weniger in der Unwirklichkeit schwebenden Imagination, die nur aus Bildern besteht. Und was da die Verbindung ist, das gibt uns zuletzt das Heranrücken an den Ge­danken: Wir sind jetzt zu den Wesen gekommen, die das geistige Geschehen ausführen. Dieses Herankommen an die Wesen bezeichnen wir als Inspiration (siehe Zeichnung). Wir haben also hier gewisser­maßen das Umgekehrte von den Vorgängen, die wir der äußeren körperlichen Welt gegenüber haben. In dieser haben wir sozusagen die Gedanken, die wir uns über die Dinge machen. Da sind uns die

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Dinge schon gegeben und wir machen uns Gedanken über dieselben. Hier aber ist das Geschehen, das Ding, das in der Intuition zunächst für die Gemütsbewegungen auftritt, ein durchaus Unbestimmtes, und die Imagination als solche wäre ein in der Luft Hängendes. Erst wenn die beiden zusammenkommen, wenn die Imagination durch die Inspiration

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hereinwirkt in die Intuition, wenn uns, mit andern Worten, unser Vorstellen hinaufführt zur Imagination, und wenn wir die Imagination fühlen als von Wesenheiten herkommend, dann strömt auch das Wesen dieser Wesenheiten in uns ein als ein Geschehen. Es wird mitgebracht durch die Imagination etwas, was aus der Intuition einströmt, und wir nehmen mit dem Geschehen einen Inhalt wahr, der sich vergleichen läßt mit dem Vorstellungsinhalt. Wir nehmen dann aber diese Gedanken, für deren Wahrnehmung wir uns vor­bereitet haben, durch die Imagination in dem Geschehen wahr, das uns in der Intuition gegeben ist.

Ich habe Ihnen damit heute geschildert, wie der Mensch gleichsam auf der andern Seite seines Seelenlebens in die geistige Welt hinauf-wächst. Ich habe allerdings einiges vorausgenommen von dem, was nur die Geisteswissenschaft selber geben kann aus der geistigen For­schung heraus; ich mußte es aber vorausnehmen, damit wir uns in unserem morgigen Vortrage leichter verständigen können über das, was uns nun die Hauptsache sein wird: eine Schilderung der Eigenzrt, der Eigentümlichkeit der geistigen Welt selber.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 16. Dezember 1911

Es ist wohl begreiflich, daß nur eine ganz kurze und in gewissem Sinne sogar flüchtige Skizze dessen gegeben werden kann, was einem als Pneumatosophie vorschweben kann, da wir ja nur diese vier Vor­träge während unserer Generalversammlungszeit zur Verfügung haben. Daher ist es natürlich, daß mancherlei hier nur andeutungsweise gegeben werden kann, ja nur so andeutungsweise gegeben werden kann, daß man eigentlich im Grunde genommen diese oder jene Aus­führungen erwartet zur weiteren Begründung und Detaillierung. Bei manchen Dingen mag sogar schwierig zu übersehen sein, welcher Zusammenhang ist zwischen dem, was gegeben wird, und dem, was eigentlich hier als Pneumatosophie bezeichnet wird. Gestern haben wir zum Beispiel gezeigt, wie man aus dem Bereiche des bloß See­lischen, auf der einen Seite aus dem Vorstellungsleben und auf der andern Seite aus dem Leben der Gemütsbewegungen, hinauskommt in Gebiete, welche ihrer ganzen Natur nach zu den übersinnlichen Welten gezählt werden müssen. Daß sie zu den übersinnlichen Welten gezählt werden müssen, haben wir aus der einfachen Tatsache heraus erkannt, daß der Bereich des Seelischen eben gegenüber diesen Dingen an einer bestimmten Grenze aufhört, und daß selbst scharfsinnige Seelenforscher, indem sie das Gebiet des Seelischen durchnehmen und einteilen, vor diesen Dingen Halt machen. Es sind ja dem Theo­sophen alle solchen Dinge, wie sie uns entgegengetreten sind als Imagination, Intuition und Inspiration, von andern Seiten her be­kannt, und man muß sich denken, daß dieses also Bekannte, was vor uns stehen kann aus den ganz andern Gesichtspunkten heraus, wie sie etwa in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gegeben sind, in seiner Berechtigung eingesehen werden kann, wenn man immer weiter und weiter geht in dem Aufzeigen all der Fäden, die aus dem gewöhnlichen Seelenleben des Alltages heraus, dem Vorstellungsleben, dem Gemütsieben und dem Urteilen, zur Imagination, Intuition und Inspiration führen.

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Nun ist es natürlich, daß der Mensch zunächst sein Hauptaugen­merk auf dasjenige Seelische wenden wird - um aus diesem in das Geistige hinüberzukommen -, das ihm in der eigenen Seele und in dem eigenen Geiste gegeben ist, das heißt also, daß er zunächst darauf aus­gehen wird, sein eigenes Geistig-Seelisches erkennen zu lernen. Im Verlaufe dieser Vorträge haben wir nun darauf hinweisen können, wie innerhalb der abendländischen Entwickelung bis ins 19. Jahr­hundert, ja bis in unsere Zeit herein die Menschheit Schwierigkeiten hatte, die Tatsache anzuerkennen, die uns als eine fundamentale er­scheint: daß des Menschen Geist durch wiederholte Erdenleben geht. Und wir haben am Ende des zweiten Vortrages geradezu einen Re­präsentanten in dem Durchmachen solcher Schwierigkeiten in Froh­schammer angeführt, welcher aus einer wissenschaftlichen Ehrlichkeit ersten Ranges heraus sagt: Wie sollte es sein, wenn der Mensch mit seinem Bleibenden, mit seinem Geistigen eigentlich nur untertauchen sollte immer wieder und wieder in ein Leibliches wie in eine Art Fege­feuer, wie in eine Art Kerker, in ein Gefängnis? Soll man, sagt Froh­schammer, das, was zusammenhängt mit dem Verhältnis der Liebe, des Geschlechtsgegensatzes, nur ansehen wie eine Veranstaltung, um des Menschen Seele einzukerkern für die Dauer zwischen Geburt und Tod? - Nun ist es einmal notwendig, gegenüber einer solchen ehr­lichen Einwendung gegen die Lehre von den wiederholten Erdenleben, sich zu fragen, ob denn nicht vielleicht hier von Frohschammer ein Standpunkt geltend gemacht worden ist, der eben nur ein Stand­punkt ist, und ob nicht ein anderer Standpunkt noch möglich wäre? Was man Frohschammer wird zugeben müssen, das ist sein ehrlicher Enthusiasmus gegenüber alledem, was uns in dieser Welt Schönes und Herrliches entgegentritt in dem, was er anführt. Denn er hat eben aus dem abendländischen Geistesleben heraus diesen Enthusiasmus für die äußere Welt, für alles Schöne und Große der äußeren Welt, und ihm erscheint es so, als wenn die Lehre von den wiederholten Erdenleben darauf hinausginge, zu sagen: Da wird angenommen ein Geistiges-Ewiges, ein Ewiges von der Menschenindividualität, von dem Menschengeist, das es recht gut und recht selig haben könnte in der geistigen Welt, und das hereingezwängt, hereingekerkert wird in

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eine Welt, die ganz und gar nicht angemessen ist dieser Höhe, dieser Erhabenheit des menschlichen Geistes. - Wenn das behauptet würde, so könnte jemand, der berechtigterweise Enthusiasmus entwickelt für das Schöne und Große der göttlichen Natur und der geschichtlichen Entwickelung und für das, was an erhebenden Leidenschaften und Trieben in der menschlichen Seele auftritt, sich allerdings aufbäumen gegen das, wogegen sich auch Frohschammer aufbäumt: daß die menschliche Seele jedesmal nur zu einer neuen Einkerkerung schreitet, wenn sie sich wieder inkarnieren soll. Aber ist das wirklich der einzige Standpunkt, der ausgedacht werden kann? Es muß zugegeben werden, daß es bei den Vertretern der Lehre von den wiederholten Erdenleben auch heute noch Menschen gibt, die so etwas sagen, wie es jetzt angedeutet worden ist: daß der Geist des Menschen von einer er­habenen Höhe heruntersteige zu einer Art Einkerkerung in den Leib. Aber da liegt nicht das vor, was die Geisteswissenschaft aus der Geistesforschung heraus zutage fördern kann, sondern so allgemeine, vage Ideen über wiederholte Erdenleben. Wir müssen fragen: Könnte nicht vielleicht anerkannt werden, daß dasjenige, wo hinein da der Mensch geboren wird, wenn er zu einem Leben kommt zwischen Geburt und Tod, daß das eigentlich etwas Wunderschönes, etwas ganz Großartiges sei? Könnte nicht anerkannt werden, daß der Mensch, wie er uns als physische Gestalt entgegentritt, wirklich im biblischen Sinne eine Art Ebenbild der Gottheit sei? Und dann würde das genügen, um in Enthusiasmus darüber zu verfallen. Dann würde man also zugeben müssen, daß der Mensch eigentlich in keinen Kerker versetzt werde, sondern auf einen wunderschönen Schauplatz, in ein wunderschönes Wohnhaus versetzt wird, wenn er zur Inkarnation kommt. Ja, hängt es denn wirklich vom Hause und von seiner Größe und Schönheit ab, ob man sich dazugehörig und recht richtig drinnen fühlt, oder hängt es vielleicht mehr davon ab, ob man durch seine Eigenschaften, durch seine Zustände darin «eingesperrt» ist? Hängt es überhaupt vom Hause ab, was man darin fühlen kann, oder wird dieses Haus vielleicht gerade deshalb für den Menschen ein so kerker­haftes sein, weil er trotz der Schönheit und Größe nichts damit an­zufangen weiß und darin gefesselt ist? Daß das Haus ein schönes ist,

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worin wir wohnen, und daß das Schlimme höchstens das ist, daß just wir darin eingesperrt sind während des Erdenlebens, das wird gerade jene Betrachtung zeigen können, welche im geistesforscherischen Sinne gehalten ist, die durch Imagination, Intuition und Inspiration aufsteigt zu einer wirklichen Erkenntnis desjenigen im Menschen, was da durchgeht durch die verschiedenen Erdenleben.

Das erste, was der Mensch erlebt, wenn er durch die gestern an­gedeutete Art gleichsam nach rückwärts aus seinem Vorstellungsleben in die imaginative Welt hineinkommt, ist eine Welt von Bildern. In diese Welt von Bildern kamen ja zu jeder Zeit die verschiedensten Menschen hinein. Wenn man diese imaginative Welt, die sich auf Grundlage sorgfältiger Konzentrationen, Meditationen und so weiter oder auf der Grundlage besonderer Anlagen der Seele erschließen kann, rein ihrer Erscheinung nach nimmt, so stellt sie sich so dar, daß sie zunächst gleichsam die Rudimente, die Reste der noch äußeren Sinneswelt dadurch zeigt, daß der Mensch dann in dieser imaginativen Welt eben allerlei sieht, Häuser, Tiere, Menschen, diese oder jene Ereignisse, die sich wirklich bildhaft abspielen, daß er vor sich hat Szenen und Wesen in einer ganz lebendigen Bilderwelt. Auf der andern Seite charakterisiert sich diese imaginative Welt schon als in gewissem Sinne zum Übersinnlichen gehörend dadurch, daß der Mensch es doch nicht in der reinen Willkür hat, die Symbole oder Bilder zu be­stimmen, daß es inneren Gesetzmäßigkeiten unterliegt, wenn er dieses oder jenes ausgeprägt hat, ja, daß ganz bestimmte übersinnliche Ver­hältuisse in ganz bestimmten Symbolen und Bildern sich ausprägen. So kann der Mensch, wenn es sich um diese imaginative Welt handelt, ziemlich sicher sein, daß er unter allen Umständen eine gewisse Stufe seiner Seelenentwickelung, eine gewisse Fähigkeit, in der übersinn­lichen Welt in einer gewissen Region zu leben, dadurch charakterisiert findet, bildhaft4maginativ, daß ihm zum Beispiel ein Kelch gereicht wird, oder daß er durch einen Fluß geführt wird, oder daß er getauft wird und so weiter. Es kann sich auch ergeben, daß der Mensch innerhalb dieser imaginativen Welt erlebt - und das sind ja die un­angenehmeren Erlebnisse -, daß seine verschiedenen Eigenschaften, seine verschiedenen Triebe ihm symbolisiert in allerlei Getier entgegentreten,

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entweder in großen furchtbaren Tieren oder in kleinen kribbelnden, krabbelnden Tieren. Es ist natürlich unmöglich, da wir es hier mit einer Welt zu tun haben, die viel reicher ist als unsere Sinneswelt, auch nur annähernd diese erste Stufe der imaginativen Welt zu schildern, die der Mensch da erreichen kann.

Im ganzen muß man sagen, daß diese Welt - selbst dann, wenn sie dem Menschen recht unangenehm ist, sich ihm recht scheußlich vor­stellt, und er sich sagen muß, daß dieses Unangenehme und Scheuß­liche Symbole für seine Eigenschaften sind - doch etwas ist, was dem Menschen, der sie vor sich hat, in den meisten Fällen ziemlich an­genehm ist; denn die gewöhnliche Erscheinung ist die, daß die Men­schen, wenn sie dies erleben, über die Qualität des Erlebten hinwegsehen und recht froh sind, wenn sie überhaupt einmal in der geistigen Welt sind. Das ist durchaus begreiflich. Denn die geistige Welt, die man so betritt, sie lastet, selbst wenn sie recht scheußlich ist, nicht schwer auf einem; denn sie ist im Grunde genommen eine Bilderwelt. Und nur wenn man selber nicht die genügende Stärke hat und diese Welt den Menschen überwältigt, niederdrückt, zerstört sie ihm das gesunde Seelenleben. Aber etwa ein Gefühl moralischer Verantwort­lichkeit oder ein Gefühl einer gewissen Verantwortlichkeit den großen Welterscheinungen gegenüber muß nicht unbedingt im Gefolge eines solchen Schauens der imaginativen Welt auftreten. Es kann auch das gerade Gegenteil davon der Fall sein. So zum Beispiel kann es sein, daß die Menschen, die eine große Vollkommenheit gerade im Durch­schauen dieser Welt haben, eigentlich eine recht leichte moralische Hand bekommen in bezug auf das Gefühl für Wahrheit und Unwahr­heit. Es ist tatsächlich die Versuchung eine außerordentlich große gerade für den imaginativen Hellseher, es mit der Wahrheit für die physische Welt nicht besonders ernst zu nehmen und da dann kein besonderes Verantwortlichkeitsgefühl mehr gegenüber der Wahrheit zu entwickeln. Es ist in gewissem Sinne eine Misere, daß bei imagina­tivem Hellsehen leicht etwas wie ein Unvermögen gegenüber der Unterscheidung des objektiv Wahren und Falschen eintreten kann. Das Feststehen in dieser Welt und das Vermögen, ihr überhaupt die richtige Bedeutung beizulegen, das ist eben eine Sache der Entwickelung.

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Man kann eigentlich recht unentwickelt sein als Mensch und diese imaginative Welt durchaus vor sich haben, kann viele, viele visionsartige Imaginationen der höheren Welt haben und braucht gar nicht besonders hoch zu stehen als Mensch. Es ist, wie gesagt, eine Sache der Entwickelung. Die Entwickelung zeitigt im Laufe der Zeit, daß man zwischen den Imaginationen ebenso unterscheiden lernt, wie man in der physischen Welt im Grunde genommen auch erst unter­scheiden lernt, nur daß man dies in einem so frühen Lebensalter durchmacht, daß man es gewöhnlich nicht berücksichtigt. Aber man nimmt ja auch in der physischen Welt nicht einen Laubfrosch für einen Elefanten, sondern man lernt die Dinge unterscheiden, lernt sie einteilen und gliedern, so daß einem diese physische Welt gegliedert erscheint. Gegenüber der imaginativen Welt steht der Mensch zu­nächst so da, wie wenn er der physischen Welt so gegenüberstünde, daß er einen Laubfrosch für ein eben solches Tier halten würde wie einen Elefanten; daß er sie nicht unterscheiden könnte. Wie gleich­mäßig ausgebreitet und in gleichmäßiger Wichtigkeit erscheint zu­nächst die imaginative Welt! Daß wir dem einen mehr, dem andern weniger Gewicht beilegen, das müssen wir erst lernen. Denn das ist die Eigentümlichkeit dieser Welt, daß sie uns nicht groß und klein erscheint durch ihre eigene Natur, sondern durch das, was wir sind. Nehmen wir an, irgend jemand sei ein sehr hochmütiger, arroganter Mensch; dann gefällt ihm an sich dieses arrogante Wesen. Wenn ihm nun die imaginative Welt aufgeht, so überträgt sich sein Gefühl, sein Gefallen an der Arroganz auf die Größe der Wesenheiten, die er dann sieht, und alles, was in der imaginativen Welt sich als etwas Arro­gantes, als etwas Hochmütiges kundgibt, erscheint ihm riesengroß, als etwas, was eine ungeheure Bedeutung hat, während vielleicht das, was dem Demütigen als groß erscheint, ihm klein erscheint wie ein winziger Laubfrosch. Da hängt es ganz von den Eigenschaften der Menschen ab, wie sich ihnen diese Welt in der Perspektive darstellt. Es ist eine Sache der Entwickelung des Menschen, daß die richtigen Verhältnisse und die Intensitäten und Qualitäten dieser Welt richtig erkannt werden. Die Dinge sind durchaus objektiv, aber der Mensch kann sie ganz verzerren und in Karikaturen sehen. Das ist das Wesentliche,

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daß der Mensch zunächst in einer gewissen Weise durchgehen muß auch bei diesen höheren übersinnlichen Erkenntnissen durch das, was er selbst ist, das heißt, er muß auf imaginative Art sich selbst kennenlernen. Das ist allerdings deshalb eine fatale Sache, weil die Perspektive für das, was in der imaginativen Welt gegeben ist, am allermeisten dann vollständig durch die eigenen Qualitäten der Seele bestimmt ist, das heißt, in falschem oder richtigem Sinne bestimmt ist.

Was heißt denn das, der Mensch muß durch imaginative Erkenntnis sich selbst kennenlernen? Es heißt, er muß zunächst unter den Imaginationen, unter den Bildern, die ihm in der imaginativen Welt ent­gegentreten, sich selber als ein objektives Bild entgegentreten. So wie der Mensch in der physischen Welt etwa eine Glocke oder einen andern Gegenstand als ein Objektives vor sich hat, so muß er in der imaginativen Welt sich selbst entgegentreten als das, was er ist, als eine Wirklichkeit, wie er zunächst ist. Das kann er auf eine reguläre Weise nur erreichen, wenn er in der Tat durch Meditation und so weiter aufrückt von dem Wahrnehmen der Außenwelt zu dem Leben in seinen Vorstellungen, indem er, wie wir schon erwähnt haben, sich ganz gewisse Symbole vorstellt, damit er von der Außenwelt loskommt, und so lange in dem rein inneren Seelenleben der Vor­stellungen leben lernt, bis dem Menschen das etwas wird, was er wie etwas Natürliches durchmacht: das Leben in seinen Vorstellungen. Dann wird der Mensch wirklich so etwas bemerken wie eine Art Spaltung seines Wesens, eine Art Spaltung seiner Persönlichkeit. Er wird sich oftmals zusammennehmen müssen in den Übergangsstadien, um einen gewissen Zustand nicht gar zu sehr heranwachsen zu lassen. Wenn dieser eigentümliche Zustand eintritt, ist es so, daß der Mensch nach und nach eine Art von Vorstellung bekommt, in der er lebt, in der er ganz drinnen ist, so daß er jetzt nicht mehr sagt: Ich bin das, was mein Leib ist -, sondern als eine Imagination vor sich hat:

Das bist du! So bist du! - Dann tritt das ein, daß er zuweilen merkt, wie das andere seiner Wesenheit außer dem, was sich da frei gemacht hat, wie eine Art Automat wirkt, daß er eigentlich über demselben steht, daß dieses aber die Begierde hat, automatisch Worte zu sprechen, Gesten zu machen und so weiter. Ungeschulte Menschen werden sich

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dann zuweilen in allerlei Grimassen entdecken, weil sie mit der Ima­gination etwas aus sich herausgezogen haben; und was zurück­geblieben ist, macht allerlei automatisches Zeug. Das ist etwas, was nicht weiterkommen soll als bis zum Versuch; das muß immer über­wunden werden können. Der Mensch muß sich immer dazu bringen, daß er, wie sonst andere Gegenstände, so jetzt seine eigene Wesenheit außer sich hat.

Jetzt kommt es gegenüber der Imagination, zu der man da gerade kommen soll, ungeheuer stark darauf an, daß man in der Tat gewisse Seeleneigenschaften vorher entwickelt hat. Denn hier bei dieser ima­ginativen Selbsterkenntnis treten in der Tat alle möglichen Illusionen au£ Es lauert ja da im Hintergrunde alles, was menschlicher Hochmut, was überhaupt menschliche Illusionsfähigkeit ist, die aus den ver­schiedensten Eigenschaften hervorkommt. Man kann in der imagina­tiven Welt das Verschiedenste sehen. Unter diesem Verschiedensten wird man natürlich etwas rein gefühlsmäßig für sich selber halten, und es ist eine recht weitverbreitete Erscheinung, daß sich die Men­schen in der imaginativen Welt eigentlich zunächst für das Allerbeste halten. Wenn die Menschen, die sich so in der imaginativen Welt sehen, einen Schluß ziehen wollen, was sie nun ihrer Individualität nach früher gewesen sind, damit sie dieses ganz außergewöhnliche Menschenkind, das sie jetzt sind, haben werden können, so kommen sie zuweilen zu dem Resultat, daß sie mindestens geschichtlich etwas Hochgestelltes gewesen sein müssen, etwas Königliches oder der­gleichen. Wir erleben es immer wieder und wieder, daß gerade an­gehende Hellseher davon überzeugt sind, daß sie in ihrer früheren Inkarnation irgendwie Karl der Große, Napoleon, Julius Cäsar, Marie Antoinette oder diese oder jene hohe geschichtliche Persönlichkeit gewesen sind, weil sich diese Menschen so vorkommen - gar nicht von denen zu reden, die sich für noch höhere Wiederverkörperungen, von Heiligen und dergleichen halten -, weil die Menschen ihre Indivi­dualität für etwas so Bedeutsames nehmen müssen, wie sie ihnen jetzt entgegentritt, daß sie in diesem «Kerker», in dem sie jetzt sind, nur annehmen können, daß sie in ihren früheren Verkörperungen etwas Außerordentliches gewesen sind. Da konnte man einmal an einem

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Tische beieinandersitzen sehen die Marquise de Pompadour, Marie Antoinette, Friedrich den Großen, den Herzog von Reichstadt und noch andere höchst gewichtige Persönlichkeiten. Ja, Sie lachen, aber diese Dinge sind tatsächlich sehr ernst, weil sie darauf aufmerksam machen sollen, wie es ganz und gar von der Seele des Menschen selbst abhängt, wie ihm in der imaginativen Erkenntnis sein eigenes Wesen entgegenkommt. Dieses eigene Wesen lernen wir nämlich kennen, wenn wir wirklich ganz von uns loskommen, wenn wir mit aller Energie darauf hinarbeiten, alle die Eigenschaften abzulegen, von denen wir im gewöhnlichen Leben bemerken können, daß sie gräßlich sind, daß sie den andern Menschen unangenehm sind, und daß wir fortwährend etwas mit uns herumtragen, was wir, wenn wir objektiv über uns nachdenken, nicht haben sollten. Diese Eigenschaften müs­sen wir uns im Grunde recht sehr in die Seele schreiben; denn jetzt handelt es sich nicht darum, nur Dinge zu sagen, die allen gefallen können, sondern solche Dinge zu sagen, die wahr sind, die auch durchaus nur objektiv gemeint sind. Es kann immer die Versicherung gegeben werden, daß wir, wenn wir genügend objektiv zu Werke gehen, wirklich unendlich viel damit zu tun haben, uns selber zu kritisieren, und daß wir eigentlich nur in der äußersten Not, wenn es die äußeren Verhältnisse notwendig machen, zu dem übergehen soll­ten, was da gang und gäbe ist in der Menschheit: zu der Kritik der andern, zum Übelnehmen der andern und so weiter. Wer sich viel beschäftigt mit der Beurteilung der andern, wer viel Kritik übt an den andern, der kann sicher sein, daß er viel zu wenig Zeit behält, um an sich zu entdecken, was er an sich entdecken muß, und um weg­zuräumen, was weggeräumt werden muß, damit die imaginative Erkenntnis unseres Selbstes in ihrer Wahrheit vor uns stehen kann. Und wenn man, nachdem jemand sich lange mit Geisteswissenschaft be­schäftigt hat, immer wieder und wieder fragen hört: Warum komme ich nicht weiter? Warum sehe ich nicht etwas in der geistigen Welt? -, so läge ja der Einwand ungeheuer nahe, den sich der Mensch selbst machen könnte: daß er darauf achtgeben müßte, von aller Kritik der andern, wenn sie nicht durch die äußerste Notwendigkeit gefordert ist, vollständig abzusehen, und daß er vor allem lernen müßte, was es

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heißt, abzusehen von aller Kritik der andern. Denn manche Menschen vergessen nämlich, wenn sie aufstehen und das Tagewerk des nächsten Tages beginnen, was es heißt, abzusehen von der Kritik an den andern. Denn das heißt, auch einmal etwas hinnehmen können von den andern, was einem im Leben unangenehm und fatal sein kann. Das muß man hinnehmen können. Denn wer an Karma wirklich glaubt, der weiß, daß dasjenige, was uns von einem andern zugefügt wird, wir uns selbst zugefügt haben. Es liegt ja im Karma, daß einem das zugefügt wird.

Es gehört also unendlich viel dazu, zur imaginativen Erkenntnis des eigenen Selbstes zu kommen. Dann fängt man an zu merken, warum das Frohschammersche Bild von der Einkerkerung nicht stimmt. Man merkt dann, daß man in der Tat so in seinem Leben drinnen ist, daß man sich sagen muß: Die Inkarnation, das Erdenleben, in dem du bist, wäre schon schön, wäre ganz wunderbar und herrlich, aber du bist nicht so darnach; du kannst nicht alles anfangen, was du nach der Leiblichkeit, die dich an einen bestimmten Schauplatz gestellt hat, an­fangen könntest. - Man kommt dann zu der Erkenntnis: Hier stehe ich in der Welt, in einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Raumpunkt; um mich herum ist immer die schöne Welt, alles Große und Gewaltige, und ich habe leibliche Organe, durch die alles Große und Gewaltige hereindringt, alles Herrliche und Prächtige, alles, was für ein unbefangenes Gefühl uns sagen muß: Wir leben eigentlich in der Welt, in der wir sind, fortwährend in einem Paradies! - Das ist etwas, was wir uns sagen sollten, selbst wenn es uns außerordentlich schlecht geht. Denn es handelt sich nicht darum, wie es uns geht, sondern ob diese Welt schön und herrlich ist; denn ob es uns schlecht geht, das kann von unserem Karma abhängen. Wie die Welt ist, das hängt lediglich von der Welt ab und darf nicht von unserem persön­lichen Standpunkt aus beurteilt werden. Aber zum vollen Aufnehmen dieser Welt, zum Ziele der höchsten Befriedigung und Beseligung, ist uns gegeben unsere Leiblichkeit, sind uns gegeben unsere Organe, und groß ist der Abstand zwischen dem, was wir in unserem Dasein innerhalb von Geburt und Tod aus diesem Weltenparadies heraus­ziehen könnten, wenn wir alles herausnehmen würden, und demjenigen,

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was wir tatsächlich herausnehmen. Und warum nehmen wir so wenig heraus? Ja, weil in diese Leiblichkeit hinein eben etwas ver­körpert ist, was klein ist gegenüber der Welt, was nur gestattet, einen geringfügigen Ausschnitt herauszunehmen. Vergleichen Sie, was vom Morgen bis zum Abend Ihre Augen fortwährend sehen, mit dem, was sie wirklich sehen könnten, so haben Sie ein Verhältnis zwischen dem, was Sie imstande sind aufzunehmen, und dem, was Sie wirklich aufnehmen.

Wir erleben durch eine solche Erkenntnis in der Tat ein merk­würdiges Verhältnis von uns selbst zum Geist. Wenn wir uns selbst im Geiste erkennen, dann fühlen wir, daß wir für diese Welt durchaus nicht so taugen, wie wir taugen würden, wenn wir unsere gesamte Organisation benützen könnten. Jetzt entdecken wir dann, daß dem­jenigen, was wir selbst sind vor unserer imaginativen Erkenntnis, etwas anderes in der Welt entgegenstehen muß. Und hier kommen wir zu einer interessanten Zusammenstellung, die wir nur ganz auf unser Gemüt wirken lassen müssen, wenn wir uns kennenlernen wollen, nämlich daß der Mensch, indem er sich in der imaginativen Welt erkennt, sich gegenüber dem, was die Welt um ihn herum ist, wahr­haftig nicht groß und erhaben vorkommen kann, nicht, als wenn er als ein Wesen einer höheren Welt in diesen Erdenkerker versetzt wäre, sondern daß er nicht angemessen ist diesem Erdenkerker. Oh, mit seinem Leibe könnte der Mensch unendlich viel machen, wenn er ihn ganz benützen könnte. Das ist der wahre Tatbestand. Deshalb steht dem, was der Mensch in der imaginativen Welt ist, eine Welt gegen­über, die korrigiert, was er dadurch schlimm macht, daß er seine Körperlichkeit gar nicht benutzt - es würde ja reizvoll sein, wenn man in aller Breite die Entsprechung dieser beiden Welten ausführen könnte -, es steht gegenüber dem, was der Mensch in der imagina­tiven Welt ist, die ganze kulturelle Entwickelung des Menschen vom Erdenanfang bis zum Erdenende. Warum steht diese Welt der Kulturentwickelung vom Erdenanfang bis zum Erdenende dem gegenüber, als was der Mensch sich in einer Inkarnation, in einem Dasein zwischen Geburt und Tod erscheint vor seiner eigenen Imagination?

Wenn wir uns diese Frage beantworten wollen, dann begreifen wir,

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daß der Mensch das, was er nicht sein kann in einer Inkarnation, eben werden muß durch viele Inkarnationen hindurch im Verlaufe der Erdenkulturentwickelung. Er muß immer wiederkommen. Dann kann er, was er so wenig ist in einer Verkörperung, es nach und nach da­durch werden, daß er immer neue Verkörperungen herbeisehnt, damit er werden kann, was er in einer Verkörperung nicht werden kann. Gerade wenn sich der Mensch eine Erkenntnis und eine Empfindung dafür verschafft, was er eigentlich sein könnte während eines Erden­lebens und was er nicht sein kann wegen seiner eigenen Innerlichkeit, dann weiß er, welches in seiner Seele die prädominierende Empfindung sein muß, wenn er durch die Pforte des Todes geht. Diese prädominie­rende Empfindung muß die sein: wieder herunterzukommen, um in einem folgenden und in immer weiteren Erdenleben das zu werden, was er in einem nicht sein kann. Das muß die stärkste Kraft sein: die Sehnsucht nach immer weiteten Verkörperungen während des Erden­kulturlebens.

Nur angeschlagen kann dieser Gedanke werden. Wenn Sie ihn weiter ausdenken, können Sie sehen, daß aus ihm die stärkste Be­kräftigung der Reinkarnation erfolgt. Und daß man so sagen kann, daß aus diesem Gedanken die stärkste Bekräftigung der Reinkarnation erfolgt, das geht auch noch aus etwas anderem hervor. Der Mensch kann die Bemühungen, in die geistige Welt hineinzukommen, nun fortsetzen. Ich habe gesagt, daß der Mensch rein technisch zur imagi­nativen Erkenntnis seiner selbst dadurch kommt, daß er absieht von jeder äußeren Wahrnehmung und sich in der geschilderten Weise dem Vorstellungsleben hingibt. Nun gibt es noch eine andere Möglichkeit, um der Meditation, der inneren Konzentration eine bestimmte Wen­dung zu geben. Sie besteht darin, daß man versucht, in vollständiger innerer Treue, mit vollständiger innerer Gewissenhaftigkeit das ab­laufen zu lassen, was man nennen kann seine eigene Erinnerung. Man braucht das nur für ein paar Stunden zu machen, aber man muß es ernsthaft machen. Was ist man eigentlich im gewöhnlichen Leben? Natürlich, man kommt dahinter durch Nachdenken, durch Er­kenntnistheorie und Logik, daß man ein Ich ist. Aber im gewöhnlichen Leben ist man in einem sehr fragwürdigen Sinne dieses Ich; im gewöhnlichen

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Leben ist es seht fragwürdig, was dieses Ich erfüllt. Was jemand in irgendeinem Momente ist, das ist das, was ihm die Ein­drücke des gewöhnlichen Lebens geben. Spielt jemand gerade Karten, so ist er das, was die Eindrücke des Kartenspiels geben. Da ist er nicht das Ich; er ist es, aber nicht seinem Bewußtsein nach. Denn was er real im Bewußtsein hat, das sind die Eindrücke des gewöhnlichen Lebens. Das Ich ist das, was wir zwar suchen können zu erreichen, aber es ist etwas höchst Variables und Flüchtiges, Flackerndes. Man kommt nur dahinter, was man in der Realität ist, wenn man sich den Erinnerungen hingibt und diese so vor sich bringt, daß man sie, wäh­rend man sie sonst hinter sich hat, vor sich bekommt. [*] Das ist ein außerordentlich wichtiger Vorgang. Im Grunde genommen ist der Mensch immer das Ergebnis seiner verflossenen Erlebnisse, die in den Erinnerungen weiterleben. Für Kleinigkeiten können Sie sehr wohl wahrnehmen, wie der Mensch das Ergebnis seiner Erinnerungen ist. Nehmen Sie an, Sie haben einen Tag lauter unangenehme Dinge erfahren. Vergleichen Sie dann, wie Sie am Abend sind, wie das Sie macht am Abend: mürrisch, abstoßend, naserümpfend und so weiter und nehmen Sie dagegen an, Sie haben einen Tag hindurch lauter befriedigende Erlebnisse erfahren. Wie sind Sie da? Freudig, lächelnd, angenehm für Ihre Umgebung, etwas ganz Wunderbares vielleicht. So ist der Mensch real einmal das eine, einmal das andere, denn er ist im Grunde genommen das, was er als Erlebnisse hinter sich hat.

Wenn er das, was er als Erlebnisse hinter sich hat, vor sich bringt, indem er es nach rückwärts der Reihe nach durchgeht, dann bringt er es vor sich und ist dann hinter der Sache. Wenn er das ernsthaft macht, nicht schematisch und geschäftsmäßig, sondern wenn er wirklich in den Dingen weiter ganz lebendig drinnen lebt und sein Leben - wenn auch nur für wenige Stunden wie Erinnerungen, die er vor sich ge­schafft hat - vor sich gebracht hat, dann tritt für die Seele etwas ein, wenn diese Seele genügend auf sich achtzugeben vermag. Es tritt eben nur dann auf, wenn man in die Lage gekommen ist, genügend Aufmerksamkeit darauf zu verwenden: nämlich eine Art Grundton, als der man sich selber vorkommt. Da kann man manchmal erleben, daß man sich selber vorkommt in recht bitterem Grundton, recht

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[Anm RS: Swassjan, Rudolf Steiner Ein Kommender S. 302: Auskunft im letzten Pneumatosophievortrag vom 16. Dezember 1911. Man darf, sagt uns der letzte Pneumatosophievortrag vom 16. Dezember 1911, die Geistesgegenwart nicht früher beanspruchen, als bis man seine Erinnerung nicht mehr hinter sich hat, sondern sie vor sich bringt und dahinterkommt, was ein Ich gewesen ist. Dieser Satz ist lt. Swassjan in der Buchausgabe 1931 enthalten

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sauerbitterem Grundton. Und wenn man - Auskunft im letzten Pneumatosophievortrag vom 16. Dezember 1911 nach. Man darf, sagt uns der letzte Pneumatosophievortrag vom 16. Dezember 1911, die Geistesgegenwart nicht früher beanspruchen, als bis man seine Erinnerung nicht mehr hinter sich hat, sondern sie vor sich bringt und dahinterkommt, was ein Ich gewesen ist.was wieder von der Ent­wickelung abhängt - recht sorgfältig mit sich zu Werke geht, wird man sich durch einen solchen Vorgang selten als ein süßes Wesen finden, sondern man wird sich in der Regel als ein recht bitteres Wesen vorkommen, wird einen recht bitteren Grundton empfinden. Das ist schon einmal so. Denn man gelangt auf diese Weise, wenn man die gehörige Aufmerksamkeit auf sich verwenden kann, in der Tat nach und nach zu dem, was man eine inspirierte Erkenntnis von sich selber nennen kann. Durch das Bittere geht es hindurch. Aber dann wird es tatsächlich so, daß man sich recht sehr als ein ver­stimmtes Instrument vorkommt. In der Welt der Sphärenharmonien gibt man zunächst gewöhnlich nur einen disharmonischen Ton ab.

So kommt man durch diese weitergehende Selbsterkenntnis eigent­lich noch mehr darauf, wie man nichts Rechtes anzufangen weiß mit der herrlichen Gottesnatur, aus der man so viel schöpfen könnte, wenn man ihr nur gewachsen wäre. Gerade wenn man eine solche Übung oft und immer wieder und wieder macht, dann drängt sich einem, wenn des Lebens Niedergang kommt, also für die späteren Jahre des Lebens - wenn man über die fünfunddreißig hinaus ist, beginnt es schon -, ganz klar auf durch die eigentümliche Art, wie dieser Ton klingt, daß man eigentlich einen solchen Grundton nur dahin interpretieren kann, daß man viel, viel zu verbessern hat an dem, was man im gegenwärtigen Leben angefangen hat, daß man mit aller Macht begehren muß, wieder mit einem solchen physischen Leib umschlossen zu werden, um das korrigieren zu können, was man versäumt hat in dieser Verkörperung. Das gehört zu den wichtigsten Folgen unserer Selbsterkenntnis, daß man wieder verkörpert werden will. Und die Menschen, die daran Anstoß nehmen, daß man wieder verkörpert werden will, zeigen damit nur die Unangemessenheit dessen, was sie erfaßt haben aus der herrlichen Gottesnatur, in die wir hineingeboren sind, dieser Gottesnatur gegenüber.

Das zweite, was man erlangt, ist also der inspirierte Mensch, als der jeder einzelne sich erkennt, in der geistigen Tonwelt sich erkennt, wenn er eben auf die charakterisierte Weise dahin kommt. Was man da erfährt, wenn man sozusagen seinen eigenen Ton kennenlernt, das

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ist, wie wenig man eigentlich angemessen ist dem, was in der großen Welt draußen ist. Nun kann man da schon, ich möchte sagen, von dem bloß Moralischen auf das Schicksalsmäßige übergehen und auch darauf Rücksicht nehmen, wie wenig man in der Lage ist im Leben, innerlich zu der Ruhe, zu der inneren Harmonie zu kommen, nach der man ja doch begehrt. Und Menschen, die die Kraft der Selbst­erkenntnis haben, sie werden, wenn sie sich einmal an diese Selbst­erkenntnis halten, wirklich oft und oft in der Lage sein, sich zu sagen: Wie wenig kannst du in dir jene Ruhe und Sicherheit finden, nach der du doch eigentlich lechzen mußt! - Da darf man, um das zu charakte­risieren, an eine schöne Stelle in Goethes Schriften erinnern, wo er davon spricht, wie er, sitzend auf einem Bergesgipfel, welcher aus­drückt die ruhige Gesetzmäßigkeit der Erdennatur, das vor Augen hat, was jener «älteste Sohn der Natur», der Granit, ihm in den Bergesgipfeln vor Augen führt, wie er die innere Konsequenz, die Größe des Naturgesetzlichen empfindet, die Ruhe gegenüber der inneren Bewegung und dem Hin- und Herschwanken zwischen Lust und Leid, zwischen «himmelhoch jauchzend» und «zum Tode be­trübt», des inneren Grundtones der Menschennatur. Wenn man von einer solchen Stimmung ausgeht und hinschaut zu den Natur­gesetzen, zu den Naturgesetzen, die schon zu den Zeiten waren, als die Menschen in ganz andern Kulturbedingungen in Urzeiten lebten und die als Naturgesetze auch heute den Raum durchmessen, dann wird man das - was man vielleicht in zehn, zwanzig Vorträgen genauer ausführen müßte -, in bezug auf seine theoretische Be­gründetheit, einsehen: daß eben so, wie die Kulturentwickelung das Gegenbild des imaginativen Menschenbildes ist, die Welt der wirk­lichen Naturgesetze das Gegenbild des inspirierten Menschen ist. In den Naturgesetzen offenbart sich uns durch die Maja hindurch die Tatenwelt des Geistes mit jener inneren Ruhe und Konsequenz, die in uns durch unseren Irrtum zur Unruhe und Disharmonie geworden ist, so daß wir sie so erkennen als Unruhe und Disharmonie, wenn wir in uns den inspirierten Menschen erkennen. Und dann kann der Ge­danke vor unsere Seele treten: Wenn wir diese Naturgesetze in Wirk­lichkeit und in ihrem Wesen erkennen, so wissen wir, daß sich die

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Erdenentwickelung zwar von Gestalt zu Gestalt, von Gestaltung zu Gestaltung metamorphosiert, daß aber in den Naturgesetzen doch etwas liegt, was uns die Sicherheit gibt, daß der Mensch, auch wenn er durch seine verschiedenen Inkarnationen hindurchgeht, also auf­nimmt in der Erdenkulturentwickelung, was er aufnehmen muß, weil es der Möglichkeit nach schon in einer Inkarnation liegt, am Ende des Erdendaseins finden werde solche Verhältnisse der Außenwelt -wegen der inneren Treue und Sicherheit der Naturgesetze -, die so­zusagen ausgleichend wirken auf das, was der Mensch verdirbt durch das, was er als inspirierter Mensch noch nicht entwickelt hat.

# Bild s. 297

So sehen wir einen tiefen Zusammenhang zwischen dem, was als Naturgesetze draußen ausgebreitet ist, was die Taten des Geistes in der Natur sind, und dem, was als eine Art Gegenbild uns erscheint, wenn wir durch die Inspiration in uns selber unseren tieferen Men­schen entdecken. Daher wurde immer in aller Esoterik, in allen Myste­rien, die innere Ruhe, die innere Harmonie der Naturgesetzmäßigkeit als ein Vorbild für des Menschen eigene innere Gesetzmäßigkeit hin­gestellt. Und nicht umsonst wurde der, der den sechsten Grad der Einweihung erreicht hatte, ein «Sonnenheld» genannt, um anzudeu­ten, daß sein eigenes Innere eine solche Gesetzmäßigkeit erreicht

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hatte, daß er durch diese innere Gesetzmäßigkeit und innere Sicher­heit ebensowenig von dem ihm vorgezeichneten Wege abirren konnte, wie die Sonne von ihrem Wege im Weltenall abirren kann; denn wenn sie nur für einen Augenblick aus ihrem Wege heraustreten würde, so würde Unzähliges an Revolution und Zerstörung im Kos­mos geschehen müssen.

Es gibt allerdings noch ein Weitergehen des Menschen in seiner Selbsterkenntnis. Wir könnten noch hinaufrücken zu dem Erfassen des Menschen durch die intuitive Erkenntnis, würden aber da in so hohe Regionen der Intuition hinaufkommen, daß es schwierig wäre, die Art zu charakterisieren, die sich da ergeben würde, und die - um auch äußerlich auf die Welt hinzuweisen - als Gegenbild erscheint des intuitierten Menschen. Aber das Bild, das wir zu verfolgen haben, sehen wir aus dem Schema auf Seite 297: daß der Mensch hinschauen kann auf alles das, was er der Möglichkeit nach ist, das heißt, was er sein könnte in jenem herrlichen Außenwerke der Welt, in dem er «eingekerkert»ist, wahrlich nicht, weil diese Außenwelt schlecht ist, sondern weil er so wenig gewachsen ist dieser Außenwelt.

Wir sehen daraus, daß Wesentliches abhängt von einer richtigen Beurteilung der ganzen Weltenverhältnisse, davon, daß eingesehen werde, was zugrunde liegt jener Art von Geist-Erkenntnis auch im Gebiete des Menschenwesens, welche durch die Geisteswissenschaft vor die gegenwärtige Menschheit hingestellt werden kann. Ein­wendungen, die da gemacht werden, werden gewöhnlich aus Prinzi­pien heraus gemacht, die völlig die Weltenverhältnisse verkennen.

Wir fragen uns aber jetzt noch zuletzt: Warum muß der Mensch überhaupt in eine äußere Körperlichkeit kommen? - Um sozusagen noch mehr das zu illustrieren, was gerade mit den nächsten Worten zu sagen ist, möchte ich erinnern, wenn Sie sie gehört haben, an die Vorträge von Dr. Unger über die Hineinstellung des Ich oder Ich-bin in das ganze innere Leben des Menschen. Auch an das möchte ich erinnern, was Sie darüber in meiner «Philosophie der Freiheit» und in «Wahrheit und Wissenschaft» finden können. Gewiß, ein geringes Nachdenken kann den Menschen schon lehren, daß hinter dem «Ich» oder «Ich bin» bedeutungsvolle Wesenheiten stecken. Aber was der

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Mensch zunächst erlebt, das erlebt er nur in seinem Bewußtsein, eben als sein Ich-Bewußtsein oder Selbstbewußtsein. Das wird ihm sogar jede Nacht im Schlafe unterbrochen. Und wenn der Mensch nur schlafen würde und niemals wachen, so würde er - trotzdem er auch ein Ich sein könnte - aus sich heraus niemals bemerken können, daß er ein Ich ist. Wovon hängt es denn ab, daß der Mensch überhaupt zum Bewußtsein seines Ich kommt? Das hängt davon ab, daß er so, wie er es im Wachzustande erlebt, sich seiner Körperlichkeit, seiner Leibesorgane bedient und sich mit seinem Leibe der ganzen Außen­welt gegenüberstellt. Sein Ich muß der Mensch erleben in seiner Körperlichkeit. Denn wenn der Mensch niemals auf die Erde her­untergestiegen wäre, um sich eines Leibes zu bedienen, so würde er sich in alle Ewigkeit hinein nur fühlen zum Beispiel als Glied eines Engels oder Erzengels, wie sich die Hand als Glied unseres Orga­nismus fühlt. Niemals würde der Mensch zum Bewußtsein seiner Selbständigkeit kommen können. Das wäre ganz ausgeschlossen. Er könnte zu allen möglichen Bewußtseinsinhalten und zu allen mög­lichen großen Dingen der Welt kommen, aber nicht zu einem Ich-Bewußtsein, wenn er nicht in einen Erdenleib einkehren würde. Von diesem Erdenleib aus muß sich der Mensch sein Ich-Bewußtsein holen. Schon wenn Sie den Schlafzustand studieren und das, was der Traum zeigt, sehen Sie, daß da etwas arbeitet ohne Gemeinschaft mit dem Ich. Zu dem Ich-Bewußtsein gehört das Eingekerkertsein im Leibe, das Sich-Bedienen der Sinneswerkzeuge und auch des Werk­zeuges des Gehirns. Wenn aber der Mensch, wie wir gesehen haben, nur in ganz geringem Maße in einer Verkörperung sich alles dessen bedienen kann, was ihm in dieser Verkörperung gegeben ist, so darf es nicht verwundern, sondern muß ganz begreiflich erscheinen, daß das hellseherische Bewußtsein sagt: Sofern ich ein Menschen-Ich wirklich durchforsche, insofern es sich mir in seiner wahren Gestalt zeigt, so finde ich in ihm als vorwiegendste Kraft und Trieb zunächst dies: immer wieder und wieder auf die Erde in immer neue Körper zu kommen, um das Ich-Bewußtsein immer weiter und weiter aus­zubilden und immer reicher und reicher zu machen. In dieser Be­ziehung bildet der Mensch in seiner eigenen Individualität etwas nach,

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was die Theosophen des 18. Jahrhunderts so oft gesagt haben, und was, wenn man es verarbeitet zur Geist-Erkenntnis, zur Pneumato­sophie, einem doch außerordentlich hilfreich sein kann. Die Theo­sophen des 18. Jahrhunderts, so unvollkommen ihre Ausführungen uns erscheinen müssen im Verhältnis zur Geisteswissenschaft, die wir gegenwärtig haben - Oetinger, Benge4 Völker unter andern -, wodurch drückten sie aus den Sinn des geistigen Wirkens auch der göttlichen Geister, oder, wie sie vom monotheistischen Standpunkt aus sprachen, des Gottesgeistes? Sie hatten eine wunderschöne Formel, um sozu­sagen eine Grundqualität der göttlichen Geistigkeit auszudrücken. Sie sagten: Körperlichkeit, die körperliche Welt ist das Ende der Wege Gottes! - Das ist ein wunderbares Wort. Das heißt: die Gott­heit ist, vermöge der in ihr liegenden Impulse, gegangen durch viele geistige Welten und hinuntergestiegen, um an eine Art von Ende zu kommen, an ein Ende, von dem aus sie umkehrt, um wieder hinauf­zusteigen. Und dieses Ende ist die Ausgestaltung, gleichsam die Aus­kristallisierung der göttlichen Wesenheiten in der körperlichen, leib­lichen Gestaltung. Wenn man es mehr in das Gemütsleben umsetzt, was da die Theosophen des 18.Jahrhunderts gesagt haben, so möchte man das Wort gebrauchen: Brünstig nach Verkörperung in der Leib­lichkeit erzeigt sich uns das Geistige, wenn wir es betrachten in den höheren Regionen, und erst dann zeigt es sich nicht mehr mit seiner Brünstigkeit nach Verleiblichung, wenn es am Ende der Wege Gottes angekommen ist, die in der Körperhaftigkeit besteht, und wieder auf dem Rückwege ist. - Das war ein schönes Wort, das diese Theo­sophen des 18. Jahrhunderts gesagt haben, und eigentlich ein Wort, mehr beleuchtend, mehr sich auch eingrabend in das, was aufklären kann, mehr beleuchtend und aufklärend also die Geschehnisse im Menschenwesen, als mancherlei, was in der Philosophie des 19. Jahr­hunderts zutage getreten ist. Während ja theosophisches Wirken und theosophische Arbeit besonders in der ersten Hälfte oder im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts gar nicht vorhanden ist, finden wir in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirklich noch Theosophen älterer Art. Und was ihnen gefehlt hat, das war etwas, was ihnen deshalb fehlte, weil es die christliche Entwickelung zurückgehalten hatte im

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Abendlande: die Erkenntnis des Gesetzes der wiederholten Erden­leben. Für die Gottheit wußten diese Theosophen des 18. Jahrhun­derts, daß die Körperlichkeit das Ende der Geisteswege der Gottheit ist; für den Menschen haben sie dies nicht erkannt. Denn beim Men­schen hätten sie einsehen müssen, daß bei einer jeden Verkörperung, durch die ganze Natur des Menschenwesens, die Sehnsucht entstehen muß nach weiteren Verkörperungen, bis herausgeholt ist aus den Verkörperungen alles, was den Menschen reif macht, dann zu andern Daseinsformen aufsteigen zu können.

Mehr als je fühle ich am Ende dieser pneumatosophischen Vorträge, wie sehr skizzenhaft und andeutungsweise alles bleiben mußte in die­sen vier Stunden. Und auch für die pneumatosophischen Vorträge gilt das, was für die zwei ersten Vortragsreihen dieser Gesamtvorträge, über Anthroposophie und Psychosophie, gelten muß: Es sollten eben wieder einmal einige Anregungen gegeben werden. Wenn Sie die­selben verfolgen, so werden Sie reiches Material finden, das Sie in der mannigfaltigsten Weise verarbeiten können. Es wird dazu notwendig sein, daß Sie vieles heranziehen, daß Sie sich umsehen in der Welt, wie durch dieses oder jenes das bekräftigt werden kann, was nur in ganz kurzen, flüchtigen Linien, wie eine Art Kohlezeichnung gegeben werden konnte, gegenüber der es lange dauern würde, ein voll­ständiges Bild zu geben. Aber es ist nun einmal mit der Geistes­wissenschaft so, weil sie so umfassend ist: Wenn wir systematisch vorgehen wollten und wirklich so verfahren wollten, wie man es heute gerne vielfach in andern Wissenschaften macht, so wären wir jetzt, nach zehn Jahren der Arbeit in unserer Sektion, nicht an dem Punkt, wo wir jetzt stehen, sondern vielleicht an dem Punkt, wo wir ge­standen haben nach Ablauf des ersten Vierteljahres. Und es wird ja wahrhaftig - das lassen Sie qmich jetzt am Ende dieses Zyklus aus­sprechen - in dieser unserer Gemeinschaft auf Seelen gerechnet, welche den Willen und den Impuls der Selbständigkeit in sich tragen, welche wirklich den ernsten Willen haben, dasjenige, was andeutungs­weise gegeben wird, selbständig weiterzuverarbeiten. Da wird auch vieles in dieser selbständigen Arbeit auftauchen aus jenen Regionen, auf die nicht einmal hingedeutet werden konnte, und jeder wird auf

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seine Art Anknüpfungspunkte zur Arbeit finden können. Es wird sich jeder schon davon überzeugen können, wenn er wirklich in selbständi­ger Weise in seiner Seele vorgeht, daß sich unsere Gemeinschaft am besten dann bewähren wird, wenn immer größer und größer dieses Gefühl von innerer Selbständigkeit wird, das Gefühl, daß man etwas entgegennimmt, um sich anregen zu lassen in der Weise, daß das eigene Innere immer mehr und mehr dazu kommt, die Welten mit­zuerleben, welche der Menschheit gerade durch jene wichtige Geistes­strömung erschlossen werden sollen, die wir gewohnt geworden sind, bisher die «theosophische» zu nennen.

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HINWEISE

Die Neu-Herausgabe dieser zwölf Vortrage erfolgt für die beiden ersten auf Grund aller verfügbaren, mehr oder weniger guten Nachachriten. Der Wortlaut kann vielfach nicht als genaue Wiedergabe des von Rudolf Steiner Gesprochenen betrachtet werden.

Für die weiteren zehn Vortrage lag ein sehr gutes Stenogramm vor, das dem Archiv erst nach der ersten Buchausgabe (1931) zugekommen ist und welches ermöglichte, manche Unklarheiten und Fehler der ersten Ausgabe - namentlich in bezug auf dic Vortrage über Psychoaophie - richtigzustellen. Auf einige Anderungen wird im folgen­den hingewiesen unter Wiedergabe des Textes dieser Nachschrift.

Es wurden, gegenüber der Buchausgabe 1931, nur die von Rudolf Steiner stammenden Zeichnungen im Text aufgenommen, mit Ausnahme der Zeichnung auf Seite 60, die der Übersichtlichkeit halber beibehalten worden ist.

Zu Seite:

15 usere Theosophische Geselltchaft: Siehe die Vorbemerkung auf Seite 9.

Die Kattekr Vorträge: «Das Johannes-Evangelium im Verhititris zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium.» Gesamtausgabe Dornach 1959.

die Düsseldorfer Vertrage: «Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos.» Gesamtausgabe Dornach 1960.

über das Lukat-Evangeliam: «Das Lukas-Evangelium.» Gesamtausgabe Domach 1955.

die Münchener aber die Lehren der erientailschen Tbeosophie: «Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi.» Gesamtausgabe Dornach 1960.

userer allerersten Generalversammlung: Am 20. Oktober 1902. Eß war der dritte Vortrag im Kreise der «Kommenden». Der Vortragszyklus hatte den Titel «Von Zarathustra bis Nietzsche. Entwickelungageschichte der Menschheit an der Hand der Weltanschauungen von den ältesten orientalisehen Zeiten bis zur Gegen-wart, oder Anthroposophie». Dr. Steiner mußte zu diesem Vortrag von der Gründungsversammlung der Deutschen Sektion vorzeitig weggehen.

16 auch in meiner Schrzft : «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»

Gesamtausgabe Dornach 1961.

18 ein kurzer Abreß: «Anthroposophie. Ein Fragment». Die vorgesehene 2. Auflage

wird durch neu aufgefundene Manuskriptseiten erweitert.

diete Wissenschaft nennt man gewöhnlich Anthropologie: Siehe das Kapitel «Anthropo­logie und Anthroposophie» im Buche «Von Seelenrätseln». Gesamtausgabe Dornach 1960.

19 an dem deutschen Theotophen Solger: Karl Wilhelm Ferdinand Solger, 1780-1819.

Schrieb u.a. «Philosophische Gespräche» 1817.

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Zu Seite:

20 Was ist Philosophie?: Siehe «Philosophie und Anthroposophie», 1904-1918 Gesamtausgahe Dornach 1965.

21 Heraklit: Herakleitos aus Ephesos, um 500 v. Chr.

Robert Zimmermann: 1824-1898, Ästhetiker und Philosoph. «Anthroposophie im

Umriß. Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage.»

Wien 1882.

23 auf dem alten Saturn: Über die kosmische Evolution der Erde siehe das Kapitel «Die Weltentwickelung und der Mensch» im Buche « Die Geheimwissenschaft im Umriß.» Gesamtausgabe Dornach 1962.

37 ah seine Erkenntuisaufgabe : Eine andere Nachsehrift l,at statt « Erkeanmisaufgabe» das Wort «Erdenaufgabe».

42 Arthur Schopenhauer; 1788-1860. Sein Haupt'scerk : «Die Welt als Wille und Vorstellung.»

45 weil er nichts an uns abgibt : Die Ausgabe von 1931 hat statt dessen « weil er nichts aufnimmt».

47 und seine wäßrige Substanz durchbeben : Eine andere Nachsehrift hat statt « durch-beben» das Wort «durchweben».

56 dann entsteht eine noch feinere Seehntätigkeit : Eine Nachschrift hat nach «entsteht »noch die Worte «bei der achtblättrigen Lotusblume».

56/57 und dem Menschen ebenso angehört wie der ganzen Natur und der ganzen übrigen Welt draußen : Statt dessen hat die Nachschrift «und ihin ebenso angehört wie die ganze Natur und die ganze übrige Welt draußen».

62 Wir haben da eine Strömung, die durch die Längsachse des Körpers verläuft. Diese Strömung bewirkt: So nach der Nachschrift und auch nach der Ausgabe von 1931. Zwei andere Nachschriften haben jedoch statt « Diese Strömung bewirkt» folgendes: «Diese Strömung, in Zusammenhang mit der Strömung von rechts nach links, bewirkt.»

68 Dr. Carl Unger: 1878-1929. Von der Neuausgabe der Schriften Dr. Unger's in

3 Banden ist Band 1, Stuttgart 1964, und III, Basel 1954, bereits erschienen. Band II ist in Vorbereitung.

79 aus den Vorträgen des Herrn Dr. Unger: «Das Ich und das Wesen des Menschen» und « Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft». Beide neu abgedruckt in Band 1 der Neuausgabe. Stuttgart 1964.

das reine Denken : Zwei andere Nachschriften haben «das reinste Denken»

81 das biogenetische Grundgesetz: Es wurde formuliert von Ernst Haeckel, 1834-1919. Dar, was der Mensch durchmacht : Im embryonalen Zustand.

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Zu Seite:

85 ah Kräfte der physischen oder der ätherischen Natur: Die Nachschrift hat hier «als Kräfte der physischen, der ätherischen oder der astralischen Natur».

86 daß nicht nur von außen etwas an ihn herandrang: Eine andere Nachschrift hat hier «in ihn hineindrang».

87 Wenn Sie eine gerade Linie ziehen durch die Mitte des Kehlkopfes: Eine Nachschrift hat diesen und den folgenden Satz in folgender Weise : « Wenn Sie eine gerade Lmie ziehen durch den Kehlkopf, so ist das diejenige Stelle, welche dirigiert wurde von den die Sprache gebenden Geistern selber aus. Und aus diesen zwei Strömungen entstand die eigentümliche Form des menschlichen Kehlkopfes.» Eine andere Nachschrift hat: « Wenn Sie eine gerade Linie ziehen durch die Mitte des Kehl­kopfes, so entdecken Sie da eine Stelle, bis wo die Sprache gebenden Geister dirigierend einwirken. Von unten strömt die andere Strömung herauf. Der Kehl­kopf stellt in physischer Materie die Stauung dar, die entstand beim Zusammen­prall jener beiden Strömungen.»

90 entgegenfenen Gruppenseelen: So zwei Nachschriften. Zwei andere haben «entgegen jener Gruppenseele».

92 aber ohne das Ich: An Stelle dieses ganzen so schließenden Satzes hat eine Nach­schrift : « Beirn Tiere bilden sich Empfindungs- und Verstandesseele eirügei'tnaßen aus, ja sogar Anfange einer Bewußtseinsseele, aber kein Ich.» Eine andere Nach­schrift hat: «Das Tier hat nicht ein Gedächtnis im selben Sinne. Beim Tier handelt es sich beim Gedächtnis um die Ausbildung der Empfindungsseele, der Ver­standesseele und der Bewußtseinsseele, aber ohne Ich.»

93 Professor H. : Wahrscheinlich Ewald Hering. «Über das Gedächtnis als eine all­gemeine Funktion der organisierten Materie.»

97 eine der Töchter Goethes: Gemeint ist der Vortrag vom 28. Oktober 1909, « Das Wesen der Künste» im Bande « Kunst und Kunsterkenntnis». Gesamtausgabe Dornach 1961.

« Goethe ah Vater einer neuen Ästhetik» : Vortrag in Wien, 9. November 1888, im Bande «Kunst und Kunsterkenntnis». Gesamtausgabe Dornach 1961.

101 «Der ewige Jude» von Goethe ist in einer von Dr. Steiner gekürzten und an einigen Stellen auch geänderten Fassung vorgetragen worden. Auch die Stellung einzeiner Teile ist verändert worden.

128 Henri Bergson : 1859-1941. Französischer Philosoph.

133 in seiner allerersten Jugend: « Der ewige Jude» ist in der ersten Hälfte des Jahres 1774 entstanden. Goethe rezitierte am 28. Juni 1774 Lavater auf der Fahrt von Wies­baden nach Schwalbach «viel von seinem ewigen Juden. Ein seltsames Ding in Knittelversen». Das Fragment kam wohl erst nach Beendigung von «Werther» und «Clavigo» zustande.

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Zu Seite.

146 ein Kirchenkonzil: Das 8. Ökumenische Konzil im Jahre 869.

152 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: 1770-1831. Den Hymnos «Eleusis» sandte Hegel, der damals Hauslehrer in der Schweiz war, im Spätsommer 1796 seinem Freunde Hölderlin.

158 Schopenhauerianismus: Die These Arthur Schopenhauers, 1788-1860: Die Welt ist meine Vorstellung.

159 Kantianismus: Nach Immanuel Kant, 1724-1804, der von dem unerkennbar sein sollenden «Ding an sich» gesprochen hat.

179 von dem jungen Goethe: Aus dem Jahre 1765.

195 im öffentlichen Vortrage: «Leben und Tod», Vortrag vom 27. Oktober 1910, in «Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins», Gesamt­ausgabe Dornach 1959.

208 was sein eigenes Leben ist : Die Nachschrift hat statt «eigenes Leben» die Worte «eigentliches Wesen».

210 Sigmund Freud: 1856-1939. Begründer der Psychoanalyse.

212 Franz Brentano : 1838-1917. «Psychologie vom empirischen Standpunkte.»

1. Band, 1874. Ein 2. Band erschien nie.

213 Theodor Lzpps: 1851-1914. Vertreter des Psychologismus.

Wilhelm Wnndt : 1832-1920. Gründete das erste Institut für experimentelle Psycho­logie. Verfasscr einer «Völkerpsychologie» in 10 Bänden.

218 Anton Günther: 1783-1826, spekulativer katholischer Theologe. Alle seine Bücher kamen 1857 auf den Index.

schon in den ersten Jarhunderten : Auf dem 8. ökumenischen Konzil zu Konstan­tinopel, 869.

219 Georg Wilhelm Friedrich Hegeis «Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes» erschien 1807, die «Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß» erstmals 1817. Diese enthielt als 1. Teil die Wissenschaft der Logik, als 2. Teil die Philosophie der Natur, als 3: Teil die Philosophie des Geistes.

Franz Brentano : 1838-1917. Siehe den Nachruf auf Franz Brentano im Buche «Von Seelenrätseln». Gesamtausgabe Dornach 1960.

220 über die Einteilung der psychischen Phänomene : Franz Brentano, «Von der Klassifika­tion der psychischen Phänomene», mit den «Nachträgen». Leipzig 1911.

227 Aristoteles: 384-322 v.Chr.

ein drittes Buch: Es erschien 1911, wie das vorhin erwähnte «Aristoteles und seine Weltanschauung».

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Zu Seite:

241 Riidolf Eucken: 1846-1929, neu4deslistischer Philosoph.

242 daß das Gehirn Gedanken absondere: Carl Vogt, 1817-1895, Naturforscher. Tat in «Köhlerglaube und Wissenschaft», 1855, den Ausspruch, daß «die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen, wie die Galle zur Leber».

244 Ludwig Feuerbach : 1804-1872, materialistischer Philosoph. «Das Wesen des Christentums», Leipzig 1841. «Das Wesen der Religion», Leipzig 1845.

daß überall in den Dingen : In der Nachschrift folgt hierauf «das Unabhängige, der überall waltende Nus ist».

250 « Den Tenftl spürt das Völkehen nie» : «Faust I», Auerbachs Keller.

251 Dr. Carl Unger: «Gedanken zur Philosophie des Widerspruchs.» In Schriften Band 1, Stuttgart 1964.

254 fakob Frobschammer: 1821-1893, freisinniger katholischer Theologe. «Die Philo­sophie des Thomas von Aquino, kritisch gewürdigt.» Leipzig 1889, Seite 418/419.

255 «Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses», 1877.

in dem Karlsruber Zyklus: «Von Jesus zu Christus.» Gesamtausgabe Dornach 1958.

258 der Naturforscher Huber: Jean Pierre Huber, 1777-1840. Sein Vster François Huber, 1750-1831, ebenfalls Naturforscher.

263/64 Die Sinne können nicht täuschen : Goethe, « Sprüche in Prosa» : «Die Sinne trügen nicht, aber das Urteil trügt.»

277 das Beispie4 das ich vor kurzem schon anfübrte: In Nürnberg. Vortrag vom 3: Dezember

1911, in «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit». Gesamtausgabe Dornach 1962.

296 eine schöne Stelle in Goethes Schriften : «Über den Granit», 1784.

«Himmelhochjauchzend, zum Tode betrübt»: Klärchen in «Egmont».

300 Johann Albrecht Bengel: 1687-1752. Begründer des schwäbischen Pietismus.

Mareus Völker lebte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, war zeitweise Lehrer von Oetinger. Siehe auch C. S. Picht «Mareuii Völker» in der Zeitschrift «Die Drei», VII. Jg. 1927 Heft VIII.

Friedrich Christoph Oetinger: 1702-1782. Begründer einer schwäbischen Theo-sophie. In « Biblisches Wörterbuch» unter « Leib» : «Die Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.» Schon zu Oetingers Lebzeiten zitierte man statt «Werke» «Wege».

301 des ersten Vierteljahres: So nach einer Nachschrift. Eine andere hat hier « nach Ablauf des vierten Jahres».

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.