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WIENER THEATERVERHÄLTNISSE

#G029-1960-SE021 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Aufsätze

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WIENER THEATERVERHÄLTNISSE

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Wir Deutschen leiden gegenwärtig an einem schweren Kultur­übel. Wir sind die Träger einer hohen Bildung; aber diese kann es nicht dazu bringen, die Tonangeberin des öffentlichen Lebens zu werden. Statt daß sie allen unseren ideellen Bestrebungen das Ge­präge gäbe, macht sich überall Seichtigkeit und Dilettantismus zur leitenden Macht. Wir haben es zu einer Kunstanschauung gebracht, wie sie kein Volk hat, aber in der öffentlichen Pflege unserer Kunst, in der Führung unserer Kunstinstitute, in der Kri­tik ist wenig von dieser Anschauung zu merken. Unser ganzes geistiges Leben steht deshalb heute auf einer viel tieferen Stufe, als es nach den Anlagen unseres Volkes, nach seiner eingehorenen Tiefe stehen könnte. Wo immer wir hinschauen, finden wir die traurigen Beweise für diese Sätze. Wir könnten sie ebensogut auf jeden anderen Zweig unserer gegenwärtigen Kulturbestrebungen anwenden, wie wir es diesmal auf die Pflege des Dramas in unse­ren Wiener Theatern tun wollen.

Wir haben in Wien zwei Schauspielhäuser, die einem reinen Kultur- und Kunstzwecke dienen könnten, wenn sie ihre Aufgabe richtig erfassen wollten: das Hofburgtheater und das neue Deutsche Volkstheater. An die übrigen Bühnen kann in dieser Richtung wohl kaum gedacht werden. Denn sie haben einen schweren Stand gegenüber ihrem Publikum. Einen wahren Kunstgenuß sucht dies letztere ja doch nicht, und wenn dieser nicht da ist, da hört auch der Maßstab für das Gute auf. Dann fängt eben das Bestreben an, solche Stücke zu bringen, mit denen man möglichst viel verdienen kann. Das Kunstinstitut hört auf, ein solches zu sein, und wird ein auf möglichst großen Erwerb bedachtes Unter­nehmen.

Ein solches hat nun unser Burgtheater nie zu sein brauchen; das Deutsche Volkstheater hätte es nie werden sollen. Es gibt nämlich in Wien noch immer Leute genug, die Sinn für höhere Ziele in der Kunst haben, um zwei Theater jeden Abend zu fül­len; man muß ihnen nur den Zugang zu diesen Theatern nicht unmöglich machen. Das Burgtheater nun aber sowohl wie das

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Volkstheater haben es verstanden, gerade jenes Publikum auszu­schließen, für das sie so recht bestimmt sind.

Durch die unerschwinglich hohen Preise und namentlich durch die Einführung des Stammsitz-Abonnements hat sich das Burgtheater ein Publikum geschaffen, das wohl meistens Geld, aber nicht immer Kunstverständnis hat. Frivolstes Unterhaltungsbedürf­nis ist da an die Stelle des Kunstsinnes getreten. Man mißverstehe uns nicht! Denn wir verkennen die ja ganz bedeutsamen Errun­genschaften des Burgtheaters in der letzten Zeit durchaus nicht. Es ist einem Manne die künstlerische Führerschaft übertragen, dessen dramatisches Können die Achtung jedes Einsichtigen for­dert. Jede neue Vorstellung ist ein Beweis dafür. Wir sind auch nicht blind für die Verdienste, die sich dieser Mann durch Neuaufführung klassischer Stücke, wie «Gyges und sein Ring», «Die Jüdin von Toledo», «Lear», erworben hat. Das waren Theaterereignisse ersten Ranges. Ein weiteres steht uns durch die ver­sprochene «Antigone» bevor. Auch sind wir nicht blind für den Gewinn, den das Burgtheater durch den Eintritt einer Kraft ersten Ranges mit Fräulein Reinhold in sein Künstlerpersonal zu ver­zeichnen hat. Aber das Wiener Burgtheater hat denn doch noch eine ganz andere Aufgabe, als alte Stücke in meisterhafter szenischer Einrichtung wieder zu beleben. Das Leben unseres Burgtheaters sollte in innigstem Zusammenhange mit der Entwickelung der dramatischen Literatur der Gegenwart stehen. Aber mit der Förde­rung dieser letzteren hat dasselbe wenig Glück. Es hat in den letzten Jahren an neuen Stücken fast durchaus ganz Wertloses g& bracht. «Cornelius Voß», «Wilddiebe», «Der Flüchtling», «Die wilde Jagd» gehören nicht in dieses Kunstinstitut. Wir sagen es mit schwerem Herzen, aber wir müssen es sagen: sie gereichen demselben zur Schande. Man wende uns nicht ein, die Gegenwart habe nichts Besseres. Das ist einfach nicht richtig. Ein Volk wie das deutsche hat in dem Augenblicke Besseres, in welchem seine ersten Bühnen einen höheren Maßstab anlegen. Versteht es das Burgtheater, sich ein kunstsinniges Publikum zu schaffen, dann werden die deutschen Schriftsteller diesem Theater gute Stücke liefern. Solange aber auf den Stammsitzen der Bildungspöbel sich

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breitmacht und jede ernste Kunstrichtung ablehnt, so lange steht die Leitung des Burgtheaters einer Macht gegenüber, die es hin­dert, wahre Kunstaufgaben zu lösen. Hier liegt das, worauf es ankommt. Warum ist es heute fast unmöglich, eine neue Tragödie aufzuführen? Nicht weil sie kein Publikum finden würde, son­dern weil dasjenige, welches eine solche zu genießen verstünde, durch ein anderes verdrängt wird, dem jeder Sinn dafür fehlt. Die­ses Publikum hat neben dem oberflächlichsten Unterhaltungsbedürf­nis höchstens noch jenes für schauspielerische Virtuosität. Und so kommt es, daß ganz wertlose Stücke gegeben werden, wenn sich in ihnen nur dankbare Rollen, das heißt solche Rollen finden, in denen der Schauspieler durch irgendein besonderes Kunst-stückchen glänzen kann. Wir haben dieses in den «Wilddieben> und im «Flüchtling» bis zur Ekelerregung mitmachen müssen. Was aber noch weit ärger ist, wir mußten es jüngst erleben, daß der literarische Beirat unseres Burgtheaterdirektors von der Lehr-kanzel herab die verwerflichste aller Kunstlehren verkündigte: daß für den Wert eines Dramas die Bühnentechnik allein maß­gebend sei. Damit wird ein Satz aufgestellt, der geradezu den Tod aller dramatischen Kunst bedeutet. Der Dramatiker steht doch wohl unter ganz anderen Kunstgesetzen, als die Rücksicht auf die zufälligen Einrichtungen der Bühne ist. Nimmermeht hat sich der Dramatiker der Bühne, der Dichter dem Schauspieler, sondern stets dieser jenem unterzuordnen. Was dramatisch wertvoll ist, dafür hat eben die Bühnentechnik Mittel und Wege zu schaffen, um es zur Aufführung zu bringen. Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, daß Lehren wie die des Barons Berger, die aller gesunden Ästhetik Hohn sprechen, soviel Zustimmung finden und Auf­sehen machen konnten.

Viel weniger aber als das Burgtheater erfüllt das Deutsche Volkstheater seine Aufgabe. Man konnte von demselben, nach dem, was versprochen worden ist, mit Recht die Pflege jenes dra­matischen Gebietes erwarten, das den breiteren Massen des Publi­kums, jenen Massen, die über keine höhere als die gewöhnliche Schulbildung verfügen, einen höheren geistigen Genuß verschaf­fen kann. Dieses Publikum hätte sich ahmählich gefunden, wenn

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man es gesucht hätte. Da hätte man anfangs freilich darauf ver­zichten müssen, möglichst viel aus dem Theater «herauszuschlagen». Man hätte einen artistischen Leiter mit festem Gehalt an die Spitze, einen tüchtigen Regisseur ihm an die Seite stellen sol­len. Statt dessen hat man das Theater verpachtet, und der Direktor ist darauf angewiesen, «einträgliche» Stücke zu geben. Womit hat man den Anfang gemacht? Mit «Ein Fleck auf die Ehr» war das Haus freilich würdig eröffnet. Es wäre aber einfach ein Skandal gewesen, hätte man nicht Anzengruber das erste Wort gegeben. Dafür war das unmittelbar Nachkommende schlimm genug. Da sehen wir «Maria und Magdalene> von Lindau, dann «Die berühmte Frau» von Schönthan und Kadelburg. Diese Stücke auf dem Volkstheater zu geben, war unerhört. Damit hatte man von vornherein sich ein Publikum geschaffen, das nicht in dieses Theater gehört. «Die berühmte Frau» hat die frivolste und ver­letzendite Tendenz, die man sich denken kann. Sie macht einfach alles geistige Leben der Frau, auch wenn dasselbe aus tiefem inne­rem Bedürfnis hervorgeht, lächerlich. Die Aufgabe der Frau liegt nach diesem Stücke nur darin, zu kochen, zu stricken und - Kinder zu gebären. Das Verwerflichste an der Sache aber ist, daß die Fri­volität hier in geschickter, wirksamer Theatermache steckt, die das Publikum gefangennimmt. Nicht anders ist es mir «Maria und Magdalene», wenn wir auch so viel Schädliches wie der «Berühm­ten Frau» diesem Machwerk nicht nachsagen können.

Mit diesem Anfang war eben vieles, wenn nicht alles verdorben. Was wir noch von einiger Bedeutung erlebten, war die Auffüh­rung des «Wilhelm Tell». Aber gerade an dieser Vorstellung zeigte es sich, wie auch das Künstlerpersonal den Anforderungen durch­aus nicht gewachsen ist, die man notwendig stellen muß. Wir sind ja nicht so töricht, diese Vorstellung mit der großartigen Teil-vorstellung am Burgtheater vergleichen zu wollen, die namentlich durch die Ausgestaltung der Tell-Rolle durch Krastel ein künstle­risches Ereignis ersten Ranges ist; aber das Volkstheater leistete doch gar zu wenig. Szenische Einrichtung so wenig wie künstleri­sche Darstellung erhoben sich bis zur Mittelmäßigkeit. Alles, was das Volkstheater noch Nennenswertes leistete, war eine Aufführung

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des «Pfarrers von Kirchfeld». Das übrige: «Die Rantzau>, «Der Hypochonder>, «Der Strohmann>, «Die Hochzeit von Valeni> waren Stücke eben für das Publikum berechnet, das mit Aufführung der «Berüimten Frau> geschaffen war.

Unsere Bühnen sollten nur einmal den Mut haben, auf ein bestimmtes Publikum zu rechnen, und man würde sehen, daß es kommt.

ZUR BURGTHEATER-KRISIS

#G029-1960-SE027 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ZUR BURGTHEATER-KRISIS

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Sooft bei uns in Österreich irgendeine bedeutende Stelle zu besetzen ist, sind sowohl die dabei maßgebenden Kreise wie auch die sonst so allweisen Herren der Wiener Journalistik ratlos. Immer behaupten sie, es fehle an der geeigneten Persönlichkeit, die ein solches Maß von Wissen und Können in sich vereinigt, um den in Frage kommenden Platz ganz auszufüllen. Gegenwärtig können wir dies wieder an der Direktionskrisis im Burgtheater erfahren. Es müßte uns hange werden um den Rückgang der deutschen Wissen­schaft und Kunst, wenn wir wirklich so arm an hervorragenden Per­sönlichkeiten wären, wie uns ein hiesiger Kritiker jüngst glauben machen will, wenn er sagt: «Und es gibt wohl auch keinen, der die dazu erforderlichen Eigenschaften in sich vereinigte, denn gäbe es einen, so müßten längst alle Blicke auf ihm ruhen. Das Ideal eines Burgtheaterdirektors werden wir auf keinen Fall be­kommen. Wir werden unsere Anforderungen herabstimmen und statt einer ganz geeigneten Persönlichkeit mit einer halbwegs ge­eigneten vorliebnehmen müssen (Edm. Wengraf in der «Wiener Allgemeinen Zeitung» vom 12. Januar d. J. [1890].» Diese Worte sind einfach lächerlich; sie werden an Sinnlosigkeit nur noch von dem übertroffen, was Ludwig Speidel im letzten Sonntagsfeuilleton der «Neuen Freien Presse» schreibt, und das darinnen gipfelt: wir hätten in ganz Österreich und Deutschland außer Baron Berger keinen Mann, der jetzt das Burgtheater leiten kann. Wenn auch diese Auslassung Speidels geradezu an Komik grenzt und schon deshalb bei jedem Einsichtigen nur ein Lachen bewirken sollte, so

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können wir sie doch nicht für so ganz ungefährlich halten. Denn Speidels Einfluß auf die maßgebenden Kreise des Burgtheaters ist groß, und auf sein Wort wird gehört. Wir wissen nicht, wo­durch dieser Kritiker einen solchen Einfluß gewonnen hat. Es klingt das für die hiesigen Ohren geradezu ketzerisch, aber es muß doch einmal gesagt werden: Speidels Ruf ist ein großenteils ge­machter. Er schreibt so, wie das einem gewissen Teile des Wiener Publikums gefällt, geistreichelnd, witzig, aber er ist ohne alle Gründlichkeit; er hat weder Kunstprinzipien, noch einen geläuter­ten, gefestigten Geschmack. Man bewundert den Stil Ludwig Spei­dels. Im Grunde ist das aber doch nur ein etwas besserer Zeitungs-stil, der oft die Wahrheit dreht und wendet, um einen Absatz mit einer witzigen Wendung abzuschließen; das gefällt dann, und man fragt nicht weiter, ob das Behauptete auch wahr ist ... Wir fürch­ten es nun, daß, wie so oft, auch diesmal die Stimme dieses Man­nes erhört werden wird. Aber diesmal wäre es am gefährlichsten. Denn unser Burgtheater steht tatsächlich vor einer großen Gefahr. Es ist vor allem in Gefahr, mit dem Lustspiel vollständig zu ver­flachen. Was wir in dieser Richtung in der letzten Zeit zu sehen bekamen, welche Geschmacksrichtung sich darin aussprach, darauf wurde erst vor kurzem in diesen Blättern hingedeutet. Es war zu­meist ganz wertlose Theatermache, aber es wurde vortrefflich ge­spielt. Die Schauspielkunst scheint sich in der Tat in unserm Burg-theater von der dramatischen Kunst vollständig emanzipieren zu wollen. Nicht wenig hat dazu noch beigetragen, daß der verstor­bene Förster eben viel bedeutender als Regisseur denn als Drama­turg war. Hierinnen liegt ein Fingerzeig, was bei der Wahl des künftigen Direktors vor allen andern Dingen in Betracht kommt. Es wird sich jetzt um einen Direktor handeln, der Einsicht und Verständnis genug besitzt, um aus der dramatischen Literatur der Gegenwart das wahrhaft Wertvolle, das Bleibende herauszufinden, und der das hat, was man «ästhetisches Gewissen» nennt, das ihm verbietet, bloßen Stückefabrikanten wie Schönthan, Herzl, Fulda, Blumenthal den Eingang ins Burgtheater zu gewähren. Von Män­nern wie v. Werther, Savits können wir uns das nimmermehr versprechen. Sie würden gewiß vortreffliche Regisseure sein, aber

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sie dürften am wenigsten von dem Fehler frei sein, um dankbarer Rollen willen schlechte Dramen aufzuführen.

Wir haben es ja gesehen, wie gerade in der Zeit, wo ein Büh­nenroutinier wie Sonnenthal das Burgtheater leitete, der obige Irrtum am tiefsten Wurzel faßte. Bei all seiner Bedeutung als Schauspieler und Regisseur fehlt Sonnenthal jedes Verständnis für die dramatische Kunst. Das fürchten wir auch von v. Werther und Savits. Es wurden noch die Namen Spielhagen, Paul Heyse und Hans Hopfen genannt. Die beiden ersteren würden wohl einer Berufung kaum Folge leisten; Hans Hopfen aber ist in seinem ganzen literarischen Wirken viel zu oberflächlich, als daß das Burgtheater etwas von ihm erwarten könnte. Auch wurde mit Recht bemerkt, daß diese letzteren drei Persönlichkeiten sich viel zu wenig in der dramatischen Kunst umgesehen haben, um der zweiten Aufgabe gewachsen zu sein, die dem künftigen Burg-theaterdirektor zufällt: Ordnung im Personalstand zu schaffen. Unsere wahrhaft guten Kräfte sind alt geworden und bedürfen bald eines Ersatzes. Unsere jüngeren sind bis auf Fräulein Rein­hold fast durchaus unbedeutend. Hier muß einfach aufgeräumt werden. Der künftige Direktor wird gegenüber mancher jungen schauspielerischen Kraft die Energie haben müssen, zu sagen:

«Dich kann ich nicht brauchen; es muß Platz geschafft werden für Besseres.»

Was soll es nun, wenn gegenüber diesen dringenden Bedürfnis­sen der Wiener Hofbühne Speidel für seinen Schützling, Baron Berger, nur die Empfehlung aufzubringen vermag: er kenne die Verhältnisse am Burgtheater, er habe sich während der Zeit seines Sekretariats gerade den Sinn für das Spezifische der «Wiener» Schauspielkunst aneignen können. Das ist kleinlich. Wir aber brauchen einen Mann mit einem Blick ins Große, mit voller ästhe­tischer und dramaturgischer Einsicht. Das ist Baron Berger nicht. Er hat in seinen hiesigen Universitätsvorlesungen geradezu ge­zeigt, daß er von der Stellung der Schauspielkunst zur Dramatik falsche Begriffe hat; er hat gezeigt, daß er wohl Vorlesungen im Feuilletonstil und in blendender Rede zu halten vermag, nicht aber, daß er die deutsche Kunstanschauung sich angeeignet hat.

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Was aber Ludwig Speidel nicht zu wissen scheint, denn er geht über dessen Namen nur ganz flüchtig hinweg, das ist, daß wir tatsächlich einen guten dramaturgischen Schriftsteller besitzen, der in den letzten Jahren mit jeder neuen Publikation zeigte, dass er gewachsen ist, das ist nun Heinrich Bulthaupt. Mit feinem Ver­ständnis für die innere Technik und Ästhetik des Dramas aus­gestattet, können sich auch wenige mit ihm messen, was eindrin­gendes Verständnis für die schauspielerische Kunst betrifft. Wenn ihm Ludwig Speidel vorwirft, er zeige wenig Verständnis für die Eigenart gerade der Burgtheater-Schauspielkunst, so haben wir dazu mancherlei zu sagen. Erstens hat diese Kunst gewisse große Vorzüge, denen sich gerade ein Mann wie Bulthaupt nicht ver­schließen kann; zweitens aber hat sie Unarten, Fehler, die wohl Bulthaupt, nicht aber Ludwig Speidel sehen kann, weil er sie mit großgezogen hat. Und endlich kommt noch dazu, daß Bulthaupt an dramatischer Einsicht seit jener Publikation über das Münche­ner Gesamtgastspiel, auf welche Speidel seine Ansicht stützt, so gewachsen ist, daß man sein jetziges Können nicht mehr nach jener Schrift, sondern nach seinen letzten, ganz außerordentlichen Publikationen über die «Dramaturgie der Oper> und die Drama­turgie unserer Klassiker beurteilen muß.

«Ja, aber müssen wir denn durchaus in die Fremde gehen; fin­den wir denn in Wien keinen geeigneten Mann?>, so hören wir die Anhänger einer gewissen literarischen Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit rufen. Ohne auf die Abgeschmacktheit dieser Rede weiter einzugehen, möchten wir doch bemerken, daß man uns in Wien den Mann zeigen solle, der die oben gestellten Be­dingungen erfüllt. Man nennt verschiedene Namen: Friedrich Uhl zunächst, dann in letzter Zeit sogar: Ganghofer, Schwarzkopf, Hevesi und Müller-Guttenbrunn. Von Ganghofer, Schwarzkopf und Hevesi brauchen wir nicht weiter zu reden. Was Uhl betrifft, so müssen wir sagen, daß seine Kritiken in der «Wiener Zeitung» uns in der Tat augenblicklich als die besten Wiener Theaterkriti­ken erscheinen; allein die anderen sind eben alle auf solcher Stufe, daß mit ihnen überhaupt nicht ernstlich gerechnet werden kann. Dadurch ist aber jemand doch noch nicht vorherbestimmt zum

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Burgtheaterdirektor. daß er gegenüber grenzenloser Unwissenheit und Geschmacklosigkeit ein allerdings feines und geläutertes Ur­teil besitzt. Was nun Müller-Guttenbrunn betrifft, so hätten wir uns seinerzeit gefreut, ihn an der Spitze des Deutschen Volks-theaters zu erblicken: jetzt, da er mit der Moral und der Ent­rüstung über die Mittelmäßigkeit der Leistungen jenes Theaters im Munde das schlechte Stück «Die Hochzeit von Valeni» lobt, sind wir davon zurückgekommen. Für das Burgtheater scheint uns seine Kraft aber überhaupt zu gering.

Wir geben uns nicht der Hoffnung hin, daß die Krisis im Burgtheater im oben angedeuteten Sinne gelöst wird; wir wissen dann aber auch, daß nicht aus Mangel an einer geeigneten Per­sönlichkeit für die Direktion des Burgtheaters die Wahl eine schlechte sein wird, sondern aus Mangel an jenen Persönlichkei­ten, die zum Suchen derselben geeignet wären.

UNSERE KRITIKER

#G029-1960-SE031 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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UNSERE KRITIKER

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Wir haben bereits in der vorigen Nummer, als wir über die Direktionsfrage im Burgtheater sprachen, auf die traurigen Ver­hältnisse unserer Zeitungskritik hingewiesen. Wir müssen noch einmal darauf zurückkommen, denn die Schwäche dieser Kritik ist einer der Hauptgründe, warum sich unsere Theater durchaus nicht in gesunder Weise entwickeln können. Sie hat den Nieder­gang des Burgtheaters ebenso verschuldet, wie sie es unmöglich macht, daß sich das Volkstheater zu einer gewissen künstlerischen Höhe erhebt. Die Kritik hat eine zweifache Aufgabe. Eine gegenüber den Kunstinstituten, die andere gegenüber dem Publikum. Dem Theater gegenüber obliegt es ihr, auf die Darstellung be­fruchtend einzuwirken. Von einer ernsten, auf Prinzipien gestütz­ten Kritik werden die Künstler gerne lernen; von einer nörgelnden, willkürlichen niemals auch nur das geringste. Aber auch das Publikum wird sein Urteil im Vergleiche mit dem des Kritikers gerne heranbilden, seinen Geschmack läutern, wenn es weiß, daß

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es einer Kritik gegenübersteht, die auf Kunsteinsicht gegründet ist. Unserer Theaterkritik fehlt nun dieser notwendige Untergrund vollständig. Deshalb ist sie für den Schauspieler sowie für das Publikum ohne allen Wert. Wie kläglich es mit dieser Kritik be­stellt ist, können wir ja immer dann beobachten, wenn sie einer Aufgabe gegenübersteht, zu der wahres Wissen und echte Ge­schmacksbildung erforderlich ist, wo mit dem Phrasengeflunker des unwissenden Zeitungsschreibers eben nichts anzufangen ist. Ganz abgesehen von älteren Beispielen erinnern wir uns nur an einige der jüngsten, an die Aufführungen von «Galeotto», «Gyges und sein Ring» und an die «Jüdin von Toledo». «Galeotto> ist eine der großartigsten dramatischen Schöpfungen. Das Stück ist von feiner psychologischer Wahrheit und läßt uns Konflikte sehen, die einen tiefen Blick in das Menschenherz gewähren. Die Wiener Kritik war dieser Größe gegenüber einfach stumpf. Sie ahnte nicht, daß der spanische Dichter ein Problem erfaßt und mit gewaltiger Kraft dramatisiert hatte, das zu den feinsinnigsten gehört, die sich nur irgendein Künstler stellen kann. Mit einer auch selbst bei dem weniger Gebildeten unglaublichen Oberfläch­lichkeit des Urteiles wurde auf das Gräßliche, Aufregende ver­wiesen, welches die Nerven erschüttert! So spricht eben nur der, welcher von der furchtbaren Gewalt der seelischen Kräfte gar nichts ahnt, die in den Personen des Stückes wirken. Nur wer diese erschütternde Tragik voll durchempfinden kann, der weiß auch, welche Wahrheit die so aufregenden äußeren Vorgänge haben. Ebenso ratlos stand unsere Kritik vor «Gyges und sein Ring». In diesem Drama erhob sich Hebbel zu einer Höhe der Anschauung, auf die ihm nur der folgen kann, der ein Bewußt­sein davon hat, wie die Naturgewalten in der menschlichen Seele sich kreuzen und bekämpfen, wie in jeder Menschenbrust eine Wiederholung des Lebens im Universum sich vollzieht

Es ist ein tief mystischer Gedanke, dem wir in diesem Drama begegnen. Zwar hat Hebbel im Drama selbst einmal mit Fingern darauf hingedeutet, daß seine Schöpfung in diesem Sinne aufzu­fassen, von diesem Standpunkte aus zu beurteilen ist; allein solche Hinweise sind für unsere Kritiker zu zart. Sie zu begreifen, müßte

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man eben gründliche Bildung haben. Und so mußten wir denn hören, wie gegenüber Hebbels kosmischer Dichtung die kleinlich­sten Fragen gestellt wurden, wie: ob denn die Gestalten möglich sind, ob der Schluß befriedigt und so weiter. Wenn es sich darum handelt, daß der Kritiker mit seiner Einsicht, mit seinem Verständnisse dem Publikum voranzugehen hat, dann muß er seinen Mann stellen. Um zu wissen, daß der «Zaungast> ein «Tier in übertragener Bedeutung> ist, daß man von einem Blumenthalschen Doktor nicht weiß, welcher Fakultät er angehört, dazu braucht niemand einen Kritiker.

Ein böses Schicksal erfuhr jüngst von der Urteilslosigkeit der Kritiker die «Jüdin von Toledo». Es war ein großes Verdienst des verstorbenen Förster, dieses Stück zur Wiederaufführung zu brin­gen. Denn, wenn es auch nicht das künstlerisch gerundetste, das klassisch vollendetste Drama Grillparzers ist, so ist es doch zweifel­los das interessanteste. Interessant vor allen Dingen ist, wie sich an dem Helden sein Schicksal erfüllt. Der König geht nicht wie ein gewöhnlicher tragischer Held zugrunde, sondern er macht einen Läuterungsprozeß durch. Durch die innere Erfahrung, die er mit dem leidenschaftlichen Judenmädchen gemacht hat, geht ein neuer Mensch in ihm auf. Er streift alles ab, was ihn mit dem bisherigen Leben verknüpft hat, sein Selbst macht eine Metamor­phose durch. Der Tod ist eine viel geringere Sühne als dieses Fort­bestehen bei freiwilligem Aufgeben alles dessen, was bisher die Summe seiner Existenz ausgemacht hat. Er entäußert sich ja auch seiner Souveränität, seiner königlichen Würde. Grillparzer hat da­mit einen großartigen Gedanken des Urchristentums zur drama­tischen Anschauung gebracht. Er hat gezeigt, wie eine tief eingrei­fende innere Erfahrung das ganze oberflächliche Selbst eines Men­schen vernichten kann, ohne daß er physisch zugrunde gehen muß. Das tiefere Selbst ist imstande, sich gegenüber solch einem voll­ständigen Umschwung der moralischen Anschauungen zu be­haupten, das weitere Leben in neuer Form als Pflicht zu betrach­ten und so die höchste dramatische Sühne an sich selbst zu voll­ziehen. Neben dieser Gestalt des Königs steht dann Rahel, das Judenmädchen, als eine nicht minder interessante Erscheinung. Es

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gehört zur höchsten Kunstvollendnng, eine Gestalt wie diese zu zeichnen. Denn Rahel vereinigt in sich die unglaublichsten psycho-logischen Gegensätze, und es ist dem Dichter gelungen, das Ent­gegengesetzte so in einer Person zu vereinigen, daß es mit über­zeugender Wahrheit wirkt. Dieses Mädchen ist frivol und naiv zugleich, kokett und anmutig, sie ist im Herzen angefault und doch wieder unschuldig, sie ist dämonisch und dabei zugleich oberflächlich. Alle diese Widersprüche sind aber zu einem Bilde voller Lebenswahrheit verwebt. Aber man muß dieses Bild auch im Lehen auf sich wirken lassen, um alle seine Reize zu sehen; Rahel konnte nur so lange den König bestricken, solange er sie vor sich sah mit voller Regsamkeit in jeder Faser ihres Körpers. Er mußte sofort zur Besinnung kommen, wenn dieser Zauber der kindlichen Regsamkeit nicht mehr da war. Und darinnen liegt der psychologische Grund, warum er angesichts des Leichnams durch den bösen «Zug um den Mund» geheilt wird. Der Zug um den Mund ist nur das Symbol dafür, wie jene Widersprüche nur durch ein solches Leben glaubhaft und reizend werden konnten. Unsere Kritiker haben sich wohl wenig mit ordentlichen ästhetischen Studien befaßt, deshalb haben sie auch keine Ahnung von der Bedeutung des Symbolischen in dieser Kunst. Feinsinnige Bücher, wie zum Beispiel das von Volkelt «Über den Symbolbegriff in der neueren Ästhetik», systematisch durchzuarbeiten, dazu gehört freilich eine gewisse Bildung. Heute kritisiert man lieber frischweg, wie es Laune und andere Verhältnisse bedingen.

Aber Dichtern wie Hebbel, Grillparzer und so weiter gegen­über genügt nur das Rüstzeug voller ästhetischer Einsicht. Wir haben erst in diesen Tagen wieder einen neuen Begriff von der Tiefe Grillparzerschen Geistes bekommen, als wir das ausgezeich­nete Buch von Emil Reich: «Grillparzers Kunstphilosophie» (Wien 1890) lasen, worinnen man ein Bild der ganzen Kunstanschauung dieses Dichters entwickelt findet.

Wir haben an konkreten Beispielen gezeigt, wie unzulänglich unsere Kritik ist. Wir wollen in einer der nächsten Nummern von dem verderblichen Einflusse dieser Kritik auf den Geschmack und das Kunstbedürfnis des Publikums sprechen.

STILKORRUPTION DURCH DIE PRESSE

#G029-1960-SE035 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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STILKORRUPTION DURCH DIE PRESSE

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Man muß heutzutage sich entweder den unbedingten Lobred­nern alles dessen, was von der Presse ausgeht, anschließen, oder man gilt bei gewissen Leuten als Finsterling und Rückschritts­mann. Wir müssen diesmal, selbst auf die Gefahr hin, mit diesen wenig schmeichelhaften Prädikaten ausgestattet zu werden, einen tiefgehenden, schädlichen Einfluß unseres Zeitungswesens auf unsere Bildung besprechen.

Die Partei, deren politisches Glaubensbekenntnis in diesen Blättern zum Ausdruck kommt, hat die so verwerfliche Korrup­tion der zeitgenössischen Presse wiederholt gegeißelt und war stets auf Mittel bedacht, wie sie eine dem deutschen Volke wür­dige und ersprießliche Entwickelung des Zeitungswesens anbahnen könne. Wenn man dabei von «Korruption> spricht, so hat man aber zumeist nur jene äußere Verderbtheit im Auge, welche dar­innen besteht, daß der Journalist für Geld alles vertritt, daß er jeder Bestechung zugänglich ist. Danebenher geht aber eine innere Korruption der Presse, die sich in ihren Folgen heute schon über­all bemerklich macht. Wir meinen die Korruption des deutschen Stils und der deutschen Sprachbehandlung. Man unterschätze die­sen Umstand nur ja nicht. Insbesondere eine nationale Partei muß Wert darauf legen, daß ihre Anschauungen und Ideen in einer der Nation angemessenen und ihrem Wesen gemäßen Art zum Aus­drucke kommen. Ein entwickeltes, sicheres Sprachgefühl, das jedem Worte, jeder Wendung gegenüber mit Bestimmtheit fühlt: «das ist deutsch oder das ist nicht deutsch», ist ein notwendiges Erfor­dernis jedes gebildeten Deutschen. Von niemandem mehr aber muß man das verlangen als von jenen, die sich zu Vertretern der öffentlichen Meinung aufwerfen wollen. In unseren Wiener Blät­tern, die «tonangebende> «Neue Freie Presse> mit eingeschlossen, finden wir nun aber die gröbsten Verstöße gegen das Sprachgefühl. Wer Sinn und Empfindung für deutsche Art zu sprechen hat, wird, wenn er überhaupt Zeitungen liest, nur entrüstet sein können über die Versündigung an seiner Muttersprache. Er wird finden, daß es fast in jedem Leitartikel der «Neuen Freien Presse»

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wimmelt von stilistischen Verkehrtheiten, von undeutschen Wen­dungen. Sätze, in denen das Subjekt an unrechter Stelle steht, solche, die statt in der leidenden in der tätigen Form stehen, un­richtig angebrachte Partizipien und Nebensätze finden sich in jeder Spalte des genannten «Weltblattes». Jüdisch-mundartliche und andere der deutschen Sprache hohnbietende Wendungen sind in jedem dritten Satze zu finden.

Die deutsche Sprache gehört zu jenen, die, wie die lateinische, ein strenger Ausdruck der Logik sind; sie läßt eine Genauigkeit der Sprechweise wie wenige zu. Unsere Journalistik versteht es, jegliches Ding in dieser Sprache bis zur Unklarheit und Undeut­lichkeit zu verzerren. Unsere Sprache ist schlicht und einfach, das Zeitungsdeutsch geschraubt und geziert. Unsere deutschen Schrift­steller zeichnen sich durch hohe Vornehmheit des Sprachbaues aus; die Journalistik tritt in einer geradezu pöbelhaften Aus­drucksweise auf: verlottert, schlottrig, schleaderhaft. Ganz Europa bewundert an unseren Prosaikern die strenge Gliederung ihrer geistigen Produkte; unsere Zeitungsprosa ist verworren, ohne alle Gliederung, zerfahren. Die Deutschen suchen, wenn sie in ihrer Art sprechen, für einen Gedanken den bezeichnendsten Ausdruck, der den Nagel auf den Kopf trifft; die Journalistik sucht nur nach dem einschmeichelnden Worte, ohne Rücksicht, ob es der Sache auch angemessen ist.

Wer Gelegenheit hat, öffentliche Reden zu hören, der wird bald auch die Früchte dieses Treibens beobachten können. Das Publikum bildet sich unwillkürlich nach diesem Zeirungsdeutsch, und man wird zu seinem größten Erstaunen häufig genug in die Lage kommen, durchaus undeatsche Wendungen aus dem Munde von Leuten zu hören, von denen man es niemals vorausgesetzt hätte. Man glaubt eben gar nicht, welchen Einfluß die Presse auf unser ganzes Geistesleben hat. Gibt es doch eine Unzahl von Menschen, deren Lektüre fast einzig und allein ihr Leibblatt ist. Wir können bemerken, wie mancher gegenständlich ganz und gar einer anderen Ansicht ist als jener in den liberalen Zeitungen, wie aber formell sich sein Geist, seine Sprech- und Denkweise ganz nach diesen richtet. Und dieser Einfluß ist noch viel verderblicher

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als der durch die verwerflichen Ansichten der Blätter selbst aus­geübte, denn er bewirkt eine unbewußte Abkehr von unserer nationalen Eigenart.

Gegenwärtig ist die von uns angedeutete Stilkorruption sogar noch im Zunehmen. Sie dehnt sich allmählich über unsere Bro­schüren- und Fachblattliterarur, ja noch mehr, über einen großen Teil auch unserer Buchliteratur aus.

Wir waren jüngst geradezu entsetzt, als wir mehrere Nummern einer jungen, in Wien erscheinenden Zeitschrift für Volks- und Staatswirtschaft, die ein Herr Theodor Hertzka herausgibt, durch­gingen. Man kann da aufschlagen, wo man will, und der Blick wird auf eine stilistische Ungeheuerlichkeit fallen. Das sind aber nicht etwa Dinge, die nur für den stilistischen Kenner bemerkbar sind, sondern solche, die jeder halbwegs begabte Knabe der vier­ten Gymnasialklasse vermeidet. Ein Gleiches wird man in anderen Fachblättern, namentlich in medizinischen und naturwissenschaft­lichen, finden, wenn man sich überzeugen will. Wer unsere Be­hauptung in bezug auf die Broschürenliteratur anzweifelt, der kaufe sich ein halbes Dutzend politischer oder volkswirtschaft­licher Veröffentlichungen, wie sie hier oder anderswo erscheinen, und er wird sein geliebtes Zeitungsdeutsch wiedererkennen.

Die Sache sei ja ganz richtig, höre ich von verschiedenen Seiten einwenden, aber es sei doch zu bedenken, daß solch ein Zeitungs­artikel für den Tag geschrieben ist und deshalb die Anforderun­gen in bezug auf Korrektheit keine allzu hohen sein können. Das Blatt liegt einen Tag auf und dann verschwindet es für immer. Wie sollte ein Schriftsteller dieselbe Feile an ein solch vergäng­liches Produkt anlegen, die man bei etwas Bleibendem gebraucht? Dieser Einwand ist aber durchaus unberechtigt. Denn wer über­haupt einen gewissen Stil hat, der bekundet ihn, ob er für den Tag oder für die Ewigkeit schreibt. Denn der Stil ist etwas mit dem geistigen Wesen so Verflochtenes, daß ein jeder Gedanke un­bedingt in der dem Schriftsteller gewohnten Weise zum Aus­drucke kommt. Jeder wahrhaft stilbegabte Mensch hat eben nur einen Stil, und in diesem schreibt er, weil er nicht anders kann. Der Grund, warum unsere Journalisten schleuderhaft und undeutsch

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schreiben, liegt nicht darinnen, daß sie nicht besset schrei­ben wollen, sondern daß sie nicht besser schreiben können. Wir wissen ja ganz gut, daß gute deutsche Schriftsteller nicht undeutsch werden, wenn sie einrual in einer Zeitung Artikel ver­öffentlichen. Oder ist der Ästhetiker Vischer nicht immer derselbe Mann des kernhaften, wahrhaft deutschen Stiles, ob er über Gegenstände der Wissenschaft oder ob er über «Fußfiegelei auf der Eisenbahn» schreibt? Wie fein und vornehrn schreibt zum Beispiel Josef Bayer, wenn er auch nur einen Zeitungsartikel bringt; wie schlicht und einfach schreibt so mancher, dessen Worte geradeso mit dem Tage verschwinden wie die des Repor­ters. Aber gute Stilisten müssen sich eben verleugnen, wenn sie anders schreiben wollten, als es in ihrer Eigenart liegt.

Daß das besprochene Übel auch schon in unsere Schul- und wissenschaftlichen Hilfsbücher seinen Einzug gehalten hat, wollen wir nur beiläufig erwähnen.

Müssen wir uns nun auch sagen, daß die Stilkorruption augen­blicklich im Zunehmen ist, so sind wir doch nicht ohne Hoffnung für die Zukunft. Mit der Erstarkung der nationalen Partei, die auf der Grundlage echten Volkstumes aufgebaut ist, muß auch hier eine gedeihlichere Entwickelung eintreten. Die unvolkstüm­liche Schreibweise ist ja vielfach nur eine Begleiterscheinung der altliberalen, ebenfalls unvolkstümlichen Gesinnung und wird mit dieser wohl auch verschwinden.

EIN BUCH ÜBER DAS WIENER THEATERLEBEN

#G029-1960-SE038 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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EIN BUCH ÜBER DAS WIENER THEATERLEBEN

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Wiederholt haben wir in diesen Blättern auf den Niedergang des Theaterlebens in unserer Kaiserstadt hingewiesen. Wir haben gezeigt, daß bei den Bühnenleitungen und bei der Kritik das Ver­ständnis, bei dem Publikum die Empfänglichkeit für das künst­lerisch Wertvolle schwindet und nurmehr Bedürfnis nach leichter Ware, nach Sensationsstücken, nach frivoler Unterhaltung vor­handen ist. Das vor kurzem bei Otto Sparner in Leipzig erschienene

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Buch von Adam Müller-Guttenbrunn beschäftigt sich nun eingehend mit diesem Gegenstande. Das Buch will Protest erheben gegen die Entwickelung, die unser Theaterleben in den letzten Jahren genommen hat; es will durch objektive Untersuchung der Fehler, die gemacht worden sind, Anhaltspunkte für eine Heilung gewinnen. Das Buch muß als eine mannhafte Tat bezeichnet werden, dem man auf jeder Seite ansieht, daß es seinem Verfasser, der sich seit Jahren mit den ein­schlägigen Verhältnissen beschäftigt, mit dem Kunstleben tiefer Ernst ist. Wir finden mit scharfen Worten die augenblickliche Lage charakterisiert: «Das Burgtheater steht vor dem bürokrati­schen Abenteuer einer Direktion Burckhard, das Deutsche Volks-theater ist eine Erwerbsquelle ohne künstlerisches Gepräge gewor­den, das Theater an der Wien und das Carl-Theater haben ihr verlorenes Gleichgewicht erst wieder zu finden. Wie ein Fluch lastet auf unserem Theaterleben der Mangel an historischem Sinn, die Nichtachtung der Überlieferung, und es ist eine der vornehm­sten Aufgaben dieser Schrift, den historischen Sinn im Wiener Kunstleben zur Geltung zu bringen, den Wert der Überlieferung darzulegen.» Was Müller-Guttenbrunn mit diesem «historischen Sinn» meint, bedarf einer Erläuterung. Ein Theater entstand in der Regel mit einer ganz bestimmten Aufgabe, es diente einem beschränkten Kunstgebiet. Nur so konnte es ja wirklich bemer­kenswerte Künstler anstellen und Gutes leisten. Je weiter es den Kreis für seine künstlerischen Leistungen zieht, desto mehr Künstler braucht es; es wird dieselben dann viel müßig gehen lassen müssen, was nur bei mittelmäßigen Kräften denkbar ist Nur wenn ein Kunstinstitut seiner ursprünglichen Bestimmung treu bleibt, wenn es nicht über den Kreis, den es sich gezogen hat, hinaustritt, um mit den anderen Theatern zu konkurrieren, nur dann wird es fortdauernd dem Publikum ein Bedürfnis sein. Wenn aber die Überlieferung hintangesetzt wird und alle Theater in den gleichen Aufgaben miteinander zu wetteifern beginnen, dann arbeiten sie alle ihrem Ruin entgegen. So konnte das Carl­Theater nicht zu einer gedeihlichen Entwickelung kommen, weil es nicht bei seiner ursprünglichen Aufgabe, dem Pariser Schwank,

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stehengeblieben ist, sondern mit dem Stadttheater und dem Wiedener-Theater konkurrieren wollte; das Wiedener-Theater, als Operettenbühne groß geworden, wetteiferte mit den anderen, ja in letzter Zeit sogar mit dem Volkstheater. Unrecht ist es ferner von unseren Hofbühnen, wenn sie sich mit der Aufführung von Stücken befassen, die sie den Privattheatern überlassen sollten. Das Burgtheater führt französische Sensationsdramen auf, die nur ins Carl-Theater gehören, und von der Hofoper bemerkt Müller­Guttenbrunn treffend: «Die Hofoper hat heute dieselbe Auf­saugungskraft wie das Burgtheater, und wie hier die Pflege der großen Dichtung oft der Pflege der Pariser Kassenmagnete wei­chen muß, so tritt in der Hofoper nicht selten alles vor dem modernen Ausstattungsballett zurück. , , , beherrschen ganze Spiel-jahre, und neuestens nimmt auch die Spieloper einen breiteren Raum im Jahresplan ein, ja selbst mit einer alten Operette von Suppé ) ist ein Versuch gemacht worden.»

Was Müller-Guttenbrunn fordert, ist strenge Teilung in den Leistungen der Theater, wobei die beiden Hofbühnen ihre finan­ziell günstigere Lage dadurch ausnützen sollen, daß sie sich aus­schließlich künstlerische Aufgaben stellen. Scharf tadelt der Ver­fasser, daß das Bewußtsein dieser Pflicht bei der Leitung dieser Hofanstalten fast gänzlich geschwunden ist. Er sagt: «Im Wiener Hofopernhaus ist Raum für die Bachrich, Pfeffer, Hager und Robert Fuchs und keiner - doch nein, die Zurückgesetzten wol­len wir nicht nennen.» Und ebenso trefflich spricht er sich in bezug auf die Aufführungen selbst aus: «Der Schwerpunkt liegt im äußeren Glanz, im Pomp, und das Publikum ist dadurch so verwöhnt worden, daß die Hofoper heute die absolute und allei­nige Beherrscherin des Ausstattungsstückes der Kaiserstadt ist. Eines der inhaltslosesten und krassesten Machwerke der zeitgenös­sischen Oper, der , beherrscht als Neuheit das Spieljahr 1889/90, die prunkvolle Ausstattung trägt das nichtige, fast unverständliche Textbuch...> «Und geradezu als eine barba­rische Erscheinung muß es bezeichnet werden, daß die einaktigen,

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mit allem Glanz ausgestatteten Ballette auf unser Opernpublikum einen so verheerenden Einfluß ausgeübt haben, daß ganze Spielopern, selbst , vor halbleeren Häusern aufgeführt werden, denn man kommt erst zum , zum des Abends ins Haus!» Beherzigenswert sind auch die Worte Müller-Gutten­brunns über den Personalstand der Hofoper: «Hoch steht im all­gemeinen die Künstlerschaft der Wiener Hofoper. Ihr Orchester ist einzig in der Welt, und ihre Gesangskräfte werden fortwährend aus dem besten Stimmaterial Europas erneuert... Die Mängel im personalstand der Wiener Hofoper sind freilich trotz alledem nicht zu verhüllen. Es fehlt uns gegenwärtig ein poetischer erster Bariton, es fehlt uns vollständig eine Meisterin des kolorierten Gesanges. Man ließ Fräulein Bianca Bianchi ziehen, machte das klägliche Experiment Broch und verschrieb sich jetzt Fräulein Abendroth. Diese Sängerin bedeutet aber in der Hofoper genau das, was Fräulein Swoboda im Burgtheater bedeutet - sie ist gänzlich unreif, sie gehört ins Konservatorium. Auch fehlt es für Frau Materna an einer Nachfolgerin, und diese ist fast nötiger als jene für Frau Wolter im Burgtheater... Auch unser meistbeschäf­tigter Tenor, Herr Georg Müller, singt am Ende seiner Laufbahn; unser Buffo Mayerhofer ist über dieses Ende hinausgediehen; er singt seit zehn Jahren ohne Stimme. Wer unsere Oper auf ihrem Höhepunkt sehen will, darf bloß eine -Aufführung anhören; wer sie auf ihrem Nullpunkt kennenlernen will, der höre , von den Herren Müller und Horwitz und Fräulein Abend­roth gesungen. Mit großen Hoffnungen trat Herr van Dyk bei uns ein; aber er hat es in anderthalb Jahren bloß zu drei Rollen gebracht.» Wir haben diese Urteile Müller-Guttenbrunns über die Hofoper deshalb ausführlicher zitiert, weil sie uns beweisen, daß der allgemeine Kunstniedergang auch dieses Institut nicht verschont hat, und weil gerade dieses Kapitel des in Rede stehen­den Buches uns am sorgfältigsten gearbeitet erscheint. Hier dringt der Verfasser ungleich mehr in die Sache ein als in den übrigen Abschnitten. Ich tadle ungern, am wenigsten lieb aber ist es mir, einen Tadel aussprechen zu müssen einem Buche gegenüber, das unstreitig große Vorzüge hat. Aber es ist ein Grundmangel vorhanden,

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der die Wirkung, die das Buch sonst haben müßte, un­möglich machen wird. Das ist sehr zu bedauern.

Dieser Mangel tritt uns bei dem Kapitel über das Burgtheater mit besonderer Deutlichkeit entgegen. Die Behandlung bleibt eine äußerliche. Der Standpunkt, den der Verfasser einnimmt, ist ein mehr geschäftlicher denn ein rein ästhetischer. Wir wollen dem ersteren seine Berechtigung nicht streitig machen, aber der letz­tere müßte doch auch seine gebührende Berücksichtigung finden. In einem Buche über das Wiener Theaterleben hätten wir auch eine Beurteilung der Wiener Schauspielkunst erwartet. Denn an dem allgemeinen Niedergange des Theaterlebens trägt die Ent­wickelung des Schauspielwesens selbst einen guten Teil der Schuld. Unsere Wiener Darstellungskunst hat zwei lebende Vor­bilder: Sonnenthal und die Wolter. Beide sind in ihrer Art bedeutend, können hinreißend wirken, aber beide sind ihten Nachahmern gefährlich. Denn Sonnenthal wie die Wolter haben große Fehler, aber diese werden durch ihre natürliche künstle­rische Anlage vollständig übertönt. Bei ihren Nachahmern treten sie vergrößert ans Tageslicht und können sogar den Widersinn aller schauspielerischen Kunst erzeugen. Sonnenthal ist ein großer Schauspieler, aber er spielt doch manieriert, er spielt nicht den Menschen, sondern den Schauspieler. Daher kommt es, daß Sonnen­thal da am größten ist, wo er Leute darzustellen hat, die schon im Leben Komödie spielen. Sonnenthals Manieriertheit ist aber ge­tragen von dem Künstler, deshalb hört bei ihm die verstandes­mäßig ausgedachte Gebärde auf, eine solche zu sein. Man vergißt daran, daß so vieles an diesem Künstler «gemacht> ist. Wo aber die Sonnenthalsche Widerkunst, die Manieriertheit mit all ihren Fehlern, zutage tritt, das ist bei Robert. Bei diesem Schauspieler fehlt die künstlerische Seele, bei ihm ist jeder Ton, jeder Hand­griff «studiert>, er ist schauspielerischer Techniker, ohne eigent­lich Künstler zu sein. Und diesen Fehler bemerken wir fast bei allen jüngeren Künstlern unseres Burgtheaters. Sie verstehen es nicht, sich von Sonnenthals Schule frei zu machen. Wir wünschen deshalb dem Theater einen Direktor, der den Mut hätte, sich über Sonnenthal ein eigenes Urteil zu bilden, und den jüngeren Künst­lern

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das wäre, was ihnen Sonnenthal nie werden kann. Wir haben damit zugleich auf eine der wesentlichsten Schattenseiten einer etwaigen Direktion Sonnenthals aufmerksam gemacht. Was nun die weiblichen Kräfte des Burgtheaters betrifft, so bemerken wir in ihnen viel zu sehr Wolterschen Einfluß. Die Wolter ist gewiß eine unvergleichliche Künstlerin. Aber das Große an ihr kann ihr nicht nachgemacht werden, und was ihr nachgemacht werden kann, ist kunstwidrig. Die Wolter spricht großartig, schon der Klang ihrer Stimme erhebt die Rolle in ein ideales Gebiet. Aber sie spricht doch sprachwidrig, unkorrekt. Die Wolter spielt mit ideali­schem Schwunge, aber sie bewirkt diesen durch Mittel, die, an sich betrachtet, jeder ästhetischen Beurteilung spotten. Wir möch­ten das besonders in bezug auf Fräulein Barsescu gesagt haben, die ihr bedeutendes Talent sich nicht damit verderben sollte, daß sie die Wolter nachahmt. In dieser Richtung haben wir den kritischen Blick bei Adam Müller-Guttenbrunn durchaus vermißt.

Besonders interessiert hat uns jener Teil des Buches, der über das Deutsche Volkstheater handelt. Denn diese Anstalt muß ja dem Verfasser, der ein wesentliches Verdienst um ihr Zustande­kommen hat, besonders am Herzen liegen. Sehr zutreffend be­merkt er: «Die fehlerhafte, gänzlich unzulängliche Führung des Deutschen Volkstheaters, das sich seit sechs Monaten der wärmsten Teilnahme des Wiener Publikums erfreut und eine für Herrn Geiringer geworden ist, läßt sich nach allen Richtungen erweisen. Der Personalstand ist noch heute eines Wiener Thea­ters unwürdig. Es fehlt ein Erster Liebhaber, ein Heldenvater, eine Heroine, eine Naive, eine Soubrette. Die Salondame ist ein un­bekanntes Wesen auf dieser Bühne, das Fach eines Zweiten Lieb­habers liegt in den Händen eines Chargenspielers. Ein Regisseur oder Dramaturg ist nicht vorhanden.> Auch das Repertoire findet Müller-Guttenbrunn völlig unzureichend. , dreiundzwanzig Aufführun­gen der und ebenso viele vom Schönthans bezeichnen hier die Lage. Achtzig Tage für Schönthan und Ganghofer-Brociner, hundert für die gesamte übrige Literatur, wer lacht da?» Wir sind mit alledem vollkommen einverstanden,

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können aber doch eines nicht unterdrücken. Wir hätten von Adam Muller-Guttenbrunn erwartet, daß er nach der Aufführung eines Schandstückes, dessen Aufführung wegen seiner groben Mache und seiner rohen Anschauungen geradezu ein ästhetischer Frevel war, der «Hochzeit von Valeni», einfach das Wort ausgesprochen hätte: Dieses Stück muß vom Spielplan verschwinden. Vielleicht wäre es doch möglich gewesen, die von ihm jetzt gerügten «mehr als dreißig Aufführungen» beträchtlich an Zahl zu verringern. Statt dessen hätschelte er das Stück in einem ganzen Feuilleton in der Weise, die wir in diesen Blättern schon besprochen haben. Was wir also von dem Buche eigentlich gewünscht hätten, das er-füllt es doch nur zum Teil, wenn auch für diesen Teil in außer­ordentlichem Maße. Was ihm aber jene imponierende Stellung hätte geben können, die wir ihm gewünscht hätten: die leitenden Kreise zur Einkehr zu zwingen, das fehlt ihm. Es wäre ein Betonen des künstlerisch-ästhetischen Standpunktes gewesen, der verraten hätte, daß der Verfasser auf der Höhe der Kunstanschauung der Gegenwart steht und deswegen das volle Recht hat, die einschlägigen Fragen zu beurteilen. So, wie es jetzt vorliegt, wird es vielleicht nicht einmal das Verderblichste verhindern köunen, was Wien und seiner Kunst droht: die Direktion Burckhard.

DIE ALTEN UND DIE JUNGEN

#G029-1960-SE044 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DIE ALTEN UND DIE JUNGEN

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Wer durch Betrachtung der geschichtlichen Vergangenheit zu einer Ansicht darüber gelangt ist, wedurch Völker und Zeitalter Großes und Bedeutendes geleistet haben, der kann sich wohl des bittersten Gefühles nicht erwehren, wenn er heute um sich blickt und das geistige Treiben der Welt ansieht. Sie sieht recht altväterlich aus, die Klage, in die wir hier ausbrechen, das wissen wir. Aber wir geben uns der Hoffnung hin, daß es noch Sinn genug für die naturgemäße Entwickelung der Völker und Men­schen

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gibt, um für diese Klagen Gehör zu finden. Es sind nicht die Klagen des «Alten>, der die «Jungen> nicht mehr verstehen will und kann, weil er aus seinen historisch übernommenen Vor­urteilen nicht heraus kann, sondern es sind die Klagen eines «Jun­gen», der nur nie die Überzeugung gewinnen konnte, daß die «Grünheit>, die Unwissenheit und Bildungslosigkeit mehr wert seien als ein an den großen Vorbildern der Vergangenheit geschul­ter Geist.

Jüngst hat uns einer der «Jungen» den weisen Rat gegeben:

wir könnten uns doch vertragen. Die Jugend läßt dem Alter die französischen Hauslehrer, die Salondamen und so weiter; man solle ihr nur auch ihre abgebrauchten Kellnerinnen, bescheidenen Zu­hälter und Trunkenbolde überlassen. Wir verstehen diesen Frie­densvorschlag nicht recht. Denn nach den abgebrauchten Kellne-rinnen und so weiter haben wir nie ein Begehr gehabt; sie bleiben also den «jungen Herren». Wenn aber die völlige Unreife solches ästhetisches Gesudel vorbringt, um ihr wahnwitziges Schmutz-geschreibsel als der gediegenen Kunst gleichberechtigte Richtung zu rechtfertigen, dann verwahren wir uns gegen solche Beschimp­fung des deutschen Volksgeistes. Die deutsche Nation darf es nim­mermeht dulden, daß sich in ihrer Mitte Leute den Ehrennamen eines Dichters geben, die in ihren Schreibereien und Reimereien sich mit Dingen zu tun machen, die beim Lesen in uns nichts hervorbringen als die Suggestion widerlichen Geruches.

Wir würden uns um das in Rede stehende Gelichter nicht wei­ter kümmern, es einfach als den Schreibepöbel links liegen lassen, wenn wir nicht doch in seinem Auftreten eine eminente Gefahr erkannt hätten. In wenigen Zeirperioden nämlich herrschte eine solche Abneigung gegen Gründlichkeit und Vertiefung wie in der heutigen. Wo eine geistige Einkehr, eine ernste Beschäftigung mit Problemen notwendig ist, da wendet sich der mederne Mensch ab. Das macht wahrscheinlich, weil der Liberalismus durch viele Dezennien seinen «bildungs- und fortschrittfreundlichen Einfluß »geübt hat! Wenn nun diesen geistig trägen und den ideellen In­teressen gleichgültig gegenüberstehenden Menschen solche banale Kost geboten wird wie zum Beispiel neuestens in der «Modernen

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Dichtung> und in ähnlichen Zeitschriften und dabei mit der Prä­tention, das bedeute geradesoviel wie jene schwierigen Geistes-aufgaben eines besseren Zeitalters, dann wächst ihr auf nichts ge­stütztes Selbstbewußtsein. Sie hält ihre Borniertheit für Größe.

Nach unserer Ansicht ist diese «Moderne» nichts als das wahn­witzige Gefasel des unreifen und ohne von dem Streben nach der Reife beseelt auftretenden Geschlechtes. Diese «Modernen» ver­achten das Alte nicht aus Erkenntnis, aus tieferen Gründen, son­dern aus Unkenntnis. Und diese Unkenntnis ist die Frucht jener Faulheit, die nie etwas Ordentliches hat lernen wollen.

Nur wer des Alten Meister geworden ist, wer es in sich auf­genommen und sich von ihm hat sättigen lassen, hat ein Recht, von einer Sehnsucht nach dem Neuen zu sprechen. Wenn eine Gedankenrichtung und Kunstströmung sich ausgelebt hat, wenn sie all die geheimen, in ihrem Innern schlummernden Keime zur Entfaltung gebracht hat, dann tritt sie von selbst ab von dem Schauplatze der Geschichte, dann gebiert sie das Neue aus sich heraus. Es ist geradezu empörend, wenn sich die grüne Jugend diese ihre «Grünheit» zum Verdienste anrechnet, wenn sie die­selbe als einen Vorzug, als etwas Besonderes in Anspruch nimmt. Nein, liebe «junge Herren», grün war die Jugend immer, aber nie­mals so frech wie heute. Es haben auch immer zwanzigjährige Bur­schen Gedichte und dergleichen geschrieben, aber es ist ihnen sonst nicht eingefallen, sich zu Trägern ganz neuer Epochen selbst auszuposaunen.

Wir wissen die Jugend zu schätzen, weil wir die Kraft lieben. Wir verstehen auch den Sturm und Drang, der übers Ziel schießt, aber wir weisen den jugendlichen, kraftlosen, pöbelhaften Größen­wahn mit Entschiedenheit von uns.

Wahrhaft mit Wehmut muß es uns erfüllen, wenn wir von dieser Seite Urteile über Shakespeare, Goethe, Schiller, Grillparzer vernehmen. Ohne auch nur die leiseste Spur einer Empfindung für geistige Tiefe setzt sich da die Hohiheit zu Gericht, ohne Be­wußtsein davon, daß es eine Gewissenlosigkeit der widerlichsten Art ist, über ein Geistesprodukt zu urteilen, das man nicht ver­steht.

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Was wir den Herren von der Wir wollen hier auf die Einzelheiten nicht eingehen. Denn ob Conrad einen Roman schreibt, in welchem Dinge erzählt werden, die man sonst in abgelegenen Räumen vollbringt, um den Geruchsinn zu schonen, oder ob Hermann Bahr einen Wir wissen wohl, was man in den betroffenen Kreisen über diese Zeilen sagen wird: das schreibt ein Mensch, der noch an­gekränkelt ist von der «alten» Kunstansicht, der noch an dieses Gerümpel von Ästhetik und so weiter glaubt, ein Mensch, dem jedes Verständnis für den Geist des Zeitalters fehlt. Aber meine lieben «Jungen>, das glaubt nur: wenn irgend etwas leicht zu verstehen ist, so seid ihr es. Denn wir anderen brauchen uns nur zurückzuerinnern, was wir verstanden, bevor wir etwas gelernt haben, dann können wir euch erfassen. Von solcher Seichtigkeit, von solcher Unreife lassen wir uns nicht imponieren.

Wenn uns nun aber einer der #SE029-048

wir ihm: wir haben mit dem Gefühle eines Menschen geschrie­ben, der aus sanitären Rücksichten sich bewogen fühlt, ein Wort zu sprechen, wenn ungesunde Elemente ringsherum die Lebensluft zu verpesten drohen.

DRAMATURGISCHE BLÄTTER

#G029-1960-SE048 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DRAMATURGISCHE BLÄTTER

Zur Einführung

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In Deutschland fehlt es an einem Organe, das den Interessen des Theaters gewidmet wäre. Ein solches Organ erscheint als eine dringende Forderung der Zeit gegenüber der Tatsache, daß das Theater eine der wichtigsten Kulturaufgaben der Gegenwart zu erfüllen hat.

Durch diese «Dramaturgischen Blätter» soll ein solches Organ geschaffen werden. Eine ständige und sachverständige Behand­lung der künstlerischen, technischen, juridischen und sozialen Theaterangelegenheiten soll geboten werden. Wer über solche Angelegenheiten ein sachgemäßes Wort reden will, soll in diesen Blättern Gelegenheit finden, seine Ansicht vorzubringen.

Der Plan des Unternehmens stammt von dem früheren Heraus­geber des «Magazins für Literatur», Otto Neumann-Hofer. Er hat bedeutende Sachkenner im Theaterwesen um ihre Ansicht in die­ser Angelegenheit gefragt und überall Zustimmung und freudiges Entgegenkommen gefunden. Die gegenwärtige Leitung des «Ma­gazins» hat diesen Plan zu dem ihrigen gemacht und will nach Kräften an seiner Verwirklichung arbeiten.

Sie hat die große Freude erlebt, daß der «Deutsche Bühnen-verein» den Plan gutgeheißen und in seiner Sitzung vom 17.Ok-tober den «Dramaturgischen Blättern» genehmigt hat, sich als sein Organ bezeichnen zu dürfen. Daß diese an der Spitze der deutschen Theaterverhältnisse stehende Körperschaft zu dem neuen Organ seine Zustimmung gegeben hat und ihm seine kräf­tige

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Förderung angedeihen läßt, betrachtet die Leitung als eine besondere Bürgschaft für das Gedeihen des Unternehmens.

Die Behandlung der künstlerischen und technischen Fragen des Theaters soll vorzüglich zu den Aufgaben der Mit der Kunst selbst liegen uns die Interessen der Persönlich­keiten und Einrichtungen auf dem Herzen, die dieser Kunst ihr Leben widmen. Ihre juridischen und sozialen Interessen wollen wir vertreten. Die Künstler sollen zu den Menschen sprechen, die sie durch ihre Kunst erfreuen.

Der Syndikus des «Deutschen Bühnenvereins», Herr Land­gerichtsrat Dr. Felisch, hat mir die höchst erfreuliche Zusage ge­macht, über die durch den Verein vorgenommenen Schiedssprüche in den «Dramaturgischen Blättern» Mitteilung zu machen.

Berichte über die Vorgänge im Theaterleben, über sachliche und Personenfragen wollen wir unsern Lesern bieten.

Die Aufgabe, welche das «Magazin» für das geistige Leben im allgemeinen zu erfüllen hat, sollen sich die «Dramaturgischen Blätter» im besonderen zu der ihrigen machen.

NACHSCHRIFT zu dem Aufsatz «Das Kölner Hänneschen-Theater»

#G029-1960-SE050 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NACHSCHRIFT zu dem Aufsatz «Das Kölner Hänneschen-Theater»

von Tony Keilen

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Der vorstehende Aufsatz scheint mir für alle diejenigen von dem hochsten Interesse zu sein, die sich für dramaturgische Fra­gen interessieren. Das Wesen der dramatischen und der Schau­spielkunst kann nicht erkannt werden, ohne auf die primitiven Formen dieser Kunst zurückzugehen. Es verhält sich damit ähn­lich wie mit der Entwickelungsgeschichte der Völker. Das Leben der Volksseele erkennen wir dadurch, daß wir sie auf den unter­sten Stufen verfolgen, da, wo sie anfängt, sich zu regen. In die Anfänge des geschichtlichen Werdens müssen wir unsere Blicke wenden. Das hat seine Schwierigkeiten. Die historische Überliefe­rung wird um so mangelhafter, je weiter wir in der Zeit zurückgehen Die Quellen versiegen um so mehr, je weiter wir uns der Vorzeit nähern. Aber es sind uns Volksstämme erhalten, die sich auf primitiven Stufen der Entwickelung heute noch befinden. Sie sind stehengeblieben, während andere Stämme sich weiterent­wickelt haben. An ihnen können wir studieren, in welchen Zu­ständen die heute höher entwickelten Völker sich einst befunden haben.

Nicht anders ist es mit allen Dingen, die der Entwickelung unterliegen. Die Dramatik und die Schauspielkunst stehen heute auf einer hohen Entwickelungsstufe. Ihre primitiven Anfänge haben sich aber in gewissen Veranstaltungen erhalten. Mir hat sich immer etwas von dem Wesen der Dramatik enthüllt, wenn ich die Aufführungen heramziehender Gaukler gesehen habe, die mit einfachen, plumpen Scherzen für wenige Pfennige das Volk belustigen. In diesen Scherzen ist alles Wesentliche enthalten, was wir dramatische Spannung und Auflösung nennen. Die Verwick­lungen, die sich im höheren Drama aus komplizierten Menschen-handlungen, aus psychologischen Verkettungen herstellen, sind in den Grundlinien vorhanden, wenn der Hanswurst mit dem zugehörigen Personale seine Späße vor uns entwickelt. Was uns in

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dem feinsten Drama erregt und zuletzt befriedigt, ist gleichartig mit dem, was die Gaukler auf freiem Felde in primitiver Form vorführen.

Die feinen Verzweigungen der dramatischen Handlung täu­schen uns über die einfachen Elemente hinweg, die bewirken, daß wir in Erregung den Fortgang dessen verfolgen, was auf der Bühne geschieht. Die dramatische Handlung in einer solchen Weise zu entfalten, daß jene einfach wirkenden Kräfte dem Vor­gang zugrunde liegen und ihn beherrschen, ist die Kunst des Dichters.

Die Personen, die in den dramatischen Schöpfungen auftreten, lassen sich auf wenige Grundtypen zurückführen. In roher, ein­seitiger, grotesker Form sind diese Grundtypen in den Vorstel­lungen der wandernden Gaukler enthalten.

Der Dumme, der von allen hintergangen wird; der Schlaue, der allen überlegen ist; der Mutwillige, der Unfug verübt, wo er nur kann, sind solche Grundtypen.

Dem Volke kommt es nicht auf eine individuelle Charakteri­stik einzelner Personen an, sondern darauf, was für Verwicklun­gen entstehen, wenn der Schlaue, der Listige, der Mutwillige und der Dumme einander gegenüberstehen.

Das in obigem Aufsatz geschilderte Hänneschen-Schauspiel repräsentiert eine Stufe der Dramatik, die nur wenig sich über den geschilderten primitiven Zustand erhebt. Die typischen Ge­stalten, die in diesem Schauspiel auftreten, sind Fortbildungen der gekennzeichneten Grundtypen. Und die Verwicklungen sind ein­facher Art; es sind solche, die sich mit Notwendigkeit aus dem Verhältnisse dieser Grundtypen ergeben.

Was sich ereignen muß, weil in der Welt die Dummen. den Gescheiten, die Ehrlichen den Verschmitzten gegenübertreten, stellt die Dramatik dar. Die feinere Charakteristik ist immer nur das Fleisch, das an dem Skelett der einfachen Lebensverhältnisse hängt. Die Hauptwirkung geht von diesem Skelett aus.

Es gibt Stufen der dramatischen Kunst, auf denen die Hand­lung gar nicht genau vorgeschrieben ist. Die Einzelheiten sind da dem augenblicklichen Einfall überlassen. Das ist charakteristisch

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für alle Dramatik. Es beweist, daß es auf diese Einzelheiten gar nicht ankommt. Sie können so oder so sein. Die Hauptsache ist, daß gewisse einfache typische Verwicklungen, ein gewisser Grundzug im Verlaufe der Begebenheiten da sind.

Wir sind erstaunt, wenn wir die dramatische Literatur darauf­hin untersuchen, was in den einzelnen Stücken das eigentlich Wirksame ist. Wir kommen da auf einige wenige Grundverwick­lungen, die in allen Dramen in verschiedener Art variiert sind.

Das Studium der dramatischen Technik müßte auf diese Grund-verwicklungen zurückgehen. Die Strukturverhältnisse der drama­tischen Handlungen müßten untersucht werden. Durch ihre Kennt­nis gelangt man zu einer Art Naturgeschichte der Dramatik. Wir sind noch nicht daran gewöhnt, die Begebenheiten im Drama bloß daraufhin anzusehen, wie diese Strukturverhältnisse sind. Wir hängen zu sehr an dem Stofflichen, an dem, was vorgeht. Es kommt für die Wirkung aber darauf an, wie es vorgeht. Wie ein Drama wirkt, das hängt nicht davon ab, ob eine Verführung, eine Überlistung und so weiter geschieht, sondern wie diese Verführung, diese Überlistung mit den übrigen Teilen der dramatischen Hand­lung zusammenhängt.

Wir interessieren uns für eine im Drama auftretende Person nicht. Aber wir interessieren uns dafür, in welche Lage sie kommt, wenn sie zu andersgearteten Personen in ein Verhältnis tritt.

Ob jemand dumm oder gescheit ist, interessiert uns auch im Leben nicht. Nur wenn wir zu einem Dummen oder einem Ge­scheiten in einem Verhältnis stehen, interessiert uns sein Geistes­zustand. Ist ein solches Verhältnis nicht vorhanden, so geht uns dieser Geisteszustand nur insofern etwas an, als er zur Umwelt in Beziehungen tritt. In dieser Beziehung ist das Drarna das ge­treueste Spiegelbild des Lebens.

Auf den höheren Bildungsstufen sind die Verhältnisse des Le­bens so kompliziert, daß ihre einfache Grundstruktur nicht immer deutlich hervortritt. Bei einfachen, ungebildeten Volksschichten kann diese Grundstruktur beobachtet werden. Ein unbefangener Beobachter kann sehen, wie wenig verschieden die gleichartigen Verhältnisse beim ungebildeten Volke sind. Wie sich ein Bauernbursche

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in eine Bauerndirne verliebt, wiederholt sich in unzäh­ligen Fällen in derselben Weise. Die Unterschiede, die bei diesem Grunderlehnisse in Betracht kommen, sind nur von geringem Belang.

Von diesem Gesichtspunkte aus scheint mir die dramatische Kunst, die unmittelbar aus der Volksseele hervorgeht, das höchste Interesse in Anspruch nehmen zu können.

Der Dramatiker wie der Schauspieler können an dieser Kunst lernen.

Man hat bei Heinrich Laube besonders gerühmt, daß er als Re­gisseur die Kunst des Fadenzeichnens verstand. Dieses Fadenzeich­nen besteht in nichts anderem als in dem Zurückführen kompli­zierter dramatischer Vorgänge auf die einfache Grundstruktur. Nur wenn diese von dem Regisseur erkannt und wirksam ge­macht wird, kann das Ergebnis eines Dramas sich in richtiger Weise äußern. Dem Zuschauer braucht diese Grundstruktur nicht zum Bewußtsein zu kommen. Was ihn nach den ersten fünf Minuten neugierig macht, was sein Interesse erhält, was ihn zu­letzt mit Befriedigung oder Entsetzen erfüllt, das sind die Seelen­strömungen in seinem Innern, die ein genaues Abbild jener Grundstruktur sind.

Der ist der beste Regisseur, der sich ein Drama in den einfach­sten Kräftelinien vorzustellen vermag.

Die wenigen Personen, die in dem Hänneschen-Schauspiel auf­treten, stellen das ganze Requisit des Dramatikers dar. Wir erken­nen sie immer wieder, selbst bei den verwickelrsten Dramen und bei den individualisiertesten Charakteren, den Großvater, die Marie Sibylla, die Gertrud, den Tony und das Hänneschen. Wir erkennen sie in ihrer Ursprünglichkeit aber am besten, wenn wir zusehen, wie das Volk aus seinen primitiven typischen Erlebnis­sen heraus die dramatische Kunst entwickelt.

NOCH EINMAL DAS «STAATLICHE NATIONALTHEATER»

#G029-1960-SE054 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NOCH EINMAL DAS «STAATLICHE NATIONALTHEATER»

Im Anschluß an den Aufsatz

«Das staatliche Nationaltheater» von Dr. Hans Oberländer*

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Der Gedanke einer Verstaatlichung menschlicher Institutionen, die bisher im freien Konkurrenakampfe sich entwickelt haben, findet heute in weiten Kreisen Sympathien. Vor den radikalen Zielen der Sozialdemokratie, welche das ganze menschliche Zu­sammenleben zu einer festgefügten staatlichen Organisation um­gestalten will, schrecken viele zurück. Dagegen taucht immer und immer wieder das Bestreben auf, einzelne Zweige der materiellen und geistigen Kultur, die gegenwärtig noch dem Privatbetriebe ihr Dasein verdanken, dem Staate einzuordnen.

Die Urheber solcher Bestrebungen sind der Ansicht, daß die Mängel, welche die freie Konkurrenz, der rücksichtslose Kampf der Kräfte mit sich führt, durch die staatliche Oberaufsicht be­hoben werden.

Die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen gibt aller Sehnsucht nach Verstaatlichung einzelner Lebensverhältnisse oder der ganzen Menscnheitskultur den Ursprung. Diese Unzufrie­denheit liegt auch den Ausführungen des Aufsatzes in Nr.1 der «Dramaturgischen Blätter»: «Das staatliche Nationaltheater» zugrunde.

Der Verfasser findet, daß im großen Publikum nur verworrene Begriffe von der Natur der Schauspielkunst existieren, und daß aus dieser Unwissenheit des Publlkums die künstlerische Entwer­tung der Bühne resultiert. Er verlangt, daß der Staat der Bühnenkunst ernstere Aufgaben stelle und das Publikum dadurch zwinge,

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* Ich bin keineswegs mit allen Einzelheiten dieses Aufsatzes einverstan­den. Im Gegenteile: Ich glaube, daß die Ziele des Verfassers auf ganz anderen Wegen zu erreichen sind, als er selbst angibt. Denncch bringe ich die Arbeit hier zum Abdeuck, weil ich glaube, daß sie eine fruchtbare Diskussion über wichtige Fragen des gegenwättigen Theaters anregen kann. Solche Disleassionen hervorzurufen, scheint mir eine der wichtig­sten Aufgaben der «Dramaturgischen Blätter. zu sein.

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von dem Theater mehr zu erwarten als eine Befriedigung des untergeordneten Vergnügungsbedürfnisses. Das Publikum soll nicht mehr ins Theater gehen, um ein paar Stunden, seiner Nei­gung gemäß, angenehm hinzubringen, sondern es soll ihm vom Staate vorgeschrieben werden, wie es die Stunden im Theater an­zuwenden hat. Die Bühnenleiter sollen nicht mehr gezwungen sein, sich nach dem Geschmacke des Publikums zu richten, son­dern sie sollen nach idealen Gesichtspunkten, über die der Staat Wache hält, ihr Amt führen.

Der Verfasser glaubt, daß die Theatermisere aufhören werde, falls kein Direktor mehr zu fürchten hat, daß sein Theater leer bleibt, falls er der echten Kunst dient, weil ein anderer Direktor einem seichteren Geschmack dient und ihm das Publikum weglockt. Der Staat wird - nach der Meinung des Verfassers - alle Theater in gleicher Weise zu Werkzeugen der wahren Kunst machen, und jeder schmutzige Konkurrenzkampf werde aufhören.

Das alles ist sehr schön gedacht. Aber es ist ohne Rücksicht auf das Verhältnis von Kunst und Staat gedacht. Dergleichen Gedan­ken setzen immer einen Staat voraus, der nirgends existieren kann, wo ein Staat durch die Gemeinschaft von Menschen gebil­det wird. Der Staat muß, seiner Natur nach, auf Unterdrückung des Individuums ausgehen. Wenn alles nach starten Formeln ge­regelt sein soll, so muß das Individuum seine Selbständigkeit unterdrücken. Die allgemeine Organisation wird sofort unter­brochen, wenn die einzelne Persönlichkeit sich durchsetzen will. Die Kunst aber beruht auf der freien Entfaltung der Persönlich­keit. Und was nicht auf dieser freien Entfaltung beruht, das muß im Gebiete der Mittelmäßigkeit, des Durchschnitts bleiben. Man muß natürlich dem Verfasser des genannten Aufsatzes zustimmen, wenn er sagt: «Es ist sicher wahr, daß die natürliche Begabung für den Schauspieler die Hauptsache ist, aber allein auf sie zu pochen, ist der Unsinn, welcher das geistige Proletariat des Stan­des geschaffen hat.» Aber man muß ihm erwidern: «Der große Schauspieler kann nur der natürlichen Begabung sein Dasein ver­danken, und der kleinen Begabung kann durch die beste Staatseinrichtung nicht zu mehr als zur - vielleicht brauchbaren - Mitteimäßigkeit

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verholfen werden.» Der Staat wird immer die Ten­denz haben, diese Mitteimäßigkeit zu fördern. Er wird es vielleicht verhindern, daß ein Unbegabter die Schauspielkunst aus Faulheit mit jeder anderen Profession eintauscht; aber er wird zu­gleich die Tendenz haben, den genialen Menschen, der sich der festen Norm einmal nicht einordnen will, aus seinem Bereiche zu verweisen.

Der freie Konkurrenzkampf macht es der genialen Persönlich­keit möglich, sich den Bereich zu suchen, in dem sie sich entfal­ten kann. Die Alimacht des Staates wird dieser Persönlichkeit einfach die Lebensbedingungen nehmen. Die Frage ist durchaus berechtigt, ob es nicht besser sei, wenn im Kampfe ums Dasein zahlreiche Unbegabte ins Proletariat gedrängt werden, damit die wenigen Begabten die Freiheit der Entwickelung haben, als wenn alles auf das Durchschnittsniveau herabgedrückt wird.

Wird die Verstaatlichung des Theaterwesens durchgeführt, so ist jeder Künstler Beamter. Der Staat wird nicht den größeren Künstler, er wird den besseren Beamten vorziehen. Wer anderer Meinung ist, der spricht nicht von wirklichen Staaten, sondern von einem Idealstaat, der in Wolkenkuckucksheim sein Dasein führt. Wer Verständnis für das Wesen und die Existenabedingun­gen der Kunst hat, der müßte zugeben, daß man einem höheren Zweige der Kultur keinen besseren Dienst erweist, als wenn man ihn von dem Einflusse des Staates so frei wie möglich erhält.

Es wird beim Theater so wie bei vielem anderen sein. Es wird die Schäden, die es aus sich heraus geschaffen hat, aus sich heraus wieder heilen.

Aus dem Künstler- ein Beamtenpersonal machen wird nicht bewirken, daß aus künstlerisch schlaffen und ideallosen Bühnen-leitern ltunstbegeisterte Männer und aus Schauspielern, die der «gemeinen Routine» verfallen sind, hochstrebende Menschen wer­den; es wird nur zur Folge haben, daß starre Uniformierung an die Stelle freier Entwickelung tritt, die mit ihren Vorzügen not­wendig ihre Mängel verbinden muß.

Die soziale Regeneration des Schauspielerstandes kann nicht dadurch bewirkt werden, daß aus ihm ein Beamtenstand gemacht

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wird. Dieser Stand wurde nichts gewonnen haben, wenn der Ganz unberechtigt erscheint die Ansicht, daß das Publikum durch den Staat auf ein höheres Niveau des Kunstgeschmackes erhoben werden kann. Der Geschmack kann auf künstliche Weise weder gehoben noch herabgedrückt werden. Wenn der Staat Theater schafft, welche dem Geschmacke des Publikums nicht Rechnung tragen, dann wird die Folge nicht die sein, daß sich das Publikum einen anderen Geschmack anschafft - sondern die Theater werden alle leer bleiben.

Ist es denn ein Axiom, daß die Staatsgewalt stets den denkbar besten Geschmack kultivieren werde? Nur wer diese Frage bejaht, kann sich von einer Verstaatlichung des Theaters alles Heil der dramatischen Kunst versprechen. Es gehört wenig praktische Er­fahrung dazu, um diese Frage zu verneinen. Wenn der freie Kon­kurrenzkampf herrscht, werden sich immer kunstsinnige und ge­schmackvolle Menschen finden, welche den Kampf gegen die Geschmacksroheit und den mangelnden Kunstsinn aufnehmen. Wenn ein Staat einmal den Unverstand in der Kunst von oben herab dekretiert, so werden lange Zeiträume nicht ausreichen, die Schäden, die durch eine solche Maßnahme entstanden sind, wieder gutzumachen.

Wie stellt sich der Verfasser des Aufsatzes «Das staatliche Nationaltheater» die Entwickelung der dramatischen Kunst als sol­cher vor? Man denke sich eine Zeit, in der nur Stücke aufgeführt werden, die von einem Staatsbeamten zur Aufführung angenom­men worden sind! Man denke sich ein Parlament, in dem Interpellationen eingebracht werden wegen nicht angenommener Theater­stücke! Man denke sich ferner ein Parlament, in dem die Rich­tung

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der dramatischen Kunst durch eine Partei bestimmt wird, die so wie unser katholisches Zentmm aussieht! Die Folgen der Verstaatlichung sind nicht abzusehen. Man muß sich doch darüber klar sein, daß unzählige Dinge unserer dramatischen Kunst nur dadurch möglich sind, daß sie dem Staate abgerungen werden. Dieses Abringen müßte in dem Augenblicke aufhören, in dem der Wille des Staates in Theaterangelegenheiten allmächtig wäre. Noch Schlimmeres als die Schauspielkunst, die doch nicht gerade staatsgefährlich werden kann, hat die dramatische Kunst selbst von der Verstaatlichung des Theaters zu fürchten.

Was die einzelne kunstsinnige Persönlichkeit für die Bühnenkunst zu leisten imstande ist, hat sich in neuerer Zeit an dem Bunde Richard Wagners mit dem großen Bayernkönige gezeigt. Sollen derlei Dinge durch allgemeine staatliche Uniformierung des Theaterwesens unmöglich gemacht werden? Kein Staat wird je imstande sein, ein Kunstinstitut wie das von Bayreuth zu schaf­fen. Ein solches schaffen nicht Staaten; ein solches schafft die Begeisterung der einzelnen.

Man denke sich als Seitenstück der Verstaatlichung des Thea­ters die Verstaatlichung der Malerei und der plastischen Kunst! Wenn der Gedanke für die eine Kunstgattung richtig wäre, müßte er es unzweifelhaft auch für die andere sein.

«Der Schauspieler des staatlichen Theaters wird ... unter einem andern Gesichtspunkt zur Öffentlichkeit stehen» als der Schau­spielerstand von heute, der, «weil ihm die gesetzlichen Wohltaten fehlen, welche der Bürger genießt», «die oft selbstgeschaffenen Freiheiten als sein gutes Recht» ansieht und «die sittlichen Be­griffe eines Standes hat». Mag sein, daß der mittelmäßige Schauspieler gewinnt, wenn er mit dem Nimbus der «Beamtenehre» bekleidet ist; ob die Kunst dabei etwas gewinnt, ist eine andere Frage.

Von besonderer Bedeutung aber ist die Behauptung des Verfas­sers: «Sobald die Einsicht des Publikums in das Wesen der Schau­spielkunst sich vertieft hat, werden die Forderungen an ihre Lei­stungsfähigkeit einmal derartige sein, daß die künstlerische Re­generation der Bühne in ruhiger Arbeit denkbar sein wird. Ihre

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Durchführung müßte natürlich in der Hand einer fachmänni-schen Instanz liegen, welche der Staat eingesetzt hat; demnach stünde nicht zu fürchten, daß die staatliche Bühne verknöchere. Sie wird gewiß nie eine äußere Pracht entfalten, aber bei dem Eintausch von Flitterkram gegen Ordnung und Gediegenheit nur gewinnen.» Ja, Ordnung und Gediegenheit! In Wirklichkeit würde diese Ordnung und Gediegenheit ein System nach Art unserer Polizeiwirtschaft sein. Pedanterie und Bürokratie würden an die Stelle der «Prachtentfaltung und des Flitterkrams» treten. Aber diese «Prachtentfaltung und der Flitterkrarn» sind der Nährboden der echten Kunst. Es ist ja doch wahr, daß ohne den Luxus und das im banausischen Sinne Überflüssige keine wirkliche Kunst möglich ist. selbst: «Wohl ist es möglich, daß

Der Verfasser gesteht sich selbst: <Solche Dinge erzeugt die Unzufriedenheit Sie weiß stets was nicht sein soll Was sein soll, weiß sie im Grunde nicht Sie setzt einen blauen Dunst an die Stelle dessen was sie nicht weiß Und damit täuscht sie sich über die Unfahigkeit hinweg, etwas wirklich Brauchbares z schaffen Brauchbares kann nur aus den gegebenen Verhältnissen heraus geschaffen werden. Wer Brauch bares nicht schaffen kann, setzt sich unbestimmte Ziele und fin­det sich mit leeren Hoffnungen ab.

WIENER BURGTHEATER-KRISIS

#G029-1960-SE060 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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WIENER BURGTHEATER-KRISIS

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In Wien ist die Burgtheaterkrisis seit Wochen eine Tagesfrage. Wenn diese Zeilen erscheinen, wird sie vielleicht bereits ihre Lösung gefunden haben. Wie diese Lösung ausfällt, ist aber nicht das eigentlich Interessante an der Sache. Etwas ganz anderes muß diejenigen erregen, die an der Entwickelung des Theaterwesens Anteil nehmen. Denn wenn, wie es augenblicklich scheint, Paul Schlenther den bisherigen Direktor des Burgtheaters, Max Burck­hard, ablöst, so kann gar nicht davon die Rede sein, daß künst­lerische Gesichtspunkte bei der Lösung dieser Frage mitgespielt haben. Und das ist das Traurige, daß hier Dinge, die nur vom Standpunkte des Kunstinteresses aus entschieden werden sollten, von Sympathien und Antipathien abhängig gemacht werden, die mit der Kunst nichts zu tun haben.

Als Dr. Max Burckhard ins Amt trat, konnte kein Verständiger für ihn eintreten. Von allen Kandidaten, die damals in Betracht kamen, mußte er als der am wenigsten geeignete erscheinen. Man konnte keine andere Meinung haben, als daß er weder zur drama­tischen Literatur noch zu dem praktischen Theaterwesen irgendwelches Verhältnis habe. Und die ersten Schritte, die er als Direktor unternahm, konnten eine solche Meinung nur bestätigen. Er zeigte sich in jeder Beziehung als Dilettant. Die Rollen­besetzungen, die er vornahm, waren geradezu unglaublich.

So scharfe Worte der Verurteilung, wie der Direktionsführung Burckhards gegenüber, hatte der Altmeister der Wiener Theater-kritik, Ludwig Speidel, selten angewendet. Sooft er unter dem Strich der «Neuen Freien Presse> sich vernehmen ließ, konnte man eine bittere Abfertigung des neuen Direktors lesen. Aber es hat sich das Unwahrscheinliche ereignet: Ludwig Speidel hat sich zu Max Burckhard bekehrt. Damit ist der Entwicklungsgang Burckhards während seiner Direktion gekennzeichnet. Er hat die Antipathien der verständigen Leute in Sympathien verwandelt. Die Kunstkenner sind heute seine Freunde und Anhänger. Er hat den Satz bewiesen, daß das Amt den Verstand gibt. Er hat sich in die Kunst eingelebt. So eingelebt, daß ein so feiner Kenner des

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Theaters wie Paul Schlenther kaum wird etwas anderes tun kön­nen, als die Hofbühne in dem Sinne weiterzuleiten, in dem sie Burckhard zuletzt geführt hat. Es wird, wenn Schlenther an Burck­hards Stelle getreten sein wird, nichts anderes geschehen sein, als daß eine mißliebig gewordene Persönlichkeit durch eine vorläufig beliebte abgelöst sein wird. Die künstlerischen Leistungen des Wiener Burgtheaters können durch Paul Schlenther kaum ein neues Gepräge erhalten. Ja, es muß sogar als ein Glücksfall be­zeichnet werden, wenn der bisherige Direktor durch den Berliner Kritiker abgelöst wird. Es hätte ebensogut sein können, daß die Burckhard-feindliche Clique wieder irgendeinen Dilettanten an den wichtigen Posten gesetzt hätte; und es ist zu bezweifeln, daß sich der Glücksfall zum zweitenmal ereignet hätte, daß aus dem Dilettanten in verhältnismäßig kurzer Zeit ein bedeutender Kön­ner wird.

Es gibt Leute, von denen man sagen kann: sie können, was sie wollen. Burckhard scheint zu ihnen zu gehören. Aber diese Leute sind doch recht selten zu finden. Wenn man einen hat, sollte man ihn festhalten und ihm die Möglichkeit bieten, seine Kräfte zu entfalten. Statt dessen reißt man Burckhard in dem Augenblicke aus dem Amte, in dem er eben beginnt, das Eigenartige seiner Persönlichkeit voll zur Geltung zu bringen.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß Burckhard sieben Jahre lang gegen ihm feindlich gesinnte Schauspieler-Cliquen zu kämpfen hatte, die aber so einflußreich sind, daß sie dem Direktor un­geheure Schwierigkeiten bereiten können. Burckhard hat die Widerhaarigkeit dieser Cliquen mit Energie bekämpft und man­ches Vortreffliche gegen ihren Willen geleistet. Wenn er zuletzt doch nicht Sieger geblieben ist, so ist kaum anzunehmen, daß ein neuer Mann den Kampf mit mehr Glück führen werde.

Die Aufgabe des Burgdirektors ist heute, diese einzige Kunst-anstalt den neuen Verhältnissen anzupassen. Das Publikum wird mit den neuen Formen der Dramatik ebensowohl wie mit den neuen Formen der Schauspielkunst einverstanden sein, wenn es bemerkt, daß der Reform künstlerische Ahsichten zugrunde lie­gen. Das Publikum ist viel weniger konservativ in Kunstsachen

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als die sogenannten welche noch vor wenigen Jahren achselzuckend vor Böcklins Pieta vorübergingen, stehen heute anbetend vor ihr, wie sie es immer getan haben vor der Sixtinischen Madonna. Das Publikum des Burgtheaters wird leicht dafür zu gewinnen sein, der moder­nen Kunst ebensoviel Interesse entgegenzubringen wie der alten An dieser Entwickelung des Geschmackes hat Max Burckhard mit Geschick und Einsicht gearbeitet. Man hätte ihn in seiner Arbeit nicht stören sollen.

NACHSCHRIFT

#G029-1960-SE062 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NACHSCHRIFT

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Kurz nachdem diese Zeilen geschrieben waren, trat die Burg-theater-Angelegenheit in ein neues Stadium. Es scheint heute ge­wiß, daß Paul Schlenther Burgtheater-Direktor wird. Zu den obi­gen prinzipiellen Ausführungen ist durch diese Wendung in der Sache nichts hinzuzufügen. Wenn Burckhard durchaus nicht Burg-theater-Direktor bleiben soll, so kann er durch wenige in so vor-trefflicher Weise ersetzt werden wie durch Paul Schlenther. Eine allseitige Kenntnis der dramatischen Literatur und des Theaters besitzt dieser Kritiker. Ein vollkommener, moderner Geschmack ist ihm eigen. Seit Jahren hat er Gelegenheit gehabt, praktische Erfahrungen auf dem Gebiete zu sammeln, auf dem er jetzt tätig sein soll. Eine rücksichtslose Energie muß der künftige Burg-theater-Direktor besitzen. Daß Paul Schlenther sie besitzt, hat be­wiesen, was aus dem Inhalte der Verhandlungen mit ihm in die Öffentlichkeit gedrungen ist. Dadurch ist die Hoffnung berechtigt, daß er sowohl in der Auswahl der aufzuführenden Stücke wie in Personalfragen nur seiner sicheren künstlerischen Überzeugung wird folgen können.

Man muß Schlenthers Autorität und Kunsteinsicht in Wien sehr hoch schätzen, wenn man ihn auf den wichtigen Posten beruft. Und damit tut man recht.

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Auch grundsätzlich ist Schlenther eine der geeignetsten Per­sönlichkeiten. Direktor eines Theaters soll nicht ein Mann sein, der aus dem Schauspieler- und Regisseurstande hervorgegangen ist. Die Erfahrung lehrt, daß ein solcher die Auswahl der Stücke stets nach den Ansprüchen der Schauspielkunst, nicht nach den Bedürf­nissen der dramatischen Literatur trifft. Er wird sich stets fragen:

gibt dieses Stück gute Rollen ab? Diese Frage kann nicht in erster Linie in Betracht kommen. Die erste ist: muß dies Stück seiner literarischen Qualitäten wegen aufgeführt werden? Dann maß an die Schauspieler die Aufgabe herantreten, das Stück in entspre­chender Weise zu spielen. Gegen die Ansprüche des Schauspieler-standes muß der Direktor immer die Rechte der Literatur ver­treten. Das kann kein Schauspieler, das kann kein Regisseur. Das kann nur ein Mann, der im lebendigen Bezug zur Literatur steht. Das kann somit nur ein dramatischer Dichter oder ein Theater­kritiker. Die Vertreter der dramatischen Produktion und die Be­urteiler dieser Produktion sind die rechten Personen für die Lei­tung der Theater. Deshalb ist es als ein Glück zu bezeichnen, daß die Wahl zum Burgtheater-Direktor auf Paul Schlenther gefallen ist. Es wäre zu wünschen, daß gerade die Hoftheater das in Wien gegebene Beispiel nachahmten.

Schlenther wird das Wiener Hoftheater im modernen Sinne lei­ten. Er wird harte Kämpfe mit Vorurteilen zu bestehen haben, die im Charakter des Österreichertums liegen. Es ist nicht sicher, daß er eine ganz klare Vorstellung von den Schwierigkeiten hat, die auf ihn einstürmen werden. Aber er wird die Kraft haben, den Kampf auch gegen diejenigen Kräfte aufzunehmen, deren Vor­handensein er nicht voraussieht. Vielleicht wird sein Regiment noch kürzere Zeit währen als dasjenige seines Vorgängers. Aber zweifellos wird er auch in kurzer Zeit Nützliches schaffen.

THEATER UND KRITIK

#G029-1960-SE064 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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THEATER UND KRITIK

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Das Thema ist kein erfreuliches. Am wenigsten erbaulich ist es für die Theaterfachmmner selbst. Was findet sich nicht alles unter der Überschrift «Theater> in unseren Zeitungen und Journalen? Nirgends wuchert vielleicht der Dilettantismus so üppig wie auf diesem Gebiete.

Und am schlimmsten steht es um die Kritik dramatischer Lei­stungen und der Schauspielkunst. Besser sind die Verhältnisse bei der Opernkritik. Wenn es sich um musikalische Leistungen han­delt, ist Unverstand und Unkenntnis im Grunde leicht nachweis­bar. Wenn man fünf Zeilen eines Musikkritikers liest, wird man imstande sein zu beurteilen, ob man es mit einem Sachkenner oder mit einem Dilettanten zu tun hat. Doch haben sich im Lauf der letzten Jahrzehnte die Verhältnisse auch auf diesem Gebiete wesentlich verschlechtert. Man kann die zum Wagnerschen Kunst-kreis Gehörigen nicht davon freisprechen, daß sie zu dieser Ver­schlechterung Ungeheures beigetragen haben. In der Zeit, bevor die Kritiker der Wagnerschule auf den Plan getreten sind, war es ein Erfordernis für den Musikkritiker, daß er über das Musikali­sche einer Leistung vom fachmännischen Standpunkt aus sprach. Er mußte wissen, was innerhalb der von ihm kritisierten Kunst möglich ist. Er mußte von der Architektonik des musikalischen Kunstwerkes sprechen. Das Empfinden des Ohres mußte er inter­pretieren, und die musikalische Phantasie verlangte ihre Rechte. Die Wagnerkritiker fingen an, in einer ganz anderen Tonart zu reden. In ihren Ausführungen las man kaum noch etwas von Musik und musikalischer Phantasie. Dafür um so mehr von allen möglichen geheimnisvollen Seelenzuständen und dunkel-mystischen Wahrheiten oder gar von Naturerscheinungen, die in dem oder jenem Musikstücke zum Ausdruck kommen sollen. Ungeheurer Unfug wurde und wird getrieben. Die glänzendste Abfertigung dieses Unfugs ist das feine Büchlein Hanslicks «Vom Musikalisch. Schönen>. Ein Musikkritiker, der dieses Büchlein ablehnt, kann nicht ernst genommen werden. Denn man kann überzeugt sein, daß er in seinen Kritiken überhaupt nicht von Musik sprechen

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wird. Er wird uns sagen, was an dieser oder jener Stelle eines Musikwerkes «ausgedrückt> ist; aber er wird uns alles schuldig bleiben über die Architektonik eines Tonwerkes, die sich inner­halb dessen erschöpft, was das Ohr und die Tonphantasie vernehmen.

Auf diesem Gebiete ist heute bereits ein Rückschlag deutlich vernehmbar. Die Wagnerkritiker werden von verständigen Musi­kern bereits abgelehnt.

Anders steht die Sache mit der Schauspielkritik. Hier ist der Dilettantismus schwerer erkennber. Es gibt wenige Menschen, die wissen, wo hier die Grenze zwischen Dilettantismus und Kenner-schaft liegt. Die Kennerschaft kann nur dem zugesprochen wer­den, der sein Urteil auf die rein künstlerischen Qualitäten eines Werkes aufbaut. Ein Drama muß nach ebenso streng künstleri­schen Gesetzen aufgebaut sein wie eine Symphonie.

Die Sache wird allerdings verwirrt durch den Stoff der drama-tischen Kunst. Dieser Stoff geht den Kritiker nur insoweit etwas an, als er die Frage zu entscheiden hat, ob irgendein Vorwurf sich überhaupt zur dramatischen Bearbeitung eigne oder nicht. Diese Frage entfällt bei der Musik. Denn diese ist ganz Form. Sie hat keinen Stoff. Und das Unrecht der Wagnerkritiker besteht eben darinnen, daß sie der Musik mit Gewalt einen Stoff aufdrängen wollen.

In der Dramatik kommt aber der Stoff in keiner anderen Weise als der eben angedeuteten in Betracht. Wird weiter über den Stoff geurteilt, so ist ein solches Urteil unkünstlerisch. Unkünstlerisch sind die Fragen, ob ein Stoff an sich bedeutend oder unbedeutend, schön oder häßlich, moralisch oder unmoralisch und so weiter ist. Diese Dinge gehen den Kritiker nichts an. Sobald ein Stoff das hergibt, was zur dramatischen Verarbeitung notwendig ist, hat sich der Kritiker nur zu fragen, ob der Künstler das herausgeholt hat, was in dem Stoffe liegt, und dann, wie er den Stoff verarbeitet hat. Das Was des Dramas muß ihm gleichgültig sein, auf das Wie muß es ihm ankommen. Wie der Dichter den Konflikt einleitet, wie er die Fäden ineinanderzieht, wie er eine Begebenheit zu Ende führt, davon muß die Rede sein.

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Aber davon ist leider in unseren Theaterkritiken so wenig die Rede. Das stoffliche Interesse steht immer im Vordergrunde. Und das stoffliche Interesse ist in dieser Beziehung das unkünstlerische. Man denke sich den Geist unserer Schauspielkritik auf die Kritik der Malerei übertragen. Wir würden da hören, ob eine dargestellte Landschaft lieblich oder gräßlich, schön oder häßlich, anziehend oder abstoßend, ob eine durch den Bildner wiedergegebene Person reizend oder scheußlich ist und so weiter. Nichts aber würden wir davon hören, ob es dem Maler gelungen ist, Bild und Hintergrund in das rechte Verhältnis zu bringen, ob er die Harmonie der Farben hergestellt hat oder nicht. Wir würden von allen Dingen hören, die uns bei einem Bilde nichts angehen; nichts aber könnten wir von dem Spezifisch-Malerischen aus einer rein auf das Stoffliche abzielenden Kritik entnehmen.

Ein großer Fortschritt der Schauspielkritik wird darinnen liegen, daß wir von ihr eine ebensolche Kennerschaft fordern wie von der Beurteilung der bildenden Kunst.

Hindernd tritt diesem Fortschritt allerdings unser Theaterpubli­kum in den Weg. Wer ist sich der rein künstlerischen Qualitäten eines Dramas bewußt? Wer verlangt von dem Kritiker eine Be­urteilung dieser Qualitäten? Am Stoffe hängt - nach dem Stoffe drängt doch alles! Und Schiller hat umsonst gesprochen: In der Vertilgung des Stoffes durch die Form liegt das wahre Kunst-geheimnis des Meisters. Goethe hat dieselbe Gesinnung in die Worte des «Faust» gelegt: Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.

In bezug auf die Dramatik stecken wir in einem barbarischen Geschmack.

Und die Schauspielkunst? Die ist überhaupt das Stiefkind der Kritik. Mir ihr wissen die weisen Urteiler am wenigsten anzu­fangen. Nicht einmal die elementarsten Sachen liegen hier klar.

Daß zwei Schauspieler eine Rolle auf ganz verschiedene Art spielen müssen, wird meist gar nicht berücksichtigt. Drei Perso­nen vereinigt der Schauspieler in sich, wenn er spielt. Die erste ist seine menschliche Alltagspersönlichkeit, seine Gestalt, sein Gesicht, seine Nase, seine Stimme und so weiter; die zweite ist die Persönlichkeit, die ihm der Dichter zu spielen gibt, der Posa,

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der Hamlet, der Othello und so weiter. Die dritte wird nicht sicht­bar. Sie steht über beiden. Sie bedient sich der ersteren als In­strument, um die zweite zu verkörpern. Und da es nicht zwei gleich gebaute Menschen gibt, so können auch nicht zwei Schau­spieler eine Rolle auf die gleiche An spielen. Ein Kompromiß zwischen der Person, die der Dichter darstellt, und seiner eigenen natürlichen Beschaffenheit hat der Schauspieler herzustellen.

Nur ein Kritiker, der sich die Frage stellt, ob es dem Schau­spieler gelungen ist, jenen Kompromiß herzustellen, kann in Be­tracht kommen. Alles, was sonst über Schauspielkunst geschrieben wird, ist leeres Geschwätz.

Die Kritik der Dramatik und der Schauspielkunst wird vielfach von einem zu niedrigen Gesichtspunkt aus beurteilt. Man denkt im Grunde: Über diese Dinge kann jeder schreiben. Und wahr­haftig schreibt «jeder» darüber. Gerade deshalb, weil hier das Urteil nach rein stofflichen Rücksichten so verlockend ist, sollten die Anforderungen besonders hoch gestellt werden. Man sollte Kennerschaft verlangen, weil die Kennerschaft sich so schwer von der Scharlatanerie unterscheiden läßt.

Aber das Publikum nimmt gefällig ein paar pointierte Redensarten über ein Drama oder eine schauspielerische Leistung hin. Behauptungen werden hier für bare Münze genommen, deren Analoga auf einem anderen Kunstgebiet einfach ausgelacht wür­den. Ein nett geschriebenes Feuilleton gilt mehr als ein tüchtiges Kunsturteil. Und wenn der Feuilletonist noch gar witzig ist! Dann kümmert sich kein Mensch um seine Kennerschaft.

Es wird schwer sein, auf diesem Gebiet bessere Zustände her­beizuführen. Zum Nutzen der dramatischen und der Schauspiel­kunst aber müssen sie herbeigeführt werden.

DAS UNBEDEUTENDE

#G029-1960-SE068 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DAS UNBEDEUTENDE

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Kaum in einer Kunst spielt das Unbedeutende eine so große Rolle wie in der Schauspielkunst. Ob ein Schauspieler bei einem gewissen Anlasse diese oder jene Gesichtsmuskeln bewegt, ob er die rechte Hand bewegt oder nicht: das kommt in Betracht. Eine ganze Szene kann durch eine schlechte Handbewegung dieses oder jenes Schauspielers gestört werden.

Wir sind leider in unserer Schauspielkunst gar nicht so weit, daß wir eine einzige schlechte Handbewegung oder eine falsche Zusammenziehung eines Gesichtsmuskels bemerken. Wir brau­chen zumeist einen ganzen Schauspieler, der «alles verdirbt», um zu bemerken, wie notwendig es ist, daß der Bühnenkünstler dem Dichter entgegenkomme, um des letzteren Intentionen auf der Bühne zur vollen Geltung zu bringen.

Der Schauspieler ist für das Theaterpublikum die Persönlich­keit, welche die Absichten des Dichters zur wahrhaften Ausfüh­rung bringt.

Deshalb erscheint es mir ganz überflüssig, davon zu reden, ob die Schauspielkunst eine Kunst ersten oder zweiten Ranges ist. Rangunterschiede sind in ethischer Beziehung sehr wichtig; im Gebiete des Künstlerischen kommen sie nicht in Betracht. Denn im Künstlerischen ist alles notwendig; auch das scheinber Neben­sächliche. Das Kunstwerk muß vollendet sein bis in die Einzel­heiten hinein, wenn es der strengen Forderung nach einem in sich vollendeten Stil genügen soll. Nichts darf da als fremdes Ele­ment die Harmonie des Ganzen stören. Ein Schauspieler, der eine Rolle um einen Grad banaler spielt, als sie gemeint ist, kann ein großes Drama verderben.

Mir scheint die Frage nach dem Range, den die Schauspiel­kunst in der Stufenleiter der Künste einnimmt, gleichgültig. Wichtig dagegen ist mir das Problem: wie kann die Schauspiel­kunst den Aufgaben gerecht werden, die ihr von den Dichtern gestellt werden.

Alles dreht sich darum: kommt der Schauspielkunst neben der Dramatik eine selbständige Bedeutung zu oder nicht?

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Ich glaube, es kommt ihr unbedingt eine solche selbständige Bedeutung zu. Das Werk eines Bühnenkünstlers wird erst fertig, wenn es mit den Mitteln der Schauspielkunst auf die wirkliche Bühne gebracht wird.

Der Beweis dafür ist auf sehr einfache Art zu führen. Zu Shakespeares Zeiten mußte mit den Mitteln der damaligen Schau­spielkunst der Hamlet ganz gewiß anders gespielt werden als heute.

Wir spielen den Hamlet vielleicht nicht besser, als man ihn zu Shakespeares Zeiten gespielt hat, aber wir spielen ihn anders. Spielten wir ihn aber heute so, wie ihn Shakespeare spielen ließ, so spielten wir ihn schlecht.

Wenn man aber verschiedene Mittel hat, ein Ding zu verwirk­lichen, und das eine Mal die Verwirklichung gut, das andere Mal schlecht sein kann: so haben die Mittel eine selbständige Bedeutung.

Die Schauspielkunst ist ein Mittel, aber ein Mittel von selbstän­diger Bedeutung.

Wie der X den Posa spielt, und daß er ihn anders spielt als der Y, darauf kommt es an.

Was in der Persönlichkeit des Posa ausgedrückt ist, das ist gewiß für alle Zeiten ein und dasselbe. Wie es durch die Schau­spielkunst ausgedrückt werden soll, das ändert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.

Deshalb sollen wir nicht von dem Unbedeutenden in der Schau­spielkunst sprechen. Wir sollten vielrnehr darüber nachdenken, worauf es in dieser Kunst ankommt. Lächerlich ist es, die Schau­spielkunst eine reproduktive Kunst zu nennen. Das Drama ist für den wahren Schauspieler das, was die Wirklichkeit, die Natur, für den Dramatiker ist. So produktiv der Dramatiker der Natur gegenüber ist, so produktiv ist der Schauspieler dem Drama gegenüber. Er erhebt das Drama in eine neue, besondere künst­lerische Sphäre. Ist das Drama ein Stück Natur, durch das Tem­perament des Dramatikers hindurchgesehen, so ist das dargestellte Bühnenwerk ein Drama, durch das Temperament des Regisseurs und der Schauspieler hindurchgesehen.

Wenn wir nicht mutwillig den Rang der Schauspielkunst herabdrücken wollen, so müssen wir sie als selbständige Kunst

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gelten lassen und über ihre eigenartigen technischen Mittel nach­sinnen, dann wird sie sich uns als eine selbständige Kunst darstel­len, die gleichartig ist mit den anderen Künsten.

Wir werden, wenn wir das eingesehen haben, weniger über ihren untergeordneten Rang nachdenken; gerechter werden wir gegen sie sein.

Die Schauspielkunst hat solche Gerechtigkeit notwendig. Denn sie wird heute vielfach als das Stiefkind unter den Künsten an­gesehen.

Dieses Vorurteil ist besonders unter den produzierenden Dra­matikern verbreitet. Es muß überwunden werden.

Und es wird überwunden sein in dem Augenblicke, in dem man sich klar sein wird über das Verhältnis zwischen Schauspiel­kunst und dramatischer Dichtung.

Uns fehlt eine wirkliche Technik der Schauspielkunst. Sie muß erst vorhanden sein. Dann werden sowohl Dichter wie Schau­spieler sie anerkennen. Und dann werden beide Kategorien von Künstlern sich verstehen.

Gegenwärtig fehlt es an einem solchen Verständnis.

MAX BURCKHARD

#G029-1960-SE070 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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MAX BURCKHARD

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Über den künstlerischen Wert der «Bürgermeisterwahl» und des «Katherl> lasse ich andere urteilen. Ich bringe es nicht zu­stande, die Bedenken, die ich gegen diese beiden Theaterstücke habe, hier aufzuzählen, wenn ich an den Eindruck denke, den ich von der Persönlichkeit ihres Autors empfangen habe. Wie ein kleinlicher Nörgler käme ich mir vor, wenn ich Einzelleistungen Max Burckhards auf ihre Schwächen hin beurteilen wollte, da ich gesehen habe, wie groß der Umfang dessen ist, was dieser Mann will, und wie stark die Energie, die ihm zu Gebote steht, sein Wollen durchzusetzen. Man braucht ihm nur eine Stunde zugehört zu haben, um den einfachen, großen Stil schätzen zu können, in dem er lebt und wirkt.

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Das erste, was an ihm auffällt, ist sein durch kein Vorurteil getrübter Blick für die Dinge, die ihn interessieren. Und sein Horizont ist ein großer. In weiten Gebieten der Kunst, der Wis­senschaft, der Volkserziehung, der Rechtspflege, der Volkswirt­schaft ist er zu Hause. Überall sieht er klar und sicher. Er sieht die großen Linien. Und er sagt das, was er zu den Dingen zu sagen hat, mit rücksichtslosester Offenheit. Solche Offenheit gehört zu den größten Seltenheiten in unserer Zeit. Bis jetzt ist Burck­hard in derartigen Stellungen gewesen, die geeignet sind, rück­haltlose Offenheit nicht aufkommen zu lassen. Keine dieser Stel­lungen hat es offenbar vermocht, ihn von dem klaren, geraden Wege abzubringen, der ihm durch seinen Charakter und seine Begabung vorgezeichnet ist.

Ein scharfes Auge hat er für die Schäden unserer Zeit im großen und kleinen; und ein gesundes Urteil ist ihm eigen dar­über, was zur Besserung beigetragen werden kann. Das Schwelgen in unerreichbaren Idealen, die Aufstellung nebelhafter Utopien scheint ihm fremd; aber das Erreichbare weiß er anzugeben. Er hat eine Schrift: «Zur Reform der juristischen Studien» geschrie­ben, die auf jeder Seite beweist, was ich sage. Über die Stellung der Kunst innerhalb des sozialen Organismus hat er in einer anderen Schrift zielbewußt geurteilt.

Jede Stellung, die er einnimmt, jede Aufgabe, die ihm die Ver­hältnisse stellen, wird Burckhard in dem Sinne ausnützen, der sei­ner Natur entspricht. Ob er Burgtheater-Direktor, ob er Hofrat bei irgendeinem Gerichtshofe ist, ob er Vorträge an einer Uni­versität hält: immer wird er sich dafür einsetzen, daß die soziale Entwickelung in eine Richtung gebracht wird, die er für zukunft­verheißend hält. Jedes Amt, in dem er sich betätigt, jedes Stück, das er schreibt, wird für ihn nur Gelegenheit sein, sich durchzu­setzen. Der Mensch in ihm wird immer größer als jedes Amt, jede einzelne Leistung sein. Er wird allem sein Wesen aufdrücken.

Wir brauchen solche Persönlichkeiten. Es tut ihrer Bedeutung keinen Abbruch, daß sie in manchem, was sie vollbringen, als Dilettanten erscheinen. Leute, die von ihrem Fache das Gepräge erhalten, haben wir genug. Persönlichkeiten, die jede äußerliche

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Prägung durch ihre Individualität sprengen, wenige. Burckhard ist eine.

Schon sein Äußeres wirkt symbolisch. Für einen Burgtheater­Direktor schickt es sich nicht, daß er einen «Stößer» trägt, das ist näralich ein Zylinderhut, wie ihn die Wiener Fiaker (Droschken­kutscher> tragen. Burckhard hat sieben Jahre lang das Burgtheater mit einem solchen auf dem Kopfe geleitet. Er muß ge­funden haben, daß sich das für ihn schickt; und was ging es ihn dann an, daß es sich für einen Burgtheater-Direktor nicht schickt. Und so ist er in allen Dingen. Wenn sie ihn - wie es heißt - zum Hofrat machen werden, so wird er auch manches machen, was sich für einen Hofrat nicht schickt; aber er wird machen, was sich für Max Burckhard schickt.

Ein geradezu naiver Wahrheitssinn ist für Burckhard kenn­zeichnend. Daß irgendeine Stellung dem Menschen Rücksichten auferlegt - diese feige gesellschaftliche Ausrede so vieler Schwäch­linge -, scheint eine Vorstellung zu sein, die nie durch Burck­hards Kopf gegangen ist. Ehrlich und echt ist alles, was er sagt und tut. Der Begriff der Pose ist für ihn niemals erfunden worden.

Und alle die Eigenschaften, die ich an ihm beschrieben, trägt er mit der in Wien einheimischen Gemütlichkeit. Man muß sich förmlich zwingen, von ihnen au reden, denn sie treten uns mit der vollendasten Selbstverständlichkeit entgegen. Ich glaube, Burckhard kann nie begreifen, daß man so viel über seine Vor­züge redet. Er wird sich selbst kaum für viel mehr als einen an­ständigen Menschen halten. Er haßt nicht die Schäden, die er geißelt. Es ist im Grunde eine harmlose Ironie, mit der er von ihnen spricht. Er behandelt die Menschen so, daß sie nicht eigent­lich als Schurken erscheinen, sondern bloß als Dummköpfe, als Feiglinge, als Schwachköpfe. Er sagt den Leuten, daß sie eine «Bagasche» sind, aber in einem Tone, der ihnen zugleich begreif­lich macht: ihr könnt nichts dafür. Die stärksten Bissigkeiten wird er in der herzlichsten, liebenswürdigsten Weise sagen.

Burckhard steht wirklich über den Dingen, mit denen er sich beschäftigt. In Fällen, wo ein geringerer Geist mit fanatischer Wut sprechen würde, spricht er mit überlegenem Lächeln. Ich

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glaube, er trägt es den Leuten nicht nach, die ihn aus dem Burg-theater herausgedrängelt haben; denn er versteht sie... Er weiß, daß sie nicht anders konnten, und über dieses Können hat er sein sachgemäßes Urteil... Er verlangt von niemandem, daß er ge­scheiter sein soll, als er ist.

Ich bin der Meinung, eben diese Eigenheit Burckhards ist es, die ihn als einen Mann erscheinen läßt, dessen Wirken ein tief­greifendes sein wird. Er mutet den Dingen und Menschen nichts Unmögliches zu; deshalb wird er erreichen, was er will. Es ist eine Freude, ihn von dem sprechen zu hören, was er beabsichtigt. Wenn ihm auch manches nur halb, manches gar nicht gelingt: so ist das einerlei. Er ist so bedeutend, daß ein Mißerfolg bei ihm gar nicht in Betracht kommt. Und wenn ein Österreicher (Alexander von Weilen in der «Zukunft» vom 8. Januar [1898]) sagt: «Man gebe ihm einen großen, seiner würdigen Wirkungs­kreis, der ihn ganz ausfüllt», so möchte ich entgegnen: stellt ihn hin, wo ihr wollt; er wird immer sein, was er sein muß: Max Burckhard. Und das ist genug.

EIN ANGRIFF AUF DAS THEATER

#G029-1960-SE073 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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EIN ANGRIFF AUF DAS THEATER

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Im ersten Februarheft des «Kunstwart» veröffentlicht der Ber­liner Theaterkritiker Julius Hart einen scharfen Angriff auf das Theater. Ein Mann, der wöchentlich mehrmals über Theatervor-stellungen schreibt und dessen Kritiken man gerne liest, weil sie von einem nicht geringen Kunsturteil zeugen, gibt die Erklärung ab: «So im ersten Ansturm der Eindrücke falle ich ja leicht immer wieder in süße Jugendeseleien zurück und nehme das Theater ernst, - schrecklich ernst und phantasiere von all dem Hohen und Schönen, zu dem es berufen sein sollte. Aber warum sollte? Mit demselben Rechte, mit dem ich von dieser allgemei­nen Schaustärte verlange, daß es ein sei, kann ich auch von einem Berliner Ball- und Tanzlokal fordern, daß es die weibliche und männliche Jugend zur Sittlichkeit und zum

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Kirchenbesuch erziehe. Es tut's ja doch nicht. Es lacht mich aus.» Wenn so über die Auswüchse des Theaters gesprochen würde, könnte man es ertragen. Aber Julius Hart, der Theaterkritiker, sagt weiter, daß dramatische Kunst und Theater ganz und gar nichts miteinander zu tun haben dürfen, weil das Theater seinem Wesen nach niemals einem wirklichen Kunsthedürfnisse dienen kann. «Die ästhetische Bildung wird stets so niedrig sein wie heute, wenn wir nicht vollkommen begreifen, daß die Bühne und die Kunst zunächst einmal gar nichts miteinander zu tun haben, daß ein Theaterstück und ein Drama zwei himmelweit verschie­dene Dinge sind.»

Es scheint fast unglaublich, aber es finden sich Sätze wie der folgende in dem Aufsatze: «Unsere ganze Dramaturgie leidet daran, daß sie die ganz äußerlichen Wirkungsfaktoren, die im Theater entscheiden und zu Gesetzen für das Theaterstück führen können, einfach auch von der dramatischen Dichtung verlangt, die jedoch wie jedes wahre Kunstwerk als ein Organismus gefaßt sein will, als ein aus inneren Notwendigkeiten herausfließendes Lebendiges.»

Zweierlei ist möglich, dachte ich, als ich Harts Aufsatz gelesen hatte. Entweder Hart drückt sich in einem Anfall von Überdruß über die Schäden des Theaterwesens scharf aus und verdammt das Theater nur, wenn es so ausartet, daß alles nur auf den Effekt ankommt, daß der Dichter, der fürs Theater schreiben will, ge­zwungen ist, nicht mehr auf die Gestalt der Innenvorgänge zu sehen, sondern sich fragen muß, wie wirkt dieses oder jenes? Oder aber er meint wirklich - was in der Tat da steht -: «Ich kann das Theater billigen, anerkennen, hinnehmen, solange ich's eben nicht für eine Kunstanstalt ansehe ... was hat die Bühneneffektschrei­berei mit der Dichtkunst zu tun? Theater! Hören wir endlich auf, von ihm wie von einer Kunstanstalt zu reden.»

Bei genauer Überlegung muß ich aber von dem ersten Fall ab­sehen. Julius Hart ist ein zu gescheiter Mensch, um Dinge zu sagen, die etwa auf der Höhe der Behauptung sründen: Weil die Romandichtung zur seichten Kolportageliteratur herabsinken kann, hat sie mit der Kunst nichts zu tun.

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Wenn aber Julius Hart wirklich der Meinung ist, daß das Theater seinem Wesen nach mit der Kunst nichts zu tun hat, weil die Forderungen der Bühne den Forderungen der dramatischen Dichtkunst widersprechen, so muß ich sagen, daß mir ein solches Urteil einen vollständigen Mangel an Verständnis nicht nur für das Wesen des Theaters, sondern für das Wesen aller Kunst zu verraten scheint.

Ich muß Trivialitäten aussprechen, wenn ich dieses groteske Ur­teil widerlegen will. Wer von einem Widerspruch der Bühnen­forderungen und der inneren dramatischen Notwendigkeit spricht, der könnte ebensogut sagen: der Architekt soll keine Häuser bauen, sondern sie nur aufzeichnen, wie sie als Organismus aus seinem Innern entspringen, weil die Forderungen, die beim Bau eines Hauses erfüllt werden müssen, mit der inneren künstleri­schen Notwendigkeit seines inneren Formensinnes nichts zu tun haben. Ein architektonisches Kunstwerk ist nur vollkommen, wenn es der Künstler schon so vorstellt, daß eine Harmonie besteht zwi­schen den Gebilden seines Formensinns und zwischen den Forde­rungen, die an einen wirklichen Bau gestellt werden müssen. Ein Drama wird nur vollkommen sein, wenn in dem Gebilde, das der Dichter als Lebendiges durch innere Notwendigkeit aus seiner Per­sönlichkeit hervorfließen läßt, alle die Elemente mit aufgenom­men sind, die eine Darstellung auf der Bühne ermöglichen. Die Verkörperung durch wirkliche Menschen und mit Hilfe der Büh­nenrequisiten muß ein mitwirkender Faktor in der schaffenden Phantasie des Dramatikers sein. Er muß sein Drama so gestalten, daß er es in einer idealen Aufführung vor sich sieht. Nicht nur die innere Notwendigkeit der dramatischen Entwickelung, sondern auch das in der Phantasie vorausgeschaute Bühnenbild gehört in die Konzeption des Dramatikers. Die Bühne gehört einfach zu den Mitteln, mit denen der Dramatiker arbeitet. Und ein Drama, das nicht theaterfähig ist, ist wie ein Bild, das nicht gemalt, sondern bloß beschrieben ist.

Ich habe da nur in Gemeinplätzen gesprochen. Wie ein Schul­meister komme ich mir vor, der die Sätze eines Elementarbuches auskramt. Aber wenn Behauptungen wie die im Hartschen Aufsatze

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in die Welt gesetzt werden, so ist man leider gezwungen, so etwas zu tun.

Fr. Th. Vischer hat auch einiges vom Wesen der Künste ver-standen; und in seinen Vorlesungen über «Das Schöne und die Kunst> lese ich den Satz: «Eine schöne Vollverbindung von Kün­sten haben Sie im Theater. Da stellt der Architekt den Raum, der Maler die Dekoration. Der Dichter verfaßt den Text des Dramas. Die Schauspieler bringen die von ihm erfundenen Charaktere und Szenen leibhaft vor Augen.> Zwar weiß auch Vischer: «An der Spitze dieses Bundes muß der Dichter stehen; seine Kunst muß vorwalten.> Es ist aber ein weiter Weg von der Behauptung, daß die Dichtkunst vorwalten muß, bis zu dem Ausspruch Harts:

«Aber was hat diese Bühneneffektschreiberei mit der Dichtkunst zu tun? Theater! Hören wir doch endlich auf, von ihm wie von einer Kunstanstalt zu reden.> Diesen Weg kann der nicht be­schreiten, der von dem Wesen der Künste und ihrer Mittel etwas versteht.

Und jetzt, nachdem ich dies alles niedergeschrieben habe, möchte ich noch eine dritte Erklärung für Harts Ausfall gegen das Theater für möglich halten. Ich gkube einfach nicht daran, daß Julius Hart das Wesen des Theaters in der Weise verkennen kann, wie es nach seinem Aufsatz scheint. Ich schätze ihn viel zu hoch, um das glauben zu können. Deshalb nehme ich an: der ganze Aufsatz ist nicht ernst gemeint. Er ist ironisch gemeint. Der Verfasser will eigentlich zeigen, wie wichtig das Theater für die dramatische Kunst ist und führt deshalb aus, wie unsinnig die Ansichten desjenigen sind, der das Gegenteil behauptet. Etwa wie wenn jemand sagte: Leinwand, Farbe und Pinsel haben mit der Malerei nichts zu tun; sie entstellen, korrumpieren das reine Kunstwerk nur, das mit innerer Notwendigkeit aus der Seele des Malers fließt. «Aber was hat die ganze Farbenklexerei mit der Malkunst zu tun? Bilder! Hören wir doch endlich auf, von ihnen wie von Kunstwerken zu reden.>

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In diesen Blättern ist wiederholt von dem Werte des Theaters als Kunstanstalt die Rede gewesen. Ich hätte mich niemals zur Gründung der bereitgefunden, wenn ich nicht von der hohen Mission des Theaters überzeugt wäre. Als «moralische Anstalt>, wie es Schiller in seinen jüngeren Jahren getan hat, betrachten wir heute die «Schaubühne» allerdings nicht mehr. Aber um so mehr als künstlerische Anstalt. Ich bin der An­sicht, daß keine Kunst moralische Ziele verfolgen kann. Deshalb verlange ich solche auch nicht von dem Theater. Aber ich halte die Darbietungen des Theaters für diejenigen, die am leichtesten sich Gehör und Interesse verschaffen können. In den weitesten Kreisen kann von der Bühne herab der Kunstsinn, der Geschmack geweckt werden. Was wir zur Hebung des Theaters tun, geschieht zur Hebung der Kunst. Was wir gegen das Theater sagen, scha­det der Kunst. Jedem vernünftigen Plan zur Hebung unserer Theaterverhältnisse werde ich entgegenkommen.

Selbst in die Stimmen gegen die Berechnung des «Effekts> möchte ich nicht einstimmen. Man hat es oft nötig, unzart zu sein. Auch Shakespeare hat es nicht verschmäht, auf die prakti­schen Forderungen der Bühne Rücksicht zu nehmen.

Shakespeare hat nachweislich die ersten Szenen seiner Dramen so eingerichtet, daß diejenigen, die zu spät kommen, den Gang der Vorgänge verstehen können. Und ganz verständige Menschen haben behauptet, daß der Dramatiker in diesem Bühnendichter so groß war, weil er ein bedeutender Schauspieler war.

Es wird immer wahr bleiben, daß ein Drama, das nicht für die Bühne taugt, unvollkommen ist. Der Dichter, der nur Buchdramen zu schaffen vermag, ist wie der Maler ohne Hände.

Statt des Donnerns gegen das Theater sollte man lieber Vorschläge machen, wie dieses Kunstmittel zu heben ist. Die leben­dige, sinnenfällige Verkörperung auf der Bühne ist denn doch etwas ganz anderes als das einsame Lesen eines Buches. Darüber setzen sich diejenigen hinweg, die vom Theater gering denken. Ich habe keine gute Meinung von denjenigen Dramatikern, die nicht bühnenfähige Stücke schreiben können. Ein Drama muß aufführbar sein. Und dasjenige, das es nicht ist, ist schlecht. Auch

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eine Symphonie ist schlecht, die nicht angehört werden kann. Buchdramen sind Undinge.

Ich weiß, daß die hesten Dichter das Buchdrama verteidigt haben. Darauf kommt es aber nicht an. Der Dichter kann einmal das Bedürfnis haben, sich durch die Mittel der Dramatik auszu­sprechen, auch wenn er nicht die Begabung hat, in szenischen Bildern vorzustellen. Hamerling war ein Dichter, von dem ich dieses sagen möchte. Seine Dramen kann man nicht aufführen. Das tut seiner Bedeutung keinen Abbruch. Aber man muß ihn deshalb doch für einen schlechten Dramatiker halten.

Ein gutes Drama wird immer nach der Bühne schreien.

Die Verachtung der Bühne scheint mir immer das Anzeichen von einer Vergeistigung der Kunst zu sein. Vergeistigung der Kunst ist aber deren Tod. Je sinnlicher die Kunst wirkt, desto mehr entspricht sie ihrem Wesen. Nur Niedergangsepochen der Kunst werden auf das Unsinnliche den Hauptwert legen.

VOM SCHAUSPIELER

#G029-1960-SE078 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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VOM SCHAUSPIELER

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Vor einigen Jahren hat Hermann Bahr eine Reihe von Schau­spielern über ihre Kunst ausgefragt. Sie haben ihm manches Inter­essante über den alten und den neuen Bühnenstil gesagt, sie haben über ihre Stellung zum Dichter, über die Einstudierung ihrer Rollen manches beachtenswerte Wort gesprochen. Das alles ist zu lesen in Bahrs Buch «Studien zur Kritik der Moderne». Am be­deutsamsten sind die Worte, die Flavio Andó, der geniale Partner der Duse, ausgesprochen hat: «Ich kümmere mich zuerst gar nicht um den Text und kümmere mich auch gar nicht besonders um meine Rolle. Zuerst muß ich mir das ganze Werk erklären. Zuerst muß ich die Dichtung empfinden - also in welcher Schicht der Gesellschaft, unter welchen Menschen, in welcher Stimmung das Ganze spielt. Dann treten langsam die einzelnen Gestalten hervor, wie jeder einzelne von seinen Eltern her, durch seine Erziehung, aus seinem Schicksal ist. Wenn ich ihn dann endlich habe, ganz

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deutlich, so daß ich jede Gebärde sehe und jeden Ton höre, dann suche ich mich in ihn zu verwandeln, meine eigene Natur abzu­legen und die seine anzunehmen. Eine unermüdliche Beobach­tung muß mir dabei helfen. Ich beobachte immer. Ich beobachte meine Kollegen, ich beobachte Sie, ich beobachte den Kellner dort. So sammle ich mir die Mittel des Ausdrucks. Der Text ist dann das Geringste. Der kommt erst ganz zuletzt, oft erst auf der Probe.»

Man wird kaum fehlgehen, wenn man mit diesen Sätzen nicht nur Andós eigene Art, sondern auch diejenige der Duse charak­terisiert glaubt. Das Schaffen einer Rolle aus dem Ganzen eines Stückes heraus muß als entschiedene Forderung der Schauspiel­kunst geltend gemacht werden. Es steht im Widerspruche mit der gewöhnlichen Aufgabe, die sich die Schauspieler zu stellen schei­nen. Sie spielen nur die einzelne Rolle, die sie sich in irgendeiner Art zurechtlegen, ohne Rücksicht auf die ganze Dichtung.

Ein hervorragendes Beispiel für diese letztere Art des Spielens ist Zacconi. Man braucht nur die Sätze Andós in ihr Gegenteil umzusetzen, und man wird Zacconi charakterisieren. Wer sich da­mit abfinden kann, daß ein Schauspieler, ohne Rücksicht auf den Inhalt der ganzen Dichtung, in höchster technischer Vollendung eine Rolle spielt, wie er sich sie zurechtgemacht, wie sie aber nie der Dichter vorgestellt hat, der mag Zacconi bewundern.

Andó sagte zu Bahr in der angeführten Unterredung: «Die Na­tur ist unser einziges Gesetz. Das unterscheidet uns von den Fran­zosen, die immer mit einem hergebrachten Mechanismus arbeiten. Die haben - soviel ich sehen konnte - die haben ganz außer­ordentliche Künstler, aber es ist immer die Tradition, die schöne Linie, der Mechanismus. Manchmal in einem Moment bricht die Natur durch, aber dann kommt gleich wieder die gesuchte Schön­heit und das künstliche Arrangement.»

Dieser Mechanismus fragt nicht nach dem individuellen Cha­rakter einer Persönlichkeit in einem Stücke, sondern er hat gewisse Schablonen, in die er alles hineinawängt. Diese Schablonen nähern sich mehr oder weniger den individuellen Charakteren, welche die Dichter zeichnen. Da ist ein Mensch mit hundert besonderen

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Eigenschaften, der eine Intrige begeht. Der Schauspieler läßt die hundert besonderen Eigenschaften einfach unter den Tisch fallen und spielt den konventionellen Intriganten. Wie man den In­triganten zu spielen hat, dafür gibt es traditionelle Regeln.

Diese Art der Schauspielkunst nach der Schablone ist leider noch viel verbreiteter, als man glaubt. Zu ihrer Überwindung hat der auf die Bühne übertragene Naturalismus sehr viel getan. Man hat unter seinem Einflusse eingesehen, daß es nicht zwei gleiche Menschenindividuen gibt, und daß es deshalb unmöglich ist, alle auf der Bühne darzustellenden Personen auf fünf oder sechs typische Figuren zu reduzieren. Der Naturalismus hat es wieder dahin gebracht, daß man gern ins Theater geht, weil man dort nicht jedesmal dieselben allgemeinen Schemen, den Bösewicht, den Bonvivant, die komische Alte und so weiter in verschiedenen Stücken sieht, sondern weil wieder individuelle Gestalten ver­körpert werden.

Aber die Schauspieler, die in dieser Weise spielen, sind noch nicht sehr zahlreich. Ein großer Teil der Schauspieler wirkt lang­weilig, wenn wir sie zum fünften, sechsten Mal sehen. Wir wissen genau, wie sie irgendeine Sache machen werden; denn wir ken­nen das ganze Inventar ihrer Stellungen, Gebärden und so weiter. Sie wissen nichts davon, daß der eine auf diese, der andere auf jene Weise eine Liebeserklärung macht. Sie machen die Liebes-erklärung - die Theaterliebeserklärung - in allen Fällen.

Die Sache kann so weit gehen, daß man hintereinander zwei Schauspieler, die nacheinander dieselbe Szene hinter einem Vor­hmge sprechen, nicht voneinander unterscheiden kann. Der eine macht es höchstens quantitativ ein wenig besser, der andere ein wenig schlechter; qualitativ ist oft nicht der geringste merkliche Unterschied. Die Personen wechseln, die Schablone bleibt.

Alles das ist in den letzten Jahren öfter besprochen worden. Die Notwendigkeit, auf die bestehenden Mißstände hinzuweisen, ging von dem veränderten Geschmacke auf dramatischem Gebiet aus. Die Zeit liegt noch nicht weit hinter uns, in der die Bühnen-stücke das Theater beherrschten, in denen die Personen nicht nach dem Leben, sondern nach den hergebrachten Schauspielerschablo­nen

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charakterisiert waren. Auch in den Stücken sah das eine naive Mädchen dem ändern zum Verzweifeln ähnlich. Es wurde nicht ein naives Mädchen, es wurde «die Naive» gezeichnet. Heute sind wir glücklich soweit, daß wir denjenigen, der Stücke in dieser Art macht, als einen Theaterstückefabrikanten gering achten. Auch unter den Theaterbesuchern, welche noch immer nur für ein paar Stunden eine bequeme, triviale Unterhaltung suchen, finden sich genug Leute, welche sich dieser Geringschätzung anschließen. Vom Dichter verlangt man heute, daß er vom Leben ausgehe bei seinen Schöpfungen, daß er in jeder derselben ein Stück wirk­lichen Lebens liefere. Hinter diesen Anforderungen an die Dra­matiker konnten die anderen Forderungen nach Schauspielern, die nicht nach der Tradition, nach dem Mechanismus spielen wollen, nicht zurückbleiben. Wir haben heute genug Bühnenwerke, die nach alten theatralischen Regeln gar nicht gespielt werden kön­nen. Werden sie es zwangsweise doch, dann geht ihr Bestes verloren.

Man glaube nicht, daß durch das Spielen von Individualitäten die ewigen Prinzipien von den schönen, über das Alltägliche hinausgehenden Linien verlorengehen müssen.

Auch darüber hat Andó zu Hermann Bahr ein richtiges Wort gesagt: «Ich frage gar sehr nach der Schönheit. Nur nicht nach einer konventionellen und aus der Schule kommenden Schönheit -sondern nach meiner individuellen Schönheit, die ich in mir selber trage, wie meine eigene Ästhetik sie mir gibt. Aber die wider­spricht der Wahrheit nicht. Gerade so wenig, wie die selbstver­ständlichen Konzessionen an die .»

Wir wollen heute auch auf der Bühne die Schönheit nicht mehr durch eine Fälschung des Lebens erkaufen. Wir wissen, daß die Schönheit nicht außerhalb, sondern innerhalb des Gebietes der Wirklichkeit liegt.

Was nennt Andó seine individuelle Schönheit? Was meint er mit der konventionellen Schönheit, die aus der Schule kommt? Es gibt eine Weise, die Eigenschaften der menschlichen Persön­lichkeit so darzustellen, daß sich ihr Wesen mehr nach außen kehrt, als dies im alltäglichen Leben der Fall ist. Im Gebiete des Alltäglichen geht das Wesen in den Eigenschaften nicht restlos

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auf. Es bleibt immer ein Rest, den wir erraten, erschließen müs­sen. Dieser Rest muß verschwinden, wenn die Persönlichkeit ihre Schönheit offenbaren soll. Sie muß ihr Wesen gleichsam nach außen kehren. Aber es ist eben ihr Wesen, das sie nach außen kehrt. Deshalb ist auch die Schönheit die ihrige. Anders liegt die Sache bei der konventionellen Schönheit. Hier kehrt die Persön­lichkeit nichts nach außen, was sie in sich hat, sondern sie ver­leugnet dieses Wesen und modifiziert ihre Eigenschaften in der Art, daß sie den Eigenschaften eines eingebildeten Wesens ähn­lich sind. Die Persönlichkeit gibt sich selbst auf, um einer al]­gemeinen Norm sich zu fügen.

Die Schönheit kann nicht von außen der Persönlichkeit auf-geprägt werden; sie muß aus ihrem Innern heraus entwickelt wer­den. Sind nicht genügend Keime in einer Persönlichkeit vorhan­den, um die wünschenswerte Schönheitswirkung hervorzubringen, so wird sie eben mangelhaft sein. Wenn eine Person sich jedoch ein äußeres Schönheitsmäntelchen umhängt, so wird sie zumeist zwar nicht mangelhaft - falls die Sache sonst gut gemacht ist -erscheinen; wohl aber wird sie die Bezeichnung «Karikatur» mit Recht nicht ablehnen können.

NACHSCHRIFT

#G029-1960-SE082 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NACHSCHRIFT

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zu den Aufsätzen von Hans Olden und «Regieschule» von Dr. Hans Oberländer.

In einer wichtigen Theaterfrage haben nacheinander ein drama­tischer Schriftsteller, der zugleich ein Kenner der praktischen Bühnenverhältnisse ist, und ein feinsinniger Regisseur das Wort ergriffen. Wer ihre Vorschläge gründlicher Erwägung unterwirft, wird zugestehen müssen, daß durch ihre Ausführungen die Sache, um die es sich handelt, wirklich gefördert werden kann. Nur wird man auch sagen müssen, daß ihre Reformideen an dem Übel

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kranken, das an allen dergleichen Idealen zu bemerken ist. Sie bewegen sich in einer Lieblingsrichtung. Sie haben im Regie-wesen der Gegenwart ganz bestimmte Unvollkommenheiten be­merkt und möchten diese ausmerzen. Dazu erfinden sie eine For­mel, nach der sie die augenblicklich bestehenden Verhältnisse umgestalten möchten. Sie übersehen, daß eine solche Formel in der Praxis ihre großen Nachteile nach sich ziehen muß. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn Olden und Oberländer als Persön­lichkeiten in die Reform des Regiewesens eingreifen könnten, sie mit ihren Ideen unendlich Bedeutsames leisten könnten. Aber ich bin nicht weniger davon überzeugt, daß dieselben Ideen in den Händen anderer entsetzliches Unheil stiften müssen.

Und damit bin ich an dem Punkte angelangt, der mir in der Debatte allzu wenig berücksichtigt erscheint. Das Wichtigste ist und bleibt in der Kunst die Persönlichkeit. Man mag Konservato­rien und Theaterschulen mit den schönsten Grundsätzen einrich­ten. Sie werden nichts leisten, wenn Pedanten mit diesen Grund­satzen sie leiten. Sie werden Bedeutendes leisten, wenn Persön­lichkeiten sie leiten, von denen jener geheime Einfluß ausgeht, der, von künstlerischer zu künstlerischer Natur wirkend, das Wunderbarste hervorbringt.

Und eine künstlerische Natur wird sich nie darauf einlassen, durch den bloßen Drill zu wirken. Ihr wird es sich darurn han­deln, den werdenden Künstler zu entdecken. Deswegen möchte ich dem Kritiker des «Berliner Tageblattes» nicht durchaus un­recht geben. Es ist wirklich wahr: man kann nicht Regisseur, man kann nicht Schauspieler werden; man ist es, oder man ist es nicht. Die Schulen sollten ihre höchste Aufgabe darinnen erblicken, den Künstler, der es ist, zu entdecken und ihn zu fördern. Geht man darauf aus, so wird man nur zu bald bemerken, daß alle schablo­nenhaften Vorschläge doch nur einen untergeordneten Wert haben. Man wird einsehen müssen, daß je nach der werdenden Künstlerindividualität hier diese, dort jene Methode anzuwenden sein wird. Auch wird man zugestehen müssen, daß man auf die Art der Vorbildung nur einen geringen Wert zu legen hat. Ob jemand durch die Schule einer literarischen Bildung durchgeht,

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oder ob er als Schauspieler sich eine Zeitlang betätigt hat, das ist Sache des Zufalls. Nicht Sache des Zufalls, sondern Ergebnis der Aniagen und individuellen Fähigkeiten aber ist es, ob jemand von Natur Regisseur oder Schauspieler oder - keins von beiden ist. Man wird daher nicht sagen dürfen, daß vorwiegend literarisch gebildete Leute zum Regisseurberuf heranzuziehen sind. Mit einer solchen Regel schafft man Beschränkungen, welche die besten Kräfte von einem Felde ausschließen können, auf das sie gehören.

Ich weiß, daß ich im Grunde mit diesen Sätzen ganz gemeine Wahrheiten sage. Aber es wird doch immer merkwürdig bleiben, daß gerade reformatorisch veranlagte Naturen gegen solche all-gemeine Wahrheiten blind und taub sind Man sollte es überhaupt vermeiden, allgemeine Regeln aufzustellen; man sollte sich damit begnügen, zu sagen: ich mache es so; suche ein anderer, wie es ihm entspricht, seine Tätigkeit einzurichten.

Die beste Erziehung wird auf allen Gebieten diejenige sein, welche zum Ziel die Selbsterziehung hat. Der Lehrer kann doch nicht seine Natur, am wenigsten seine Ansichten und Überzeu­gungen in den Zögling hinüberführen. Er kann nur in dem Schü­1er wecken, was in diesem schlummert. Er kann ihn zur Selbsterziehung anregen.

Es ist möglich, daß durch die Notwendigkeit der Selbsterziehung Schäden angerichtet werden. Wer sich selbst erzieht, ist geneigt zum Experimentieren und Probieren. Und da es sich beim Regis­seur um wertvolles Versuchsmaterial, um Menschen handelt, kann durch das Experimentieren Schlimmes angerichtet werden. Hier wird man aber einen kunst- und keinen «menschenfreundlichen» Standpunkt einnehmen müssen. Es muß gesagt werden: der Kunst dürfen Opfer gebracht werden. Mögen viele Einzelherzen in ihrem Ehrgeiz gekränkt werden, mag vieles verdorben werden durch die noch unreifen Experimente eines jugendlichen Regis seurs: wenn zuletzt künstlerische Vollendung auf diesem Wege erreicht wird, so kann man über die Opfer nicht trauern.

Ein Wichtiges muß noch erwähnt werden. Man muß überhaupt darauf verzichten, auf künstlichem Wege die natürlichen Tat­sachen meistern zu wollen. Wenn man bemerkt, daß Regisseure

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und Schauspieler nicht zu entdecken sind, dann muß man darauf verzichten, sie auszubilden. Und auch damit wird man sich abfinden müssen, daß in gewissen Zeiten keine Entdecker da sind. Man muß da immer wieder an Laube erinnern. Als dieser Meister aller Regisseure auf Entdeckungen ausging, da fand er eine statt­liche Schar begabter Schauspieler, die hielten, was er sich von ihnen versprach. Eine solche Entdeckerfähigkeit kann keine Schu­lung ersetzen. Es kommt doch immer auf die Persönlichkeiten an. Der Generalvorschlag müßte immer heißen: setzt die richtige persönlichkeit an den richtigen Platz.

Nun kann man erwidern: ja, es ist ja richtig, daß die Persön­lichkeit die Hauptsache ist; aber das kommt doch nur bei den bevorzugten Persönlichkeiten in Betracht; für die Mittelmäßig­keit, für den Durchschnitt muß es Regeln geben. Das wäre ganz schön; wenn nicht die Regeln, die für den Durchschnitt auf­gestellt werden, zugleich die Auserlesenen schädigten und unter­drückten. Unendlich wichtiger aber ist es, die Auserlesenen frei sich entfalten zu lassen, als dem Durchschnitt auf die Beine zu helfen.

LUDWIG TIECK ALS DRAMATURG

#G029-1960-SE085 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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LUDWIG TIECK ALS DRAMATURG

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Einen trefflichen Beitrag zur Geschichte der deutschen Drama­turgie hat vor kurzem Heinrich Bischoff geliefert. («Ludwig Tieck als Dramaturg.» Bruxelles, Office de publicité). Das Verhältnis Tiecks zur dramatischen Literatur und zum Theater bedarf einer objektiven Würdigung. Bischoff hat die Gründe dafür in seinem Einleitungskapitel gut zusammengestellt. «Ich weiß nicht», schrieb im Jahre 1854 Loebell an Tiecks Biographen R. Köpke, «ob es in der gesamten Literatur ein zweites Beispiel gibt von einer die lautwerdende Kritik so beherrschenden Gehässigkeit gegen einen Autor, als gegen L. Tieck. - So hat man zum Beispiel für Tiecks kritische Meinungen das niederdeutsche, sonst in der Schriftsprache

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kaum vorkommende Wort aufgestöbert. Schrulle erklärt das breinisch-niedersächsische Wörterbuch durch . Und G. Schlesier wirft in der (Stuttgart und Tübin­gen, 1. Jahrgang, S.3 f.) Tieck vor, . Tiecks kritisches Meisterwerk. die , möchte Schlesier auf einige hun­dert Jahre verbannen; es liege Gift auf jeder Seite derselben.»

Als Gründe für diese beispiellose Unterschätzung Tiecks gibt Bischoff mannigfaltige Dinge an. Tieck galt als Haupt der romanti­schen Schule. Deshalb haßten ihn die Gegner dieser Literaturströ­mung von vorneherein. Auch persönlicher Neid kam bei den Zeit­genossen in Betracht. In neuerer Zeit endiich bemüht man sich wenig, Tiecks drama­turgische Schriften zu studieren. Man nimmt das Urteil seiner Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger herüber, ohne viel zu prüfen. «Ein schlagendes Beispiel bietet das kürzlich erschienene Werk von E. Wolff, . In seinem Überblick über die Geschichte der deut­schen Dramaturgie erwähnt Wolff nicht nur Tieck mit keinem Worte, sondern schreibt O. Ludwigs das Verdienst zu, das Tiecks gebührt. Die mit Schiller ist von Tieck fast ein halbes Jahrhundert vor O. Ludwig vollzogen worden. Der Schluß, zu dem O. Ludwig gelangt, daß die wahre historische Tragödie von Schil-1er wieder zu Shakespeare zurückkehren müsse, ist sozusagen der Angelpunkt von Tiecks dramaturgischen Schriften. Wie Lessing

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mit den Franzosen abrechnete, so rechnete Tieck init Schiller ab, mit voller Anerkennung seiner Begabung und seiner Verdienste, und wies wie Lessing auf Shakespeare hin. Deshalb nicht Ludwigs , sondern Tiecks als Markstein in der Geschichte der deutschen Drama­turgie.»

Viel zur Verkennung Tiecks hat auch beigetragen, daß er seine Ansichten nicht in einem geschlossenen System, sondern mehr gelegentlich vorgetragen hat. Sie finden sich zerstreut in seinen verschiedenen Schriften. Bischoff gibt eine Übersicht der Schrif­ten, die in Betracht kommen: a) die Vorberichte zu seinen dich­terischen Werken, b) die Unterhaltungen über Kunst und Litera­tut im «Phantasus», c) die satirischen Ausfälle in den Märchen-komödien und Schwänken, besonders im «Zerbino» und «Ge­stiefelten Kater», d) die im zweiten Bande von Köpkes Biographie enthaltenen «Unterhaltungen mit Tieck», e) als Hauptquelle die «Kritischen Schriften», die Tieck von 1848-1852 in vier Bänden bei Brockhaus in Leipzig herausgegeben hat, f) als Anhang kom­men in Betracht die von Köpke herausgegebenen «Nachgelasse­nen Schriften».

Ästhetische Untersuchungen liebte Ludwig Tieck nicht. Er war der Meinung, daß man mit der Theorie niemals die feinen Unter­scheidungen, die in der Kunst in Betracht kommen, treffen könne. Man muß theoretisch die Wahrheit nach irgendeiner Seite hin übertreiben, um zu einer präzisen Definition zu kommen. Deshalb bleiben solche Theorien im Halbwahren stecken, wenn sie nicht gar zu ganz Unwahrem ihre Zuflucht nehmen müssen.

Als guter Psycholog erweist sich Bischoff dadurch, daß er den Unterschied aufstellt zwischen Tieck, dem Dramatiker, und Tieck, dem Dramaturgen. Wer diesen übersieht, muß Tieck unterschät­zen. In Tiecks Dramen herrscht eine unklare Phantastik vor; nir­gends weiß der Dichter die Gebilde der Einbildungskraft durch den kritischen Verstand zu zügeln; von geordneter Komposition ist wenig zu finden, und dennoch fordert Tieck, der Dramaturg, von dem Drama die künstlerische Täuschung in erster Linie. Diese wird bei einem solchen Überwuchern der Phantasie, wie sie in

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seinen eigenen Dramen herrscht, nie au erreichen sein. Ein Abbild des Lebens fordert Tieck, der Dramaturg; ein phantastisches Spiel gibt Tieck, der Dramatiker. Ferner sucht Tieck als Dramendichter seine Stoffe im Mittelalter; zugleich verlangt er als Dramaturg die unmittelbare Gegenwart der Handlung. Als Kritiker verpönt Tieck die Stimmungsmalerei im Drama, als Dichter legt er in seine Dramen Ottaven, Terzinen, Stanzen, Kanzonen ein, die au nichts als zur lyrischen Ausmalung der Stimmung dienen.

Tieck hat in seinem «Karl von Berneck» das wahre Urbild einer grausigen Schicksalstragodie gezeichnet; dennoch verurteilt er diese dramatische Gattung als Kritiker in der schärfsten Weise.

In einleuchtender Weise erklärt Bischoff diesen Zwiespalt in der Persönlichkeit Tiecks. Man muß in dessen Schaffen zwei Perioden unterscheiden: eine romantische, die etwa bis 1820 dauert, und eine solche, die durch die Abwendung von aller Romantik und der Zukehr au einer mehr realistischen Weltauffassung ihr Gepräge erhält. Die Dramen gehören der ersten Periode an, die dramatur­gischen Studien fallen in die Zeit nach der Änderung seiner ästhe­tischen Grundüberzeugungen. «Mit dem beschließt Tieck seine romantische Produktion, um sich in seinen Novellen, deren lange Reihe er im Jahre 1820 beginnt, dem modernen Leben zuzuwenden, und dieses in vorwiegend realistischer Weise au schildern.» «Der grelle Gegensatz zwischen seiner dramatischen und dramaturgischen Produktion erklärt sich also durch eine voll­ständige Änderung in seinen ästhetischen Ansichten; seine drama­turgische Tätigkeit beginnt erst, als seine dramatische beendet wan»

Im Jahre 1810 sind Tiecks «Briefe über Shakespeare» erschie­nen. In dieser Zeit sind die Ansichten der Romantiker auch die seinigen. Aber im Laufe der Zeit wendet er sich ganz von diesen Ansichten ab. Er spricht das Köpke gegenüber klar aus: «Man hat mich zum Haupte einer sogenannten romantischen Schule machen wollen. Nichts hat mir ferner gelegen als das, wie überhaupt in meinem ganzen Leben alles Parteiwesen. Dennoch hat man nicht aufgehört, gegen mich in diesem Sinne au schreiben und zu spre­chen, aber nur, weil man mich nicht kannte. Wenn man mich aufforderte,

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eine Definition des Romantischen zu geben, so würde ich das nicht vermögen. Ich weiß zwischen poetisch und roman­tisch überhaupt keinen Unterschied au machen.» «Das Wort romantisch, das man so häufig gebrauchen hört, und oft in so verkehrter Weise, hat viel Unheil angerichtet. Es hat mich immer verdrossen, wenn ich von der romantischen Poesie als einer be­sonderen Gattung habe reden hören. Man will sie der klassischen entgegenstellen und damit einen Gegensatz bezeichnen. Aber Poesie ist und bleibt zuerst. Poesie, sie wird immer und überall dieselbe sein müssen, man mag sie nun klassisch oder romantisch nennen.» - Der größte, der typische Dramatiker ist für Tieck Shakespeare. Zunächst mag diese Shakespeare-Begeisterung wohl auch romantischen Ursprungs sein. Aber in seinen reifen Jahren wirft er der romantischen Shakespeare-Kritik vor, daß sie Shake­speare losgelöst von dem allgemeinen Entwickelungsgange seiner Zeit und ihn wie ein Wunder, das vom Himmel gefallen ist, hin-gestellt habe. Dennoch ist zwischen Tiecks Shakespeare-Auffassung und derjenigen der Schlegel kein großer Unterschied. Nicht an ihr wird sein Gegensatz zur Romantik besonders klar. Dies ist viel­mehr bei seinem Urteil über Calderon der Fall. Den mächtigen Einfluß Calderons auf das deutsche Drama stellt Tieck als einen verderblichen hin: «Bald war ohne nähere Kritik Calderon der Lieblingsdichter unserer Nation geworden. Das Zufällige, Fremd­artige, Konventionelle, das seine Zeit ihm auferlegte, oder das er zur Künstlichkeit erhob, wurde dem Wesentlichen, Großdramati­schen in seinen Arbeiten nicht nur gleichgestellt, sondern oft dem wahren Dichterischen vorgezogen. Man vergaß auf lange, was man vor kurzem noch an Deutschen wie Engländern bewundert hatte, und so ungleich beide Dichter auch sein mögen, hielt man Calderon und Shakespeare doch wohl für Zwillingsbrüder; und andere, noch mehr Begeisterte, meinten, Calderon fange da an zu sprechen, wo Shakespeare aufhörte, oder führe jene schwierigen Aufgaben auf große Art durch, denen sich der kältere Nord­länder nicht gewachsen fühlte; selbst Goethe, ja sogar Schiller traten in jener Zeit den Trunkenen gegenüber in einen dunklen Hintergrund zurück, jenen Berauschten, die wirklich und im Ernst

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glaubten, das wahre Heil für die Poesie könne uns nur von den Spaniern und namentlich von Calderon kommen.>

Am verhaßtesten ist dem Kritiker Tieck die deutsche Schicksals-tragödie. Gegen die blinde, dämonisch wirkende Schicksalsangst, die in der Weltanschauung der Romantik eine so große Rolle spielte, wendet er sich in der schärfsten Weise und mit beißendem Spott> obgleich dieselbe Macht in seinen Jugenddramen eine schlimme Rolle spielt. «Im ist, soviel ich weiß, zum erstenmal der Versuch gemacht worden, das Schicksal auf diese Weise einzuführen. Ein Geist, welcher durch die Erfüllung eines seltsamen Orakels erlöst werden soll, eine alte Schuld des Hauses, die durch ein neues Verbrechen, welches am Schluß des Stückes als Liebe und Unschuld auftritt, gereinigt werden muß, eine Jungfrau, deren zartes Herz auch dem Mörder vergibt, das Gespenst einer unversöhnlichen Mutter, alles in Liebe und Haß, bis auf ein Schwert selbst, das schon zu einem Verbrechen ge­braucht wurde, muß, ohne daß es geändert werden kann, ohne daß die handelnden Personen es wissen, einer höheren Absicht dienen. Wie sehr dieses Schicksal von jenem der griechischen Tragödie verschieden war, sah ich schon damals ein, ich wollte aber vor­sätzlich das Gespenstische an die Stelle des Geistigen unterschie­ben>. Später verurteilt er ein solches Dramatisieren: «Statt der Schulden und Geldnot ein Verbrechen, Entführung, Ehebruch, Mord, Blut; statt des Onkels, strengen Vaters, wunderlichen Alten oder Generals den Himmel selbst, der aber noch viel eigensinniger ist als jene Familien-Charaktere und obendrein grausam, weil er keine andere Entwickelung kennt als Todesangst und Begräbnis.»

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Anschaulich tritt der Gegensatz zwischen Tieck, dem Dramatur­gen, und Tieck, dem Dramatiker, in dessen scharfer Verurteilung der Dramen des reifen Schiller zutage. Wie ein Hohn auf die eigene Produktion erscheint es, wenn Tieck das Walten des Schick­sals in der «Braut von Messina» mit bitteren Worten tadelt. Denn Schiller hat versucht, dem dunkel waltenden Schicksal einen Schein

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von Notwendigkeit zu geben; während ihm Tieck selbst in seinem «Abschied> und in der Gestalt des Zufalls eine wüste Herrschaft einräumt.

Die Ablehnung des Romantischen gegenüber dem Natürlichen, Menschlichen spricht sich bei Tieck am schroffsten aus in seiner Kritik der antikisierenden Richtung Schillers und Goethes. Er ist überhaupt ein Feind des Humanismus, der die antike Bildung und Anschauung in das moderne Leben hineinträgt. Er verspricht sich ein Gedeihen der Kunst nur, wenn sie ihren Inhalt aus dem Boden des Nationalen saugt. In «Goethe und seine Zeit> spricht er sich gegen den Humanismus aus: «Es wäre zu wünschen, daß ein eben­so genialer Kopf wie Rousseau oder Fichte war, mit derselben scharfen, womöglich noch schärferen Einseitigkeit als diese über den geschlossenen Handelsstaat und den Schaden der Wissen­schaften geschrieben haben, dartun möchte, welchen Nachteil uns die Kenntnis der Alten gebracht hat. Wie alles bis dahin noch in Erinnerung Bestehende zum Verächtlichen herabgesunken, wie alles neue, gute und richtige Bestreben gehemmt, wie das Eigen­tümliche, Vaterländische oft durch eine verkehrte Anbetung und halbes Verständnis der Alten ist vernichtet worden.> Und in sei­nem dramatischen Märchen: «Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen> spottet er, indem er Gegenstände, die aus dem Volksmärchen entlehnt sind, zum Beispiel die Sieben­meilenstiefel, ironisch in antikem Lichte darstellt: #SE029-092

Alten gebildet, die lassen uns in keiner unserer Bestrebungen fal­len.> Dies lässt Tieck den Hofschuster Zahn sagen.

Die moderne Welt, das moderne Leben sind grundverschieden von denen der Griechen, meint Tieck. Deshalb verurteilt er das Herüberziehen der antiken Weise in die moderne Dramatik, wie es Goethe, Schiller und die beiden Schlegel forderten. Auch an den Griechen schätzt Tieck dasjenige vor allem, was sich in der Darstellung und Auffassung dem Modernen nähert, wie zum Bei­spiel die Dramen des Euripides, während sich die Gräkomanen mehr zu Sophokles und Äschylos hingezogen fühlen, in denen das Spezifisch-Griechische zum reineren Ausdruck kommt. Das Lob, das Goethe und Schiller dem Aristoteles spenden, ist Tieck gründlich zuwider. Er sieht einen Grundunterschied zwischen den Lebensbedingungen des griechischen und des deutschen Dramas. Bei den Griechen kam es auf die Ausgestaltung der Fabel, der Handlungen an; bei den Modernen ist die Herausarbeitung der Charaktere die Hauptsache. «Das neuere Drama ist offenbar vom alten wesentlich verschieden, es hat den Ton heruntergestimmt, Motive, Charakterzeichnung, die Zufälligkeiten des Lebens treten mehr hervor, die Gemütskräfte und Stimmungen entwickeln sich deutlicher, die Komposition ist reicher und mannigfaltiger und die Beziehung auf das öffentliche Leben, die Verfassung, Religion und das Volk ist entweder zum Schweigen gebracht oder steht zum Werke selbst in einem ganz anderen Verhältnis. Die Bedeu­tung des Lebens, dessen Verirrung, das Individuelle, Seltsame ist mehr zur Sprache gekommen; und diejenigen Autoren, die zuwei­len den runden, vollen Ton der alten Tragödie haben anschlagen wollen, sind fast immer in Bombast und den Ton des Seneca verfallen.»

Tieck stellt das moderne Charakterdrama dem alten Situations-drama gegenüber. Im Mittelpunkte seiner dramaturgischen Aus­führungen steht der Gedanke, daß das moderne Drama die Auf­gabe habe, die Charakteristik und Realistik zu pflegen. Des­halb wendet er sich gegen den Schillerschen Idealismus und wird nicht müde, ihm den Shakespeareschen Realismus entgegenzustellen.

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Die eigentlichen Schäden der antikisierenden Richtung findet Tieck in den späteren Goetheschen und Schillerschen Dramen. Die jugendwerke beider Dichter haben seinen fast uneingeschränkten Beifall. Er bedauert, daß Schiller von der Bahn, die er in seinen «Räubern», Goethe von derjenigen, die er in seinem «Götz» eingeschlagen, sich entfernt haben. Und er erhebt gegen den ersteren den schweren Vorwurf, daß er, «sowie er gewissermaßen erst unser Theater gegründet hat, auch der ist, der es zuerst wieder zerstören half.» «So weit von der Wahrheit wie in der hat sich unsere Bühne wohl noch nie verirrt, und es bleibt ein unbegreiflicher Irrtum des großen Dichters, auf diese Weise, die das Schauspiel aufhebt, statt es zu ergänzen oder zu verklären, den Chor der Alten für uns ersetzen zu wollen.» Dagegen läßt Tieck den Elsheim zum Leonhard in dem «Jungen Tischlermeister» von den «Räubern» sagen: «Du weißt, wie ich dieses kecke, verwegene, zum Teil freche Gedicht liebe, mehr als die meisten meiner Lands­leute, die Schiller verehren. Es ist ein übertrotziges Titanenwerk eines wahrhaft mächtigen Geistes, und ich finde nicht nur schon ganz den künftigen Dichter darin, sondern glaube sogar Vortreff­lichkeiten und Schönheiten in ihm zu entdecken, Ankündigungen, die unser geliebter Landsmann nicht so erfüllt hat, wie wir es nach diesem ersten Aufschwung erwarten durften.> Man vergleiche damit etwa Tiecks Urteil über «Wilhelm Tell»: «Wenn manche, selbst bedeutende Kritiker dieses Werk für das beste, für die Krone Schillers haben erklären wollen, so kann ich so wenig mit diesem Urteil übereinstimmen, daß ich vielmehr das Schauspiel im Schauspiele vermisse, und daß, wie ich glaube, die ganze Virtuosi­tät und Erfahrung eines gereiften Dichters dazu gehörte, um aus diesen einzelnen Szenen und Bildern, aus diesen Reden und Schil­derungen, fast unmöglichen Aufgaben und Begebenheiten, die meist undramatisch sind, scheinbar ein Ganzes zu machen. und sind Kunstwerke in einem viel höheren Sinne, und das Fragmentartige des beweist sich schon darin, daß man ohne Nachteil, vielleicht mit Gewinn den Schluß weg­lassen und die Szene der Liebe ausstreichen könnte, die durchaus nicht mit dem Tone des Ganzen zusammenklingen will. Dieses

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Werk ist eben ein Beweis, wie leicht wir Deutschen uns an Ge­sinnung und Schilderung begnügen.»

Übereinstimmend mit diesen Auslassungen Tiecks sind seine folgenden über Goethe: «Ich habe Goethe in seinen Jugend­dichtungen unendlich bewundert und bewundere ihn noch; ich habe soviel zu seinem Lobe gesprochen und geschrieben, daß, wenn ich jetzt so viele unberufene Lobredner höre, ich noch in meinem hohen Alter in Versuchung kommen könnte, zur Ab­wechslung einmal ein Buch gegen Goethe zu schreiben. Denn darüber wird man sich nicht täuschen können, daß auch er seine Schwächen hat, die die Nachwelt gewiß erkennen wird.» «Niemals dürfen wir zugestehen>, heißt eine andere Äußerung, «daß Goethe späterhin in seiner Begeisterung, Dichterkraft und Ansicht höher gestanden habe als in seiner Jugend . . . Sein Streben nach dem Vielseitigen hat seine Kräfte zersplittert, sein bewußtvolles Um-blicken hat ihm Zweifel erregt und auf Zeiten die Begeisterung entfernt.»

Dagegen hebt Tieck an den Dramen der Stürmer und Dränger den Stempel des deutschen Geistes und den wahrhaft modernen Charakter hervor. Recht hineinblicken in Tiecks Auffassung läßt uns sein Urteil über Heinrich von Kleist. Dessen tiefes Eindrin­gen in die dargestellten Charaktere, seine wahrheitsgetreue Reali­stik weiß er nicht oft genug hervorzuheben. Besonders charakteri­stisch sind seine Aussprüche über den «Prinzen von Homburg » . Er tadelte das Publikum, das sich daran gewöhnt hat, alle Helden nach einer gewissen Schablone gezeichnet sehen zu wollen. Der allgemeine Begriff eines Helden hat den Blick dafür getrübt, daß eine individuelle Heldenfigur einmal auch so sein kann wie der Prinz von Homburg. Ein Held soll, nach jenem allgemeinen Be­griffe, vor allem den Tod verachten, das Leben gering schätzen. Aber Kleist habe einmal einen Helden gezeichnet, aus dessen Seelenbeschaffenheit seine Todesfurcht verständlich ist.

In richtiger Weise zeichnet Bischoff das Verhältnis Tiecks zu Lessing. An diesem Verhältnisse wird zugleich anschaulich, wie sich Tieck zu dem Naturalismus stellt. Lessing, meint Tieck, habe mit Eifer gegen das Verschrobene und Alberne eines konventionellen

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Idealismus sich gewendet. Aber er sei dadurch in den Irrtum verfallen, die Natur als solche darstellen zu wollen. Er wurde auf diese Weise der Erfinder und Einrichter des häuslichen, natürlichen, empfindsamen, kleinlichen und durchaus untheatrali­schen Theaters. Denn Tieck wollte trotz seines realistischen Glau­bensbekenntnisses niemals die bloße Natürlichkeit auf der Bühne sehen, sondern die vertiefte, in ihrem Wesen erkannte Natürlich­keit. Deshalb erschienen ihm Kleists Figuren, die ihre Seele offen­bar werden lassen, dramatischer als Lessings Personen, die aus ein­zelnen Beobachtungen zusammengefügt sind.

Ein Ergebnis der Anschauungen Tiecks über das Drama sind seine Ausführungen über die Schauspielkunst. In dem großen Kampfe zwischen der Hamburger und Weimarer Richtung schlug er sich auf die Seite der Streiter, welche die erstere verteidig­ten und übten. Er wollte nicht Deklamation, sondern Charakter-darstellung, nicht das Schöne, sondern das Bedeutungsvolle. Er soll sich mit scharfen Worten gegen Goethes Ansicht von der Schauspielkunst gewendet haben. Spöttische Bemerkungen hat er wohl gemacht über die Regeln, wie sie der Weimarer Dichter und Theaterleiter verteidigte: daß alles schön dargestellt sein solle, daß das Auge des Zuschauers durch anmutige Gruppierungen und Attitüden gereizt werden solle, oder daß der Schauspieler zuerst bedenken möge, nicht das Natürliche herauszuarbeiten, sondern es idealisch vorstellen solle. Viel näher als Goethe steht in dieser Beziehung Tieck den modernen Anschauungen. Er hatte kein Ver­ständnis dafür, daß der Darsteller immer drei Viertel vom Gesicht gegen die Zuschauer wenden müsse, nie im Profil spielen, noch den Zuschauern den Rücken zuwenden dürfe. Künstliche Dekla­mation und falsche Emphase nennt Tieck ein solches Spiel. Er lobt dagegen Schröder: «Die Einfachheit und Wahrheit ist es, was Schröder charakterisierte, daß er keine bestechende Manier sich zu eigen machte, niemals in der Deklamation ohne Not in Tönen auf- und abstieg, niemals dem Effekt, bloß um ihn zu erregen, nachstrebte, nie im Schmerz oder in der Rührung jene singende Klage anschlug, sondern immer die natürliche Rede durch richtige Nüancen führte und nie verließ.>

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Hinreißend soll Tieck als Vorleser gewesen sein. Er hat gerade dadurch bewiesen, wie hoch er eine stilistisch vollendete Art der Rede trotz seiner Forderung der Natürlichkeit schätzte.

Überhaupt darf man Tiecks Bestrebungen nicht verwechseln mit den Forderungen nach einer völligen Abstreifung alles dessen, was die Bühne ihrer Natur nach verlangt. Er hatte für die Möglich-keiten des Theaters einen feinen Sinn. Charakteristisch ist, was er über die Dekorationen sagt: «Warum soll die Bühne nicht ge­schmückt sein, wo es paßt, durch Aufzug, Tanz erheitern? Waram soll ein Gewitter nicht natürlich dargestellt werden? Es ist nur die Rede davon, daß dies nicht die Hauptsache werde und den Dichter und Schauspieler verdränge.» Das Ideal, das Tieck für die Bühne vorgeschwebt hat, ist ein Mittelding zwischen der altenglischen Bühne mit ihrer Schmucklosigkeit und der modernen Entfaltung aller möglichen raffinierten Mittel, die nur die Empfänglichkeit für die eigentliche Dichtung abstumpfen. Er brachte im Jahre 1843 Shakespeares «Sommernachtstraum» mit Hilfe der drei­stöckigen Mysterienbühne zur Aufführung, weil durch diese Einrichtung die unzähligen Verwandlungen vermieden werden, welche jeden Zusammenhang zerstören und eine Empfindung, die eben im Entstehen war, vernichten.

Am enthusiastischsten hat Devrient, der Verfasser der «Ge­schichte der deutschen Schauspielkunst», die Verdienste Tiecks um die deutsche Dramaturgie anerkannt. Während der Ausarbeitung dieses Werkes, am 24. März 1847, schrieb Devrient an Tieck: «Die Geschichte der deutschen Schauspielkunst, welche ich zu bearbeiten unternommen habe, bringt, je weiter und tiefer ich forsche, alles, was ich von Ihnen je über das Wesen unserer Kunst vernommen habe, mir wieder frisch in die Gedanken und läßt so vieles, was mir sonst Zweifel machte, zu völliger Überzeugung werden. Mit dem, was Sie über die Entwickelung der deutschen Bühne hier und da in Ihren Werken ausgesprochen - leider ist es nur viel zu wenig für mein Bedürfnis -, fühle ich mich immer mehr und mehr in Übereinstimmung geraten, so daß ich Ihre Anschauungen als die allerunfehlbarsten habe erkennen lernen.»

VON DER VORTRAGSKUNST

#G029-1960-SE097 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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VON DER VORTRAGSKUNST

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So sehr wie die Schauspielkunst liegt auch die Kunst des Rezi­tators im argen. Wir nehmen im wesentlichen die gleichen Mängel in beiden wahr. Hier wie dort meistens das Bemühen des Repro­duzierenden, aus dem Kunstwerk «etwas zu machen>, das heißt den Dichter sich und dem Streben nach Erfolg unterzuordnen. Bei dein Schauspieler ist uns dieser Mangel verständlich, denn wir müssen zugeben, daß selbst da, wo ein Drama der scharfen Akzen­niierung durch den Schauspieler entraten kann, das grobsinnige Publikum dem Lichter aufsetzenden Darsteller gern einen starken Brfolg bereitet. Daß wir dem gleichen Mangel in der Vortrags­kunst begegnen, ist uns weniger verständlich und dünkt uns auch weniger entschuldbar. Weniger entschuldbar deshalb, weil hier die Klippen nicht bestehen, die im Drama und in seiner szenischen Darstellung dem Reproduzierenden die Aufgabe erschweren. Weni­ger verständlich, weil wir anzunehmen geneigt sind, daß diese ihren ganzen Vorwürfen und ihrer Aufgabe nach schamhaftere Kunst nur Jünger auf ihren Weg lockt, denen genügend Entsagungsfähigkeit und ein hervorragendes Verständnis für ihre Ein­falt und Zartheit eigen ist. Aber die praktischen Erfahrungen be­weisen uns, daß die wenigsten Vortragenden begriffen haben, daß die Meisterschaft hier an das künstlerische Bescheiden gebunden ist. Sie sind meistens noch beruflich an die Schauspielkunst mit ihren ganz anderen Aufgaben gebunden, sie sind nicht immer ihre feinsinnigsten Vertreter und schleppen ihre Äußerungsweisen und gar ihre Mängel als Verbrechen in die neue Kunst hinein. Es ist peinlich und Entsetzen erregend, wie sie uns häufig durch Einfalt und durch zarte Stimmung hervorragende Werkchen dratuatisch pointiert und materialisiert oder gar durch starke Gesten unterstützt zu Gehür bringen. War es so wirklich einmal einem Kunstwerk vergönnt, in dieser lebhafteren Weise in Erscheinung zu treten, sich einem größeren Kreise, der vielleicht mit diesem Augenblick in ein Verhältnis zur Kunst zu bringen war, zu offenbaren, so wurde nun seine Seele mit groben Händen gewürgt, mit Knitteln totgeschlagen Diese Vortragsweise trägt nicht dazu bei, lebendige,

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befruchtende Beziehungen zwischen der Kunst und dem Volke herzustellen, nach denen beide Teile brünstig schreien.

Erfahrungen sagen uns, daß der Schauspieler, der sich nicht ge­nügend von den Bühnenmitteln lossagen kann, der schlechteste Jnterpret für Dichtungen ist, die keine mimischen Aufgaben stel­len. Mit unverwischbaren Eindrücken segneten mich durch ihren Vortrag Menschen, die diese Interpretation nicht berufsweise be­trieben, feinsinnige Nachempfinder oder selbstschöpferische Natu­ren, die manchmal nur bescheidene Stimmittel, nicht reichliche Modulationsfähigkeit und keine ausgebildete Technik besaßen, von denen man wohl sagen konnte, daß sie nicht . Man fühlte, daß sie noch bei dem Itampenlicht von der Stimmung des Kunstwerks gepackt waren. Mit einem schlichten, edlen, natürlich-menschlichen Ton trugen sie die Partien vor, die so ihren allein richtigen Ausdruck fanden, denen andere aber eine emphatische Prägung gaben. Wie ganz anders hoben sich von die­sem ruhvollen Grunde kleinere Wallungen ab, wie bewegung­weckend konnte da eine leiswehe Anspielung wirken, und welche unerhörte, uns aufwärtswirbelnde Steigerung ließ dieses Haushalten mit dem Pathos zu! Ach, hier erwies sich auch mit so un­fehlbarer Gewißheit, daß es nicht erlogene Schmerzen waren, die Dichter und Rhapsode in ihre Sprache legten. Der Rhapsode muß im Leben herzlich lachen und bitterlich weinen gekonnt haben, er muß Nalvität sich ins Mannesleben hinübergerettet haben, er muß nicht allzuviel berufsmäßig Lachen und Weinen wecken müssen; Erlebnis muß ihm das Kunstwerk sein, er muß weinen, beben und donnern können, ohne zu winseln oder zu poltern, dann folgen wir ihm willig an die ungewohntesten Stätten, zu den Inseln der Glückseligen oder zu den Schrecken des Orkus. Eine derartige Teilnahme kann von einem Berufsinterpreten kaum erwartet werden; von einer Sensation in die andere ge­schleudert, stumpfen sie ihn endlich ab; es gehörten auch allzu starke Naruren dazu, die nicht von einer derartigen ungemilder­ten Teilnahme aufgezehrt werden sollten. Nur geniale Schauspie­ler, deren universeller Geist es ihnen leicht macht, die spezifische Berufssphäre zu verlassen, schlichte, liebenswürdige Mimen, die

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ihren Menschheitskern so beisammen haben, daß ein Berufs­niarasmus nicht eindringen kann: diese zeigen sich auch geeignet, ein Kunstwerk zur Gelrung zu bringen. Von ihnen kann jeder Rhapsode unendlich viel lernen. Denn es gibt spröde Kunstwerke, die unsern Sinn unerwärmt vorübergehen ließen, und wo es erst eines erfahrenen In-die-Tiefe-Dringers bedarf, um uns ein bedeu­tendes Leben aufzudecken. Eine einzige solche Gelegenheit hat uns vielleicht dazu verholfen, jedem ferner uns begegnenden Kunstwerk mit einer erweiterten Aufnahmefähigkeit gegenüber­stehen zu können. Es hat Dichter gegeben, die erst eines solchen Apostels bedurften, um Geltung und hiermit die Bedingungen weiteren Schaffens zu erlangen.

Die Lyrik und die feinere Prosadichrung führen ein unbeachte­tes Dasein, und es fehlt so ihren Schöpfern an einem blinkenden, höher lockenden Ziele. Es ist nicht wahr, daß der Dichter keine Anerkennung nötig habe. Das Gerede von der «Kunst als Selbst­zweck» ist ein allen Sinns entbehrendes Ammengerede, das man mit dem Pennäler ablegen sollte, und im allgemeinen ist die Be­hauptung, daß die Lyrik der lebhafteren, durch den Vortrag ge­gebenen Äußerungsart entraten könne, eine unsinnige. Es gibt nur wenige im Volk, deren Imagination durch den Vortrag verletzt würde; bei den meisten Menschen hingegen wird eine sinnliche Hingebung an das Kunstwerk erst ermöglicht, und Form und In­halt beleben sich ihnen. Vor allem: wenigstens auf diesem Boden bietet sich einmal eine Vereinigung des Dichters mit dem Volke. Eine jede derartige Berührung hilft dem Dichter von seiner Blut­armut. Denn die Inzucht unter den geistig und seelisch Schaffen­den ist jammergroß und kann nicht bei allen auf den Ekel an unseren Kulturverhältnissen zurückgeführt werden. Jede Berüh­rung wird auch auf ihre künftigen Kunstäußerungen lebenspen­dend wirken.

Die Kunst verlangt nach Gelegenheiten, sich lebhaft durch ver­mittelnde Organe äußern zu können. Mir scheint, daß das Wirken für die Kunst sich mehr in die Breite werfen muß. Die Zenrali­sation saugt Kräfte auf, ohne sie entsprechend nach außen zur Geltung zu bringen; mit dem Wirken des Einzelnen in seinem

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Kreise wird ein sensibleres Publikum geschaffen werden. Wir brauchen mehr Rhapsoden, doch wir brauchen auch bessere Rhapsoden, als wir sie heute im allgemeinen haben. Die Möglich­keiten, zu wirken und edel zu wirken in dem Sinne meiner For-derungen, mehren sich auf dem angegebenen Wege. Er wird uns die Rhapsoden zufuhren, die die Kraft haben, ein festlich ver­sammeltes Volk zu fesseln. Dieser Weg wird Gutes für das aufnehrnende Volk, für die Künstler und für die Künste bringen. Gesündere Wechselbeziehungen werden hergestellt werden.

Ich fühle selbst deutlich genug, daß meine letzten Sätze sich auf dem Felde von «wenn und aber» bewegen. Man braucht mich nicht darauf festnageln zu wollen. Ich meine aber, ich tat mein Teil, wenn ich offen von dem Jammer sprach, den wir alle füh­len. Wir wollen eine Rhapsodenkunst, eine große, wenn es sein kann, für die Festtagsbedürfnisse unserer Seele, doch zu jeder Stunde ist uns auch eine bescheidenere lieb, wenn sie nur edel und einfach ist. Ob groß oder bescheiden: hinaus mit den Mätzchen!

NACHSCHRIFT

#G029-1960-SE100 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NACHSCHRIFT

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Die Frage, welche in dem vorstehenden Aufsatz behandelt wird, werden vielleicht manche Leser nicht als eine dramaturgische gel­ten lassen wollen. Dennoch glaube ich, daß die Angelegenheit hier an der rechten Stelle zur Sprache kommt. Die Kunst des Vortrags kann, wie die Dinge heute einmal liegen, nur im Zu­sammenhange mit der Schauspielkunst behandelt werden. Die Orientierung über diese heute so stiefmütterlich betrachtete Kunst verlangt vor allen anderen Dingen die Lösung der Aufgabe: Wie verhält sich die Vortragskunst zur Schauspielkunst? Der letzteren stehen ungezählte Mittel zur Verfügung, die der Vortragende entbehren muß. Man muß sich klarmachen, daß beim bloßen Vortrage eine volle künstlerische Wirkung nur wird erzielt werden können, wenn das Mimische durch anderes ersetzt wird.

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Unsere Zeit scheint wenig geneigt, die Vortragskunst überhaupt unter die Künste zu zählen. Das ist begreiflich, wenn man be­denkt, daß gegenwärtig das Streben nicht nach Einschränkung der künstlerischen Mittel, sondern nach Erweiterung geht. Die Wag­nerische Kunst mochte mit Aufwendung aller Kunstmittel ein Ge­samtkunstwerk schaffen. Ist es nicht doch ein Zeichen für die künst­lerische Armut der Zeit, daß man alles zusammenzutragen sucht, um zu sagen, was man sagen will? Die Ausdrucksfähigkeit eines geringen Umfangs von Mitteln so zu erhöhen, daß man mit ihnen offenbaren kann, wozu die Natur einen großen Aufwand nötig hat, scheint viel künstlerischer. Was hat die Natur alles zu Ge­bote, um einen Menschen vor uns hinzustellen! Wie wenig davon hat der Bildhauer. Er muß in das Wenige hineinlegen, was die Natur mit ihrem Vielen erreicht.

Ebenso muß der Vortragende in seine Rede legen können, was beim natürlichen Sprechen nur im Verein mit anderem zum Le­ben kommt. Die Seele, die beim natürlichen Sprechen sich im Innern der Brust zurückhält, muß ausfließen in das Wort. Wir müssen Empfindungen hören, wenn wir einen Vortragskünstler vor uns haben. Damit steht im Zusammenhange, was über den Sprechstil beim Vortrage zu sagen ist. Ein Vortragender, der , sondern glaubt: «das kann man ja beque­mer haben, wenn man die Sachen selber liest.> Man wird erst ver­stehen lernen müssen, daß dies genau so treffend ist, wie wenn man sagt: wozu brauche ich eine gemalte Landschaft zu sehen? Ich sehe mir lieber die wirkliche Natur an. Was uns an einem Bilde interessiert, ist nicht die dargestellte Landschaft, sondern die Art, wie mit Linien und Farben das dargestellt werden kann, was die Natur mit unendlichen Kräften erreicht. Das Gefühl für das Wie des Vortrags sollte erweckt werden.

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Wir werden eine richtige Aufnahmefähigkeit für dieses Wie erst dann haben, wenn uns der Inhalt des Vorgetragenen bekannt ist. Mit dem Interesse an dem Vortrage hat das stoffliche Inter­esse an dem Inhalt nichts zu tun. In den Sprachorganen liegen die Mittel des Vortragskünstlers. Und um des Genusses willen, den uns das Sprechen gewährt, müssen wir einen solchen Künstler hören.

Wenn wir so weit sind, wird sich der Vortrags- zum Bühnen-künstler so verhalten wie der Konzertsänger zum Opernsänger. Man braucht nur unsere Ästhetiken durchzusehen, um zu wissen, wie weit wir auf diesem Gebiete noch von einem wünschenswer­ten Ziele entfernt sind. Deshalb glaube ich, daß in dem obigen Aufsatze allerdings eine brennende Frage aufgeworfen ist.

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NOCH EIN WORT ÜBER DIE VORTRAGS KUNST

#G029-1960-SE102 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NOCH EIN WORT ÜBER DIE VORTRAGS KUNST

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In einem meiner Aufsätze ist auch der Vortragskunst Ludwig Tiecks gedacht. Ich möchte über diesen Gegenstand, anknüpfend an den vorigen Aufsatz, ein paar Worte vorbringen. Dort wurde die Wichtigkeit und der künstlerische Wert des Vortrages hervorgehoben. Das Beispiel Tiecks liefert einen schlagenden Beweis für das über diesen Wert Vorgebrachte. Ich möchte die Behaup­tung wagen, daß Tieck ein so ausgezeichneter Theaterleiter haupt­sächlich deshalb war, weil er ein solch hervorragender Vortrags­meister war. Dadurch stand er als ausübender Künstler in einem Gebiete dem Theater nahe, das eng mit der Schauspielkunst ver­wandt ist. Der Theaterleiter soll, was auch in diesen Blättern bereits hervorgehoben worden ist, ein Literat, entweder ein dra­matischer Dichter oder ein Kritiker sein. Nur dadurch ist er im­stande, das Theater in das richtige Verhältnis zur Literatur zu bringen. Ein Schauspieler oder Regisseur als Bühnenleiter wird stets die Neigung haben, die Stücke unter dem Gesichtspunkte zu betrachten, wie sie durch die Kunst des Schauspielers wirken.

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Ihr literarischer Wert wird für ihn gegenüber der Frage, ob sie gute Rollen enthalten, ob sie theatralisch wirksam sind und der­gleichen, weniger in Anschlag kommen. Als Literat oder Dichter wird aber der Bühnenleiter den praktischen Theaterleuten gegen­über nur sehr schwer sich Autorität verschaffen können. Wesent­lich erleichtert wird ihm das letztere dadurch werden, daß er als vortragsmeister eine Wirkung auszuüben vermag. Dies eben wird durch Tieck bewiesen.

In der Zeit, in der Tieck am Dresdner Theater tätig war, gehörten seine Vorträge zu den Dingen, welche in der Stadt künstlerisch in Betracht kamen. Wie man als Besucher Dresdens in die Gemäldegalerie ging, so suchte man auch Zutritt zu einer solchen Vorlesung zu gewinnen. Dadurch wirkte der Bühnenleiter ungemein anregend auf die Schauspieler.

Man weiß, daß Tieck es verstand, beim Vortragen meisterhaft zu charakterisieren. Es ist schade, daß er uns nicht Ausführungen über diese Kunst hinterlassen hat. Sie wären gewiß ebenso lehr­reich wie seine Aussprüche über Dramaturgie und Schauspiel­kunst. Denn eine Theorie der Vortragskunst fehlt uns beinahe ganz. Mehr als auf irgendeinem Gebiete ist auf diesem der Ler­nende ganz sich selber und dem Zufalle überlassen.

Nicht nur für den Schauspieler, sondern für weiteste Kreise der Gebildeten wäre heute eine solche Theorie von Nutzen. Bei der Gestalt, welche unser öffentliches Leben angenommen hat, kommt gegenwärtig fast jeder in die Lage, öfter öffentlich sprechen zu müssen. Man wäre gerne geneigt, für die Ausbildung der Sprach-kunst erwas zu tun, wenn man gezwungen ist, öffentlich zu spre­chen. Aber man ist, wenn man auf diesem Gebiete sich zu ent­wickeln sucht, darauf angewiesen, zu einem Bühnenkünstler oder zu einem Vortragsmeister zu gehen, der die Kunst des Vortrags auch nur mit Rücksicht auf die Bühne übt. Der Redner soll aber kein Schauspieler sein. Die Erhebung der gewöhnlichen Rede zum Kunstwerk ist eine Seltenheit. Wir Deutsche sind darin un­glaublich lässig. Es fehlt uns zumeist ganz das Gefühl für Schön­heit des Sprechens und noch mehr für charakteristisches Sprechen. Unsere bedeutendsten Redner sind keine Künstler des Redens.

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Man glaube nicht, daß eine ohne alle Kunst vorgebrachte Rede die gleiche Wirkung haben kann wie eine solche zum Kunstwerk veredelte.

Dies alles hat nun freilich wenig mit der Bühnenkunst zu tun. Es wird aber doch auch für diese wichtig. Wer selbst einige Aus­bildung in der Kunst des Sprechens erlangt hat, wird ein viel richtigeres Urteil über die Leistungen eines Schauspielers erlangen können als derjenige, der von dieser Kunst nichts versteht. Bei weitem die Mehrzahl der Literaten und Journalisten, die heute über das Theater schreiben, sind unfähig, ein Urteil über die Kunst des Sprechens abzugeben. Dadurch erhalten ihre Urteile etwas Dilettantenhaftes. Niemandem wird man das Recht zu­gestehen, über einen Sänger zu schreiben, der keine Kenntnis des richtigen Singens hat. In bezug auf die Schauspielkunst stellt man weit geringere Anforderungen. Man ist mit allgemeinem laienhaf­tem Herusnreden über künstlerische Leistungen auf diesem Ge­biete zufrieden. Die Leute, die verstehen, ob ein Vers richtig ge­sprochen wird oder nicht, werden immer seltener.

Man hält künstlerisches Sprechen heute vielfach für verfehlten Idealismus. Dazu hätte es nie kommen können, wenn man sich der künstlerischen Ausbildungsfähigkeit der Sprache besser be­wußt wäre.

Auch unsere Schulen legen auf die Pflege künstlerischen Spre­chens viel zu wenig Gewicht. Man übersieht, daß nachlässiges, unkünstlerisches Sprechen auf denjenigen, der dafür die richtige Empfindung hat, ebenso abstoßend wirkt wie eine geschmacklose Kleidung. Wir gehen daran, dem Kunsthandwerk eine größere Sorgfalt zuzuwenden, als dies bisher geschehen ist. Wir wollen die Wohnungen nicht nur zweckinäßig, sondern auch kunstgemäß einrichten. Eine Art Kunsthandwerk ist auch das Sprechen. Auch bei ihm muß die Natur zur Kultur erhöht werden.

Die Wohnungen wollen wir so einrichten, daß sie nicht nur zweckmäßig, sondern auch schön sind. Alles soll auf die Bestim­mung der Wohnung hindeuten. Aber es soll nicht abstrakt-zweck-mäßig, es soll nicht nüchtern sein. Der Zweck soll so erscheinen, daß er auf eine schöne Weise auf die Bestimmung hindeutet.

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Ein Ähnliches möchten wir von der Rede verlangen. Zunächst hat sie die Aufgabe, den Sinn dessen zu vermitteln, was mitgetcilt werden soll. Man soll sie dazu so geeignet wie möglich machen. Aber diese Aufgabe kann in verschiedener Weise erreicht werden. Es kann so geschehen, daß auf Schönheit und Grazie des Ausdruckes gar kein Wert gelegt wird. Dann wird - bei noch so bedeutendem Gegenstande - die Rede nüchtern, vielleicht sogar geschmacklos wirken. Es kann aber auch so geschehen, daß das Zweckmäßige auf schöne, auf graziöse Weise erreicht wird.

Hier wird dem persönlichen Takte ungeheuer viel zugemutet. Ein Redner, der einen Inhalt in einer Weise ausspricht, welche die Absicht merken läßt, schön zu reden, wird als «Schönredner» wenig Eindruck machen. Aber es gibt einen Grad von Schön­rednerei, der genau dem Gegenstande entspricht. Trifft der Red­ner diesen Grad, so wird in seiner Rede die Harmonie zwischen Ausdrucksweise und Inhalt empfunden - und zwar sympathisch empfunden werden.

Diesen Takt kann aber nur derjenige bei sich ausbilden, der ein Gefühl für die Schönheit und den Stil des Sprechens über­haupt hat. Dieses Gefühl muß zum unbewußten Bestandteil der Persönlichkeit des Redners werden. Sobald man die Gesuchtheit in der Rede merkt, ist es um die Sympathie der Zuhörer geschehen.

Um aber diese Unbewußtheit der Empfindung in bezug auf die schöne, die stilisierte Rede zu erreichen, muß eine Erziehung zur Rhetorik angestrebt werden. Man muß eine Zeitlang sprechen um des schönen Sprechens willen, dann wird man später auch stili­siert sprechen, wenn man es nicht bewußt anstrebt.

Der Deutsche hat die Eigenheit, solche Dinge wie stilisiertes Sprechen als nebensächliches Außending anzusehen. Er tut sehr unrecht damit. Es gilt hier mehr als auf irgendeinem anderen Gebiet der Satz: Kleider machen Leute. Wir werden uns zwar niemals zu der Anschauung, die französische Redner haben, be­kehren, daß es gleichgültig sei, was wir reden, wenn wir nur herausgefunden haben, wie wir reden sollen. Aber wir sollten auf dieses Wie doch mehr Gewicht legen, als wir es zu tun gewohnt sind.

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Einem Redner, der zu sprechen versteht, laufen die Worte nach. Er reißt die Hörer hin. Das ist ein Erfahrungssatz. Warum sollen wir nicht nach diesem Satze handeln? Wir dienen dem Inhalte mehr, wenn wir ihm durch Rhetorik zu Hilfe kommen, als wenn wir mit Ausschluß aller Rhetorik unser Sprüchlein nur so hinsagen.

Gerade weil wir dem Inhalt seine Geltung verschaffen wollen, sollen wir ihm eine sympathische Form geben. Sympathisch wer­den wir aber nur reden, wenn wir eine Erziehungsschule der Vor­tragskunst durchgemacht haben.

HERR HARDEN ALS KRITIKER

#G029-1960-SE106 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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HERR HARDEN ALS KRITIKER

Eine Abrechnung

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Der Kritiker hat ein königliches Aint; er soll es wie ein König üben. Alle Größen verfallen ihm. Er urteilt über die Dichter und Denker, über die Könige und Krieger; er soll das Urteil der Mit­welt und Nachwelt über sie begründen. Dazu muß er selbst inner­lich reich sein an mannigfacher Erkenntnis, fest, treu und wahr­haftig, liebevoll und weit. Wer mit diesen Eigenschaften aus­gestattet ist, soll königlich beurteilen, was geschieht und was ge­schaffen wird; kein Kannegießer und kein Sklav, weder der öffentlichen Meinung noch des Königs Sklav, weder des Staats noch der Kirche Sklav, noch irgendeiner Clique, soll er seines heiligen Aintes walten.

So soll ein rechter Kritiker sein. Und wie soll er nicht sein? -Das sagt niemand besser als der klassische Kritiker Lessing im 57. antiquarischen Briefe: «Sobald der Kunstrichter verrät, daß er von seinem Autor mehr weiß, als ihm die Schriften desselben sagen können, sobald er sich aus dieser näheren Kenntnis des geringsten - vermeintlichen oder wirklichen - nachteiligen Zuges

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wider ihn bedient: sogleich wird sein Tadel persönliche Beleidi­gung. Er hört auf, Kunstrichter zu sein, und wird - das verächt­lichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann - Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant!>

Wer das Treiben Maximilian Hardens seit ungefähr acht Jah­ren beobachtet hat, wird in mancher Beziehung an obigen Lessing­schen Ausspruch erinnert.

Eine nach Hardens Meinung gut zugespitzte Phrase ist für ihn wichtiger als ein hingebungsvolles Eingehen auf eine Sache. Oft scheint es, daß seine kritische Weisheit in dem einen Satze be­steht: alles was entsteht, ist wert, daß man's zugrunde schmäht!! -Auf diese Weise wird aus dem geschickten Feuilletonisten ein beleidigender Angreifer. Herr Harden ist ein Pamphletist. Fast alle früheren Aufsätze Hardens in seiner Wochenschrift «Zu­kunft» bieten erdrückendes Material gegen ihn. Man erinnere sich seines Aufsatzes über die Ermordung des Justizrats Levy, und sei­nen Aufsatz über den Zola-Prozeß wird man entweder mit Ent-rüstung oder mit mitleidigem Lächeln lesen. Mitleid muß man ja vielleicht doch empfinden, wenn man sieht, wie ein Mann sich gebärdet, der allen Vernunftgründen zum Trotz durchaus etwas anderes sagen will als alle anderen Leute. Die Verlegenheit, die sich geistreich gebärdet, gibt eine eigentümliche Nuance des Komischen.

Jetzt haben wir Sudermanns «Johannes> erlebt.

Wie verfährt Herr Harden? Zwölfeinhalb Seiten von dem fünf­zehn Druckseiten umfassenden Aufsatz bringen eine Art Epilog des Sudermannschen Werkes. - Das soll heißen: Herr Harden hat am 15. Januar in seiner Loge gesessen und die Erstaufführung im Berliner Deutschen Theater miterlebt. Die gewaltigen Eindrücke, die dort auf ihn einstürmten, schwingen in dem ehemaligen Schauspieler nach und liefern ihm Stoff und Gedanken zu einem überaus feinen Reflex der Sudermannschen Gedankenwelt im «Johannes». Herr Harden redet sich vielleicht ein, das, was er auf den Seiten 218 bis 230 schreibt, sei ein ureigenes Werk. Es ist Zug um Zug dem Gedankenkreise des #SE029-108

mit stilistischer Meisterschaft in Hardens Art und Form, aber - welche Ironie: eine glänzende, zum Teil hinreißende Anerkennung Sudermanns!

Doch Harden, der Geist, der stets verneint, mag sich das nicht eingestehen. Ist doch das Werk, das es ihm also mächtig angetan, weder von Ibsen noch von der Yvette Guilbert, sondern von Hermann Sudermann. Ihn bekämpft Herr Harden schon seit Jah­ren aufs bitterste.

So hilft es denn nichts: auf zwei Seiten wird noch schnell ein niederträchtiger Schluß dazu gesudelt, und es präsentiert sich uns wieder die bekannte Fratze Hardenscher Kritik.

Schauen wir sie etwas näher an.

«Wir sehen», so schreibt Harden, «bei Sudermann einen armen Teufel von Täufer - das ist ein erheiterndes, zu unbarmherzigem Hohn stimmendes Bild; das Drama, dem ein Irrtum den Jnhalt gibt, wird richtiger eine Komödie genannt.» Aber dieser «arme Teufel>, Herr Pamphletist, beherrscht ein ganzes wogendes Volk, bezwingt den wutschnaubenden Pharisäer am Brunnen, der kein gewöhnlicher Gegner ist (Akt I, Szene 9 und 10), verschließt sich durch seine charaktervolle Mannhaftigkeit den Weg zu Glanz und Ehre; er geht als ein Held durch das Leben und geht als ein Held in den Tod. Der Salome gegenüberzustehen und diesem Raubtier auch angesichts des schmählichen Endes nicht einen Zoll breit zu weichen, der Herodias ihre Schande ins Antlitz zu schleudern und diese Bestie in ihrem eigenen Palast zu entwaffnen, dem Herodes gegenüber als Gefangener im Kerkerhof die stolze Höhe des Einsamen auf der Berge Gipfel zu behaupten, der dem klei­nen Schwächling in Purpur den billigen Ruhm des Marktes zu­weist -: wollte Gott, Herr Harden, Sie wären solch ein «armer Teufel>! Dann wäre ihr Leben keine , wie es jetzt mehr und mehr wird, sondern ein herzerquickendes, die Geister befreiendes Schauspiel.

Aber so - «es ist ein leeres, armseliges Stück»; denn - Herr Harden ist ein Pamphletist! Unverzeihlich ist es, so belehrt er uns, wie Sudermann mit dem Täufer umspringt: nicht nur Flauberts Erzählung hat er benutzt (Flaubeir und Sudermann legen beide

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dasselbe Löwenfell auf eine Chaiselongue im Palastsalon. Q. e. d.), sondern des Täufers Wesen ist dem Dichter überhaupt fremd geblieben, obwohl es ihm der Rezensent mit seinen, nämlich des Dichters eigenen Gedanken soeben vorgeführt hat. Suder­manns «schwache Erfinderkraft> (!) hat ein «wirres, von schlech­ten oder schlecht gelesenen Büchern ( ? -) in die Irre getriebe­nes Wesen> aus Johannes gemacht; was versteht doch ein Harden (vielleicht auch: ein Harden sollte mehr verstehen -) von dem Konflikt, den diese Heldenseele durchtobt und zerreißt, durch den sie sich aber endlich siegreich zum klaren Licht der inneren Har­monie durchtingt, wie uns Sudermann das vorführt?! Gesetz und Güte: jenes beherrscht den alten Bund, diese den neuen; jenes ver­tritt der Täufer, diese sein Messias. Sie bilden einen unversöhn­lichen Gegensatz! Die harte Forderung der Gerechtigkeit ist des Tä'ifers Schibboleth! Das ist nicht, wie Harden faselt, «der Bann rabbinischer Dumpfheit>, zu der sich Johannes in schroffem Widerspruch weiß, sondern die echte, reine Luft mosaischer und prophetischer Tradition, wie sie jeder Israelit von Kind auf ein-atmete. «Als hörte er Nievernommenes>, kündet Harden, «horcht Johannes auf, als das Wort Liebe zum erstenmal an sein Ohr schlägt> -: entsprach das nicht völlig seiner Situation, der inneren und äußeren? Die Prophetensprüche, an die Harden hier zu den­ken scheint, sind, auch in ihrer weitherzigsten Form, in der Summa befaßt: «Entziehe Dich nicht von Deinem Fleisch>, also:

Der Jude hilft dem Juden - sonst niemandem! - Aus Galiläa aber kommt die Kunde, der neue Meister jedoch rufe zur Feindes-liebe auf! Also nicht mehr, wie Gottes Gebot statuierte: «Auge um Auge, Zahn um Zahn » -? Wie einen sich Gottes heilig Ge­setz und die verzeihende Güte gegen den Sünder? - Mußte aus dieser Kollision dem Täufer nicht der schwerste Seelenkampf erwachsen, doppelt tragisch, weil nicht ein beliebiger Rabbi die unerhörte neue Lehre vertrat, sondern sein Messias, als dessen Vor­läufer und Wegbereiter er sich wußte, der das Heil für Israel in sei­ner Hand trug, der jedem ewig sein Los bestimmte?! Ergreifend spricht dies Johannes dem Herodes aus (Akt IV, Szene 5): «Du hast mir keine Ketten angelegt und kannst sie mir nicht lösen; Dich

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warf ein anderer mir in den Weg, und da zerbrach ich an Dir.> Mit Meisterhand hat der Dichter, was die große Majorität der Kritiker bisher nicht begriffen, im Rahmen der äußeren Ereignisse mit ihrem bunten Wechsel bis zum brutalen Ausgang, dem Helden dies innere, religiöse Problem gestellt. Von Akt zu Akt - Auf­merksame werden dafür auch die höchst lehrreichen Aktschlüsse beachten - geht es der Lösung näher: der gesetzesstrenge Buß­prediger, der die Kinder Josaphats samt Jael und die zarte Mirjam herbe von sich weist, lernt im schweren Kampf, der seinen äuße­ren Lebensgang zerbricht und ihm die Schranken auch seines pro­phetischen Wirkens weist, erst seine Jünger lieben (Schluß des IV. Aktes), nachdem er schon tatsächlich, wenn auch noch halb widerwillig, Gott das Gericht über den Tempeischänder über­geben hat (Schluß des III. Aktes), und lernt endlich auf der inne-ren Höhe des Dramas (Akt V, Szene 8) für die beiden so exklu­siven Größen: Gesetz und Güte, die einigende Formel finden: Die Barmherzigkeit verwaltet das Gericht.

Dadurch erledigen sich zwei weitere Albernheiten Hardens: einmal, Sudermann lasse Jesus eine «liberale Liebe» predigen, während er eine sengende Flamme gewesen sei, die das dem Untergang Geweihte verzehrt habe.

Der Liebende verwaltet das Gericht, sagt Sudermann tief und herrlich, während Harden zwei Johannesse nebeneinanderstellt, von denen der zweite zufällig Jesus heißt. Johannes will und soll richten, Jesus ist gekommen, der Menschen Seelen zu retten. Die Orientierung beider Männer ist eine fundamental verschiedene.

Sodann: Sudermann lasse den Täufer «nach Jesus suchen, als handle sich's uln einen Geschäftsreisenden, der mit wertvollen Mustern das Land durchstreife>. Das ist eine Hardensche Schnod­drigkeit! Man bedenke: beide Männer wirkten in demselben Land, zeitweilig nur wenige Meilen voneinander entfernt; daß es sich da nicht um ein «rein geistiges Suchen und Finden> handeln kann, sondern in der damaligen Zeit um Boten, die nach Botschaft und Antwort ausgesendet werden, muß jedem normalen Verstande ein­leuchten.

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Doch es kommt noch ärger! Sudermann «lebt nicht in seinem Werk; aus allen Gegenden hat er Bausteine herbeigeschleppt, aus allen Kunstkammern Schmuckgegenstände , so daß er sich in seinem eigenen Gebäude nicht mehr zurechtfindet> -: das ist eine Schuljungenleistung, die einen schlagenden Beweis a po­steriori vollauf verdiente! - Sudermann, so müssen wir weiter hören, hat und dem gesucht -), deren dünnes Ge­spinst der Rauhe mit einem Griff zerrissen hätte>: tut denn das Johannes nicht tatsächlich durch sein heroisches tadelloses Ver­halten? Warum leugnet das Harden? Heißt das nicht die klare Wahrheit fälschen und gewissenlos kritisieren? -! «Johannes war unter Männern ein Mann, auf dessen Werden und Vergehen keine Herodias und Salome bestimmenden Einfluß hatten> -: schließt das denn aus, daß diese beiden fürchterlichen Weiber an seinem Untergang mitgearbeitet haben -? Ist die Wahrheit des «cherchez la femme> nicht im ganzen Verlauf der Weltgeschichte eine un-heimliche Großmacht gewesen? Muß man das einem Harden erst noch illustrieren? Politische Erwägungen und häusliche Intriguen haben im Bunde miteinander das Richtbeil für den Täufer geschliffen.

Unerreicht ist in Sudermanns Drama das Zeitkolorit: der gei­stige und politische Zustand des Volkes und das ganze sind so vorzüglich getroffen, - das haben auch sehr ablehnende Kritiker laut erklärt - daß auch eine eindringende wissenschaft­liche Betrachtung nur ihre bewundernde Anerkennung zollen kann. Herr Harden weiß das natürlich besser: «alle Konturen ver­schwimmen und der Betrachter starrt zerstreut auf ein wirres Nebelbild>. Waren Sie denn so zerstreut - oder gar -, daß Ihnen alles «verschwamm>?! Sie haben infolgedessen wohl nur noch dunkle Erinnerungen an den Premierenabend, Herr Har­den? - Darum raten wir Ihnen: Besuchen Sie die Vorstellung ge­trost noch einmal; aber nur, wenn Sie imstande sind, statt zu «starren> - gesammelt zu betrachten! - Der #SE029-112

Tragödiendichter>, Sie kecker Herr Rezensent, auch nicht , was bei Ihnen freilich leichter zu entschuldigen wäre. Lesen Sie nur freundlichst im I. Akt (Szene3> die Stelle nach, wie die beiden sadducäischen Priester dem Eliakim und der Palastniagd, diese letzteren Anhänger der Phari­säersekte, ihren Segen anbieten; als sie schroff ablehnen (beide Parteien haßten sich tödlich), bemerkt der eine Priester wütend: Geben Sie zu, Herr Harden, daß Sie geschlafen haben? Oder «starrten» Sie wieder -?

Noch eins: Die Quellen über die politische Situation in Palä­stina zur Zeit des Täufers fließen spärlich und trüb, zum Leid­wesen jedes Orientalisten. Über mehr oder minder wahrscheinliche Vermurungen kommt man nicht hinaus. Sudermann hat gut daran getan, sich im ganzen an den biblischen Bericht der Evangelisten zu halten - die Synoptiker natürlich vor dem vierten Evangelium bevorzugend -, ohne sich doch die Notizen bei Josephus entgehen zu lassen. Dass nun in Jerusalem damals nicht Herodes Antipas, sondern Pontius Pilatus das Regiment führte, weiß nicht nur Maximilian Harden, sondern hoffentlich jedes Schulkind. Suder­mann aber läßt Herodes Antipas zum Passafest Jerusalem besuchen als den «Vierfürsten von Galiläa». Haben Sie etwas dagegen ein­zuwenden? Der Einzug Jesu aber - nicht in Jerusalem, sondern in oder ,bei Machärus (in dem so wirkungsvollen Schlußbilde des Dramas) ist eine so verständliche dichterische Freiheit, daß von einem «schnöden Theaterkniff> nur in dem Schimpfjargon des Herrn Harden die Rede sein kann.

Summa: Hermann Sudermann ist weder «geistig arm» noch eine «schillernde Theatralikerkraft», die sich «im Höhenwahn tragikomisch überschätzt> hat, sondern: der große Dichter hat uns mit einem hochbedeutsamen Werk von streng dramatischem Auf­bau, prachivoller Gliederung und Ausgestaltung und entzückender Sprache beschenkt, denn die Tragödie «Johannes» ist ein bleibend wertvolles Meisterwerk der deutschen Dichtkunst. Herrn Harden aber gebühren die Worte seines und unseres Freundes Friedrich Nietzsche, welche dem berühmten Herausgeber der «Zukunft» im

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Bilde sagen sollen, was er je mehr und mehr für unser Volk be­deutet:

«Das Hindernis aller Kräftigen und Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, den Morast aller Ermatteten, die Fullfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, den giftigen Nebel aller frischen Keime, die ausdörrende Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes!>

ZUR DRAMATISCHEN TECHNIK IBSENS

#G029-1960-SE113 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ZUR DRAMATISCHEN TECHNIK IBSENS

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Nicht weniger als an den Problemen, die Henrik Ibsen behan­delt, kann man an seiner dramatischen Technik die Modernität seines Geistes beobachten. Man braucht nur den dramatischen Aufbau des «Hamlet> oder des «Wallenstein» mit dem der «Ge­spenster» zu vergleichen, um zu sehen, was moderne Dramatik ist. In einer Weise, die vor dem Gelehrtentum wenig Gnade fin­den wird, die auch durchaus nicht einwandfrei, aber doch ansprechend und lichtvoll ist, hat Edgar Steiger in seinem Buche: «Das Werden des neuen Dramas» (Berlin, 1898. F. Fontane & Co.) diesen Geist des neuen Dramas dargestellt.

Er erinnert mit Recht daran, daß Ibsens Technik in mancher Beziehung derjenigen der alten griechischen Tragiker nahe kommt. Man denke an den «König Ödipus». Alle Begebnisse liegen hier in der Zeit, bevor der Dichter sein Drama beginnen läßt. Nur die ungeheuren Seelenqualen und die erhaben-grausigen Stimmungen, die sich aus diesen Begebnissen entwickeln, treten uns vor Augen. Man hat deshalb gesagt, die Griechen haben gar keine ganzen Dramen, sondern nur fünfte Akte geliefert. Und verhält es sich nicht zum Beispiel bei den «Gespenstern> ebenso? Liegt nicht auch hier alles Maßgebend-Gegenständliche vor dem Beginn des Dramas?

Treffend weist Steiger auf die Verschiedenheit der Quellen hin, aus denen solche Ähniichlteit der Technik bei den Alten und bei Ibsen hervorgeht. Bei den Griechen entwickelte sich das Drama

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aus den musikalisch-religiösen Kulten, aus der Dionysos-Ver­ehrung. Ihnen kam es nicht auf Darstellung äusserer Begeben-heiten an, sondern auf den Ausdruck der Andacht, die ihnen die Ratschlüsse der Götter einflößten, welche jene Begebenheiten her­beigeführt haben. Ihre Andacht, ihre religiöse Stimmung wollten sie in der Dichtung ausströmen lassen; nicht verkörpern, was sic beobachtet hatten.

Und ebenso klar setzt Steiger auseinander, wie sich unter dem Einfluß einer anderen Weltanschauung bei Shakespeare eine an­dere dramatische Technik ausbilden mußte. «Die Shakespeareschc Tragödie hat keine so vornehme Vergangenheit wie die altgriechi­sche. Die mittelalterlichen Mysterien und Fastnachtspiele, in denen wir die Urahnen des neueren Theaters zu erblicken haben, huldig­ten beide den wackeren Grundsätzen des Goetheschen Theater­direktors im : sie wollten vor allen Dingen die Leute un­terhalten. Die Mysterien sollten die Andächtigen für die Lange­weile der Predigt entschädigen, und in den Fastnachtspielen durf­ten die werten Mitbürger über die Dummheit und Gemeinheit ihrer lieben Nachbarn lachen.> Nicht die feierliche Erhebung zu den Göttern, sondern das Ergötzen an den weltlichen Dingen wurde Ziel des Schauspiels. «Die Hauptsache war also, daß man den Leuten recht viel zu schauen gab; denn hatte nur das Auge fortwährend seine Beschäftigung, so brauchte den Dichtern und Spielern um den Erfolg nicht bange zu sein. Je mehr traurige und lustige Abenteuer, erhabene Reden und gemeine Späße miteinan­der abwechselten, um so ....... Shakespeare fand also ein wirk­liches Schauspiel vor, von dem das Publikum verlangte, daß es ihm die Großtaten der Geschichte, die Abenteuer der Helden und die Narreteien der lieben Nachbarn leibhaftig vor Augen stelle. Er hatte also nicht, wie die griechischen Dichter, musikalische Emp­findungen und lyrische Gedanken zu versinnlichen, sondern äußere Geschehnisse und Abenteuer, Mordtaten und Schelmenstreiche zu verinnerlichen.>

Wie Shakespeare dabei verfuhr, das zeigt so recht, daß er ein Kind seiner Zeit war. Er lebte in einer Epoche, in welcher die Beobachtung auf das Große, auf das Äußere ging. Die großen

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Haupt- und Staatsaktionen, die weithin sichtbaren Handlungen waren es vor allem, auf die damals das Auge der Menschen ge­richtet war.

Auch die Naturwissenschaft war damals von diesem Geiste be­seelt. Was dem bloßen Auge sichtbar war, wurde untersucht. Man wußte nichts von dem Mikroskopisch-Kleinen, aus dem die neuere Wissenschaft die Gesetze des Großen erforschen will. Hätte Shake­speare die feinen Seelenschwingungen, in welche die Menschen durch die Außenwelt versetzt wurden, von der Bühne herab zeigen wollen: niemand hätte ihn verstanden. Niemand hätte sich aus der Wirkung auf das Innere des Menschen, die äußeren Ursachen, die Handlungen von selbst vergegenwärtigt. Das ist heute anders geworden. Der moderne Dichter hat sich den mikroskopischen Blick des modernen Naturforschers angeeignet. «Wir sehen zu­viel: darum müssen wir das Gesichtsfeld verengen. Eine einzige Menschenseele mit unseren Blicken auszuschöpfen, deucht uns eine Danaidenarbeit. Darum haben wir in der Dichtung auch keine Könige und Helden nötig; der ärmste Teufel von Arbeiter kann uns unter Umständen interessanter sein. Denn wir wollen ja nicht die Kronen und die Purpurmäntel abmalen, sondern nur Seelen, lebendige Menschenseelen - und wer weiß, ob wir unter dem Purpur eine finden würden - wenigstens so eine, wie wir sie brauchen, eine Seele, in der sich das große, zerrissene Jahrhundert abspiegelt?>

Henrik Ibsen schneidet sich deshalb ein mikroskopisches Präpa­rat aus dem Menschenleben heraus und läßt uns alles übrige aus diesem erraten. Damit ist die Grundlage seiner dramatischen Tech­nik gekennzeichnet. Ganz allmählich arbeitet er sich zu dieser Technik durch. Im , in den , im «Volksfeind» sucht er noch ein makroskopisches Bild, ein möglichst vollständiges Handlungsgemälde vorzuführen; später schildert er nur noch das Innere der Seelen, welche dieses

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Gemälde erlebt haben, und eröffnet uns den Rückblick auf das Gemälde. Wie wenig geschieht in den «Gespenstern»! Vormittags besucht ein Pastor eine Witwe, er soll am folgenden Tage ein Asyl einweihen, das dem Andenken des verstorbenen Gatten gewidmet ist Das Asyl brennt ab; der Pastor reist unverrichteter Dinge ab; und nach seiner Abreise wird der Sohn der Witwe blödsinnig. -Was aber geht während dieser mageren Handlung in den Seelen der Beteiligten vor! Der Rückblick in eine reiche Vergangenheit. in ein überreiches Drama eröffnet sich uns.

Nun hat Ibsen ein besonderes Geheimnis der dramatischen Technik. Er bringt uns in dem eingeschränkten Wirklichkeitsaus­schnitt, den er uns vorführt, andeutungsweise alles vor Augen, was wir brauchen, damit unsere Aufmerksamkeit auf die ganze in Be­tracht kommende, aber nicht dargestellte Handlung gelenkt wird.

Steiger macht auf einzelne solche andeutende Züge aufmerk­sam. «Fürs erste rückt er uns durch die innere Spannung des dra­matischen Vorganges und die plastische Kraft der geschickt stili­sierten Naturlaute die zitternde Seele seiner Menschen so nahe, daß wir deren Erinnerungsbilder selber wie gegenständlich emp­finden.> Ist das aber geschehen, so braucht er ein zweites Mittel. Er läßt uns auf der Bühne einen äußeren Vorgang erleben, den wir nur noch hinter die Bühne zu verlegen brauchen, damit sich die dramatische Wirklichkeit in Phantasie verwandelt, «und wir haben tatsächlich beides, Vergangenheit und Gegenwart in glei­cher Weise miterlebt. Die Vergegenständlichung des Erinnerungs-bildes und die Verinnerlichung der Bühnenwirklichkeit arbeiten sich so gegenseitig in die Hände, um ebenso starke sinnliche Wir­kungen zu erzielen wie der Augenschein des früheren Theaters. Ein klassisches Beispiel dafür finden wir im ersten Akt der . In der bewegten Erzählung der Frau Alving tritt uns die ganze Vergangenheit des Hauses so leibhaftig vor Augen, als sähen und hörten wir den verstorbenen Kammerherrn selbst im Blumenzimmer mit seiner Dienstmagd schäkern. Da auf einmal hören wir wirklich vom Blumenzimmer her die flüsternden Stim­men Oswalds und Reginens und sehen, wie sich Frau Alving, blaß wie der Tod, langsam vom Stuhl emporrichtet und, wie versteinert

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nach der Türe deutend, die halberstickten Worte lallt: Gespenster! Das Paar im Blumenzimmer geht um!> Da haben wir in einer un­mittelbar gegenwärtigen Handlung zugleich mittelbar eine ver­gangene dramatisch verkörpert vor uns.

An diese Eigenheit der Ibsenschen Technik muß die Regiekunst bei Darstellung seiner Werke anknüpfen. Unter diesen Gesichts-punkten verwandelt sich die Frage der dramatischen Technik in eine dramaturgische. Was man Ibsen-Stil auf der Bühne zu nennen berechtigt ist, muß an diesem Punkte einsetzen. Denn die Schau­spielkunst hat nun einmal die Aufgabe, zu verkörperlichen. Sie muß mit äußerlichen Bühnenmitteln vorführen, sichtbar für die Sinne, was dem Dichter in der Phantasie vorschwebt. Die Parallelvorgänge - der eine der Wirklichkeit, der andere als Erinnerungs-bild - muß die Bühnenkunst herausarbeiten. Wie das im einzel­nen Falle zu machen ist, muß dem Bühnenpraktiker anheimgege­ben werden. Sicher ist nur, daß wir befriedigende Aufführungen Ibsenscher Dramen erst erleben werden, wenn der Bühnen-Stil in dieser Richtung ausgebildet wird. So lange das nicht der Fall ist, werden diese Bühnenwerke auf den Zuschauer immer nur wie dramatisierte Novellen wirken. Wir müssen eben einsehen, daß es auch bei diesen Dramen nicht auf das Was ankommt, sondern auf das Wie. Um das Was zum Ausdrucke zu bringen, könnte Ibsen auch jede beliebige andere Dichtform wählen. Er braucht die Bühne, weil er Kunstmittel anwendet, die über das bloße Erzäh­len hinausliegen, die verkörperlicht werden müssen, wenn sie in ihrer ganzen Kraft wirken sollen.

Wieder treffend bemerkt Steiger: «Die dramatischen Doppel-bilder, von denen das zweite das erste blitzschnell in Erinnerung ruft, sind nicht etwa eine Erfindung Ibsens, aber dieser Dichter muß sich ihrer bei seiner modernen Technik vorzüglich bedienen. Vielleicht bedarf es nur eines leisen Winkes, und der eine oder der andere unserer Regisseure wird zum Schatzgräber, der aus dem tiefen Schachte Shakespearescher Dichtung verborgene Herr­lichkeiten auf die Bühne schleppt. Bei Ibsen geht ja keiner acht­los an diesen Doppelbildern vorüber. Denn hier müssen sie jedem, der nicht blind ist, sofort in die Augen fallen.»

DAS DRAMA ALS LITERARISCHE VORMACHT DER GEGENWART

#G029-1960-SE118 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DAS DRAMA ALS LITERARISCHE VORMACHT DER GEGENWART

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In seinem anregenden Buche (Leipzig 1898) bespricht Fried­rich Spielhagen neben anderem auch die Vorherrschaft, welche das Drama in der Gegenwart ausübt. Ein theoretisches Werk Spielhagens wird derjenige, der sich für ästhetische Fragen interessiert, immer mit Freuden lesen. Ein Künstler von reicher Er­fahrung, feinem Detiken und vornehmem Geschmack spricht aus einem solchen Buche zu uni Ein reifes, abgeklärtes Urteil, das in langjähriger eigener Kunstübung gewonnen ist, muß auch von demjenigen mit gespanntester Aufmerksamkeit gehört werden, der eine andere Anschauung hat als der Urteilende. Friedrich Spiel-hagen ist im allgemeinen nicht gerade gut auf die moderne drama-tische Produktion zu sprechen; im einzelnen wird er immer der erste sein, der einer wirklichen Begabung Verständnis und An­erkennung entgegenbringt.

Vieles von dem, was er sagt, sollte auch bei den gehorsamsten Bekennern neuerer Richtungen rückhaltlose Zustimmung finden. Denn es ist wahr, daß die heutige literarische Vormacht auf man­nigfachen Irrtümern beruht: auf Irrtümern von seiten der Dichter, auf Irrtümern von seiten des Publikums.

Ein Grundirrtum ist der, daß man mit den Mitteln der Drama­tik alles sagen zu können glaubt, was man sagen will. Eine tiefere ästhetische Bildung wird aber stets zur Anerkennung der Wahr­heit führen, daß gewisse Stoffe nur eine romanhafte und nicht eine dramatische Behandlung vertragen. Das Drama verträgt kei­nen Stoff, der sich nur zur novellistischen Behandlung eignet. Deshalb sind manche moderne Dramen nur dramatisierte Novel­lenstoffe. Durch solche Mißgriffe im Stoffe, beziehungsweise in der Behandlung eines Stoffes, entstehen dramatische Gebilde, die unbefriedigt lassen, weil wichtige Dinge fehlen, die notwendig sind, wenn wir vollständig verstehen sollen, was sich im Verlauf der dramatischen Handlung ereignet. Und wenn sich der Drama­tiker bemüht, solche Dinge zu bringen, so sehen wir auf der

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Bühne, was wir auf ihr nicht vertragen. Mit vollstem Recht be­merkt Spielhagen:

Aber bei aller Sucht, im Detail zu schwelgen, kann das Drama doch nicht jene Entwickelung von Charakteren und Handlungen bieten, welche die epische Darstellung mit Recht für sich in An­spruch nimmt. Hervorstehende, charakteristische Momente, die sich zu einem künstlerischen Ganzen mit Anfang, Mitte und Ende zusammenschließen, muß das Drama darstellen. Alles Reden über die Unnatürlichkeit eines solchen Ganzen kann nicht über­zeugend wirken. Spielhagen erwidert auf solches Reden: «Ich muß dabei immer an die Anekdote von jenem jüdischen Schäch­ter denken, der sein Messer, wie es das Ritual erfordert, scharten-los geschliffen zu haben glaubte, und dem der weise Rabbiner es unter einem Vergrößerungsglase zeigte, wo dann die schartenlose Schneide wie eine Säge erschien. Sich mit der Natur in einen Wettlauf einlassen, ist immer mißlich - sie hat einen gar zu lan­gen Atem. Und die Sache wird absurd, wenn die Konkurrenz ebenso zweckwidrig wie aussichtslos ist. Die Zwecke der Natur und der Kunst decken sich nun und nirgends. Die Natur ist ohne die Kunst noch immer sehr gut fertig geworden; und wenn die Kunst in Narurnachahmung aufgeht, ist sie nichts weiter als eine

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Natur aus zweiter und toter Hand, wofür jedes Panoptikum die schauerlichen Beweise liefert.>

Zwei Irrtümer also sind es, auf welche vieles in der modernen Dramatik sich aufbaut: die Verkennung der Grenzen von Epik und Dramatik und der Aberglaube, daß die Natur wirklich nach­geahmt werden könne. Diese Irrturner sind auf seiten der Autoren vorhanden.

Nicht minder bedeutsame Schäden zeigt das Verhalten des Publikums gegenüber dem Theater. Man will der eingehenden, alle Entwickelungsglieder eines Vorgangs bloßlegenden epischen Darstellung nicht mehr folgen. Man will sich in ein paar Stunden mit einem Problem befassen, sich oberflächlich von ihm erregen lassen. Nicht allseitigen, künstlerischen Genuß, sondern flüchtigen Hinweis sucht man. Die Neigung zu intensiver Vertiefung nimmt immer mehr ab. Und die Kreise, die eine solche Neigung haben, sind durch die hohen meaterpreise von dem Besuche der Theater fast ganz ausgeschlossen. Das Schicksal eines dramatischen Kunst-werkes ist heute von Faktoren abhängig, die nicht entscheiden können über künstlerischen Wert oder Unwert. Nur zu wahr sind folgende Sätze Spielhagens: «Jenes innige Verhältnis, das einmal zwischen dem Publikum und dem Produzenten (Dichtern und Schauspielern) stattfand, jenes eindringende Verständnis, das aus der stetigen, herzlichen Teilnahme resultiert - sie sind, wenig­stens in den Großstädten von heute, nicht mehr möglich. Wie sollten sie es auch sein, in einem aus einer kleinen Zahl wirk­licher Liebhaber und einem überwältigend großen Kontingent von bis ans Herz kühlen, medisierenden Müßiggängern, kokettie­renden Müßiggängerinnen und durchreisenden Fremden bunt zusam-mengewürfelten, beständig wechselnden Publikum! Das Bedenk­lichste dabei ist: eben dieses Publikums mehr als verdächtiges Votum ist maß- und ausschlaggebend für den ganzen dramatischen Markt. Was es approbiert, wird die Runde durch alle Provinz-städte machen, was es verworfen, hat nirgends einen vollen Kurs. Es gibt da Ausnahmen - ich weiß es wohl, aber die Regel ist es.>

Die fachmännische Kritik wirkt nicht klärend und bessernd auf diese Verhältnisse ein. Denn heute sind die einzelnen Kritiker zu

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sehr im Banne irgendeiner ästhetischen Richtung. Einer unbefan­genen Hingabe an die künstlerischen Qualitäten sind nur wenige fähig. Die meisten fragen, ob ein Werk zu den Vorstellungen paßt, die sie sich von der Kunst gebildet haben. Treffend ist auch da wieder Spielhagens Charakteristik: «Es entsteht für ganze kri­tische Kreise ein Zustand wie beim Tischrücken, wo die Mani­pulierenden den Tisch von einer höheren Macht geschoben glau­ben, während sie doch selbst die Schiebenden sind unter dem Ein-fluß eines leisen, von ihnen faktisch nicht wahrgenommenen Druckes, der vom Nachbar zur Rechten (oder Linken) ausgeht, der wieder von seinem Nachbar zur Rechten (oder zur Linken) influiert wird und so weiter die ganze Runde herum.>

Tatsache ist, daß ein Drängen aller jüngeren Dichter nach der Bühne hin stattfindet. Der Umstand, daß beim heutigen Publi­kum eine Theateraufführung bedeutend schneller auf Verständnis stößt als ein vielbändiger Roman, ist für dieses Drängen maß­gebend. Aber noch etwas kommt in Betracht. Auch die Kunst hat heute, wie viele andere Zweige des Lebens, einen sozialen Charak­ter angenommen. Unsere Dramatiker wollen nicht bloß für den ästhetischen Genuß schaffen; sie wollen zu der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse das ihrige beitragen. Ein Glied der sozialen Entwickelung soll die Kunst sein. Da aber von dem Drama weit stärkere Wirkungen ausgehen als vom Roman, so wählen die Jungen dieses. Sie sehen dann die Wirkung sozusagen von heute bis morgen erwachsen. Und unsere Zeit will schnellebig sein. Man will sehen, wozu man etwas beiträgt. Daher kommt auch die Begünstigung der dramatischen Kunst durch die Publizistik, den Staat und die Gesellschaft, von der Spielhagen spricht: «die Be­günstigung, welche die theatralische Kunst als eine schmuckhafte (gerade wie die bildenden Künste) von oben herab erfährt, wie viel Tausende jährlich auf ihre reichere Ausstattung verwendet werden, die dann doch indirekt auch wieder der dramatischen Produktion zugute kommen. Wie diese selbst wieder, ebenfalls von oben herab, sobald sie den dort beliebten Tendenzen sich gefügig erweist, protegiert wird, was ja wohl nicht immer zu ihrem Seelen-heil gereichen mag, immerhin doch ihr weltliches Ansehen erhöht

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und ihr nach höheren Regionen schielende, oder auch nur herden­mäßig einem Anstoß gehorsame Scharen zuführt. Wie man weiter die Produktion durch periodisch verteilte Preise zu ehren und aufzumuntern versucht. Wie groß der Raum ist, der ihr in den Feuilletons der Tagesblätter eingeräumt wird. Wie stattlich die Zahl der Revuen, Monatsschriften, die sich ganz ihrem Dienste widmen. Wieviel bereits die höheren Klassen der Gymnasien für ihr Verständnis durch Kommentationen unserer Klassiker, durch Stellung von Thematen über dramatische Dinge und so weiter tun. Welche beredten und begeisterten Lobredner und Interpreten die dramatische Kunst auf den Kathedern der Universitäten findet.>

Alle diese Untersrützungen werden auf die dramatische Kunst aus dem Grunde verwendet, weil sie ein wichtiges Glied in der sozialen Entwickelung ist.

NEUE UND ALTE DRAMATIK

#G029-1960-SE122 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NEUE UND ALTE DRAMATIK

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Jetzt soll es plötzlich anders werden. Anderthalb Jahrzehnte sind die Prediger der nicht müde geworden, uns zu sagen, daß es in den Bahnen, die Schiller und Goethe eingeschla­gen haben, nicht mehr weitergehen kann. Die klassischen Formen, das Monumentale auf der Bühne, die Stilisierung müsse aufhören. Die reine, unverfälschte Natur müsse zu ihrem Rechte kommen. Doch das ist nun fünf Jahre her. Seitdem haben diese «Modernen> entdeckt, daß es Nerven gibt. Da sagten sie: Nerven, die sind modern. Moderne Dramen müssen auf die «Nerven> wirken. Wir haben diesen Modernen ruhig zugehört. Denn sie sagten: wir wollen die neue Kunst entdecken, dazu müssen wir uns erst aus­toben. Vorläufig machen wir vielleicht Dummheiten, aber das Gute wird schon kommen. Ja, es ist aber nicht gekommen. Jetzt auf einmal fangen diese an, uns zu sagen, daß Goethe doch recht gehabt hat. Das geht zu weit. So lassen wir uns denn doch nicht behandeln. Wir haben bis jetzt geschwiegen. Wir haben

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gerne mitangehört, wie uns die Leute den Naturalismus gepredigt haben. Wir haben schließlich auch noch den Symbolismus über uns ergehen lassen. Aber daß jetzt die Leute, die uns mit dem Brustton ihrer Überzeugung das Lied sangen: mit Goethescher Kunst ist es zu Ende, daß diese Leute jetzt kommen, um uns zu belehren, was Goethe gewollt, gedichtet, gedacht hat - das lassen wir uns nicht gefallen. Wir haben immer gewußt, was Goethesche Kunst ist. Wir haben auch gewußt, daß es noch etwas geben kann, was anders ist. Und schliesslich selbst das haben wir gewußt, daß Goethe am Ende des vorigen Jahrhunderts gelebt hat, und daß am Ende dieses Jahrhunderts die Menschheit andere Bedürfnisse hat als die Zeitgenossen Goethes. Wenn aber unsere Zeitgenossen kommen und uns darüber belehren wollen, was die echte Kunst im Sinne Goethes ist, und daß wir uns zu dieser Kunst bekehren sollen, dann wollen wir doch einmal ein ernstes Wörtchen reden.

Einzelne unserer jüngeren Literaten entdeckten vor ein paar Tagen Goethe. Mehrere schreiben jetzt sogar Goethes Kunstregeln ab und lassen sie in modernen Revuen drucken. Sie fangen an, etwas ganz Gescheites zu schreiben. Und belehren uns darüber, was echte Kunst im Sinne Goethes ist. Ich will diesen Herren ein Geheimnis verraten. Was sie uns sagen, ist uns herzlich gleich­gültig. Es sagt uns nämlich bloß höchst banale Dinge. Aber diese Herren sind begabt. Sie werden in ihrem Goethe-Verständnis noch weiter vorrücken. Deshalb darf man sie nicht zu strenge beurtei­len. Heute sagen sie uns Dinge, die wir entbehren können, denn wir haben sie im Blute; sie sind für uns Trivialitäten. Morgen werden sie aus Goethe manches herauslesen, was uns fremd, neu ist. Einer von diesen Begabten hat vor kurzem einen Zeitschriften-artikel geschrieben «Zurück zu Goethe>. Daß es denn doch gut ist, an die Kunstmaximen Goethes zu erinnern, hat er gesagt. Er hat einzelne Zeitgenossen angeführt, die mit ihm die gleiche Gesin­nung haben. Manchen hat er dabei unrecht getan. Denn wenn heute eine wirklich künstlerische Natur auf Goethe zurückgeht, so hat das den wahrhaftig leicht zu durchschauenden Grund, daß Goethe manches Gute doch geschrieben hat. Goethe gegenüber kommen Standpunkte eben gar nicht in Betracht.

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Lange haben wir zugesehen. Aber daß sich jemand heraus-nimmt, dasselbe zu sagen, was wir immer sagten, das vertragen wir denn doch nicht.

Das alles schreibe ich, ohne Namen zu nennen. Denn Namen kommen dabei gar nicht in Betracht. Jeder, welcher die Kritik der jüngsten Tage verfolgt hat, weiß, daß jetzt plötzlich die Vor­kämpfer der uns belehren wollen, was Goethesche, was klassische Kunst ist. Vielleicht ist gerade jetzt der Zeitpunkt, die­sen «Modernen> zu sagen, daß sie endlich auf dasselbe gekommen sind, was wir längst wußten. Bisher haben wir zugesehen, weil wir dachten: nun kommt es. Endlich aber wollen wir die Faust nicht mehr in der Tasche ballen. Endlich wollen wir offen sagen, daß wir zwar an jedes neue Genie, aber nicht an abarruse Redensarten glauben. Die Theoretiker der «Moderne> haben uns schon genug begabte Leute auf einen Holzweg geführt. Das darf nicht weiter­gehen.

Sowenig, wie der Botaniker die Pflanze in ihrer Entwickelung beeinflußt, sowenig soll der Kunsttheoretiker, der von neuen Richtungen spricht, die schaffenden Leute beeinflussen, die sich und nicht den Theorien folgen sollen.

Das ist, so hoffe ich, deutlich gesprochen. Ich spreche das nicht als Konservativer oder Reaktionär. Aber ich spreche es deswegen, weil es mir endlich zu toll wird, immerfort von Dingen reden zu hören, die neue sein sollen, und die es doch nur deshalb sind, weil ihre Bannerträger das Alte nicht kennen.

Wenn heute jemand den pythagoräischen Lehrsatz entdeckte, so würde man ihn auslachen. Wenn heute jemand Kunstformen und Kunstwerte entdeckt, die nicht minder auf ein gewisses ehr­würdiges Alter hinweisen können, so spricht man von «modernen Anschauungen».

Es ist doch notwendig, daß man etwas gelernt hat! Und nur der sQllte von «Moderne> reden, der weiß, was ihr Gegenteil ist. Im übrigen liebe ich alles Gegenwärtige.

PUBLIKUM, KRITIKER UND THEATER

#G029-1960-SE125 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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PUBLIKUM, KRITIKER UND THEATER

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Über diesen Gegenstand hat einmal Paul Bourget geschrieben. Und die guten europäischen Über-Kritiker sagen, daß Bourget das Gras auf dem Grunde der Seele wachsen hört. Also muß man schon die Ohren spitzen, wenn Bourget redet. Nun sagt Bourget: wer ein lyrisches Gedicht, eine Ballade oder einen Roman schreibt, der kümmert sich nicht um das Publikum. Sein Kunst­werk wird um so besser werden, je weniger er sich um das Publi­kum kümmert Er schreibt, wie es den Neigungen seiner künst-lerischen Seele gemäß ist. So ist es aber durchaus nicht beim Theaterdichter Dieser muß wissen daß sein Stück für eine An­zahl von zweitausend Personen die im Theater anwesend sind bestimmt ist Er muß sich dessen bewußt sein, daß diese Menge deswegen ins Schauspielhaus geht um ein paar Stunden in an genehmer Weise hinzubringen Das Publikum hat den Tag über gearbeitet, im Bureau, auf der Borse, im Parlamentssaal Dieses Publikum hat ganz bestimmte Sympathien und Antipathien Es hat «heilige Gefuhle» die es nicht verletzt sehen will, und es will sich vor allen Dingen nach der harten Arbeit des Tages nicht auch noch geistig anstrengen Auch hat dieses Publikum ganz bestimmte Sitten und Leidenschaften Es wird nur Gefallen finden an Stücken die im Sinne dieser Sitten und Leidenschaften gehalten sind. Es gilt nun fur den Theaterdichter, mit seinen Stucken genau das treffen was dieses Publikum gerne hört und gerne sieht Er wird Idealist sein, wenn er glaubt, ein idealistisch gesinntes Publikum im Theatersaale anzutreffen; und er wird gemein sein wenn er der Ansicht ist, daß ein gemeines Publikum berufen sein wird, ihm Beifall zu zollen oder sein Stück auszu­zischen.

Achte darauf was dein Publikum will und schreibe dann in diesem Sinne! Das ist das Rezept, das der feine Psychologe Paul Bourget lIen Theaterdichtern gibt Ja er geht noch weiter Es gibt, meint er, religiose und politische Moden Gegen diese darf der Theaterdichter mcht verstoßen, trotzdem sie ungefaht alle zwei bis drei Jahre wechseln Und noch mehr Es gibt Schauspie1er,

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die länger als politische und religiöse Moden sich in der Gunst des Publikums erhalten. Diese sind berufen, den Theaterdichtern auf die Beine zu helfen. Ihnen müssen die Dramatiker die Rollen auf den Leib schreiben. Was wird für den beliebten Schauspieler Soundso passen, müssen sie sich fragen, wenn sie diesen oder jenen Charakter dichterisch gestalten wollen. Es gibt, meint Bourget, immer einen Herrn Soundso, der so beliebt ist, daß er den Erfolg verbürgen kann. Dann bemühen sich die Dramatiker, solche Rollen zu schreiben, daß dieser beliebte Schauspieler daraus etwas machen kann.

Zweierlei - um pedantisch, vielleicht auch in Lessingscher Manier zu reden - ist möglich: entweder will Bourget die ganze Frivolität einer gewissen dramatischen Produktionsart charakteri­sieren und stellt deshalb in paradoxer Form gerade die schlimm­sten Auswüchse auf dem Gebiete dar, das er im Auge hat; oder aber er redet nicht ironisch; er meint die Sache so, wie er sie aus­spricht. Im ersteren Falle hätte er sich seine ganze Rede ersparen können. Denn dann wäre sie das Überflüssigste in der Welt. Daß es Stückefabrikanten gibt, die auf der Börse des gemeinen Ge­schtnackes der Menge spekulieren und sich prostituieren - um Geld zu verdienen, das ist längst bekannt. Das braucht uns nicht der Mann mit den feinen Ohren für die intimsten Töne der menschlichen Seele zu verkünden.

Aber es kommt auch gar nicht darauf an, ob Paul Bourget Spaß oder Ernst macht. Es kommt darauf an, daß gerade Idealisten und solche, die es mit der Kunst ehrlich meinen, ihm nachspre­chen, und daß es so weit gekommen ist, daß heute zahlreiche von solchen Ehrlichen, die sich die Erfolge der geschilderten Speku­lanten ansehen, nicht mehr daran glauben, daß das Theater eine Kunstanstalt ist.

Und die Sache liegt so einfach. Der Gegensatz, den Bourget zwischen Roman, Ballade, lyrischem Gedicht und zwischen Theater­stück sich herauskristallisiert, gilt einfach nicht. Es gibt Künstler, die Romane schreiben, wie sie ihrem Empfinden, ihrer Inspira­tion, ihrem Genie entsprechen, und es gibt Romanfabrikanten, die Lesefutter für eine Menge schreiben, deren Sitten, Leidenschaften

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und Lebensgewohnheiten sie kennen, und denen sie schmeicheln wollen. Und ebenso gibt es Dramatiker, die Stücke schreiben, wie sie ihrer künstlerischen Überzeugung gemäß sind, und Stücke-fabrikanten, die so schreiben, wie es das Publikum will. Es ist der Grundfehler der Bourgetschen Betrachtungen und vieler ähn­lichen, daß der Betrachter von dem Standpunkt der Empfänger, der Genießer ausgeht. Das muß immer zu zweifelhaften Resul­taten führen. Denn Kunstwerke, die deshalb entstehen, weil sie der Genießer in einer bestimmten Weise haben will, sind nicht wert, daß man von ihnen redet. Der Genießer, das Publikum - sie mögen die besten Tendenzen haben: sie dürfen deswegen doch auf die Qualität eines Kunstwerkes keinen Einfluß haben. Nicht die geringste Kleinigkeit eines Kunstwerkes darf so gebildet sein, wie es das Publikum will. Dieses «darf> ist eigentlich ein schlecht angewandtes Wort. Ich müßte vielmehr sagen: dem wirklichen Künstler wird es nie einfallen, die geringste Kleinigkeit an sei­nem Werke dem Publikum zu Gefallen zu machen.

Es ist, seit es eine Kunstwissenschaft gibt, immer von Forde­rungen der echten Kunst gesprochen worden. Der Künstler müsse dies oder jenes so oder so machen, wurde gesagt. Es sitzt den Herren im Blute, und selbst die modernsten Geister können sich davon nicht losmachen. Ein Mensch, der plötzlich vor sie hin­träte und sagte: diese Rose ist nicht richtig, die soll anders sein, den hielten sie für einen Tollhäusler. Aber dem Künstler wagen sie es alle Tage zu sagen: Du mußt so oder so sein.

Oh, nun höre ich die Ganz-Gescheiten schon wieder einwenden:

ja, dann müßte der Kritiker zu allem Ja und Amen sagen, dann müßte er alles gelten lassen. 0 nein, ihr Herren! Wenn einer mit einem «Theaterstück> kommt, das gar nicht in die Kategorie der «Theaterstücke> gehört, dann behandle ich ihn ebenso wie einen Menschen, der mir ein greuliches Ding aus Papiermaché für eine wirkliche Rose anpreisen will.

Zwar kennen die gestrengen Herren nicht immer die Unter­schiede, die hier in Betracht kommen. Vor einigen Tagen gab man hier im Berliner Residenz-Theater ein grenzenlos langwei­liges, fades Ding: «Momentaufnahmen>. Am Abend jubelte das

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Publikum, das wahrscheinlich bei einem Stücke von Johannes Schlaf gezischt hätte. Aber erst am nächsten Tage: da konnte man seine wahren Wunder erleben.

Mit wenigen Ausnahmen - unter sie gehört natürlich die stets bewährte Tante Voß - hatten die Zeitungen etwas «zum Lobe des Autors> zu sagen. Einige besonders begabte Kritiker meinten so­gar, dieser selbe Autor, der bis jetzt sich nur in leichten Schwän­ken versucht hätte, wäre nun literarisch ernst zu nehmen. Und einige «ganz Feine» witterten, daß er das Leben richtig zu be­obachten verstehe. Es ist wirklich unmöglich, daß ein Kritiker

- dieses Wort als Terminus technicus gebraucht - irgend etwas, das zur Kunst gehört, auch nur einigermaßen richtig zu beurteilen vermag, der solche Ansichten und Empfindungen vom Erleben und «Richtig-Beobachten> hat.

«Momentaufnahmen» ist ein - Ding, zusammengestoppelt und zusammengeschustert aus «Beobachtungen» eines Mannes, der die Menschen im Leben gar nicht zu beobachten versteht, sondern der nur das Leben auf der Bühne zu kennen scheint. Mir ist es einfach unbegreiflich, wie ein ausgezeichneter Schauspieler sich dazu herablassen kann, solch ein Ding zusammenzuleimen.

Ich will wahrhaftig keine Kritik über das Stück schreiben. Denn es hat nichts mit der Literatur zu tun und braucht deshalb auch nicht in einer literarischen Zeitschrift erwähnt zu werden. Aber mir stieg die - ich weiß nicht recht was für eine - Röte ins Gesicht, als ich am nächsten Morgen die Besprechungen des Machwerkes in den verschiedenen Zeitungen las. Was haben diese Kritiker alles einzuwenden gehabt, als jüngst die «Dramatische Gesellschaft>, um einer literarischen Ehrenpflicht zu genügen, Johannes Schlafs «Gertrud> aufführte! Und wie benehmen sie sich nun Herrn Jarno gegenüber?

Es ist eine kulturhistorisch merkwürdige Erscheinung, daß Men­schen in großen Zeitungen das Wort führen dürfen, die in einer solchen Barbarei des Geschmackes leben. Jawohl, das sind diese Leute, die nicht wissen, was eine wirkliche Rose ist, und deshalb ein Ding aus Papiermaché hinnehmen und sagen: seht, wie sie lebt. So muß die wirkliche Rose sein.

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Soll man nun annehmen, daß die Kritiker, die im Theater sitzen, eine auserlesene Schar bilden, die besser, vornehmer, künst­lerischer als das Publikum fühlt? Dann wahrlich muß man sich über die Theorie Paul Bourgets ganz eigentümliche Ansichten bilden. Oder soll man sich ruhig eingestehen, daß das Publikum im ganzen über den Kritikern steht? Aber, was wäre das für ein Zustand! Kurz, hier liegt etwas vor, was nicht recht zu lösen ist. Es ist so merkwürdig. Ist man mit den Kritikern, deren Geistes-produkte man scheußlich findet, einmal gemütlich beisammen, so können sie ganz nett sein. Liest man sie wieder einmal, dann fin­det man sie entsetzlich. Da muß noch ein unbekannter Faktor im Spiel sein.

Ich habe mich an den guten Bourget erinnert, als ich die Kriti­ken der Berliner Tageszeitungen über das Machwerk des Herrn Jarno las. Deshalb ging ich von ihm aus. Ich sagte mir, so wird ein Dramatiker, der darnach fragt: wie soll ich dichten, damit ich der Menge gefalle? Nun, es ist genug. Ich denke: kein Künstler kann so denken, wie Paul Bourget es von dem Theaterdichter for­dert. Oder es gibt unter den Theaterdichtern keine Künstler. Was würden Schiller, Shakespeare und so weiter dazu sagen?

WISSENSCHAFT UND KRITIK

#G029-1960-SE129 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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WISSENSCHAFT UND KRITIK

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Vor acht Tagen hat diese Zeitschrift einen Beitrag über seine richtige Stelle hatte, ob­gleich er nicht allein von Dingen handelt, die sich auf das Theater beziehen. Denn nirgends im literarischen Leben wird mehr gesün­digt als in der «Theaterkritik>. Deshalb halte ich es auch für an­gebracht, im Anschluß an diesen Beitrag diesmal einiges Ergän­zende zu bringen. Ich möchte dem Ausspruch Grillparzers, den der Verfasser des genannten Artikels anführt, teilweise zustim­men. «Das kritische Talent ist ein Ausfluß des Hervorbringenden.

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Wer selbst etwas machen kann, kann auch beurteilen, was andere gemacht haben.> Das unterschreibe ich unbedingt. Aber ich glaube, daß diese Sätze nicht jeder richtig auslegen wird. Die meisten werden sie so verstehen: den Lyriker soll nur der Lyriker, den Epiker der Epiker, den Drarnatiker der Dramatiker und so weiter beurteilen. Ich halte eine solche Auslegung für falsch. Denn ich glaube, daß zur Ausübung einer gewissen Kunstart eine einseitige. in einer gewissen Richtung sich bewegende Begabung notwendig ist, welche die Persönlichkeit für die Eigenart ihrer Leistungen ganz besonders einninsrnt und sie wenig empfänglich macht für andere Richtungen innerhalb derselben Kunstgattung. Ein Lyri­ker von ausgeprägter Eigenart wird ungerecht sein müssen gegen einen Lyriker von anderer Eigenart.

Weiter glaube ich, daß derjenige, welcher auf gar keinem Ge­biete etwas hervorbringen kann, überhaupt nicht zum Kritiker taugt. Denn ein unproduktiver Kopf wird niemals über einen produktiven etwas zu sagen haben. Wer die Geburtswehen und die Elternfreuden, die eigene Geschöpfe verursachen, wer die Er­lebnisse der geistigen Schwangerschaft nicht kennt, soll auch nicht zu Gericht sitzen über fremde Geisteskinden

Wenn also der Lyriker nicht über den Lyriker, der Dramatiker nicht über den Dramatiker urteilen soll: ja, wer soll denn eigent­lich urteilen?

Meine Meinung ist diese. Es soll ein Hervorbringender über Hervorbringungen auf einem andern Gebiete, als das seinige ist, urteilen. Ein Dichter soll über ein Werk der Malerei, ein Maler meinetwegen über ein philosophisches Buch, ein Philosoph über ein Werk der Malerei oder über ein Dichtwerk urteilen. Ich setze dabei freilich voraus, daß meine Leser verstehen, den Philosophen als Künstler zu nehmen. Jeder philosophische Gedanke ist ein Kunstwerk wie ein lyrisches Gedicht; und wer Philosoph sein will ohne produktives Talent, ist ein bloßer Wissenschafter. Er verhält sich wie der Lehrer der Kompositionslehre zum Komponisten.

Wenn ich eine Kritik lese, so frage ich immer nach dem Ver­fasser. Hat dieser selbst etwas produziert, so fange ich an, mich für seine kritische Tätigkeit zu interessieren. Er wird dann vielleicht

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manches Einseitige, Eigensinnige über andere Hervor­bringungen sagen. Aber er wird stets etwas sagen, was verdient, gesagt zu werden. Derjenige, der selbst nichts hervorbringt, wird auch über anderer Leistungen stets nur leeres Geschwätz zustande-bringen.

Einen Lyriker höre ich gerne über einen Maler, einen Philo­sophen höre ich gern über einen Dramatiker reden. Einen Kri­tiker, der nichts weiter ist als Kritiker, betrachte ich als eine über­flüssige Persönlichkeit

Nun wird man mir sagen: es hat doch Kritiker gegeben, die Wichtiges und Richtiges vorgebracht haben, und die nichts weiter waren als Kritiker. Ich antworte: das mag einmal vorkommen. Es kommt eben dann vor, wenn ein Mensch seinen Beruf verfehlt hat. Und weil das der Fall ist, hat Bismarck recht gehabt, als er den Journalisten als einen Menschen definiert hat, der seinen Beruf verfehlt hat. Ich kann mir einen Musikkritiker denken, der nie selbst in einem Zweige menschlicher Produktion etwas ge­leistet hat. Sagen wir: er heißt Hanslick. Ich will ganz offen spre­chen. Ich glaube, ein solcher Mensch hat seinen Beruf verfehlt. Er hätte eigentlich Musiker werden sollen. Seine musikalische Be­gabung ist nicht zur Entwickelung gekommen. Er sagt dann als Kritiker, was er als Künstler nicht zu sagen imstande ist. Wenn er Künstler geworden wäre, hätte er eine gewisse Eigenart zum Ausdruck gebracht. Man hätte sie genossen und hätte eine gewisse Vorstellung von der in Betracht kommenden Persönlichkeit. Nun ist aber diese Persönlichkeit aus irgendwelchen Gründen kein Künstler geworden. Ihre Eigenart hat keine greifbare Gestalt an-genommen. Sie ist in einer Art Schlummerzustand geblieben. Wenn eine solche Persönlichkeit kritisiert, so urteilt sie im Sinne einer Eigenart, die nie das Licht der Welt erblickt hat. Das mag ja in einzelnen Fällen recht interessant sein; im allgemeinen wis­sen wir aber bei einer solchen Persönlichkeit nicht, was wir mit ihren Urteilen anfangen sollen.

Dennoch wird man immer wissen, ob man es im einzelnen mit einer jener Naturen zu tun hat, die ihren Beruf verfehlt haben, oder ob mit einem Menschen, der überhaupt von der Natur gar

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keinen Beruf mitbekommen hat. Denn man müßte, wenn man die Bosheit besäße, die zur Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse notwendig ist, von den meisten Kritikern sagen: das sind Leute, die keinen Beruf verfehlen konnten, weil sie nie einen hatten.

Wenn ein Journalist, der nie etwas Selbständiges hervorgebracht hat, dem ich einen Kunstwert beilegen kann, über ein Theater­stück schreibt, so hat das nicht mehr Wert, als wenn eine geist­reiche Dame in einem Salon ihre Meinung über dieses Werk zum besten gibt. Aber man sehe mich, weil ich dieses sage, nicht gleich als Pedanten an. Ich bin ja gar nicht der Ansicht, daß nur der. jenige ein Künstler ist, der die Leinwand mit Farben überstreicht, oder der was Gedrucktes in die Welt setzt. Ich gehöre zu den reinen Toren, die an den Raphael ohne Hände glauben. Vielleicht ist die Dame, die im Salon mir ihre Meinung über den neuesten Hauptmann zum besten gibt, ein Lyriker, dem nur das Organ fehlt, die Empfindungen in die nötige Form zu bringen.

Das mag schon stimmen. Aber ich spreche nicht von den Damen im Salon, die aus Mangel an Organ keine Lyriker geworden sind. Das habe ich nicht nötig. Denn sie schreiben ja eben nicht. Ich spreche von den schreibenden Menschen. Und das sind in der Ge­genwart zumeist keine Raphaels ohne Hände, sondern Leute, die Hände und nichts als Hände haben.

Man kann es heute erleben, daß Künstler ganz im allgemeinen über jegliche Kritik in der ablehnendsten, wegwerfendsten Form sprechen. Das kommt aber nur daher, weil sie zumeist von un­produktiven Leuten kritisiert werden, von Leuten, die ihnen ab­solut nichts zu sagen haben.

Ich habe nie meine Meinung darüber, wer über einen Künstler urteilen soll und wer nicht, besser bestätigt gefunden, als wenn ich Schauspieler habe über Schauspieler und wenn ich unkünstlerische Naturen habe über Schauspieler urteilen hören. Schauspieler haben über andere Schauspieler überhaupt kein Urteil. Und unkünstlerische Naturen reden über schauspielerische Leistungen bloß tollen Un­sinn. Jeder Schauspieler geht in seiner Eigenart auf; und wer ge­wisse Dinge anders macht als er selbst, den hält er für einen schlechten Künstler. Die unkünstierische Natur glaubt, daß Schauspielkunst

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eine leichte Sache ist, und hält jeden für einen großen Mimen, der sie arnüsiert. Beider Urteil ist nicht wert, daß man davon spricht. Ein Maler, ein Lyriker, ein Musiker, ein dramati­scher Schriftsteller, ein Philosoph können über einen Schauspieler urteilen, ein Schauspieler und ein Unkünstier aber nicht. Der Schauspieler vermag uns nur etwas zu sagen, was zuletzt doch darauf hinausläuft: dieser macht es anders als ich, und was ich mache, ist allein richtig. Der Unkünstler schwatzt dummes Zeug in die Luft hinein.

Künstler sollten nur Künstler beurteilen; aber nie sollten Künst­ler über Künstler des gleichen Kunstzweiges urteilen. Fände dieser Grundsatz in der Theaterkritik Eingang, so gäbe es wahrscheinlich eine große Nachfrage nach Theaterkritikern und nur ein kleines Angebot. Aber man muß schon einmal mit der Tatsache rechnen, daß in unserer Zeit auch einmal das Angebot die Nachfrage wesentlich übersteigen kann.

Vielleicht könnten, wenn dieser Grundsatz befolgt würde, über­haupt nicht alle Stellen besetzt werden. Aber was schadet es, wenn zum Beispiel in Berlin nicht alle Tagesblätter den Winter durch ihre obligaten Theaterkritiken brächten. Die meisten dieser Kriti­ken stammen von Leuten, die nichts, rein gar nichts über die Dinge zu sagen haben, über die sie schreiben. Warum soll denn durchaus jedes Stück, das auf die Bühne gebracht wird, Veranlas­sung geben zur Verschwendung einer Unmenge Druckerschwärze und Tinte? Von der Zeit, die die Schreiber verschwenden, will ich nicht reden, denn um die ist es nicht eigentlich schade. Ich glaube nicht, daß diejenigen, welche sie verschwenden, sie bei einer an­dern Beschäftigung besser anwenden würden.

Kritik sollte im Grunde Nebenbeschäftigung sein. Was ein Künstler über Kunstarten zu sagen hat, die nicht die seinigen sind, soll er uns als Kritiker sagen. Kritik als Hauptbeschäftigung ist Unsinn. Aber es wimmelt ja in großen Städten von Kritikern, die nichts als Kritiker sind. Und wie gelten die Stimmen solcher Nichts-als-Kritiker? Bei den Künstlern selbst gelten sie eigentlich wenig. Beim Publikum dagegen um so mehr. Das ist traurig. Denn ein kritisches Urteil, das von einem künstlerisch empfindenden

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Menschen nicht anerltannt wird, sollte überhaupt nirgends eine Geltung haben.

Über das Gettiebe der Kritik hört man selten unbefangen spre­chen. Denn leider ist die Itritische Art der unproduktiven Leute eine Macht geworden, mit der die meisten Künstler, nicht nur das Publikum, rechnen. Im vertraulichen Kreise zwar hört man die Künstler in der ungezwungensten Weise über die Phrasen der Kritiker ihre Witze machen; in der Offentlichkeit wird nur selten über dieses Getriebe etwas gesagt. Ich habe einmal meine ganz unbefangene Meinung sagen wollen.

AUCH EIN SHAKESPEARE-GEHEIMNIS

#G029-1960-SE134 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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AUCH EIN SHAKESPEARE-GEHEIMNIS

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Immer und immer wieder muß ich mir die Frage vorlegen:

worauf beruht die weite Wirkung einiger Shakespearescher Dra­men? «Hamlet», «OtheHo>, «Der Kaufmann von Venedig>, «Romeo und Julia> machen auf Gebildete und Ungebildete, auf Klassisch-und Modern-Gesinnte, auf Idealisten und Lebemenschen einen gleich tiefen Eindruck. Und wir haben das Gefühl, daß wir Gegenwärti­gen diesem Dichter einer relativ längst vergangenen Zeit so gegen­überstehen, als wenn er heute unter uns lebte. Man braucht da­neben nur an die Wirkungen von Dichtungen wie zum Beispiel Goethes «Iphigenie> und «Tasso> zu denken, um sich den Unter­schied in volikommener Deutlichkeit vor Augen treten zu lassen. Und was die Veränderlichkeit des Einflusses dramatischer Kunstwerke in der Zeit betrifft, so möchte ich aufmerksam machen auf das Abnehmen der Begeisterung für Schillers Schöpfungen im Laufe unseres Jahrhunderts. Nur Shakespeares Dramen scheinen jedem Grade und jeder Art der Bildung und nicht minder jeder Zeit die gleiche Schätzung abzuringen.

Ich glaube, man muß auf die Grundursachen der Wirkungen von Kunstwerken eingehen, wenn man die eben berührte Frage lösen will.

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In unserer Zeit ist das nicht leicht. Denn in dem Zweige menschlichen Denkens, den man heute Asthetik nennt, herrscht eine Fülle von Vorurteilen, die eine Verständigung unter unseren Zeitgenossen über gewisse Grundfragen der Kunst geradezu aus­schließen.

Vor allen Dingen denke ich, indem ich dieses sage, an gewisse Kritiker, auf die alles, was innerhalb der Kunstbetrachtung nach Weltanschauung oder Philosophie aussieht, wie auf den Stier ein rotes Tuch wirkt. Wie der Dichter über die Dinge denkt, die den Inhalt zu seinen Werken abgeben, das soll ganz gleichgültig sein. Ja, diese Kritiker sind sogar der Ansicht, daß der Künstler um so größer ist, je weniger er überhaupt denkt. Man beliebt einen Dichter, von dem man glaubt, daß er gar nicht denkt, «naiv» zu nennen, und begeistert sich für seine Schöpfungen, deren holde «Unbewußtheit> man in allen Tonarten preist. Und mißtrauisch wird man sofort, wenn man merkt, daß ein Dichter eine Welt­anschauung hat, der er in seinen Werken zum Ausdrucke verhilft. Man glaubt, die Naivität, die Unbewußtheit des Schaffens gehe ihm dadurch verloren. Manche Kunstbetrachter gehen so weit, zu sagen, der Dichter, der nicht wie ein Kind in einem Traum-zustand lebt, der ihm die Klarheit der Gedanken verdunkelt und verbirgt, sei überhaupt kein wahrer Dichter. Ich habe es oft hören und lesen müssen, daß Goethes Größe darauf beruhe, daß er über seine künstlerischen Leistungen nicht nachgedacht hat, daß er wie in Träumen lebte, und daß ihm Schiller, der Bewußtere, seine Träume erst deuten mußte.

Ich habe mich oft gewundert darüber, daß man einem solchen Vorurteil zuliebe die Tatsachen geradezu auf den Kopf stellt. Denn gerade bei Goethe läßt sich nachweisen, daß die ganze Art seines künstlerischen Schaffens aus einer klaren, scharf umrissenen Weltanschauung folgt. Goethe war ein Erkenntnismensch. Er konnte nichts um sich sehen, ohne darüber sich eine in Begriffen deutlich formulierbare Ansicht zu bilden. Als der Herzog Karl August ihn nach Weimar rief und ihn zu allen möglichen prak­tischen Tätigkeiten veranlaßte, da wurden die Dinge, mit denen er es in der Praxis zu tun hatte, für ihn zu Quellen, aus denen er

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seine Kenntnis der Welt und der Menschen unablässig berei­cherte. Die Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbaue führte ihn dazu, die geologischen Verhältnisse der Erdrinde eingehend zu studieren und sich auf Grund dieser Studien eine umfassende Ansicht über die Bildung der Erde zu machen. Auch dem Ge­nusse der Natur konnte er sich nicht als bloß Genießender hin­geben. Der Herzog schenkte ihm einen Garten. Er konnte sich nicht bloß an Blumen und Pflanzen freuen; er suchte bald nach den Grundgesetzen des Pflanzenlebens. Und dieses Suchen führte ihn zu den epochemachenden Ideen, die er in seinen morpho­logischen Arbeiten niedergelegt hat. Diese Studien, in Verbindung mit der Betrachtung der Kunstwerke in Italien, bildeten bei ihm eine Weltanschauung aus, die scharfe, begriffliche Konturen hat, und aus der seine künstlerische Art mit Notwendigkeit geflossen ist.

Diese Weltanschauung muß man kennen; man muß sein ganzes Geistesleben mit ihr durchdrungen haben, wenn man von Goethes Kunstwerken den rechten Eindruck empfangen will. Goethe ist, wenn man das von den Gegenwärtigen arg mißbrauchte Wort noch anwenden will: Naturalist. Er wollte die Natur in ihrer Reinheit erkennen und in seinen Werken wiedergeben. Alles, was zur Naturerklärung zu Dingen Zuflucht nahm, die nicht in der Natur selbst zu finden sind, war seiner Vorstellungsart zuwider. Jenseitige, transzendente, göttliche Gewalten lehnte er in jeder Form ab. Ein Gott, der nur von außen wirkt, nicht die Welt im Innersten bewegt, geht ihn nichts an. Jede Art von Offenbarung und Metaphysik war ihm ein Greuel. Wer den Blick unbefangen auf die wirklichen, die natürlichen Dinge richtet, dem müssen sie aus sich selbst ihre tiefsten Geheimnisse enthüllen. Aber er war nicht so wie unsere modernen Tatsachenfanatiker, die nur die Oberfläche der Dinge sehen können und «natürlich nur dasjenige nennen, was sich mit Augen sehen, mit Händen greifen und mit der Waage wägen läßt>. Diese oberflächliche Wirklichkeit ist ihm nur die eine Seite, die Außenseite der Natur. Er will tiefer in das Getriebe sehen; er sucht die höhere Natur in der Natur. Er ist nicht damit zufrieden, die Fülle der Pflanzen zu betrachten und in ein System zu bringen; er will in ihnen eine Urform, die Urpflanze,

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entdecken, die ihnen allen zugrunde liegt; die man nicht sehen kann, sondern die man in der Idee erfassen muß. So macht er es auf allen Gebieten. Auch die Menschen und ihre gegensei­tigen Verhältnisse betrachtet er so. Das wirre Getriebe der Men­schen, die mannigfaltigen Charaktere sucht er auf einige typische Grundformen zurückzuführen. Und diese Grundformen, diese Typen, nicht die Erscheinungen der alltäglichen Wirklichkeit, sucht er in seinen Dichtungen zu verkörpern. Die höhere mensch­liche Natur in der Natur stellen seine Iphigenie, sein Tasso dar. Und die Möglichkeit, höhere Naturen darzustellen, ergab sich ihm, weil er in rastloser Erkenntnisarbeit zu einer bestimmten Ansicht, zu einer klaren Ideenwelt gekommen war. Nur wer seine Grundansicht hat, kann die Menschen und ihr Zusammenleben so darstellen, wie er es getan hat. Und verstehen kann diese Ansicht nur der, der sich Goethes Weltanschauung zu eigen gemacht hat. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Abhängigkeit der dichte-tischen Technik Goethes von seiner Weltanschauung. Ein Tat­sachenfanatiker arbeitet seine Gestalten so heraus, daß sie uns erscheinen wie Erscheinungen des alltäglichen Lebens. Dazu muß er auch technische Mittel anwenden, die den Eindruck der niede­ren Natürlichkeit machen. Goethe muß andere künstlerische Mit­tel anwenden. Er muß in Linien und Farben zeichnen, die über das Oberflächliche der Dinge hinausgehen, die überwirklich sind und doch mit dem Zauber auf uns wirken, welcher die Notwendigkeit des natürlichen Daseins hat.

Ich möchte noch andere Beispiele anführen, welche die Ab­hängigkeit der künstlerischen Technik von der Weltanschauung klarmachen. Schiller ist Anhänger der sogenannten moralischen Weltanschauung. Für ihn ist die Weltgeschichte ein Weltgericht. Wem in der Welt Böses widerfährt, der muß eine gewisse Schuld haben; er muß sein Schicksal verdienen. Nun will ich nicht be­haupten, daß Schiller die wirkliche Welt so angesehen hat, als ob auf jede Schuld auch die gerechte Strafe folge. Aber er hatte die Ansicht, daß das so sein soll, und daß uns jede andere Art des Zusammenhanges der Dinge moralisch unbefriedigt läßt. Deshalb baut er seine Dramen so auf, daß sie einen Weltzusammenhang

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spiegeln, wie er dieser moralischen Anforderung entspricht. Er läßt seine Helden deshalb tragisch enden, weil sie eine Schuld auf sich geladen. Daß ein harmonischer Zusammenhang bestehe zwi­schen Schicksal und Schuld: dies ist die Grundbedingung seiner dramatischen Technik. Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans, Wallenstein müssen schuldig werden, damit wir von ihrem tra­gischen Ende befriedigt werden.

Man vergleiche damit die dramatische Technik Henrik Ibsens in seiner letzten Periode. Bei ihm ist von Schuld und Sühne nicht mehr die Rede. Daß ein Mensch untergeht, hat bei ihm ganz andere als moralische Ursachen. Sein Oswald in den «Gespen­stern> ist unschuldig wie ein Kind und doch geht er zugrunde. Ein Mensch mit moralischer Weltanschauung kann von diesem Verlaufe der Dinge nur angewidert werden. Ibsen aber kennt eine moralische Weltanschauung nicht. Er kennt nur einen außermora­lischen Naturzusammenhang; eine kalte, gefühllose Notwendig­keit. Wie der Stein nichts dafür kann, daß er zerschellt, wenn er auf die harte Erde fällt, so kann ein Ibsenscher Held nichts dafür, daß ihn ein böses Schicksal trifft.

Dieselbe Tatsache können wir bei Maeterlinck uns anschaulich machen. Er glaubt an feine, seelenartige, geheimnisvolle Zusam­menhänge in allen Erscheinungen. Wenn zwei Menschen mit­einander sprechen, so hört er nicht nur den gemeinen Inhalt. ihrer Reden, sondern er nimmt tiefere Beziehungen, unausgesprochene Verhältnisse wahr. Und dieses Unausgesprochene, Geheimnisvolle sucht er in die Dinge und Menschen, die er darstellt, hineinzu­arbeiten. Ja, er betrachtet alles Äußerliche, Sichtbare nur als ein Mittel, um das Tieferliegende, Verborgen-Seelische anzudeuten. Seine Technik ist ein Ergebnis dieses Strebens und somit seiner Weltanschauung. Wer nicht imstande ist, aus den Dingen und Menschen, die er auf die Bühne bringt, die angedeuteten, tieferen Wesenheiten durchzufühlen, der kann Maeterlinck nicht verstehen. Jede Gebärde, jede Bewegung, jedes Wort auf der Bühne ist ein Ausdruck der zugrundeliegenden Weltanschauung.

Wer sich diese Wahrheiten gegenwärtig hält, wird einsehen, daß Goethe, Schiller, Ibsen, Maeterlinck nur auf einen bestimmten

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Kreis von Menschen wirken können, auf diejenigen, welche sich in die Weltanschauung dieser Dichter einleben können, welche denken und empfinden können wie sie. Daher rührt es, daß die Wirkung dieser Künstler Grenzen haben muß.

Warum ist das bei Shakespeare anders? Hat etwa Shakespeare keine Weltanschauung? Und wirkt er deshalb so allgemein, weil die Wirkung nicht aus einer solchen fließt und deshalb auch nicht durch sie eingeschränkt wird?

Das letztere kann nicht zugeben, wer die Verhältnisse grund­licher betrachtet. Auch Shakespeare hat eine bestimmte Ansicht von der Welt.

Für Goethe ist die Welt der Ausdruck typischer Grundwesen; für Schiller der einer moralischen Ordnung; für Ibsen einer rein natürlichen Ordnung; für Maeterlinck eines seelischen, geheitunis­vollen Zusammenhanges der Dinge. Was ist sie für Shakespeare?

Ich glaube, das passendste Wort, um Shakespeares Weltanschau­ung auszudrücken, ist, wenn man sagt: die Welt ist ihm ein Schau­spiel. Er betrachtet alle Dinge vermöge seiner Natur auf einen gewissen schauspielerischen Effekt hin. Ob sie typische Grund­formen abspiegeln, ob sie moralisch zusammenhängen, ob sie Ge­heimnisvolles ausdrücken, ist ihm gleichgültig. Er fragt: was ist in ihnen vorhanden, das, wenn wir es ansehen, unsere Befriedi­gung am reinen Anschauen, am harmlosen Betrachten befriedigt? Findet er, daß an einem Menschen die Schaulust am meisten be­friedigt wird, wenn wir das Typische an ihm betrachten, so rich­tet er den Blick auf dieses Typische. Glaubt er, daß die harinlose Betrachtung am meisten auf ihre Rechnung konunt, wenn ihr das Geheimnisvolle geboten wird, so stellt er dieses in den Vorder­grund. Die Schaulust ist aber die verbreitetste, die allgemeinste Lust. Wer ihr entgegenkommt, wird das größte Publikum haben. Wer den Blick auf eines richtet, kann auch nur auf die Zustim­mung von Menschen rechnen, deren Grundempfindungen gleich­falls auf dieses eine gerichtet sind. So auf einzelnes gerichtet ist die Seele nur der wenigsten Menschen, wenn auch diese Wenig­sten gerade die Besten sind, diejenigen, welche aus der Welt das Tiefste zu schöpfen vermögen. Um die Tiefen der Welt auszu­schöpfen,

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muß man intensiv denken und fühlen. Das heißt aber sich nicht an alles mögliche hängen, sondern eines nach allen Sei­ten auskosten. Auf Tiefe hat es aber Shakespeare nicht abgesehen.

Ein Anklang an alle Richtungen des Denkens und Empfindens findet sich aber bei jedrm Menschen. Selbst der Oberflächlichste kann empfinden, was Typisches, Moralisches, Geheimnisvolles, Grausam-Natürliches in der Welt ist. Aber es berührt ihn alles dieses nicht gerade intensiv. Er huscht so darüber hinweg und möchte bald zu einem anderen Eindrucke übergehen. Und so inter­essiert ihn alles; weniges aber andauernd. Ein solcher Mensch ist der eigentlich schaulustige. Er will von allem berührt, von nichts ganz eingenommen werden. Wieder aber darf man behaupten, daß von dieser Schaulust in jedem etwas ist, auch in demjenigen, der sich im allgemeinen - sogar fanatisch - ganz einer Grundempfin­dung hingibt. Mit dieser allgemeinen Charakteranlage der Men­schen hängt die weite Wirkung der Shakespeareschen Dramatik zusammen. Weil er nicht einseitig ist, deshalb wirkt er allseitig.

Ich möchte diese meine Ausführungen nicht so gedeutet sehen, als wenn ich Shakespeare eine gewisse Oberflächlichkeit vor­werfen wollte. Er dringt in alle Einseitigkeiten mit einem genia­lischen Spürsinn; aber er engagiert sich für keine Einseitigkeit. Er verwandelt sich von dem einen Charakter in den andern. Er ist seinem ganzen Wesen nach Schauspieler. Und deshalb ist er auch der wirksamste Dramatiker.

Ein Mensch mit ausgeprägtem, scharfem Naturell, bei dem alle Dinge, die er anfaßt, sofort eine bestimmte, seine individuelle Farbe gewinnen, kann kein guter Dramatiker sein. Ein Mensch, dem die einzelnen Charaktere «schnuppe> sind, der sich in jeden mit der gleichen Hingabe verwandelt, weil er alle gleich und kei­nen besonders liebt, der ist der geborene Dramatiker. Eine gewisse Lieblosigkeit muß dem Drarnatiker eigen sein, ein Allerweltssinn. Und diesen hat Shakespeare.

BEMERKUNG ZU EINEM BRIEF AN DEN HERAUSGEBER

#G029-1960-SE141 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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BEMERKUNG ZU EINEM BRIEF AN DEN HERAUSGEBER

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Meiner Überzeugüng nach ist es Pflicht des Redakteurs einer literarischen Zeitschrift, über einen Gegenstand verschiedene Stimmen zur Geltung gelangen zu lassen. Deshalb habe ich bereit­willig die vorhergehenden Ausführungen* zum Abdrucke gebracht. Ich bin aber nicht der Meinung, daß besonders viel gewonnen wird, wenn der Autor der einen Meinung auf die des andern wieder erwidert, dieser wieder zurückerwidert und so fort. Anschau­ungen, wie ich sie vorgebracht habe, sind hervorgegangen aus ganz bestimmten Voraussetzungen, aus Empfindungen, die ich im Laufe des Lebens durch Betrachtung Shakespeares gewonnen habe. Herr Häfker geht von anderen Empfindungen aus. Ich glaube nicht, daß wir einander überzeugen können. Noch weniger glaube ich, daß der Leser für die eine oder die andere Anschauung durch Vorbringen neuer Ausführungen gewonnen werden kann. Wer die Dinge ansieht wie ich, wird sich zu meiner Ansicht bekennen; wer von den Voraussetzungen des Herrn Häfker ausgeht, wird ihm beipflichten. Man kann seine Ansichten eben bloß geltend machen. Ob man Zustimmung findet oder nicht: das hängt von vielen Dingen ab, die durch Vorbringung von Schluß, Folgerun­gen, Widerlegungen und so weiter nicht geändert werden können. Deshalb möchte ich davon absehen, zu meinen Ausführungen etwas weiteres hinzuzufügen.

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* von Herrn Häfker

EIN PATRIOTISCHER ÄSTHETIKER

Künstler hören es nicht gerne, wenn von Leuten über ihre Kunst geredet wird, die nicht selbst auf dem Gebiete dieser Kunst tätig sind. Ein bedeutender Musiker sagte mir einmal: nur der Musiker sollte über Musik reden. Ich erwiderte ihm, daß dann niemand außer der Pflanze über das Wesen der Pflanze reden dürfte und daß wir deshalb bei der bekannten Sprachunfähigkeit

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der Gewächse niemals etwas über deren Wesen zu hören bekämen. Mit der bedeutenden Menschen immer eigenen Folgerichtigkeit im Urteilen antwortete mir der Komponist: wer kann überhaupt behaupten, daß wir über das Wesen der Pflanze etwas wissen? Es ist ganz richtig, daß uns nur die Pflanze selbst über ihr Wesen aufklären könnte. Da sie aber nicht reden kann, ist es nicht mög­lich, über dieses Wesen etwas zu erfahren.

Es ist leicht, eine solche Ansicht zu widerlegen. Was wir Men­schen das Wesen der Pflanze nennen, könnte nämlich die Pflanze niemals selbst aussprechen. Wir nennen dasjenige «Wesen der Pflanze», was wir fühlen und denken, wenn wir die Pflanze auf uns einwirken lassen. Was die Pflanze fühlt und denkt und in Gefühlen und Gedanken als ihr Wesen erkennt, kann uns nichts nützen. Uns geht allein an, was wir erleben, wenn die Pflanze auf uns wirkt. Und was wir da erleben, sprechen wir aus und nennen es das Wesen der Pflanze. Wie wir aussprechen, was wir durch den Eindruck der Pflanze empfinden, das hängt davon ab, welcher Ausdrucksmittel wir uns nach unserer Begabung bedienen können. Der Lyriker besingt die Pflanze; der Philosoph bildet die Idee der Pflanze in seinem Kopfe aus. So wenig der Lyriker verlangen kann, daß die Pflanze über sich selbst ein Gedicht mache, so wenig wird der Philosoph verlangen, daß die Pflanze ihre eigene Idee selbst ausspreche.

Ebenso ist es mit der Kunst. Ich glaube nicht, daß der Künstler über seine eigene Kunst reden soll. Aber so ganz unbedingt gilt das natürlich nicht. Denn ganz sondern lassen sich die einzelnen menschlichen Fähigkeiten nicht voneinander. Die Pflanze wird nie die Fähigkeit haben, über sich selbst zu reden. Der Lyriker kann die Fähigkeit haben, über den Lyriker zu reden. Aber die Fähig­keit, über den Lyriker zu reden, ist durchaus nicht an die Fähig­keit geknüpft, selbst lyrische Gedichte hervorzubringen. Und die Fähigkeit, Lyriker zu sein, ist nicht an die andere geknüpft, über die Lyrik reden zu können. Und so ist es in allen Künsten. Künst­ler können manchmal über ihre Kunst reden; oft aber sollten sie schweigen. Wenn sie von anderen, die nicht im Gebiete ihrer Kunst tätig sind, verlangen: sie sollten nicht über ihre Kunst reden,

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so sprechen sie wie - Pflanzen, die von den Menschen verlangen, sie sollen nicht über Pflanzen reden, weil nur die Pflanzen berufen seien, über sich selbst etwas auszusagen.

Man muß heute zu paradoxen Aussprüchen seine Zuflucht neh­men, wenn man sich verständigen will. Ich habe es in den obigen Zeilen getan, um zu zeigen, wie lächerlich es ist, wenn Künstler yerlangen, daß Leute nicht über eine Kunst sprechen sollen, in der sie nicht selbst tätig sind.

Ich möchte das Paradoxon nun aber auch umkehren. Man soll von dem Lyriker, der die Pflanze besingt, von dem Philosophen, der die Idee der Pflanze in Worten ausspricht, nicht verlangen, daß sie auch eine wirkliche Pflanze hervorbringen sollen.

Es gibt gewiß Menschen, die Dramen von vorzüglichem Werte schreiben können, trotzdem sie über die Dramatik treffliche Ideen zu äußern vermögen. Sie sind immer interessante Persönlichkeiten. Sie sind auch glückliche Persönlichkeiten. Denn sie brauchen sich keinen Zwang aufzuerlegen. Wer über Kunst in Worten sich äus­sern kann und zugleich imstande ist, eine Kunst zu pflegen, die seinen Worten entspricht, der ist gewiß glücklich. Wer es aber nicht kann, dem kommt die edle Tugend der Resignation zu. Er ist zufrieden damit, über die Kunst zu reden wie über die Pflanze, und verzichtet darauf, ein Kunstwerk hervorzubringen, wie er darauf verzichtet, eine Pflanze hervorzubringen.

In diesem Verzicht äußert sich die Vornehmheit des Ästhetikers. Verzichtet er nicht, sondern unternimmt er es, dennoch etwas zu schaffen, was in das Gebiet gehört, über das er redet, so zeigt er, daß er nicht verdient, ernst genommen zu werden. Ein Ästhetiker, der über das Drama redet und dann ein elendes draiatisches Machwerk schafft, ist wie ein Lyriker, der die Herbstzeitlose be­singt und dann eine solche Pflanze elendiglich aus Papiermaché formt. Wir glauben dann nicht mehr an die Aufrichtigkeit seiner Empfindungen. Wir glauben, er habe bei der wirklichen Herbst-zeitlose auch nicht mehr empfunden als bei der aus Papiermaché.

Was ich hier geschrieben habe, ging mir durch den Kopf, als ich am 16. August 1898 aus dem «Neuen Theater> (Berlin) kam. Der Herr Direktor Siegmund Lautenburg, Österreicher und Ritter

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des Franz-Joseph-Ordens, hat zur Vorfeier des Regierungsjubi­läums Kaiser Franz Josephs des Ersten das patriotische Festspiel «Habsburg> aufführen lassen. Ich verwahre mich von vornherein, etwas gegen den Direktor Lautenburg zu sagen. Er ist Oster­reicher, und es ist schön von ihm, seinem österreichischen Patrio­tismus Opfer zu bringen. Nach dem schlechten Besuch zu urtei­len, dürfte die Vorstellung, die ausgezeichnet war, Herrn Direktor Lautenburg wirklich etwas gekostet haben. Aber was tut man nicht alles, wenn man Österreicher, Ritter des Franz-Joseph­Ordens ist und auch ein Theater in Berlin zur Verfügung hat! In den Zwischenakten erschien auch der Direktor mit seinen sämtlichen Orden -, das war wieder gut. Ich meine das ganz ernsthaftig. Denn auch ein Autor mit hohen Orden hätte erscheinen müssen.

Ich weiß nicht, was für Orden Herr Baron Alfred von Berger, der Autor des Stückes «Habsburg», von dem ich rede, hat. Er ist ohne Orden erschienen, als man ihn gerufen hatte. Aber sein Stück ist ein Wechsel auf die höchsten österreichischen Orden, die es gibt, - pardon, sollten Orden nicht überhaupt für höhere als dichterische Verdienste bestimmt sein?

Mit Neugierde ging ich in die Vorstellung vom 16. August.

Als ich noch in Wien war - es ist jetzt zehn Jahre her - da war Alfred von Berger eine Persönlichkeit, über die man sprach. Er war - wie die Leute sagten - der richtige Kandidat für die Burgtheaterdirektion. Er hat die Diskussion, ob er ernannt werden soll oder nicht, dadurch abgeschnitten, daß er die Stella Hohen-fels, die unvergleichliche Schauspielerin des Burgtheaters, gehei­ratet hat. Ein Hausgesetz des Burgtheaters verbietet, daß der Direk­tor mit einer Künstlerin des Institutes verheiratet ist. So haben die Befürworter der «Direktion Berger» es gut. Sie sagen: Er wäre natürlich der beste Burgtheaterdirektor. Es ist auch kein Zweifel, daß er längst ernannt wäre, aber man kann ihn nicht ernennen, weil er mit der unersetzlichen Stella Hohenfels vermählt ist. Ent­weder muß Stella Hohenfels abgehen oder Baron Berger kann nicht Direktor werden. Das erstere ist unmöglich, also ...

Ein anderes Theater ist nun für den Herrn Baron von Berger auch nicht zu haben, deshalb ist er heute noch immer ohne

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Theaterdirektorposten. Während seiner unaufhörlichen Kandi­datenzeit beschäftigt er sich nun damit, über das Theater und über die Kunst zu reden. Es gibt Leute, die etwas von seinen Reden über die Kunst halten. Und er hat wirklich einige recht gute Sachen gesagt. In seinen «Dramaturgischen Vorträgen> stehen allerlei prächtige Ausführungen über die dramatische Kunst.

Man hätte Alfred von Berger bisher, nach seinen Reden über die Kunst, für einen feinen Kunstkenner halten können. Ich habe aber immer geglaubt, daß hinter seinen Redereien nicht viel stecke. Und durch sein Festspiel «Habsburg> hat mir Herr von Berger allen Glauben genommen. Wer imstande ist, ein solch elendes Machwerk zu patriotischen Zwecken zu liefern, wie dieses Fest-spiel ist, der hat kein Recht, über Kunst zu reden. Das ist eine Pflanze aus Papiermaché, die für eine wirkliche Pflanze ausgegeben wird, während uns der Verfasser in seinen Reden fortwährend von dem Wesen wirklicher Pflanzen erzählen will.

Vor einem Rätsel saß ich, als am 16. August die langweiligsten, banalsten patriotischen Phrasen von der Bühne herab auf mich niedergingen.

Ich hätte nicht ein Wort über das aller Bühnenkunst Hohn sprechende Festspiel verloren, wenn es für mich nicht ein Sym­ptom wäre für die unfreie, dienerhafte Gesinnung, die selbst bei denjenigen vorhanden sein kann, welche auf der Höhe der Zeit-bildung stehen. Berger steht als Ästhetiker auf der Höhe der Zeit-bildung, und er ist imstande, sein Wissen, seine Bildung, alles zu verleugnen, nur um ein klägliches, stümperhaftes Festspiel zu ver­fertigen, das würdig wäre, den nächstbesten Kulissenreißer zum Verfasser zu haben. Ja, wenn die besten Ästhetiker, die schön reden können, solche Stücke schreiben, dann mögen die Künstler sagen: bleibt uns vom Leibe mit eurem Gerede über die Kunst.

ZUR PSYCHOLOGIE DER PHRASE

#G029-1960-SE146 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ZUR PSYCHOLOGIE DER PHRASE

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Sicherlich stellte sich derjenige eine große Aufgabe, der es unternehmen wollte, die Macht des Schlagwortes erschöpfend zu schildern. Denn es wird weniges in der Welt geben, was so sug­gestiv wirkt wie das Schlagwort, und dessen Wirkungen so ge­heitnnisvoll sind. Die Hauptsache ist, daß das Schlagwort in aller Munde ist, daß es jeder bedeutungsvoll ausspricht, ohne dabei etwas zu denken, und daß es ebenso jeder bedeutungsvoll anhört, wieder ohne das geringste dabei zu denken. Es muß nur sowohl der Sprechende wie der Hörende davon überzeugt sein, daß etwas Bedeutendes gemeint ist. Gleichzeitig muß derjenige für töricht gelten, der es einmal unternimmt, nach dem Sinne des Schlag-wortes zu fragen. Denn ein solcher würde die Wirkung des Schlag­wortes zerstören. Er muß sie zerstören. Denn einen Sinn hat das Schlagwort natürlich. Einfach deswegen, weil jedes Wort einen Sinn hat im Munde desjenigen, der es zuerst in einem gewissen Zusam­menhange gebraucht. Auf diesem Sinn aber beruht die Wirkung nicht. Sie beruht auf etwas, was mit dem Sinn nichts zu tun hat.

Ein verständiger Politiker gebraucht ein Wort. Es hat innerhalb der Ausführung, die er gibt, seinen guten Sinn und seine volle Berechtigung. Nun tritt der Fall ein, daß uns dieses Wort eine gewisse Zeit hindurch in dem Lande, dem der Politiker angehört, in jeder politischen Auslassung begegnet. Als der erste verstän­dige Politiker es gebraucht hat, wirkte es zündend, weil der Sinn der übrigen Ausführungen dasselbe beleuchtete. Aber an diesen Sinn denken die unzähligen anderen, die es gebrauchen, gar nicht. Bismarck hält eine bemerkenswerte Rede. Eine Rede, die eine politische Tat ist. Er sagt in dieser Rede: «Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.> Diese Worte haben einen Sinn innerhalb seiner Rede. Sie wirken aber als Schlagwort weiter. Man kann sie nun in unzähligen Reden hören. Aber man darf auch ruhig einen Preis aussetzen für eine vernünftige Auslegung der Worte in diesen unzähligen Reden. Dennoch werden die meisten dieser Reden ihre Wirkung dem Umstande verdanken, daß der Redner die Worte gebraucht hat.

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Man kann ruhig behaupten: ein Wort muß erst seinen Sinn verlieren, wenn es zum Schlagworte werden soll. Denn nichts liebt die große Menge so wie die Worte; und für nichts ist sie so wenig zu haben als dafür, den Sinn der Worte zu verstehen. Die Sprachwerkzeuge der Menschen sind von einem ungeheuren Tätig­keitsdrange beseelt, die Denkwerkzeuge sind die ttägsten Organe, die ein Organismus besitzt. Die Menschen wollen recht viel sagen und recht wenig denken. Deshalb soll es möglichst viele Schlag­worte und Phrasen geben, bei denen man eine starre Wirkung verspürt, ohne etwas zu denken zu haben.

Wer sich auf die Beobachtung des Mienenspieles der Menschen versteht, wird oft folgendes sehen können: Zwei Menschen unter-halten sich. Sie suchen sich auf sinnvolle Weise zu verständigen. Das geht eine Zeitlang so fort. Plötzlich wird einem von beiden die Verständigkeit zu langweilig. Es fällt ihm ein Schlagwort ein, mit dem er die Unterhaltung zu Ende bringen kann. Auf beiden Gesichtern drückt sich nun die Zufriedenheit aus, die sie darüber empfinden, nicht mehr über die Sache weiter reden zu müssen. Das Schlagwort, das keinen Sinn hat, bringt eine lange, vielleicht gar nicht sinnlose Unterhaltung zu Ende.

Eine entfernte Ähnlichkeit mit der Neigung, durch Schlagworte zu wirken, hat die Sucht, für Behauptungen Zitate zu bringen. Zumeist werden die Zitate in dem Zusammenhange, in dem sie gebraucht werden, allen Sinn verlieren, weil sie aus ihrem ur­sprünglichen herausgerissen sind.

Wir treffen überall Zitate. Auf Fahnen, auf Denkrnälern, über Ilingangspforten von Häusern, in Stammbüchern, in Leitartikeln, auf Pfeifenköpfen, Spazierstöcken und so weiter. Jedesmal fordert uns der Anblick eines solchen Zitates auf, den Sinn zu vergessen, den es ursprünglich gehabt hat.

Ich möchte aber mit alle dem nichts gegen die Schlagworte und gegen den Gebrauch der Zitate gesagt haben. Denn die witzigsten Wendungen der Reden werden bisweilen dadurch erreicht, daß man ein Zitat in einer Weise anwendet, die seinem ursprüng­lichen Sinn widerspricht. Lehrreich wäre aber doch eine Samm­lung über Beobachtungen darüber, wie Schlagworte wirken. Man

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könnte, wenn man dieses Kapitel der Voikspsychologie schriebe zwei Fliegen mit einem Schlage treffen. Denn man hätte damit auch ein gutes Stuck eines andern Kapitels der Seelenlehre geschrieben, das da heißt: «Die Gedankenlosigkeit der Menge». Wie die Menge das Denken zu vermeiden sucht, sieht man am besten gerade im Gebrauche des Schlagwortes.

Es gibt Journalisten, die auf diese Eigenschaft der Menge ihre ganze Existenz aufbauen. Sie schreiben - sagen wir jede Woche -einen Artikel, der irgendein Wort enthält, das geeignet ist, acht Tage lang nachgesprochen zu werden. Dann haben die Leser acht Tage ein Mittel, über etwas zu reden, ohne ihre Gedanken in Anspruch zu nehmen. Sie bringen eine Woche lang bei jeder Ge­legenheit den neuesten Ausspruch des Journalisten X. an. Manche Journalisten können nur deswegen einen großen Erfolg verzeich­nen, weil sie die Kunst besitzen, Worte zu prägen, die neben ihrem Sinn auch noch etwas haben, durch das sie suggestiv wir­ken; durch das sie wirken, wenn sie ihren Sinn ablegen. Der Psycholog der Phrase wird zu erforschen haben, was dieses «Etwas» ist, das übrigbleibt, wenn der Sinn aus einem Worte heraus-destilliert ist, und das dann die Zauberkraft hat, das sinnlose Wort zu einer Macht zu erheben, die über die Menschen herrscht.

Ein wichtiger Beitrag zur Herdenpsychologie wird diese Psycho­logie der Phrase sein.

DIE TRAGISCHE UNSCHULD

#G029-1960-SE148 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DIE TRAGISCHE UNSCHULD

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In der letzten Nummer dieser Zeitschrift sind einige Bemer. kungen über die

BEMERKUNGENN zu dem Aufsatz «Der Wert des Monologs»

#G029-1960-SE153 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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BEMERKUNGENN zu dem Aufsatz «Der Wert des Monologs»

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Bemerkungen zu einzelnen Aufsätzen einer Zeitschrift hinzu. zufügen, erscheint, vom Standpunkte eines Redakteurs betrachtet, geradezu wie Schulmeisrerei auf ein anderes Gebiet übertragen. Ich kann aber nichts dafür, daß mir nach dem Lesen des Aufsatzes «Der Wert des Monologs» etwas einfällt, das mir der Erwähnung wert erscheint. Es scheint mir nämlich, als hätte es einen Künstler gegeben, der Rilkes Worte unterschrieben hätte: «Aber es gibt etwas Mächtigeres als Taten und Worte». «Diesem Leben Raum und Recht zu schaffen, scheint mir die vorzügliche Aufgabe des

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modernen Dramas zu sein.» Dieser Künstler ist Richard Wag­ner. Und er hat das von Rilke aufgeworfene Problem in einer ganz bestimmten Weise zu lösen gesucht. Er meinte, daß das­jenige, was von diesem Leben in Worten nicht ausdrückbar ist, die Sprache der Musik suchen muß. Der Verfasser des obigen Aufsatzes dagegen läßt die Frage, die er aufwirft, unbeantwortet. Ich glaube aber auch noch, daß er die Ausdrucksfähigkeit des Wortes unterschätzt. Im Grunde läßt das Wort noch mehr ahnen, als es klar und deutlich zum Ausdrucke bringt. Und wenn man sich an diesen tieferen, durch Ahnung zu erreichenden Sinn des Wortes hält, dann kann es nach meiner Meinung bis zu den verborgensten Tiefen des Seelenlebens hinweisen. Man darf es dem Worte nicht zum Vorwurfe machen, daß es von den meisten Men­schen nicht tief genug genommen wird. Es ist nicht eigentlich selbst eine grobe Zange, sondern eine feine Zange, die zumeist von groben Händen gehandhabt wird. Rilke scheint mir einer von den Kritikern des Wortes zu sein, die dem Worte zurechnen, was eigentlich den Ohren der Hörenden abgeht.

THEATERSKANDAL

#G029-1960-SE154 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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THEATERSKANDAL

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Durch die wenig erfreuliche Weise, wie das Publikum am 29. Oktober sein Mißfallen über Halbes einen Vortrag über «Theaterskandal> zu halten. Hier soll zunächst der Inhalt des interessanten Vortrages skizziert werden. Dr. Löwenfeld hob zunächst hervor, daß der Skandal während der Aufführung von Halbes sich von anderen ähnlichen Vorgängen wesentlich unterscheide. Dem Verhalten des Publikums am Abend ging eine publizistische Kundgebung voraus. Das «Kleine Journal> veröffentlichte am Morgen des Aufführungstages einen Artikel, in dem gegen die Leitung des Theaters Stimmung gemacht wurde. Die finanziellen

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Verhältnisse des Theaters, die geschäftliche und künstlerische Führung wurden in der gehässigsten Weise in diesem Artikel dargestellt. Und am Abend folgte die lärmende Ablehnung.

Weiter schilderte Dr. Löwenfeld, wie ganz anders das genie­ßende Theaterpublikum seine kritische Aufgabe ansieht als das Publikum einer andern Kunst. Der Theaterleiter kann nichts anderes tun, als aus den vorhandenen Kunstwerken die besten dem Publikum bieten. Dieses Beste braucht das Absolut - Gute natürlich nicht zu sein. Aber der Theaterleiter kann dieses Abso­lut-Gute nicht aus dem Boden stampfen. Er kann in dieser Hin­sicht nichts anderes tun als der Leiter einer Zeitschrift oder der Direktor einer Kunstausstellung. Auch diese können nicht anders, als das Beste von dem bieten, was ihnen zu Gebote steht.

Das Publikum hat gewisse Rücksichten zu nehmen. Erstens auf den Dichter. Es soll diesen wenigstens sein Werk vorbringen las­sen, bevor es urteilt. Zweitens auf den Schauspieler. Es soll ihn nicht stören, sein Bestes zu tun, damit der Dichter zur Geltung komme. Beträgt es sich so wie am 29. Oktober im Lessing-Theater, so kann der Schauspieler unmöglich seine Aufgabe zu Ende führen. Auch auf den Nachbar soll das Publikum Rücksicht nehmen. Was würde man sagen, wenn in einer Kunstausstellung uns jemand, während wir ein Bild ansehen, die Hand vor dasselbe hielte! Das tut aber derjenige, der im Theater neben einem andern, der ruhig genießen will, sich lärmend verhält. Endlich hat das Publikum ästhetische Pflichten. Ein Kunstwerk kann nur als Gan­zes genossen werden. Wer vor dem Schluß der Aufführung ur­teilt, der versündigt sich gegen diese Pflicht.

Zu bedenken ist ferner der Zweck des Theaterbesuchs. Dieser ist doch nicht die Kritik einer dramatischen Dichtung, sondern die Unterhaltung oder der Genuß eines Kunstwerkes.

Daran anknüpfend warf Dr. Löwenfeld die sehr berechtigte Frage auf, ob denn das übliche Premierenpublikum überhaupt zu einer solchen Kritik geeignet erscheint. Dieses Publikum setzt sich durchaus nicht aus den Elementen zusammen, die durch ihre gei­stige Höhe berufen erscheinen, ein maßgebendes Urteil zu fällen. Dr. Löwenfeld glaubt, daß durch Ausgeben von Freikarten an Un­berufene

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viel Unheil bei den Premieren herbeigeführt wird. Er führte einen Fall aus seiner Praxis an. Gelegentlich seiner «Räu­ber»-Vorstellung hat er einem Manne, der in Literaturkreisen immerhin etwas gilt, keine Freikarte gegeben. Dieser Mann würde über die unvermeidlichen Unvollkommenheiten der Vorstellung seine Witze gemacht haben. Das wollte Löwenfeld als Theater-leiter nicht. Denn solche Witze, mit der nötigen Lautheit im Theater ausgesprochen, wirken ansteckend.

Auch einen Krebsschaden der Preßkritik hob Dr. Löwenfeld her­vor. Die Tageszeitungen haben einen, vielleicht zwei Theater­kritiker, die ihrer Aufgabe gewachsen sind. Man kann nun fol­gendes erleben. An einem Tage sind vier Premieren. Eine im Schauspielhaus, eine im Deutschen Theater; zwei an Theatern, die nur von wüsten Geschäftsmanipulationen leben und untergeordnete Leistungen liefern. In das Schauspielhaus und das Deutsche Theater gehen die berufenen Kritiker; in die untergeordneten Theater die sogenannten «Schickjungen». Am nächsten Tage liest man ernsthafte Kritiken über das Schauspielhaus und das Deutsche Theater in einem Stile, der den Anforderungen durchaus ent­spricht, die man an ernste Kunstinstitute zu stellen berechtigt ist. Es wird natürlich manches getadelt, und der Tenor der Bespre­chung ist ein solcher, daß die Kritik des Schauspielhauses und des Deutschen Theaters als eine absprechende erscheint gegenüber den verhimmelnden Ausführungen eines Schickjungen über ein Theater, das mir Kunst überhaupt nichts zu tun hat. Was für ein Bild soll sich aus den nebeneinander abgedruckten Kritiken der Fremde machen, der nach Berlin kommt? Er sagt sich: im Schau­spielhaus wird mittelmäßig gespielt; im Deutschen Theater ist auch nichts Rechtes los: deshalb gehe ich ins Friedrich-Wilhelm-städtische Theater. Dort ist ja alles vortrefflich. Dr. Löwenfeld betont, daß die Zeitungen die Pflicht haben, hier Wandel zu schaffen.

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An diesen interessanten Vortrag schloß sich eine Diskussion. Der Unterzeichnete eröffnete dieselbe. Er wies darauf hin, daß es eine Art der Ablehnung eines Dramas gibt, die für dasselbe absolut

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tödlich ist; die aber deshalb doch nichts mit dem abstoßenden Betragen des Publikums am 29. Oktober im Lessing-Theater ge­mein hat. Er erinnere sich an eine Vorstellung, welche die Goethe­Versammlung vor einigen Jahren in Weimar veranstaltet hat. Zur Aufführung kamen Paul Heyses «Schlimme Brüder>. Das Publi­kum, das aus allen Teilen Deutschlands zusammengekommen war, fühlte sich über alle Maßen gelangweilt und angeödet. Es hat nicht gezischt, gejohlt, gehöhnt. Nach jedem und auch nach dem letzten Akte ging der Vorhang unter lautloser Stille nieder. Das Publikum ging schweigend aus dem Theater. Das Stück war begraben. Die Zuschauer hatten ein Todesurteil gesprochen, aber in dem Be­wußtsein der Verantwortung, die man übernimmt, wenn man ein wirkliches Kunstwerk zum Tode verurteilt. Halbes «Eroberer> gegenüber ist sich das Publikum dieser Verantwortung nicht be­wußt gewesen. Die schweigende Ablehnung erscheint mir aller­dings vornehm. Weiter hatte ich zu sagen, daß ich nicht glaube, daß Halbes Drama am Sonnabend, den 29. Oktober, begraben war. Als ich aber am Sonntagmorgen die Tageskritik las, da gab ich alles verloren. Die Berliner Tageskritik weiß nicht, daß sie die Pflicht hat, mit der eigenen Meinung zunächst zurückzuhalten und den Leuten zu sagen: das will der Dichter, geht hinein und bildet euch ein Urteil. Sie sagt dafür: das Stück wird nicht Kassa machen, also bleibt fort. Das hat sie am 30. Oktober gesagt. Die Leute blieben fort. Und das Stück konnte zum dritten Male nicht mehr gegeben werden. Hans Olden nahm hierauf in ausgiebigster Weise das Publikum in Schutz. Es habe immer künstlerische Lei­stungen mit dem Beifalle ausgezeichnet. Hauptmann habe es nicht verkannt. Dr. Landau führte aus, daß es im Theater vor allen Din­gen auf die Wirkung ankomme. Man könne unmöglich bis zum Schlusse des letzten Aktes warten, um die Wirkung zu äußern, die ein Stück auf den Zuschauer mache. Das Lachen sei doch zu­nächst eine notwendige Äußerung des psychischen Organismus, und gegen die könne man nichts machen. Dr. Lorenz ging ganz ab von dem Thema. Er sagte, das Halbesche Drama fordert das Lachen heraus. Deshalb wurde gelacht. Felix Lehmann machte einen guten Vorschlag. Er ist der Ansicht, daß man die erste wirk­liche

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Aufführung vor einem geladenen Publikum nach Pariser Muster veranstalten solle. Ein solches wird die Manieren haben, die es haben soll. Damit hat er allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen, und was er sagte, glich wie ein Ei dem andern der Resolution, die der Vorstand der vorschlagen wollte. Ein solches Premierenpublikum, wie es Felix Lehmann zu einer ersten Aufführung vorschlägt, wün­schen wir. Sonst nichts.

DIE DIREKTION SCHLENTHER

#G029-1960-SE158 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DIE DIREKTION SCHLENTHER

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Es ist nun gerade ein Jahr her, daß Schlenther zum erstenmal als Nachfolger Burckhards genannt wurde. Gleich damals erhob sich heftiger Widerspruch. Das mußte Femerstehende wunderneh­men. Schlenther war doch ein angesehener Mann, dessen literari-sche Verdienste nicht angezweifelt wurden. Mit den führenden Namen der modernen Bewegung war auch der seine geläufig ge­worden. Er galt in Wien als der kritische Repräsentant der deut­schen Modernen. Und zudem kannte man ihn als einen kenntnis­reichen Schüler Scherers; so mußte er doch für die vielfältigen Bedürfnisse des Burgtheaters, das dem Neuen zustrebt, ohne das Alte missen zu können, in literarischem Sinne als der rechte Mann erscheinen.

Und trotzdem wurde er nicht willkommen geheissen. Man war

mit wenigen Ausnahmen kühl, wenn nicht gar feindselig gegen ihn. Aber die Gründe hierfür lagen nicht in seiner Persönlichkeit. Man haßte den neuen Mann, weil man den alten liebte. Das ist echt wienerische Logik.

Burckhard hatte während seiner Direktionszeit überall Gegner, in seinem Theater, in der Kritik, in der Gesellschaft überall. Er war keinem recht Hermann Bahr etwa ausgenommen. Als er aus dem Amte schied, hatte er nur Freunde. Alle standen bei ihm. Nicht nur, weil der Unterliegende immer das nächste Recht an die Herzen der Wiener hat denn Wien ist die gutherzigste Stadt

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der Welt , sondern weil er für eine rühmliche Sache gefallen war. Das ließ alles vergessen. Er hatte erklärt, daß er der Zensur des Obersthofmeisteramtes sich nicht länger fügen könne, und für die moderne Literatur freie Bahn gefordert. «Mit´n und die », donnerte er, «kann i ka Burgtheater führen. Alsdann, meine Herren, ich bitt um die gleichviel, für die Wiener war Burckhard nunmehr das Opfer seiner Überzeugung, der heilige Sebastian der modernen Kunst. Alle fühlten sich an seiner Seite, in seinem Kampfe gegen die höheren Behörden. Man hoffte, daß das Ansehen der öffentlichen Meinung seine Gegner zum Schweigen bringen werde. Es war wochenlang das Tagesgespräch, ob Burckhard im Amte bleiben werde oder nicht. Jede Kombination, die einen neuen Mann an die Stelle Burckhards setzen wollte, wurde als persönliche Gegner­schaft empfunden. Man wollte nichts wissen von Bulthaupt, Savits, Schönthan, Claar und wie die Namen alle lauteten, die damals aufflogen man wollte Burckhard behalten. Das war wie ein demokratisches Votum gegen eine Kabinetrsverfügung. Man ver­gaß ganz, daß man eigentlich gar nicht das Recht hatte, in die Sache hineinzureden; denn das Burgtheater ist doch schließlich eine Privarsache des Hofes. Man schrieb und resolviette und schrie: den Burckhard und keinen andern!

Also auch nicht Schlenther. Das hatte der neue Direktor bald zu fühlen. Wo er nicht mit offenem Haß aufgenommen wurde, fand er kühles Mißtrauen. Kaum daß die eine oder andere kri­tische Stimme ein herzliches Wort für ihn fand. Seine erste Äuße­rung freilich konnte ihm nicht viel Liebe erwerben. War Burck­hard gefallen, weil er ein aufrechter Mann war, so verriet Schlenther eine überraschende höfische Geschmeidigkeit. Er hatte in sei­nen Begrüßungsreden eine Unsumme von Ergebenheiren für die k. k. Olympier an den Tag gelegt wohl mit um so unbedenk­licheren Worten, weil er ein freisinniger Mann ist und das Ganze als gewichtlose Formalität fühlen mochte. Aber klug war das nicht von ihm. Die Kritik war gleich hinter ihm her. Also das ist der Moderne, der Unabhängige, der Revolutionär! Mit diesem revolutionären

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Wesen war es überhaupt seltsam bestellt. Man hatte einen ungestümen Feuerkopf erwartet, einen wilden Losgeher, der zehn Jahre heißen Kampfes hinter sich hatte und eine frische Fehdelusrigkeir in unsere stillen Kreise bringen würde. Statt dessen kam ein ernster, sehr ruhiger Mann, ein geschickter Diplo­mat, der keinen Moment sich verliert, der alles innerlich abmacht und nach außen stets die unbewegte lächelnde Miene zeigt das war wieder so ein fremder unwienerischer Zug, den man an ihm nicht gern hatte. In Wien ist alles Temperament, Offenheit, Liebe, Haß, Zorn aber nur um Gottes willen kein Geheimtun, keine Rückhältigkeir, kein Spielen mit der Situation! Das macht un­sicher, haltlos, verwirrt das Urteil. Der ideale Theaterdirektor, der für Wien zu einer legendarischen Gestalt geworden ist, war Laube. Und von dessen gerader Grobheir schwärmt heute noch ganz Wien. So hatte man sich Schlenther gedacht: derb, zufahrend, eigenwillig, stark. Er war liebenswürdig, konziliant, bescheiden. Er nahm wohl an den Proben tätig teil und gab manchen von den Schauspielern die ja im Burgtheater durchaus intelligente Leute sind sehr geschätzten Rat. Aber das Regiment legte er doch in die Hände seiner Regisseure; er war mehr ein korrigierendes als schaffendes Element in seinem Hause. Aber das erwarb ihm kein imponierendes Ansehen. Unter Laube waren alle Regisseure über­flüssig. Er stand jeden Tag auf der Bühne, führend, überschauend, der Herr im Hause. Man fragte einmal einen älteren Hofschau­spieler, was denn die Regisseure unter Laube zu tun hatten. «0, die hatten eine streng geregelte Tätigkeit>, berichtete er, Unter Schlenther bekamen die Herren vom Regie-Kollegium doch noch andere Aufgaben. Und das Mißtrauen, das man in Theaterkreisen einem zünftigen Literaten immer entgegenbringt, wuchs. «Er leitet von der Kanzlei aus sein Theater!> hieß es. Nun haben ja das vor Schlenther schon sehr viele sehr gerühmte Direktoren des Burgtheaters getan, aber die Zeit, die Schlenther

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im Burgtheater antraf, war allerdings eine arg zerfahrene, die eine starke Hand dringend erheischre. Der neue Direktor fand ein ganz dekomponiertes Theater vor. Fast alle jugendlichen Fächer waren verwaist das Personal bestand nur aus Heldenvärem, freilich aus unvergleichlichen. Das Repertoire war lückenhaft, uninteressant, ganz charakterlos. Die Moderne hatte trotz bescheidener An­sätze doch kein Heim in dem kaiserlichen Hause und konnte es auch nicht haben. Aber auch die klassischen Traditionen hatten keine sorgsame Hand gefunden. Hebbel, Kleist, Molière fehlten ganz Schiller, Goethe, Grillparzer waren nur mir einzelnen Wer­ken heimisch. Alle Vorstellungen aber hatten trübe Flecken, vieles war alt und morsch geworden, manches unzulänglich ersetzt alles rief nach kräftigen und rücksichtslosen Reformen. Voll Un­geduld erwartete man die neuen Taten des Direkrors.

Und nun kam eine große Enttäuschung. Ob der neue Herr den Erfolg in das müde Haus bringen würde das konnte keiner vor­hersagen. Aber eins erwartete jeder: ein Programm. Ein Mann, der durch Jahrzehnte hindurch in innigem Zusammenhang mir dem deutschen Theater stand, ein Lirerar, der denkend, ratend, theoretisierend den Bühnenereignissen gefolgt war, erhielt nun plötzlich die Leitung der ersten deutschen Bühne, auf der Höhe seines Lebens, voll Kraft, ganz im Besitze seiner Persönlichkeit, seiner Erfahrungen, seiner Wünsche eine Springflur von Ideen mußte jetzt auf diese alte Bühne niederbrausen, unklar, unprak­tisch vielleicht, aber doch voll künstlerischer Kraft, imponierend in ihrer Fülle und in der Herzlichkeit ihrer Absicht! Es kam einer daher, der ein Leben hindurch seine Taschen vollgepfropft hatte, und nun sollte er endlich zeigen, was er gesammelt hatte alles wartete mir brennenden Augen auf seinen Reichtum, auf die Ernte seines Lebens , und Schlenther kam mit leeren Händen. Mit ganz leeren Händen. Er hatte nichts, aber auch gar nichts, was er den gespannten Wienern zeigen konnte. Er hätte die merk­würdigsten Sachen beginnen er hätte Maererlinck aufführen können oder Sophokles erneuern, er hätte Molière in neuen For­men auf die Szene bringen können oder Ibsen aber er hätte irgend etwas tun müssen, eine wirkliche persönliche Tat, die seinen

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Willen kraftvoll ausgesprochen hätte. Und auf diese Tat hat man vergeblich gewartet, wartet man heute noch. Es ist wahr, er hat den «Baumeister Solneß» aufgeführt und eine neue Be­arbeitung der «Komödie der Irrungen>; er hat dann wieder ein­mal die «Jungfrau von Orleans» neu inszeniert und einen feinen Akt der Ebner-Eschenbach dem Burgtheater gewonnen lauter verdiensrliche Dinge, die man ihm lobend nachsagen darf , aber wo bleibt der Schlenther, der Paul Schlenther, der erste Kritiker Berlins, der Prologus einer neuen Zeit und neuer Kunstideale? Er hat nach den Berliner Erfolgen auch den «Cyrano> gegeben und das «Vermächtnis> aber wer hätte das nicht getan? Wir aber hätten gerne etwas gesehen, was nur er tun könnte, er ganz allein.

Er ist nicht als reicher Mann nach Wien gekommen, der von seinem Vermögen leben konnte er mußte gierig nach dem Er­werb des Tages haschen. Philippi ist jetzt der erlösende Gott des Burgthearers. Der Direktor will Kasse machen. Er hat es selbst oft genug ausgesprochen. Das ist ein sehr berechtigter und ver­ständiger Standpunkt. Nur darf er den Direktor nicht ängstlich und mutlos vorsichtig machen. Nur darf er nicht der ausschließ­liche Standpunkt eines Burgrhearer-Direkrors sein; und schließlich ist es noch sehr die Frage, ob er nicht ganz wohl mir den künst­lerischen Bedürfnissen des Hauses zu vereinigen wäre. Schlenther, dem die Wiener Verhältnisse noch immer nicht ganz vertraut sind, übersieht eins, daß das Burgtheater seine klassischen Tra­ditionen hat, die bei verständnisvoller Pflege die alte magnetische Kraft nicht eingebüßt haben. Er braucht den «Mädchentraum» nicht und den «Vielgeprüfren» und die sonstige Tageslirerarur; eine interessante Neubeserzung von Hebbels «Nibelungen> füllt ihm das Haus viel sicherer. Er hat im Juni des vorigen Jah­res (also in der ungünstigsten Thearerzeir) ein ausverkauftes Haus gehabt mit dem «Faust>, als die Medelsky das Gretchen gab. Für «Minna von Barnhelm» mit Baumeister als Paul Werner war keine Karte zu bekommen. Das sollte dem Direktor doch eine richtige Weisung sein.

An der Rechtschaffenheit und Gediegenheit seines Wesens zweifelt niemand, aber mehr Wagemut, mehr Entschlußfreudigkeir

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sollte er besitzen. Es ist wahr, es herrscht heute im Burg­theater ein Geist der Arbeitsamkeit, des künstlerischen Ernstes, der dem Hause seit Jahren fremd war. Wenn vor einigen Jahren das Gretchen einer anderen Schauspielerin zugeteilt wurde, dann mußten zwei Szenenproben genügen, um die Vorstellung vorzu­bereiten; der «Carlos» wurde nach einjähriger Pause ohne Probe wieder aufgeführt. Heute wird das Repertoire sorgfältig vorberei­tet. Wenn der «Minisrerial-Direkror» oder die «Schmetterlings-schlacht» in einigen Rollen neu besetzt werden, dann werden vier bis fünf Proben dem Stück gewidmet.

Und das ist symptomatisch. In jedem Sinne herrscht heute Ord­nung und Fleiß im Hause. Aber das reiche, kunsrbildende Leben fehlt. Leicht wird dem Direktor die Arbeit freilich nicht. Die Hartmann ist gestorben, wenige Wochen nachdem er kam; die Sandrock mußte er ziehen lassen er hat auch einige junge Kräfte erworben, aber sie sagen, und wohl mir Recht, dem wiene­rischen Geschmack nicht zu.

Die Tat fehlt noch immer, die dem Namen des Direkrors für uns den Inhalt gibt. Vorläufig raten wir noch immer, was der einst berühmte Kritiker dem Burgtheater bringen wird. Wir wis­sen nicht mehr als vor einem Jahre.

«DIE ANFÄNGE DES DEUTSCHEN THEATERS»

#G029-1960-SE163 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE ANFÄNGE DES DEUTSCHEN THEATERS»

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In der Reihe der «Hochschulvorträge für Jedermann> ist einer erschienen, der in die Entstehungsgeschichte der deutschen Bühne einführt. Prof Dr. Georg Witkowski behandelt das Thema: «Die Anfänge des deutschen Theaters». Mit der durch seine Aufgabe bedingten Kürze zeigt er, daß dieser wichtige Faktor innerhalb unseres geistigen Lebens erst spät sich seinen Platz in dem deut­schen Kulturleben erobert hat. Im Mittelalter gab es in Deutsch­land kein eigentliches Theater. Der Inhalt der ernsten Dichtung, die in dramatischer Form auftrat, war der biblischen Geschichte entnommen, und seine Darstellung schloß sich dem Gottesdienste

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an. Am Oster- und Weihnachtsfest wurden Szenen aus dern Alten und Neuen Testarnente vorgeführt. Sie hatten nicht den Zweck, den jede wirkliche dramatische Dichtung hahen muß, Seelen-kämpfe um ihrer selbst willen vorzuführen; sie wollten die heilige Geschichte in lebendiger Anschaulichkeit vorführen. Ebensowenig kann man die komischen Aufführungen, die von Handwerkern und Schülern zur Fastnachtszeit gepflegt wurden, wirklich als dra­matische Leistungen bezeichnen. Sie behandelten meist kleine Ge­richtsszenen, eheliche Zwistigkeiten und derbe Späße, die gewöhn-lich vom Standpunkte des Städters die Bauern verspotteten... Die Darsteller zogen von Haus zu Haus, sagten ohne alle szenischen Mittel ihre Rollen her und entwickelten gewiß dabei ein sehr ge­ringes Maß von schauspielerischer Kunst, denn woher sollte die den wackern Handwerkern und Schülern kommen? Nach der Re­formation waren in Deutschland günstigere Verhältnisse für das Drama. Luther begünstigte die Schüleraufführungen, weil er des Glaubens war, daß sie einen guten Einfluß auf die öffentlichen Anschauungen haben. «Komödien zu spielen, soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich, daß sie sich üben in der lateinischen Sprache, zum andern, daß in Komödien fein künstlich verdichtet, ab­gemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet, und ein jeglicher seines Amts und Standes er­innert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wohl anstehe und was er tun soll, ja, es wird darinnen fürgehalten und für die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Ämter und Gebühre, wie sich ein jeder in sei-nem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel.» In der Folgezeit blühte das Schuldrama. Viel aber konnte dies nicht erreichen, denn die Anschauungen vom Wesen der dramatischen Technik waren von der primitivsten Art. Über einen auf mehrere Personen verteilten Dialog kam man nicht hinaus. Der Anstoß zu einer wirklich dramatischen Kunst in Deutschland ging von den Engländern aus. Bei ihnen entwickelte sich eine solche am Ende des sechzehnten Jahrhunderts mit be­wundernswerter Schnelligkeit. 1576 wurde in London das erste

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Theatergebäude errichtet, und am Ende des Jahrhunderts gab es in dieser Stadt mehr derartige Kunstinstitute als heutzutage. Und ebensoschnell entwickelte sich das englische Drama von einfachen Spielen mit religiöser und sittlich-didaktischer Tendenz zu den Meisterschöpfungen Shakespeares.

Die Kunst, die sich da entwickelte, trugen wandernde Schau­spielettruppen auch nach Deutschland. Im Jahre 1586 findet sich eine solche Truppe unter William Kempes Führung am Dresdner Hofe ein. Von dieser Zeit an tauchen diese Komödiantengesell­schaften an den verschiedensten Orten auf. Sie führen englische Stücke auf, zum Teil allerdings in einer unerhörten Verballhor­nung. Aber auch von Deutschen wurden Stücke verfaßt, die solche Gesellschaften dann spielten. Der Führer einer solchen Truppe spielte meist die Hauptrolle, die eine komische Person darstellen mußte. Die Stücke, die gespielt wurden, mußten in eine Form ge­bracht werden die es diesem Führer gestattete, als diese typisch gewordene komische Figur auftreten zu können. - Von diesen Aufführungen haben wir Kenntnis fast nur durch die Ratsproto­kolle und Steuertabellen der Städte, die uns zeigen, welche Lasten die Behörden den Wandertruppen auferlegten. Eine Theaterkritik oder ähnliches gab es in dieser Zeit noch nicht. - Den hiermit an­gedeuteten Charakter hatte die dramatische Kunst in Deutschland die letzten Jahre des sechzehnten und das erste Drittel des sieb­zehnten Jahrhunderts hindurch. Witkowski teilt einen Theater-zettel aus Nürnberg mit der uns einen Blick auf das tun laßt, was geboten wurde . Nach der Comoedi soll präsentirt werden ein schön Ballet, und lächerliches Possenspiel. Die Lieb­haber solcher Schauspiele wollen sich nach Mittags Glock 2 ein­stellen uffm Fechthauß, allda um die bestimbte Zeit praecise soll

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angefangen werden.> Zu dem Ausdruck Pickelhering, das heißt Bückling, sei gesagt, daß sich die erwähnte, im Mittelpunkt der Darstellungen stehende komische Figur Namen beliebter Nah­rungsmittel gab: Hans Wurst, Hans Knapkäse, Stockfisch und so weiter. - Nach 1631 traten andere Zustände ein. Die englischen Truppen verlieren sich; an ihre Stelle traten «hochdeutsche Ko­mödianten>.

Es sei noch besonders auf Witkowskis Schilderung der dama­ligen Bühne hingewiesen:

«Schon lange zuvor ist der weite Raum des Hofes, der eine sehr große Menschenzahl faßt, dicht gefüllt. Vorn an der Tür haben die Eintretenden eine Tafel gefunden, darauf geschrieben steht, daß der Platz für die Person sechs Kreuzer kostet. Sonst haben die Engländer oft mehr gefordert, das ist aber diesmal nicht gestattet. Das Publikum, das die immerhin hohe Summe erlegt hat (die deutschen Truppen bekamen nur einen halben Kreuzer), sitzt vor der Bühne und um die Bühne herum, die mit der heu­tigen wenig Ähnlichkeit hat. Sie bestand aus einem kleinen Ge­rüst, das an der Rückwand des Hofes aufgeschlagen war und nur einen geringen Teil derselben einnahm. Es war auf drei Seiten offen, nur hinten war es mit Teppichen verhängt, vor denen man ein kleineres erhöhtes Gerüst sah, zu dem Treppen hinaufführten. Dieses diente einem doppelten Zwecke. Einmal wurde seine Plattform stets verwendet, wenn man einer Erhöhung, einer Stadt­mauer, eines Hügels oder Turmes bedurfte. Dann aber diente sein Innenraum dazu, um eine zweite Bühne auf der Bühne zu schaf-fen, auf der namentlich die Szenen, welche in den Gemächern der Häuser spielten, dargestellt wurden. Diese zweite Bühne war mit Dekorationen ausgestattet und durch einen Vorhang verschließ­bar, so daß sie verwandelt werden konnte, während auf dem vor­deren Teil der Szene gespielt wurde; eine äußerst praktische Ein­richtung, die dem Aufbau der Dramen sehr zugute kam. Später wurde die Breite der Bühne über die ganze Rückwand des Ge­bäudes, in dem man spielte, ausgedehnt und so die heutige Gestalt unseres Theaters hergestellt, das weit von dem einstigen einfachen und doch so sinnreichen Gebrauch der Engländer entfernt ist.

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Aber das wichtige Prinzip der Vorder- und Hinterbühne finden wir schon bei ihnen, es ist sozusagen hier schon die Urzelle der jetzigen Bühne gegeben.>

In Deutschland selbst entstanden zur Zeit, als das Theaterwesen unter dem Einflusse der Engländer stand, nur dramatische Dich­tungen, welche für das wirkliche Theater wettlos waren. Sie lehn­ten sich an die Griechen und Römer an. Erst an Moliére und an die von ihm entwickelte französische Kunst schloß sich auch in Deutschland wiöder Fruchtbares. Einem völligen Verfall des Thea­ters in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts folgte durch Gottsched, der im Verein mit der genialen Bühnenkümt­lerin Neuber wirkte, ein Aufschwung. Wenn man sich auch in Deutschland von dem französischen Einfluß wieder freigemacht hat: in dieser Zeit kann dieser Einfluß nur als ein äußerst günsti­ger bezeichnet werden.

NOTIZ Ibsen als Tragiker

#G029-1960-SE167 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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NOTIZ Ibsen als Tragiker

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Im Februarheft der Zeitschrift «Bühne und Welt> wurde ein Aufsatz Johann Hertzbergs (Stockholm, in freier Übertragung von E. Brausewetter) veröffentlicht, der «Ibsen als Tragiker> behan­delt. Er erscheint als ein bedeutsames Kapitel der modernen Dra­maturgie. Der Verfasser führt aus, daß man in der hergebrachten Ästhetik drei Arten von Tragödien unterscheide: Schicksals-tragödien, in denen das Fatum von überirdischen oder mystischen Mächten gelenkt wird; Charaktertragodien, in denen das Schick­sal des Helden von seinem eigenen Charakter abhängt; Situations­tragödien, in denen die Katastrophe eine notwendige Folge gewis­ser allgemeinmenschlicher Verhältnisse ist. Bei Ibsen findet sich keine dieser drei Arten streng festgehalten. Seine Tragödien - und Hertzberg sieht in Ibsen vorzüglich einen Dichter des Tragischen -zeigen eine Stilmischung. Man kann sie zum Teil zu der einen,

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zum Teil zur anderen Art zurechnen. - Obgleich nicht in einer ganz klaren Art, weist Hertzberg doch darauf hin, daß dies eine Folge der aus den modernen Erkenntnissen sich ergebenden Welt-anschauung ist. Wir können heute kein waltendes Schicksal an-erkennen. Wo ein naives Gemüt ein solches sieht, da sind für uns Naturgesetze vorhanden. Dadurch fließen für uns die beiden Vorstellungen des Schicksals und des aus den Situationen sich ergebenden notwendigen Zusammenhanges ineinander. Betrachten wir einmal die «Gespenster>. Das Tragische folgt aus der Situa­tion mit naturgesetzlicher Notwendigkeit. «Frau Alving und Oswald sind in eine allgemein-menschliche, tragische Situation gestellt, die auf dem unlösbaren Gegensatz zwischen dem Drang des Menschen nach voller Freiheit und Selbstvertrauen und seiner hilflosen Unterlegenheit unter die furchtbaren und unerbittlichen Gesetze der Erblichkeit beruht. Andererseits dagegen erinnern sie sehr an die antike Schicksalstragödie. - Sie haben keine Schuld auf sich geladen, die solch eine schreckliche Schickung erklären kann.» - Dieses «Erklären-kann> ist nicht vollständig. Die Erklä­rung kann allerdings keine moralische sein, aber sie ist im voll­sten Sinne des Wortes eine naturgesetzliche. Weil er die aus den alten Weltanschauungen fließenden künstlerischen Stilarten im Sinne der modernen Weltanschauung umwandelt. deshalb steht uns Ibsen so nahe. - Man sollte also gar nicht, wie Hertzberg es tut, von einer Vermischung der alten Arten und Stile sprechen; man sollte vielmehr von der Schöpfung einer ganz neuen Art der Tragik sprechen: von der Tragik, die aus der Naturnotwendigkeit sich ergibt. Wenn Hertzberg sagt: «In unserer Zeit ist man zu der Erkenntnis gekommen, daß nicht ein einzelner Faktor das Schicksal bestimmt, sondern viele zusammen>, so müssen wir hin­zufügen: Sie wirken eben zusammen im Sinne der Natur, in der jede Tatsache aus dem Zusammenwirken vieler Elemente ent­steht. Die älteren Weltanschauungen gingen nicht von dieser Er­fahrung, sondern von einer vorgefaßten Meinung aus, die ihnen irgend einen der Faktoren: Schicksal, Charakter, Situation beson­ders in die Augen springen ließ.

«WIENER THEATER 1892-1898»

#G029-1960-SE169 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«WIENER THEATER 1892-1898»

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Im Himmel soll mehr Freude sein über einen Bekehrten als über neunundneunzig Gerechte In dem Himmel der Ästhetik in dem der Wiener Kritiket Ludwig Speidel Hauptheiliger ist, muß daher die Freude groß sein über die Bekehrung des einstigen Hauptketzers Hermann Bahr «Diese Sammlung von Rezensionen, die ich, von 1892 bis 1898 erst in der dann in der uber Wiener Theater geschrieben habe, soll zeigen, wie ich von unsicheren aber desto heftigeren Forderungen einer recht vagen Schonheit nach und nach doch zu einer reinen An sicht der dramatischen Kunst gekommen bin und das Theater, was denn sein Wesen ist, erkannt habe. Dies verdanke ich Ihnen allein. Durch Ihre Worte ist mir der Sinn aufgegangen, von Ihnen habe ich gelernt, was das Drama soll durch Ihre großen Forderun­gen bin ich von den Launen frei geworden. Und Sie haben mich auch gelehrt, was unser, der Kritik, dieser , wie Sie sie geheißen haben, Amt ist: den Schaffenden zu helfen. Darum habe ich Sie gebeten, mein Buch mit Ihrem Namen schmucken zu durfen » So leitet Hermann Bahr sein neue stes Buch «Wiener Theater (1892 1898)» ein Ludwig Speidel ist der Vertreter einer durchaus veralteten asthetischen Auffassung Den Forderungen die uns die moderne Weltanschauung in den Sinn legt, steht er ganz fremd gegenuber Veteran der Gedanken die in der Zeit Gustav Freytags tonangebend waren, ist er. Kri­tiken, wie er sie heute schreibt, könnten auch um die Mitte unse­res Jahrhunderts geschrieben worden sein. Seiner Ideenrichtung schwebt eine Kunst vor, die einem abstrakten Schönheitsideale nachjagt. Friedrich Theodor Vischer hat in seiner Ästhetik, die er später selbst desavouiert hat sich zu diesem Ideale bekannt Speidel hat von seinem Gesichtspunkte aus alle neueren Kunstrichtungen zunächst immer verdammt Er ist stets zuruckgewichen, wenn die Zeit für diese Kunstrichtungen Partei genommen hat Wie hat er Gerhart Hauptmann erst behandelt? Wie behandelt er ihn jetzt Man braucht nur die Rezension zu lesen, die er bei Gelegenheit der Erstauffuhrung im Wiener Burgtheater uber die #SE029-170

Menschen> geschrieben hat. Hermann Bahr hat seine Jugendbil­dung ganz aus der modernen Richtung geholt. Es gab eine Zeit, in der er der Kritiker der «Moderne» par excellence wan Und jetzt hat er sich zu den Anschauungen des ästhetischen Konserva­tismus bekehrt. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Bahr hat nie­mals aus dem innersten Grund seiner Seele heraus die «Moderne» vertreten. Er hat sich ihre Schlagwörter angeeignet und mit ihnen gewirtschaftet. Er hatte immer eine starke Neigung und auch Be-gabung, dafür nette glatte Formeln zu finden, was die moderne Kunst will. Aus dem Wesen seines Innern kamen diese Formeln nicht. Ein dialektisches Spiel hat er getrieben. Deshalb wird ihrn auch die Bekehrung leicht. Sein Entwickelungsgang ist kein natürlicher. Als er jung war, hat er die Ästhetik der Vischer und Spei­del nicht verstanden. Aber er hat sie bekämpft Andere gingen gerade von dieser Ästhetik aus. Sie haben sich auf Grund dieser Ästhetik mit den berechtigten Grundsätzen der Kunst auseinander-gesetzt. Aus der Einseitigkeit dieser Grundsätze heraus haben sie zunächst die Aufgaben der neuen Kunst nicht verstanden. Heute verstehen sie ihre Forderungen. Sie beurteilen das Neue nach dem Mafistabe, den ihnen die gute alte Ästhetik geliefert und den sie entsprechend fortgebildet haben. Dadurch sind sie zu einem ge­rechten Urteile gekommen. Sie können sich nicht zu Speidel be­kehren. Denn die Arbeit ihres Lebens ist, über Speidel hinaus, zu einer modernen Ästhetik zu kommen. Wenn sie über die «Moderne> urteilen, so hat ihr Urteil das Element der alten Ästhetik in sich, das berechtigt wan

Hermann Bahrs Ästhetik hatte dieses Element nie in sich. Und seine neue Ästhetik wird wohl nicht weniger oberflächlich sein als seine alte. Sie erscheint weniger als Fortentwickelung denn als Bankerott. Er wird nunmehr in nette glatte Formeln bringen, was Speideis Ansicht ist, wie er früher in nette glatte Formeln ge­bracht hat, was Ibsens Meinung ist.

DAS DEUTSCHE DRAMA DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS

#G029-1960-SE171 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DAS DEUTSCHE DRAMA DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS

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Dr. Siegismund Friedmann, Professor an der R. Academia Scienti­fico-Letteraria in Mailand, hat sich die Aufgabe gestellt, die Ge­schichte des deutschen Dramas nach Schiller darzustellen. Die von Ludwig Weber besorgte Übersetzung seines Buches ist soeben er­schienen (Erster Band. Leizpig 1900). Wir haben es mit einer literarischen Erscheinung zu tun, die in der Anlage und Durch­führung ihrer Aufgaben als eine bemerkenswerte Leistung be­zeichnet werden darf. Wer eines Führers bedarf, um sich in der deutschen dramatischen Literatur nach Schiller und Goethe zu orientieren, kann in diesem Buche einen zuverlässigen und im höchsten Maße anregenden finden. Aber auch wer bereits ein aus-gereiftes selbständiges Urteil besitzt, wird sich mit Interesse in Friedmanns Auseinandersetzungen vertiefen. Ein Mann von ener­gischer, feiner künstlerischer Empfindung spricht zu uns. Von einer hohen Warte herab werden die Dramatiker: Heinrich von Kleist, Christian Dietrich Grabbe, Christian Friedrich Hebbel, Otto Ludwig Franz Grillparzer geschildert. Friedmann ist es vortrefflich gelungen, die literarischen Porträts dieser Persönlich­keiten in individualisierender Charakteristik herauszuarbeiten. Er hat die Gabe, auf die Eigenart des einzelnen Geistes einzugehen und ein geschlossenes Bild von ihm zu gewinnen, ohne in die Unart vieler moderner Charakteristiker zu verfallen, welche die Persönlichkeit durch allerlei Nebensächliches ihres bürgerlichen Daseins zu kennzeichnen suchen. Einen ästhetischen Kritiker und einen geschichtlichen Betrachter lernen wir kennen. Der eine beeinträchtigt den andern nicht. Eine grütidliche Kenntnis der deutschen literaturgeschichtlichen Leistungen verleiht dem Buche eine außerordentliche Gediegenheit. Und es wirkt besonders wohl­tuend, daß der Autor nicht ein zopfiger Gelehrter ist, sondern ein freier, weltmännischer Beobachter. Eine gerechte Würdigung einer solchen Arbeit kann nur derjenige üben, der zu beurteilen ver­mag, welche Fülle von Studien vorangehen müssen, um zu solcher Freiheit des Urteiles zu gelangen. Was den Fehler so vieler

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literarhistorischer Bücher bildet, daß uns ihre Verfasser mit einer Masse von unverarbeitetem Stoffe überschütten, das ist hier ganz vermieden. Friedmaun gibt die Ergebnisse, ohne uns durch Vor-führung der Studien abzustoßen.

Der Verfasser findet überall die springenden Punkte, um uns in die Seele der Persönlichkeiten zu führen, die er schildert. Charakteristiken wie diejenige von Kleists oder Hebbeis «Gyges und sein Ring> sind Meisterstücke. Die an der Grenze zwischen pathologischer Exzentrizität und philosophischer Tiefe wie über einem Abgrunde schwebende Gestalt Kleists, die herbe Psychologenkunst Hebbeis, der grüblerische Genius Otto Ludwigs, die von einer gewissen Philistrosität nicht freie Klassizi­tät Grillparzers: sie kommen alle zur vollen Geltung und anschau­lichen Darstellung.

Rühmend hervorheben möchte ich, daß Friedmann ein echtes Gefühl dafür hat, wieviel von einer genialischen Persönlichkeit der Zeit angehört und wieviel nur aus dem Grunde ihrer Indi­vidualität herausgeholt werden muß. In dieser Beziehung wird ja gerade von Literarhistorikern besonders viel gesündigt. Die einen stellen nur «Strömungen» dar und lassen die Persönlichkeiten inner­halb dieser Strömungen wie Marionettenfiguren erscheinen, die von den Fäden des Zeitgeistes gezogen werden, die andern über­sehen das, was eine Persönlichkeit ihrer Zeit verdankt, mehr oder minder ganz. Keine literarhistorische Methode kann davor bewah­ren, in den einen oder den andern Fehler zu fallen. Einzig und allein ein richtiges Taktgefühl kann den Ausschlag darüber geben, was in einem Geiste originell, individuell, und was nur ein Er­gebnis der Zeit ist, in der er gelebt hat. Und man muß gerade Friedmann das Zeugnis ausstellen, daß er diesen Takt besitzt. Er läßt sich in seiner Beurteilung nicht durch eine von vornherein feststehende Methode beeinträchtigen. Seine Methode ist in jedem einzelnen Falle ein Ergebnis der Sache.

Kleist hat in den beiden Gestalten Penthesilea und Käthchen von Heilbronn die beiden Pole der Weiblichkeit dargestellt. Das Weib «so mächtig im Aufopfern, in der Hingebung wie der Mann in der Tat und im Vollbringen, personifizierte er in seinem Käth­chen

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von Heilbronn>. In der Penthesilea ergibt sich gleich­sam als Moral: gegenüber bezeichnete - nach der dunk­len Philosophie seines Freundes Müller, der gerade zu dieser Zeit (1808> das System des Gegensatzes aufstellte - mußte untergehen, denn sie stand nicht nur außerhalb der Natur, sondern auch jen­seits der inneren Moral der Dinge.»

Mit schlagenden, kurzen Bemerkungen weiß Friedmann über geschichtliche Erscheinungen Licht zu breiten. Bei Besprechung der schrecklichen Erschütterung, die die Aussicht auf den nahen Tod in dem Prinzen von Homburg hervorruft, sagt er zum Bei­spiel: «Es handelt sich hier um eine Reaktion aus der physischen Seite, denn gleich darauf überwiegen wieder die edlen Momente seiner Natur über die rebellischen Sinnesregungen, und der Prinz zeigt sich in seiner ganzen sittlichen Kraft, in dem Glanze seiner Großmut. Durch diese augenblickliche physische Schwäche lehrt uns der Dichter die Selbstopferung besser zu schätzen, die der Held nachher vollbringen wird, und ihn noch mehr zu bewun-dern in seiner stolzen und moralischen Größe. Er hat ihm die Marmorkälte genommen welche die Helden des Theaters seit dem klassischen Altertum besaßen » Hier ist gleich gut ein Charakter geschildert wie eine kunstlerische Erscheinung Um den Horizont Friedmanns zu kennzeichnen, dessen Weite sein Buch zu einem interessanten macht mochte ich noch den Satz anfuhren, durch den er Kleist seine Stellung in der Weltliteratur anweist. «Durch das Individuell Psychologische unterscheiden sich die Personen

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Kleists von den typischen Idealfiguren der klassischen Schule. Dieses empfanden die Zeitgenossen, und sie fühlten sich eben da­durch von seinen Werken abgestoßen, so daß sie ihnen den ver­dienten Beifall nie spendeten. Wir aber, die wir immer mehr mit der von ihm eingeschlagenen künstlerischen Richtung vertraut werden durch die Werke Ibsens, Björnsons und überhaupt des heutigen Theaters, wir können ihnen, gerade dieser ihrer neuen Richtung wegen, unsere Bewunderung nicht vorenthalten.>

«LOS VON HAUPTMANN»

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«LOS VON HAUPTMANN»

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Die Schrift, die Hans Landsberg unter obigem Titel (Berlin 1900) geschrieben hat, kann ich weniger als Einzelleistung denn als Zeitsymptom interessant finden. Sie ist der Ausdruck der Stim­mung derjenigen Mitglieder der jüngeren Generation, die sich ein künstlerisches Urteil aus den ästhetischen Traditionen heraus ge­bildet hat, wie sie aus unserer klassischen Kunstepoche auf uns gekommen sind, und die mit etwas abstrakt-akademischem Sinne an unsere Gegenwartskunst herantreten. Der Einblick in diese ästhetischen Traditionen behütet sie vor der Überschätzung dieser Gegenwartskunst, in die notwendig alle die verfallen müssen, welche ihre ästhetische Bildung ganz und gar den letzten andert­halb Jahrzehnten verdanken.

Um aber die Urteile mit Recht fällen zu dürfen, die Hans Landsberg fällt, bedarf es größerer Perspektiven, als ihm eigen sind. Demjenigen, der sich in die ästhetischen Anschauungen wirklich eingelebt hat, die der Verfasser der Broschüre in An­spruch nehmen will, findet bei ihm diese Anschauungen zu sehr ins Triviale versetzt. Landsberg kommt mit dem, was er über die wahre Kunst sagt, nicht über das hinaus, was der biedere Carriére in seiner «Ästhetik» vorgebracht hat. Ich will ihm nicht unrecht tun. Deshalb betone ich von vonherein, daß ich auch manches Gute in dem kleinen Büchlein finde. Obenan steht unter diesem Guten eine treffliche Charakteristik von Hauptmanns «Biberpelz».

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Wer aber das über Hauptmann zu sagen berechtigt sein will, wes­sen sich Landsberg unterfängt, der müßte sich in die klassische Weltanschauung bis zu einem Grade vertieft haben, daß es ihm unmöglich ist, Sätze hinzuschreiben, wie den: «Ich kenne die Scheu, die alle vor und empfinden. Nur der versteht die Realität dieser Begriffe, der ein großes Kunstwerk einmal in seiner ganzen Tiefe erfaßt oder auch nur geahnt hat. Eine Statue Michelangelos, eine Symphonie Beet­hovens, ein Gedicht Goethes, sie alle sind Symbole, individuelle Verkörperungen des Alls, sie alle sind mystisch, weil sie aus un­ergründlichen Tiefen aufsteigen. Selbst wenn man für derartige konkrete Gebilde nach abstrakten Formeln sucht - «Faust» etwa als die Tragödie des titanischen Strebens, «Macbeth» als das Drama des Ehrgeizes begreift - kann man den symbolisch-mystischen Gehalt dieser Werke dennoch in keiner Weise erschöpfen.> Viel schlim­mer als die Scheu der «vernünftigen Leute» vor «Symbolik» und «Mystik» ist nämlich das unklare Spielen und Sympathisieren mit diesen Begriffen, wie es sich bei Hans Landsberg findet. Ich will nicht den bornierten Verstandesmenschen das Wort reden, die in ein paar banalen Redensarten den Inhalt eines großen Kunstwer­kes ideell erschöpfen wollen. Aber es gibt keine «unergründlichen Tiefen», die nicht mit dem Licht der Vernunft zu erleuchten wären. Das Denken, wenn es nur die Fähigkeit hat, tief genug hinunterzusteigen in das Wesen der Dinge, wird den wahrhaften Gehalt der großen Kunstwerke immer heraufziehen können. Es wird dann allerdings nicht triviale abstrakte Formeln nach dem Muster der Landsbergschen über «Faust> und «Macbeth> zum besten geben, aber es wird Klarheit und ideelle Helle über Ge­biete werfen, die «Symbolik» und «Mystik> so gerne mit dunklen Begriffen verhüllen möchten.

Weil Hans Landsberg die Perspektive nicht hat, die eine wahr-haft vernunftgemäße Ansicht des Weltenlaufes gibt, weil er Tiefe mit mystischer Unklarheit und Vernünftigkeit mit der borniert verständigen Ansicht verwechselt, die «alles versteht und erklärt, vorzüglich das Unerklärliche», deshalb kann er Sätze hinschrei­ben wie den: «Allerdings zeigt sich hier (in den )

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gegenüber der älteren Shakespeareschen Behandlung des Volkes als kompakte Masse ein ungeheurer Fortschritt zur Individualisie­rung der Menge. Es werden aber eigentlich nur Individuen dar-gestellt. Sie sind in keiner Weise typisch, sie gehen nicht auf in der höheren Einheit des Webers überhaupt.> Landsberg verwech­selt den Typus mit der Schablone. Den vollendeten Typus kann man nur darstellen, wenn man das vollendete Individuum, nicht eine abstrakte Gattungsidee charakterisiert. Der «Weber über­haupt> ist ein unmöglicher Begriff.

«Die große geistige Grundsttömung, die wir in dem Chaos von Meinungen und Richtungen, die unsere Zeit erfüllen, zu erkennen glauben, charakterisiert sich etwa in folgender Weise: Auf die Alleinherrschaft der Naturwissenschaften folgt das Bestreben, die Welt künstlerisch zu begreifen. Wir fühlen, daß wir hier ein Mittel haben, Rätsel zu lösen, welchen die Wissenschaft ratlos gegenübersteht.> Dies meint Hans Landsberg. Aber er versteht nicht, wie eine Weltanschauung zustande kommt. Er begreift nur die Itleine Wissenschaftlichkeit, die mit ihren abstrakten Begrif­fen, mit ihren ideellen Hülsen, die sie um die Dinge legt, gar nichts zu tun hat mit Weltanschauung. Nur aus der Naturwissen­schaft heraus kann eine moderne Weltanschauung erstehen. Eine solche muß heute zu den Ergebnissen der Naturerkenntnis in glei­chem Verhältnisse stehen, wie alle alten Weltanschauungen zu Religion und Theologie gestanden haben. Scheinbar moderne Weltanschauungen, die sich unabhängig von der Naturwissen­schaft bilden, fallen sämtlich in die alten religiösen und theo­logischen Vorstellungen wieder zurück.

Wir haben wenige Persönlichkeiten mit der inneren Kraft, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart zu einer Weltanschauung zu erweitern. Die Macht alter religiöser Empfin­dungen ist in unseren Menschen noch zu groß. Sie können die nzturwissenschaftliche Erkenntnis nicht zur Weltanschauung aus­gestalten, deshalb möchten sie sich einreden, daß diese sich zu einer solchen nicht gestalten läßt.

Man darf nun allerdings Gerhart Hauptmann nicht als den dich­terischen Repräsentanten der naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung

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hinstellen, aber man sollte doch nicht verkennen, daß inner­halb der deutschen Dichtung er die stärksten Ansätze zu einer solchen Weltanschauung gemacht hat Man sollte nicht wünschen, daß diese Ansätze durch eine abgelöst werden, wie sie Hans Landsberg charakterisiert, sondern man sollte wollen, daß in der Richtung, die Hauptmann bis zum «Florian Geyer> eingeschlagen hat, fortgegangen werde bis zur Höhe. Erst mit der «Versunkenen Glocke» beginnt Hauptmanns bedenkliche Rückwärtsbewegung. Erst mit ihr hat er gezeigt, daß für ihn ein Weiterschreiten auf dem begonnenen Pfade nicht möglich ist. Er ist damit sich und auch der Zeit untreu geworden.

Manche kluge Bemerkung des Landsbergschen Büchleins läßt mich glauben, daß sein Verfasser nach gar nicht langer Zeit in einem Punkte seiner Entwickelung angelangt sein wird, in dem er es bedauern wird, mit einer Miniaturperspektive Hauptmann angefallen zu haben. Er wird vielleicht auch später noch manches gegen Hauptmann vorzubringen haben, aber er wird dann - reifer geworden - einsehen, wie tief dieser Dramatiker im Geistesleben vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurzelt, und wie dagegen die kritischen Mixturen seines gegenwärtigen Beurteilers Hans Landsberg im Leben wenig wurzelnde, für dasselbe höchst über­flüssige Präparate eines germanistischen Seminars sind.

Es ist höchst merkwürdig, welche drei Geister sich Hans Lands-berg heraussucht, um die geistige Signztur der Gegenwart zu cha­rakterisieren. «Nietzsche, Ibsen, Böcklin, so heißt das Dreigestirn. In ihnen spiegelt sich die Geistessttömung der Gegenwart am klarsten wider. Es waltet nach einem Ausspruche Robert Schu­manns in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Nietzsche, Ibsen, Böcklin scheinen mir den Zeitgeist, der freilich für die meisten noch Zukunftsgeist ist, am besten zu verkörpern.>

Fürs erste: Nietzsche hat mit dem Zeitgeist nichts zu tun. Er ist ein ganz Einsamer, Isolierter, der die denkbar individuellsten Wege gegangen ist, und dessen geistige Pysiognomie nur aus sei­ner Isolierung zu verstehen ist. Daß heute eine große Anhänger­schaft hinter ihm herläuft, beruht lediglich auf seinem unglück­lichen Schicksal und darauf, daß seine Anschauungen sich in blen­dende

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Schlagworte für gedankenhungrige Schriftsteller und Jo nalisten umsetzen lassen. - Auch Böcklin stellt im Grunde ein solch Einsamen, mit dern Zeitgeist wenig Zusammenhängende dar. Zur Kennzeichnung dieses ist von den drei an­geführten wohl nur Ibsen zu gebrauchen. Bei einer größeren Per­spektive als der Landsbergschen würde man aber die Verwandt-schaft Hauptmanns mit Ibsen viel schärfer hervorheben mussen.

Mir scheint - um es noch einmal hervorzuheben - Hauptmanns Dramatik viel tiefer mit dern Zeitgeist verwandt zu sein als Hans Landsbergs Deutung dieses Zeitgeistes.

THEATER-KRITIKEN BESPRECHUNGEN DRAMATISCHER WERKE

#G029-1960-SE179 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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THEATER-KRITIKEN BESPRECHUNGEN DRAMATISCHER WERKE

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«GYGES UND SEIN RING»

Eine Tragödie von Friedrich Hebbel

Aufführung im Burgtheater, Wien

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Endlich, nach einer an Mißgriffen beispiellos reichen Periode, brachte uns am Ostermontag das Burgtheater ein Bühnenereignis allerersten Ranges. Eine Reihe von Verehrern der Muse Hebbels haben sich in der Absicht zusammengefunden, eine künstlerisch ausgeführte Gedenktafel am Sterbehause des großen Dichters an­zubringen. Dieselbe ist bereits von dem begabten Künstler Seebeck fertiggestellt und soll demnächst ihrer Bestimmung zuge­führt werden. Den Bestrebungen dieser Männer ist es nun auch zuzuschreiben, wenn wir durch eines der bedeutendsten Stücke Hebbels erfreut wurden. Ein Teil des Reinerträgnisses soll näm­lich zur Deckung der Kosten des Denkmals verwendet werden.

Mit der erwähnten Aufführung ist, wie wir glauben, «Gyges und sein Ring> für die Bühne auf immer erobert worden. Nie­mand konnte sich dem großen Zuge verschließen, der durch das Stück geht. Der Erfolg war ein durchschlagender. Allerdings dür­fen wir nicht vergessen, daß die Vorstellung vor einem außer­ordentlich gewählten Publikum stattfand. Das gewöhnliche Stammsitz-Publikum, das erst jüngst durch die so freundliche Aufnahme der «Wilddiebe» seine vollständige Geschmack- und Urteilslosigkeit bewiesen hat, war nicht da. Nun, wir werden ja sehen, wie es dem Stücke bei der zweiten Aufführung, wo man wieder auf die bekannten Inhaber ihrer privilegierten Sitze stoßen wird, ergeht.

Die Fabel des Stückes ist die denkbar einfachste. Kandaules, der König von Lydien, ist mit Rhodope, der morgenländischen Königstochter, vermählt, die vom Lande ihrer Väter mit der An­sicht kommt, daß das Weib für immer entehrt ist, wenn sie außer von ihrem rechtmäßigen Gemahl noch von einem anderen Manne gesehen wird. Rhodope hat diesen ihren Begriff von Schamhaftigkeit in der peinlichsten Weise zur Richtschnur ihres Lebens gemacht. «Ihr Schleier ist ein Teil von ihrem Selbst.»

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Niemand sieht sie ohne diesen. Rhodope ist aber ein Weib von höchster Schönheit, und Kandanles will diese Schönheit nicht nur besitzen, er will auch, daß er einen Zeußen von diesem seinem Besitze habe. Nun lebt an seinem Hofe der Grieche Gyges, der einst einen Ring gefunden hat, den man am Finger nur entspere­chend zu drehen braucht, um durch ihn unsichtbar zu w erden. Diesen Ring hat Gyges seinem Könige geschenkt. Der letztere verleitet nun seinen Diener, den Ring für eine Nacht zu e be nut­zen, um in das königliche Schlafgemach einzudringen und so sich durch den Augenschein von der Schönheit Rhodopens 2 über-zeugen. Das geschieht. Aber Rhodope merkt den Frevel. Und nun entstehen dramatische Konflikte, wie sie eben nur von einem bedeutenden Dichter gesponnen werden können. Gyges haw in det verhängnisvollen Stunde einen Diamant von dern Halse der Köni­gin genommen. Diesen übergibt er dem Könige. Rhodo p pe, die von der Existenz des Ringes Kenntnis hat, verfällt bald a uf den Gedanken, Gyges könne das Verbrechen begangen haben. Sie beruhigt sich ein wenig, da sie sieht, ihr Gemahl selbst besitze den Diamanten, und nun glaubt, daß ihr wenigstens dieser nicht von unberufener Hand genommen worden ist. Die dramatische Steigerung, wie Rhodope nun Schritt für Schritt den wahren Sachverhalt, die Schuld ihres eigenen Gemahls, erfährt, ferner die psychologisch feine Schilderung des Seelenkampfes in Gyges, machen einen gewaltigen Eindruck. Für das entehrte Weib bleibt nur eines übrig: Gyges, der sie gesehen hat, muß ihr Gatte wer-den; Kandaules, der den Frevel veranlaßt, muß von Gyges Hand fallen. Dies fordert Rhodope von dem letzteren. Und so geschieht es. Der König fällt im Zweikampfe gegen Gyges, Rhodope aber tötet sich, nachdem sie sich noch, wie es ihre Ehre fordert, mit Gyges vermählt hat, selbst. Der letztere wird von den Lydiern zum König ausgerufen. Der Ausgang ist bedeutsam und tief; durch die Vermählung mit Gyges hat Rhodope den Tcigend­begriffen ihres Volkes Genüge getan, denn sie ist nur von ihrem Gemahle gesehen worden; durch ihren Tod sühnt sie das wegen dieser Genugtuung notwendig durch sie veranlaßte Unrecht der Ermordung ihres ersten Gatten.

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Hebbel verstand es, aus der bei Hetodot mitgeteilten, ziemlich unbe d untenden Fabel das großartige Drama der verletzten Schamhaftigkeit des Weibes zu machen. Alles, was dasselbe bringt, fließt aus diesem Grundzuge. Und darinnen zeigt sich der wahre Dichter: Es ist kein Satz, ja kein Wort zu viel; man sieht bei allem, daß es so sein muß.

Die , Darstellung war im ganzen eine gute. Robert spielte den Gvges seelenvoll und leidenschaftlich; bis auf einige Stellen, in denen er sich überschrie, müssen wir seine Auffassung durchaus als zutreffend ansehen. Krastel spricht, wenn er in Rollen auftritt, zu denen ein großer, bedeutender Zug gehört, eigentlich nicht sehr gut. Das künstliche Pathos, das nur zu oft zu einem unnatur­lichen Singen wird, befremdet. Sein Kandaules ist aber bis auf diesen Fehler eine bedeutende Leistung. Die Rhodope des Frün­lein Barescu ist nicht gerade vollendet, aber sie hat Stellen, in denen sie die rechten Töne findet und hinreißt. Sie sollte nur die Nachahmung der Wolter weniger durchblicken lassen. Wenn es ihr noch gelingt, namentlich im dritten und vierten Akte gewal­tiger, großartiger aufzutreten, dann wird man dieser Rolle die Zustinnmung jedenfalls nicht versagen können. Fräulein Formes spielte die Lesbia, eine kleine Rolle, die ihr aber wieder Gelegen­heit genug gab, ihre vollständige Talentlosigkeit glänzen zu lassen.

ÜBER LUDWIG GANGHOFERS «HOCHZEIT VON VALENI»

#G029-1960-SE183 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ÜBER LUDWIG GANGHOFERS «HOCHZEIT VON VALENI»

Von Adam Müller-Guttenbrunn

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«Ganghofer, ein liebenswürdiges Talent, das bisher als Draana­tiker nur auf volkstümlichen Wegen gewandelt, beredete ihn zu einer gemeinschaftlichen Dramatisierung des Romanes, und so entstand das heutige Stück.» ... «Wir haben ein ebenso talentvolles als abscheuliches und rohes Stück erhalten.> . . #SE029-184

wohl noch mit ihm zu beschäftigen haben.> Daß A. Müller­Gutrenbrunn eines der elendesten Machwerke talentvoll nennt und davon sagt, es stecke viel Gutes darinnen, trotzdem er, wie seine übrige Kritik zeigt, die Schwächen des Stückes kennt, hat uns aber weniger gegen ihn gestimmt als der Umstand, daß er die Aufführung eine tapfere Leistung des Volkstheaters nennt. Als Kritiker muß er wissen, daß es eher gegen die Darsteller als für sie spricht, wenn sie in einem so schlechten Stücke gut spie­len, während sie jedes bessere Stück durch die Aufführung ver­derben. Alles in allem: wenn Müller-Guttenbrunn tadeln will, dann tut er es anders.

«DIE MAKKABÄER» VON OTTO LUDWIG

#G029-1960-SE184 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE MAKKABÄER» VON OTTO LUDWIG

Mit Rücksicht auf unsere Burgtheaterkunst

Aufführung im Burgtheater, Wien

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So erfreulich es im allgemeinen auch ist, wenn sich die Leitung unseres Burgtheaters ab und zu erinnert, daß ein Kunstinstitut ersten Ranges die Pflicht hat, dem deutschen Volke die Werke seiner größten Dichter vorzuführen: zur Wiederaufführung der «Makkabäer» können wir sie nicht beglückwünschen. Wir verken­nen zwar nicht, daß wir es hier mit der Schöpfung eines wahren und echten Dichters zu tun haben, wir wissen, daß sich überall Spuren eines ungeheuren Talentes zeigen: als Drama aber sind die «Makka­bäer» schwach, und auf der Bühne tun sie keine rechte Wirkung. Es ist charakteristisch für die Eigenart Otto Ludwigs, daß er einen Stoff zu einem Drama verarbeiten wollte, der zu diesem Zwecke nicht ungünstiger sein könnte. Die geistige Richtung des Juden­turus ist einer eigentlichen Tragik unzugänglich. Der religiös an­gelegte Jude hat keine Ideen und Ideale. Er lebt einem Gotte, der ihm ein unlebendiges, gedankenloses Abstraktum bleibt. Für die wirkliche Welt der unmittelbaren Gegenwart, aus der die tragischen Konflikte und Handlungen entspringen, fehlt dem

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Juden alles Verständnis. Daher konnte Otto Ludwig bei aller meisterhaften Charakteristik, die wir ja an seinen «Makkabäern> bewundern müssen, doch keine einzige Gestalt zu einer wahrhaft hinreißenden Tragik vertiefen. Noch weniger war es ihm gegönnt, eine dramatische Entwickelung und Handlung darzustellen. Diese sind nur möglich, wo die geistige Natur, die Ideenwelt unmittel­bar eingreifen in die Wirklichkeit, wo der Mensch auch liebt, wonach er strebt, wo er mit Leidenschaft dem ergeben ist, was er als das Höchste erkennt und verehrt. Der Jude kämpft für einen Gott, den er nicht kennt, den er nicht liebt. Er handelt nicht; er gehorcht sklavisch. Das dem unbekannten Jehova zugewandte und der Wirklichkeit fremde Leben läßt daher auch das Interesse für die letztere ersterben. Und so fehlt es an dem Reichtum des Le­bens, den das Drama braucht. Jedes dramatische Motiv ist bald abgenützt, denn es verliert die Bedeutung, wenn es seine Aufgabe, Jehova zu verherrlichen, erfüllt hat: es muß durch ein neues er­setzt werden. Damit hört aber alle organische Entwickelung auf. Ein einförmiger, nicht einheitlicher Grundgedanke beherrscht das Ganze, daneben erscheinen die realen Vorkommnisse willkürlich, ohne inneren Zusammenhang. So erging es Otto Ludwig mk sei­nen «Makkabäern». Die Handlung ist zerfahren, willkürlich, ohne inneren organischen Bau. Immer wieder müssen neue Motive herbeigeschafft werden, um die ins Stocken gekommene Ent­wickelung weiterzuführen. Wir sehen erst, wie Lea, das Weib des jüdischen Priesters Mattathias, in unersättlichem Ehrgeiz den Dienst Jehovas in die Hände ihrer Nachkommenschaft bringen will und wie dieses Streben sie ganz beherrscht. Von ihren sieben Söhnen ist Judah eine Art Heldennatur, die ihr ganzes Sein dafür einsetzt, den Glanz des Gottesnamens gegen die Syrier zu retten, welche die Juden bedrängen und zum Heidentum zwingen wol­len. Eleazar, sein Bruder, der besondere Liebling seiner Mutter, ist ein ehrgeiziger Streber, der zu den Syriern übergeht, um durch sie zu Ansehen und Macht zu kommen. Damit scheint ein tra­gischer Konflikt gegeben zu sein. Da er aber nicht ausreicht, muß der Dichter später ein ganz neues Moment in die Handlung ein­treten lassen. Judah, der erfolgreich gegen die Feinde kämpft

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und der als der Vorkämpfer des jüdischen Geistes erscheint, tritt der fanatische Jojakim gegenüber, der nur den entgeistigten Buch­staben kennt und des ersteren Kreise dadurch stört, daß er die Juden abhält, am Sabbath zu kämpfen.> Alles, was erreicht wor­den ist, wird wieder in Frage gestellt. Wieder hätten wir den Ansatz zu einer dramatischen Verwickelung: aber wieder erweist er sich zu schwach, um zu einem Ausgange zu führen. Es muß erst eine den Makkabäern feindliche Partei erstehen, die die Juden an die Syrier verrät und, um Glauben bei dem Syrerkönig zu erwecken, der Lea die Kinder entreißt, um sie den Feinden aus­zuliefern.> Nach vielen erlittenen Mülisalen erscheint Lea vor dem König Antiochus, um die Freiheit ihrer Kinder zu erflehen. Der König stellt ihr frei, dieselben entweder den Glauben der Väter abschwören zu lassen oder sie dem Flammentode zu übergeben.> Nach erschütternden Seelenkämpfen entschließt sich die Mutter zu dem letzteren. So beginnt die Handlung eigentlich dreimal, und immer verlieren wir alles Interesse an dem sich von früher fortspinnenden Faden. Daneben könnte man noch eine ganze Reihe von Schwächen des Stückes anführen. Mattathias' durch einen ganzen Akt sich fortschleppendes Sterben erscheint lang­weilig, das Erscheinen des Römers Aemilius Barbus an den Haa­ren herbeigezogen, die Szene zwischen Judah und seinem Weibe im vierten Akt, wo er sie als anredet, sogar geschmacklos.

Wenn nun auch das Stück schwach genug als Drama ist, so sind die einzelnen Gestalten zuweilen meisterhaft gezeichnet und bieten den Darstellern gar wohl Gelegenheit, ihr Können und namentlich ihre künstlerische Auffassung zu zeigen. Wir wollen nicht versäumen, die beteiligten Künstler daraufhin anzusehen. Vor allem gebührt die Ehre des Abends Frau Wolter. Ihre Lea ist ein Meisterstück; und was uns an dem Stücke fesselte, war zum großen Teile das Interesse an dem Spiele dieser Künstlerin. Frau Wolter hat in ihrem ganzen Wesen, in Gestalt, Stimme, Sprech­weise, ja in jeder Gebärde etwas von idealisierender Schauspiel-kunst. Sie wirkt gewaltig auf jeden, der Geschmack hat, und würde es auch, wenn sie dergleichen naturalistische Liebhabereien,

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wie die mit dem Trinken zur Stärkung, bevor sie vor Antiochus tritt, unterließe. Sie erinnerte uns dabei an ihre Koketterien im Götz, die ihr so edles Spiel auch nicht erhöhen. Wenn die Lea auch nicht so ausgearbeitet erscheint wie die Stuart oder die Orsina, so müssen wir sie doch zu dem Besten zählen, was wir je am Burgtheater gesehen haben. Die Szene, wo sie von der feindlichen Partei an einen Baum gebunden wird, damit sie ihren Kindern nicht folgt, und die vor Antiochus sind in jeder Be­ziehung herrlich.

Bezüglich Roberts als Judah können wir in den Chorus der Wiener Kritiker nicht einstimmen. Es ist uns immer unbegreif­lich erschienen, was Speidel und die ihm nachsprechenden Kri­tiker an diesem Schauspieler finden. Das verstandesmäßige Durch-arbeiten der Rollen, das es doch nicht zu mehr denn zu einer manierierten Darstellung bringt, der aller Stil fehlt, kann uns nie interessieren. So haben wir auch von seinem Judah gar keinen Eindruck bekommen. Seine Wirkung suchte er durch eine beson­dere Entfaltung der Stimmittel, die erst recht ausblieb, da ihm doch zuletzt die Kraft fehlt. Der Eleazar des Herrn Wagner war ohne Verständnis gespielt. Man konnte nirgends finden, daß er von Otto Ludwigs tiefem Geiste berührt wurde. Der Umschwung am Schlusse, wo er in sich geht und doch mit den Brüdern den Tod sucht, war ohne die hier notwendige psychologische Vertie­fung der Darstellung. Der Jojakim Schreiners gefiel uns nicht übel, wie wir überhaupt finden, daß dieser Darsteller zu wenig Berücksichtigung bei der Kritik findet. Devrient ist der Rolle des Antiochus nicht ganz gewachsen. Baumeister war diesmal herzlich unbedeutend als Aemilius Barbus. Wir haben diesen genialen Schauspieler noch nie so schlecht gesehen. Es war geradezu un­begreiflich.

Zum Schlusse müssen wir einige sich uns aufdrängende Fragen aussprechen: warum spielte den Judah nicht Herr Krastel, der wie keiner seiner Kollegen für diese Rolle geeignet erscheint? Warum übertrug man den Eleazar nicht Herrn Reimers? Warum mußte die Aufstellung des Götzenbildes am Ende des zweiten Aktes durch die Inszenierung zur lächerlichen Karikatur werden?

DAS WETTERLEUCHTEN EINER NEUEN ZEIT

#G029-1960-SE188 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DAS WETTERLEUCHTEN EINER NEUEN ZEIT

Zur Aufführung von Gunnar Heibetgs im Deutschen Volkstheater, Wien

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Was wir nach den Erfahrungen, die wir mit dem Deutschen Volkstheater im ersten Halbjahre seines Bestandes machen konn­ten, durchaus nicht zu hoffen wagten, es ist nun doch eingetreten. Wir verdanken diesem Institute ein Theaterereignis, wie wir es in Wien seit langem nicht erlebt haben.> Am 22. April wurde zum ersten Male «König Midas» von Gunnar Heiberg aufgeführt. Welchem Einflusse wir das zu danken haben, ist uns unbekannt, aber es wäre immerhin interessant, es zu erfahren. Denn bei dem grenzenlosen Unverstand, mit dem die Wiener Kritik dieses «Schauspiel> aufgenommen hat, bei der geradezu rührenden Ahnungslosigkeit derselben in betreff dessen, worauf es hier eigentlich ankommt, können wir nicht umhin zu gestehen, daß wir Verlangen tragen, zu wissen, wer von den maßgebenden Faktoren des deutschen Volkes imstande war zu erkennen, daß bei allem dramatischen Ungeschick Heibergs, bei aller Unvollkom­menheit in der Zeichnung der Charaktere, doch in dem Werke bereits das Wetterleuchten einer ganz neuen Zeit zu verspüren ist. Die Mehrzahl unserer Gebildeten scheint mit ihrer geistigen Kraft gerade noch weit genug zu reichen, um Ibsen, den letzten Ausläufer einer im Untergehen begriffenen Kultur, zu verstehen. Um aber auch noch dem zu folgen, der den ersten - allerdings noch etwas schwachen - Versuch macht, einer neuen sittlichen Weltordnung den künstlerischen Ausdruck zu verleihen, dazu reicht diese Kraft nicht mehr aus. Welches ist die Botschaft, die Ibsen der Welt verkündet? Zumeist keine andere als die von dem Widerspruche unserer Wirklichkeit mit den sittlichen Ideen, der Unmöglichkeit, das Leben nach diesen einzurichten. Was er aber als solche «sittliche Ideen> ansieht, das sind die einer alten, aus-gelebten Kultur, das ist «altes Eisen der Moral» und deshalb mit Notwendigkeit von dem Leben oft ausgestoßen. Nur die unreife Jugend und jene Älteren, die nie verstanden haben, daß in unserer

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klassischen Periode der sittliche Lebensinhalt einer abgelebten Zeit einen rückstandslosen künstlerischen Ausdruck gefunden hat, der nicht zu überbieten ist, nur diese beiden Gruppen der Gebil­deten konnten jenem heillosen Ibsen-Kultus verfallen, der doch nichts ist als das Ergebnis krassester Unbildung. Ibsen hat zwar eingesehen, daß ein furchtbares Mißverhältnis besteht zwischen dem wirklichen Leben und den sittlichen Werten, aber die Er­kenntnis fehlt ihm, daß die gärende Gesellschaft unserer Tage eben überhaupt nicht mehr mit dem ethischen Maßstabe der Ver­gangenheit gemessen werden kann, sondern vor einer Umgestal­tung der ganzen sittlichen Weltordnung steht. «Gut und Bös» im hergebrachten Sinne sind eben abgebrauchte Begriffe, die einer «Umwertung» dringend bedürftig sind. Es fragt sich nun: an was haben wir uns bei einer solchen «Umwertung» zu halten? Da kann es nur eine Antwort geben: an das Leben selbst. Und damit haben wir erkannt, daß die moralischen Werturteile sich nach dem Leben und nicht, wie Ibsen will, das Leben sich nach den moralischen Werturteilen zu richten habe. Ein moralisches Prin­zip wird in dem Augenblicke zu einer unheilvollen Macht, wo es der gedeihlichen Entwickelung des Lebens hindernd in den Weg tritt. Dies ist der Grundgedanke des Stückes von Heiberg. Eine junge Witwe, Frau Holm, hat von ihrem Manne auf dem Totenbette das Bekenntnis empfangen, daß er ihr nie untreu war, nicht in Taten nicht in Gedanken. Dieser Gedanke bildet das Glück ihres Lebens seit dem Tode ihres Gatten. All ihre Seligkeit stammt davon Aber jenes Bekenntnis war eine - Lüge. Niemand weiß es als der Redakteur Ramseth, dem ein Weib, das einst Dienstmädchen im Hause Holm war, das Geständnis gemacht hat, Holm habe sich einmal mit ihr vergangen. Der Redakteur Ramseth tritt als Vertreter der Tugend in der Form der Wahrheit auf, der ungeschminkten, rein tatsächlichen Wahrheit. Und er macht die Frau Holm mit der wahren Sachlage vertraut. Darüber wird sie wahnsinnig und ist dem Leben verloren. So hat die «Wahrheit> ein Leben zerstört, das einem «beseligenden Irrtume» sein Glück hätte verdanken können. Wenn die Kritik glaubt, das Drama Heibergs sei weiter nichts als eine Streitschrift gegen

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Ibsen, so ist das nur ein geringer Bruchteil der Wahrheit. Das Stück ist die erste Tat einer neuen Zeit, der erste Schlag auf das vielfach morsch gewordene Gebäude der Moral. Die Wiener Kri­tik hat wieder einmal gezeigt, daß sie völlig unfähig ist, vor­urteilslos das Bessere zu beurteilen.> Es ist einmal eine große Münze - wenn auch in schlechter Prägung - ausgegeben worden, und das kritische Kleingeld unserer Journalisten reichte nicht hin, sie einzulösen. Wir können bei dieser Gelegenheit doch nicht umhin, auf die Darstellerin der Frau Holm, auf Fräulein Sandrock, besonders hinzuweisen. Die Art, wie sie die Rolle auffaßt und darstellt, ganz allein abgesehen von allem übrigen, ist eine Sehens­würdigkeit. Sie fesselt mit jeder Nuance unser Interesse wieder aufs neue. Wer sie im «König Midas> gesehen hat, wird kaum bezweifeln, daß wir in ihr einen aufgehenden Stern erster Größe zu sehen haben. Nicht minder interessant ist Herr Mitterwurzer als Ramseth. Es gehört eine besondere Kunstvollendung dazu, die unbeugsame Natur dieses Menschen einheitlich zu spielen. Man glaubt von Augenblick zu Augenblick, jetzt muß sie brechen, diese Unbeugsamkeit, die Unheil über Unheil aus dem Fanatis­mus der Wahrheit hervorgehen sieht. Aber Ramseth bleibt «wahr», bis er das arme Opfer seiner «Wahrheit» um den Ver­stand gebracht hat. Diese Starrheit uns klarzumachen, trifft Mitter­wurzer in ganz besonderem Maße.

BILDUNG UND ÜBERBILDUNG

#G029-1960-SE190 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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BILDUNG UND ÜBERBILDUNG

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«Es ist nichts schrecklicher als eine tätige Unwissenheit.» So lautet einer von Goethes Sprüchen in Prosa. Wenn er richtig ist

- und das scheint er mir zu sein -, dann möchte ihn ihn zum Rechtstitel nehmen, wenn ich die Art, wie gegenwärtig die Her­ren von der Feder «tätig> sind, zum größten Teile «schrecklich> finde. Da habe ich vor kurzer Zeit ein dramatisches Produkt Hermann Sudermanns gelesen und auch auf den Brettern, die heute fast nur mehr die Halbwelt bedeuten, gesehen, das «Heimat>

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heißt. Der Verfasser hat auch noch ein gutes Stück, , und ein ziemlich schlechtes, «Die Ehre>, geschrieben. Das letztere ist zwar undramatisch, aber es enthält endlich einmal Konflikte, die aus tiefeingewurzelten Schäden unseres sozialen Lebens genommen sind. Der scheuledertragende Philister, der zur Not noch begreift, daß Eugen Richter doch nicht der rechte Volks­vertreter ist, sieht mit wehmütigem Entzücken die geschminkten Puppen, die für Gestalten des Lebens stehen, auf die seine liberale Nase zwanzigmal stoßen könnte, ohne daß er die erbärmliche Lage solcher Menschen begriffe. Deshalb wird «Die Ehre» oft und überall gegeben. «Sodoms Ende» enthält einen tieferen, see­lischen Konflikt. Deshalb begreift ihn der Mann, der über Schutz­zoll und Freihandel viel gelesen hat, nicht, und - das Stück wird wenig gegeben. «Heimat» aber wurde von den alles wissenden Herren des Feuilletons als ein Stück von epochemachender Be­deutung ausposaunt. Alles «tätige Unwissenheit», vielleicht besser gesagt: ungebildeter und deshalb rein willkürlicher Geschmack. Wenn die Herren sagen: es komme gegenwärtig gar nicht darauf an, daß unsere Stücke dem Gebildeten, der seinen Geschmack erzogen hat, genügen; es komme vielmehr darauf an, dem Volke etwas zu bieten, jenen Menschen, die nie Zeit und Gelegenheit gehabt haben, um für ihre Geschmacksbildung zu sorgen, so mag ein solches Wort wohl hingehen, wenn es sich um «Die Ehre> handelt; es ist aber oberflächlich gegenüber «Heimat». Hier han­delt es sich um Gesellschaftsklassen, an die man höhere Ansprüche stellen muß. Für diese ein Weib wie Magda als Gegensatz des alten, eingerosteten Philistertums hinzustellen, heißt Halbheiten produzieren, die nur irreführen können. Das Weib, das wirklich unter dem Druck der Verhältnisse leidet, weil ihm die freie Ent­wickelung seinet Anlagen unmöglich gemacht wird, möchte wohl kaum mit der höheren Zirkusweisheit einer Magda etwas zu tun haben. Diese Magda ist unwahr vom Scheitel bis zur Sohle, weil sie uns glauben machen will, daß man bloß durch Brutalität den Standpunkt der modernen Weiblichkeit erreicht.>

Ich wundere mich darüber, daß so wenig kritische Augen die Unwahrheit dieses Stückes bemerkt haben. Denn es wäre diesmal

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wahrhaftig nicht gar so schwer gewesen. Aber es gibt eine , die ganz besonders wenig davon weiß, was ein Menschenherz erleben kann und was nicht.

Immer mehr verliert unsere Kritik den großen Zug, der aus wirklicher Weltkenntnis und tüchtigem Wollen hervorgeht, und immer tiefer sinkt dabei der Geschmack des Publikums. Wir dür­fen uns nicht unklar darüber sein, daß die Kritik von großem Einfluß ist auf die Erziehung des Publikums. Es ist dies in künst­lerischen Dingen viel mehr der Fall als in solchen, wo es mehr auf das Urteil des Verstandes ankommt. Wenn jemand ein fal­sches Verstandesurteil fällt, so werde ich in verhältnismäßig kur­zer Zeit imstande sein, ihn von seinem Irrtum abzubringen, in­dem ich ihm die Wahrheit handgreiflich mache. Ein Gleiches gilt nicht vom Geschmacksurteile. Das ist das Produkt eines längeren Erziehungsprozesses. Ich werde niemand so leicht von der Un­wahrheit Sudermannscher Figuren überzeugen, wenn er in seinem Leibblatte seit langer Zeit liest, so müsse es der «neue Dichter> machen. Namentlich wird es schwer sein, an die Stelle ein­gefleischter Trivialitäten etwas Besseres zu setzen.

Ich habe dies alles hier nur gesagt, um die schiefe Bahn zu kennzeichnen, auf die uns «tätige Unwissenheit> gebracht hat. Zu gesunden Zuständen werden wir erst wieder kommen, wenn an die Stelle des Kritikers, der nichts weiß und über alles urteilt, jener tritt, der auf Grund einer in sich gefestigten Lebens- und Weltanschauung an die geistigen Erzeugnisse seiner Zeitgenossen herantritt. Heute finden wir statt einer tüchtigen, aber in fort­währender Entwickelung begriffenen Auffassung der Dinge will­kürliche, auf nichts gestützte Kunst- und Wissenschaftsrezepte; die journalistischen Rekruten gebrauchen ihre plumpen Schieß-prügel als kritische Marschallstäbe.

Unter solchen Verhältnissen ist es kein Wunder, wenn die Kri­tik für den produktiven Geist zumeist ganz unfruchtbar bleibt, und wenn eine Verständigung über den Wert zeitgenössischer Literaturprodnkte geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich bin überzeugt davon, daß ein literarisches Produkt von wirklichem Werte von zwei Leuten, die auf eine geläuterte Lebensansicht

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sich stützen, in den seltensten Fällen in ganz entgegengesetzter Weise beurteilt wird. Heute wird ein Buch von dem einen für ein europäisches Ereignis erklärt, das der andere für das Produkt der reinsten Eselei hält. Solche Urteile können wohl der subjektiven Willkür, nicht aber wahrer Sachkenntnis und Weltvertiefung ent­stammen.

Solchen Verhältnissen gegenüber möchte man nicht gern sein Urteil über zeitgenössische Literaturprodukte durch das Lettern-material des Buchdruckers festnageln. Es kommt nicht viel dabei heraus. Zuweilen aber muß man doch etwas sagen über dies oder jenes, zumal wenn es so typischer Natur ist, wie das kleine Büch­lein, über das ich nun ein paar Worte hierhersetzen will. Ich meine Richard Spechts kleine dramatische Skizze «Sündentraum». Mich hat das Büchelchen interessiert. Sein Verfasser hat einen Gedanken gehabt:

«Ein jeder sündigt, sei's auch nur im Traum,

In jedem Herzen hat die Sünde Raum,

Denn eins nur gibt es, was das Leben treibt,

Nur eines, das im Wechsel dauernd bleibt,

Das Glück zu jagen, das doch stets versprüht,

Die Flamme fachen, die in Nacht verglüht.>

Specht legt diese Worte der «Sünde> in den Mund. Aus ihrem Munde wüßten wir's also, was wir Menschen eigentlich sind. Ich kenne einen gewissen Tantalus. Diesen für das Urbild der Mensch­heit hinzustellen, scheint Richard Specht nicht wenig Lust zu haben. Aber der Autor weiß uns über unsere Tantalusqualen zu trösten:

«Du bist ein Tor, willst du nach Ew'gem schmachten -

Ich lehr' dich vollgenießen, vollverachten!»

Ich bin damit nun gar nicht einverstanden. Denn mir ist zwar einleuchtend, daß sich dem Laute nach verachten auf schmachten reimt, nicht aber, daß es sich in Wirklichkeit mit vollgenießen verträgt. Ich würde dem Dichter diese Dinge nicht schuläneister­lich vorrechnen, wenn seine dramatische Skizze nicht eine durchaus

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symbolische Handlung mit symbolischen Personen enthielte, und wenn nicht die Sünde zuletzt die Siegerin bliebe; sie endet das Stück, «grell aufjauchzend»:

«Hinab - hinab - zum Sumpf - zum Sündenglück!! -»

Wenn das für uns Menschen symbolisch sein soll, dann muß ich sagen, daß ich auf gut Nietzscheisch - oder sollte es Goetheisch sein - erwidere: mögen mir die Menschen noch so viele lumpige Sündenmakel anhängen; ich bedecke sie mit dem Mantel heid­nischen Stolzes und reklamiere mein allgemeines Menschenrecht auf den Himmel. Warum in den «Sumpf»? Hier liegt des Pudels Kern. Richard Specht ist ein Dichter von hoher Begabung, der mehr kann als schöne Verse machen. Er hat etwas, was Hunder­ten unserer schreibenden Zeitgenossen fehlt: die Einsicht, daß es außer Vorder- und Hinterhäusern, außer philiströsen Generälen und emanzipierten Sängerinnen, außer verlumpten Künstlern und lüsternen Gesellschaftsdarnen, kurz außer Fleisch und Sinnen, noch etwas in der Welt gibt. Aber er weiß es bisher nur, weil er es bei anderen gelesen hat Für ihn ist alles Begriff, nichts Erfahrung. Seine Probleme sind nicht erwandert, sondern erlernt. Er kann viel, aber er hat wenig erlebt. Hätte er in beiden eine gleiche Vollkommenheit, dann glaube ich, daß er besser schriebe als man­cher der Jüngeren, der heute hoch gepriesen wird. Ich sage dies, trotzdem ich weiß, daß der «Sündentraum» manches zu wünschen übrig läßt, denn ich weiß, daß ein einziges ernstes Erlebnis aus Ri­chard Specht einen bedeutenden Dichter machen wird. Er muß nur tief und gründlich erleben, und nicht nach dem Beispiele seines Landsmannes Hermann Bahn Ich habe eben dessen neuesten Roman «Neben der Liebe> gelesen. Darinnen finde ich ein Stück Wiener Lebens geschildert. Ich kenne sogar manches ganz genau, was in diesem Buche steht. Aber ich bin bei der Lektüre lebhaft an die Bismarck-Bilder von Allers erinnert worden. Da und dort rein äußerliches Hinzeichnen, ohne in die Mittelpunkte der Personen zu dringen. Bahr zeichnet das Wiener Gemüt, wie Allers das Bismarksche Genie. Ich bedauere das erstere ganz besonders. Bahr ist eine geniale Persönlichkeit, der alles zuzutrauen ist, die aber

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von der nichtigsten Eitelkeit endlich aufgefressen wird. Ich bin der letzte, der Hermann Bahr in salbungsvollem Idealistenton reden hören möchte; aber es gibt doch noch mehr Dinge auf Erden, als er mit seiner Frack- und Schlapphutweisheit sich träu­men läßt. Die Pariser Künstlerlocke steht dem französischen Welt­kinde ganz gut, aber der biedere Linzer wird durch sie noch lange nicht zum Franzosen. Das hat uns Hermann Bahr in den letzten Wochen bewiesen, als er von einer deutschen «Autorität» zur andern reiste, um die Herren um ihre Meinung über die Juden zu befragen. Ich bin in den Augen des weltmännischen Hermann Bahr wohl nur ein deutscher Stubenphilister, aber ich hätte nie die «unweltmännliche» Tat begangen, all die Herren zu bemühen, denn was sie alle in dieser Angelegenheit sagen, das «weiß man schon seit langer Zeit». Ich habe da wenig Weltmann und viel Philister in dem «europäischen» Hermann gefunden. Ich möchte Adolf Wagner ebensowenig um seine Meinung über die Juden wie Eugen Richter um die seinige bezüglich der Sozialdemokraten fragen, und ich bin weder in Rußland noch in Spanien gewesen. Hermann Bahr kennt die Welt. Aber er kennt sie wie Graf Trast­Saarberg in Sudermanns «Ehre»: oberflächlich und ohne Anteil­nahme. Trast liebt im Orient mit der Phantasie, im Süden mit den Sinnen, in Frankreich mit dem Geldbeutel, in Deutschland mit dem Gewissen. Das heißt zuletzt doch nichts anderes als: er hat überall die Pose der betreffenden Landsbewohner angenom­men. Er ist ein Komödiant, kein Künstler des Lebens. Seine Liebe ist Imitation, weil nirgends die Seele dabei ist. Trast ist der Typus jener Menschen, für welche die Welt nur ironisch zu nehmen ist. Ihre Ironie ist aber ein Kind ihrer Oberflächlichkeit. Ihr Humor ist zynisch. Sie glauben alle Welt zu überschauen und können von jedem idealistischen Tölpel in eine seiner ungeschickten Begriffs­schablonen eingezwängt werden.

Daß wir gegenwärtig Menschen vom Charakter des Trast im Leben so oft begegnen, das kennzeichnet am besten unsere Zeit als die einer überreifen Bildung. Das Leben humoristisch anzu­schauen, kommt einem hohen Bildungsgrade zu. Ein reicher Phan­tasie- und Vernunftinhalt sind die Vorbedingungen des Humors.

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Man muß ein Ding erst kennen, über das man sich erhebt, und das man gleichgültig von oben dann ansieht. Aber nach den berechtigten Humoristen kommen die Schauspieler des Humors, welche zwar die Dinge nicht kennen, aber doch den ganz Über­legenen spielen, der sie verachten kann.> Das sind die Humoristen aus Blasiertheit. Sie sind brauchbar, um Trast-Rollen auf der Weltbühne zu spielen.> Wer aber ernsthaft mit ernsthaften Dingen sich zu tun machen will, der beschränkt seinen Umgang mit ihnen auf Kaffeehaus und Salon.

«JENSEITS VON GUT UND BÖSE»

#G029-1960-SE196 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JENSEITS VON GUT UND BÖSE»

Schauspiel in drei Aufzügen von J. V. Widmann

Aufführung im Hoftheater, Weimar

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Joseph Viktor Widmann, dem wir manche lesenswerte Novelle und zahlreiche geistvolle Feuilletons verdanken, hat in seinem neuesten Werke, dem Schauspiel «Jenseits von Gut und Böse>, den Kampf aufgenommen gegen diejenige geistige Strömung der Gegenwart, deren Anhänger in den Anschauungen Friedrich Nietzsches die Morgenröte einer neuen moralischen Weltordnung sehen. In den Schweizer Bergen und unter dem Himmel Italiens hat Nietzsche geträumt und gedacht von einer Umwertung aller sittlichen Werte, von einer Moral der Zukunft, die nicht auf die äußere Autorität, sondern auf das stolzeste Selbstbewußtsein des Menschen sich gründen soll. Gut und Böse sind nicht ewige Be­griffe, die uns durch außermenschliche, überirdische Offenbarung zugekommen, sondern Vorstellungen, die sich innerhalb der Menschheit im Lauf der Zeit gebildet haben, und die nur Vor­urteil und Befangenheit als unübersteigliche Grenzen der Sittlich­keit ansehen kann. Der sittlich Starke, der die Kraft hat, nach eigenen, neuen Impulsen zu handeln, kann sich nicht beschränken lassen durch die moralischen Begriffe, die ein Geschlecht der Ver­gangenheit

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aufstellte, das die Ideen und Bedürfnisse der Gegen­wartsmenschen nicht kannte. Nicht die Ideale seiner Ahnen soll der Mensch verwirklichen, sondern die in seinem eigenen Innern auflebenden Ziele und Bestrebungen. Wer nur nach den Vorstel­lungen anderer, und seien es noch so vorzügliche Menschen, lebt, ist ein sittlich Schwacher. Wer Herr seiner selbst ist, sich seinen Sittlichkeitsmaßstab selbst zu bestimmen vermag, ist der sittlich Starke, der Tüchtige. Das Ideal der Tüchtigen, der Starken ist die Entfesselung der im Individuum liegenden Triebfedern, das Ideal der sittlich Schwachen die Erforschung der Sittengesetze, die ihnen von irgendwoher gegeben sein sollen. Demütig wollen die Schwa­chen sein und sich fügen den ihnen gegebenen Geboten; stolz sind die Starken und selbstherrlich, denn was sie tun sollen, wis­sen sie durch sich selbst. Die Gegenwart ist solchen Ansichten nicht günstig; jahrzehntelang unbeachtet lebte der Mann, der in wunderbarer Form sie aussprach. Und jetzt, da sein Name der eines Apostels für viele ist, für solche sowohl, die ein Urteil dar­über haben, wie auch für solche, die jede Mode affenhaft mit­machen, lebt er in geistiger Umnachtung in Naumburg, ohne Er­innerung an die Zeit seines geistigen Schaffens.

Gegen die geistige Saat dieses Mannes richtet sich Widmann. Hätte er es mit aristophanischer Komik getan, kämpfte er mit Witz und Humor gegen die Auswüchse einer ihm verhaßten

Geistesrichtung: es fiele keinem Verständigen ein, gegen seine Tendenz etwas einzuwenden. Wäre Nietzsche geistig gesund: er wendete sich selbst gegen das haltlose geistige Lumpentum, das jetzt vielfach hinter seiner mißbrauchten Fahne einherzieht und in Nichtswürdigkeit und Unbedeutendheit sich ausleben will, weil das in seiner Individualität liegt. Daß nun Widmann geradezu einen solchen geistigen Lampen in den Mittelpunkt seines Dra­mas stellt, macht dieses widerwärtig. Robert Pfeil ist Professor der Kunstgeschichte und soll, seiner Gesinnung nach, Nietzscheaner sein. Wegen dieser Gesinnung vernachlässigt er seine zwar von Nietzscheschem Stolze weit entfernte, aber Robert an moralischem Wert hoch überragende Gattin und wirft sich an die frivole, leichtfertige junge Witwe Viktorine v. Meerheim weg, die ihre

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Blicke aber nur deshalb auf den Professor lenkt, weil dieser ihrern geckenhaften, beschränkten und unwissenden Bruder in unrecht­mäßiger Weise ein Doktordiplom erwirken soll. Das Gewebe, in das die listige Frau den charakterschwachen Anhänger der Nietsche­schen Moral der Starken gesponnen hat, soll auf einem Masken­ball völlig zusammengezogen werden, auf dem Pfeil als Sigis­mondo Malatesta, Fürst von Rimini, und Viktorine als Isotta degli Atti erscheinen wollen. Das sind Gestalten der Renaissancezeit, der Pfeil sein Studium zugewandt hat und in deren aus reiner Willkür entspringender Lebensauffassung er seine Nietzscheschen Ideale verwirklicht sieht. Pfeils Gattin ist unglücklich wegen der Abwege ihres Gatten. Sie beschließt deshalb, dem unglückseligen Ball, an dem Viktorine ihrem verhängnisvollen Treiben die Krone aufsetzen will, fernzubleiben; ja, sie hat aus dem Laboratorium ihres Bruders Dn Lossen sich bereits Gift verschafft, weil sie den Fall ihres Gatten nicht überleben will. Als dieser Bruder, ein rei­sender Naturforscher, die Situation überschaut, geht ihm ein ret­tender Gedanke auf. Er hat in fernen Landen einen Stoff gefun­den, der in sanften Schlaf versenkt. Ihn vermischt er mit Zigaret­tentabak und läßt den betrogenen Nietzscheaner eine entspre­chend zubereitete Zigarette in dem Augenblicke rauchen, als die­ser sich anschickt, zu dem verhängnisvollen Maskenball zu gehen. Natürlich träumt nun Pfeil den Traum, der ihn von allen Nietzsche­schen Übeln heilt. Seine Ideaknenschen und deren Gegner werden ihm vorgeführt. Die sich zu seiner Lehre bekennen, sind abscheu­liche Tyrannen, Schurken oder Tröpfe; die Gegner seiner Lehre sind edel und gut, Engel in jeder Hinsicht. In diese zwei Lager gespalten, wird uns als ein widerliches, abstoßendes und lang­weiliges Bild der Fürstenhof von Rimini in Form eines eingeleg­ten Traumes vorgeführt. Und als Robert Pfeil erwacht, siehe, da ist er ein frommer Mann geworden; der Traum hat ihm die Schandtaten, zu denen ihn der Nietzscheanismus noch bringen könnte, im Bilde vorgeführt. Man braucht kein Anhänger Nietzsches zu sein, um von Widsnanns theatralischem Machwerk unangenehm berührt zu sein. Schreiber dieser Zeilen kennt die Schwächen und Gefahren des Nietzscheanismus ganz gut, aber es

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widerstrebt seinem Gefühle, einen Kampf zu sehen, wie ihn J. V. Widmann gegen Friedrich Nietzsche führt.

Nun nur noch einige Worte über die Darstellung. Herr Weiser spielte die Hauptrolle, den Professor Robert Pfeil, so gut, als ein in sich widerspruchsvoller und unklarer Charakter sich spielen lässt. Wenn die Darstellung nicht die eines Menschen, soridern die einer schablonenhaften Theaterfigur war, so lag die Schuld nicht an dem Schauspieler, sondern an dem Dichter. Besondere Anerkennung verdient Herr Weiser als Regisseur. Die Inszenie­rung war flott und geschmackvoll. Frau Wiecke, die bestgeschulte weibliche Kraft des hiesigen Schauspiels, stellte als Gattin des Professors die Vertreterin der demutsvollen, sanftmütigen, dul­denden Menschheit, die unter dem bösen Nietzscheanismus zu leiden hat, sympathisch dar; Frau Lindner-Orban, die als «Kluge Käthe» in einer prächtigen schauspielerischen Leistung während dieser Saison schon einmal gegen Nietzsche kämpfte, fand dies­mal wenig Gelegenheit zu hervorragender Betätigung ihres Kön­nens. Eine solch verzeichnete Figur, wie diese Viktorine, könnte durch die beste Schauspielerin nicht Fleisch und Blut bekommen. Hervorzuheben sind noch Fräulein Schmittlein (Dienstmädchen in Pfeils Hause), die mir besonders im ersten Akte gefiel, und Herr Kökett, der den Bruder der Viktorine in der ausgezeichneten Art spielte, die wir in bezug auf ähaliche Rollen bei ihm ken­nen, seit wir ihn das erste Mal gesehen haben.

DER OSKAR BLUMENTHAL - ABEND

#G029-1960-SE199 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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DER OSKAR BLUMENTHAL - ABEND

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Der Oskar Blumenthal-Abend im Königlichen Schauspielhause brachte einen neuen Einakter und einen älteren, neu aufgearbei­teten Dreiakter mit unbestrittenem Erfolg. Der neue Einakter -das Versspiel «Abu-Seid» - ist die alte Parabel vom reichen Geizhals, dem seine irdischen Güter im Jenseits nichts nützen,

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wenn sein Tun auf Erden alles Guten bar gewesen. Mit dieser Parabel wendet der große Dichter Abu-Seid in zehn Minuten Zeit dem reichen Teppichhändier Ibrahim das verfilzte Herz, so daß dieser in die Ehe seiner Tochter mit Jussuf, einem armen Schluk­ker von Poeten, willigt. Das Stückchen ist teils in fein pointier-ten, gedinkenvollen Versen geschrieben, teils in Wilhelm Busch­Reirnen, stellenweise sogar geschickt und wirksam «auf Poesie gedeichselt». Über die Buschiaden glitt die ganz vorzügliche Dar­stellung mit feiner Diskretion hinweg. Herr Klein als vagabun­dierender Dichtergreis Abu-Seid im Einakter und als feudal­jovialer Graf Mengers mit der jungen Tochter, dem jungen Her­zen und den alten Schulden in dem Lustspiel «Das zweite Ge­sicht> war glänzend.

«SOZIALARISTOKRATEN»

#G029-1960-SE200 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«SOZIALARISTOKRATEN»

Komödie von Arno Holz

Aufführung im Zentral-Theater, Berlin

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Wie kurzsichtig waren sie doch alle, die in Shakespeare, in Schiller und Ibsen die Meister der dramatischen Kunst zu sehen glaubten! Ihnen fehlte die Einsicht des Herrn Arno Holz, der end­lich entdeckt hat, daß ein Unterschied besteht zwischen der Diktion Ibsens, der Rhetorik Schillers und der Sprache einer Berliner Waschfrau. Jetzt wissen wir es: Shakespeares und Schil­lers Sprache ist die «offenbar plumpe>, die Sprache des Theaters; die Sprache der Berliner Waschfrau ist die Sprache des Lebens, die «heimlich künstlerische>. Arno Holz hat es uns gelehrt in dem Vorwort zu seinem Drama «Sozialaristokraten». Vor einigen Tagen ist dieses Werk im Zentral-Theater aufgeführt worden. Durch seine Entdeckung wurde Arno Holz der Reformator des dramatischen Stils>. Er hat sich selbst dazu ernannt. Die «Sozialaristokraten>

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sind das neue Kunstwerk, das in der «Sprache des Lebens>, nicht in der plumpen Theatersprache Shakespeares und Schillers «gedichtet> sein soll>. Das Leben soll von der Bühne herab zu uns sprechen>. Deshalb zeichnet Holz einen einundzwan­zigjährigen Schwachkopf, den niemand in dem Milieu, in das ihn der Dichter versetzt, wirklich antreffen könnte, weil vorsorgliche Verwandte den geistig Zurückgebliebenen schon in zartem Alter in einer entsprechenden Anstalt untergebracht haben würden>. Nein, die Zerrbilder, die da auf die Bühne gebracht werden, haben nichts mit dem wirklichen Leben zu tun>. Holz will Zeit­genossen porträtähnlich schildern. Aber er entfernt alles aus ihrer Persönlichkeit, was ihren wahren Lebensinhalt ausmacht>. Ohne sich einer Anhängerschaft gegenüber diesen Zeitgenossen ver­dächtig zu machen, kann man folgendes sagen:

Da ist ein ernst strebender Mann, der anregende Bücher schreibt, feinsinnige Vorträge hält und für die Volkserziehung in seiner Art wirkt>. Der Mann hat eine pathetische Außenseite und gibt kindischer Spottsucht Veranlassung zum Lachen, weil er zu prophetenhaft auftritt. Holz stellt von dieser Persönlichkeit nur dasjenige dar, was der Philister an ihr sieht, der den tiefen Kern nicht wahrnehmen kann. Eine andere Persönlichkeit wird in dem Drama vorgeführt, von deren Hauptwerk ein geistreicher Kritiker vor einigen Jahren gesagt hat, es sei das gedankenreichste Buch, das in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geschrieben wor­den ist>. Dieser Mann kennt die sozialen Strömungen unserer Tage wie wenige; in ihm verkörpert sich ein Streben nach Befreiung des Menschen, das jedem seiner Werke einen Ton gibt, der wie aus einer aller gegenwärtigen Wirklichkeit entrückten Welt klingt. Sein Innenleben verbirgt er aber hinter steifen, oft recht konventionellen Umgangsformen>. Der Pedant, der sich nur vor­stellen kann, daß ein Mensch, der die Freiheit liebt, auch zügellos auftreten muß, findet einen Widerspruch zwischen dem äußeren «Betragen> dieses Mannes und seinen Anschauungen>. Holz scheint auch in diesem Falle nichts zu sehen als die steife, für den kleinen Geist etwas lächerliche Außenseite>. Man kann den Meinungen und Zielen eines solchen Mannes ablehnend gegenüberstehen;

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man kann sie aufs schärfste bekämpfen; aber man braucht sie nur zu kennen, um die Witze des Herrn Holz öde und abge-schmackt zu finden>. Wer die Persönlichkeiten kennt, die in dem Stück karikiert werden, errät leicht, wer gemeint ist. Wenn ich einen Bekannten habe, von dem ich weiß, daß er einen blauen Anzug trägt und gewohnheitsmäßig mit dem Stock in der Luft herumfuchtelt, so werde ich ihn an diesen Äußerlichkeiten auch erkennen, wenn er von fern an mich herankommt und ich seine Gesichtszüge nicht gewahr werde>. Wenn man Menschen von ihrer komischen Seite im Drama schildern will, dann muß man es mit der Kunst eines Aristophanes tun, nicht mit den kleinen Mitteln eines ungeschickten Karikaturenzeichners.

Lebenswahrheit will Arno Holz auf die Bühne bringen>. Aber gegenüber seinen Zerrbildern sind die Gestalten Lindaus, Schönthans und auch die des seligen Benedix wahre Muster naturalistischer Darstellungskunst>. «Zwischen der Schaffung eines Kunstwerkes in einem Stil, der bereits gegeben ist, und der Schaffung eines solchen Stils selbst besteht kein Grad-, sondern ein Artunterschied>, philosophiert Arno Holz in der Vorrede zu den «Sozialaristokraten». Aber kein Artunterschied, sondern wirk­lich nur ein Gradunterschied besteht zwischen der Dramatik Holz' und Schönthans. Sie verfahren beide nach dem gleichen Rezepte; nur hat es Holz noch nicht bis zur Schönthanschen Bühnengeschicklichkeit gebracht>. Das traurige Bild eines Un­vermögenden, der ein neues «heimlich Künstlerisches> entdecken will, aber das Wesen der echten Kunst nicht empfindet, stand vor meiner Seele, während ich das Drama des Herrn Holz ansah>. Des­wegen möchte ich aber durchaus nicht verkennen, daß Arno Holz zu denen gehört, die viel beigetragen haben zu dem Heraufkom­men des wirklich neuen dramatischen Stils der Gegenwart. Werke in diesem Stile haben uns aber andere geschenkt>. Er ist in seinem dramatischen Schaffen hinter denen zurückgeblieben, die nicht wie er von theoretischen Forderungen, sondern von der Eigenart ihres Genies sich leiten ließen. Die Gegenwart bildet die Organe des Künstlers anders aus als die Zeit Shakespeares oder Schillers. Deshalb haben wir eine «Moderne», über deren Berechtigung nur

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die altersschwach gewordenen Ästhetiker oder die auf «ewige Regeln> schwörenden Kunstkritiker streiten können. Unter denen, die den Sinn der Gegenwart verstehen, kann über derlei Dinge kein Streit sein Aber daß in den «Sozialaristokraten> etwas von diesem Sinne zu entdecken ist rnuß ich bestreiten. Man ist nicht dadurch rnodern, daß man Schillers und Shakespeares Sprache eine «offenbar plumpe» nennt. Ich glaube nicht, daß jemand das Wesen unseres modernen Stiles richtig würdigen kann, der wie Holz über Shakespeare zu sprechen vermag.

« FAUST»

#G029-1960-SE203 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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« FAUST»

Eine Tragödie von J. W. Goethe

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Vor mehreren Jahren hat ein berühmter Gelehrter, der Phy­siologe Du Bois-Reymond, in einer Rede, die er bei Übernahme des Rektorats der Berliner Universität gehalten hat, über die Goethesche Faustdichtung Dinge gesagt, die verrieten wie gut eine vollendete wissenschaftliche Bilidung mit philisterhafter Ge­sinnung und ästhetischer Urteilslosilgkeit in einer Person vereinbar ist. Der pedantilsche Redner verstieg sich zu der Behauptung:es wäre für Faust besser, wenn er, statt sich der Magie zu ergeben und mit dem Teufel all das tolle Zauberwesen zu treiben, ein braver Professor bliebe die Elektrisiermaschine und die Luftpumpe erfande Gretchen heiratete und seiln Kind ehrlich mächte.

Wer mit einer so1chen Gesinnung am Geburtstage Goethes im Deutschen Theater saß der muß an der Darstellung des Faust durch Josef Keinz eine ,ganz besondere Freude erlebt haben. Denn nichts war in dieser Darstellung zu entdecken von der tiefen Sehnsucht des Faust nach Erkenntnis der Weltgeheimnisse; nichts davon, daß dem verwegenen Forscher der Gedanke, wir können

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nichts wissen, schier das Herz verbrennen willig Dieser Faust des Deutschen Theaters hat nicht «Philosophie, Juristerei, Medizin> und «leider auch Theologie studiert mit heißem Bemühn>, er hat nur die elegante Rede Du Bois-Reymonds «Über die Grenzen des Naturerkennens> und Fr. A. Langes «Geschichte des Materialis­rnus> nebst andern in ähnlichem Geiste geschriebenen modernen Büchern gelesen und daraus gesehen, daß es gewisse «Welträtsel> gibt, die der Mensch nicht lösen kann. Solche Lektüre regt zwar etwas auf; sie macht «nervös>, aber sie ist nicht imstande, die unsäglichen Qualen in der Menschenseele hervorzurufen, an denen Faust leidet. Nur wenn man die ganze Gewalt der Stürme emp­findet, die auf Faust eindringen, kann man die tiefe psycho­logische Wahrheit der Goetheschen Dichtung verstehen. Wer einer solchen Empfindung fähig ist, der weiß, daß eine Seele wie die Faustens nur noch Erlebnisse erträgt, die hoch nicht nur über denen des Philisterlebens liegen, sondern auch über der Befriedi­gung, die der Mensch etwa aus der Erfindung der Luftpumpe schöpfen kann. Diese Erlebnisse werden sich in Wirklichkeit innerhalb der Menschenseele abspielen; der Dramatiker, der die Innenvorgänge, die psychologische Entwickelung als solche nicht darstellen kann, greift zu unwirklichen Lebensregionen. Die Phan­tasie begibt sich gerne in die unwirklichen Gegenden, wenn das Gefühl sagt, daß keine wirklichen Vorgänge mit den in der Tiefe der Seele aufgewühlten Empfindungen in Harmonie ständen. Die Empfindungen, die wir auf dem Seelengrunde desjenigen Faust wahrnehmen, der hier dargestellt wurde, sind nicht solche, daß sie der hohen Regionen bedürfen, in die Goethe uns führt. Dieser Faust könnte ganz gut Gretchen heiraten. Und wenn er noch gar die Elektrisiermaschine erfände, dann könnte er mit dem Leben völlig versöhnt sein. Die Kunst, mit der Josef Kainz die großen Monologe spricht, ist bewundernswert. Die Technik der Sprache zeigt sich hier in einer seltenen Vollendung. Wer Sinn hat für solche technische Äußerlichkeiten, der mußte jeden Satz in der Kainzschen Wiedergabe interessant finden. Geradezu als sprach-technisches Seiltänzerkunststück war die Art, wie der Darsteller die Worte sprach:

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Hervor aus deinem alten Futterale,

An die ich viele Jahre nicht gedacht!

Du glänztest bei der Väter Freudenfeste,

Erheitertest die ernsten Gäste,

Wenn einer dich dem andern zugebracht. »

Ganz und gar vernichtet wurde durch Kainz die Empfindung, daß man es mit einem Manne zu tun hat, der durch Nichtbefrie­digung eines ungestümen Erkenntnis- und Lebensdranges dazu getrieben wird, «die Pforten aufzureißen, vor denen jeder gern vorüber schleicht». Die Töne, mir denen Josef Kainz unseren Sinn erfreut, erwecken nicht den Schein, als ob sie aus einem faustischen Innern kämen. Allein der Vortrag machte an diesem Abend des Künstlers Glück.

Und als ob er uns zeigen wollte, wie wenig ihn die heißen Stürme und Leidenschaften des Erkenntnismenschen Faust inter­essieren, verwandelt sich Kainz sogleich, nachdem er den Hexen-trank zu sich genommen, in einen liebenswürdigen, schäkernden Schwerenöter, zu dem Mephistopheles niemals sagen kann: «Dir steckt der Doktor noch im Leib>. Die Folge davon, daß Kainz in der Gretchentragödie einen geradezu tändelnden Liebhaber spielt, ist, daß die Szenen, in denen der Ernst des Faustgemütes wieder zum Durchbruch kommt, vollständig unwahr wirkend, ja von dem Künstler mit einer unverzeihlichen Gleichgültigkeit dar­gestellt werden.

Der Tragik des Faust ist die Kunst, die uns an Goethes Geburts­tag im Deutschen Theater entgegentrat, nicht gewachsen. Die Darstellung der Hauptgestalt war doch wenigstens in den Einzel­heiten interessant. Von den übrigen Leistungen kann auch das nicht gesagt werden. Ein Mephistopheles, der sich mehr wie der lustige Rat eines Fürsten als wie der teuflische Verführer Faustens ausnahm (Müller) , langweilte durch entsetzliches Grimassieren und durch das völlige Unvermögen, in den Spaßmacher etwas von dem dämonischen Höllengeist zu mischen, der stets das Böse will. Dem Gretchen nahm die Künstlerin (Elise Steinert) alle

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Naivität und gab ihr daflit ein wenig verführerische Koketterie. Die Kunst des Nuancierens, die sie in so reichem Maße entfaltete, wirkte aufdringlich.

Daß die Schauspielkunst im Deutschen Theater goethereif ist, kann man nach der Vorstellung vom 28. August nicht behaupten, auch wenn man noch so viel Nachsicht übte.

«UNJAMWEWE »

#G029-1960-SE206 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«UNJAMWEWE »

Komödie in vier Aufzügen von Ernst von Wolzogen

Aufführung im Lessing -Theater, Berlin

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Jedesmal, wenn Ernst von Wolzogen mit einer neuen drama­tischen Leistung in die Öffentlichkeit tritt, habe ich das Gefühl: dieser Künstler ist wieder um ein gutes Stück reifer, vollendeter geworden. Es wird öfter gesagt, daß das echte deutsche Lustspiel, das wir alle ersehnen, uns Wolzogen liefern wird. Denn seine vornehme Begabung, seine feine Empfindung und Kenntnis des gesellschaftlichen Lebens und der Menschen, die innerhalb dieses Lebens stehen, befähigen ihn dazu. Dazu kommt, daß er die Be­dürfnisse der Bühne wie wenige kennt und durchaus nicht geneigt zu sein scheint, um irgendwelcher ästhetischer Tendenzen der Zeit willen die Anforderungen des Theaters zu vergessen. Wol­zogens Komödien sind Abbilder des Lebens im besten Sinne des Wortes, aber sein Naturalismus geht nicht weiter, als es die Ver­hältnisse der Bühne, die nun doch einmal nicht die wirkliche Welt ist; gestatten.

Die Komödie, die eben im Lessing-Theater zum ersten Male aufgeführt worden ist, erscheint mir als das Werk eines geistrei­chen Künstlers, dem es gelingt, zu gleicher Zeit zu amüsieren und tiefere seelische Konflikte zu zeigen. Die Charakteristik der Personen

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zeigt den gründlichen Menschenkenner, den Psychologen im guten Sinne des Wortes. Nirgends ist auch nur eine Spur von dem Fehler zu entdecken, in den der Lustspieldichter so leicht verfällt: in das Zeichnen von Zerrbildern. Wir haben es mit durchaus möglichen Charakteren zu tun. Wer die deutsche und auch die ausländische Lustspielliteratur vor seinem Geiste vor-überziehen läßt, wird zugeben, daß gerade dies Zeichnen echter Lustspielcharaktere das höchste Lob verdient.

In der Mitte der Handlung steht der Afrikareisende Dr. Franz Ewert. Er hat Unjamwewe erobert und ist nach Europa zurück­gekehrt, um die Leute für die Ausnützung des gewonnenen Ge­bietes zu interessieren. Die gesellschaftlichen Kreise, an die er sich wendet, werden ihrem Wesen nach von dem Dichter in der besten Weise geschildert. Die Wirkung des Schlagwortes, der Einfluß des Geldbeutels, der Hochmut gewisser Stände sind in einer Weise dargestellt, die man nur als meisterhaft bezeichnen kann. Vor allen Dingen aber ist die Persönlichkeit des Dr. Ewert selbst in einer Weise herausgearbeitet, die verrät, daß sich Wolzogen auch auf Menschen versteht, die durchaus als Aus­nahmenaturen zu gelten haben. Der leichte Sinn, der in gerader Linie seine Aufgabe verfolgt und dabei Dinge und Verhältnisse, die anderen Menschen heilig als Selbstzweck sind, nur als Mittel für seine Ziele betrachtet, kommt ebenso zur Geltung wie die tiefere Natur, die solchen Ausnahmemenschen eignen muß, wenn sie - wenigstens in der Komödie - nicht verletzen sollen. Dr. Ewert ist ein Abenteurer, aber es ist ihm ernst um seine Sache. Seine Abenteurernatur ist gerade groß genug, um ihn Gefahren und Rücksichten vergessen zu lassen, aber sie ist nicht groß genug, uni ihn dazu zu verleiten, Unternehmungen als bloßen Sport zu betreiben. Keine schwere, aber eine zähe, keine sehr tiefe, aber eine zielbewußte Natur, welche die Bedeutung ihres Tuns hoch anschlägt, ist dieser Abenteurer. Er ist leichtlebig genug, um die Frau seines reichen Wohltäters, die sich ihm an den Hals wirft, weil sie den Kraftmenschen liebt, kühl zurückzuweisen; aber er ist nicht frivol genug, um der armen Schauspielerin, die ihn innig liebt und die Mutter seines Kindes geworden ist, ihren Herzenswunsch

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zurückzuweisen, sie zu seinem Weibe zu machen. Er ver­achtet die elenden Gesellen, die eine Genossenschaft zur Aus­nützung seiner afrikanischen Eroberungen begründen, aber er gebraucht sie, um seine Pläne auszuführen. Er gründet sich ein trauliches Heim mit seiner geliebten Kathi, der Mutter seines Kindes, aber er jauchzt doch auf, als die Nachricht kommt, daß das Reich sich seiner Unternehmung angenommen und er wieder zu den Kaffern gehen kann. Das Eigentümliche einer solchen Kraftnatur, die uns in jedem Momente aufs neue Respekt ein­flößt sowohl durch die gesunde Zielbewußtheit wie durch die Rücksichtslosigkeit ihres Wirkens, ist vielieicht niemals so voll­endet geschildert worden wie in dieser Komödie. Wolzogen hat sich der Aufgabe gewachsen gezeigt, die Psychologie des ernsten Abenteurers, des höheren Zigeuners zu gestalten. Dieser höhere Zigeuner ist der Zigeuner der Tat. Ihm verdankt man die Er­rungenschaften der Kultur, zu denen man Kraft und Klugheit, aber keine moralischen Bedenken brauchen kann. Viele haben sich bemüht, ihn auf die Bühne zu bringen. Keinem ist es in so hohem Grade gelungen wie Ernst von Wolzogen. Ich glaube, der Grund liegt darinnen, daß Wolzogen ein Künstler ist, bei dem sich eine selten feine Beobachtungsgabe in einer spielenden Weise in Gestalten umsetzt. Wolzogen sieht viel und kann viel. Das ist einfach gesagt, aber es sind wenige, von denen man es sagen kann.

Nicht durch Situationskornik, nicht durch possenhafte Scherze, sondern durch geistreiche Entwickelung wahrer Konflikte und durch Darstellung wirklicher Menschen fesselt «Unjamwewe» . Ich habe mich keinen Augenblick gelangweilt, und ich habe die Überzeugung, daß die Kurzweil nirgends mit einem Preisgeben der Kunst erkauft ist. Deshalb nenne ich Ernst von Wolzogen einen vornehmen Künstler. Ich glaube nicht, daß wir jetzt das ersehnte «deutsche Lustspiel> haben; aber das ist mir sicher: wir sind ihm durch Wolzogens neueste Schöpfung um ein gutes Stück näher gekommen. Wir werden bald so weit sein, daß wir auch im deutschen Lustspiele nicht ewig auf die «Journalisten» werden kommen müssen, wenn wir etwas einigermaßen Wert-volles nennen wollen.

«DIE EINBERUFUNG» (LE SURSIS)

#G029-1960-SE209 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE EINBERUFUNG» (LE SURSIS)

Schwank in drei Akten von A. Sylvane und J. Gascogne

Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

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Eine drollige Begebenheit mit unmöglichen, aber heiteren Situationen zu versetzen und daraus ein Gemisch zu erzeugen, das ein Publikum zum Lachen bringt, welches sich nach lang­weiliger, prosaischer Tagesarbeit, nach ausgiebigem Diner und wohligem Mittagsschlafe amüsieren will, ohne irgendwie den Verstand in Tätigkeit zu versetzen oder sich anders als durch leichten Sinneskitzel aufzuregen: das alles verstehen die Franzosen. Und diese Methode, beim Publikum zu reüssieren, versteht, ins Berlinische übertragen, die Leitung des Residenz-Theaters. Davon hat sie mit der «Einberufung> eine Probe abgelegt. Man lacht im ersten Akte über einige gute Witze; man lacht in den folgenden zwei Akten über die Unverfrorenheit der Autoren, derlei Triviali-täten aufzutischen. Aber man lacht. Die «Einberufung» wird wohl hundert und mehr Aufführungen erleben.

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«DIE ABRECHNUNG»

Ein Sittenbild in vier Akten von Maurice Donnay.

Deutsch von Anne St. Cére

Aufführung im Neuen Theater, Berlin

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Ein recht wenig harmonisches Zusammenklingen des schwindel-haften Treibens ekelerregender Geldmacherei mit den zartesten Regungen des liebenden Herzens brachte das neue Drama von Maurice Donnay «La Deuloureuse», mit dem Direktor Lautenburg die Saison des Neuen Theaters eröffnet hat. Ein geistreicher Dra­matiker mit feinem künstlerischem Takte ist Donnay. Ihm fehlt leider nur die Fähigkeit, eine spannende Handlung zu ersinnen. Die Leute, die nur zufrieden sind, wenn auf der Bühne möglichst

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viel geschieht, kommen bei ihm nicht auf ihre Rechnung. Zäh ist die Entwickelung der Vorgänge, träge fließt die Handlung vorwärts.

Der Bildhauer Philippe liebt Helene, die Frau des Schwindlers Ardan. Dieser Ardan erschießt sich am Ende des ersten Aktes, und Helenens Hand wird für ihren Geliebten frei. In schönster Weise könnten die beiden ihr feuriges Liebesglück genießen, wenn sich nicht Helenens Freundin hindernd in den Weg stellte. Diese liebt den Bildhauer nicht minder glühend wie Helene. Er ist ein Schwächling und kann den Werbungen des brünstigen Weibes nicht widerstehen. Dieses übt Verrat an der Freundin. Es verrät dem Heißverlnangten, daß Helenens Kind unehelich ist. Philippe rast und ist zerschmettert über diese Mitteilung; Helene rast und ist zerschmettert darüber, daß Philippe die Freundin liebt. Eine aufregende Szene zwischen beiden zeigt die Bitternisse, die sich zwei leidenschaftliche und liebende Seelen bereiten kön­nen. Eine zwischen beiden findet statt , wie früher eine Abrechnung zwischen dem Schwindler Ardan und der «irdischen Gerechtigkeit» stattgefunden hat. Zuletzt finden sich Philippes und Helenens Herzen doch wieder. Er hat in der Ein­samkeit, sie in rauschendem Gesellschaftsleben vergessen und ver­ziehen. Im Grunde sind es nicht Menschen, sondern Puppen, welche in diese Handlung verwickelt sind. Aber Charakteristik und Handlung werden ersetzt durch den Geist, der in den Reden, dieser Menschen herrscht. Man hört den intimen Dingen, die da gesprochen werden, gespannt zu und vergißt, daß vor lauter Re­den nicht gehandelt wird. Eine weiche, reife, süße Schönheit strömt aus diesen Reden. Man ärgerte sich immer wieder, daß ein wenig verständiges Publikum dieses feine, unsäglich schöne Reden mit Gähnen, Lachen, Zischen aufnahm. Allerdings war die Dar­stellung wenig geeignet, die wunderbaren Feinheiten des Dramas zur Anschauung zu bringen. Herr Jarno spielte statt des nervösen, dekadenten Schwächlings Philippe einen angefaulten Süßling; die Leidenschaft der Frau Reisenhofer war bei aller Lebendigkeit zu derb, um die sensitive Liebe der Helene wiederzugeben, die von so intimer Wahrheit ist, daß einem ein warmer Hauch über den ganzen Leib gehen muß, wenn sie gut dargestellt wird.

« FAUST»

#G029-1960-SE211 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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« FAUST»

Eine Tragödie von J. W. Goethe

Aufführung im Goethe-Theater, Berlin

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Über die Aufführung, mit der das auf den Namen Goethe neu­getaufte ehemalige Theater des Westens eröffnet wurde, möchte ich nur deshalb ein paar Worte sprechen, weil sie mir eines der schönsten Theatererlebnisse brachte, die ich in jüngster Zeit hatte:

das Gretchen von Teresina Geßner. Ich hatte wieder einmal den Eindruck reifer Schauspielkunst. Man hatte einen schönen Abend verbracht, als man aus dem Theater ging. Man verzieh alles übrige. Man konnte es ja. Denn es war alles so mittelmäßig, daß man sich nicht freuen konnte, daß man sich aber auch nicht ärgerte, denn es gibt einen Grad von gleichgültiger Mittelmäßig­keit, wo alles Eifern aufhört.

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«MUTTER ERDE»

Drama in fünf Aufzügen von Max Halbe

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Wie Liebende sprechen, das hat Max Halbe bis auf den Grund erforscht. Er kennt sie alle, die ewig jungen Gefühle: das Jauch­zen des seligen, trunkenen und die herbe Pein des unglücklichen Herzens. Und er hat zarte, weiche Töne, um von süßen Seelen-geheimnissen und lieblichen Schwärmereien zu singen. Ebenso­wenig fehlt ihm die Kraft zu dem Aufschrei des gequälten Innern, das umsonst nach Labung für seinen Liebesdurst lechzt, oder dem der zeitweilig gewährte Genuß von dem herzlosen Schicksal ent­zogen wird.

Spricht Max Halbe diese Sprache der Liebesleidenschaft von der Bühne herab zu uns, dann schmeichelt er sich ein in unsere Her­zen. Seine Beziehungen zum Publikum sind dann selbst ein

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Liebesverhältnis. Leider wird dieses Liebesverhältnis dann gestört, wenn er uns die großen Menschheitsprobleme und die Psycho­logie der selteneren Menschen, die an der Lösung dieser Probleme mitarbeiten wollen, vorführt. Es gibt Menschen, deren Wesen sich dem feinen Beobachter leicht enthüllt, die dem forschenden Blick keine Rätsel aufgeben. Solche Gestalten gelingen Halbes Künstlerschaft bis zur Vollendung. Den andern Naturen gegen­über, bei denen schonungslose Zergliederung des Seelenanatomen der formenden Kraft des Künstlers die Richtung geben muß, ist Halbe weniger glücklich. Ich glaube an den Tiefblick Halbes. Ich meine, wenn er ihn entfaltete, diesen Tiefblick: er müßte auf die entlegensten Gründe der menschlichen Seele kommen. Das scheint ihn aber gar nicht zu reizen. Dieses Gefühl habe ich Halbes Schöpfungen gegenüber immer gehabt. Sein neues Drama «Mutter Erde» hat es neuerdings in mir befestigt. Das Kunst­werk hat einen starken Eindruck auf mich gemacht, aber mehr durch die Kräfte, die in den Motiven stecken und die der Dichter nicht herausgelöst hat, als durch das, was dieser wirklich vor unseren Augen sich abspielen läßt.

Ein begabter Jüngling wird aus dem Vaterhause verstoßen, weil die Ideale eines jungen Weibes, das für die Freiheit ihres Ge­schlechtes arbeiten will, ihn mehr reizen als die Aussicht, dereinst mit der ihm vom Vater zugedachten Frau gemeinsam dem Guts- -besitze seiner Ahnen vorzustehen und ein Leben zu führen , wie es Vater, Großvater und so weiter hinauf geführt haben. Er ver­läßt den Vater und das Mädchen, das er wirklich liebt, um in kalter Verstandesehe mit der nüchternen Frauenrechtlerin zu leben und mit ihr zusammen eine Zeitung zu gründen, welche gegen die Knechtung des Weibes kämpft. Zehn Jahre dauert diese als Ehe verkappte Freundschaft zwischen Paul Warkentin und Hellna Bernhardy, da stirbt des ersteren Vater. Aus diesem Anlasse reisen das «Ehepaar> und ein Freund des Hauses, der Pole Dr. von Glyszinski, nach dem Gute. Dieser Pole spielt eine sonder­bare Rolle. Er schwärmt für Hella wie der schmachtende Lieb­haber; sie benützt ihn zu Sekretärdiensten und stößt ihn zurück wie einen Kautschukballon, wenn er ihr zu nahe kommen will.

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Paul ist er gleichgültig. Er duldet den Nebenbuhler, weil er ihn bei der Geschlechtslosigkeit Hellas für ganz ungefährlich hält. Hella und Paul sind verschiedene Naturen. Sie lebt in lauteren Abstraktionen, ihr Kopf ist von körperlosen Idealen vollgestopft. Sie redet wie ein Buch. Sie hat Paul für ihre Ideen begeistert; aber diese Begeisterung geht nicht tief. Er fühlt sich unglücklich. Denn in ihm lebt das Blut vollsaftiger Landmenschen, sein Inne­res bleibt hungrig bei den Abstraktionen, die ihm die «Gattin» auftischt. Während zehn Jahren lebt er das Leben so dahin. Als er aber nach des Vaters Tode wieder in die Heimat kommt, die Herrlichkeiten seines Gutes wieder sieht und aufs neue schätzen lernt, ja, nun gar das Weib wiederfindet, das er einst geliebt: da lebt in ihm wieder auf, was er, durch Hella verblendet, aus sich verbannen wollte. Paul ringt sich los von seiner Versucherin; Antoinette verläßt den platten, dummgutmütigen, ekeln Gatten, dem sie nur gefolgt ist, weil Paul sie verschmäht hat. Beide wol­len von jetzt ab nur noch einander gehören. In lüsternen Zügen trinken sie die Liebe, die sie Jahre entbehrt haben.

Ein kühner Dichter, der es versteht, Charaktere zusammenzu­bringen, deren gegenseitiges Verhältnis von höchstem Interesse für jeden modernen Menschen ist, hat diesen Stoff ersonnen. Schade nur, daß die Charaktere zu wenig vertieft sind, um dieses Interesse wirklich zu erregen. HeIla ist nicht das Weib, von dem wir begreifen, daß es seiner Natur nach für die Freiheit seines Geschlechtes eintreten muß. Sie ist doch nur ein wandelndes und redendes Programm. Paul Warkentin hat ebensowenig Leib und Seele. Er handelt nicht aus Stärke, nicht aus Schwäche, nicht aus dem Gefühle, nicht aus Verstandesimpulsen: er tritt erst für die Rechte der Frau ein und sinkt dann Antoinette in die Arme, um mit ihr zur Mutter Erde zurückzukehren, weil der Dichter die zwei Seiten der Menschennatur - die zur Schwäche führende Ver­geistigung und die gesunde Ursprünglichkeit - zeigen und mit­einander in Konflikt bringen will. Wir würden uns keinen Augen­blick wundern, wenn Paul doch wieder mit Hella in die Stadt zurückkehren würde. So wenig fließen seine Taten aus seinem Charakter. Vollends unbegreiflich bleibt, warum Hella den Gat­ten

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nicht freigibt, als sie sieht, daß er von Antoinette nicht lassen will. Hat sie denn rnit den Ideen der Freiheit nur geflunkert? Und für rnein Gefühl noch unbegreiflicher ist, daß die beiden Menschen, Paul und Antoinette, die nach zehn Jahren sich wieder­finden, in den Tod gehen müssen, weil Antoinette es nicht ertragen könnte, wenn die Leute sagten, das fortgelaufene Weib lebt mit dem fortgelaufenen Mann. Die Freiheitsheldin, die ihren Mann an dem Zipfel festhält, den ihr die Gesetzgebung in die Hand drückt, und das liebende Weib, das dem brutalen gesell­schaftlichen Vorurteile sich beugt, machen uns nicht warm.

Trotz alledem hat Halbes Drama eine große Wirkung auf mich ausgeübt. Wenn sie sich auch nicht ganz auslebt, so waltet doch darin eine bedeutende dramatische Kraft. Und wenn die Personen auch nicht recht auf den Beinen stehen, so spielen sich doch vor unseren Augen Konflikte ab, die in unserer Zeit tief begründet sind. Wir glauben dem Dichter, wenn wir auch seinen Personen nicht glauben.

Die Darstellung hätte mit Leichtigkeit manche Lücke ausfüllen können, die der Dichter gelassen hat. Eine völlig befriedigende Leistung bot nur Else Lehmann als Antoinette. Rudolf Rittner trug nichts zur Aussöhnung der zwei feindlichen Seelen bei, die in Pauls Brust wohnen, und Alwine Wiecke hat gezeigt, daß sie eine kluge Schauspielerin ist, die bei modernen Charakteren ihre Mittel so gut zu verwenden weiß wie bei klassischen; hinreißend wirkt sie aber da und dort nicht, weil sie zu wenig Tempera­ment hat.

MAX HALBE

#G029-1960-SE214 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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MAX HALBE

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Drei dramatische Schöpfungen hat Max Halbe seinem Liebes-idyll «Jugend> folgen lassen: das Scherzspiel , die Komödie . Etwas höchst Eigentümliches zeigt sich, wenn man Halbes Schaf­fen in seiner Entwickelung verfolgt. Es ist zweifellos, daß jede

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seiner Leistungen reifer, besser als die vorhergehende ist. Und dennoch hat man bei keiner einen so ungetrübten, reinen und hohen Genuß wie bei der «Jugend». So hingebend warm, wie man bei den Szenen zwischen dem guten Hans Hartwich und dem arunutvollen Ännchen wurde, können wir bei Halbes andern Dramen nicht werden. Und wenn es dem Dichter auch immer wieder gelingt, Menschentypen zu zeichnen, die ebenso wie die beiden Pfarrer der «Jugend> uns die Frage aufdrängen: wo haben wir diese Menschen schon einmal gesehen; die Wirkung, die er mit seinem «Liebesdrama> ausgeübt, erneuert sich nicht.

Man wundert sich, wenn man sich hinsetzt und über den Ein­druck nachdenkt, den die «Jugend» macht. Begreifen läßt er sich gar nicht. Man muß einmal auch ohne Begriffe zufrieden sein. Denn eine dramatische Handlung von solcher Unvernunft kann nicht leicht ein zweites Mal gefunden werden. Ein Schwachsin­niger besorgt den Weitergang der fortwährend stockenden Hand­lung; derselbe Schwachsinnige führt die Konflikte und die Kata­strophe herbei. Dieser Schwachsinnige spielt das Schicksal in dem Drama. Man muß seinen Verstand ausschalten, wenn man die wunderbaren Liebesszenen genießen, die vielsagenden Stimmun­gen auf sich wirken lassen will. Und Halbe ist der Zauberer, der uns zwingt, unseren Verstand auszuschalten. Er versetzt unsere Denkkraft in einen gesunden Schlaf, und wir werden ganz Herz, ganz Gefühl. Wir spüren nichts von den dramatischen Fehlern des Idylls.

Man muß ein großer Dichter sein, wenn man sich solche Fehler gestatten kann, wie sie die «Jugend» aufweist, denn man muß einen haarsträubenden Unfug durch unvergleichliche Vorzüge unsichtbar machen. Das ist Halbe gelungen. Und warum ist es ihm gelungen? Weil er die Eigenart seines Talentes frei, unge­bunden walten ließ auf dem Gebiete, auf dem es zu Hause ist, und die Grenzen dieses Gebietes nicht überschritten hat. Halbe hat bei der «Jugend» verzichtet, den Fortgang der Handlung auf irgendeine innere Notwendigkeit zu gründen. Und dadurch hat er sein Glück gemacht. Der Zuschauer sagt sich, wenn doch wider seinen Willen während des Genusses sein Verstand erwacht:

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es herrscht der Unsinn im Fortgang der Handlung; aber er ist aufrichtig: er gibt sich nicht für Sinn aus.

Ein solches Zauberspiel mit dem Zuschauer kann man nur einmal treiben. Das sagte sich Halbe. Er wollte nun nicht mehr auf die innere Notwendigkeit im Fortgange der dramatischen Handlung verzichten. Er wollte Konflikte darstellen, die aus den menschlichen Charakteren, aus den Kulturströmungen der Zeit und aus den Verhältnissen sich ergeben, in welchen die Men­schen leben. Ich glaube nun, daß Halbe auf diesem Felde seine Beobachtungsgabe im Stiche läßt. Seinem Können traue ich alles zu, seinem Wahrnehmungsvermögen nicht. Er würde uns mit der­selben Leichtigkeit, mit der er Stimmungen hinmalt, die tiefsten sozialen Konflikte schildern, wenn es allein auf das Können an-käme. Aber er durchschaut diese Konflikte nicht, wenn sie sich in der Wirklichkeit abspielen; er kennt die bewegenden Kräfte nicht. Deshalb konstruiert er sie willkürlich und führt uns alle Augenblicke vor Unmöglichkeiten. Der wahre Dramatiker läßt eine Tatsache auf die andere folgen, weil er zwischen beiden die natür­liche Zusammengehörigkeit erkannt hat. Halbe kennt diese Zusam­mengehörigkeit nicht. Deshalb konstruiert er sich eine solche. Und wie er sie konstruiert, darüber entscheiden seine Sympathien und Antipathien. Paul Warkentin (in «Mutter Erde») verwandelt sich aus dem Schwärmer für Frauenrechte in den Anbeter der Natur-schönheit und der unmittelbaren weiblichen Reize nicht deshalb, weil ihn eine innere Notwendigkeit dazu treibt, sondern weil die Sympathien des Dichters für unverfälschte Natur ihn dazu ge­führt haben, der Sache diese Wendung zu geben.

Und so wenig die dramatischen Konflikte, so wenig sind die dramatischen Charaktere Halbes Element. Was die passiven Na­turen und die Durchschnittsmenschen fühlen, das stellt er meister­haft dar. Ihnen sieht er bis auf das Mark ihrer Knochen. Was die aktiven, die Ausnahmenaturen antreibt, das entgeht ihm. Was auf dem Seelengrunde dieser Menschen liegt, sieht er nicht. Er interessiert sich für einzelne Eigenschaften dieser Naturen. Die rücksichtslose Starrheit, die, ohne nach rechts oder links zu schauen, auf ein Ziel losgeht, hat er in dem Techniker Weyland

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() dargestellt. Wie der ganze Mensch beschaffen sein muß, damit ein solcher Charakterzug bei ihm eine hervor­ragende Rolle spielen kann, das sucht Halbe nicht weiter zu er­forschen. Es ist um ein anderes Beispiel anzuführen, geradezu rätselhaft, warum die edelsinnige, opferfähige, hingebende Olga in der «Lebenswende» mit den burschikosen Manieren auftritt Es fällt mir naturlich nicht ein zu behaupten, daß derlei Charaktereigenschaften unvereinbar sind Aber wir mussen begreifen warum sie in einer Person vereinigt sind Bei Halbe begreife ich nichts weiter, als daß ihm das eine so gut gefallt wie das andere und daß es ihm sympathisch ist wenn er beides zusammen an trifft. Bei der Wirkung eines Dramas kommt es darauf an ob der Zuschauer fühlt daß der Dichter ihm überlegen ist in jedem Augenblicke, oder ob er sich dem Dichter überlegen glaubt. Der Dichter ist uns immer überlegen, wenn wir uns bei jedem Schritte, den die Handlung vorwärts macht, sagen: es mußte so kommen, wir waren nur nicht klug genug, das schon vorher zu wissen. Wir sind dem Dichter überlegen, wenn wir uns sagen: nein, so kann es nicht kommen das ist wider das Mögliche. Wir fühlen in diesem Falle, daß wir es besser wissen als der Dichter. Und das ist schlimm für diesen.

Der große Dramatiker ist wie der Entdecker von Naturgeset­zen. Was beide uns sagen, wußten wir vorher nicht; aber es leuchtet uns sofort ein wenn wir es hören. Was uns der schlechte Dramatiker darstellt, kommt uns vor wie die Reden eines Men­schen, der uns von Wundern erzählt. Wir gehen über ihn zur Tagesordnung über.

In der «Jugend» hat Halbe darauf verzichtet, Dramatiker zu sein. Heute will er es sein. Vor vier Jahren hat er nur seine Vor­züge wirken lassen; jetzt stört er deren Wirkung dadurch, daß er auch das leisten will was er nicht kann Der Blödsinnige der die Entwickelung vorwartstreibt, lenkt uns von den stimmungsvollen Bildern im Pfarrhause nicht ab, wohl aber der Fortschritt der Handlung in «Mutter Erde», den wir nicht begreifen, weil er willkürlich konstruiert ist Den offenbaren Blodsinn vertragen wir; die mangelhafte Gesetzmaßigkeit die verdirbt alles

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Emerson sagt: Halbe spielt zu früh die Rolle des Schöpfers. Er sollte sich länger in der Rolle des Beschauers gefallen. Dazu scheint ihm die Ge­duld zu fehlen. Der Zauber, den der Dichter auf uns ausübt, berüht darauf, daß seine Schöpfungen auf uns wirken wie die Erzeug­nisse der Natur, daß wir ihnen gegenüber sagen: da ist Notwen­digkeit, da ist göttliche Kraft. Was geschehen muß, weil die Natur es will, soll uns der Dichter zeigen; nicht aber, woran er mit seinen Neigungen hängt. Was durch seine natürliche Gewalt siegen muß, soll er siegen lassen; nicht aber das, von dem er gern möchte, daß es siege. Entzückend ist Emersons Vergleich des Dichters mit dem Träumenden: «Dies erinnert mich daran, daß wir alle einen Schlüssel zum Wunder des Dichters besitzen, daß der dünitnste Dummkopf Erfahrungen zu eigen hat, die ihm Shakespeare erklären können - nämlich die Träume. Im Traum sind wir vollkommene Dichter, wir erschaffen die Personen des Dramas, wir geben ihnen angemessene Gestalten, Gesichter und Kleider. Sie sind vollkommen in ihren Organen, Stellungen und Gebärden, überdies sprechen sie nach ihrem eigenen Charakter, nicht nach unserem - sie sprechen mit uns, und wir hören mit Erstaunen, was sie uns sagen.> Halbe läßt diejenigen seiner Per­sonen nicht tiach ihrem Charakter sprechen, die einen Zug haben, der ihn besonders interessiert. Dann dreht er alle so, daß wir sehen, ob er diesen Charakterzug verehrt oder verabscheut. Wir sehen neben den Personen fortwährend den Dichter auf der Bühne.

«DAS TSCHAPERL»

#G029-1960-SE219 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS TSCHAPERL»

Drama in vier Aufzügen von Hermann Bahr

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Wie er es immer macht, in der reizvollsten, liebenswürdigsten Pose, die ich mir vorstellen kann, erzählte Hermann Bahr vor ein paar Wochen in der Wiener «Zeit»: «Dieser Tage habe ich ein altes Buch von mir gelesen, , meinen ersten Roman. Ich hatte die Korrekturen zur zweiten Auflage zu ma­chen, die im Herbst erscheinen wird, da ist es mir nun seltsam ergangen. Das soll ich einmal gewesen sein? So hätte ich einst empfunden, so gesprochen? Es ist noch keine acht Jahre, daß ich ihn schrieb, im Winter von 89 auf 90, auf der Reise durch Spa­nien und Marokko. Und damals soll ich so gewesen sein? So ganz anders als heute, mir selber nicht mehr begreiflich nach kaum acht Jahren? Wie ist das möglich? Dies frage ich mich und weiß nicht recht soll ich mich schämen wie ich damals war, oder leise bedauern daß ich es nicht mehr bin» Was fur Augen müßte er erst machen, der gute Hermann Bahr wenn er noch ältere Bücher von sich lesen wollte' Er soll einmal das Schriftchen vornehmen, in dem er Herrn Schaffle, den schwatzhaften Nationalökonomen im Jahre 86 «vernichtet» hat, oder sein Erst lingsdrama, in dem die «Heldin» eine nicht endenwollende Pro grammrede über das Wesen der Sozialdemokratie hält.

Nein, so 1 angweilig war Hermann Bahr nie, ein ganzes Jahr hindurch seinen Freunden dasselbe Bekenntnis aufzutischen.Er muß es als Sünde empfinden, heute dem gleichen Gotte zu dienen wie gestern. Das scheint ihm nicht höflich gegen die andern Göt­ter, die doch auch wollen, daß ihre Offenbarungen mit feurigen Zungen verkundet werden Ehrlich gesagt ich glaube, Hermann Bahr hat zuviel Geist einen zu beweglichen Geist um von einer Überzeugung von einer Art zu schaffen, lange leben zu konnen Ein anderer hatte die Gedanken des Schaffle Buchleins in sich aus wachsen lassen und wäre wahrscheinlich ein zweiter Lassalle geworden. Aber das schickte sich für Bahr nicht Er ist dazu ein zu

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großer Lebemann; Ein Lassalle zu sein! Wozu? Da müßte man ja nach Taten dürsten. Aber Taten brauchen Zeit. Man muß Geduld haben, bis man sie durchführen kann. Was soll ein so reger Geist wie der Bahrsche in der langen Wartezeit machen? Es ödet ihn an, zu handeln. Er will bloß genießen. Er will nicht das tun, was Lassalle tat. Er will bloß sehen, wie sich's lebt, wenn man so lebt wie Lassalle. Dann hat er genug von dieser Art des Geistes. So hat es Bahr immer gemacht. Er hat probiert, wie es sich lebt mit dem Naturalismus, dann versuchte er's mit dem Symbolismus, und jerzt ist er eben dabei, sich's beim Verspeisen der Weisheit des alten Goethe wohl sein zu lassen. Im März dieses Jahres schrieb er: «Goethe dienen zu dürfen, sehen wir als das Höchste an; wir möchten, daß ein Strahl von ihm auf uns falle.>

Diese Hinneigung zum alten Goethe erkläre ich mir bei Bahr in folgender Weise. Er hat früher etwas nicht gesehen, was in den Dingen vorhanden ist: das Ewige, das Notwendige. Er hat nur das Zufällige, das Alltägliche, das Vorübergehende gesehen. Des­halb blieb ihm alles das leere Phrase, was Goethe über das Ewige, das Unvergängliche sagt. Eines Tages ging Bahr der Sinn auf für dies Ewige. Da fand er es auch bei Goethe. Jetzt erst lernte er den Alten von Weimar schätzen.

Jetzt erschienen ihm aber auch alle Dinge anders als früher. Einst hatte er sich die Menschen und die Dinge von allen Seiten angesehen; er hatte da einen feinen charakteristischen Zug, dort eine verborgene Eigenschaft entdeckt und konnte sich nicht genug tun in der Wiedergabe solcher Einzelheiten. Jetzt sieht er nur die großen Linien, das Bedeutsame, das Ewige, wie er es selbst auch nennt Einst hat er allen Wert auf das Psychologische, auf die Zer-gliederung der Seele gelegt. Jetzt glaubt er zu erkennen, daß ge­wisse Arten von Konflikten, von Verhältnissen zwischen den Men­schen notwendig sind, gleichgültig, wie diese Menschen im ein­zelnen beschaffen sind. Einem Dummen kann dasselbe passieren wie einem Gescheiten. Beim Ödipus kommt es nicht darauf an, wie er als Charakter beschaffen ist, sondern nur darauf, daß er seine Mutter zum Weibe nimmt. «Worin ist denn Romeo um so viel anders als Mercutio oder Benvolio? Ist er heißer, ist er edler,

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ist er klüger? Nein, aber er ist der, dem das mit der Julia ge­schehen muß. Mehr werden wir nie von ihm wissen, aber wir brauchen es auch nicht.>

So empfindet Bahr heute. So legt er sich den Goethe zurecht. Und von diesem Gesichtspunkte aus schafft er auch. Das hat sein «Tschaperl» verraten Da ist ein Musikkritiker Alois Lampl der redet und handelt so dumm, wie es nicht einmal ein Kritiker darf Da ist seine Frau die durch die Schopfung einer Oper plotzlich berühmt geworden Wenn wir sie so sehen und ihr zuhoren ist sie wirklich nichts weiter als ein «Tschaperl» Der Ausdruck ist anwendbar auf eine Person die immer das Gegenteil von dem erwartet, was sie vernünftigerweise erwarten sollte, die es nie zu dem geringsten Grade von Selbständigkeit bringt, weil ihr alles vorbeigelingt, was sie machen will. Auch eine gewisse Ängstlich­keit gehört dazu wenn man ein «Tschaperl» sein will. Aber man darf alle diese Eigenschaften nur in liebenswürdiger Form haben. Ein solches «Tschaperl> soll die Tondichterin Fanny Lampl frei­lich nur in den Augen ihres Mannes sein. Aber wenn wir ihr zu­hören, können wir über ihre Geistesverfassung auch keine bessere Meinung bekommen als ihr Gatte.

Aber alles das schadet nach Bahrs augenblicklicher ästhetischer Überzeugung gar nichts. Ob Fanny dumm oder gescheit ist, ob sie Reden führt die von Geist übervoll sind, oder ob sie ein wirk­liches «Tschaperl» ist: darauf kommt es nicht an. Die Hauptsache ist, daß ihr das mit dem Alois geschehen muß. Mehr .

Etwas anders hat der alte Goethe schon gedacht und empfun­den. Ihn interessierte auch, wie der Tasso denkt, redet und han­delt, nicht bloß, was ihm mit der Leonore passiert. Aber Hermann Bahr wollte nicht Goethe werden, auch wenn er es könnte. Wie er einst nicht Lassalle hat werden wollen, auch wenn er es gekonnt hätte. Goethe hat ihn auf das Ewige aufmerksam gemacht. Und nun lebt er und gestaltet dieses Ewige in seiner eigenen Weise. Und diese Weise ist interessant. Was in Wien den Leuten passie­ren kann, das stellt Bahr in reizvollster, geistreicher Art im «Tscha­perl» dar. Nur in Wien kann sich das begeben, was sich im

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begibt. Aber in Wien ist so etwas notwendig. Es ge­hört zum von Wien. Man soll nur ja nicht glauben, daß in Wien die Menschen alle so dumm sind wie diejenigen, die irn auf der Bühne stehen. Aber was da passiert, das trifft in der Donaustadt die Gescheiten ebenso wie die Dummen. Mit gescheiten Leuten hätte es sich nicht so leicht machen lassen wie mit dummen. Deshalb hat es Bahr halt mit dummen gemacht. Das ist so ein wienerischer Zug in ihm. Warum es sich schwerer machen, als es notwendig ist? Immer gemütlich!

Manchmal sieht es aus, als wenn Bahr mit dem Wienertum Ulk triebe. Lampls Vater war dereinst ehrsamer Hausmeister. Bahr beschreibt ihn: «Charakteristische Alt-Wiener Figur, etwa wie der alte Bauernfeld in den letzten Jahren». Es ist zwar gleichgül­tig, ob das, was passiert, dem alten Bauernfeld oder einem Haus-meister passiert, aber diese Personsbeschreibung ist ein bißchen zu wienerisch. Sie klingt schon so, wie wenn ein Ur-Berliner einen Wiener beschreibt.

Es spricht sehr für die Vortrefflichkeit der Bahrschen Komödie, daß die Aufführung im Lessing-Theater ihr keinen Mißerfolg hat bereiten können. Franz Schönfelds Alois Larnpl war nicht vom Ewigen und auch nicht vom Zeitlichen des Wienertttms erfüllt, und Jenny Groß' Fanny war weder ein «Tschaperl> noch sonst irgend etwas Erhebliches. Adolf Klein als alter Larnpl war so halb Bauern-feld, halb Hausmeister>. Aber sowohl Bauernfeld wie jeder Wiener Hausmeister würden sich für dieses Konterfei bedanken. Es ist klar: Bahr hat wienerischen Geist in reichem Maße in sein Stück einfließen lassen. Denn die Berliner Vorstellung hat von diesem Geist so viel verduften lassen, als nur irgend möglich war; aber das Wienerische war nicht umzubringen.

Als er bemerkte, wie er sich seit acht Jahren geändert hat, da tröstete sich Bahr mit den Worten: «Nein, wir haben es nicht zu bereuen, daß wir anders geworden sind. Aber wir sollen uns auch nicht schämen, wie wir damals waren. Es ist doch gut gewesen, denn es ist notwendig gewesen. Wir mußten erst versuchen, uns selbst eine Sprache zu finden; dann konnten wir den ewigen Sinn jener alten (Goetheschen) erst entdecken. Heute lächeln wir freilich,

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daß wir uns damals zu abgezappelt haben>.> Nun ist nur eines zu wünschen, Bahr möge es sich weder bei den Ur-Wienern noch bei dem alten Goethe zu behaglich einrichten. Beide sind verführe­risch. Bahr darf nicht mit dauernden Gedanken befestigt werden>. Er muß in schwankender Erscheinung leben. Ein Bahr, der sich gleich bleibt? Nein, das geht nicht!

«DAS HÖCHSTE GESETZ»

#G029-1960-SE223 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS HÖCHSTE GESETZ»

Schauspiel in vier Akten von T. Szafranski

Aufführung im Berliner Theater, Berlin

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Ein rechter Schmaus für die Ordnungsparteien aller Schattierun­gen ist es, was Herr Szafranski unter dem Namen «Schauspiel> in die Welt gesetzt hat>. Was er die Leute, die in dem Machwerk auf­treten, reden läßt, das redet in den Verhältnissen, die er im Auge gehabt hat, kein Mensch. Das schreiben nur die Journalisten der verschiedenen Richtungen. Da ist ein Tor, Emil Treder, der täg­lich den «Vorwärts> liest und abends in den Volksversammlungen die angelesene Weisheit den «Genossen> vorplärrt. Eine seiner in das tiefste Elend gekommen>. Sein Verführer ist ein gewisser Lembke, der untet dem Vorwande, der großen Sache der Partei zu dienen, die selbst­süchtigsten und schmutzigsten Wege geht. Dieser Lembke ist eine Gestalt, die im Leben ganz unmöglich ist. Derlei Persönlichkeiten malen nur die schlimmsten Provinzblättchen der «Parteien der Ordnung> an die Wand. Und Treders Frau? Nun, die spricht im Tone etwa einer Zeitung für Hausfrauen. Nicht ein gerades Wort, nicht eine naive, ursprüngliche Empfindung ist in dem «Schau­spiel» zu entdecken. Vom Anfang bis zum Ende wird man von dem ödesten Zeitungsschreiberstil angeekelt. Dabei stürmen Bru­talitäten

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auf den Zuschauer ein, die unerhört sind. Die Frau Treder liegt im Sterben>. Der Arzt will schnell noch etwas Not­wendiges aus der Apotheke holen. Da läuft ihm Treders Tochter in den Weg, in die er sich seinerzeit vergafft hat>. Sie wies seinen Antrag damals zurück, weil sie bereits den Weg aller Dirnen ge­gangen war>. Jetzt aber entspinnt sich eine längere Auseinander­setzung zwischen den beiden>. Es ist empörend, zusehen zu müs­sen, wie dieser Arzt, statt das Rezept zu besorgen, alte Liebes­geschichten aufwärmt. Und ganz unerträglich ist der Schluß. Ein philiströser Regierungsbearnter gibt seine Tochter mit Freuden dem Sohne des Sozialisten zur Frau, trotzdem Vater und Sohn im Gefängnis gesessen haben>. Sie standen in dem Verdachte, einen geheimen Erlaß gestohlen und dem «Vorwärts» überliefert zu haben. Ja, er tut noch mehr, dieser wackere Regierungsbeamte. Er bekehrt den durch das Elend weich gewordenen Sozialisten zu der Überzeugung, daß das «höchste Gesetz» nicht darin zu suchen sei, Pläne für eine blaue Zukunft zu schmieden, sondern zu «arbei­ten». Die Bekehrung wird durch die hohlsten Phrasen, die je ein mit dem Leben Zufriedener gesprochen hat, bewirkt.

Die Vorstellung im Berliner Theater stand als Leistung nicht höher als die «Kunst> des Autors>. Nur Maria Pospischil fesselte durch ihre Darstellung der Frau Treder>. Diese Frau ist aus dem Fenster gesprungen, weil sich der Verführer ihres Mannes, der böse Lembke, ungebührlich gegen sie benommen hat>. Sie stirbt in­folge der Verletzungen, die sie sich dabei zugezogen hat. Das lange, allzulange Sterben geschieht vor unseren Augen>. Und Maria Pospischil stirbt mit einer Kunst, die einem an die Nieren geht. Man sitzt da und möchte starr werden vor Entsetzen. Ich bin über­zeugt: viele Frauen, die im Theater waren, haben die ganze fol­gende Nacht kein Auge zugemacht. Maria Pospischil ist der gro­ßen tragischen Töne in bewundernswerter Weise mächtig. Diese Sterbensszene war voll «Lebenswahrheit» und zugleich von fein­ster künstlerischer Stilisierung.

«WAIDWUND»

#G029-1960-SE225 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«WAIDWUND»

Schauspiel in drei Aufzügen von Richard Skowronnek

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Daß auf das unglaublich schlechte Schauspiel «Die Einzige», das wir in der vorigen Woche im Schauspielhause genossen haben, ein ebenso schlechtes in dieser Woche folgen könne, hätte ich nicht gedacht. Geschraubte Charaktere leben in unmöglichen Ver­hältnissen, und was mit ihnen vorgeht, spottet jeder Beschreibung. Man müßte ganz unfähig sein zu jeder Wahrnehmung einer menschlichen Individualität, wenn man an diesen Puppen Gefal­len finden wollte. Alles erdacht, alles zusammengestoppelt am Schreibtische. Die Handlung zu erzählen ist ganz unmöglich. Denn der absolute Unsinn ist nicht in wenigen Sätzen wieder­zugeben, wohl aber in einem dreiaktigen Drama. Wer die Sache in Worte fassen wollte, müßte Sinn in sie bringen. Vernünftig über sie zu reden, hieße sie fälschen. Man ging aus dem Theater mit einem Gefühle, das nur mit dem physischen des verdorbenen Magens zu vergleichen ist. Ich habe mich, während ich dieser Vor­stellung beiwohnte, mit dem «Aschermittwoch ausgesöhnt, den ich vor einigen Tagen im Neuen Theater gesehen habe. Das ist ein wüster Schwank, aber anspruchslos. Er will nichts sein als ein Ragout von tollen Späßen, über die man lacht, wenn man kein Philister des Idealismus ist, der immer gleich mit der Ästhetik bei der Hand ist. Man kommt sich zwar nachher, wenn man gelacht hat, verteufelt dumm vor. Aber man hat doch eben gelacht. Und bei Skowronnek kann man weder lachen noch weinen. Doch nein, man lacht doch! Man lacht dann, wenn der Dichter seine Rühr-szenen ausführt. Da wird seine Kunst wirklich «lächerlich».

«DAS STÄRKERE»

#G029-1960-SE226 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS STÄRKERE»

Schauspiel von Carlot Gottfried Reuling

Aufführung im Schiller-Theater, Berlin

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Wenn mir der Pfarrer Johannes Küster, dessen Schicksal Carlot Gottfried Realing dramatisiert hat, im Leben begegnete, ich würde seinen Umgang nicht suchen. Er wäre mir gleichgültig. Er ist ein Schwächling, ein Mann, der will, aber nicht wollen kann. Er läßt alles über sich ergehen>. Er hat sich in jungen Jahren mit Sophie Walz verlobt. Das Mädchen hat ihm die Mittel gegeben, um zu studieren. Ihre einflußreichen, frommen Verwandten haben ihm eine Pfarrstelle verschafft>. Er hat Interesse für Naturwissenschaft. Er tändelt mit Naturgegenständen. Daß er sich als Pfarrer un­glücklich fühlt, will uns zwar Reuling glauben machen. Wir glau­ben es aber nicht. Sein Interesse an der Erkenntnis ist nicht inten­siv genug. Hätte er Naturwissenschaft studiert, so würde er etwas anderes wollen. Er hat kein Eisen im Blut>. Er möchte sich gern von seiner Braut, die ihm nicht mehr gefällt, nachdem er viele Jahre mit ihr verlobt ist, trennen. Denn er liebt sein Cousinchen, die kluge Frieda Bügler, die ihn versteht>. Sie schwätzt so gescheit und ist so brav, daß sie fast widerlich ist. Sophie erinnert ihn energisch an die Pflicht, die er ihr gegenüber auf sich geladen hat>. Sie hat ihm das Geld zu seiner Ausbildung gegeben, weil sie ihn heiraten wollte>. Sie macht ihm klar, wie unmännlich es ist,ihr den Rücken zu kehren, weil seine Liebe einer anderen gehört. Er gehorcht brav. Die Pflicht ist das Stärkere>. Sie siegt. Er entsagt der guten, gescheiten Frieda und wird die erzwungene Heirat mit Sophie eingehen. Aber er rächt sich. Er rächt sich, wie es Schul­knaben zu tun pflegen>. Er begleitet die Leiche einer Selbstmör­derin zu Grabe, obwohl das den Empfindungen seiner Braut und ihrer Verwandten widerspricht>. Warte nur, ich will dir noch schöne Dinge aufführen. Was dich ärgert, das tue ich. Warum hast du mich gerade heiraten wollen>.

Daß das Weib viel opfert, um dem Geliebten zu helfen, daß seine Liebe vor keiner Opferwilligkeit zurückschreckt, ist bekannt.

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Daß dieses Weib in dem Augenblicke, als sie die Neigung des Geliebten für sie erloschen sieht, ihn zwingt, sie zu heiraten, halte ich für Unsinn. Solchen Tatsachen gegenüber erwacht der Stolz im Weibe>. Es sagt sich: nein, ohne deine Neigung will ich dich nicht besitzen>. Handelt ein Weib in anderer Art, so geht uns diese Art nichts an. Sie erweckt in der Wirklichkeit Ekel; und wir leh­nen sie ab, wenn sie uns in der Dichtung entgegentritt.

Ich weiß, was die gelehrten und ungelehrten Ästhetiker der Gegenwart sagen werden. Die reine Kunst, ist ihre Meinung, hat sich nicht darum zu kümmern, ob eine Persönlichkeit, ein Vor­gang uns sympathisch sind oder nicht. Sie hat darzustellen, was geschieht, nicht das, was wir gerne geschehen lassen möchte?. Allein eine solche Kunstanschauung ist weichlich, weibisch. Die reine Kunst ist ein Weib. Und wenn sie sich nicht befruchten läßt von einer Weltanschauung, von dem Empfindungsleben, das haßt und liebt, so wird sie eine alte Jungfer. Catlot Gottfried Reulings Kunst ist eine alte Jungfer. Es ist kein männlicher Zug in dem Schaffen dieses Dichters. Männlich wäre es gewesen wenn er den Johannes Küster hatte den Entschluß fassen lassen, Sophie aufzu geben. Alle Vorurteile durften ihn nichts angehen Seine Entsagung ist weibisch ein starkes Durchdrucken seines Willens, die Hingabe an seine Leidenschaft an seine Ziele wäre männlich gewesen. Das hat zwar mit der reinen Kunst nichts zu tun, aber die reine Kunst macht es nicht. Das Kunstwerk darf nicht von unseren Sympathien und Antipathien unberührt bleiben. Warum sollen wir uns im Theater bieten lassen, was uns im Leben uninteressant ist?

Aber im Grunde sind sie doch brave Christen und Philister, diese Dichter vom Schlage Reulings>. Das rücksichtslose Wollen, das starke Können ist nicht nach ihrem Sinne. Der Pflicht ge­horchen steht ihnen höher als das Durchsetzen der Persönlichkeit>. Entsagung ist ihr Losungswort>. Im Gehorchen sehen sie Frömmig­keit. Und Frömmigkeit wollen sie. Frömmigkeit ist ihnen das Gute; das Waltenlassen der Eigenpersönlichkeit nennen sie böse, verwerflich. Und vor dem Worte Egoismus bekreuzigen sie sich. Was nützt es, daß Reuling ein wirklicher Dichter ist? Daß er

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ernsdiches, künstlerisches Wollen hat, wenn uns doch seine Lebens-auffassung widerlich ist? Wenn wir stets das Gefühl haben: in seinem Drama hätte alles anders kommen sollen? Eine schwäch­liche, mattherzige Lebensanschauung spiegelt das Drama . Der Mut zum Handeln, zum Streben nach eigenen Zie­len fehlt dem Dichter. Deshalb fehlt er auch seinem Helden. Und wo Reuling Energie zeichnet, wie in Sophie, da zeichnet er sie falsch. Da läßt er sie das Gegenteil von dem wollen, was sie im Sinne einer gesunden psychologischen Anschauung wollen müßte.

Ein Stück von einem Philister und für Philister ist dieses Drama. Wer kein Philister ist, fühlt sich angeodet von ihm.

«AGNES JORDAN»

#G029-1960-SE228 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«AGNES JORDAN»

Schauspiel in fünf Akten von Georg Hirschfeld

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Der Künstler stellt die Dinge und Begebenheiten so dar, wie sie durch sein Temperament hindurch ihm erscheinen. An diese Vor­stellung Zolas mußte ich denken, als ich nach der Aufführung des neuen Dramas von Georg Hirschfeld, «Agnes Jordan», nach Hause ging. Das Schicksal einiger Menschen will Hirschfeld in fünf Bil­dern darstellen. Die zart empfindende, bildungslüsterne Agnes Sommer ist von ihrem Onkel, dem idealistischen Adolf Krebs, mit den Schriften der Klassiker trefflich gefüttert und mit weisen Lehren sorgsam aufgepäppelt worden. Dieser Onkel ist zu Höherem geboren. Er wollte Musiker werden. Die Verhältnisse haben ihn zum Kaufmann gemacht. Er leidet an einem verfehlten Leben. Jeder Schritt, den er unternimmt, bringt ihn rückwärts statt vor­wärts. Sinnig gibt ihm der Dichter den Namen Krebs. Er hat auch mit seinen Erziehungsexperimenten kein Glück. Sie vergafft sich,

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trotz ihrer Bildung, in den rohen Gustav Jordan, der nichts liest als schlüpfrige Romane und die . Wie diese beiden Leute miteinander leben im Jahre ihrer Verheiratung 1865, wie sich ihr Zusammensein 1873, wie 1882 und endlich wie im Jahre 1896 gestaltet: das schildert Georg Hirschfeld. Er hat diese vier weit auseinanderliegenden Jahre allerdings nicht ganz be­liebig aus einem Zeitraum von 31 Jahren herausgegriffen. Denn im ersten erfahren wir, wie ein rücksichtsloser Egoist mit der ge­wonnenen Frau in seiner Art zärtlich ist. Das Jahr 1873 gibt ihm Gelegenheit, seine ganze Brutalität glänzen zu lassen. Der gute Onkel Krebs steht vor dem Bankrott und will das Geld wieder haben, das er dem sauberen Neffen zur Gründung einer bürger­lichen Existenz geliehen hat. Deswegen wird er von diesem mit den ausgesuchtesten Roheiten überschüttet. 1882 ist das eheliche Verhältnis zwischen Agnes und Gustav Jordan soweit gediehen, daß die zart empfindende Frau ihrem Manne davonläuft und sich nur bewegen läßt, in sein Haus zurückzukehren, weil der älteste Sohn schwer krank ist und die Mutter braucht. 1896 erlebt die durch drei Jahrzehnte brutalisierte Frau das Glück, daß sich ihr Sohn mit der Tochter ihrer Freundin verbindet. Meiner Empfin­dung nach hätte aber Hirschfeld doch auch jedes beliebige andere Jahr aus dem genannten Zeitraume herausgreifen und uns das Schicksal seines Ehepaares in demselben darstellen können. Denn die erwähnten Ereignisse interessieren uns iaach dem im ersten Aufzug gegebenen Konflikt viel zu wenig. Wir werden immer müder und wollen zuletzt nicht mehr mitgehen. Mein Gefühl ver­langt nicht eine an Einzelheiten reiche Handlung; aber es will, daß ein Bedürfnis befriedigt werde, das der Dichter selbst erregt hat. Stelle ich an jemand eine Frage, die er durch seine Rede in mir selbst erregt hat, so will ich eine klare Antwort, die sich nur mit dem Gegenstande meiner Frage beschäftigt. Antwortet er mir dann alles mögliche, was mit meiner Frage kaum etwas zu tun hat, so werde ich unwillig. Und Hirschfeld erregt in mir eine Frage. Ich will nach dem ersten Akte wissen, wie sich das Ver­hältnis der beiden Menschen gestalten müß, deren Charakter er angedeutet hat. Ich erfahre darüber nichts, als daß Gustav Jordan

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seine Frau roh behandelt und mit jedem Dienstmädchen, das ins Haus kommt, anbandelt. Im fünften Akt erwarte ich eine Entschei­dung. Irgend etwas müßte eintreten, das eine genügende Antwort auf die Frage sein könnte. Statt dessen reden die Leute über die neue Zeit, die neuen Menschen und die neue Kunst. Ich kenne wenige Dramen, deren fünfter Akt so überflüssig ist wie der der «Agnes Jordan>. Agnes hat 31 Jahre lang die brutalen Instinkte ihres Gatten ertragen müssen; sie wird es weiter tun. Alles, was der Onkel Adolf in ihrer Seele gepflanzt hat, ist allmählich verdorrt; ihr Tod wird nur wenig bedeuten. Denn sie stirbt schon 31 Jahre. Der Unterschied zwischen der völligen Vernichtung und dem Le­ben, das sie 1897 führt, ist der denkbar geringste. Wie sie lang­sam dahinstirbt, das berührt so unbehaglich, wie wenn eine Flamme langsam kleiner wird, weil kein Öl mehr vorhanden ist. Wir löschen eine solche Flamme lieber aus, ehe wir sie so langsam ersterben sehen.

Im Leben mag ein solches langsames Absterben oft vorkommen. Und für einen feinen Beobachter werden die Einzelheiten solchen Siechtums gewiß anziehende Beobachtungsobjekte sein. Hirschfeld ist solch ein feiner Beobachter. Aber er ist bloßer Beobachter. Er hat nicht den Willen, den Dingen Gewalt anzutun. Wénn er eine Begebenheit sieht, nimmt er sie hin und stellt sie dar, wie sie ist. Und Sünde erscheint es ihm, irgendeine gleichgültige Einzelheit, die ihm entgegentritt, wegzulassen. Deswegen ist er kein Dramati­ker. Ein solcher gteift einen Konflikt des Lebens auf und ent­wickelt ihn so, wie es sein Temperament, wie es seine persönliche Neigung verlangt. Er schaltet selbstherrlich mit der Begebenheit. Er zeigt, wie er sich den Zusammenhang der Ereignisse denkt. Vor der gemeinen Wirklichkeit hat er wenig Respekt. Ein Dramatiker würde Gustav und Agnes in Lagen gebracht haben, in denen ihre entgegengesetzten Charaktere in wilder Weise aufeinanderplatzen. Dazu hätte ihn sein Temperament geführt. Weil dies meine Auf­fassung ist, deshalb ist mir die erwähnte Vorstellung Zolas nach der Aufführung der «Agnes Jordan» eingefallen. Hirschfeld stellt die Dinge nicht dar, wie sie erscheinen, wenn sie durch ein Tem­perament, sondern so, wie sie aussehen, wenn sie durch die völlige

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Temperamentlosigkeit gesehen werden. Ein glatter Spiegel ist die­ser Dichter, der alles unverändert wiedergibt, was vor seine Fläche gestellt wird. Sauber und klar sind die Bilder, die er entwirft, aber es fehlt jeglicher Zauber einer Persönlichkeit. Wie durch einen künstlichen Apparat sind die Ereignisse in der Familie Jordan abgebildet. Dokumente für den Kulturhistoriker liefert Hirschfeld, aber kein Kunstwerk. Auf die Treue in der Wiedergabe des Be­obachteten kommt es ihm an, aber nicht auf künstlerische Gestal­tung. Ich kann mir vorstellen, daß mich unter gewissen Umstän­den auch eine solch treue Schilderung anziehen kann. Aber im ersten Akte des Hirschfeldschen Werkes sind alle Vorbereitungen zu einem Drama gemacht, von dem wir dann nichts sehen. Der Dichter ist uns dieses Drama schuldig. Wasser ist gewiß ein gutes Getränk, aber wenn uns jemand zu einer Flasche guten Weines einlädt und dann Wasser vorsetzt, so mag er zusehen, wie er mit uns fertig wird. Wir lassen uns eine solche Behandlung nicht ge­fallen.

Ich möchte in diesen Zeilen keinen Beitrag liefern zu dem alten und ewig jungen Schulgezänke über Idealismus und Naturalismus. Aber ich muß doch sagen: ich empfinde es als eine Indelikatesse gegen mich als Zuschauer, wenn mir jemand zumute:, die reine, unverfälschte Naturwahrheit in allen ihren Einzelheiten zwischen den drei künstlichen Wänden der Bühne zu beobachten. In dem Bühnenraume habe ich künstliche Verhältnisse vor mir. Das Leben in seiner ganzen Fülle geht da nicht hinein. Soll trotzdem die Illu­sion des Lebens vor mir entstehen, so muß das Fehlende eine Per­sönlichkeit, der Dichter, aus Eigenem dazugeben. Marionetten sind leblos. Ich sehe ihr Spiel dennoch gerne, wenn der Leiter einer Marionettenvorstellung gute Einfälle hat. Was der Geist des Dra­matikers gestaltet, will ich von der Bühne herab vernehmen. Eine Persönlichkeit soll zu mir sprechen, nicht ein Beobachter des Lebens ohne Temperament, dem die Dinge nichts Besonderes sagen, daß er mir es in seinem Werke offenbaren könnte.

Viel interessanter als Hirschfelds Drama waren mir die Schau­spieler, die es darstellten. Die Aufführung ist eine künstlerische Leistung von hohem Range. Emanuel Reicher hat einmal an Hermann

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Bahr geschrieben: Was er mit diesen Worten von sich fordert: in seiner Darstellung des Gustav Jordan hat er es mit jedem Worte, mit jedem Blick, mit jeder Miene, mit jeder Bewegung erfüllt. Alle Ober-, Unter- und Nebeneigenschaften des rohen, selbstsüch­tigen, banausischen Gesellen kamen zum Ausdrucke. Alles wirkt überzeugend. Man hat bei jeder Einzelheit das Gefühl, daß von allen möglichen Arten, wie die Charaktereigenschaften Jordans auszudrücken sind, diejenige die allerbeste ist, die Emanuel Reicher gefunden hat. Und der Grundzug dieser Persönlichkeit ist von dem Darsteller in einer Weise erfaßt und durchgeführt, daß nie­maIs auch nur leise eine Vorstellung aufstößt, es könnte etwas im geringsten anders sein. Reicher zur Seite steht Agnes Sorma, die alle Eigenschaften der Agnes Jordan von der liebevollen Hingabe an die höheren Güter des Geisteslebens und innerem, feinem, durch die zarteste Naivität geadeltem Dankgefühl gegenüber dem Onkel Adolf bis zu der edel stolzen Haltung gegenüber dem Manne und der rührenden Ergebung in ihr Schicksal mit stilvoller, poeti­scher Wahrheit und großer Kunst darstellt. Nicht auf der Höhe dieser beiden Darsteller steht die Leistung Hermann Müllers, der den Onkel Krebs zu einseitig nur als wehleidigen, von seinem Schicksal niedergedrückten Mann darstellt. Soll diese Persönlich­keit überzeugend wirken, so muß - wenigstens leise - ein Zug von aktivem Idealismus ihrem Wesen beigemischt sein. Man muß sehen, daß er im Vorwärtsschreiten ein sympathisches Ziel vor Augen hat: dann kann man über sein unverschuldetes Rückwärts-schreiten mit ihm trauern.

«JUGENDFREUNDE»

#G029-1960-SE233 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JUGENDFREUNDE»

Lustspiel in vier Aufzügen von Ludwig Fulda

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Die paar Zischer, die sich am Sonnabend nach jedem Aufzuge des Fuldaschen Stückes «Jugendfreunde» bemerkbar machten, scheinen mir auf einem Standpunkte der Beurteilung zu stehen, den der Kritiker der amüsanten, liebenswürdigen Arbeit gegen­über nicht einnehmen darf. Durch nichts macht sich der Kritiker langweiliger, überflüssiger und lächerlicher als durch Aniegung von Maßstäben die durch die Natur eines Werkes und durch die Absichten, die der Autor mit ihm hat, ausgeschlossen sind. Gewiß gibt es einen Standpunkt, von dem aus man an der Zeichnung der Charaktere und dem Verlaufe der Handlung in den «Jugend-freunden» eine oppositionelle Kritik üben kann. Ich glaube je­doch, die beste Widerlegung einer solchen Kritik ist der Umstand, daß der Kritiker, wenn er unbefangen und naiv sich dem Genusse hingibt, zwei Stunden lang über diese «Jugendfreunde> herzhaft lächeln und auch lachen muß und daß die Widersprüche, in die sie sich durch den Gegensatz ihrer Ansichten und ihres wirklichen Lebens verwickeln, durchaus naturwahr und von dem Autor auf geistreiche Art dargestellt sind.

Vier Kameraden halten treu zusammen und verbringen ihr Leben, wie es ihnen behagt. Drei davon verloben sich im ersten Aufzug. Sie glauben, daß ihre Frauen sich ebenso in die Arme fallen werden, wie es die Männer als Junggesellen getan haben. Statt dessen zanken die Frauen bei der ersten Gelegenheit, die sie zusammenführt, und sagen voneinander die übelsten Dinge. Die Freunde überzeugen sich bald, daß sie ihr fröhliches Leben ohne die Frauen fortsetzen müssen. Das scheint ganz leicht zu sein, denn der vierte gebärdet sich drei Akte lang als energische: Geg­ner der Ehe. Warum sollten sich die drei Freunde nicht zweimal in der Woche in seiner zu gemütlichen Zu­sammenkünften ohne ihre Frauen einfinden? Schon sind die drei Verheirateten einig, da überrascht sie der vierte mit dem Ent­schlusse,

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seine Stenographin zu ehelichen>. Und da er augenschein­lich einen glücklicheren Fang getan hat als die drei Gefährten, so ist er gar nicht geneigt, den vom Schicksal mit lästigen Ehehälften gesegneten Kameraden ein Stelldichein zu gewähren, durch das sie sich fröhlich immer wieder in ihre Jungges.ellenzejt zurück-träumen können.

In lustiger Weise läßt Fulda die Gegensätze aufeinanders.toßen. Es ist nicht seine Art, Situationswitze zur Herbeiführung von Ver­wicklungen und Lösungen zu benutzen>. Es geht alles. aus den Cha­rakteren mit einer gewissen Notwendigkeit hervor>. Diese Not­wendigkeit ist allerdings nicht eine solche, die aus tiefen, psycho­logischen Untergründen der Seelen heraufgeholt ist, aber es scheint mir, daß Fulda mit der leichten Art, wie er die Menschen und die Dinge nimmt, gar nicht unrecht hat>. Von Menschen, die wie die­jenigen des Fuldaschen Stückes sind, interessiert uns auch im Leben nicht mehr, als der Autor uns vorführt. Fulda sagt uns. von ihnen genau so viel, als wir von ihnen zu wissen wünschen. Eine größere Vertiefung der Charaktere und Verwicklungen würde, mei­ner Meinung nach, den Eindruck der Schwerfälligkeit machen>. Die geistreiche, leichte Art, mit den Personen und Handlungen zu spielen, s.ehe ich als eine vorzügliche Eigenschaft des Autors der «Jugendfreunde» an>.

Allerdings. glaube ich, daß nur eine so vortreffliche Aufführung dem Stücke zu der von mir geschilderten Wirkung verhelfen kann, wie sie am Sonnabend das Deutsche Theater bot>. Die vier Jugend­freunde fanden in den Herren Nissen, Rittner, Sauer und Thiel­scher vier Darsteller, welche die Absichten des Autors in prächti­ger Weise zum Ausdruck brachten. Und die weiblichen Stören­friede wurden durch die Damen Trenner, Schneider und Eberty gut charakterisiert. Hätte es Fräulein Lehmann vermocht, die Stenographin so anmutvoll darzustellen, daß man an die Bekehrung des Ehegegners. Martens besser hätte glauben können, so wäre gegen die Aufführung auch nicht das geringste einzuwenden.

«DAS NEUE WEIB»

#G029-1960-SE235 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS NEUE WEIB»

Lustspiel in vier Aufzügen von Rudolf Stratz

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Erna Textor gebärdet sich aktelang als das «neue Weib>, grie­chische und lateinische Sätze sprudeln von ihren Lippen, und, um Chemie, Handels- und Wechselrecht durchaus zu studieren, hat sie sich in eine kleine süddeutsche Universitätsstadt begeben. Sie hat von ihrem Vater eine Anilinfabrik geerbt und will nicht nur den Chemikern, die in ihrer Fabrik beschäftigt sind, auf die Finger schauen können sondern auch mit Verständnis. die Bezüge ein­heimsen, die ihr aus der Anilinfabrikation zufließen Sie verteidigt mit Einsicht und fast weibischer Beredsamkeit die Gleichberechti gung von Mann und Weib Sie verlangt von einem Kollegium das aus pedantischen engherzigen Lus.ts.pielprofessoren besteht, Einlaß in die Horsale und ist unglucklich daiuber, daß der jungste, fescheste Professor, der sogar in Leutnantsuniform auftritt der heftigste Gegner ihrer Zulassung zu den Universitätsstudien ist>. Sie ist von ihrem Vater, der zu Beginn des. Stückes natürlich tot ist, mit einem langweiligen Menschen verlobt worden, der, um un­sympathisch genug zu sein, Matthias Leineweber heißt. Uns geht das alles nichts an. Denn wir wissen, sobald die ersten Worte ge­fallen sind, daß Erna am Ende des. Stückes nicht mehr das «neue Weib» sein sondern dem Professor in der Offiziersuniform, der ihr die Pfo;ten der Universität verschließt, als. Braut in die Arme sinken wird. Rudolf Stratz darf uns das allerdings. nicht gleich beim Aufgehen des Vorhanges. sagen. Sonst gäbe es kein Lust-spiel. Aber er muß es. andeuten. Das verlangt die dramatische Technik. Daß wir diese Andeutungen von vorneherein durch­schauen, das wird wohl an unserer Naivität liegen>. Wir sind so geneigt, anzunehmen, daß Lustspiele mit Heiraten schließen. Waium sollte gerade Rudolf Stratz von dieser Lustspielsitte ab­gehen? Zwischen den Vorgängen, welche die Haupthandlung zu­sammensetzen, trinken Studenten Bier, singen Lieder, gehen auf den Paukboden und schwänzen Kollegien>. In deutschen Lustspielen

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trinken, schwänzen und panken die Studenten selbstver­ständlich noch viel mehr als in Wirklichkeit. Das macht der ver­fluchte Idealismus in der Kunst, der alle Dinge in ein ideales Licht rücken will. In der Zeit, welche Erna Textor nicht mit klu-gen Reden und die Studenten nicht mit Biertrinken ausfüllen, schwatzen Professorenfrauen dumme Sachen. Ein grundgelehrter, bedeutender Privatgelehrter trinkt so viel Wein, daß er einen Über-rock für einen Menschen hält, und seine Frau versteckt ihm die Stiefel, damit er nicht in die Kneipe gehen kann. Auch unterrich­tet eine junge Dame mit Backfischmanieren, die ihrem Berufe nach Zahnärztin ist, einen verbummelten Studenten über die Ideale des Lebens und den Nutzen der Arbeit.

Ausgezeichnete Schauspieler spielen in dem «Lustspiel». Fräu­lein Poppe macht uns die unmögliche Rolle der Erna fast möglich; Herr Keßler spielt den Professor in der Offiziersuniform vollen­det. Herr Vollmer stellt den Privatgelehrten und Trinker mit einer Kunst dar, daß wir die Gestalt, die Stratz geschaffen, vergessen, und Frau Conrad als Zahnärztin kann man gar nicht genug loben. Das «Lustspiel» ist zum Davoniaufen, aber wegen der vorzüglichen Darstellung muß man es, wenn man einmal hineingeraten ist, zu Ende ansehen;

«IN BEHANDLUNG»

#G029-1960-SE236 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«IN BEHANDLUNG»

Lustspiel in drei Aufzügen von Max Dreyer

Aufführung im Berliner Theater, Berlin

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Die Hauptperson in diesem Lustspiel ist eine Modedame. Sie schwärmt nicht für Hüte mit ausgestopften Vögeln. Das wäre zu altmodisch für sie. Eine richtige moderne Kopfbedeckung für ein Weib ist der Doktorhut, den trägt sie mit echter weiblicher Koketterie. Mit der Würde, die ihr dieser Hut verleiht, ist ihr die Kraft verliehen, den ehrsamen Bürgersfrauen eines kleinen

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Städtchens an der Ostsee, die noch nicht bis zu der neuesten Mode vorgedrungen sind, bei einem Kaffeeklatsch, zu dem sie sie einlädt, allerlei gescheite Dinge über menschliche Vorurteile zu sagen. Es ist ihr ferner die Kraft verliehen, ihrem Bräutigam den Abschied zu geben, weil er, obgleich ihm nichts daran liegt, ob seine Frau einen Doktorhut oder einen Hut mit ausgestopften Vögeln trägt, doch nicht gestatten will, daß sie, wie eine Hebamme, in die Häuser geht und die Leute behandelt. Sie aber will durchaus die braven Landbewohner von allen möglichen Übeln befreien. Diese lassen sich das nicht gefallen. Sie behandeln das Fräulein Doktor als unmoralische Person. Die Hauswirtin will sie sogar aus dem Hause jagen. Ein junger Frauenarzt findet den richtigen Ausweg. Er hat keine Praxis weil die biedern Provinzler keinen unver heirateten Frauenarzt wollen sie hat keine Praxis weil sie des männlichen Schutzes entbehrt Das Einfachste ware die beiden heiraten sich Sie tun es auch Aber nur zum Schein Aus irgend welchen geheimnisvollen Grunden ist vorerst jede sinnliche Gemeinschaft zwischen den beiden ausgeschlossen Sie haben jedes ein Schlafzimmer für sich. Es geht höchst platonisch zu. Nur ein alter Onkel, der bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit auf die Bühne kommt, redet von den künftigen Kindern, und die alten Tanten des Fräulein Doktor sowie eine ältliche Braut machen allerlei ungeheimnisvolle Anspielungen auf das Geschlechtsleben.

Es wird aber doch alles gut. Weil die alten Tanten und die alten Jungfern glauben, die beiden seien reell verhekatet, laufen sie zu ihnen und lassen sich von ihnen behandeln. Weil der junge Doktor trotz des platonischen Gebarens seiner Ehehälfte weiß, daß die Sache doch ihren natürlichen Weg nehmen muß, läßt er sein Weibchen zappeln. Er «behandelt> sie, auf daß sie von ihrem Platonismus zu einer gesunden Sinnlichkeit bekehrt werde. Er erreicht seinen Zweck: die natürlichen Weibinstinkte siegen. Oh, du meine Laura Marholm! Du hast zuletzt doch recht. Du hast es ja immer gesagt: der Mann ist des Weibes Inhalt.

Ich habe über dieses Lustspiel nicht viel zu sagen. Ich habe mich entsetzlich gelangweilt. Das psychologisch Unmögliche in den Personen war mir gräßlich. Es gibt aber auch Menschen,

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welche über die Kontraste gelacht haben, die auf Kosten aller ge­sunden Psychologie erreicht werden. Vielleicht haben diese recht und ich unrecht. Wozu hat man sich auch das bißchen psychologi­sche Beobachtungsgabe erworben? Es verdirbt einem nur den Ge­schmack an schlechten Theaterstücken.

Gespielt wurde ganz vorzüglich. Frau Auguste Prasch-Greven­berg stellte die kokette Modedame mit dem Doktorhute in treff­licher Weise dar, und Herr Sommerstorff war brillant in der Aus­übung seiner schweren Praxis. Er hat alle Kniffe kennengelernt, um Menschen von dem bösen Platonismus zu befreien. Herr For­mes als komischer Onkel war entzückend. Auch die kleineren Rol­len fanden entsprechende Vertreter.

«GEBRÜDER WÄHRENPFENNIG»

#G029-1960-SE238 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«GEBRÜDER WÄHRENPFENNIG»

Schwank in vier Akten von Benno Jacobson. Musik von Gustav Steffens

Aufführung im Goethe-Theater, Berlin

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Am 20. November hatte ich die Wahl, entweder in das Resi­denztheater zu gehen und dort das Schauspiel «Dorina» von Ro­vetta zu sehen oder im Goethe-Theater die «Gebrüder Währen­pfennig» zu genießen. Als Mitglied der Deutschen Goethegesell­schaft und früherer Mitarbeiter am Weimarer Goethe-Archiv habe ich mich natürlich entschlossen, ins Goethe-Theater zu gehen. Einen gesunden Schwank sieht man immer gerne; und das Goethe-Theater wird auf dem Gebiete des Schwankes nur das Allerbeste bringen, dachte ich mir. Da bin ich aber schön angekommen -dieses Vorurteil für den Namen Goethe hat mir einen maßlos langweiligen Abend eingetragen. Die «Idee» der «Gebrüder Wäh­renpfennig» ginge noch. Der eine geizige Bruder, der altmodische Kleider trägt und nur Weißbier trinkt, und der andere, der im Sekt schwimmt und auch sonst in jeder Beziehung ein fideler Lebe-mann neuesten Schnittes ist, sind gar keine üblen Kontrastfiguren.

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Daß zwei so verschiedene Naturen hart aneinandergeraten, ist mir auch begreiflich. Aber die schalen Späße, die innerhalb dieses Rahmens erscheinen, die witzlosen Anspielungen auf allerlei Dinge der Gegenwart wirken durch ihre Fadheit ermüdend, ja geradezu einschläfernd. Und der Schluß ist das Unglaublichste, was mir je im Theater vorgekommen ist. Der ältere Bruder hat dem jüngeren Feindschaft geschworen weil dieser ihn einen simplen Kaufmann geschimpft hat Deshalb sagt der altere der simple Kaufmann wird nie mehr ein Wort mit dir reden Die Bruder mussen sich aber doch versohnen Also der altere Bruder wird Kommerzienrat Jetzt ist er kein simpler Kaufmann mehr Es ist nicht gegen seinen Schwur, wenn er mit dem Bruder wieder redet Es gibt doch noch ein Kalau.

«DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN»

#G029-1960-SE239 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS KÄTHCHEN VON HEILBRONN»

Schauspiel in fünf Akten von Heinrich von Kleist

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Zwei Grundzüge sind in Kleists Natur vereinigt. Der Sinn für das Große, das Kraftvolle verbindet sich bei ihm mit der Hingabe an das Geheimnisvolle, an die dunklen und unverständlichen Mächte im Menschenleben. In wunderbarer künstlerischer Har­monie wirken diese beiden Richtungen seines Schaffens in seinem historischen Ritterschauspiel «Das Käthchen von Heilbronn» zu­sammen. Eine echt ritterliche Persönlichkeit ist der Graf Wetter vom Strahl, und mit einem Empfindungsleben ist er begabt wie ein mystischer Schwärmer. Ein wackeres, braves Mädchen ist das Käthchen von Heilbronn, und geheimnisvoli sind die Ketten, die sie an den Grafen binden. Das Natürliche und das Übernatürliche wirken in dem Drama zusammen in der Weise, wie nur ein Dich­ter sie zusammenbringen kann, der mit kühner Beobachtungsgabe in die natürliche Wirklichkeit sieht und der zugleich den festen

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Glauben hat, daß diese natürliche Art des Daseins nur der eine Teil der Welt ist;

Das Vermögen Kleists, komplizierte Charaktere zu zeichnen, ist ein unbegrenztes. Es gibt wenige Gestalten der Dichtung, die so wahr vor uns stehen wie Käthchens Vater, Theobald Friedeborn. Eine unermeßliche dichterische Kraft gehört dazu, einen Menschen darzustellen, in dessen Irrtum eine solche Größe liegt. Dieser Theobald Friedeborn könnte die banalsten und dümmsten Dinge sagen: wir würden von ihnen gefesselt sein wie von höchsten Wahr­heiten.

Emanuel Reichers Darstellung dieses Friedeborn ist vollendet bis in die kleinsten Züge hinein. Mit tiefster Befriedigung saß ich da, und in bewundernder Erregung verfolgte ich das Stück Psycho­logie, das Reicher offenbart, indem er den Waffenschmied aus Heilbronn darstellt. Diese Rolle Reichers gehört zu den schau-spielerischen Leistungen, die man nie wieder vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat.

Und Agnes Sorma als Käthchen! Einen holderen Einklang zwi­schen schlichter, bürgerlich-anspruchsloser Art und träumerischem, weltentrücktem Wesen kann ich mir nicht denken. Ich habe ge­hört, daß es Menschen gibt, die das nicht empfunden haben. Aber die haben eine zurechtgelegte Vorstellung davon, wie so etwas sein soll. Agnes Sorma hat die wahrste Empfindung davon, wie es ist;

Leider ist nichts in der Welt vollkommen. Und vielleicht des­halb war der Graf Wetter vom Strahl durch Hermann Leffier so ungenügend vertreten. Es war mir unerträglich, diese geringe Kunst neben der vollendeten von Agnes Sorma und Emanuel Reicher zu sehen. Bei Agnes Sorma wirkt alles wie Natur, bei Hermann Leffler erscheint alles gemacht. Nichts kommt wie selbst­verständlich aus seinem Munde, alles ist herausgezwungen. Den­noch darf man sagen, daß es Otto Brahm hoch anzurechnen ist, mit dieser Vorstellung unseren großen Heinrich von Kleist uns wieder in lebendige Erinnerung gebracht zu haben.

«DORINA»

#G029-1960-SE241 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DORINA»

Sittenbild in drei Akten von Gerolamo Rovetta.

Deutsch von Otto Eisenschitz

Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

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Wenn ich der Meinung wäre, ein Kritiker müsse sich schämen, wenn er einmal zum Schwärmer wird, so müßte ich ganz rot wer­den über das, was ich eben über «Das Käthchen von Heilbronn» niedergeschrieben habe. Aber ich schäme mich gar nicht. Ich will mich aber auch gleich wieder zusammennehmen und ganz ver­nünftig sein. Die Erinnerung an «Dorina> von Rovetta bringt mich auch schon wieder zur Vernunft. In ihr ist nichts, was Ver­anlassung zur Schwärmerei gibt. Der Baron Nicki ist zuerst ein unreifer Knabe voll Leidenschaft, ein Kindskopf, wie er im Buche steht. Er verliebt sich in Dorina, die im Hause seiner Mutter eine Enkelin derselben erzieht. Die Mutter jagt die gute Dorina aus dem Hause. Nun wird diese Sängerin. Sie gerät dabei in die Hände eines Schwindler-Ehepaares: des Maestro Gonstan­tini, der sie im Singen unterweist, und seiner sauberen Ehe­hälfte. Diese verkommenen Leute wollen die brave Dorina nach jeder Richtung hin ausnützen. Aber Dorina ist moralisch, und die Gonstantinis sind unmoralisch. Deshalb ist Dorina traurig, weint und wimmert in einem fort. Auch der Nicki, der sie einst geliebt, erscheint wieder auf der Bildfläche. Jetzt aber ist er ein blasierter Lebemann, der sich in Paris und in Monte Carlo die Kindsköpfig­keit abgewöhnt hat. Die Dorina sieht er nunmehr als seine geworden. Er liebt Dorina wieder wie sich

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selbst. Er will sie heiraten. Sie ist etwas klüger geworden. Sie läßt ihn ein wenig zappeln. Dann aber heiratet sie ihn doch.

Wozu nur spotte ich? Das Stück ist nämlich gar nicht so un­bedeuten& Es ist wirklich Psychologie darin. Alles, was vorgeht, ist interessant. Doch nein. Nicht alles. Was bei offener Szene vor­geht, ist matt. Aber in den Zwischenakten, da liegen wichtige Entwicklungsmomente. Da geschieht das Wichtigste, was ein Dichter darstellen sollte. Aber ein Dichter muß doch auch für den Spürsinn des Publikums sorgen. Im Foyer, während sie Bier trin­ken und ein Schinkenbrot kauen, mögen sich die Leute das Beste denken.

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«VANINA VANINI»

Trauerspiel von Paul Heyse

Aufführung im Schiller-Theater, Berlin

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In diesen Tagen haben wir im Schiller-Theater ein Drama von Paul Heyse gesehen. Alle Welt ist damit unzufrieden. Ich war ge­fesselt vom Anfang bis zum Ende. «Vanina Vanini> ist für mich eine edle Kunstleistung. Ein feinsinniger, formgewaltiger, ge­schmackvoller Dichter hat das Werk geschaffen.

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«G'WISSENSWURM»

Bauernkomödie von Ludwig Anzengrraber

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Im Königlichen Schauspielhaus habe ich am 27. November den «G'wissenswurm» von Anzengruber gesehen. Die Vorstellung war eine vollendete künstlerische Leistung. Ich werde von diesen bei­den Vorstellungen in der nächsten Nummer noch sprechen.

[Nicht erschienen.]

«MÄDCHENTRAUM»

#G029-1960-SE243 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«MÄDCHENTRAUM»

Lustspiel in drei Akten von Max Bernstein

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Ein vornehmer Geist mit ehrlichem künstlerischem Streben hat die feine Lustspielidee Moretos, des Zeitgenossen Galderons, zu neuem Leben erweckt Das Mädchen, das berufen ist, ein Volk zu regieren, und das ein Reich der Tugend aufrichten will an Stelle des Reiches der bösen Leidenschaften, bildet den Mittelpunkt in Moretos «Donna Diana» Um ein solches Mädchen handelt es sich auch in Max Bernsteins «Madchentraum» In beiden Stucken sie gen die natürlichen Triebe innerhalb der Madchenseele uber die durch eine falsche Bildung hervorgerufenen Vorsteflungen uber die Tugend, die als Kalte gegenuber der Liebesleldenschaft ge dacht wird. Jungfraulich will das Madchen bleiben, zuletzt aber segelt sie mit Inbrunst in das Meer der Liebe ein Mit allen Mit teln eines raffinierten dramatischen Technikers legt Moreto sein Problem bloß und entwickelt es mit der zwingenden Notwendig­keit und mit all den Kreuz- und Quergängen, welche der Natur eigen sind, wenn sie eines ihrer Geschopfe hervorbring und wachsen läßt. Mit der durchsichtigen Klarheit des hell-, allzu hell-sehenden Psychologen baut verständig Max Bernstein sein Drama auf. Bei ihm bleibt die Phantasie hinter dem Verstande imruer ein paar Schritte zuruck Bernstein kennt alle Einzelheiten der Mad chenseele. Er ist Psychologe Aber nicht der ganz unbefangene Beobachter des Einzelwesens das jeder allgemeinen Formel spottet, sondern der Dogmatiker der sich gewisse allgemeine Begriffe ge­bildet hat und diesen Gestalt verleiht Was Bernstein an Gefühlen in seine Leonor von Aragon legt, sind abstrakte, allgemeine Ge danken über das Madchenherz Man hat einen generellen Begriff, keine lebendige Individualitat vor sich Man begreift nicht, warum dieser Einzelfall so sein muß wie er ist Ich kam wahrend der Vorstellung aus dem Gefuhl nicht heraus, daß keine zwingende Notwendigkeit in all diesen Begebenheiten waltet Es ist alles will kürlich gemacht. Und willkürlich sind auch die Verse. Ich konnte

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nirgends fühlen, daß der Vers die natürliche Art ist, wie sich der Dichter aussprechen muß.

Was der Dichter an Kunst des Individualisierens fehlen läßt, das erserzen in der Aufführung des Deutschen Theaters die Haupt-darsteller. Agnes Sorma belebt die abstrakte Idee der Prinzessin von Aragon in so vollkommener Weise, daß wir wirklich ein in­dividuelles Einzelwesen vor uns zu haben glauben. Und Josef Kainz spricht Bernsteins Verse so, daß wir ihre Unnatur vergessen. Guido Thielscher spielt einen Zeremonienmeister als ein kleines Meisterstück schauspielerischer Kunst.

«LEDIGE LEUTE»

#G029-1960-SE244 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«LEDIGE LEUTE»

Sittenkomödie in drei Akten von Felix Dörmann

Aufführung der Berliner Dramatischen Gesellschaft

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Als ich vor acht Jahren mit Felix Dörmann durch die Straßen von Wien wandelte, hatte ich das Gefühl: einen Menschen, der so wie er eine starke Begabung dazu benützt, um der Welt irgend etwas vorzumachen, gibt es kaum, außer diesem berechnenden Sonderling. Der Mann kann, was er will. Und er will niemals natürlich sein. Das Publikum ist ihm, wie man in Wien sagt, höchst Wurst. Findet er gerade ein solches, das abgelebte, über­reife Gefühle dargestellt sehen will, so dichtet er abgelebte, über­reife Gefühle. Er ist eitel und will bewundert sein. Der sollte Dra­men schreiben, dachte ich schon damals. Der #SE029-245

Die Berliner Dramatische Gesell ­Die Aufführung zeigte, daß schaft tüchtige leitende Kräfte hat. Hoffentlich wird sie uns in diesem Winter auch noch dramatische Leistungen bieten, die ein anderes Anrecht darauf haben, von ihr berücksichtigt zu werden, als das, daß ihre Aufführung in den Theatern polizeilich ver­boten ist.

«BARBARA HOLZER»

#G029-1960-SE245 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«BARBARA HOLZER»

Schauspiel in drei Akten von Clara Viebig

Aufführung der Neuen Freien Volkshühne, Berlin

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Die Neue Freie Volksbühne habe ich erst heute kennen­gelernt. Sie ist ein Unternehmen, das Freude machen muß. Da ist wirklicher naiver Genuß zu Hause. Wer sachliche Kritik üben will, gehört eigentlich gar nicht dahin. Es wäre aber ungerecht, Clara Viebigs «Barbara Holzer» gegenüber die Kritik schweigen zu lassen. Das Stück ist von Anfang bis zum Ende voll dramatischen Lebens. Mich haben die kernigen Figuren und der durchaus not­wendige Fortgang der Handlung wiederholt an Anzengruber er­innert. So vom Innern der Volksseele heraus wie Anzengruber sieht Clara Viebig zwar nicht, aber was sie sieht, stellt sie fest auf die Beine. Sie sieht die Vorurteile der gebildeten Dame; aber sie gestaltet, was sie beobachten kann, treu und klar, so daß wir die ursprüngliche Natürlichkeit aus ihrem Stücke herausfinden.

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«BARTEL TURASER»

Drama in drei Akten von Philipp Langmann

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Vor wenigen Wochen übte an Philipp Langmann niemand Kri­tik als die Beamten einer Brünner Unfallversicherungsgesellschaft. Sie kontrollierten, ob er horizontale und vertikale Zahlenreihen richtig zu addieren versteht. Denn Philipp Langmann diente ihnen

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um siebzig Gulden monatliches Honorar. Heute ist Philipp Lang­mann der Liebling des Berliner und Wiener Theaterpublikums. Im Wiener Volkstheater und im Berliner Lessing-Theater ist sein «Bartel Turaser> zur selben Zeit aufgeführt worden; und in beiden Städten ist das Publikum sich klar darüber, daß es das Werk eines großen Dichters gesehen hat. Wenn hier in Berlin sich ein Kri­tiker muckst und ein Wort des Tadels gegen das Werk vorbringt, so kann er die übelsten Dinge zu hören bekommen. Er mag bis­her gesündigt haben, wieviel ihin Oppositionslust und Nörgelsucht nur einzuwenden haben. Das kann man ihm vergessen. Wenn er aber gegen den «Bartel Turaser> etwas hat, dann wird er einfach zum schnoddrigen Kerl gestempelt.

Das ist ein schöner Zug in der nicht immer angenehmen Phy­siognomie unseres Theaterpublikums. Es ist schön, wenn man neben großen Vorzügen große Fehler übersehen kann. Man muß das, wenn man Philipp Langmanns Drama uneingeschränkt loben will. Denn das Stück ist doch nur ein Wechsel auf die Zukunft. Aber derjenige versteht sich schlecht auf die Zukunft, der den Wechsel nicht bedingungslos annimmt. Ein zahlungsfähiger Dra­matiker ist Philipp Langmann. Die tendenziöse Moral, die er uns verkündet, die dramatischen Ungeschicklichkeiten, die in seinem Werke vorkommen, wird er abstreifen; und den feinen Blick, den er in die Seelen der Menschen zu werfen vermag, wird er weiter ausbilden.

Der Bartel Turaser, der einen Meineid schwört, um seinem kran­ken Kinde Brot schaffen zu können, und der sich dann selbst als Meineidigen dem Gericht stellt, als der Tod des geliebten Kindes das Gefühl der Reue aufkommen läßt: er ist eine Persönlichkeit, die nur ein wahrer Dichter schaffen konnte; aber wie ihn Lang-mann hinstellt, ist er doch eine willkürlich konstruierte Figur. Es kommt dem Dichter weniger darauf an, zu zeigen, wie sich die Gefühle eines Menschen verwandeln können, als vielmehr darauf, daß das Gute zuletzt siege.

Langmann hat etwas, was den Erfolg beim Publikum unbedingt nach sich ziehen muß. Dieses Publikum lehnt es durchaus nicht ab, über die Mißstände unserer Gesellschaftsordnung unterrichtet

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zu werden. Die Sache darf nur nicht zu weit gehen. Die Aufregung über vorhandenes Unheil darf nicht das gute Abendbrot, das man nach dem Theater verzehren will, verderben. Und das Publikum hat recht. Die Bühne ist doch keine moralische Anstalt.

Langmann hält sich, wie das Publikum, in der Mitte zwischen der vollen Wahrheit und dem Troste des «praktischen Christen», daß der liebe Gort und das gute Gewissen schon alles machen werden. Muß man denn durchaus den Leuten den Appetit dadurch verderben, daß man ihnen sagt, die armen Leute essen Hunde, um den Hunger zu vertreiben? Solche Dinge sagt Langmann nicht. Er sagt sie nicht, weil er sie nicht lebhaft genug empfindet. Er ist ehrlich als Künstler. Er ist selbst nicht mehr entrüstet, als er es seinem Publikum zeigt. Seine Empfindungen sind keine extremen. Ein gemäßigter Empfinder ist er. Sein Temperament geht nicht über das der großen Masse hinaus. Er hat nur die Gabe, das wirk­sam zu gestalten, was diese Masse empfindet. Den gesunden Schlaf stört er den Philistern nicht. Aber ein Dichter ist er, der ihnen Achtung abzwingt. Und mit Recht. Er zwingt ihnen eine Achtung ab, die ihnen Ehre macht.

«MUTTER THIELE»

#G029-1960-SE247 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«MUTTER THIELE»

Ein Charakterbild in drei Akten von Adolph L'Arronge

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Die Welt, welche L'Arronge auf die Bühne bringt, hat ihre eigenen Gesetze. Das höchste ist: in dieser Welt ist lebendigen Menschen der Aufenthalt untersagt. Dieses Gesetz wird so streng befolgt, daß sich in genannter Welt noch nie ein Mensch hat blik­ken lassen. Sie wird nur von Puppen bevölkert, die Gliedmaßen und Lippen nach gewissen Regeln bewegen. Ihre Bewegungen haben hie und da eine entfernte Ähnlichkeit mit den mensch­lichen. Während diese Puppen sich bewegen, spricht immer ein

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Mensch in verschiedenen Stimmen, nach Art der Bauchredner. Er sagt eine Reihe niedlicher, charmanter, reizender Sachen, dann eine -Reihe törichter, alberner, dann mürrische, dann sentimentale. Jede Klasse dieser Redensarten wird einer Puppe in den Mund gelegt. Das Konzert, das diese Puppen aufführen, verläuft so, daß anfangs die Dinge nicht recht zusammengehen. Die eine Puppengruppe stellt das Gute, das Edle, das Reizende dar, die andere ist Vertreter des bösen Prinzips und macht ersterer das Leben sauer oder stört wenigstens die ungetrübte Harmonie. Zuletzt aber werden auch die bösen Puppen gut; man hört dann rührende, edle Reden, während sich dieselben Lippen bewegen, die vor kurzer Zeit noch boshafte und feindselige Sätze zu sprechen schienen. In einem Elemente der holdesten Glückseligkeit und Güte schwimmen nun­mehr die Puppen, und die Tränendrüsen der Leute mit Kaffee­schwesterempfindungen entwickeln eine rege Tätigkeit.

So war es immer, wenn die Charakter- und Sittenbilder von L'Arronge auf uns losgelassen wurden; so war es auch heute, da uns das Königliche Schauspielhaus in einer meisterhaften Auffüh­rung «Mutter Thiele> bot. Frau Schramm, Herr Matkowsky, Fräulein Hausner, Frau von Hochenburger, Herr Vollmer und Herr Keßler gaben den Theaterfiguren, die sie darzustellen hatten, so viel Leben, als vorzügliche Schauspieler nur können. Die Dar­stellung war so gut, daß man manchmal wirklich glauben konnte, man hätte es mit Menschen zu tun.

MAURICE MAETERLINCK

#G029-1960-SE248 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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MAURICE MAETERLINCK

Eine Conférence, gehalten am 23. Januar 1898 vor der Aufführung von

«L'Intruse» (Der Ungehetene) in der Berliner Dramatischen Gesellschaft

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Die Menschen, die nur zu deuten verstehen, was in gewohnter, hergebrachter Art auf sie wirkt, empfanden nichts Besonderes, als sie vor sieben Jahren zuerst die Sprache vernahmen, die Maurice Maeterllnck spricht. Unbekannt war ihnen die Welt, von der er ihnen erzählte, und wunderlich klangen ihnen deshalb seine Offenbarungen

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aus dieser Welt. Einer krankhaften, verworrenen Phan­tasie schrieben sie zu, was aus einer neuen Weise des Empfindens stammte.

Aber es gab gleich bei Maeterlincks erstem Auftreten einzelne feine Kenner in Frankreich und Deutschland, die den Sinn hatten für die Welt, aus der der neue Prophet schöpfte. Es waren die Geister mit der schönen Fähigkeit, das Große zu ahnen, wenn sie es auch noch nicht in voller Klarheit erfassen können. Diese emp­fanden, daß Maeterlinck von Dingen redet, die zu schauen sie längst eine dunkle Sehnsucht hatten. Sie wußten nicht, wonach sie sich sehnten; sie wußten nur, daß sie etwas entbehrten. Was sie entbehrten, kam ihnen nicht zum Bewußtsein. Und jetzt, als Maeterlinck auftrat, da erkannten sie, daß er von dem sprach, worauf ihr Verlangen ging. Seine Worte klangen ihnen vertraut, weil sie nur die eigene Seele nach ihrer Bedeutung zu fragen brauchten.

Hätte man diese wenigen Enthusiasten damals gefragt, in wel­chen Worten sie Maeterlincks Wesen ausdrücken möchten: sie wären verstummt. Eine trunkene Begeisterung hatte sie erfaßt, von dieser sprachen sie in volltönenden Worten.

Sie, diese trunkenen Verehrer, waren die rechte Maeterlinck­Gemeinde. Denn, was dieser empfand, ließ sich nicht mit Worten mitteilen. Alles, was er schrieb, war da, nur um leise hinzudeuten auf das, was in seiner Seele lebte. Er konnte nur Zeichen geben von dem, was er empfand; und durch diese Zeichen konnte er zunächst nicht die Sprache, nur das Gemüt der Menschen zum Mitschwingen veranlassen.

Maeterlinck ist nicht in erster Linie eine künstlerische Natur. Die Kunstmittel, deren er sich bedient, sind unvollkommen, fast kindlich. Wer nach der vollkommenen Kunst verlangt, kann aus Maeterlincks Dichtungen keine Befriedigung empfangen. Er ist eine religiöse Natur. Er glaubt, daß es unendliche Tiefen der Menschenseele gibt und daß der Mensch hinuntersteigen kann in diese unendlichen Tiefen. Dann findet er in sich selbst Kräfte, die ihn befähigen, das große Unbekannte zu umfassen, das alle Zeiten als ein Göttliches verehrt haben.

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Wer diese Seelenkraft in sich erweckt, für den gewinnen die alltäglichsten Dinge des Lebens einen geheirnnisvollen, einen gött­lichen Sinn.

Als Dichter will Maetetlinck nur aussprechen, was er als reli­giöser Mensch erschaut; die Schönheit der äußeren Form ist ihm unwichtig, er will aus seinen Dichtungen das Wunderbar-Erhabene der Welt, die großen, unbekannten Mächte heraushören lassen, die in den Dingen verborgen sind.

Im Göttlichen ist die Heimat der Seele, und findet sie diese Heimat, dann lebt sie plötzlich auf und lebt das tiefste Leben, das den Menschen erst zum wahren Menschen macht. Eine unsägliche Veränderung geht vor mit der Seele, die ihre Heimat gefunden hat. Wie ein schluzumernder Genius ruht die göttliche Kraft in der Seele, und wer den Genius erweckt, dem antworten alle Dinge in einer göttlichen Sprache. Die unbedeutendsten Erschei­nungen erglänzen plötzlich in einem neuen Lichte; sie künden das Ewige.

Unablässig ist die Menschheit bemüht, den göttlichen Genius in sich einzuschläfern. Maeterlinck glaubt in einer Zeit zu leben, in der die Menschen einer großen Erweckung ihrer Seelen ent­gegengehen. Schon fängt man an, sich abzuwenden von der un­endlichen Verfeinerung der Sinne und der Vernunft, die uns die letzten Jahrhunderte gebracht haben.

Diese Verfeinerung hat das göttliche Licht in den Tiefen der Seele ausgelöscht. Unser Auge sieht heute - ob mit Mikroskop und Fernrohr bewaffnet oder nicht - Dinge, welche vor Jahr­hunderten niemand ahnen konnte; unser Verstand ersinnt Zusam­menhänge, die noch vor kurzer Zeit jedermann ins Fabelreich ver­wiesen hätte, wenn ein phantastischer Kopf davon gesprochen hätte. Eine Unendlichkeit dringt durch unsere Sinne, durch unsere Vernunft auf uns ein.

Aber sowohl die Sinne wie die Vernunft nehmen den Dingen den Glanz des Göttlichen. Der hellsichtigen, göttlich empfinden­den Seele ist auch die Natur mit allen ihren Dingen und Erschei­nungen göttlich. Aber die Sinne stellen sich zwischen die Gött­lichkeit der Natur und die Göttlichkeit der Seele. Ungöttlich zei­gen

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sie uns die Welt. Wir fragen bei allen Dingen: woher kom­men sie? - und lassen uns von unseren Sinnen, von unserem Ver­stande die Antwort geben. Maeterlinck sieht eine Zeit heraufkom­men, in der die Seelen ohne Vermittlung der Sinne und des Ver­standes die Dinge auf sich wirken lassen werden. Er glaubt, daß das Reich der Seele täglich an Ausbreitung gewinnt. Die Seele wird wieder emporsteigen an die Oberfläche der Menschheit und wird unmittelbar an die Dinge herantreten. Der Mensch wird ein wirklicheres, ein volleres Leben wieder leben, wenn er nicht mehr an dem Ungöttlichen haftet, sondern in den kleinsten Dingen, in dem Rauschen der Blätter, in der Stimme der Vögel, ja in jedem Geräusch und in dem unbedeutendsten Worte, das der einfache, naive Sinn spricht, ein Göttliches empfindet.

Nicht der Wotte, nicht der Taten werden die Seelen bedürfen, um sich zu verstehen, wenn sie sich befreit haben werden von der Alleinherrschaft der Sinne und des Verstandes. Nicht das bedeu­tungsvolle Wort, nicht die kraftvolle Tat werden ein Band schlin­gen von Mensch zu Mensch, sondern das Unsagbare, das Unhör­bare wird sich von Seele zu Seele hinüberziehen. Was dem Worte ewig Geheimnis bleiben muß, wird zu offenbarem Leben wer­den. Die Menschen werden ihren Brüdern näher sein, weil kein Mittler sich zwischen die Seelen drängt, und sie werden der Na­tur näher sein, weil keine Hülle ihre offenbaren Geheimnisse ver­decken wird.

Feiner und tiefer werden sie das Lallen des Kindes, die Sprache der Tiere, der Pflanzen und aller Dinge verstehen, wenn sie die Heimat der Seele entdeckt haben werden.

Eine Periode der Menschheit ersehnt Maeterlinck, wie sie die alten Ägypter zu einer gewissen Zeit oder die Inder durchgemacht haben.

Von Zeiten, in denen die Intelligenz und die äußere Schönheit herrschen, fühlt er sich unbefriedigt. In solchen Zeiten fehlt ihm etwas, wonach der Mensch begehrt; geheime Verbindungen sind ab­geschnitten. Wie unter Barbaren versetzt kommt sich Maeterlinck vor, wenn er in unseren heutigen Theatern sitzt. Da sieht er den betrogenen Ehemann, der aus Eifersucht tötet, da sieht er den Bür­ger,

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der um seine Ehre kämpft, alle die plumpen Dinge sieht er, die die Sinne reizen und den Verstand in Bewegung setzen, aber er sieht nicht das Wunderbar-Göttliche, das uns jeden Augenblick aus den alltäglichen Dingen entgegenströmt.

An Jacob Böhme und andere Mystiker muß man denken, wenn man Maeterlinck seine Grundempfindungen aussprechen hört.

Töte die Sinne, dann geht die innere Seelenkraft dir auf: dies ist sein geheimster Glaubenssatz. Menschen seiner Art können es allein verstehen, daß Jacob Böhme nicht den unter Blitz und Don­ner herannahenden Gott braucht, um das Geheimnis der Welt zu erkennen, sondern daß dies ihm aufgeht beim Anblicke einer zinnernen Schüssel. Gleichsam mit Ausschaltung der Augen sah der große Mystiker in dem alltäglichsten Gegenstand das Wahr-haft-Göttliche.

Das bedeutsame Wort, das der blinde Großvater spricht in dem Drama, das wir heute sehen werden, ist tief aus dem religiösen Wesen von Maeterlincks Seele heraufgeholt. Der Blinde wird sehen, weil ihn die Sinne nicht hindern, in das Geheimnisvolle der Natur zu schauen: dies spricht der Dichter aus. Wo die andern, die mit dem blinden Großvater um den Tisch herumsitzen, einen leisen Wink, einen einfachen Nachtigallenschlag, ein Klingen der Sensen, ein Fallen der Blätter wahrnehmen, da offenbart sich dem, dessen Auge geschlossen ist, die geheimnisvolle Macht des Todes, der sich heranschleicht, die Tochter zu holen. Den Sehenden ruft der Blinde zu: Ihr seid blind, wenn ihr den ungebetenen Gast nicht wahrnehmt, der langsam in unser Haus kommt. Er, der nicht mehr sieht, und das Kind, dessen Sinne sich der Welt noch nicht erschlossen haben: sie nehmen wahr, was die Sehenden und die Verständigen nicht erkennen. In dem Augenblicke, da die Mutter stirbt, schreit das Kind, dessen Geburt ihr den Tod ge­bracht hat, zum ersten Male.

Wer Maeterlinck verstehen will, muß imstande sein, der Nüch­ternheit der Sinne und des Verstandes für kurze Zeit zu entsagen. Mit der Vernunft ist hier nichts zu begreifen. Und das gewohnte Kunsturteil muß zum Schweigen gebracht werden. Alles beruht darauf, das große Unbekannte in der Natur mitzufühlen und sich

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zu sagen, daß ein Prophet hier Göttliches verkünden, nicht Dra­matisches im gewöhnlichen Sinne entfalten will.

Was Maeterlinck nicht sagt, sondern nur ahnen läßt, - das ist, was er eigentlich sagen will.

Er will - nach seinem eigenen Geständnis - eine ganz andere Psychologie auferwecken, als die gewöhnliche ist. Diese gewöhn­liche Psychologie hat seiner Meinung nach sich des schönen Na­mens der Seele bemächtigt für Bestrebungen, die sich nur um jene Seelenerscheinungen kümmern, die eng mit der Materie zu­sammenhängen. Um einen Grad höher rücken will Maeterlinck die Menschen. Wenn ehemals die Rede war von all den geheim­nisvollen Dingen, von Ahnungen, von dem verräterischen Ein-druck, den die erste Begegnung eines Menschen auf uns macht, von einem Entschlusse, der von einer unbekannten, instinktiven Seite der menschlichen Natur getroffen wird, von unerklärlichen und doch vorhandenen Sympathien und Antipathien zwischen Menschen, so ging man leicht an diesen Erscheinungen vorüber, nur selten erweckten sie die Teilnahme ernster Geister. Man hatte keine Ahnung davon, mit welch unermeßlicher Kraft sie auf dem Leben lasten. Man hatte nur Interesse für das Wechselspiel der sichtbaren, pumpen Leidenschaften und äußeren Ereignisse.

Wer dieses gewohnte Spiel der plumpen Leidenschaften und der äußeren Ereignisse sucht, die in die groben Sinne fallen, wird bei Maeterlinck unbefriedigt bleiben.

Wem Maeterlinck das innere Auge zu öffnen vermag, mit dem er selber sieht, der wird in ihm die tief religiöse Persönlichkeit finden, die uns auf ihre Art die ewigen Mächte in der Welt ver­künden will.

«DER UNGEBETENE» (L'INTRUSE)

#G029-1960-SE254 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER UNGEBETENE» (L'INTRUSE)

Drama von Maurice Maeterlinck. Deutsch von O. E. Hartleben

Zweite Aufführung der Berliner Dramatischen Gesellschaft

im Residenz-Theater, Berlin

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Die Charakteristik Maeterlincks, die ich in einer der Auffüh­rung des Eine Inhaltsangabe des Stückes habe ich nicht nötig zu geben, weil es in Otto Erich Hartlebens ausgezeichneter Übersetzung in Nr.2 dieser Zeitschrift erschienen ist. Diese Übersetzung ist eine meisterhafte. Im Französischen wirken die einfachen, alltäglichen Sätze Maeterlincks dadurch, daß sie Großes künden wie etwas Selbstverständliches. Einfache deutsche Wendungen mußten ge­funden werden, die eine gleiche Wirkung tun. Das ist Hartleben gelungen.

Von der Bühne herab wird das Drama nur wirken, wenn es gelingt, die religiöse Stimmung, die von ihm ausströmt, zu erzeu­gen. Wenn ich meinen Wahrnehmungen trauen darf, so war dies am letzten Sonntag bis zu einem hohen Grade der Fall.

Otto Erich Hartleben hat mit hingebungsvollem Eifer sich der Einstudierung des Dramas gewidmet. Ich war auf fast allen Pro­ben Zeuge der Mühe, die er sich gegeben hat, um eine würdige Aufführung herbeizuführen. Auch die Tätigkeit Gustav Rickelts, des Regisseurs des Residenz:-Theaters, konnte ich beobachten. Mit feinem Verständnis ging er auf den Charakter des Stückes ein und suchte ihn in der Darstellung zur Geltung zu bringen.

Wenn ich von der Darstellung spreche, so muß ich vor allen Dingen Hans Pagays gedenken. Er spielte den blinden Großvater.

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Meiner Meinung nach hat er den sehenden Blinden mit der Feier­lichkeit hingestellt, die diesem Charakter eigen ist. An wichtigen Stellen hat er den Ton getroffen, der hier mehr tun muß als der Laut des Wortes. An zweiter Stelle möchte ich Josephine Sorger nennen. Sie hat bereits in der ersten Vorstellung der Dramatischen Gesellschaft Interesse erregt. Die Lux in Felix Dörmanns «Ledi­gen Leuten» gab sie mit derjenigen Vollendung, die man nur bei Darstellem antrifft, von denen man sagt, daß sie «Bühnenblut» haben. Diesmal spielte sie die eine der Schwestern, die mit dem blinden Großvater um den Tisch herumsitzen, Ursula. Wenn ich das Talent der Josephine Sorger mit einem Worte bezeichnen soll, so scheint mir das Bezeichnendste zu sein: sympathisch. Es liegt viel Seele in ihrer Stimme. Und diese Seele wirkte bei ihrer Darstellung der Ursula in stimmungsvoller Weise. Den Vater und Onkel stellten Gustav Rickelt und Eugen Heiske dar. Sie gaben sich unendliche Mühe. Es ist aber nicht leicht, den Ton zu fin­den, in dem die alltäglichen Persönlichkeiten in dem stimmungs­schweren Stücke sprechen müssen.

Die schwüle Stimmung, die in dem Stücke zum Ausdruck kommt, war herausgearbeitet, wie es mit den zu Gebote stehen­den Mitteln nur möglich war. Man müßte einmal mit dem modernsten, vollendersten Theaterapparat an die Sache herantre­ten. Die geheimnisvollen Schritte des heranschleichenden Todes, der näher und näher kommt, könnten dann wirken als Andeutung der tiefen Empfindungen, die der Mensch in den Feierstunden der Seele hat, in denen sie sich versenkt in das, was nie geworden ist und nie vergeht, in denen Zeit und Raum verschwinden und das Weben in dem Unvergänglichen beseligendes Dasein gewinnt.

«BALKON»

#G029-1960-SE256 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«BALKON»

Drama von Gunnar Heiberg

Aufführung der Berliner Dramatischen Gesellschaft

im Residenz-Theater, Berlin

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An den «Ungebetenen> schloß sich Gunnar Heibergs «Balkon». Zu diesem Dichter habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Als ich vor zehn Jahren in Wien seinen «König Midas» sah, war ich halb verrückt. Ich kam aus dem Theater mit einer unbegrenzten Heiberg-Schwärmerei. Ich konnte nicht nach Hause gehen, ganz begeistert setzte ich mich in das nächste Gasthaus, ließ mir Tinte und Feder geben und stammelte Worte auf das Papier. - «Das Wetterleuchten einer neuen Zeit» schrieb ich darüber. Ich gab sie einem Freunde, der eine Zeitschrift redigierte - so eine, die hun­dert Leute, das heißt niemand, lasen. Da erschienen sie. Dann ging ich zu meinen Freunden, lauter verständigen Leuten. Da müßt ihr hineingehen, sagte ich ihnen. Sie gingen hinein und - lachten mich aus. Wie einen Kindskopf behandelten sie mich.

Ich bin seither älter geworden. Aber das höhnische Lachen, das am letzten Sonntag fortwährend zu hören war, während der «Bal­kon> gespielt wurde, hatte doch etwas Verletzendes für mich. Für mich ist Heiberg ein Dichter, dem ich um seiner Tugenden willen seine Laster vergebe.

Da ist Julie, das Weib, das genial lieben kann und geliebt sein will, und das durch die Aufrichtigkeit seines Liebebedürfnisses zur Zynikerin wird in dem Sinne, wie Nietzsche den Zynismus verstanden wissen will. Mit Reßmann, dem Ekel, ist sie vermählt. Mit Abel, dem Gelehrten, der Menschheit dienenden Schwärmer, betrügt sie den alten Ekel, den Reßmann. Als dieser sie mit ihrem Liebhaber überrascht, stellt sie Abel vor als Käufer des Hauses, das sie mit Reßmann zusammen besitzt. Zu den Einrichtungen dieses Hauses gehört auch der Balkon, der einen Sprung hat. Reßmann will dem Käufer alle Einzelheiten des Hauses vorfüh­ren. Er trampelt auf dem zersprungenen Balkon herusn, um eine Vorstellung von dessen Festigkeit zu erwecken. Dabei stürzt der

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Balkon ein, und der Ekel zerspaltet sich den Schädel. Das Liebes-paar ist den widerlichen Ehemann los. Julie und Abel danken mit gefalteten Händen dem Schöpfer für ihre Freiheit. Das ist viel­leicht roh - wenn man durchaus nur Wahrheiten für die Gut­gesinnten wünscht. Warum hat sie denn diesen Reßmann gehei­ratet, wenn sie ihn so verabscheut? - fragen die Gutgesinnten. Sie haben ja vielleicht recht. Aber die Rechte sind billig wie die Brombeeren.

Abel ist ein Gelehrter. Er wirkt für die Menschheit. Ihr hält er Vorträge, auf daß sie vollkommen werde. Dabei erkaltet das Ver­hältnis zu der liebedurstigen Julie. Zwar ist sie glücklich mit ihm. Aber nur so lange, bis der Mann kommt, dessen Leidenschaft sie überwältigt. Der sich die Kraft des Leibes noch erhalten hat neben der Geistigkeit. Mit ihm betrügt sie den zweiten. Und dieser benimmt sich als betrogener Philosoph tadellos. Er ergibt sich in sein Schicksal. Was ist die Tatsache, daß er das Herz des gelieb­ten Weibes verloren hat, gegen die andere, daß wir alle einmal sterben müssen - das heißt uns trennen, nicht nur von einem geliebten Weibe, sondern von allen Freuden des Daseins.

Kluge Menschen haben herausgefunden, das Drama sei eine Satire auf die Liebe, und noch andere Kluge meinen, es sei eine Parodie auf Ibsens und Björnsons dramatische Art. Meinetwegen mögen diese recht haben. Ich sehe in dem Stücke ein Stück Leben, das sich zwischen Menschen abspielt, die ihren Herzen folgen. Die nicht mehr Komödie spielen, als dieses unvollkommene Leben einmal braucht, aber dieses notwendige Srück auch mit allem Zynis­mus, ohne den es nicht abgeht.

Hans Pagay hat den Reßmann, den Ekel, zu guter Wirkung gebracht. Auf den Proben wollte er durchaus nicht glauben, daß er sich deswegen den Kopf zerschellt, weil er dem Häuserkäufer den Balkon so fest als möglich darstellen will. Durch sein Spiel scheint er diese Meinung auch dem Publikum suggeriert zu haben.

Das zynisch-aufrichtige Weib gab Mila Steinheil mit allem Raf­finement, das diese Rolle erfordert. Ich glaube, man wird von dieser Darstellerin noch viel sprechen. Eine schauspielerische Kraft ruht in ihr, deren Grenzen man vorderhand noch gar nicht ahnen

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kann. In die Rolle der Julie hat sie sich hineingefunden, so daß man ihr das Seltenste glaubte. Am Sonntag kam gar nicht alles heraus. Wie sollten die Künstler nicht befangen werden, wenn man da unten im Parkett unausgesetzt lachte! Aber bei der Gene­ralprobe, da waren wir alle ernst, ganz friedlich gestimmt: da spielte sie uns eine Julie, die wir nie vergessen werden.

Den Antonio, den dritten, mit dem die Julie den zweiten, den Abel betrügt, spielte Willy Froböse. Man kann sich denken, daß ein anderer, dessen Individualität diese Rolle besser angepaßt ist, sie besser zur Geltung bringt. Aber Froböse hat geleistet, was immerhin anerkennenswert ist. Daß die Lachmuskeln des Publi­kums bei seinem Auftreten bis auf den höchsten Grad gereizt waren, beeinträchtigte ihn. Hermann Böttcher gab den Abel. Ich glaube nicht, daß er der Rolle gerecht wurde. Sie liegt ihm nicht.

Weder die Mühe, die sich Otto Erich Hartleben, noch diejenige, die sich Gustav Rickelt bei der Vorbereitung gegeben hatten, fanden den Lohn, der ihnen gebührt. Im Lachen ging alles unter.

Man saß tagelang und bereitete ernst ein ernstes Stück vor, und in Wirklichkeit hatte man - eine Ulkstimmung präpariert.

«JOHANNES»

#G029-1960-SE258 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JOHANNES»

Trauerspiel von Hermann Sudermann

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Gestern ging im Deutschen Theater das Stück in Szene, für das die Berliner Behörde eine so unfreiwillige Reklame gemacht hat: Sudermanns «Johannes». Nicht oft wird ein Theaterereignis mit solcher Neugier erwartet wie die gestrige Aufführung. Ich möchte nach dem ersten Eindrucke mit meinem Urteile über das Drama zurückhaltend sein. Zumal die ganze Aufführung unter dem Ein­flusse einer Indispesition des Hauptdarstellers (Josef Kainz als

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Johannes) litt. Nur soviel scheint mir sicher: die gewaltige, sichere Beherrschung alles auf der Bühne Wirksamen, die wir bei Suder­mann stets bewunderten, zeigt sich auch in diesem Stücke. Aber die Handlung bleibt im Theatralischen, im äußerlich Kulissen­haften stecken; das Dramatische im höheren Sinne des Wortes fehlt. Eine dramatische Verkettung und Entwickelung der Dinge ist gar nicht vorhanden. Ich werde in der nächsten Nummer, wenn ich das Stück gelesen und noch einmal gesehen haben werde, auf dasselbe zurückkommen. Denn ich möchte durchaus nicht un­gerecht gegen diese neueste Leistung Sudermanns sein.

*

Die Geschichte Johannes des Täufers ist das Vorspiel zu dem gewaltigen Drama, das sich im Leben des Stifters der christlichen Religion darstellt. Kein anderes Interesse haben wir für die Per­sönlichkeit des Täufers als das für den unreifen Verkünder dessen, der da kommen sollte. «Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen>, so sprach Johannes zu den Juden. Was dieses Himmelreich bringen sollte, das wußte er nicht. Nie war er mehr als «die Stimme eines Predigers in der Wüste», der dem Herrn den Weg bereitet und «machet richtig seine Steige>. Ein Werk­zeug war er der Hand Gottes, dessen Klnder vorzubereiten für den Lehrer der Liebe. Er verstand noch nichts von dem Sinne des Erlösers. Daß denen verziehen werden muß, die in Schuld wandeln, weil die Liebe mächtiger ist als der Zorn, davon konnte er sich keine Vorstellung machen. Er sah nicht voraus, daß Jesus werde die Sünder retten wollen, er glaubte: «Es ist schon die Axt gelegt den Bäumen an die Wurzel. Darum, welcher Baum nicht gute Früchte bringet, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.> Von Jesus dachte er: «Er hat seine Wurfschaufel in seiner Hand, er wird die Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer.> So stellte sich ein jüdischer Rabbi den Erlöser vor.

Der Mann, der stammelnd verkündet, was ihm eine dunkle Ahnung in falschem Lichte zeigt, ist keine tragische Persönlich­keit. Daß Gottes Ziele weise sind und daß sich der Schöpfer der

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Welt seiner Kinder als Wegweiser bedient auch da, wo sie nicht wissen, welche Wege sie wandeln, das ist der Sinn der Johannes­Legende. Neben diesem Sinn verblaßt alles, was uns noch von Johannes erzählt wird. Daß der Täufer durch den Zorn der Hero-dias den Tod fand, ist ein Zug der Legende, den wir entbehren könnten. Wie ein Zufall erscheint dieser Tod. Er hat keinen Zu­sammenhang mit dem, was uns an der Johannesgestalt interessiert.

Huß ist eine Gestalt, die sich zur Tragödie eignet, nicht Johan­nes. Tragisch wirkt der Vorläufer eines Reformators nur, wenn er zu früh kommt und zugrunde geht, weil die Zeit für seine Ziele noch nicht reif ist. Johannes aber ist selbst unreif für die Ziele, denen er dient. Er ist deshalb eigentlich eine uninteressante Per­sönlichkeit. Als Mensch ist er uns ganz gleichgültig.

Es wäre aber möglich, aus Johannes eine Gestalt zu machen, die unser Interesse erregt. Wer das will, muß die Persönlichkeit, von der Legende und Geschichte sprechen, vollständig umgestalten. Er muß uns einen Johannes vorführen, der nicht redet von dem, der da kommen soll, sondern der glaubt, die frohe Botschaft schon zu besitzen; der durchdrungen ist von seiner Sendung als Messias. Mit dem Bewußtsein, daß er erfüllt, was die Zeit erwartet, muß ein solcher Johannes ausgestattet sein. Und dann muß ihm der größere, der wahre Erfüller entgegentreten. Johannes müßte nun sehen, daß er ein Irrender war. An der Selbsterkenntnis müßte dieser Johannes zugrunde gehen. An dem Bewußtsein seiner Un­reife. Wir würden dann gerecht sein gegen ihn, der gegen sich selbst ungerecht ist, weil er nur ein Vorläufer, kein Erfüller ist. Daß nicht gleich reife Früchte vom Baume fallen, würden wir uns sagen.

Einen solchen Johannes hat Sudermann nicht gezeichnet. Er hat im wesentlichen die bekannte Johannesgestalt dramatisiert. Die notwendige Folge ist, daß sein Johannes eine Reihe von Episoden aus der Zeit des jüdischen Volkes darstellt, die dem Auftreten des Messias vorausgeht. Aufeinanderfolgende Vorgänge spielen sich ab, in deren Verlaufe der Rabbi Johannes immer wieder erscheint. Diese Vorgänge sind mit der großen Kunst dargestellt, die wir an Sudermann längst schätzen gelernt haben. Was wir aber nach

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der ganzen Anlage des Dramas erwarten müssen, das fehlt. Wir können uns für den Johannes dieses Dramas nicht mehr als für den legendenhaften Johannes interessieren. Er kommt, redet, geht ab, kommt wieder, schlägt als sittenstrenger Mann die lüsternen Werbungen der Salome aus, wird zuletzt enthauptet. Das alles geschieht neben vielem anderen. Ein notwendiger Zusammenhang zwischen diesem andern und dem Johannes ist nicht vorhanden. Es ist in der Figur des Täufers nichts, das von dem einen Vorgang zu dem andern hindrängte. Von einer dramatischen Spannung ist nichts vorhanden.

Alle Personen, denen Johannes begegnet, sind interessanter als dieser selbst.

Herodias, die Sünderin, die ihrem Manne davongelaufen ist, um sich mit dessen Bruder, dem Herodes, zu vermählen, ist mit der vollendetsten Meisterschaft gezeichnet. Weil sie herrschen will, ist sie dem ohnmächtigen Philippus entflohen. Schwach und klein­mütig ist Herodes, aber er ist an einem Platze, der seinem Weibe gestattet, ihre Herrschernatur zu entwickeln. Eine feine Charakteri­stik ist in den Worten gegeben, die das zynisch-stolze Weib dem Herodes ins Antlitz schleudert: «Hältst du mich für eine, die ein tägliches Abendopfer an Liebkosungen sich erbetteln kommt? Schau mich an! Nicht die Geliebte, die ist nicht mehr . . . Deine Herrin schau an.» Und in den andern:

Ein kleines Wunder der dramatischen Individualisierungskunst ist Salome, die Tochter der Herodias. Ihr ist alles gleich, was Jo­hannes predigt, sie verliebt sich in den Mann. Sie wirbt um ihn mit aller Kraft erwachender Leidenschaft. Und als er ihre Werbung ausschlägt, schlägt ihre Liebe in wüsten Haß um, so daß sie gerne den Willen der Mutter, den Täufer zu verderben, zu ihrem eigenen macht.

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Auch Herodes selbst, in seiner «feigen Schwäche>, ist vorzüg­lich charakterisiert. Nicht minder die einzelnen Typen des jüdi-schen Volkes. Mir ist Josaphat, der Schuster, der sein Weib und seine Kinder hungern läßt, um dem Johannes zu folgen, eine in­teressantere Persönlichkeit als der Täufer selbst. Mit wenigen Stri­chen sind in Eliakim, dem Wollenhändler, der stets im Gesetz liest, und in Pasur, dem Fruchthändler, der bedauert, daß er bei dem elenden Passah so wenig verkauft, ausgezeichnete Charakter­köpfe hingestellt. «Wer mit Früchten und Gemüse handelt, Nach­bar, der hat es nicht so leicht, ein gerechter Mann zu sein vor dem Herrn. Deine Wolle hält es aus, bis der Herodes wieder weg ist samt seinem Weibe.»

Alles in diesem Drama, außer der Hauptgestalt, ist bedeutend und von großer Wirkung. Die Schwäche, mit der Johannes selbst gestaltet ist, lähmt alles.

Sudermann läßt den Johannes zwar aussprechen, wohin sein Leben führen müßte, wenn es dramatisch wirken sollte, gestaltet hat er ihn aber nicht im Sinne seiner Worte: «Wahrlich, die Zeit meines Niederganges ist gekommen, da die Feinde mein Lob sin­gen und die Freunde mich lästern. Was wollt ihr von mir? Mein Ende muß einsam sein und Schweigen darinnen.» Daß er ver­stummen muß, weil ein Größerer spricht, das müßte Johannes' tragisches Geschick sein.

*

Sudermanns «Johannes» ist an verschiedenen Orten Deutsch. lands aufgeführt worden. Ich habe die Kritiken und Mitteilungen über diese Aufführungen verfolgt. Es zeigt sich eine merkwürdige Tatsache. Die Aufnahme war an den verschiedenen Orten die denkbar verschiedenste. Es wäre nun interessant, die verschiedenen Stimmen zu sammeln. Ein schätzenswertes Material zu einer Stati­stik des Geschmacks könnte dadurch geliefert werden. Die «Drama­turgischen Blätter» sind der Ort, solches Material zu sammeln. Ich möchte deshalb hier an alle diejenigen, die in der Lage sind, zu einer solchen Materialsammlung etwas beizutragen, die Bitte rich­ten, dies zu tun. Die Angaben sollen dann an dieser Stelle ent­sprechend verarbeitet werden.

«DAS GROBE HEMD»

#G029-1960-SE263 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS GROBE HEMD»

Volksstück von C. Karlweis

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Schöllhöfer ist aus einem armen Teufel ein Geldprotz gewor­den. In seiner Jugend hat er sich mühsam durchgeschlagen. Dann hat er es zum Unternehmer gebracht, und zuletzt hat er sich mit einem hübschen Sürunchen zur Ruhe gesetzt. In seinen Augen sind nur diejenigen Leute vernünftig, die es machen wie er. Denn «Geld regiert die Welt>. Das ist seine Weltanschauung. Er hat einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hat die Ingenieurwissen­schaften studiert und Reisen gemacht. Er lebt als ein flotter, schmucker Lebemensch von dem Gelde seines Vaters. Das alles gefällt dem Alten. Denn warum sollte der Sohn des reichen Schöll­höfer sich etwas abgehen lassen? Man hat's ja. Auch ist es dem Vater nicht zuwider, daß der «Bua» eine Stellung sucht. Wenn er sich durchaus seine Kleider verdienen will, so mag er das tun. Der junge Mann hat aber noch andere Schrullen. Er ist Sozialist und verachtet in der Theorie das Blutgeld, das sein Vater den Arbeitern abgestohlen hat, trotzdem er in Wirklichkeit davon lebt. So etwas muß kuriert werden. Das geht leicht. Denn der alte Schöllhöfer hat dazu die nötige Bauernschlauheit, und der junge Schöllhöfer ist ein Schafskopf, der die plumpesten Bären, die man ihm aufbindet, glaubt. Der Alte behauptet also plötzlich, er hätte sein ganzes Geld verspekuliert und der «Bua> müsse jetzt den Vater und die Schwester von seines Kopfes Arbeit erhalten. Die Tochter, die früher ihre Zeit darauf verwendet hat, in den schönsten Kleidern und Hüten ein Faulenzerleben zu führen, fügt sich in die neue Lage. Sie fegt und scheuert das Haus, sie kocht auch. Aber mit dem Sohne will es nicht recht gehen. Er kann das «grobe Hemd» nicht vertragen. Er fängt erst wieder an zu leben, als der Vater ihm erklärt, daß das mit dem Geldverlust eine List war, um ihn zu kurieren.

Meiner Meinung nach ist der Stoff nur für eine Posse geeignet. Karlweis setzt lustspielartig ein und schließt possenhaft. Das zeugt

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von einem Mangel an Stilgefühl: Der Umschlag im Stil wirkt wie ein schlechter Scherz.

Ganz unerträglich ist die Gesinnung, die in dem Stücke zum Ausdruck kommt. Das verächtliche Banausentum siegt über eine, wenn auch irrige, doch schöne Regung. Mit ekelerregender Auf­dringlichkeit wird die Überlegenheit des alten Philisters niederster Sorte über den jungen Querkopf dargestellt. Ein voller Geldbeutel ist doch mehr wert als die edelsten Ideale. Die Welt wird in dem Stücke von dem Gesichtspunkte aus angesehen, von dem aus das erhebende Sprüchlein geprägt ist: «Das Geld hält Leib und Seele zusammen.»

Rudolf Tyrolt spielte als Gast des Lessing-Theaters den alten Geldprotz mit treffender Charakteristik.

«KOMÖDIE »

#G029-1960-SE264 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«KOMÖDIE »

Drama von Friedrich Elbogen

Aufführung im Neuen Theater, Berlin

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Ein paar schlimme Stunden bereitete das Neue Theater durch die Aufführung des öden Machwerkes «Komödie» von Friedrich Elbogen. Ein Major a. D. hat dreißig Jahre lang die Ehehälfte neben sich geduldet, die ihn nach zehnjähriger Gemeinschaft betrogen hatte. Er hat eine Ehekomodie aufgeführt, weil er es nicht zum Skandal kommen lassen wollte, bevor seine Tochter und seine Enkelin verheiratet sind. Die Sprößlinge geschiedener Eheleute heiratet man nicht. Er hat erreicht, was er wollte. Nunmehr kann er sich scheiden lassen. Da gelangt er durch Zufall an den Advo­katen, mit dem seine Enkelin seinen Schwiegerenkel betrogen hat. Dieser Rechtsmann soll die Scheidung einleiten. Wozu hat der gute Major dreißig Jahre lang Komödie gespielt. Er wollte der Enkelin eine glückliche Ehe schaffen. Nun hat sie diese selbst zer­stört. Daß er dreißig Jahre seinen Gram verbissen hat, ist umsonst. Ich glaube, was der Verfasser des Stückes zu dessen Empfehlung

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in den Berliner Zeitungen vor der Auf fühmng hat verkündigen lassen: daß der Vorgang ihm in seiner Rechtsanwaltspraxis begegnet ist. Aber Elbogen ist kein Dramatiker. Und deswegen hat er eine brutale Kulissengeschichte, aber kein Drama, nicht einmal ein anständiges Theaterstück zustande gebracht.

«DIE AHNFRAU»

#G029-1960-SE265 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE AHNFRAU»

Trauerspiel in fünf Akten von Franz Grillparzer

Aufführung im Schiller-Theater, Berlin

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In die bedingungslose Grillparzer-Schwärmerei habe ich nie ein­stimmen können. Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, warum mich die Figuren seiner Dramen kalt lassen, trotzdem sie mit einem so hohen Grade von dichterischer Kraft charakterisiert sind. Bei Goethes Iphigenie, Tasso, Gretchen habe ich die Empfindung, daß sich die tiefsten Elemente von Menschenseelen enthüllen, daß ich in verborgene Tiefen der menschlichen Natur blicke. Bei Grill­parzers Sappho, Medea, Phaon, Melitta, Ottokar bleibt mir das eigentlich Seelische in sich leblos, und seine Eigenschaften er­scheinen mir wie Kleidungsstücke, die der unsichtbar bleibenden Seele angezogen sind. Daß es solche Leidenschaft, solchen Schmerz, solche Würde und Entsagung gibt, wie sie mir an der Sappho entgegentreten, ist klar; das Herausquillen dieser Eigenschaften aus Sapphos Seele sehe ich nicht. Nur einmal ist es Grillparzer gelun­gen, zu zeigen, wie eine Seele mit all ihren Widersprüchen in ihrer wahren Natur beschaffen ist: an der Rahel in der «Jüdin von Toledo». In dieser Gestalt sehe ich nicht wie in der Sappho eine Summe, ein Aggregat menschlicher Eigenschaften zusammen-gefügt; ich sehe eine wirkliche Seele.

Neuerdings empfand ich alles das wieder, als ich der Auffüh­rung des Erstlingswerkes Grillparzers, der «Ahnfrau>, im Schiller-Theater beiwohnte. Durch diese Aufführung hat sich die Leitung des genannten Theaters ein Verdienst erworben. Das Drama ist

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für die Erkenntnis Grillparzers ganz besonders wichtig, und man hat es lange Zeit in Berlin nicht sehen können.

Ein starres, alle menschliche Kraft und Güte unter eine blinde, weisheitslose Notwendigkeit beugendes Schicksal ist die treibende Kraft der Vorgänge dieses Dramas. Die Glieder des Hauses der Borotin könnten Helden oder Heilige sein; ihr Wirken kann nicht segensvoll sein, denn die Ahnfrau hat sich vergangen, und ihre Sünde wirkt nach in ihrem ganzen Geschlechte. Ich glaube nicht, daß Grillparzer unehrlich war, als er das blinde Fatum zum Trei­benden seines Kunstwerkes machte. Nicht ein Experiment wollte er machen wie Schiller mit seiner «Braut von Messina». Er war eine schwache, willenlose Natur. Er hatte nicht die Kraft, zu sich zu sagen: sei dein eigener Herr. Er fühlt sich unter dem Drucke der Verhältnisse, über die er keine Macht hat. Nicht mutvoll setzt er sich ans Steuerruder des Lebens und segelt rücksichtslos vor­wärts; er läßt sich von den Wogen tragen, wohin sie ihn bringen. Ein solches Anhängigkeitsgefühl kann mit dichterischer Wahrheit durch die Schicksalsidee verkörpert werden. In seinen späteren Werken tritt diese Idee nicht mehr auf Aber es hat sich nicht ein Wandel in seinen Grundempfindungen vollzogen. Er hat sich nut dem allgemeinen modernen Bewußtsein untergeordnet, das' mit der Schicksalsidee nichts anfangen kann. Die modernere Weltauffassung ist nicht als seine eigene aus seinem Innern entsprun­gen; er hat sie über sich ergehen lassen. Ein großer Dichter wohnte in einer willensschwachen Persönlichkeit. Damit scheint mir das Phänomen Grillparzer charakterisiern

ÜBER EINE AUFFÜHRUNG VON IBSENS «BRAND»

#G029-1960-SE266 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ÜBER EINE AUFFÜHRUNG VON IBSENS «BRAND»

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Am 19. März hat uns das Berliner Schiller-Theater eine prächtige Aufführung des Ibsenschen «Brand» geboten. Der verdienstvolle Direktor dieses Institutes, Raphael Löwenfeld, dem sein Publi­kum leider nicht immer mit dem rechten Verständnisse folgt, hat zum ersten Male das nordische Faustdrama auf eine deutsche

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Bühne gebracht. Er hat seiner Aufführung die Übersetzung von Passarge zugrunde gelegt. Er hat sich bemüht, die Dichtung soweit zu kürzen, daß sie nicht zu einer Geduldsprobe des Publikums wird. Unverkürzt würde sie sechs Stunden spielen. Wir brauchten gestern nur dreieinhalb im Theater zu sitzen. Nichts, was zum Verständnisse des Ganzen gehört, fehlte. Die wundervoll-reizende, die anziehend-ärgerliche Hauptfigur des «Brand» stand vor uns. Man konnte die Vergeblichkeit des Ringens eines Menschen füh­len, der «alles oder nichts» will.

Ich möchte dabei des Darstellers der Brand-Rolle gedenken. Es ist offenbar für Eduard von Winterstein der gestrige Abend ein Ehrenabend gewesen. Ich kann nicht sagen, daß er mich befriedigt hat. Dennoch möchte ich ihn loben. Wenn er sich doch entschlies­sen könnte, die treffliche Charakteristik, die er mehr in die Körper-bewegungen verlegte, in das Sprechen selbst aufzunehmen! Er sprach mit Feuer, aber mit zu gleichmäßigem Feuer. Auch das lebhafte Pathos wird monoton, wenn die Modulation fehlt.

«DIE EULE»

#G029-1960-SE267 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE EULE»

Drama in einem Akte von Gabriel Finne

«LUMPENBAGASCH »

Schauspiel von Paul Ernst

Aufführung der Berliner Dramatischen Gesellschaft

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Seltene, rätselvolle Seelenstimmungen mit kühnen Strichen er-greifend zu zeichnen, ist Gabriel Finnes Art, dessen Einakter «Die Eule» am 27. März durch die Dramatische Gesellschaft zur Auf-führung gelangt ist. Die Handlung ist einfach, fast alltäglich. Ein Mann hat die Frau seines Freundes verführt und dadurch dessen Glück zerstört. Auch in seinem eigenen Heim hat der Ehebrecher Unheil angerichtet. Denn seiner liehenswürdigen, netten Frau liegt der Seitensprung des Gatten schwer auf der Seele. Passierte eine

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solche Geschichte gewöhtilichen Alltagsmenschen, so könnte sie wenig interessieren. Aber hier ist der Verführer eine Natur, deren Erlebnisse sich in die schrecklichsten Seelenwirrnisse umsetzen. In böse Geister verwandeln sich die Erinnerungen an begangene Sünden in seiner Wahnphantasie. Die Halluzinationen eines an seiner Schuld schwer leidenden Mannes werden dramatisch-gegen-ständlich.

Im ersten Teil seines Dramas bereitet uns Finne in dramatischen Gesprächen, die voll der feinsten Farbennuancen sind, auf das Ende vor. Die Wahnvorstellung des betrogenen Freundes erscheint als Verfolger des Sünders in leibhaftiger Gestalt. Die geheimnis­vollen Eulenrufe in den einsamen Fjordgegenden haben ihrn ins Gewissen geredet und sich in die rächende Stimme des Freundes verwandelt, der vor ihn hintritt und nicht eher ruhen will, bis der Verbrecher an der Freundschaft seinem fluchbeladenen Dasein selbst das Ende bereitet hat.

Die meisterhaft inszenierte Vorstellung hat einen tiefen Ein­druck auf die Zuschauer machen müssen. Eduard von Winterstein hat den sich selbst zutode quälenden Sünder mit der ganzen Kraft seiner wirkungsvollen Kunst und Elise Steinert in ihrer feinsinni­gen, oft allerdings ausgeklügelten Art dessen Gemahlin vorzüglich dargestellt.

Nicht weniger interessant war das kleine Drama, die «Lumpen­bagasch» von Paul Ernst, das sich an die «Eule> anschloß. Lumpen-milieu, Lumpengesinnung, Lumpenschicksal kann man nicht leicht naturalistischer auf die Bühne bringen, als es Ernst getan hat. Luise Kramer ist ein liebenswürdiges, naives, ihrer Natur folgendes Dorfkind, das eben deswegen alle Augenblicke ein uneheliches Kind in die Welt setzt. Der Dorfschulze ist ein auf das Wohl sei­ner Gemeinde bedachter Mensch. Warum soll er nicht die arme Kramer an den versoffenen Lumpen Arendt verkuppeln, der froh sein kann, wenn ihm die Gemeinde zwanzig Taler dafür schenkt, daß er die fünffache Mutter in sein im Armenhause gelegenes Heim, bestehend in einem Sorgenstuhl, führt. Doch die zwanzig Taler der Nachbarstadt zufließen zu lassen, in der Arendt lebt: so dumm ist der wackere Dorfschulze nicht. Für genannte Taler

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soll der Dorfschneider dem Bräutigam einen feinen Hochzeits-anzug zurechtmachen, auf daß das Geld in der Gemeinde ver­bleibe. Unter solchen Verhältnissen erscheint es dem Brautpaar allerdings besser, ohne den Segen des Dorfschulzen weiter für die Fortpflanzung der Menschheit zu sorgen.

Als vortrefflicher Charakteristiker zeigte sich Paul Ernst. Die kinderreiche Dorfarme, der Alkoholist Arendt, der im Jahre 1870 redlich seine kriegerischen Pflichten erfüllt hat, der Dorfschulze und der für den Hochzeitsschmuck sorgende Schneider sind in jedem Zuge sicher hingezeichnet. Emma Sydow als Dorfarme, Max Reinhardt als Schulze, Seldeneck als Stadtarmer, Säufer und Zwangsbräutigam leisteten Nennenswertes.

«GERTRUD»

#G029-1960-SE269 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«GERTRUD»

Drama von Johannes Schlaf

Aufführung der Berliner Dramatischen Gesellschaft

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Es war eine schöne und bedeutende Aufgabe, die sich die Ber­liner Dramatische Gesellschaft durch die Aufführung des neuen Dramas von Johannes Schlaf «Gertrud» gestellt hat. Die Kunst­richtung dieses Dichters kommt in diesem Werke am vollkom­mensten zum Ausdruck. Deshalb trägt es alle Vorzüge und Mängel dieser Richtung in ausgeprägtester Weise zur Schau. Ich werde in der nächsten Nummer von dem Drama und der Aufführung in ausführlicher Weise sprechen. Für heute sei nur die Tatsache er­wähnt, daß der Eindruck auf den größten Teil der Gesellschafts-mitglieder ein starker und günstiger war.

*

Nicht müde werden unsere modernen Literaturkritiker, jeden Tag aufs neue zu behaupten, daß der Naturalismus überwunden ist. Und diejenigen, die noch vor kurzer Zeit ihn als das allein heilbringende Evangelium der Gegenwart priesen, singen ihm jetzt

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stündlich ein Grablied. Gerhart Hauptmann schlägt andere Bahnen ein, nachdem er im «Florian Geyer» der naturalistischen Richtung ein durch die Reinheit, mit der das Prinzip in die Wirklichkeit umgesetzt ist, bewundernswertes Werk geschaffen hat. Der eigent­liche Prophet der Richtung, der Meister des erfolgreichen Schülers Gerhart aber ist als Dramatiker der alten Fahne treu geblieben. Das hat er mit seiner jüngsten Schöpfung «Gertrud» bewiesen. Eine reife Frucht des Naturalismus ist diese dramatische Dichtung -vielleicht die reifste, die wir besitzen. Alle Vorzüge und alle Mängel dieser Richtung sind in ihr auf das schärfste ausgeprägt. Ein getreues Abbild des Lebens - das fordert der Naturalismus -soll das Drama sein. Nichts sollen die dramatischen Figuren spre­chen und tun, was die wirklichen Personen in der Zeit, in der das Drama spielt, nicht auch tun und sprechen würden. Anderthalb Stunden spielt die «Gertrud». Kein Wort, keine Handlung nimmt man wahr, die nicht in dem «geräumigen Zimmer» im Seebad auf Rügen, das durch die Bühne dargestellt wird, auch gehört und gesehen würden, wenn man, durch die Wände sehend, in das wirk­liche Zimmer blicken könnte. Die tiefsten Seelenkonflikte spielen sich im Innern der Personen ab, während sie sprechen und han­deln. Nur eine schwache Hindeutung auf diese Konflikte sind die Handlungen und die gesprochenen Worte. So ist es auch im wirk­lichen Leben. Was erfahren wir von eines Menschen Eigenart, wenn wir seinem Treiben durch anderthalb Stunden zusehen? Wenig oder gar nichts. Deshalb haben die Dramatiker stets der unmittelbaren Naturwahrheit Opfer gebracht. Sie haben in kurze Zeit zusammengezogen, was in Wirklichkeit weit auseinanderliegt. Sie lassen die Personen in wenigen Stunden aussprechen und tun, was sie in Wahrheit in langen Zeitläuften sprechen und tun. Sie wollen uns die Wahrheit eines Ganzen geben und opfern deshalb die Wahrheit des Einzelnen. Es ist wahr, daß in jedem Worte, in jeder Handlung sich der ganze Mensch ausprägt. Wenn man die ganze Persönlichkeit erkannt hat, wird man sie in jeder einzelnen Lebensäußerung wiederfinden. Aber es ist nicht minder wahr, daß wir nicht in jeder Lebensäußerung auch den ganzen Menschen erkennen, daß wir uns aus jeder Einzelheit nicht sein ganzes Wesen

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konstruieren können. Die Dramatiker der älteren Richtung ver­langen das nicht von uns. Sie legen uns ganze Menschen und ab­geschlossene Handlungen wie auf dem Präsentierteller hin. Johan­nes Schlaf macht es anders. Er stellt nur das Einzelne dar und laßt uns das Ganze erraten. Er stellt an unser Auffassungsvermögen höhere Ansprüche als andere Dramatiker. Wir müssen alles Tiefere, das dem Drama zugrunde liegt, ahnen. Wie wir es in der Wirk­lichkeit ahnen müssen, wenn wir nicht durch lange Zeiträume Menschen und Vorgänge beobachten. Eine Art Seherblick wird uns zugemutet. Wie das Leben selbst nur eine Hindeutung auf seine Quellen ist, so auch ein Drama von Johannes Schlaf. Man kann sagen: das beruhe auf einer Verkennung des Wesens der Kunst. Denn diese solle im äußeren Bilde darstellen, was sich in Wirklichkeit nur dem durch die äußere Schale durchblickenden Geist offenbart. Ich möchte diesen Standpunkt nicht bekämpfen. Wer nur Kunst sehen will, die sich auf diesen Standpunkt stellt, mag Johannes Schlaf ablehnen. Ich vermag das nicht. Für mich ist es von höchstem Interesse, zu sehen, wie ein Künstler, der sich nicht zum Gestalter, wohl aber zum treuen Nachgestalter macht, ein Stück Wirklichkeit wiedergibt. Und diese Treue ist von un­säglicher Vollkommenheit.

In anderthalb Stunden kann sich keine inhaltreiche Tragödie abspielen. Aber eine Handlung kann sich abspielen, die einen un­endlich tragischen Hintergrund hat. Und das ist hier der Fall. Eine Frau mit einer unklaren Sehnsucht nach einem Etwas, das sie selbst nicht kennt, mit Bedürfnissen, die ihr unklar sind, ist an einen selbstgefälligen, braven Philister verheiratet, der keine Sehnsucht, sondern nur Zufriedenheit mit seinem spießbürgerlichen Leben kennt und der keine Bedürfnisse kennt, welche die gewöhnlichste Alltäglichkeit nicht befriedigen könnte. Die nervöse Hast und Un­ruhe der Frau ist das notwendige psychologisch-pathologische Er­gebnis ihrer nicht befriedigten Lebenssehnsucht. Niemand aus ihrer Umgebung versteht die Frau. Die gewöhnliche Meinung, die man von ihresgleichen hat, wird in dem Drama durch den Onkel Lorenz personifiziert, einen Spießbürger, der sich von dem Manne der Gertrud nur so unterscheidet, wie sich ältere und dickere Men­schen

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in der Regel von jüngeren und mageren unterscheiden. Da tritt in Albrecht Holm eine Ausnahrnenatur der Gertrud gegen­über. Ein Mensch, der die europäische Kultur einst in sich auf­genommen hat, der aber nachher im fernen Westen in einfachen, natürlichen Verhältnissen sich zum freien, ganz auf sich gestellten Menschen ausgebildet hat. Er erträgt Europa nicht, weil es in sei­nen komplizierten sozialen Verhältnissen den Menschen tausend­fach abhängig, unfrei macht. Er hat gefunden, wonach Gertrud nur eine unklare Sehnsucht hat: völlige Freiheit und Losgelöstheit von drückenden Verhältnissen. Sein Anblick wirkt unendlich nie­derschmetternd auf sie; sie bittet ihn, fortzugehen, damit er ihr nicht stündlich ein Glück vor Augen stelle, das sie entbehren muß. Er geht, und sie lebt mit ihrem Philister weiter. Das ist kein Drama, aber ein tragischer Konflikt. Ein wirklicher Dramatiker hätte alles aus diesem Konflikt gesogen, was sich aus ihm saugen läßt. Johannes Schlaf ist dazu ein zu keuscher Künstler. Er stellt den Konflikt hin, zart und mit jenem Verzicht auf geräuschvolle Konsequenzen, die auch die Natur in der Mehrzahl der Fälle nicht liebt.

Schwere Aufgaben sind den darstellenden Künstlern mit diesem Drama geworden. Sie haben sie gelöst in dankenswerter Weise, wie es unter den gegebenen Verhältnissen möglich war. Eduard von Winterstein, der der Dramatischen Gesellschaft so bereitwillig wiederholt seine Kräfte zur Verfügung stellte, spielte den schweig­samen Holm mit jener Zurückhaltung, die man vom Darsteller des Mannes verlangen muß, der ein weiches Innere in einer rauhen, wenig inhaltvollen äußeren Persönlichkeit verbirgt. Und Marie Frauendorfer suchte das unklare, in Wort und Gebärde so schwer zu fassende Wesen der Gertrud mit allen Mitteln ihres reichen Könnens verständlich zu machen. Es ist ihr in hohem Grade ge­lungen.

«MADONNA DIANORA»

#G029-1960-SE273 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«MADONNA DIANORA»

Eine Szene von Hugo von Hofmannsthal

Aufführung der Freien Bühne, Berlin

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Daß die Planeten im Himmelsraume durch ihre Bewegungen eine wunderbare Harmonie erklingen lassen, die man nicht hört, weil man an sie gewöhnt ist, glaubte der weise Pythagoras. Man denke sich das Ohr plötzlich erschlossen dieser Musik! Wie würde uns die Welt anders erscheinen! Was würde in unserer Seele vor-gehen, wenn der Klang der Planeten auf sie wirkte! Zu solchen Gedanken kommt man, wenn man der Kunst Hugo von Hof­mannsthals gegenübersteht. Er läßt aus den Dingen Harmonien herausertönen, die uns überraschen, wie wenn plötzlich die Pla­neten zusammerk:lingen würden. Mit einer unendlich zarten Seele, mit fein organisierten Sinnen scheint er mir begabt; und was er uns von der Welt erzählt, entgeht uns zumeist, weil die Gewohn­heit es uns nicht vernehmen läßt. Die gröberen Verhältnisse der Welt achtet Hofmannsthal nicht; die feineren Dinge werden des­halb seinem Geiste offenbar. Die hervorstechenden Züge in den Erscheinungen, die den Menschen im gewöhnlichen Leben be­schäftigen, läßt er zurücktreten; die geheime Schönheit aber, die sonst zurücktritt, arbeitet er heraus. Eine unendlich liebenswürdige Willkür liegt in seiner Weltbetrachtung. In der «Szene», von der hier die Rede ist, findet man wenig von groben, scharfen Linien, mit denen sonst die Dramatiker das Leben schildern. Madonna Dianora erwartet ihren Geliebten; der Mann tötet sie wegen ihrer Untreue. Arm und blaß ist diese Handlung. Doch, unter der Ober-fläche gleichsam, birgt sie eine Fülle von Schönheiten. Die Ober­fläche schneidet Hofmannsthal weg und zeigt das feinste Geäste innerer Schönheit. Seine Weise, die Dinge anzusehen, ist, wie wenn man einem Redner zuhören wollte und nicht auf den Sinn der Rede, nicht auf den Inhalt der Worte hörte, sondern nur auf den Klang der Stimme und auf die Musik, die in seiner Sprache liegt. Daß solche Art mit den Mitteln unserer Bühnenkunst nicht vollkommen zur Darstellung gebracht werden kann, ist verständlich.

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Die Aufführung der Freien Bühne war deshalb, trotz der Mühe, die sich Louise Durnont mit der Rolle der Madonna Dianora gegeben hat, wenig befriedigend.

«TOTE ZEIT»

#G029-1960-SE274 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«TOTE ZEIT»

Drama in drei Aufzügen von Ernst Hardt

Aufführung der Freien Bühne, Berlin

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Das dreiaktige Drama von Ernst Hardt, das auf Hofmannsthals «Szene> folgte, ist eine Jugendarbeit mit den schlimmsten Feh­lern einer solchen: Abhängigkeit von Vorbildern, Mangel an lebendigem Beobachtungssinn, Ungeschicklichkeit im Aufoau der Handlung. Ibsen, Hauptmann, Maeterlinck und viele andere hört man sprechen aus Hardts Sätzen. Mit vier einsamen Menschen haben wir es zu tun. Estella lebt neben ihrem Manne eine für ihr Seelenleben tote Zeit dahin, weil dieser seinen philosophischen Grübeleien nachgeht und sie verkümmern läßt. Eine andere Frau lebt noch im Hause: sie war einst mit dem Manne verlobt und ist jetzt «gewissermaßen mit beiden verheiratet». Sie erträgt es, in dem Hause zu leben, weil sie sieht, daß die Frau, die ihr den Ge­liebten genommen, nicht glücklich ist. Sie findet ihr Glück darin­nen, beiden Gatten eine Stütze zu sein. Von ihrem starken Willen geleitet, geht das Leben der Ein ernstes künstlerisches Streben gibt sich in dem Stücke kund. Aber man wird an keiner Stelle mitgerissen, die Menschen und die Konflikte sind gleichgültig. Sie sind nicht erlebt; sie sind er­lesen. Alles scheint aus zweiter Hand. Ein Dichter hat das Stück geschrieben, der das Leben vorläufig nur aus Büchern kennt.

«JOHANNA»

#G029-1960-SE275 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JOHANNA»

Schauspiel in drei Akten von Björn Björnson

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Björn Björnson ist wie sich aus seinem Schauspiel «Johanna» ergibt, eine komplizierte Persönlichkeit. Erstens ist er ein kluger Mann, in dem die Kraft, mit der wirkliche Dichter schaffen, nicht vorhanden ist. Deshalb hat er ein gutes Verständnis für ein interes­santes Problem das in der Luft liegt, aber er kann dieses Problem nicht so dramatisch ausgestalten, daß man ihm gerne folgt. Zwei­tens ist er ein Mann der sich auf Bühnenroutine versteht und der deshalb ein gutes «Theaterstuck» schreiben konnte wenn er diese Fähigkeit walten lassen wollte, aber er will zugleich ein vorneh mer Künstler sein Deshalb schwebt sein Stuck in der Mitte zwischen und Kunstwerk Drittens ist er ein Mann der Freigeist sein will der aber nur neue Vorurteile an die Stelle von alten zu setzen vermag. Deshalb malt er die Trager veralteter Meinungen so schwarz wie möglich. Und endlich viertens ist er der Träger eines berühmten Namens. Deshalb wird sein Stück auf Bühnen aufgeführt, die sich um dasselbe kaum gekümmert hätten, wenn es von einem gemeinen Müller herrührte.

Um das Problem ist mir leid. Johanna Sylow ist ein begabtes Mädchen, die es in der musikalischen Kunst wahrscheinlich weit bringen wird, wenn sie sich frei, ihren Anlagen gemäß, entwickeln kann. Ihr Vater ist tot. Er hat, trotzdem er ein einfacher Tischler-meister war, seltene Kunstliebe und einen musikalischen Sinn ge­habt. Beides hat er seiner Tochter vererbt. Dazu hat sie aber noch ein anderes Erbstück von ihm erhalten, nämlich einen Bräutigam. In seiner Sterbestunde hat sie ihm versprechen müssen, daß sie ihr Lebensglück in der Ehe mit dem Theologen otar Bergheim suchen werde denn der fursorgliche Vater war der Meinung, daß er ruhig sterben könne wenn er weiß, daß sein geliebtes Kind unter dem Schutze dieser treuen Seele stehen werde. Johanna lebt nun in einem Hause mit ihrer Mutter, der Witwe Sylow, mit ihren beiden Geschwistern Hans und Johann, mit ihrem Bräutigam und

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einem alten Onkel. Eine glänzende Zukunft als Künstlerin scheint ihre «innere Bestimmung» zu sein. Aber wie soll sie zum Ziele kommen? Die Mutter ist natürlich dumm und versteht nichts von den Anlagen ihrer Tochter. Die Brüder sind ungezogene Rangen, die sich immer zanken und herumbalgen und einen so heillosen Lärm machen, daß Johanna nicht arbeiten kann. Der Bräutigam ist ein braver Theologe, der fest entschlossen ist, das Versprechen, das er Johannens Vater auf dem Totenbette gegeben hat, zu halten. Er will Johanna eine feste Stütze im Leben sein, aber er möchte doch auch ein wenig etwas von dem verspüren, ohne das ein Liebesverhältnis doch einmal nicht recht möglich ist: hie und da einen Kuß oder etwas Ähnliches. Johanna lebt aber zu sehr in ihren Künstlerträumen, um zu dergleichen Zeit zu haben. Außer­dem kann der gute Theologe das Künstlertum seiner Braut durch­aus nicht ertragen. Der Gedanke, sie werde als Künstlerin die Welt durchschweifen, während er als Pfarrer irgendwo in Sehn­sucht nach ihr schmachten müsse, quält ihn unaufhörlich. Diese beiden Naturen gehören nicht zusammen; dennoch scheinen sie durch den Willen des Verstorbenen aneinandergekettet. Was soll aus Johanna werden? Eine schöne Aufgabe für einen wahren Dich­ter wäre es, die furchtbaren Kämpfe zu zeigen, die das Mädchen durchmacht, bis sie aus eigener Kraft stark genug ist, das Gelöbnis, das sie dem Vater gemacht hat, zu brechen, oder bis sie, weil sie das nicht vermag, zugtunde geht. Björnson macht die Sache anders. Hans Sylow, der gute Onkel, hat volles Verständnis für die be­gabte Nichte, und er tut alles, um ihr die Wege in das freie Künst­lertum zu bahnen. Zur rechten Zeit ist auch Peter Birch, der Im­presario, da, der das Geschäftliche besorgt, und Sigurd Strom, der Dichter mit der freien Lebensauffassung, der dem Mädchen vorschwärmt von dem, was in ihr schlummert und wozu sie berufen ist - zuletzt, damit ja alles ordentlich geht, eine gute Freundin, die für vorläufige Unterkunft sorgt, als der gute Onkel, der schwär­merische Dichter und der pfiffige Impresario die angehende Künst­lerin soweit gebracht haben, daß sie ihrem Bräutigam davonläuft.

Der Zuschauer ist schmählich betrogen. Ein interessanter Seelen-konflikt wird ihm versprochen: mit einer uninteressanten Handlung

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und mit Menschen, die zu unbedeutend sind, als daß uns die psychologischen Konflikte, die der Dichter mit ihnen darstellen will, fesseln könnten, muß er vorliebnehmen.

Zu dem allem kam, daß die Aufführung im Deutschen Theater durchaus nicht den Erwartungen entsprach, mit denen man in dieses Haus geht. Nur Emanuel Reicher gab den Onkel Hans mit dem Humor, in dem die Rolle gedacht ist. Lotti Sarrow scheint nichts von den Dingen zu haben, die der Schauspieler nun einmal zu seinem Beruf mitbringen muß. Das Mädchen, das dem Dichter vorgeschwebt hat, ist interessant - das Mädchen, das er gezeich­net hat, ist weniger interessant - das Mädchen, das Lotti Sarrow darstellt, ist am wenigsten interessant.

«KÖNIG HEINRICH V.»

#G029-1960-SE277 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«KÖNIG HEINRICH V.»

Schauspiel von William Shakespeare

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Am 1. September brachte uns das Lessing-Theater die erste Vor­stellung der neuen Leitung Otto Neumann-Hofers. Aufgeführt wurde «König Heinrich V.» von Shakespeare. Die Aufführung war ein theatralisches Ereignis ersten Ranges. Und ich werde in der nächsten Nummer auf sie zurückkommen. Heute möchte ich nur vorläufig sagen, daß es ein Verdienst des neuen Direktors war, das interessante Werk Shakespeares, das in Berlin lange nicht gegeben worden ist, vorzuführen, und daß die Darstellung eine Regieleistung musterhafter Art war. Ein bemerkenswerter Beitrag zur Lösung der Frage: wie muß Shakespeare heute auf die Bühne gebracht werden?

*

In seinem Buche «William Shakespeare» sagt Georg Brandes, daß «Heinrich V.» nicht eines der besten, wohl aber eines der liebenswürdigsten Schauspiele des Dichters sei. Man braucht bloß darauf zu achten, wie Shakespeare die Hauptperson des Dramas gezeichnet hat, und man wird diesem Urteile zustimmen. Nach

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dem zweiten Satze, den dieser König spricht, fängt er bereits an, uns sympathisch zu werden; und wir haben das Gefühl, daß wir in Leid und Freud ihm folgen werden. Mag er sich vor uns als großer Mann entwickeln: wir werden uns freuen, daß eine reiz­volle Persönlichkeit groß ist; mag er am eigenen Unvermögen zugrundegehen: er wird unser Mitleid erwerben, aber unsere Liebe nicht verlieren. Er war kein Asket, solange er Kronprinz war; aber er gibt dem leichtsinnigen Treiben sofort den Abschied und macht die strenge Regentenpflicht zu seiner Göttin, als die Krone sein Haupt schmückt. Der Dichter zwingt uns, diesen Mann zu lieben. Denn er hat ihn selbst geliebt. Und unverkennbar zeigt er uns, daß er sagen wollte: ein rechter König spricht so wie dieser:

daß er ein Mensch wie alle andern sei, daß ihm das Firmament wie allen andern erscheine, und daß seine Sinne unter den all­gemeinen menschlichen Bedingungen stehen.

«Seine Zeremonien beiseitegesetzt, erscheint er in seiner Nacktheit nur als ein Mensch, und wiewohl seine Neigungen einen höheren Schwung nehmen als die anderer Menschen, so senken sie sich doch mit demselben Fittich, wenn sie sich sen­ken.»

(Akt IV, 1)

So erscheint dieser König, wenn wir sein Herz betrachten; sehen wir auf seinen Verstand, so ist er nicht minder bedeutend. Der Erzbischof von Canterbury sagt von ihm:

«Hört ihn nur über Gottesgelahrtheit reden,

Und, ganz Bewundrung, werdet ihr den Wunsch

Im Innern tun, der König wär' Prälat;

Hört ihn verhandeln über Staatsgeschäfte,

So glaubt ihr, daß er einzig das studiert;

Horcht auf sein Kriegsgespräch, und grause Schlachten

Vernehmt ihr vorgetragen in Musik.

Bringt ihn auf einen Fall der Politik,

Er wird desselben gord'schen Knoten lösen,

Vertraulich wie sein Knieband; wenn er spricht,

Die Luft, der ungebundne Wüstling, schweigt.» (Akt I, 1)

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Ich glaube, in diesem Heinrich wollte Shakespeare einen König zeichnen, von dem er sagen konnte: so soll das Staatshaupt sein, unter dem ich gern englischer Untertan bin.

Die Begebenheiten des Dramas sind reine Geschichte. Ohne dramatische Spannung und ohne innere treibende Kraft, die von Szene zu Szene fortreißt. In Dialogform wird erzählt, wie Hein­rich auszieht, sich den Thron von Frankreich zu erobern, wie er nach manchen Abenteuern des Krieges sein Ziel erreicht und die fränkische Königstochter noch dazu heimführt. Alles dies reich­lich durchsetzt mit Szenen, in denen Shakespeares Gabe, Menschen zu zeichnen und den Charakter ganzer Volksklassen hinzustellen, in der schönsten Weise sich offenbart. Wenn Personen, wie der Walliser Fluellen, uns von Dingen erzählen, die mit dem Fortgang der Handlung nichts zu tun haben, so hören wir gerne zu. Einen Augenblick lang werden wir uns bewußt, daß wir nur aneinander­gereihte Szenen vor uns sehen; aber wir geben alle Vorurteile über das Drama auf, wenn wir gegen alle Regel so gefesselt werden.

Und noch in einem andern Sinne zeigt sich in diesem Schau­spiel Shakespeare als liebenswürdiger Dichter. Die Bescheidenheit, mit der er über das Verhältnis von Leben, Tat und Dichtung sei­nen «Chorus» sprechen läßt, ist ein bemerkenswerter Zug bei dem einflußreichsten Dichter, den es je gegeben hat. Der Chorus spricht zum Publikum:

«Doch verzeiht, ihr Teuren,

Dem schwunglos seichten Geiste, der's gewagt,

Auf dies unwürdige Gerüst zu bringen

Solch großen Vorwurf. » (Prolog)

und

«Drum, Hoh' und Niedre,

Seht, wie Unwürdigkeit ihn zeichnen mag,

Den leichten Abriß Heinrichs in der Nacht.

So muß zum Treffen unsre Szene fliegen,

Wo wir (o Schmach!) gar sehr entstellen werden

Mit vier bis fünf verfetzten schnöden Klingen,

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Zu lächerlichem Balgen schlecht geordnet,

Den Namen Agincourt. Doch sitzt und seht,

Das Wahre denkend, wo sein Scheinbild steht.» (Akt IV, 1)

In solchen Sätzen liegt eine große Weisheit. Eine große Kunst weist sich gegenüber dem Leben die rechte Stelle an. Kleine Kunst möchte sich nur zu oft auf Kosten des Lebens erheben und sich eine Stellung anweisen, die ihr nicht gebührt.

«Heinrich V.» ist ein Drama, aus dem wir Shakespeare, den Menschen, in seiner ganzen liebenswürdigen Größe kennenlernen. Er hat in demselben gesagt, was er als Engländer für einen König haben will, und er hat uns auch gesagt, wie er über das Verhältnis seiner Kunst zum Leben dachte.

Natürlich kann man das Drama, so wie es als Shakespearisches überliefert ist, heute nicht aufführen. Das Lessing-Theater hat am 1. September eine Aufführung geliefert, die allen Anforderungen der modernen theatralischen Kunst entspricht. Kunstpedanten haben natürlich auch an dieser Vorstellung viel auszusetzen. Und man braucht nicht einmal Kunstpedant zu sein und kann sich doch zu der Meinung bekennen, daß wir heute schon wieder mehr Shakespeare vertragen, als Dingelstedt von ihm gelassen hat. Ich möchte dem Leiter des Theaters sagen: über Dingelstedt zurück zu Shakespeare. Und vor allen Dingen: wozu solche Monologe, wie sie der unbeträchtliche Bursche hält, der Nym, Bardolph und Pistol bedient?

Mag sich die Kritik noch so schlimm gebärden! Die einen loben; die anderen schreiben, daß sie Shakespeares Heinrich nicht von dem Wildenbruchs unterscheiden können, weil sie am 1. Sep­tember im Lessing-Theater die Augen zugemacht und sich die Hände vor die Ohren gehalten haben. Als ich eine der Kritiken von einem dieser Würeriche gelesen habe, der sich die Ohren zu-gehalten hat, habe ich gelacht; denn ich habe vor den Herren, die am 1. September die Vorstellung zustande gebracht haben, allen Respekt; aber der gute Shakespeare ist doch nicht leicht so zu ver­pfuschen, daß man nötig hat, sich die Ohren zuzuhalten.

«EHELICHE LIEBE»

#G029-1960-SE281 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«EHELICHE LIEBE»

Drama in drei Aufzügen von Georg von Ompteda

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Dieses Schauspiel ist eines von den Theaterstücken, die man nur genießen kann, wenn man auf dem Gebiete des gesellschaft­lichen Lebens auf einem Standpunkte steht, dem in öffentlichen Angelegenheiten derjenige des Kirchturmpolitikers entspricht. Ein gewisser Grad von Philiströsität gehört dazu, wenn man die Kon­flikte, um die es sich handelt, nicht als zu unbeträchtlich für ein über zwei Stunden dauerndes Stück empfinden will. Viktor Schröter ist einer von jenen besseren Spießbürgern, die «ihre Ju­gend genießen» und, wenn sie genug genossen haben, in den Hafen einer Ehe einfahren, die jedes strengsten Pastors höchstes Wohl­gefallen erregen kann. Nur verbreitet sich bei ihm um das Schiff­lein, als es sich dem sichern Lande nähert, ein etwas übler Ge­ruch. Denn der schuldenbeladene Viktor braucht zum Steuern einen gar schmutzigen Gesellen, den Heiratsvermittler Suberseau::, der ihm die mit einem Bein hinkende, verwaiste Millionärin Hedwig zuführt. Der wackere Vermittler bekommt dafür Provi­sion, die Schröter von dem Gelde seiner erbeuteten Frau abgibt. Die Ehe wird eine glückliche. Schröter verliebt sich so nach und nach in seine Hedwig, ganz als wenn er sie nicht gekauft und als wenn sie ihm nicht Millionen ins Haus gebracht hätte. Sie ist das «Ideal» eines Weibes. Auf den ersten Blick hat sie sich verliebt, denn so muß die rechte Liebe sich äußern. Sie ahnt nichts von der Art, wie sich ihr Viktor in sie verliebt hat und ist der Ansicht, daß sie ewig unglücklich sein würde, wenn ein Mann sie wegen ihres Geldes genommen hätte. Das bedrückt den mittlerweile so brav gewordenen Viktor sehr, und er möchte immer sein «Ge­heimnis» beichten. Damit es einen dramatischen Konflikt gibt, darf das nicht einfach gehen. Der längst überwundene Heirats­vermittler muß wieder auftreten. Er kommt noch einmal ins Haus, weil er wieder Geld braucht. Irgendwelche schmierige Geschich­ten zwingen ihn, rasch nach Amerika zu verduften. Viktor soll

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ihm das Geld dazu geben, wenn er vermeiden will, daß der elende Kerl die glücklich gewordene Ehe störe und ans Tageslicht bringe, wie man ein froher Gatte wird. Viktor ist aber, wie schon gesagt, brav geworden, und er weist dem Glückbringer die Türe. Er will ja ohnehin beichten. Doch solche Schicksalmacher lassen sich nicht so schnell abspeisen. Er kommt wieder und trifft die Frau allein. Da sie, wie auch schon gesagt, ein «Ideal» ist, erweckt sie selbst in diesem schmutzigen Vermittlerherzen ein menschlich Rühren, und der Wackere sagt ihr, der edle Viktor hätte eben auch einmal gejeut, und er sei jetzt da, die Spielschulden einzukassieren. Hedwig ist mit Viktor solidarisch und veranlaßt ihn, die «Schulden» zu bezahlen. Der Gute beichtet aber doch, und Frau Hedwig wird einige Zeit recht traurig. Aber natürlich verzeiht sie, und alles wird gut.

Das sind Konflikte, für die eben nicht jeder Mensch Verständ­nis haben kann. Man hat immer das Gefühl: wozu all die Um-stände? Ist man aber dazu veranlagt, diese Dinge ernst zu neh­men, dann muß man auch an dem fein aufgebauten, wenn auch etwas schleppenden Gang der Handlung Vergnügen finden. Ist man dazu nicht veranlagt, dann muß man sich einfach klarmachen, daß man nicht zu denen gehört, für die solche Stücke geschrieben werden.

Für mich war die Aufführung im Lessing-Theater interessanter als das Stück. Soweit ich die Verhältnisse kenne, muß ich sagen: ich glaube nicht, daß man gegenwärtig auf einer anderen Berliner Bühne so gute Aufführungen bietet. Die Kunst des Regisseurs bringt hier ganz Außerordentliches zustande. Und was die Einzel­leistungen betrifft, so waren der Viktor Schröter Ferdinand Bonns, die Hedwig Elise Sauers und der Heiratsvermittler Adolf Kleins in einer Art ausgearbeitet, daß man sie in jeder Nuance gerne ver­folgte. Die Auffühhmg läßt das Allerbeste für den Zeitpunkt er-warten, in dem das Lessing-Theater ein Drama wird bieten kön­nen, das auf ein tieferes Interesse rechnen kann. Natürlich können Direktoren nicht gute Stücke aus der Erde stampfen. Die aber, welche ihre Stücke in würdiger Weise gespielt haben wollen, wis­sen nun, daß es jetzt im Lessing-Theater möglich ist.

«GROSSMAMA»

#G029-1960-SE283 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«GROSSMAMA»

Schwank in vier Aufzügen von Max Dreyer

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Max Dreyer habe ich offenbar bisher falsch beurteilt. Als im vorigen Jahre sein Lustspiel «In Behandlung» aufgeführt wurde, dachte ich noch, er hätte künstlerische Ziele. Damals schien aus den trivialen Späßen und possenhaften Übertreibungen so etwas wie ein künstlerisches Problem durchzuleuchten. Die «Großmama» belehrt mich darüber, daß Max Dreyer gar nicht als Künstler ge­nommen sein will. Er will ein Theaterpublikum zwei Stunden und eine halbe lang amüsieren, wie es Schönthan, wie es Kadel­burg und andere Nichtdichter wollen. Wenn man das nur weiß, dann ist es gut. Man richtet sich danach und macht keine falschen Ansprüche. Wozu sollte man denn auch von einem drolligen Schnack sagen, daß er literarisch ein wertloses Zeug ist? Denn nichts weiter als drollige Späße will Max Dreyer bringen, und das ist ihm ganz vorzüglich gelungen. Daß ein starrsinnig scheinen-der Junggeselle über die Weiber schimpft, sie «gehirnschwach», sogar «verbrecherisch» nennt, daß er sich ein Heim einrichtet, in dem kein einziger weiblicher Dienstbote ist, weil der Mann einst Mißgeschick gehabt hat, als er auf Freiersfüßen ging, das ist so etwas, bei dem man denkt: das muß ich schon einmal irgendwo gehört haben. Daß dann eine Schar von Weibern in sein weiber-reines Milieu eindringt, ist - nach der Theatertechnik - selbst­verständlich, ebenso, daß sich in diesem Milieu mehrere eheliche Bande knüpfen und daß der Weiberfeind zuletzt selbst küßt, herat, heiratet und sich vornimmt, nicht ohne Nachkommen zu bleiben. Diese «Handlung» nimmt eine Menge banaler, aber zum Lachen herausfordernder Übertreibungen auf. Max Dreyer hat ein vor­zügliches Textbuch für die Schauspieler geliefert, die denn auch all ihr Können nuancenreich entfalten konnten. Den polternden, schimpfenden, saufenden, fressenden, weiberfeindlichen Junggesel­len, der zuletzt sich abschmatzen und streicheln läßt, hat Franz Guthery so dargestellt, wie es offenbar der Schreiber des Textes

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wollte. Ich setze nämlich voraus, daß er sich gedacht hat: ich schreibe eine Rolle, aus der ein guter Schauspieler etwas machen kann. Hedwig Niemann-Raabe, die als Witwe Mathilde den Weiberfeind «in Behandlung» zu nehmen hat, war auch diesmal, was sie immer war: eine große Schauspielerin. Über die anderen Mitwirkenden könnte ich nur Gutes sagen. Das alles bedeutet nicht mehr, als daß das Lessing-Theater gute Stücke gut spielen könnte, wenn es solche hätte. Gute Stücke, wo seid ihr? Man wird euch nicht hindern, in diesem Theater zur Geltung zu kommen. Sollte es denn nicht etwas geben, was endlich einmal von einem wirklichen lebenden Dichter herrührte? Sind denn alle Dichter tot? Ich glaube es nicht. Sie werden kommen, und dann wird das Lessing-Theater den Lebenden gehören. Denn es handelt sich doch um lebende Dichter! Max Dreyer lebt zwar, aber ein Dichtet ... na..

«CYRANO VON BERGERAC »

#G029-1960-SE284 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«CYRANO VON BERGERAC »

Romantische Komödie in fünf Aufzügen

von Edmond Rostand. Deutsch von Ludwig Fulda

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Edmond Rostands «Cyrano von Bergerac» ist am 14. September im Deutschen Theater aufgeführt worden. Ich habe eigentlich keine rechte Veranlassung, über dieses Drama gerade gelegentlich dieser Aufführung mich auszusprechen. Denn eine Vorstellung wie diese gibt nur ein Zerrbild des feinen Kunstwerkes. Dieser Cyrano ist halb Held und halb Karikatur; im Deutschen Theater wurde alles getan, um durch die Karikatur den Helden unkennt­lich zu machen. Von der Tragikomödie, die Rostand gemeint hat, kommt nichts, aber auch gar nichts, im Deutschen Theater zum Vorschein. Es ist alles mißverstanden, alles Große und alle Klei­nigkeiten. Der Stil, in dem das Drama dargestellt werden muß, ist vergriffen. Barbarisch erscheint die Aufführung. Cyrano hat

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eine große Nase. Sie ist eins seiner Verhängnisse. Muß man aber deshalb eine Nase sich «anschminken», die aller Vornehmheit in der Kunst Hohn spricht? Wie Kainz' Nase aber ist die ganze Vor­stellung. Vielleicht komme ich auf das Drama doch zurück, auf diese Aufführung gewiß nicht.

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Einen Menschen, mit dem das Schicksal ein leichtfertiges Spiel treibt, hat Edmond Rostand in seiner Komödie «Cyrano von Bergerac» dargestellt. Goethe hat von der Natur gesagt, daß sie alles auf Individualität angelegt zu haben scheine und sich nichts aus den Individuen mache. Cyrano ist ein Individuum, aus dem sich die Natur sehr wenig macht. Sie hat es nur geschaffen, um über ihre eigenen Absichten einmal gründlich zu spotten. Und es ist ihr gleichgültig, daß ein armer Mensch durch ihre Launen lei­det. Sie gibt diesem Menschen eine Seele, die aus dem Reiche der Schönheit und der Größe stammt; aber sie macht ihn zugleich häßlich und unfähig, wirkliche Größe zu entfalten. Cyrano liebt Roxane. Wegen seiner Häßlichkeit kann er nicht daran denken, daß die Angebetete ihn wieder liebe. Ihre Neigung hat der schöne, aber geistlose Christian von Neuvillette. Und Cyrano muß es er­tragen, daß Roxane ihn bittet, ihrem Geliebten eine Stütze im Leben zu sein. Er erfüllt diese Bitte ganz entsprechend der Rolle, die ihm die grausame Natur zugedacht hat. Nie würde Roxane einen Mann lieben, der nicht in feinen Wendungen über die Liebe sprechen und schreiben kann. Christian, diese schöne Hülle eines nichtigen Innern, kann ihre Liebe nur mit Cyranos Hilfe erringen und erhalten. Was dieser der Geliebten sagen würde, wenn er Gegenliebe finden könnte, das bringt er Christian bei. So kann dieser mit schönen Worten seine Gefühle schildern. Aber auch die Briefe, die Christian an Roxane richtet, stammen von Cyrano. Der Häßliche, der auf Liebe verzichten muß, schreibt sie für den Schö­nen, dem weibliche Neigung unverdient zuteil wird. So verliebt sich Roxane in Cyranos Seele, die aus Christians Körper zu ihr spricht. Die Qualen der Entbehrung und die Art, wie Cyrano sie erträgt, sind der Inhalt der Komödie. Der von der Natur schmäh­lich

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Behandelte sucht auf seine Weise mit dem Leben fertigzu­werden. Seine Kraft und Tüchtigkeit verschaffen ihin Gewalt über die Mitmenschen, obgleich er durch das Nasenungetürn, das sein Gesicht entstellt, den Spöttern reichlichen Stoff zum Lachen gibt. Und er nützt diese Gewalt aus. Es ist ihm eine Lust, diejenigen en canaille zu behandeln, die es verdienen. Er spielt mit den Men­schen gerne, weil die Natur ja auch mit ihm spielt. Eine Fülle von Duellen hat er zu bestehen. Denn er ist ein guter Fechter; und als Sieger mit der Waffe kann er immer wieder von neuem vergessen, daß das Schicksal ihn ein für allemal zu einem Besieg­ten geschaffen hat.

Einen solchen Charakter mit Humor zu schildern, ist Rostand gelungen. Man möchte wütend werden über das frivole Spiel, das die Natur mit Cyrano treibt; aber man begräbt die Wut in einem herzlichen Lachen. Denn der leidende Held läßt die Gegensätze, die in seinem Wesen vorhanden sind, sich gegeneinander aus­toben; und dadurch geht das Tragische seines Lebens immer wie­der in ein Komisches über. Allerdings liegt in den Tiefen dieses Dramas der Ernst des Lebens. An ihn müssen wir trotz des Schaber­nacks, den Cyrano treibt, immer denken. Rostand hat alle Mittel des Theatralischen verwendet; aber er hat diese Mittel in den Dienst einer großen Lebensfrage gestellt. Das Ernste tritt in gefäl­liger Gestalt vor uns hin. Es gibt nichts von seinem wahren Cha­rakter auf; es bringt aber diesen Charakter in leichtem Spiel zur äußeren Erscheinung. Es ist Rostand hoch anzurechnen, daß er sich von der Schwere seiner Aufgabe nicht hat erdrücken lassen. Daß er den Menschen nicht gesagt hat: seht, wie ihr leidet, wie euch die Natur quält, sondern ihnen gezeigt hat, wie sie dem Ern­sten trotzig gegenüberstehen können, ohne die Duldermiene anzu­nehmen. Rostand ist einer von den Dichtern, welche die Aufgabe der Kunst darin sehen, den Menschen über die Miseren der All­täglichkeit hinwegzuhelfen. Pathetischer könnte man das so nen­nen: er will über die Wirklichkeit hinausführen. Sein freier Stil ist ein Beweis für diese seine künstlerische Grundüberzeugung. Ludwig Fulda hat in seiner deutschen Übersetzung der Komödie diesen freien Stil in trefflicher Weise wiedergegeben.

«NAPOLEON ODER DIE HUNDERT TAGE»

#G029-1960-SE287 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«NAPOLEON ODER DIE HUNDERT TAGE»

Schauspiel in fünf Aufzügen von Chr. D. Grabbe.

Für die Bühne bearbeitet von O. G. Flüggen

Aufführung im Belle-Alliance-Theater, Berlin

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Napoleon hat trotz seiner Größe nur die Hälfte eines drama­tischen Charakters. Seine Größe stellt sich uns in einer zu ein­fachen Vorstellung dar. Der einzige Gedanke der Kraft steigt in unserem Kopfe auf, wenn wir uns diesen Mann vergegenwärti­gen. Und neben dieser Kraft erscheint alles mehr oder weniger gleichgültig, was durch sie vollbracht worden ist. Es läßt sich keine dramatische Handlung mit Napoleon in der Mitte ersinnen, die im Fortgange eine Kette von Begebenheiten aufwiese, wie sie die dramatische Kunst braucht. Wir sind immer wieder versucht, bei allem, was Napoleon tut, die Stärke seines Willens zu bewundern und uns um den Inhalt seiner Handlungen nicht zu kümmern. So gewiß Grabbe die Größe Napoleons gefühlt hat: seine Phantasie konnte dieser Größe keine dramatische Form geben. Ja, es scheint, als wenn auf Grabbes Schaffen bei diesem Drama die Kraft in einseitiger Weise gewirkt und alle andern Fähigkeiten des Drama­tikers zurückgedrängt hätte. Ohne Rücksicht darauf, was drama-tisch und theatralisch möglich ist, hat Grabbe gedichtet. Start mit einer dramatischen Entwickelung haben wir es mit einer Reihe von Szenen zu tun, welche fast nur durch die Zeitfolge und die Person des Helden zusammengehalten werden. Und die wir durchaus nicht um ihrer selbst willen auf uns wirken lassen, sondern denen wir ein Interesse abgewinnen, weil wir glauben, durch sie von einer starken Persönlichkeit etwas zu erfahren. O. G. Flüggen hat das Drama für die Bühne bearbeitet. Er hat einen zu engen Be­griff von dem Bühnenmöglichen und Bühnenwirksamen. Von Grabbes Werk hat er viel zu wenig herübergerettet in das Theater-stück, das er daraus gemacht hat. Dennoch habe ich gefunden, daß das Drama selbst noch in dieser Verwässerung einen hohen Ge­nuß bietet. Es ist entschieden ein Verdienst, daß es Georg Droescher auf die Bühne gebracht hat, so gut er es mit den ihm zur Ver­fügung stehenden künstlerischen Mitteln gekonnt hat.

«EIFERSUCHT» (JALOUSE)

#G029-1960-SE288 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«EIFERSUCHT» (JALOUSE)

Lustspiel in drei Akten

von Alexandre Bisson und Adolphe Leclerq

Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

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Das Lustspiel «Eifersucht» von A. Bisson und Leclerq könnte uns vielleicht zwei Stunden anhaltend in herzlichem Lachen erhal­ten, wenn nicht die Mittel, durch welche die an Wahnsinn strei­fende Eifersucht einer jungen Frau geheilt werden soll, zu ärger­lich wären. Die Frau Moreuil hält alle Männer für Ehebrecher. Den ihren natürlich auch. Sie hat nie etwas gesehen, was den lei­sesten Verdacht begründete. Aber gerade weil sie gar nichts sieht und hört, was ihr Grund gibt, den Mann zu beschuldigen, deshalb hält sie ihn für einen heimlichen Verbrecher. Ein Freund des Hauses will sie heilen. Die alten Eltern müssen zu diesem Zwecke Komödianten werden. Sie müssen der eifersüchtigen Tochter in sich selbst ein Ehepaar vorführen, das sich das Dasein durch Eifer­sucht vergiftet. Dieses Theater auf dem Theater verringert den Wert des harmlosen Schwanks. Ein solches Heilmittel ist nicht nur eine Sünde gegen allen Wirklichkeitssinn, sondern eine ziem­lich arge Geschmacklosigkeit. Auch wird die Aufführung des Stückes dadurch fast zur Unmöglichkeit. Denn Schauspieler, die imstande sind, Nicht-Schauspieler darzustellen, die eine Komödie vollführen, wird es nur wenige geben.

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« HOF GUNST»

Lustspiel in vier Akten von Thilo von Trotha

Aufführung im Neuen Theater, Berlin

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In «Hofgunst» von Trotha handelt es sich um einen kleinen Fürstenhof. Die Fürsten selbst sind brave und edle Menschen. Nur die Schranzen verderben alles durch ihre Albernheiten und In­trigen. Bloß der Finanzminister ist auch einer von den «Edlen».

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Er muß natürlich da sein, damit sich der niedrige Sinn der Höf­linge entsprechend abhebt. Die Tochter eines fern vom Hofe woh­nenden Barons, eine Art höherer «Unschuld vom Lande», ist der Inbegriff aller Gescheitheit, Geradheit und anderer schöner Tu­genden. Sie läßt sich überreden, an den ihrem Vater und ihr ver­haßten Hof zu gehen, und wird dort sogleich Hofdame. Die Kluge stiftet in wenigen Stunden mehr Gutes an dem Hofe als eine Höf­lingsschar in Jahrhunderten. Sie ist die richtige Person, die zum versöhnlichen Ausgang notwendige Heirat des jungen Fürsten mit seiner Cousine herbeizuführen, während vor ihrem Wirken die irregeführten Verwandten die beiden wie füreinander geschaffe­nen Menschen, um allerlei Rücksichten zu beobachten, an andere, nicht für sie passende verschachern wollen. Die alten Theater-figuren der Generation Moser-Schönthan mit neuen Namen und etwas anderem Aufputz.

«DAS VERMÄCHTNIS»

#G029-1960-SE289 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS VERMÄCHTNIS»

Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Schnitzlers dramatische Leistungen mußte ich bisher immer mit Frauen vergleichen, welche wegen der Anmut ihres äußeren We­sens und des Geschmackvollen ihrer Toilette uns gar nicht zu der Frage kommen lassen, ob ihre Seele auch bedeutend ist oder nicht. «Das Vermächtnis» fordert aber diese Frage allerdings heraus. Schnitzlers Begabung und auch sein Stil scheinen für ein so be­deutendes Problem, wie das hier behandelte es ist, nicht auszu­reichen. Seine flotte dramatische Darstellungskraft ist offenbar nur dann in ihrem Elemente, wenn es sich um die kleinen Kreise handelt, die von dem Leben gezogen werden. «Das Vermächtnis», das Hugo Losatti seiner Familie hinterläßt, nachdem er durch einen Sturz vom Pferde tödlich verwundet worden ist, revolutio­niert

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die Seelen einer Reihe von Menschen. Schnitzler ist nicht Psychologe genug, um diese Seelenrevolution überzeugend und tiefgründig darzustellen. Wir sehen den Personen nicht ins Innere, deshalb will uns nicht recht in den Sinn gehen, was sie reden und tun. Das Vermächtnis ist Hugo Losattis Geliebte und sein Kind. Er spricht als seinen letzten Wunsch aus, daß die Seinen die bei­den Wesen, die er mehr als alles andere geliebt hat, in ihr Haus aufnehmen. Der Vater, ein halb vertrottelter Professor der Na­tionalökonomie, weiß mit einem solchen Wunsche nichts anzufan­gen. Da er aber ein guter Kerl und ein unglaublicher Schwächling ist, wird es ihm nicht schwer, das «Vermächtnis» doch zu über­nehmen. Die Mutter ist sofort geneigt, dies zu tun, als der Sohn ihr sein Geheimnis mitteilt. Von ihren Charaktereigenschaften erlangen wir aber keine Vorstellung. Deshalb ist es uns gleich-gültig, wie sie sich verhält. Die Schwester Franziska lernen wir wohl genauer kennen, und es macht deshalb einigen Eindruck, daß sie von ganzem Herzen «ja» sagt zu dem Wunsche des Bru­ders und daß sie die Geliebte sogar innig liebt. Allein mir scheint doch, daß wir hier einen Charakter der biederen Birch-Pfeiffer in einem modernen Kleide vor uns haben. Auch im Reiche der «Gartenlaube» sind solche Charaktere zu finden. - Der theatra­lische Gegenpol dieses Mädchens darf natürlich nicht fehlen. Er heißt Dr. Ferdinand Schmidt, ist aus dürftigen Verhältnissen her­vorgegangen, war Hauslehrer Hugos und verkehrt, nachdem er Arzt geworden ist, freundschaftlich bei Losattis. Der Gegensatz käme nicht stark genug zum Ausdrucke, wenn die vorurteilslose, zartfühlende Franziska und der vorurteilsvolle, gemütsrohe Schmidt sich nicht ineinander verliebten. Daher tun sie es. Schmidt ist es von vorneherein unsympathisch, zu sehen, wie die Losattis ihr An­sehen damit «besudeln», daß sie die «Maitresse» und den Spröß­ling des Sohnes ins Haus nehmen.

Die Handlung ist bald klar, nachdem der Vorhang aufgegan­gen ist. Leute wie die Losattis haben Gewissen, also erfüllen sie den Wunsch eines Kindes. Der unehelich gezeugte Knabe wird uns sogleich als krankes Kind vorgestellt. Also wird er bald ster­ben. Also wird auch bald Gelegenheit sein, die unwillkommene

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Mutter aus dem Hause zu jagen. Also wird das Stück damit schließen, daß diese einen Selbstmord begeht. Die Losattis sind schwachmütige Leute, also brauchen sie jemand, der ihnen zuredet, das «Vermächtnis» nicht zu halten. Dazu ist Dr. Schmidt da. Die­ses sein Verhalten öffnet Franziska die Augen, und sie weist den rohen Menschen von sich. Während sich das alles programm-mäßig abspielt, läuft alle Augenblicke Emma Winter, die Witwe von Frau Losattis Bruder, zur Tür herein und redet «jenseits von Gut und Böse», echt wie ein weiblicher Trast. Sie will die un­glückliche Geliebte des Verstorbenen sogar ins Haus nehmen, wird aber - damit der Selbstmord möglich ist - doch zuletzt von ihrer Tochter davon abgebracht.

Es sind gewichtige Konzessionen, die heute Schnitzler der äußer­lichen Kulissenkunst macht. Derselbe Schnitzler, an dem wir den Mangel an Tiefe niemals bemerkt haben, solange er sich nur sei­ner liebenswürdigen Natur überließ.

Das Deutsche Thater hat diesmal gezeigt, was es kann, nach­dem es bei «Cyrano» uns klargelegt hat, was es nicht kann. Mit Ausnahme von Louise Duniont, welche der allerdings undank­baren weiblichen Trastrolle wenig gewachsen war, boten die Mit­spieler vollendete Leistungen. Reicher, Rittner, Sauer und Winter­stein verdienen aber noch besonders genannt zu werden.

«DER HERR SEKRETÄR»

#G029-1960-SE291 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER HERR SEKRETÄR»

Schwank von Maurice Hennequin

Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

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Aus dem Schwank «Der Herr Sekretär» von Mau­rice Hennequin, der jetzt im Residenz-Theater aufgeführt wird, hätte etwas werden können, wenn der Verfasser seine paar Dutzend Einfälle dazu benutzt hätte, eine Satire auf die Theatermacherei zu schreiben, die einzig und allein von unwahrscheinlichsten Ver­wechslungen lebt. Denn er hat den Verwechslungsunsinn bis zur

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tollsten Methode ausgebildet. Es gibt in diesem Stücke kaum eine Person, die nicht für eine andere gehalten wird. Und es gibt nichts, was nicht diese Tollheit zur Ursache hätte. Aber der Autor hat keine Satire, sondern nur einen von den genannten Schwänken geschrieben. Die Vorgänge nehmen sich wie ein Spott auf alle Vernunft aus; der Verfasser aber spottet nicht, sondern meint die Dumruheit ernst. Die Hauptrolle, den Sekretär, hat Richard Alex­ander inne. Ich kann an diesem Schauspieler, der in Berlin eine Zugkraft ersten Ranges ist, nichts finden. Jedes Wort, jede Be­wegung, alles ist kokette Kulissenkunst bei ihm. Und da er diese Kunst mit einer grotesken Vollkommenheit übt, treten ihre Feh­ler in geradezu widerwärtiger Gestalt zutage. Da wird nirgends mehr danach gefragt, was sich aus der Handlung oder Situation auf natürliche Weise ergibt, sondern nur, wie etwas gesagt oder gemacht werden muß, damit die Zuhörer aus dem Lachen nicht herauskommen. Da gefällt mir schon Eugen Pansa, der einen bor­nierten und eitlen Abgeordneten spielt, besser. Er bringt etwas Ähnliches zustande wie Alexander, aber mit Mäßigung und so, wie es das Stück verlangt.

«DER EROBERER»

#G029-1960-SE292 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER EROBERER»

Tragödie in fünf Aufzügen von Max Halbe

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Über Max Halbe habe ich immer anders gedacht als viele andere. Was man fast allgemein an seiner «Jugend» und an seiner «Mut­ter Erde> bewundert hat, halte ich für eine - allerdings höchst wertvolle - Beigabe seiner großen dichterischen Begabung. Aber Halbe ist, meiner Ansicht nach, nicht bloß der Dramatiker der Stimmung, die uns in der «Jugend», des aus der heimatlichen Erde sprießenden Gefühles, das uns in «Mutter Erde» entgegenströmt: Halbe ist der Dichter, dem die tiefsten Gründe der Men­schenseele zugänglich sind, die in jeder Zeit und an jedem Orte

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zu Hause ist. Vor einem Jahre, nach der Aufführung von schrieb ich: «Ich glaube an den Tiefblick Halbes. Ich meine, wenn er ihn entfaltete, diesen Tiefblick: er müßte auf die entlegensten Gründe der menschlichen Seele kommen.> Ich glaubte damals zu ahnen, wie Halbes Künstlerindividualität ge­artet ist. Meiner Ansicht nach gehört er zu dem Geschlechte der großen Dichter, die individuelle Gestalten schaffen, aber so, daß diese uns in jedem Augenblicke hinweisen auf das, was in der Menschennarur ewig ist, was unwandelbar durch alle Zeiten und Räume lebt und was nur innerhalb gewisser Verhältnisse einen stärkeren Ausdruck findet als in andern. Ein großer menschlicher Konflikt ergreift den Dichter. Von dem innersten Erlebnisse der Seele geht er aus. Dann findet sich dazu Ort und Zeit, in denen dieses innere Erlebnis die beste äußere Gestalt annehmen kann.

Dieser Weg des wahren Dichters muß auch der Halbes sein. Bisher war er nur diesen seinen ureigensten Weg noch niemals rücksichtslos gegangen. In seinem «Eroberer> ist er ihn gegangen. Max Halbe hat damit sich selbst erst gefunden. Als ich das Drama kennenlernte, stand ein großes Seelenproblem vor meinen Augen. Das Liebesproblem des Weibes. Man mag sagen, was man will: Das Weib hat in sich den Drang nach dem Manne mit Größe, den es lieben kann wegen seiner Größe. Und glaubt es, diesen Mann gefunden zu haben, dann ist es grenzenlos egoistisch und möchte am liebsten diese Größe mit den Armen an den brünsti­gen Busen drücken und immer wieder drücken und nicht mehr loslassen und in wollüstigen Küssen die Größe ersticken. Und des Weibes rechte Tragödie muß es sein, daß bei wirklicher Größe die weiblichen Arme zu schwach sind, um das Große zu halten. Der Mann entwindet sich dem Weibe um derselben Eigenschaft willen, um derentwillen es ihn so heiß begehrt. Es möchte die große, weite Seele für sich haben, weil sie groß und weit ist. Aber weil sie groß und weit ist, diese Seele, ist in ihr noch Raum für ... anderes. Die Philister mögen mir schon verzeihen, daß ich das so hinschreibe. Die Philister schließen ja so gerne die Augen vor dieser ewigen Tragödie, die sich hineinschiebt zwischen den gro­ßen Mann und das große Weib.

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Max Halbe hat diese Tragödie geschrieben. Agnes, die Gattin Lorenzos, ist das große Weib, das den großen Mann sucht, weil es nur ihn lieben kann. Und Lorenzo ist der große Mann, den Agnes anbetet, aber in dessen Seele noch der Keim ist für die kleine Ninon, die auch den großen Mann sucht. Und die große Agnes tötet die kleine Ninon, weil der Frau des Mannes Größe verhäng­nisvoll wird, um derentwillen sie ihn liebt.

Das ist Halbes Problem. Um Menschen, die solche Konflikte durchleben, darzustellen, brauchte er den Hintergrund einer Zeit, von der wir die Vorstellung haben, daß die Menschen in ihr den Mut hatten, sich ihrem natürlichen Egoismus zu überlassen. Die Renaissance ist eine solche Zeit Deshalb hat Halbe ein Renais­sancedrama geschrieben. Hätte er seine Tragödie in der Gegen­wart spielen lassen, so hätten wir das Gefühl: heute fänden die Menschen die notwendigen Lügen, um die wahren Empfindungen, die im Hintergrunde schlummern, nicht an die Oberfläche treten zu lassen.

Und es ist Halbe gelungen, den Gestalten seines Dramas die Seelen von Renaissancemenschen einzuhauchen. Sie brauchen nur vor uns hinzutreten und ein paar Worte zu sprechen, so wissen wir, daß wir es mit Menschen des rückhaltlosen Egoismus zu tun haben und mit solchen, die den Mut besitzen, diesen Egoismus zur Schau zu tragen, ohne ihm ein idealistisches Mäntelchen um-zuhängen.

In einfachen, kunstvoll stilisierten Linien hat Halbe eine Hand­lung gezeichnet, innerhalb der uns die auftretenden Personen ewige Erlebnisse der Menschenseele vor Augen treten lassen. Er hat damit den Weg gefunden zu den Urquellen der dramatischen Dichtung.

Halbes Publikum vom 29. Oktober konnte den Weg nicht mit­machen, den der Dichter gegangen ist. Dieses Publikum hätte am liebsten wieder ein Stimmungsidyll von der Art der «Jugend» von ihm gesehen. Es versteht den Dichter nicht mehr, der sich selbst gefunden hat. Und weil das Berliner Theaterpublikum kaum die schlechtesten Manieren hat, die ein Publikum überhaupt haben kann, hat es den «Eroberer» ausgelacht, verhöhnt und verspottet.

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Am 29. Oktober gab es im Lessing-Theater einen Durchfall. Aber nicht Max Halbes Stück ist durchgefallen. Nein, das Publikum ist durchgefallen. Sein Verständnis reicht nicht heran an die Größe der Halbeschen Ideen. Der Dichter mag sich trösten. Da er noch unentwickelt war und den Leuten die hinwarf, da ver­standen sie ihn. Jetzt, wo er ihnen etwas mehr zu sagen hat, ver­höhnen sie ihn. Wie hat doch Goethe gesagt, als er auf der Höhe seiner Kunst stand?

Und was noch sunsten

In meinen Schriften braust,

Zu ihren Gunsten;

Das alte Mick und Mack,

Das freut sie sehr;

Es meint das Lumpenpack,

Man wär's nicht mehr! »

Noch schlimmer als das Publikum am Sonnabend waren die Kritiken am Sonntagmorgen. In der Stadt der Intelligenz fand sich auch nicht ein Kritiker, der eine Ahnung gehabt hätte von dem, was Max Halbe gewollt hat. Von dem impotenten Faseler der «Tante Voß» durch das lauwarme Bad des Berliner Tageblattes hindurch bis zu den rohen Schimpfereien des Lokalanzeigers und des Kleinen Journals konnte man alle Nuancen der kritischen Unfähigkeit studieren. Am 30. Oktober mußte man die Erfahrung machen, daß es in Berlin nicht einen einzigen Tageskritiker gibt, der einer bedeutenden Dichtung gewachsen ist.

Halbes Dichtung konnte in den Augen derjenigen, die sie ver­stehen, keinen Mißerfolg haben; Publikum und Kritik haben sich blamiert. Am Sonnabend hat sich der Unverstand und Un-geschmack einer Menge in den schlechtesten Manieren kundgegeben, und am folgenden Sonntag hat eine lächerliche Kritik sich an den Pranger gestellt.

«DAS ERBE»

#G029-1960-SE296 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS ERBE»

Schauspiel in vier Aufzügen von Felix Philippi

Aufführung im Berliner Theater, Berlin

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Das Haus Larun besitzt eine große Gewehrfabrik. Als dieses gegründet wurde, stand dem alten Larun als geistiger Handlanger Heinrich Sartorius zur Seite. In dem Augenblicke, da der Vorhang aufgeht, sind 35 Jahre seit der Gründung der Fabrik verflossen. Eine Jubiläurnsfeiet wird abgehalten. Der alte Larun ist tot. Der Sohn, Baron Karl von Larun, hat das «Erbe» angetre­ten. Der geistige Schöpfer, Geheimer Kommerzienrat Sartorius, leitet mit Energie und Hingebung die Fabrik. Er ist ganz ver­wachsen mit . Eine aufrührerische Broschüre ist erschienen, in welcher der junge Larun Wachs in den Händen des Alten genannt wird. Sie ist der erste Wink mit dem Zaunpfahl, der anzeigt, daß der Alte, der sich den Dank des Hauses Larun verdient hat und den das ganze Fabrikpersonal vergöttert, aus dem Sattel gehoben werden soll. Ein zweiter Wink mit einem noch dickeren Pfahl ist der schablonenhafte Theaterintrigant, der in der Person des Abteilungschefs van der Matthiesen erscheint. Die­ser hat eine Tochter, die das Intrigieren im Dienste ihres Vaters und das Kokettieren auf eigene Rechnung besorgt. Der Staat hat einen großen Auftrag, den er dem Larunschen Werke gegeben hat, zurückgenommen, weil er von einer englischen Firma dieselbe Ware billiger und ebenso gut erhalten kann. Das Fabrikgeheitnnis ist verraten worden. Nachdem er das gehört hat, ist dem Zuschauer alles klar, und wenn die Personen des Stückes nicht jenen Grad von Blödigkeit haben müßten, die schlechte ,Theaterschriftsteller zur Fortführung ihrer Handlung brauchen, so würde der alte Sar­torius zu dem jungen Herrn Baron sagen: lieber Freund, schmeißen Sie doch diesen Burschen, den van der Matthiesen, schleunigst hinaus. Der hat selbstverständlich den Verrat begangen. Aber so kann es nicht gemacht werden. Da müßte Herr Felix Philippi sein Publikum schon nach einer halben Stunde entlassen. Und er muß doch einen Theaterabend füllen. Daß der alte Sartorius erst noch

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einen Helfershelfer braucht, um hinter den Sachverhalt zu kom­men, den Schuft Lorinser, der erst dem Matthiesen geholfen, das Fabrikgeheimnis zu verraten, und der jetzt für 20000 Mark dem geistigen Leiter den Verrat wieder verrät, ist für den Zuschauer langweilig und ärgerlich. Daß der junge Larun die Wahrheit lange nicht durchschaut, ist wenigstens vom Standpunkte der Kulissenkunst motiviert. Er verliebt sich in Matthiesens kokette Tochter. Und Liebe macht ja natürlich blind. Der junge Erbe ver­gißt, was er dem erprobten Ratgeber seines Vaters schuldet. Da der Alte seinen Feldzug gegen den Schädiger des Werkes be­ginnt, findet eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem treuen Diener und dem neuen Herrn statt. Dem erprobten Leiter de« Werkes wird der Abschied gegeben. Um die völlig uninteressante Handlung fortzuschleppen, wird alles versucht, was dem Stücke-fabrikanten zu Gebote steht. Von den aufgewandten Mitteln ist das freche Attentat auf die Tränendrüsen das Widerlichste. Daß in der Presse der Versuch gemacht worden ist, in der Handlung eine Anspielung auf einen der bedeutendsten politischen Vorgänge des Deutschen Reiches zu sehen, will ich nur als ein Symptom für die Geschmacklosigkeit eines Teiles unserer Zeitungskritisiererei registrieren.

«FUHRMANN HENSCHEL»

#G029-1960-SE297 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«FUHRMANN HENSCHEL»

Schauspiel in fünf Akten von Gerhart Hauptmann

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Eine alltägliche, fast m&hte ich sagen uninteressante Begeben­heit hat Gerhart Hauptmann durch seine reife Kunst zu einem Drama gestaltet, dem wir von Akt zu Akt mit immer gesteigerter Hingebung folgen, und das uns trotz der scheinbaren Gleichgültig­keit des Stoffes mit der Empfindung entläßt, daß wir über das, was man Menschenschicksal nennt, eine neue Erfahrung gemacht haben. Hauptmanns Kunst hat unbedingt etwas, was auf zarte

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Hände des Künstlers weist. Ein derbes Zufassen und ein Formen der Menschen und Handlungen, damit sie der Absicht des Künst­lers entsprechen, kennt Hauptmann nicht. Die Shakespearesche Art, die den Dingen immer Gewalt antut, um sie in den dramati­schen Rahmen zu bringen, die kennt Hauptmann nicht. Dazu hat er offenbar die Dinge, die er behandelt, zu lieb. Ihre Gestalt, ihr Leben sieht er mit dem feinsten Künstlersinne. Seinen forschen­den Blicken, seinem selbstlos auf den Gegenständen ruhenden Ge­fühle enthüllt sich die einfache, schlichte Wahrheit der Tatsachen; und wenn er diese einfache, schlichte Wahrheit vor die Menschen hinstellt, dann werden diese erst gewahr, wie falsch und erlogen sie selbst die gleichen Tatsachen sehen.

In einem schlesischen Badeort lebt - in den sechziger Jahren -der Fuhrmann Henschel. Er ist ein braver, biederer Mann, seinem Geschäfte gewachsen, von seinen Knechten und den Bewohnern des Ortes geliebt. Aber er ist von schwacher Willenskraft und nicht sehr klug den Menschen gegenüber, die seine Schwäche aus­nützen. In seinem Hause lebt auch die Magd Hanne. Sie ist eine Person, die vor keiner verbrecherischen Tat zurückschreckt, wenn diese sie dazu führen kann, das Regiment im Henschelschen Hause an sich zu reißen. Henscheis Frau ist krank und stirbt bald. Auch das Kind, das Henschel von dieser Frau hat, stirbt. Während dies alles geschieht, fängt Hanne den Fuhrmann in ihre Netze ein. Er heiratet sie, trotzdem er seiner sterbenden Gattin das Verspre­chen gegeben hat, dies niemals zu tun. Die Weise, wie sich Hanne beträgt, läßt im Dorfe die berechtigte Vermutung aufkommen, daß die erste Frau und deren Kind von ihr weggeräumt worden sind. Den guten Henschel hintergeht sie mit einem Kellner. Die Art nun, wie der arme Mann im Gasthof von seinen Bekannten auf die Untreue seines zweiten Weibes hingewiesen wird und wie er, als er Gewißheit hat, in die Verzweiflung und in den frei­willigen Tod getrieben wird, sind in Hauptmanns Darstellung von unsäglich dramatischer Wirkung.

Mit einfachen, undifferenzierten Menschen haben wir es zu tun und mit einer Handlung, die in durchaus geraden Linien ver­läuft. Wie erschütternd solche Menschen und solche Handlungen

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sein können: das kann nur ein Künstler wie Gerhart Hauptmann zeigen, der die Einfachheit in ihrer Größe sieht, weil er sie in ihrer Wahrheit sieht. Man lasse nur einen moralisierenden oder idealisierenden Dichter über den gleichen Stoff kommen: es wäre zum Davonlaufen.

In Hauptmanns dichterischer Begabung liegt ein weiblicher Zug. Man hat bemerkt, daß Frauen im Verlaufe ihres Ehelebens allmählich eine Handschrift annehmen, die derjenigen ihres Man­nes immer ähnlicher wird. So etwa ist es mit Hauptmanns drrima­tischem Stil. Er wird den Zügen, in denen die Natur schafft, immer ähnlicher. Man vergleiche diesen Entwickelungsgang zum Beispiel mit dem Schillers. Dieser sucht immer mehr nach einem Kunst-stil, nach einer Schaffensweise mit höheren Gesetzen, als sie in der Natur vorhanden sind. Schiller ist der männliche Dichter, der den Stil schaffen will; Hauptmann ist das weibliche Genie, das da wartet, bis es empfangen hat, was es gebären soll. Ich spreche damit weder zugunsten Schillers, noch will ich im geringsten etwas zum Nachteil Hauptmanns sagen. Denn vielleicht ist Dicht­kunst überhaupt eine weibliche Äußerung der Psyche und nur Philosophie der Ausfluß des Wahrhaft-Männlichen. Dann wären Dichter mit männlichen Zügen nur eigentlich Philosophennaturen, die sich durch das Mittel der Dichtkunst aussprechen. Und Haupt-manns Dichtung erscheint vielleicht nur deshalb so unphiloso­phisch, weil er ein wirklicher Dichter ist!?

Die Aufführung im Deutschen Theater ist in jeder Beziehung aller Anerkennung wert. Die Regie war dem Stil des Werkes ge­wachsen, und die Darsteller boten mustergültige schauspielerische Leistungen. Den Zettel abschreiben, um bei jedem Namen ein lobendes Wort zu sagen, wäre das einzige, was man tun könnte, wenn man nicht durch Nennung des einen dem andern unrecht tun wollte. Aber Rudolf Rittner (Fuhrmann Henschel) und Else Lehmann (Hanne> müssen genannt werden, weil sie die beiden schwierigsten Aufgaben in der denkbar besten Weise gelöst haben.

«DER STAR»

#G029-1960-SE300 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER STAR»

Ein Wiener Stück in drei Aufzügen von Hermann Bahr

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Hermann Bahr ging einst aus, das Königreich der großen, neuen Kunst zu suchen. Und jetzt bringt er >1heaterstücke heim, die Blu­menthaischen Geist in sich haben. Saul, des Kis Sohn, hat es anders gemacht. Jawohl, der Mann, der vor noch nicht langer Zeit den Mund voll genommen und gesagt hat: «Nur in einem Punkte ist kein Streit, in einem Punkte sind alle einig, die Alten und die Grup­pen der Jugend. In einem Punkte ist kein Zweifel: daß der Natu­ralismus schon wieder vorbei ist und daß die Mühe, die Qual der Jugend ein Neues, Fremdes, Unbekanntes sucht, das noch keiner gefunden hat. Sie schwanken, ob es neuer Idealismus, eine Synthese von Idealismus und Realismus, ob es symbolisch oder sensitiv sein wird. Aber sie wissen, daß es nicht naturalistisch sein kann.» (Bahr, Studien zur Kritik der Moderne. 1894.)

Auf dem Felde der dramatischen Kunst ist sich heute Hermann Bahr klar, wie es sein muß. Nicht naturalistisch, nicht symboli­stisch; es muß ganz einfach blumenthalisch sein.

Am 12. November sprach deshalb Hermann Bahr in dieser neuen Weise zu uns. Der «Star» Lona Ladinser hat die Haupt­rolle in dem Stücke des Postbeamten Leopold Wisinger gespielt. Das Stück ist jämmerlich durchgefallen. Die Schauspieler ärgern sich natürlich, wenn die Stücke, in denen sie spielen, durchfallen. Deshalb ist am Tage nach der Premiere im Hause der Lona Ladin­ser ein furchtbares Geschimpfe. Das Dienstmädchen der Lona, die Iona selber, ein Fräulein Zipser - eine ausrangierte Schauspielerin und Gesellschafterin der Lona -, sie alle schimpfen auf das Publi­kum, auf den Dichter, auf die Kritik. Sie schimpfen alle in witzi­gen, pointierten Sätzen, so etwa, wie wenn ihnen der Feuilletonist Bahr erst jeden Satz ihres Geschimpfes sorgfältig eingetrichtert hätte. Das ist alles weder Naturalismus noch Symbolismus, sondern eben Blumenthalismus. Zunächst wenigstens ein guter. Dann aber kommt's schlimm. Denn wie sich der durchgefallene Dichter und

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die Lona ineinander verlieben, wie der Dichter nervös wird und schimpft und poltert, weil seine Geliebte von dem Leben, das sie vorher geführt hat, nicht lassen kann, wie dieses Leben selbst vor den Zuschauern entwickelt wird und wie die beiden sich wieder trennen, weil der Postbeamte doch seine «Grete> dem Theaterstern vorzieht, endlich, wie dieser Stern sich wieder den Brettern, die die Welt bedeuten, mit ganzer Seele hingibt: das alles spielt sich in drei Akten ab, die schlechter Blumenthalismus sind. Ursprüng­lich soll das Stück sogar vier Akte gehabt haben. Den vierten hat man gestrichen, weil er noch böser als die beiden vorhergehenden sein soll.

Hermann Bahr hat vor ein paar Jahren über die «Einsamen Menschen> das Urteil gefällt: «Und endlich die , in denen er (Gerhart Hauptmann) sein Werk, das ihn er­wartete und brauchte, vollbracht und die lange Sehnsucht seiner Leute erlöst hat, indem er mit genialer Bravour die Holzsche Tech­nik theatralisierte: von allem der Menge irgendwie Anstößigen, das ihren Verstand behelligen könnte, reinlich und sauber aus­geputzt, auf die lieben Gewohnheiten teutonischer Parterre ein­gestellt, Europa auf den Müggelsee reduziert, wie wenn man Mau­rice Maeterlinck Herrn Kadelburg übergäbe.> Jetzt schreibt Her­mann Bahr ein Stück, in dem er zeigt, daß kein Werk ihn er­wartete und brauchte, ein Stück, in dem er die lange Sehnsucht seiner Freunde - vorausgesetzt, daß sie nicht blind sind - scl'mih­lich enttäuscht, in dem er mit pumper Bravour die Blumenthalsche Technik imitiert, auf alles der Menge Gefällige spekuliert, Europa auf die Witze hinter den Kulissen reduziert, wie wenn man Herrn Kadelburg Herrn Hermann Bahr übergeben hätte.

Diesen «Star>, dieses Sammelbecken von Erfahrungen innerhalb der weniger guten Theaterwelt in Bahrsche Feuilletonwitze ge­kleidet, hat derselbe Mann geschrieben, der einst von sich sagte:

«Doch darf ich mich trösten, weil es immerhin ein hübscher Ge­danke und schmeichelhaft ist, daß zwischen Wolga und Loire, von der Themse zum Guadalquivir heute nichts empfunden wird, das ich nicht verstehen, teilen und gestalten könnte, und daß die euro­päische Seele keine Geheimnisse vor mir hat.>

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Um seine dramatischen Banalitäten zu rechtfertigen, hat Her­mann Bahr jetzt eine eigene Theorie erfunden. Am 22. Oktober hat er in der Wochenschrift über das «Weiße Rößl> geschrieben, daß er sich bei der Aufführung «ausgezeichnet unter-halten» habe. Und dann weiter: «Unsere jungen Leute sagen ja freilich, daß sie das Theater verachten. Ich glaube nicht, daß sie recht haben; in allen großen Zeiten ist es das Größte gewesen, im­mer hat im Theater die Kultur ihre letzten Worte ausgesprochen. Aber gut. Nur sollen sie es dann in Ruhe lassen. Ich mag sagen: ich will ein stiller Gelehrter sein, ich bin mir genug, ich brauche die andern nicht, ich verlange gar nicht, gehört zu werden. Nur darf ich dann nicht reden wollen. Wenn ich reden will, muß ich zuerst ein Redner sein ... Wenn unsere jungen Leute nur erst einmal können, was Blusuenthal und Kadelburg kann, dann wird es ihnen das Publikum schon verzeihen, daß sie sind.»

«Der Dichter verhält sich zum Dramatiker, wie sich etwa ein Gelehrter zum Redner verhält. Ein Gelehrter kann die größten Gedanken haben, er muß deswegen noch kein Redner sein. Ein Redner ist, wer die Gewalt hat, durch Worte die Hörer so zu be­herrschen, daß sie ihm zustimmen. So ist ein Dramatiker, wer die Mittel des Theaters so kommandiert, daß der Zuschauer das fühlt, was er ihn fühlen läßt.»

Hermann Bahr lebt in Wien. Dort gibt es einen Redner, der es vermag, die Leute durch Worte so zu beherrschen, daß sie ihm zustimmen. Die es tun, haben den Redner deshalb zum Bürger­meister gemacht. Er heißt Lueger. Er hat diejenigen in seiner Gewalt, gegen deren Haupteigenschaft die ältesten Götter selbst vergebens kämpfen. Gelehrte gehet hin und lernet von ihm das Reden, so wie Hermann Bahr von Blumenthal und Kadelburg das Dramenmachen gelernt hat!

Die Aufführung im Lessing-Theater und das Publikum waren brav. Die Darsteller spielten recht gut; das Publikum klatschte Beifall und rief den Autor mehrmals. Dieser verneigte sich dann immer, indem er die rechte Hand in graziösem Schwunge gegen das Herz bewegte. Andere Störungen konnte ich an diesem Abend nicht bemerken.

«DIE BEFREITEN»

#G029-1960-SE303 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE BEFREITEN»

Ein Einakterzyklus von Otto Erich Hartleben

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Otto Erich Hartleben reist jedes Jahr nach Rom. Ich begreife nun zwar, daß gewisse Philister jedes Jahr ein Nordseebad auf­suchen müssen, warum aber Otto Erich alljährlich zur gleichen Jahreszeit nach Italien gehen muß: das schien mir doch einer Frage an den Träger dieser absonderlichen Gewohnheit vor dem letzten Romzuge wert zu sein. Ich habe für diese Frage eine ge­eignete Stunde abgepaßt - und auf diese Weise erhielt ich eine Antwort. Otto Erich sagte mir, er müsse jedes Jahr nach Rom, um der Misere des Berliner Lebens zu entgehen. In dieser schönen Stadt sei man ansässig und deshalb mit tausend Kleinigkeiten geplagt, bei Tag und bei Nacht. Ich will gar nicht einmal ver­schweigen, daß er bei dieser Gelegenheit von dem Ärger sprach, den ihm seine Mitherausgeberschaft beim «Magazin für Litera­tut> verursacht. Kurz: man ist in Berlin gezwungen, die «kleinen Linien> zu sehen, die das Leben zieht. Diesen kleinen Linien will Otto Erich Hartleben jedes Jahr für ein paar Wochen entfliehen, um das Leben in «großen Linien» zu sehen.

So ist Otto Erich Hartleben. Es gibt keinen Höhepunkt der Anschauung, auf den er sich nicht stellen könnte, um das Leben zu betrachten. Aber er sucht sich den bequemsten Weg, um zu diesem Höhepunkte zu gelangen. Ein alter Spruch sagt: es gebe keinen Königsweg zur Mathematik. Ich vermute, daß Otto Erich nie sich um Mathematik kümmern wird. Ich kenne keine Tiefen der Weltanschauung, die ihm nicht zugänglich wären. Aber er wird recht eklig, wenn es erst Arbeit kosten soll, um zur Tiefe zu kommen. Der Ernst des Lebens ist ihm bekannt wie nur irgend­einem, aber er hat die Gabe, diesen Ernst so leicht wie möglich zu nehmen. Mir ist nie ein Mensch begegnet, in dem ich ein vor­nehmes Epikuräertum so verwirklicht gefunden hätte wie in ihm. Er ist ein Genußmensch, aber die Genüsse, die er sucht, müssen

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auserlesene Eigenschaften haben. Eines Tuns, das nur im entfern­testen an das Gemeine erinnert, ist er nicht fähig.

Alles, was er tut, hat Größe. Und seine Größe gibt sich nie den Anschein der Wichtigkeit. Am liebsten macht er einen passenden Scherz, wenn die andern anfangen, pathetisch zu werden und ihren Reden Bleikügelchen anhängen, damit sie schwer genom­men werden.

Man muß diese Eigenschaften Otto Erich Hartlebens kennen, um das erste Stück seines Einakterzyklus, den «Fremden», zu ver­stehen. Als ich es las, erinnerte ich mich sofort an die «großen Linien>, denen zuliebe er alljährlich nach Rom geht. Es ist das ewige Problem: eine Frau hat einen Mann geliebt, einen anderen aus irgendwelchen Giunden geheiratet, dieses nicht ertragen, und findet ein verspätetes Glück mit dem erstgeliebten. Wie sich das im Leben abspielt, das ist im Grunde gleichgültig. Das Tiefe liegt in den Beziehungen der Menschen zueinander. Und diese Be­ziehungen hat Hartleben in «großen Linien> hingestellt. Ob dabei die Leute, die alles «sehen> wollen, auf ihre Rechnung kommen, ist auch gleichgültig. Für diese Leute, die fragen, was «vorgeht>, hätte der Dichter natürlich eine «dramatische Fabel» mit allerlei interessanten Details erfinden und diese in drei Akten verarbeiten müssen. Um diese Leute hat er sich aber nicht gekümmert. Des­halb hat er «mit Außerachtlassung aller Details> die großen Züge der Sache hingestellt. Der Goethe, der den «Tasso> gedichtet hat, hätte an dem seine Freude gehabt.

Von der Aufführung habe ich vor allen Dingen Größe, Stil er-wartet. Ich habe nichts davon gefunden. Theater war alles. Dies kleine Drama aber erfordert Kunst. Es wäre eine Ehrenaufgabe des Lessing-Theaters gewesen, hier einmal zu zeigen, was man durch das Theater leisten kann. Eine gute Aufführung dieses Ein­akters hätte alle Reden der Widersacher des modernen Theaters für eine Weile zum Verstummen bringen können. Es tut mir leid, aber ich muß es sagen: Als ich das Drama las, empfand ich Größe, die vorhin geschilderte Hartlebensche Größe. Als ich es sah, emp­fand ich keine Spur von dieser Größe. Alles war ins Kleine umgesetzt. Ich wäre am liebsten davongelaufen.

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Der zweite Einakter «Abschied vom Regiment>, scheint mir viel weniger wertvoll als «Der Fremde>. Ich kann weder der Offi­ziersfrau, die vom Manne geheiratet worden ist, damit er seine Schulden bezahlen könne, noch diesem Manne, den sie mit einem Regimentskameraden betrügt, ein besonderes Interesse entgegen­bringen. Daß zuletzt die Sache offenbar, der Offizier in eine andere Garnison versetzt und nach dem Abschiedsessen von dem Ver­führer getötet wird: das alles ist mir erst recht einerlei. Davon aber habe ich gar nicht zu sprechen. Wohl aber davon, daß hier Hartleben als Meister der dramatischen Technik gewirkt hat. Tadellos fügt sich hier alles aneinander: man wird durch das «Wie> mitgerissen, selbst wenn einem das «Was> höchst einerlei ist.

Ich möchte mich bei diesem schwächsten der vier Einakter nicht aufhalten. Auf ihn folgte «Die sittliche Forderung>. Rita Revera ist dem unter sittlichen Forderungen stehenden Rudolstadt entflohen und eine gefeierte Sängerin geworden. So findet sie «Friedrich Stierwald, Kaufmann, Inhaber der Firma C. W. Stier-wald & Söhne in Rudolstadt». Er will sie wieder in das sittliche Rudolstädter Leben zurückführen. Nach seiner Ansicht müsse sie das: denn sittlich müsse man sein, damit die Sittlichkeit bestehen kann. Nebenbei bemerkt: dazu sagt Alfred, mein Kert: «Weiland Paul Lindau hat denselben Witz gemacht. Er rief: Wozu wäre die Moral da, wenn man sie nicht hätte?> Aber guter Kerr: Verstehen Sie denn weder Lindau noch Hartleben? Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, Ihnen etwas über den Unterschied zu sagen. Ich frage Sie bloß: Wissen Sie denn nicht, daß Nietzsche von der «sitt­lichen Forderung> entzückt gewesen wäre und daß er Paul Lindau ...

- nicht weiter. Doch, ich lese ja Ihre Breslauer Berliner Briefe und sollte eigentlich wissen, daß Sie Nietzsche nicht zu mögen geruhen.

Ich komme an den letzten Einakter, «Die Lore>. Ich habe die Geschichte vom «abgerissenen Knopf> immer so entzückend ge­funden, daß ich der Meinung bin, der Verleger S. Fischer habe mit ihr das glänzendste Geschäft gemacht und jedermann kenne sie. Ich erzähle sie also nicht. Ich sage nur soviel: sie dramatisiert auf der Bühne zu sehen, ist ein seltener Genuß. Hier ist, was Otto

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Erich überhaupt in seiner Gewalt hat, das Leichte, Alltägliche, zur Kunst geworden

Es geziemt sich nicht, daß ich meinen Mitherausgeber lobe. Deshalb habe ich nur die Schwächen seiner vier Einakter hervor­gehoben.

«DAS LIEBE ICH»

#G029-1960-SE306 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS LIEBE ICH»

Volksstück in drei Akten und einem Vorspiel von C. Karlweis

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Während der furchtbaren Langeweile, die dieses «Volksstück» drei Stunden lang verursacht, taucht immer wieder der Gedanke auf: Da hat einer ein Raimund werden wollen und hat es nicht einmal bis zur Birch-Pfeiffer und zu O. F. Berg gebracht. Etwas, das in seiner Sentimentalität und plumpen Possenhaftigkeit gleich aufdringlich und gleich nichtssagend ist, wird man innerhalb des dramatischen Genres, dem dieses Stück angehören will, nicht leicht finden können. Ein widerwärtiger Kerl mit allen Instinkten, die die Gemeinheit und Niedrigkeit zeitigt, quält seine ganze Um­gebung, weil er nur das eigene Ich zu lieben vermag. Er malträ­tiert sein Weib, er verurteilt seinen Sohn zur Faulenzerei, ob­gleich dieser in der Fabrik des Vaters als selbständiger Mitarbeiter gern tätig sein möchte. Denn der alte Egoist will das «Peitscherl» nicht weggeben, solange er noch einen Atemzug tun kann. Er ver­sagt seine Zustimmung, als seine Tochter dem Mann ihrer Liebe die Hand reichen will, weil es seiner gemeinen Gesinnung besser entspricht, sie an einen andern zu verkuppeln; und als ein guter Freund in Not und Elend kommt, ist von dem Ich-Liebhaber nicht ein Heller herauszubringen. Dies der erste Akt. Ihm geht ein Vor­spiel voraus, das einen Streit der Fee Humanitas mit der Wiener Fee darstellt. Symbolisch soll angedeutet werden, wie das «gute Wiener Herz» von aller Humanität verlassen, auf den Weg des Eigennutzes und der Lieblosigkeit geführt werden kann. Aber der

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Wiener muß doch sein goldenes Herz wieder entdecken. Zu dieser Entdeckungsreise verbindet sich «Gott Morpheus» mit der Humanitas und der Wiener Fee und läßt - im zweiten Akt - den bösen Egoisten in einen schlimmen Traum verfallen, der dem Träumer zeigt, wohin sein harter Sinn ihn führen wird, wenn Gott ihn strafen und zum armen Mann machen will. Und als sich der Vorhang zum dritten Akte wieder hebt, da ist der Egoist ge­heilt: mit possenhafter Behendigkeit hat der «Dichter» den Sünder zum besten Vater, zum Menschenfreund und zum musterhaften Gatten gemacht.

Das alles spielt sich mit unsäglicher Plumpheit ab. Karlweis will naiv wie Raimund sein; er ist aber nur kindisch. Auch nicht ein Hauch von jenem Geiste ist in dem Stücke wahrnehmbar, durch den uns Raimund sogleich gewinnt, wenn sich der Vorhang hebt und seine Zaubermärchen vor unseren Augen spielen.

Die Rolle des alten Egoisten, den Florian Heindl, spielte Herr Bonn. Er hat alles getan, um die Figur noch widerwärtiger zu machen, als sie durch den Dichter geworden ist. Fräulein Groß, die im Vorspiel die Wiener Fee, im Drama die Verlobte des jun­gen Heindl zu spielen hat, war in beiden Rollen nur eine

«DIE DREI REIHERFEDERN»

#G029-1960-SE307 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE DREI REIHERFEDERN»

Märchenspiel von Hermann Sudermann

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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«Ich hebe mein Haupt kühn empor zu dem drohenden Felsengebirge und zu dem tobenden Wassersturz und zu den krachenden, in einem Feuermeer schwimmenden Wolken und sage: ich bin ewig und trotze eurer Macht! Brecht alle herab auf mich, und du Erde und du Himmel, vermischt euch in wildem Tumulte, und

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ihr Elemente alle, schäumet und tobet und zerreibet im wilden Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein nenne: mein Wille allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trümmern des Weltalls schweben; denn ich habe meine Bestimmung ergriffen, und die ist dauernder als ihr; sie ist ewig, und ich bin ewig wie sie.> Diese Sätze sprach Fichte in einer Rede aus, die von den höchsten Zielen des menschlichen Geistes handelte. Wer sie kennt, dem können sie in der Erinne­rung aufsteigen, wenn er Sudermanns neueste dramatische Dich­tung «Die drei Reiherfedern» kennenlernt. Denn die Tragödie des Menschen, den ein unseliges Geschick so weit als möglich abtreibt von dem stolzen Bewußtsein, das sich in diesen Sätzen ausspricht, wirkt in dem gedankenvollen Drama auf uns ein, und zwar in der erschütternden Weise, die wir immer dann verspüren, wenn mit den packenden Mitteln des Dramatikers die größten Probleme des Lebens vor uns aufgerollt werden.

Eine Hamletnatur, nicht bloß vor das Problem gestellt, den ver­brecherisch getöteten Vater zu rächen, sondern vor das größere:

mit dem Leben selbst, in seiner ganzen Rätselhaftigkeit, fertigzu­werden: das ist Sudermanns Hauptgestalt, der Prinz Witte. Ihm ist durch Widwolfs ruchlose Tat das angestammte Erbgut seiner Väter, das Herzogtum Gothland, geraubt. Mit allen Gaben scheint er gerüstet, zu erwerben, was er ererbt von seinen Vätern hat. Doch wie Hamlets Wille, so ist auch der seinige gelähmt. Das Schicksal selbst hindert ihn, sich die Freiheit und das Leben da­durch zu verdienen, daß er täglich sie erobern müßte. Der Grund zu seiner Tragödie ist, daß ihm dieses Schicksal ohne Kampf, ohne Streben das Glück an den Kopf wirft. Aber ein solches Glück kann dern Menschen nimmer frommen.

Zu einem Volke auf einer nördlichen Insel ist Prinz Witte ge­zogen, wo ein Reiher als göttliches Wesen verehrt wird. Von die­sem hat er drei Federn erbeutet. Sie können ihm die drei Ent­wickelungsstufen desjenigen Glückes bringen, das allein dem Men­schen geschenkt werden kann. Doch ein solches Glück könnte nur dem vergänglichen Leben angehören. Dem Leben, mit dem der Tod in unzertrennlichern Bunde einhergeht. Dem Leben, das uns

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verbittert wird, wenn wir an den Tod denken. Ja, dessen einziger, nichtiger Sinn eben der Tod ist. Dem Tod, der allein über ein solches vergängliches Lebensglück Aufschluß geben kann, hat Sudermann in der «Begräbnisfrau» einen symbolischen Ausdruck gegeben. Sie deutet des Prinzen Schicksal im Sinne der drei Reiher­federn. Wenn er die erste im Feuer verbrennen läßt, erscheint ihm das Weib, das ihn glücklich macht, als Nebelgestalt in den Wolken. Verbrennt er die zweite, wird sie traumwandelnd vor ihm stehen. Er wird sie in Händen halten und doch vergebens sie zu besitzen streben. Und wird endlich auch die dritte die Nah­rung der Flamme, dann stirbt vor seinen Augen das Weib, das sein Glück bedeutet.

Wie der Wille, der in ,dem Prinzen selber gelähmt ist, steht dessen treuer Knecht Hans Lorbaß neben ihm. Der sucht ihn immer wieder aufzurichten. Der ist die Kraft und das Feuer auf Prinz Wittes Lebenswegen. In der ersten Szene des Dramas ent­hüllt er uns auch schon dessen ganzes Lebensschicksal:

«Denn in jedem großen Werke,

Das auf Erden wird vollbracht,

Herrschen soll allein die Stärke,

Herrschen soll allein, wer lacht,

Niemals herrschen soll der Kummer,

Nie wer zornig überschäumt,

Nie wer Weiber braucht zum Schlummer,

Und am mindesten, wer träumt,

Drum wie ich ihn schweiß und stähle

Dazu, was er werden kann,

Sitz ich fest in seiner Seele Ich, der Kämpfer ich, der Mann.»

Den ihm vom Schicksal vorgezeichneten Lebensweg tritt Prinz Witte mit seinem Knechte Lorbaß an, den er nach Erbeutung der Reiherfedern wiedergefunden hat. Er geht an den Hof der Bern­steinkönigin von Samland, die Witwe ist und einen sechsjährigen Sohn hat. Sie will dem die Hand geben, der im Turnier den Sieg

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davonträgt. Widwolf, der Wittes Thron geraubt, trifft hier mit dem Beraubten zusammen. Zwar siegt Witte nicht, aber der treue Lorbaß tritt ihm zur Seite und vertreibt Widwolf und dessen Mannen. Dennoch schenkt die Königin Witte ihre Liebe. Sie ist das Weib voll Güte und Hingebung, das aber ihre Liebe ver­schenken muß. Sie kann nur den als Sieger ansehen, der ihr Herz erobert hat; und das ist Prinz Witte. Er wird König, trotzdem das Volk der Samlandkönigin schwere Gewissensskrupel empfindet, weil Witte doch keinen ehrlichen Sieg errungen - und trotzdem er sich nicht glücklich fühlt, weil er den Thron nicht für sich erhält und verteidigt, sondern für den jungen König aus seines Weibes erster Ehe: Das Schicksal aber, das über das Glück des vergänglichen Lebens entscheidet, hat dem Prinzen dies Weib als sein Glück zugeteilt. Er kann dieses Schicksal nicht verstehen. Fremd bleibt ihm das bescherte Weib, und seine Sehnsucht lechzt nach der vermeintlich Unbekannten, die ihm nachtwandelnd er­scheinen soll, wenn er die zweite Reiherfeder verbrennt. Lorbaß sieht seinen Herrn allmählich hinwelken an der Seite der Königin. Er gibt ihm deshalb den Gedanken ein, die zweite Reiherfeder zu verbrennen. Und als diese zur Flamme wird, erscheint «nacht-wandelnd» die Bernsteinkönigin, seine Frau. Auch jetzt kann er sie nicht als das ihm vom Schicksal zugewiesene Weib anerken­nen. Als Störenfried vielmehr sieht er sie an. Sie habe, meint er, durch ihr Erscheinen die Unbekannte aus Eifersucht vertrieben, die beim Verbrennen der Reiherfeder hätte erscheinen müssen. In diesem Momente wirkt von der Bühne herab der tief ergreifende Geist dieses Dramas: Wir verstehen ein Glück nicht, das wir mühelos, wie durch einen Zauber, als Geschenk erhalten; nur das erworbene Glück können wir als das uns gebührende anerkennen. Diese allgemeine Wahrheit vermittelt uns Sudermann durch ein rein menschliches Motiv. Witte kann den Weg zum Herzen der Gattin nicht finden, weil der Sohn, der nicht die Marke seines Blutes trägt, dazwischensteht. Er gibt Lorbaß sogar einen Wink, diesen Sohn aus dem Wege zu schaffen. Denn der Räuber Widwolf erscheint zum zweiten Male, um nach der Königin zu begehren. Witte soll für sich und die Seinen kämpfen. Er glaubt dies so

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lange nicht zu können, als er nicht den eigenen, sondern des Stief­kindes Thron verteidigt. Als Lorbaß den Königsknaben in all sei­ner Vortrefflichkeit kennenlernt, kann er ihn nicht töten. Und auch Witte ist froh darüber, daß diesmal der treue Knecht die Treue gebrochen hat. Mit all der Kraft, die in ihm ist, stürzt er sich dem Feinde Widwolf entgegen und erobert das Königreich nun wirklich, aber um darauf zu verzichten und weiterzuziehen, das Weib zu suchen, das ihm durch die Feuerkraft der Reiher­federn bestimmt sein soll. Er findet es natürlich nicht, sondern kehrt nach fünfzehn Jahren zurück, um in Gegenwart der Bern­steinkönigin die dritte der Federn zu verbrennen. In diesem Augenblicke verfällt die ihm vom Schicksal Bestimmte dem Tode. Erst jetzt, da ihm das Glück entflieht, erkennt er, daß es für ihn bestimmt war. Er stirbt seinem Weibe nach. Der Tod, in Gestalt der Begräbnisfrau, hat keine Mühe gehabt, die beiden für sich ein­zuheimsen, denn es wurde ihm ein leichtes, ihnen ein vergäng­liches Glück zu geben, das sie beide nicht als das ihrige erkennen können. Er erhält das Glück als Geschenk und kann es nicht er­kennen, weil er es nicht erobert; und sie verschenkt das Glück und kann desselben nicht froh werden, weil sie es wahllos hin­gegeben.

Es gibt in diesem Sudermannschen Drama keinen toten Punkt. Man sitzt da und wartet auf jeden kommenden Augenblick mit gespanntester Aufmerksamkeit. Immer der Hintergrund eines großen Gedankens und immer auf der Bühne ein fesselndes Bild. Man hat das Gefühl, daß sich ein ernster Mensch mit ernsten Menschen über eine wichtige Sache des Lebens verständigen will. Voller Dankbarkeit, ein Stück Lebensauffassung in einer Dich­tung gesehen zu haben, verlassen wir das heute meist welt­anschauungslose Theater.

Die Darstellung im Berliner Deutschen Theater wär eine solche, daß man sie als eine dramatische Erscheinung ersten Ranges wür­dig bezeichnen darf. Kainz als Prinz Witte: man darf das höchste Lob spenden; Teresina Geßner war eine Bernsreinkönigin, die die Seele erbeben machte, und Nissens Lorbaß sollte so schnell wie möglich der deutschen Bühnengeschichre einverleibt werden. Das

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Deutsche Thater hat viel gutzumachen nach der gänzlich miß­lungenen Cyrano-Aufführung; aber es versteht gutzumachen. Und nur wo starke Vorzüge vorhanden, macht man solche Fehler wie den an dieser Stelle schwer gerügten.

«DIE ZECHE» und mehr

#G029-1960-SE312 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE ZECHE»

Schauspiel in einem Aufzug von Ludwig Fulda

«EIN EHRENHANDEL»

Lustspiel in einem Aufzug von Ludwig Fulda

«UNTER BLONDEN BESTIEN»

Komödie in einem Aufzug von Max Dreyer

«LIEBESTRÄUME»

Komödie in einem Aufzug von Max Dreyer

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Man gibt im Lessing-Theater diese vier Einakter in der Reihen­folge: Zeche, Unter blonden Bestien, Ehrenhandel, Liebesträume. Dadurch hat der Zuschauer Gelegenheit, eine gewisse Beobach­tung zweimal hintereinander zu machen. Bei Fulda hat er den Eindruck eines in sich geschlossenen Bildes. Es ist alles da, was man wissen möchte. Der Dichter hat ein Gefühl davon, daß der Mensch ungeduldig wird, wenn man eine Sache vorbringt und ihm nicht zugleich alles sagt, was er braucht, wenn er die Sache verstehen will Wenn nach jedem der beiden Fuldaschen Ein­akter der Vorhang niedergelassen wird, haben wir das Gefühl: wir wissen alles, was wir verlangen können, wenn die Sache, die wir da sehen, uns in befriedigender Weise einleuchten soll. Bei Dreyer ist das ganz anders. Es wird der Vorhang gehoben: wir haben das

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Gefühl der Verblüfftheit. Und aus diesem sind wir auch nicht wieder herausgekommen, wenn das Stück zu Ende ist. Wir haben ungefähr die Empfindung, wie wenn uns jemand aus einem größe­ren Bilde ein kleines Stück herausgeschnitten zeigte. Wenn wir nun auch der Ansicht sind, daß alles vortrefflich ist, was wir auf dem herausgeschnittenen Stücke sehen: wir werden doch ungedul­dig, weil wir wissen, daß zu dem Dinge etwas gehört, was wir nicht kennen. Ein Einakter von Dreyer wirkt wie eine Szene aus einem größeren Drama, nicht aber wie ein kleines Kunstwerk für sich.

Fulda stellt in der «Zeche» einen Vorgang dar, der sich in weniger als in einer Stunde abspielen kann. Wir haben einen Edelmann vor uns, der in einem Badeort Heilung für seinen durch eine etwas flotte Lebensweise heruntergekommenen Organis­mus sucht. In diesem Badeorte trifft er mit dem Weibe zusam­men, dem er vor mehr als dreißig Jahren die Liebe von derjenigen Ewigkeit geschworen hat, die dann endet, wenn die Verwandten des Liebhabers die Verführte aus dem Hause werfen. Das Weib ist durch einen Zufall nicht zugrundegegangen. Die Frucht der Liebe, an die sie geglaubt, mit der aber der Edelmann nur gespielt hat, ist ein treuer Sohn geworden, der der Mutter alles ersetzt, was das Leben ihr geraubt hat. Und dieser Sohn ist der Badearzt des Ortes, in dem sich der Held unseres Stückes wieder geeignet machen will, sein lockeres Leben fortzusetzen. Der Mann trifft also mit dem eigenen Sohn und dessen Mutter zusammen. Der Augenblick erhält Gewalt über ihn. Er möchte die einst Verführte heiraten und den Sohn anerkennen. Er erhält dafür die rechte Antwort. Das Leben dreier Personen, das sich in den Vorgängen einer halben Stunde als Wiederholung im kleinen abspielt, tritt vor uns hin. So muß ein Einakter sein.

Dreyer läßt eine norddeutsche Gutsbesitzerin vor uns auftreten, die einen Violinvirtuosen auf dem Klavier begleitet. Der Mann der Gutsbesitzerin ist auf der Jagd. Der Virtuose möchte, daß die­ser Mann nicht nach Hause käme. Er bestürmt die Frau mit Liebes-anträgen. Die Frau verlangt, daß er alles, was er ihr unter vier Augen gesagt hat, auch vor ihrem Manne wiederhole. Sonst wolle

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sie diesem selbst alles sagen. Der Mann kommt der Virtuose macht sich aus dem Staube. Um für dergleichen Interesse zu haben, müßten wir über die Personen allerlei erfahren, was uns Dreyer vorenthält. Eine Szene, aber keinen Einakter haben wir vor uns. Wenn der Vorhang fällt, sind wir im Grunde so klug wie vorher. Es war kein besonders glücklicher Gedanke, Fulda mit Dreyer abwechseln zu lassen. Denn wenn man Dreyer sah, mußte man immer an Fulda zurückdenken, weil man sozusagen einen Beweis durch das Gegenstück für die künstlerische Abrundung bei Fulda bekam.

Im «Ehrenhandel> küßt auf einem Balle ein Regierungsrat die Frau eines Majors und wird von diesem überrascht. Ein Duell wäre unvermeidiich, wenn es auf Wirklichkeit ankäme. Doch kommt es darauf eben nicht an. Sondern darauf, daß der Drama­tiker an Stelle der Wirklichkeit einen guten Einfall in äußerst graziöser Weise setzt. Die Frau des Regierungsrates läßt sich ein­fach von dem Major wiederküssen, und zwar unter charmanten Begleitvorgängen, die uns lieber sind als die Vorbereitungen zu einem Duell und das Hereintragen eines mehr oder weniger leicht Verwundeten.

Dreyers «Liebesträume> muten dem Sinne des Wirklichkeits­fanatikers nicht weniger zu. Aber sie entschädigen dafür um so weniger durch einen künstlerischen Witz. Ein etwas täppischer Draufgänger hält um die Hand einer mit ihm verwandten Guts­besitzerin an, eines robusten Frauenzimmers, das sich aus einem «Elefantenküken> allmählich zu einer derben Agrarierin mit recht handfesten Idealen entwickelt hat. Eins von diesen Idealen ist eine «Fettsau>, die sie auf ich weiß nicht wieviel hundert Zentner gebracht hat. Den Heiratsantrag ihres Verwandten will sie noch ein wenig «beschlafen>. Der Vetter aber füllt die Warte­zeit damit aus, daß er ein kleines Mädchen im Mondenschein und ein Stubenmädchen, wo er es eben treffen kann, abküßt. Als die erkorene Gutsbesitzerin die polygamen Neigungen ihres Bräu­tigams, noch bevor sie sich die Sache beschläft, gewahr wird, haut sie ihn mit der Peitsche durch. Es geht ihm wie manchem Pudel. Er weiß gar nicht einmal, warum er die Prügel bekommt. Denn

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die fettschweinzüchtende Dame haut zu, ohne ein Wort zu sagen. Und mit den Prügeln ist auch das Stück zu Ende.

Es besteht ein genaues Verhältnis: wie die Lippen der schönen Majorin zur Reitpeitsche der Frau Gutsbesitzerin verhält sich der «Ehrenhandel> zu den «Liebesträumen».

Die Darstellung war recht gut. Adolf Klein als abgelebter Frei­herr in der «Zeche> und Rosa Bertens als ehemalige Geliebte hol­ten ebenso die Reize dieses Stückes heraus wie Schönfeld als Re­gierungsrat diejenigen des «Ehrenhandels».

Ferdinand Bonn als Violinvirtuose und Elise Sauer als Guts-besitzerin (sowohl in «Unter blonden Bestien» wie in den «Liebes-träumen>) konnten aus Steinen, die eben keine Feuersteine sind, auch keine Feuer des Witzes schlagen.

ARISTOPHANES

#G029-1960-SE315 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ARISTOPHANES

Aufführung des « Vereins für historisch-moderne Festspiele»

im Neuen Theater, Berlin

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Zwei Aristophanische Komödien hat der Verein von Künstlern und Literaten, der jetzt in Berlin «historisch-moderne Festspiele» veranstaltet, auf die Bühne gebracht. Die «Vögel> und den «Weiberstaat». Die werden für die geistreichste Leistung des griechischen Spötters gehalten; zugleich aber auch für die­jenige, die am schwersten zu deuten ist. Der Dichter spricht hier kühner als sonst irgendwo von dem Verhältnis der Menschen zu den Göttern. Und das erzeugt in den Köpfen der Deuter und Aus­leger immer ganz sonderbare Geistesblasen. Insbesondere dann, wenn es sich um einen Dichter handelt, dessen Größe wegen des berühmten Asyls für Urteilsiose, genannt «comsensus gentium»

Übereinstimmung aller , nicht abzuweisen ist. Da möchte denn jeder auch anerkennen. Und deshalb legt er in eine solche an­erkannte Größe alles das hinein, was, nach seiner Meinung, An­erkennung verdient. Eine böse Geschichte ist deswegen dem Schreiber

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des passiert. Dieser Schreiber ist nämlich einer der vielen Nietzsche­Anhänger. Also schrieb er über dem Inhalt der «Vögel»: «Zwei Menschen haben sich aus Athen und dem verworrenen Getriebe des Lebens geflüchtet, geraten in einsamer Gegend unter die Vogelwelt und begründen mit dieser einen Zwischenstaat, das sogenannte , welcher dem Zweck hat, den Verkehr zwischen Menschen und Göttern durch eine Art von Handelssperre zu hintertreibem. Im humorvoller Weise wird die ganze alte Götterwek und in ihr alle abergläubischen Religioms­systeme verspottet, indem eine Vogelmyrhologie an ihre Stelle tritt. Die Götter werden ausgehungert; und zuletzt tritt das Mem­schengeschlecht im seinem Vertreter die Weltherrschaft an, nach­dem die Götter abgesetzt sind. Die hält jetzt der Mensch selbst im der Hand, ganz im Sinne des Satzes vom Fried­rich Nietzsche: » Der komische Herr, der diese Zeilen ge­schrieben hat, scheint nicht den geringstem Sinn für Humor zu haben, denn er nimmt den Menschen, der am Schluß der Aristo­phanischen Dichtung mir den Sehen wir uns daraufhin die Komödie einmal an. Zwei unzu­friedene Athener, Rarefreund und Hoffegut, wandern aus ihrer Stadt aus. Es ist ihnen im dieser allmählich etwas ungemütlich ge­worden. Wenn man an die Zeit demkt, im der die «Vögel» spielen, erscheint das begreiflich. Es war die Zeit, im der die Bürger dieser

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Stadt unausgesetzt belästigt wurden durch Leute, die einen feinen Geruch hatten für alles «Sraarsgefährliche». Alkibiades wirkte da­mals. Ein fähiger, aber ehrgeiziger Mann. Er wollte Athens Macht durch große Eroberungen im Sizilien vermehren. Es gab Gegner dieses Unternehmens. Die Bewohner der Stadt waren im zwei La­ger geschieden. Gegenseitige Befehdung der Parteien führte zu einem wirklich ungemütlichen Zustand. Da mag es Leute genug gegeben haben, die so nach Art des Ratefreund und Hoffegur gedacht haben, im der Fremde eine bequemere Lebensweise füh­ren zu können. Es wird wohl im Athen Gesellen gegeben haben, die sich das Heil im der Fremde im den rosigsten Farben ausmalten. Sie waren das rechte Fressen für einen Aristophanes; Naturen wie er durchschauen die Menschen. Er ist nicht geneigt, zu glauben, daß die Menschen an einem Orre besser sind als an dem andern. Die Torheit seiner Mitbürger wirkt mit einem unwiderstehlichen Zauber auf ihn. Er fühlt sich zu schwach dazu, die Toren zu bes­sern; aber er fühlt sich um so stärker, sie zu verspotten. Und so mag er sich denn gesagt haben: Toren seid ihr im eurer Vater­stadt, weil ihr euch das Leben verleider. Aber da ihr einmal Toren seid, werdet ihr es im der Fremde nicht besser machen. Und da wollte er denn zwei Auswanderer einmal etwas recht Dummes machen lassen. Über alles Bestehende zu schimpfen ist ja die Weltklugheit der Toren; warum sollen Ratefreund und Hof fegur nicht darauf kommen, die Götter anzuklagen, weil sie die Welt so schlecht eingerichtet haben, daß es Ratefreund und Hoffegur im ihr ungemütlich ist. Moderne Unzufriedenheit ist etwas zahmer. Die verlangt bloß eine andere Staatsform. Antike Unzufriedene wollen gleich andere Götter. Ratefreund und Hoffegur gelangen im das Reich der Vögel und wollen diese zu Göttern machen. Und nun spinnt Aristophanes diesen Gedamken aus. Als rechter Schalk schildert er die Verhältnisse in dem neu entstehenden Vogel-Götter-Reich, genannt «Wolkenkuckucksheim». Alles, was er gegen menschliche Torheit auf dem Herzen hat, ladet er ab. Und zuletzt stellt er auch noch den ungleichen Kampf im seiner ganzen Komik dar, der entsteht zwischen dem Vogel-Menschen-Reich und den Göttern. Der Mensch holt sich sogar die Basileia (die

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Herrschaft) aus dem Götterreich und hält im seiner Hand die Blitze des Zeus.

Dieser Mensch hat aber die Götter nur im seiner Einbildung von ihrem Throne gestoßen.

Das Geheimnis der Komik liegt darin, daß ein vollständiger Widerspruch als wirklich vor uns auftritt. Für Aristophanes ist es ein solcher Widerspruch, daß der kleine, schwache Mensch gegen die Götter sich auflehnt. Deshalb läßt er ihn mir den Attributen der Görrermacht erscheinen. Lachen soll man über den Knirps, der sich als Gott erscheint.

Nach demselben Rezept ist der «Weiberstaat» gearbeitet. Die Frauen verkleiden sich als Männer und beschließen im der Volks­versammlung, daß ihnen die Herrschaft über den Staat im die Hände fallen solle. Alle Ideale des menschlichen Zusammenlebens, von der Gütergemeinschaft bis zur freien Liebe, wollen sie ver­wirklichen. Dadurch, daß uns dieses Ideal als wirklich vorgeführt wird, soll es sich selbst lächerlich machen.

Von allen Menschen ist der Humorist vielleicht am schwersten zu verstehen. Wir wissen, daß auf der Seele des wahrhaft großen Humoristen ein tiefer Ernst liegt. Er kann diesem Ernst aber kei­nen rechten Ausdruck geben. Was seine Sehnsucht ahnt, das kann der Humorist nicht gestalten. Aber alles, was er sieht, erscheint als Spott gegenüber diesem Ernst. Und den Spott gibt er uns. Den Ernst behält er für sich. So geht es uns mir Aristophanes. Daß hinter allem seinem Gespörre eine ernste Weltanschauung liegt, das empfinden wir. Wir glauben es ihm, daß ihm diese Welt­anschauung das Recht gab, den Sokrates zu verspotten. Aber wel­ches diese Weltanschauung ist, wissen wir nicht. Wir fragen uns vergebens, wie Aristophanes über die alten Götter dachte. Wollte er sie wiederherstellen oder träumte er von einer neuen Welt­anschauung?

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Sophisten fast Zeitgenos­sen des Aristophanes waren. Und auch über die Sophisten wissen wir nicht recht Bescheid. Wollten sie die Zeitgenossen lächerlich machen, weil diese von der alten guten Kultur abgefallen waren, oder dämmerte in der Seele dieser Spötter eine neue Kultur?

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Weil wir aber selber so gerne unseren Ernst bei uns behalten, so genießen wir die Spötter so gerne. Wenn wir nur ahnen, daß es ihnen mir der Welt so ernst ist wie uns, dann lachen wir mit ihnen herzhaft und sind ganz froh, daß sie uns etwas zum Lachen vorsetzen.

Es gibt wenig so starke Beweise für die menschliche Kraft wie das Lachen. Wir fühlen immer eine gewisse Erhabenheit über das, worüber wir lachen können. Wer sich ereifert über die Schwä­chen seiner Mitmenschen, der ist ein Unfreier, denn er leidet unter diesen Schwächen. Wem aber diese Schwächen als Torheiten erscheinen, der lacht und ist deswegen ein Freier. Er leidet nicht mehr. Und als ein Lachender erscheint uns Aristophanes. Mehr als ein anderer hat er zur Überwindung der alten Weltanschauung getan. Er zeigte, wozu sie geworden ist und man konnte über sie lachen.

Daß sie uns an dieses große Lachen erinnert haben, das sei den Unternehmern der «historisch-modernen Festspiele» nicht vergessen.

«DIE GUTEN FREUNDINNEN» (MON ENFANT)

#G029-1960-SE319 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE GUTEN FREUNDINNEN» (MON ENFANT)

Lustspiel in drei Akten von A. Janvier de la Motte

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Für Lustspiele dieser Art gehört ein entsagungsvolles Publikum. Es soll nicht davon gesprochen werden, daß dies Publikum jeder Art von Kunst entsagen muß, ja allem, was auch nur im entfern­testen an Kunst erinnert. Denn wollte man davon sprechen, müßte man den Punkt berühren, der vielen unserer Theaterdirektoren die Schamröte ins Gesicht treibt wie einer zarten Jungfrau, wenn das Gespräch auf gewisse sehr natürliche Dinge des Lebens kommt. Die Direktoren müssen doch schließlich volle Häuser haben. Und von der Kunst wird zwar behauptet, daß sie ein Bedürfnis jedes menschenwürdigen Daseins ist; aber daraus darf nicht gefolgert werden, daß sie auch ein Bedürfnis jedes theaterdirektorialen Daseins

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ist. Auch die Theaterkasse gehört unter die notwendigen Requisiten eines Schauspielhauses. Deswegen, von Kunst kein Wort! Aber dann müßte man doch, statt der Kunst, irgend etwas anderes abkriegen. Es könnte zum Beispiel möglich sein, daß man sich beim Ansehen eines «Lustspiels» unterhält. «Die guten Freun­dinnen» fordern auch in dieser Hinsicht volle Entsagung. Was die Veranlassung dazu gewesen ist, sie aus dem Nachbarlande zu importieren, dürfte eines der vielen ungelösten Rätsel deutscher Theaterpolitik bleiben.

Der Schriftsteller Latour ist ein Trottel. Er schreibt Stücke, die er seinen «guten Freundinnen> zum Korrigieren gibt. Diese Frauen sind albeine Gänse, im übrigen Sterne der «Gesellschaft». Den schriftstellernden Trottel zu hegen und zu pflegen, ihm ihre Protektion angedeihen zu lassen, macht ihnen das Leben lebens­wert. Namentlich die eine, eine Bankiersfrau, sieht ihre Bestim­mung darin, die schützende Hand über den geliebten Helden der Feder zu breiten. Durch ihren Einfluß wird er Mitglied der Aka­demie. Als der Schützling ein Mädchen heiratet, das auf dem Ge­biete der Literatur die Werke über die Kochkunst zu seinen Lieblingen gemacht hat, will die Freundin Latours ihrer Fürsorge durchaus nicht ein Ziel setzen. Wie eine Mutter will sie weiter für den Dichter sorgen. Der unlirerarischen Frau macht das aber wenig Freude. Das einzig Angemessene scheint ihr, die Bankiers-frau und Muse aus dem Hause zu ekeln. Das verlangt sie ganz energisch von dem Garten. Dem bietet sich dazu eine günstige Gelegenheit. Der Mann der Bankiersfrau gleich den meisten Personen dieses Stückes ein Trottel hat ein uneheliches Kind. Der Vater möchte gerne, daß seine Frau dieses Kind adoptiere. Sie würde es nie tun, wenn sie wüßte, daß es von dem Gatten stammt. Aber wie, wenn ihr eingeredet würde, der geliebte Dichter sei der Vater? Das gelingt. Sie nimmt den vermeintlichen Sprößling statt des Vaters in ihre Pflege und überläßt den Musensohn seiner Frau, welche die Kochbücher liest.

Diese Handlung könnte amüsant sein, wenn die Menschen, zwi­schen denen sie sich abspielt, nicht zu läppisch wären. Oder sie könnte, bei bescheideneren Ansprüchen, auch amüsant sein, wenn

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die reichliche Sauce von Witzen, in der das Zeug gekocht ist, den geringsten Anlaß zum Lachen böte. Unser Lustspieldichter hält offenbar die Banalität für eine notwendige Eigenschaft eines guten Witzes. Und vom Theaterpublikum hat er eine sehr schlechte Meinung.

Die Darsteller bemühten sich redlich, über die Gefahren, die ihnen in jedem Augenblicke drohten, hinwegzukommen. Sie woll­ten den Schwankstil, den das alberne Ding vielleicht am ehesten verträgt, vermeiden; konnten aber den Lustspielron doch nicht festhalten, weil jedes Wort, jeder Vorgang von ihm abführt. Rosa Bertens und Jarno so herumpendeln zu sehen zwischen zwei Sti­len, war noch das einzige Amüsante dieses Abends.

«PELLEAS UND MELISANDE»

#G029-1960-SE321 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«PELLEAS UND MELISANDE»

Drama von Maurice Maeterlinck

Aufführung des «Akademisch-literarischen Vereins»

im Neuen Theater, Berlin

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Es ist Maeterlincks Glaube, daß wir von einem Menschen das denkbar wenigste kennen, wenn wir nur Ohren haben für das, was er spricht, und Augen für das, was er tut, und nicht auch den lebendigen Sinn dafür, was auf dem Grunde seiner Seele vorgeht und das nie in Worten oder Taten einen Ausdruck finden kann. Auf der Seele des Bettlers, dem ich auf der Straße ein Almosen gebe, kann eine Weisheit ruhen, die größer ist als diejenige, welche Plato oder Fichte mit beredten Worten ausgesprochen haben; und in der alltäglichsten Handlung, die sich zwischen zwei Menschen abspielt, kann das große gigantische Schicksal eine Tra­gödie dem äußeren Sinne verbergen, die gewaltiger ist als die. jenige, welche sich in Shakespeares «Othello> ereignet. Ein Großes, vielleicht Welterschütterndes in dem Kleinsten, scheinbar Un­bedeutendsten zu sehen, ist eine hervorstechende Eigenschaft in Maeterlincks geistiger Anlage. Er ist kein Liebhaber der Deutlichkeit

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in Worten und Taten. Alles, was mit starken Farben auf­getragen wird, ist ihm zuwider. Denn für ihn spricht das Undeut­liche, jede leise Andeutung, jeder Ton des Alltags schon eine deut­liche Sprache. Und weil er in den Tönen des lallenden Kindes eine Weltweisheit vernimmt, so schreckt er zurück vor den deut­lichen Reden der Philosophen. Man braucht nicht mit der ganzen Hand zuzufassen, wenn eine leise Berührung mit den Finger­spitzen genügt. Mit Fingerspitzen berührt Maeterlinck, der Dra­matiker, die Dinge, wie sie auch Maeterlinck, der Wekbetrachter, berührt. Er gibt ein paar Züge aus dem Leben der Menschen, von denen uns andere Dramatiker die geringfügigsten Kleinigkeiten erzählen würden.

In dem Drama «Pelleas und Melisande> huschen Vorgänge an uns vorüber, deren geschichtlicher Zusammenhang völlig in einem Dunkel bleibt. Nach Ort und Zeit dieser Vorgänge würden wir vergeblich fragen. Melisande wird von Golaud in einsamer Ge­gend gefunden und als Gattin in das Schloß seines Großvaters, des Königs Arkel, gebracht. Wer ist Melisande? Woher kommt sie? Wo liegt das Schloß, in dem Arkel regiert? So möchte wohl der­jenige fragen, dern es wichtig scheint, die äußeren Sinne zu befrie­digen. Maeterlinck scheint das nicht wichtig. Ihm genügt es, aus der sonst gleichgültigen Menge der äußeren Vorgänge ein paar herauszuheben, die uns offenbaren, in welchen Verhältnissen die Seelen der Menschen stehen, mit denen wir es zu tun haben. Der ganze Hof des Königs Arkel von Allemonde mit allem, was zu einem König und zu einem Hof gehört, ist gegenüber dem eine gleichgültige Sache, was das Schicksal mit ein paar Menschen­seelen vorhat. Und das Schicksal schreitet leise, ganz leise, aber um so bedeutungsvoller durch die Hallen des einsamen Schlosses und durch die mystisch zauberische Landschaft, in der dies Schloß liegt.

Als lastendes Unglück schreitet das Schicksal durch diese Räume. Und in Ergebung nehmen die Menschen hin, was es ihnen gibt. Sie handeln nicht; sie lassen die unbekannten Mächte walten. Alt ist der König Arkel. Ein entsagender Mensch ist er durch das Leben geworden. Das Glück kennt er nicht. Die Jahre sind das einzige, das für ihn reif geworden ist. Von einem Kranken hören

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wir, dem Vater des Golaud und seines Bruders Pelleas; nichts wei­ter als die geistige Krankenstubenluft, die auf den Seelen lastet, spüren wir. Der Kranke bleibt im Hintergrunde. Golaud war schon einmal verheiratet. Ein Kind aus dieser Ehe ist vorhanden. Auch über diese erste Ehe Golauds hören wir nichts. War sie glücklich, war sie unglücklich? Wie hat sie auf das Gemüt Golauds gewirkt? Wir erkennen nur, daß in der Dumpfheit dieses Schlos­ses allein eine Seelen-Winterstimmung gedeihen kann. Und von dieser Stimmung ist auch Golauds Seele erfüllt. An seiner Seite muß die Seele Melisandes verkümmern wie eine Blume, die die Sonne braucht, und die in einen feuchten Keller versetzt wird. Um so mehr hat diesem Sonnenkinde Golauds Bruder Pelleas zu sagen. Zwischen ihnen tritt jene tiefe Seelengemeinschaft auf, die sich nicht durch die gewöhnlichen Liebesworte ausspricht, die noch weniger zu den alltäglichen Handlungen liebender Men­schen führt. Wer nur auf die groben Ereignisse der Liebe achtet, kann in Pelleas und Melisandes Liebe nichts als kindliches Spiel sehen. Aber gerade ein Kind, Golauds Sohn, ist es, das hinter dem Spiel den geheimnisvollen Ernst sieht, und das Golaud gegenüber zum Verräter wird. Golaud tötet Pelleas und verwundet Melisande, weil es «Brauch ist», daß man aus Eifersucht tötet. Und Melisaride welkt hin und stirbt, die Sommerblume in der Winterlandschaft.

Die grobe Psychologie liegt Maeterlinck ferne, die sich nur um Seelenvorgänge mit kräftigen äußeren Wirkungen kümmert. Was der innere Sinn empfindet, ist ihm unendlich wertvoller als die Wahrnehmungen der äußeren Sinne. Und weil er doch als Drama­tiker nur zu den äußeren Sinnen sprechen kann, so gibt er diesen so wenig wie möglich zum Wahrnehmen. Vorgänge von der größ­ten Einfachheit und Unbestimmtheit sollen dem inneren Sinn die Möglichkeit bieten, durch sie hindurch auf die unsichtbaren, aber darum nicht minder wahrnehmbaren Seelentragödien zu sehen.

Unsere Schauspielkunst ist nicht sonderlich geeignet, Maeter­lincks Geist auf der Bühne zur Geltung zu bringen. Unsere Künst­ler übersetzen die innere Leidenschaft in eine äußere. Und die heutige Vorstellung hat in der Kunst dieses Übersetzens Unver­gleichliches geleistet. Vilma von Mayburg als Melisande, Adalbert

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Matkowsky als Golaud haben alles, was an Maeterlinck äußerlicher Vorgang ist, charakteristisch dargestellt; die Aufschließung des inneren Sinnes ist ihnen weniger gelungen. Aber der Charakter der Dichtung ist doch ein zu scharf ausgeprägter, als daß er in der Form der Schauspielweise hätte völlig zugrunde gehen können.

Maximilian Harden wollte die Vorstellung durch eine Conference einleiten. Äußere Verhältnisse machten es notwendig, daß er erst nach der Vorstellung vorbringen konnte, was er zu sagen hatte. Er hat manches gute Wort gesprochen. Mich erinnerte er heute in vielen Augenblicken an die Zeit, in der ich mir von sei­nen großen Fähigkeiten das Allerbeste für seine Zukunft als Schriftsteller verspaach. Seine Anlagen schienen ihn zu einem Autor machen zu können, der aus einem starken Temperament heraus den Zeiterscheinungen ein Spiegelbild entgegenhält, das den Zauber persönlicher Größe ausübt. Die Publizistik, die sich für ihn mit einem das individuelle Empfinden störenden Bismarck­kultus und mit einem absonderlichen daraus folgenden Kultus der Masseninstinkte verband, hat ihn heruntergebracht. Seine Urteils-formen sind, heute unter diesen Einflüssen zu grob geworden, um solch feine Geister wie Maeterlinck zu charakterisieren. Aber man merkt noch immer etwas in ihm von seinen besseren Anlagen. Er hat im Grunde doch kein inneres Verhältnis zu dem groben Netz von Begriffen, das ihm seine publizistische Tätigkeit aufgedrängt hat. Und um sich in demselben doch zu behaupten, muß er zur Pose greifen. Er hätte sie nicht nötig. Er ist stark genug, sich selbst zu geben. Ein Universitätsprofessor bezichtigt Harden der Infamie. Dieser führt Angreifer wenigstens für jeden Un­befangenen so ab, daß der erst so tapfer auftretende Jugend. bildner in einem komischen und noch in einem andern Lichte erscheint. Mancher Publizist, dem es besser gelungen ist, etwas bittere Dinge hinter den Kulissen zu verbergen, hat sich heute an dem Aufrechtstehenden überzeugen können, daß geistige Fähig. keiten denn doch kein wertloses Gut sind.

«UNSER KÄTHGHEN»

#G029-1960-SE325 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«UNSER KÄTHGHEN»

Lustspiel von Theodor Herzl

Aufführung im Deutschen Volkstheater, Wien

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Von Dr. Theodor Herzl, dem geistvollen Feuilletonisten, der seit neuerer Zeit seine zierlichen Gedanken-Arabesken um schwere und weittragende Probleme zieht, ist jüngst im Deutschen Volks-theater ein Stück aufgeführt worden, in dem die beiden Seiten seiner schriftstellerischen Natur in ihrer ganzen eklatanten Inkongruenz ziemlich peinlich zusammenstoßen. Das Stück heißt «Unser Käthchen. und nennt sich Lustspiel. Aber seine Heiter­keit liegt ausschließlich in vereinzelten Wortspielen des Dialoges und einigen konventionellen Bühnensituationen, die mit dem eigentlichen Inhalt nichts zu tun haben. Der Grundzug des Stük­kes ist ein durchaus satirischer. Es soll eine gewisse Art bürger­licher Ehen verspottet werden, die auf Schwäche und Dummheit des Mannes, auf Herrschsucht, Eitelkeit und Verlogenheit der Frau einen trügerischen Frieden aufbauen. Die Frau weiß nichts von den Leiden und Sorgen des Mannes, sie kümmert sich nicht um ihn und sucht ihr Glück, wo sie es findet. Einem solchen illegitimen Glück entstammt das Käthchen, die zweite Tochter einer Frau, in der der Autor eben den Frauentypus darstellen will, gegen den sich seine Komödie wendet. Der Vater ist nach einem langen Aufenthalt in Australien, wohin er, von seiner eigenen Sünde und der seiner Frau angeekelt, geflohen ist, zurückgekom­men und will nun einen Teil seines Vermögens seinem Kinde zuwenden. Dadurch wird ein junger Advokat, der diese Schen­kung möglichst unauffällig ins Werk setzen soll, in die Familie gezogen, verliebt sich in Käthchen und heiratet sie, trotz der abschreckenden Beispiele, die er in den Ehen der Mutter und der Schwester Käthchens sieht. Das ist die ganze Handlung. Sie hat, wie man sieht, nicht ein einziges dramatisches Moment, und die szenische Durchführung bestärkt womöglich noch diesen Mangel. Die breite und stellenweise sehr banale Schilderung des Familien­lebens dieser gehörnten und Pantoffelhelden schiebt sich unverändert

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zähflüssig von Akt zu Akt. Gegen Schluß versucht der Autor eine deutliche Zuspitzung der gewollten Tendenz, indem er den sittenlosen Bürgersleuten ein paar ehrenfeste Arbeiter, die zu dem Zweck eigens von der Straße hereingeholt werden, ent­gegenstellt. Aber auch dieser höchst unwahre und verbrauchte Kontrast wirkt eher störend als fördernd. Das Stück machte bei seiner Erstaufführung sehr viel Lärm, da persönliche Anhänger und Gegner des Autors ihren Parteistandpunkt mit Gewalt durch­zusetzen versuchten. Ernstlich gefallen hat das Stück wohl nie­mandem. Die Darstellung war tüchtig; gegeben hat sie dem Stücke nichts, freilich auch nichts genommen. Fräulein Retty löste ihre Aufgabe, Mutter und Tochter darzustellen, mit Feinheit und Grazie.

«HEROSTRAT»

#G029-1960-SE326 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«HEROSTRAT»

Drama in fünf Akten von Ludwig Fulda

Aufführung im Burgtheater, Wien

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Nun hat Fuldas «Herostrat> auch in Wien seinen Tempel in Asche gelegt; sonst freilich war ihm nicht viel zündende Wirkung gegeben. Die Tragödie wollte nicht recht wirken. Dem großen Publikum war sie zu bewegungslos, zu einförmig und träge, dem erlesenen war ihre Psychologie zu kleinlich. Die furchtbare Tat des Herostratos aus einer Reihe kleiner, gut bürgerlicher Motive zu ziehen, das fällt heute keinem modernen Menschen mehr ein. Der Herostrat ist eine grandiose Verkörperung des Zerstörungs­triebes, also einer ganz primären, souveränen seelischen Kraft. Die in ihrem Wesen zu fassen und darzustellen, wäre das Pro. blem einer Herostrat-Tragödie. So nützte denn alle Kunst der Darstellung, die man an den Leistungen der Frau Hohenfels und des Herrn Robert mit Recht rühmte, nichts; wenn der Herostrat nicht den guten Einfall gehabt hätte, den ephesischen Tempel anzuzünden durch Herrn Fulda allein wäre er schwerlich auf die Nachwelt gekommen.

«PAULINE»

#G029-1960-SE327 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«PAULINE»

Komödie von Georg Hirschfeld

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Pauline König ist das Kind einer egoistischen, innerhalb des Familienkreises herrschsüchtigen Mutter und eines gutmütigen, arbeitsamen, selbstlosen Vaters. Dieser Vater ist einer derjenigen Männer, denen die Ehe den letzten Rest der Lebensfreudigkeit genommen hat, die stille, duldende Naturen geworden sind, weil sie häuslichen Frieden wollen und den nur haben können, wenn sie sich den herrschsüchtigen Neigungen der erkorenen Gattin unterwerfen. Kinder solcher Eheleute nehmen in den ersten Jah­ren ihres Lebens schon Vorstellungen auf, die sie zu einer gewis­sen Lebensverachtung führen. Sie sehen im Elternhause, daß nicht jedem sein gebührend Teil im Leben zukommt und daß das Schicksal kein Herz hat für die Menschen. Es läßt die Guten ver­kümmern und bestraft nicht die Bösen. Daß man deshalb dem Leben mit Trotz begegnen müsse: das ist die Lehre, die den Kin­dern eines solchen Eltempaares aus ihren jugendlichen Eindrücken erwächst. Solche Kinder werden gute Leute, denn sie haben die Güte leidend gesehen und man wird so sehr zu dem hingezogen, was man leidend sieht. Aber sie werden Leute, die das Leben nicht sonderlich schwer nehmen, weil sie seine Ungerechtigkeit früh kennengelernt haben. Zu diesen Leuten gehört Pauline König. Sie hat in ihrem Vater einen Menschen kennengelernt, der sich sein Leben nicht einzurichten versteht. Aber das echt Mensch­liche seines Wesens, eine gewisse innere Gediegenheit ist von ihm auf sie übergegangen. Dieser Vater ist auf einem Gute be­schäftigt. Die gräfliche Herrschaft nützt zwar ihre Leute aus, und der Mann muß sich sein ganzes Leben hindurch schinden. Aber im übrigen sind diese Grafen nette Leute, und Pauline hat mit den Kindern der Herrschaft wie mit ihresgleichen gespielt. So ist sie herangewachsen. Mit siebzehn Jahren ist sie in die Stadt gegangen, um sich durchzubringen. Der Charakter der Mutter hat

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wohl am meisten dazu beigetragen, daß sie vom Hause weg. gekommen ist.

Diese Pauline König steht im Mittelpunkt des neuen Hirsch­feldschen Dramas, das am 18. Februar zum ersten Male im Deut­schen Theater aufgeführt worden ist. Sie ist bedienstet bei Sper­lings. Walter Sperling ist Maler. Er führt mit seiner Frau und seinem Kinde ein echtes Bohemeleben. Es geht da ganz munter zu, man bleibt die Wohnungsmiete und wohl auch anderes schul­dig, aber man hat das Herz auf dem rechten Flecke. Als zum Bei­spiel die Frau Sanitätsrat Suhr bei Sperlings vorspricht, um sich nach ihrem Dienstmädchen zu erkundigen, das früher im Hause des Malers gedient hat und bei dem sie einen Hang zur Unehr­lichkeit bemerkt zu haben glaubt, erhält sie zur Antwort: nun, ehrlich war sie gerade nicht, aber sie hat uns inter­essiert. So ist denn auch Pauline den Sperlings als Mensch inter­essant. Und sie ist auch dem Zuschauer des Dramas interessant. Inihrer Küche, dem Schauplatz des Stückes, gehen fünf Liebhaber aus und ein: ein Pferdebahnschaffner, ein Schneider, ein Paket-briefträger, ein Turnlehrer und ein Kunstschlosser. Die vier ersten «uzt» sie nur; daß sie es aber mit dem Kunstschlosser ernst meint, merken wir sogleich. Sie nimmt das Leben nicht allzuschwer; des­halb geht sie zuweilen mit jedem der Liebhaber ein bißchen weit; und der gute Kunstschlosser hat bei seiner rasenden Liebe allen Grund, eifersüchtig zu sein. In einem Tanzlokal auf der Hasenheide spielt Pauline die erste Rolle. Alle ihre Liebhaber laufen ihr dahin nach. Im dritten Akte bricht der Sturm los. Der Kunst­schlosser kann es nicht mehr ertragen, daß sie von andern sich den Hof machen und bewirten läßt. Die Liebhaber hauen sich, und die hohe Obrigkeit muß in der im modernen Staatswesen populären Gestalt des Schutzmanns eingreifen. Der Schlosser hat eben den Kopf verloren. Er prügelt sich nunmehr nicht nur mit den Nebenbuhlern, sondern er appelliert sogar an Paulinens Eltem. Sie sollen der Tochter den Kopf zurechtrücken. Denn er meine es aufrichtig mit ihr und könne ohne sie nicht leben. Man kann begreifen, daß ihm Pauline das übelnimmt. Aber gerade dieser äußerste Schritt führt zur Verständigung. Die beiden verstehen

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sich nunmehr und werden ein Paar. Hirschfeld hat diese zwei Charaktere in der feinsten Weise hingemalt. Was aus Pauline das Leben machen mußte, haben wir gesehen. Daß ihr die aus­gesprochen sozialdemokratische Gesinnung des Schlossers nicht recht begreiflich sein kann, versteht man, wenn man weiß, daß sie schon als Kind den Graf ensprößlingen menschlich nahe-getreten ist. Und das gute Einvernehmen zwischen ihr und der Herrschaft ihrer Eltern ist geblieben. Im Sperlingschen Hause verkehren ein Sohn und eine Tochter dieser Herrschaft. Diese sehen Pauline, ihre alte Gespielin, wieder; und herrlich ist dieses Wiedersehen. Wie Mensch zu Mensch verhalten sich diese «Gra­fen> zu der einfachen Magd. Wie sollte sie da Verständnis haben für das Poltern des Bräutigams, der in allen Leuten, die nicht zu seinem Stande gehören, nur Blutsauger und Parasiten sieht. Aber über die Lebensauffassungen hinweg finden sich die Herzen Pau­linens und des Schlossers.

Georg Hirschfeld war bisher ein treuer Beobachter der Wirk­lichkeit und ein gewissenhafter, allzu gewissenhafter Porträtist. Wie groß auch immer die Bedeutung der naturalistischen Wirk­lichkeitsdichtung sein mag: sie wird die Sprache niemals sein, in der wahrhaft große Dichter sprechen. Denn sie haben uns mehr zu sagen, als die bloße Wirklichkeit sagen kann. Die Art, wie sie sehen, das Gepräge ihres Geistes sprechen aus ihren Werken. Bei Hirschfeld haben wir stets eine gewisse Scheu bemerken können, dieses eigene Gepräge zu geben. Wie durch eine Glasscheibe sahen wir durch seinen Geist auf die reine Wirklichkeit. Jetzt ist das anders mit ihm geworden. In dieser neuesten Komödie hat er auch von seinem eigenen Wesen etwas gegeben. Wir spüren seine Persönlichkeit. Nicht mehr selbstlos will er Personen und Vorgänge schildern, so daß sie uns anschauen, wie wenn er gar nicht da wäre; sondern er zeigt sie uns, wie er sie sieht. Sein Werk trägt diesmal eine deutliche künstlerische Struktur. Echt lustspielmäßig ist der Stoff verarbeitet. Hätte Hirschfeld in einer Zeit gelebt, die der reinen Wirklichkeitsschilderung weniger Sym­pathien entgegenbrächte als die heutige, man würde ihn erst von dieser seiner Leistung an beobachtet haben. Denn erst durch sie

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zeigt sich in ihm der Künstler. Erst jetzt zieht er aus der Wirk­lichkeit jene Momente zusammen, die uns innerhalb des Kunst-werkes interessieren, und wirft den Ballast ab, der ja für den Beobachter der Welt wertvoll, für den ästhetisch Genießenden aber gleichgültig ist. Seine Gewissenhaftigkeit gegenüber der natürlichen Wirklichkeit ist geringer, sein Sinn für das Künst­lerische ist feiner geworden. Else Lehmann gab als Pauline eine vorzügliche schauspielerische Leistung; nicht minder Rudolf Ritt­ner als Kunstschlosser. Die Spannung, in die wir durch diese scheinbar einander so fremden und sich doch so anziehenden Per­sönlichkeiten versetzt werden, und ihr Finden durch ihre Gegen­sätze hindurch kam in der Darstellung voll zur Geltung.

«DIE LETZTEN MENSCHEN»

#G029-1960-SE330 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE LETZTEN MENSCHEN»

Drama von Wolfgang Kirchbach

Aufführung des « Vereins für historisch-moderne Festspiele »

im Neuen Theater, Berlin

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Wolfgang Kirchbach hat in Form eines Dichtertraumes das Schicksal des «letzten Menschenpaares» dramatisiert und am 19. Februar in der Reihe der «historisch-modernen Festspiele» dieses Traumdrama aufführen lassen. Im Traume scheint viel gestattet zu sein; und wenn jemand auftritt und uns sagt: «Dies habe ich geträumt», so entwaffnet er uns gewissermaßen. Wir sind recht hilflos gegenüber dem, was der Herr im Schlafe gibt. Aber schließlich wollen wir doch auch an einen Dichtertraum glauben können. Wir wollen eine Empfindung davon haben, daß eine menschliche Notwendigkeit vorliegt, gerade so zu träumen. Und daß jemand so über das Weltall träumen kann, wie Wolf­gang Kirchbach vorgibt, geträumt zu haben, glauben wir nimmermehr. Die moderne Naturwissenschaft lehrt uns, daß die Welt allmählich einer Vereisung anheimfallen und in dieser alles Sein zur ewigen Ruhe bestatten wird. Die Zeit vor dieser Vereisung

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führt uns Kirchbach vor. Sirenen, Nymphen, Faune, Proteus, Pan und dergleichen Fabelwesen leben in dieser Zeit. Daß einmal Menschen gelebt haben, ist ihnen zunächst unbekannt. Da tritt der letzte Mann auf. Er stammt von einem Eskimo. Die Fabel­wesen wollen ihn vernichten. Denn was soll aus ihnen werden, wenn der Mensch ein neues Reich errichtet? Sie leben zügellos, ohne Sitt und Gesetz. Der Mensch könnte dieses Leben nur zerstören. Es ist völlig zwecklos, die Kämpfe zwischen den Natur-fabelwesen und dem Menschen zu schildern, wie sie Kirchbach vorführt. Es genügt zu sagen, daß der letzte Mensch sich für den ersten hält, weil er ja keine Wesen seiner Art um sich erblickt. Merkwürdigerweise ist auch das letzte Weib noch da. Die Liebe zwischen beiden entsteht. Lebensfreude fühlt der Mensch. Er will die Naturgötter besiegen und ein neues Reich begründen. Das Weib zwingt auch den großen Pan in den Zauberkreis ihrer Liebe. Er steckt sich in menschliche Kleidung, um ihr zu gefallen. Sie verschmäht ihn. Er stirbt an gebrochenem Herzen. Und mit dem Tode des großen Pan ist der Weltuntergang besiegelt. Auch der letzte Mensch stirbt zuletzt. Und zwar deswegen, weil ihm Proteus den Glauben nimmt, er sei der erste seines Geschlechts, und ihm zeigt, daß kein neues Leben aus dem Schoße des Menschen ent­stehen könne.

Mag Wolfgang Kirchbach doch immerhin so träumen. Das ist seine Sache. So eisig wie das Weltende, das er darstellt, bleibt auch unser Herz während des ganzen Vorganges. Hohl klingt alles. Wir haben nicht das Gefühl, daß hier ein Dichter eine Aufgabe gelöst hat, die er im tiefsten Innern erlebt hat. Wir haben es nur mit einem Menschen zu tun, der ein ganz äußerliches Verhältnis zu den großen Fragen hat, die er in den Kreis seiner Kunst zieht. Alles ist mir Hebeln und Schrauben gemacht. Innere Wärme strömt keinen Augenblick von dem Dichter zu uns über. Es ist ja zum Beispiel im Traume durchaus möglich, daß Faune, die neunhundert Milliarden Jahre alt sind, nicht wissen, was ein Stiefelknecht ist, den sie am Ende des Seins aus den Trümmern der Welt ausgraben; es ist im Traume auch möglich, daß inner­halb der verödeten Zeit, die dem Weltenende vorangeht, noch

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ein wohlgestaltetes Menschenpaar entsteht. Aber über einen sol­chen Traum lächeln wir, wenn wir uns seiner nach dem Aus­schlafen erinnern. Wolfgang Kirchbach zeichnet ihn aber auf und scheint zu glauben: wir könnten mitträumen. Nein, wir lächeln auch da nur. Und dann kommt der Zorn, der vielleicht unver­nünftige Zorn darüber, daß Wolfgang Kirchbach es über sich gebracht hat, uns darzustellen, was ihm der Herr im Schlafe über den Weltuntergang beigebracht hat. Dichter sollten ihr Faust-problem doch im Wachen durchleben. Sie haben dann vielleicht keine Entschuldigung für ihre tollen Unwahrscheinlichkeiten; aber sie werden doch künstlerisch ehrlich bleiben. Und künstlerisch ehrlich sein heißt vor allem: schweigen über Dinge, über die man nichts zu sagen hat.

«DIE HEIMATLOSEN»

#G029-1960-SE332 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE HEIMATLOSEN»

Drama in fünf Akten von Max Halbe

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Daß hintereinander aus demselben Kopf die kühne «Eroberer»-Tragödie und dieses Drama von den «Heimatlosen» entspringen können, ist ein psychologisches Rätsel. Einmal ein tiefes Problem der menschlichen Seele, das andere Mal öde Theatralik; einmal ganz die Sprache des eigenen Dichtergemütes, das andere Mal in jedem Satze ein Dienern vor dem Theaterpublikum. Sollte sich Halbe, nachdem er sein Bestes gegeben hat, gesagt haben: sie habens nicht verdaut nun wohl: hier stehe ich; ich kann auch anders. Gott helfe mir? Am erklärlichsten wäre die Sache noch von diesem Gesichtspunkte aus. Ein Dichter, der es einmal ver­sucht, welches Glück er hat, wenn er das Allerschlechteste gibt, was er zu geben vermag! Als ich das Stück an mir vorübergehen ließ, kamen mir die Worte Mercks in den Sinn, der zu Goethe sagte, nachdem dieser den «Clavigo» geschrieben hatte: solchen

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Quark mußt du nicht mehr schreiben, das können andere auch. Ich will nicht gleich so grob werden, für den Fall Halbe die «andern» zu nennen.

In einer Berliner Pension wimmelt eine Zahl von «Heimat­losen» herum. Sie sind uns alle gleichgültig. Halbe macht auch nicht den geringsten Versuch, sie uns näherzubringen. Wandelnde Menschenbälge ohne Seele sind sie. Selbst mit Regine Frank, die etwas genauer charakterisiert wird, wissen wir uns nicht zurecht­zufinden. Sie ist Pianistin, ein weiblicher Selfmademan. Sie ist stolz auf ihre Selbständigkeit. Aber von ihrer Sorte gehen doch zwölf auf ein Dutzend. Lotte Burwig ist ein Provinzgänschen, Reginens Kusine. Ihr kann es im Danziger Elternhaus nicht ge­fallen. In diesem Hause ist es für die arme Lotte auch zu un­gemütlich. Der Vater hat Selbstmord begangen. Von der Mutter ist das arme Ding jämmerlich verprügelt worden. Auch soll es einen biederen Steuer-Assessor heiraten. Das gute Mädchen hält Durchbrennen für das beste. Auch hat sie an der Kusine ein Vor­bild. Also auch auf eigene Füße gestellt. Sängerin will sie werden. Zunächst geht sie in die Pension, in. der auch Regine ist. Die Mutter will sie heimholen; aber Lottchen hat weder Lust, ihren Steuer-Assessor zu heiraten, noch weiter sich den Erziehungs-maßregeln der Mutter zu unterwerfen. Sie bleibt also. Und ver­liebt sich in einen Rittergutsbesitzer, der im Winter sich in Berlin von den Strapazen, die ihm sein Beruf als Agrarier auferlegt, zu erholen pflegt. Zu seiner Erholung gehört auch, daß er jungen Mädchen den Kopf verdreht. Am Weihnachtsabend wirft sich das arme Lottchen dem Verführer unter brünstigen Küssen, nicht endenwollenden Küssen, an den Hals. Ganz gehören will sie dem «Einzigen». Zur Faschingszeit ists schon aus. Der böse Eugen geht wieder auf sein Gut; er schüttelt seine Winterliebschaft ab. Während einer tollen Maskerade entdeckt Lottchen, wie wenig dem «Einzigen» an ihr liegt. Sie bedroht den Treulosen sogar mit dem Dolche. Sie ist eben richtig entgleist. Selbst Regine findet das. Die telegraphiert der Mutter. Lottchen soll nun doch nach Hause. Lieber sterben, sagt sie. Und in dem Augenblicke, da die Mut­ter eintritt, hat sie auch schon vom Leben Abschied genommen.

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Einen Ansatz, die Personen psychologisch zu vertiefen, hat Halbe nicht gemacht. Die Geschichte von dem «bösen Eugen und dem armen Lottchen» stammt aus den Gefilden, in welche die Kunde von Erfindung der Psychologie noch nicht gedrungen ist. Auch die Milieuschilderung ist schwächer als in Halbes frü­heren Dramen. Manchmal werden wir von einer Stimmung an­gezogen; gleich darauf aber drängt sich eine andere vor; und wir kommen aus dem theatralischen Allerlei nicht heraus.

HUGO VON HOFMANNSTHAL

#G029-1960-SE334 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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HUGO VON HOFMANNSTHAL

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Als Goethe auf seiner italienischen Reise vor den griechischen Kunstwerken stand, tat er den Ausspruch: Und diesen Ausspruch erläuternd, schreibt er den Freunden in die Heimat: «Ich habe die Vermutung, daß die Griechen in der Kunst nach denselben Gesetzen verfuhren, nach denen die Natur selbst bei ihren Schöpfungen verfährt und denen ich auf der Spur bin.> Es ist der Bezirk höherer Wahrheit, auf den Goethe hinweist, da er diese Worte schreibt. Man muß hinausgehen können über die Anschauung von der Wahrheit, welche die letzten Jahre vielfach gezeitigt haben, wenn man diese Worte Goethes verstehen will. Wir sind geneigt, unter dem Ein­flusse dieser Anschauung alles Wahrheit zu nennen, was eine treue, an alle Einzelheiten der Dinge sich haltende Beobachtung liefert. Alles, was wir sehen und hören, das nennen wir auch wahr. Und ein Wahrheitsschilderer ist uns der, welcher das Gesehene und Gehörte in seiner ganzen Breite wiedergibt. Als Goethe auf der Höhe seiner Lebensauffassung von «Wahrheit» sprach, hatte er etwas anderes im Sinne. Nicht wer die Dinge in ihrer ganzen wirklichen Breite schildert, kündigt die Wahrheit. Denn hinter dieser Breite offenbart sich dem Tieferblickenden etwas, was in

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anderem Sinne wahr ist als die unmittelbare Wirklichkeit. Der einzelne Mensch mit all seinen besonderen Charaktereigenschaf­ten enthält ein Etwas in sich, das mehr ist als das einzelne Indi­viduum. Wer das Organ in sich nicht ausbildet, dieses Etwas zu sehen, für den ist es überhaupt nicht da; wie die Farbe nicht da ist für den Farbenblinden. Dieser sieht die Wirklichkeit nur in verschiedenen Schattierungen des Graus.

Für den Farbensehenden ist diese graue Welt nicht die wahre Welt. Ebenso ist für den Geist, der in Goethes Sinn die höhere Natur innerhalb der Natur sieht, die Wirklichkeit, die sich in Raum und Zeit ausbreitet, nicht die wahre Wirklichkeit. Mit den­jenigen, die nur in der räumlich zeitlichen Wirklichkeit die Wahrheit sehen, kann man über den höheren Gehalt der Welt ebensowenig streiten wie mit dem Farbenblinden über die Farben. Goethe und diejenigen, die in seinem Sinne die Welt ansehen, nennen die höhere Welt die der Ideen. Im «Prolog im Himmel> deutet er auf diese höhere Welt mit den Worten: #SE029-336

In das Land, das vor Goethes Augen sich ausbreitete, als er vor den hohen Kunstwerken der Griechen sagte: da ist Notwendig­keit, da ist Gott, in dieses Land führt Hugo von Hofmannsthal. Nicht wie bei Goethe als Frucht einer reichen Lebenserfahrung erscheint uns bei Hofmannsthal diese Kunst- und Wirklichkeits­ansicht. Sondern in völliger Naivität entkleidet sich vor seinen Augen die Wirklichkeit ihrer gewöhnlichen, alltäglichen Eigen­schaften und zeigt ihm ihren ideellen, höheren Gehalt. Nicht reif, nicht voll gesättigt erscheinen uns deshalb Hofmannsthals Schöp­fungen. Aber seine Sehnsucht weist ihn überall in das ideelle Land, und sein Pinsel zeichnet die Dinge nicht, wie sie in der Alltäglichkeit sind, sondern nach ihrer inneren, höheren Wahr­heit. So sind die Charaktere und so sind die Vorgänge geschildert, die Hofmannsthal in den beiden Dramen: #SE029-337

unterscheide ihn von allen Wesen, die wir kennen. Im übrigen müsse der Mensch nach ewigen, ehernen Gesetzen seine Daseins­kreise vollenden. Und als ewiges, ehernes Gesetz erscheint es diesem Manne: die geliebte Frau frei zu entlassen, dorthin, wohin sie ihre Liebe zieht. Die Sobeide wird gerade dadurch in Unglück und Tod getrieben. Sie geht zu dem Geliebten. Der liebt sie nicht wirklich. Er hat mit der Liebe zu ihr nur gespielt. Sie kehrt zu dem ungeliebten Gatten zurück und gibt sich selbst den Tod. Auch im «Abenteurer» tritt uns das gleiche Motiv entgegen. Das Weib, das dem Manne in inniger Liebe anhängt, der mit der Liebe nur spielt. Sie ist durch die Liebe zur Künstlerin, er durch das Liebesspiel zum Abenteurer geworden. Nichts Individuelles haftet an den Gestalten. Das Ewige, das sich in dem Zufällig-Zeitlichen offenbart, ist dargestellt.

An der Stätte, wo der Naturalismus, der das Zeitliche, die gemeine Wirklichkeit zur alleinigen Wahrheit macht, zu seiner höchsten schauspielerischen Entwickelungsstufe gekommen ist, konnten diese Dramen der höheren Wahrheit nicht zur Geltung kommen. Das Deutsche Theater kann den «Fuhrmann Henschel» vollendet zur Aufführung bringen, nicht aber diese Dramen, die alles das nicht enthalten, was in den naturalistischen Dramen mit unvergleichlicher Größe dargestellt wird.

«DIE ERZIEHUNG ZUR EHE»

#G029-1960-SE337 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE ERZIEHUNG ZUR EHE»

Komödie von Otto Erich Hartleben

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In einem bekannten «grundlegenden> Werk über Pädagogik ist der Satz zu finden: «Die Wege der Erziehung und deren Mit­tel müssen sich nach dem Ziel richten, welches der Erzieher erreichen soll, nach dem Ideal von Mensch, das ihm vorgesetzt ist. Neben diesem Ziel, neben diesem Ideal kann der Erzieher den individuellen Charakter des Zöglings berücksichtigen. Bei

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dem einen wird das Ideal auf diesem, bei dem andern auf jenem Wege erreicht werden.» Diesem Erziehungspostulat gemäß hat Otto Erich Hartleben sein pädagogisches Hauptwerk «Die Erziehung zur Ehe» aufgebaut. Das Ideal, um das es sich handelt, ist ein Mensch, der in eine regelrechte Philisterehe paßt. Die Wege, welche die Erziehung einzuschlagen hat, um dieses jedem Philisterherzen notwendig scheinende Ziel zu erreichen, sind ver­schieden. Sie müssen sich richten nach Bildung, Stand, Vermögenslage, nach dem Geschlecht und nach andern gegebenen Voraus­setzungen. Hartleben greift aus der Mannigfaltigkeit der Fälle zwei heraus: den Sohn eines reichen Bürgerhauses, Hermann Günther, und eine arme Buchhalterin, Meta Hübcke. Hermann wird von seiner Mutter erzogen. Und als diese allein nicht mehr fertig wird, ruft sie Hermanns Onkel zu Hilfe. Metas Ehevorbil­dung zu besorgen, übernimmt der Sohn einer Zimmervermieterin, ein biederer Kommis. Für Hermann ist nicht nur eine «gut bür­gerliche» Ehe im allgemeinen im Buche des Schicksals vorge­sehen; auch die konkrete Gefährtin seiner späteren Tage, Bella König, erscheint schon ab und zu auf dem Schauplatze. Sie ist bereits in tadelloser Weise zur Ehe erzogen. Ihre Naturanlagen haben das leicht geschehen lassen. Sie scheint nur vorhanden zu sein, um den Psychologen als Exempel der Dummheit zu dienen. Hermann reißt immer aus, wenn diese Bella anrückt. Zur Ehe mit ihr muß er also erzogen werden. Er muß demnach, nach richtigen, pädagogischen Grundsätzen, erst das Leben, das heißt in diesem Falle die Weiblichkeit, kennenlernen, bevor er sich in das Schifflein setzt, das Bella steuert. So meint Mutter Günther. Sie gibt zu diesem Zwecke dem jungen Manne monatlich hundert­fünfzig Mark Taschengeld. Aber der Junge macht Unsinn. Er hat zu viel von der Moral im Leibe, welche die Philister philiströs nennen. Er bandelt mit der Meta Hübcke an. Und er hat Gefühl für sie. Denn die Mutter Günther erfährt, daß er nicht einmal die Miete für die Geliebte bezahlt. Das ist schlimm, sagt sich das Mutterherz. Das muß dem Jungen abgewöhnt werden. Er muß monatlich fünfzig Mark mehr bekommen, damit er sich nicht mehr in solche Mädchen verliebt, sondern ihnen die Miete be­zahlt.

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Alles, was damit zusammenhängt, kann aber eine «gut. bür­gerliche> Mutter dem Sohne nicht beibringen. Und der Vater ist tot. Deshalb ruft sie den Bruder des Vaters. Der hat die rechten Erziehungsmaximen. Er ist ein Mann und kann mit Hermann deutsch reden. Das tut er auch. Und er macht die Sache echt pädagogisch. Er lehrt durch Beispiel. Das wird ihm leicht. Her­mann hat nämlich auch mit dem Stubenmädchen angebandelt. Auch das paßt der Mutter Günther nicht. Das Haus muß rein gehalten werden. Die Mutter schickt das Mädchen fort. Hermann beschließt, außer dem Hause mit ihr ein Verhältnis anzuknüpfen. Das leuchtet dem Onkel ein, und er geht mit zum Stelldichein. Gesellschaft wird sich finden. Der Onkel will nicht bloß zusehen. So ist der Weg beschaffen, auf dem Hermann zur Ehe erzogen wird. Die Meta aber sucht der Kommis zu erziehen. Das Ver­hältnis mit Hermann paßt ihm ebensowenig, wie es der Mutter Günther paßt. Kommis und vornehme Dame meinen im Grunde das gleiche. Meta muß einen Liebhaber haben, der ihr Geld gibt. Die Mutter Günther natürlich mit der Einschränkung, daß es nicht allzuviel ist. Der Kommis meint das anders. Denn er will einst die Meta selbst heiraten. Dazu muß sie erst viel, recht viel Geld von einem Liebhaber bekommen. Hermann taugt also dazu nicht. Ein anderer muß kommen. Der biedere Kommis fälscht Briefe, um Hermann der Meta abspenstig zu machen. Dann schleppt er ihr einen Zahlungsfähigen heran. So will er sie zu der Ehe mit sich selbst erziehen. Ob ers erreichen wird? Das ist in der Komödie Hartlebens nicht ausgesprochen.

Man sieht, Otto Erich Hartleben versteht die Philister; und er hat den Humor, sie zu zeichnen. Ich habe nicht den Inhalt der Komödie angegeben. Ich wollte den Impuls charakterisieren, aus dem sie mir hervorgegangen scheint.

«DIE LUMPEN»

#G029-1960-SE340 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE LUMPEN»

Komödie von Leo Hirschfeld

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Das Schicksal eines dramatischen Dichters hat Leo Hirschfeld zum Gegenstand einer Komödie gemacht. Man muß zugestehen, daß die Aufgabe, die er sich gestellt hat, ebenso interessant wie ihre befriedigende Durchfuhrung schwierig ist. Heinrich Ritter beginnt als Idealist. Er will keinen anderen Forderungen als denen der Kunst gehorchen. Solange er mit seinen Idealen innerhalb eines Kreises von Kaffeehausbrädern bleibt, kann er sie sich be­wahren. Kaum tritt er aus diesem Kreise heraus, bläst sie ein leiser Windhauch um. Ritter hat eben ein Drama vollendet. Einer der Kaffeehausbailder findet besonders den Schluß großartig. Das ist einmal etwas ganz Neues. Das andere haben ja auch schon andere gemacht. Aber dieser Schluß!!! Der Redaktor der Tagespost, Dr. Ottomar Mark, ist ein mächtiger Mann. Er hat Einfluß auf die Leitung des Residenztheaters. Mit seiner Hilfe hofft Ritter das Stück auf die Bühne zu bringen. Aber dieser Redaktor hat eine andere künstlerische Gesinnung als die Kaffeehausbrüder. Er fin­det den Schluß unmöglich, alles andere vorzüglich. Er will sich für das Stück einsetzen, wenn Ritter den Schluß wegstreicht. Der wackere Dichter, der das Stück wegen dieses Schlusses geschrieben hat, sträubt sich zwar anfangs. Als aber Mathilde HaIm, das hoff­nungsvolle Mitglied des Residenztheaters, ihm klarmacht, daß er zunächst nachgeben soll, um nach oben zu kommen, gibt er auch nach. Später, wenn er einmal oben sein wird, wird er auch die Macht haben, seine Ideale zu verwirklichen. Der große Erfolg kommt. Der «Dichter> gelangt nach oben. Aber die Ideale gehen auch zum Teufel. Man muß die Macht, die man errungen hat, auch behalten. Das kann man nur, wenn man weiter dem Publi­kum zu Willen ist. - Der «künstlerische> Idealismus Ritters drohte auch dessen bürgerliche Stellung zu untergraben. Seine Familie sieht ihn als Schandfleck an. Er könnte durch seinen Onkel, den Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Vinzenz Lechner, zu

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einer einträglichen Position kommen. Sogar die Hand des Kusin­chens steht ihm in Aussicht. Solange er ist, weist er alles zurück, was von dieser spießbürgerlichen Seite kommt. Nach­dem er oben ist, gewinnt er die Achtung des Onkels ebenso wie die Hand des Kusinchens. - Aus diesem Problem wäre künstle­risch viel zu machen. Man denke sich den Kaffeehauskreis, in dem Ritter lebt, aus wirklich idealistischen Menschen bestehend, und man stelle sich vor, daß Leo Hirschfeld seinen Helden als durch­aus idealistisch, aber schwach veranlagt hingestellt und seinen Fall psychologisch motiviert hätte. Der Schmerz der idealistischen Freunde über den Gefallenen könnte der ganzen Handlung einen höchst sympathischen Hintergrund geben. Von alledem ist aber in dieser Komödie nichts zu finden. Die Kaffeehausbrüder sind verbummelte Individuen. Ihr Urteil über Ritters Begabung läßt kalt. Wir wissen nicht, was an allen diesen Menschen wirklich ist. Ebensowenig wie wir wissen, was in Ritter selbst steckt und zu­grunde geht. Die Entwickelung vom Idealisten zum Schmeichler des Publikums erscheint in ganz äußerlicher Weise charakterisiert. Die Freunde zeigen keinen besonderen Schmerz, sondern trinken den guten Kognak, den sich Rirter als wohlhabender Mann leisten kann, mit Lust. Ja, wenn die an sich unbedeutende Handlung noch durch besondere humorvolle Darstellung gehoben wäre! Dann würde man über dem «Wie» das «Was> vergessen. Aber auch davon kann keine Rede sein. Hirschfeld verletzt geradezu unser ästhetisches Empfinden dadurch, daß er als Dramatiker dem Publi­kum und der Kunst gegenüber eine Stellung einnimmt, zu der sein Held hinaufsinkt. Alles in der Komödie ist auf Wirkung berechnet. Die Entfaltung eines Charakters ist nichts, der augen­blickliche Theaterwitz alles.

Die Aufführung entsprach ganz dieser Qualität der Komödie. Nur Ferdinand Bonn suchte aus dem Heinrich Ritter einen wah­ren Menschen zu gestalten. Die Gestalt, die er gab, ist gar nicht die des Dichters, sondern eine viel höher stehende. Besser traf den Ton Josef Jarno, der jeden Witz dick unterstrich, der überhaupt im Possenstile spielte, und der damit eigentlich doch den Stil des Stückes traf. Um so schlimmer für die Komödie.

« L'INTÉRIEUR»

#G029-1960-SE342 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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« L'INTÉRIEUR»

Drama von Maurice Maeterlinck. Deutsch von Stockhausen.

Für die Bühne eingerichtet und in Szene gesetzt von Zickel

Aufführung im Urania -Theater, Berlin

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Eine Maeterlinck-Aufführung ist eine ebenso schwierige wie dankenswette Aufgabe. Der Dichter, welcher denjenigen Konflik­ten des Lebens aus dem Wege geht, welche die Dramatiker am meisten beschäftigen, und der dafür die tiefsten, intimsten Re­gungen darstellen will, die hinter den Alltagsäußerungen des Men­schen auf dem Grunde der Seele vorgehen, muß an die Bühne ganz besondere Anforderungen stellen. Starke Leidenschaften grobe Beziehungen der Menschen sind im Sinne Maeterlincks nicht dasjenige, was uns die menschliche Seele in ihrer wahren Gestalt zeigt. Die Leidenschaft eines Othello und das Schicksal der Desdemona sind Vorgänge, die dem Wahren nicht entsprechen. Wenn ich einem unbekannten Wesen zum ersten Male entgegen­trete, kann in meinem Gemüte etwas vorgehen, das tiefer, wahrer und bedeutungsvoller ist als jene Leidenschaft und jenes Schicksal. Was tiefer als Worte, wahrer als die große Leidenschaft ist, will Maeterlinck darstellen. Deshalb möchte er am liebsten die Mittel der Rede auf der Bühne ganz entbehren. Durch Marionetten will er die Vorgänge in diesem kleinen Drama «L'Intérieur» und in ähnlichen, die er geschaffen hat, dargestellt wissen. Eine Familie sitzt um den Tisch in einem Zimmer. Wir sehen sie durch ein Fenster. Um das Haus ist ein Gatten. Zwei Fremde stehen in dem dunklen Garten. Ein Mitglied der Familie ist ertrunken. Die Fremden sprechen von dem Unglück. Der eine der Fremden, ein alter Mann, spricht von den Empfindungen, die das Unglück in seiner Seele aufsteigen läßt. Er soll der Familie das Furchtbare, das sie getroffen hat, mitteilen. Alles, was vorgeht, ist zugespitzt auf den Moment, da der Alte ins Zimmer tritt, die Mitteilung zu machen. Eine Dramatik der Empfindungen spielt sich vor unserer Seele ab. Empfindungen, zu denen wir keine Worte und keine starken Handlungen brauchen.

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In höchst anerkennenswerter Weise haben Stockhausen und Zickel den ergreifenden Vorgang im kleinen Theatersaal der Urania zur Aufführung gebracht. Alles grob Theatralische war vermieden. Das Beispiel verdient entschieden Nachahmung.

ARTHUR SCHNITZLER

#G029-1960-SE343 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ARTHUR SCHNITZLER

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Arthur Schnitzler hat mit allen seinen Schöpfungen in mir ein gleiches Gefühl erweckt: er schält aus den Vorgängen des Lebens fein säuberlich alles ab, was an der Oberfläche liegt, und läßt den Inhalt, der unter dieser Oberfläche sich verbirgt, liegen. Was er bringt, kann mich inuner nur dieses Inhalts wegen interessieren; aber für diesen Inhalt selbst hat dieser Dichter kein Auge. Dieses Gefühl habe ich bei seinem neuen Einakterzyklus in ganz beson­derem Maße gehabt.

Das Schauspiel «Die Gefahrtin> führt einen Professor vor der, eben die Gattin verloren hat. Freunde bezeugen ihre üblichen Mit-gefühle. Eine Frau erscheint, die Briefe fordert aus dem Nachlaß der Verstorbenen. Was in diesen Briefen steht, soll für den Pro­fessor Geheimnis bleiben. Er glaubt aber längst zu wissen, wovon diese Briefe zeugen. Die verstorbene Gartin war die Geliebte sei­nes Assistenten. Er hat sich mit dieser Tatsache abgefunden. Es war ihna natürlich erschienen, daß er mit der um zwanzig Jahre jüngeren Frau nur ein kurzes Glück genießen könne. Sie war zur Geliebten, nicht zur Gefährtin, wie er einer bedurft hätte, geschaf­fen. Beide gingen, nach seiner Ansicht, ihre Wege nebeneinander. Als aber der Assistent nach dem Begräbnisse im Hause des Pro­fessors erscheint, da zeigt sich, daß die Wahrheit noch eine ganz andere ist, als der Gatte geahnt hat. Dieser Assistent hat schon zwei Jahre lang ein anderes Weib geliebt und längst zu seiner Gattin bestimmt. Er hat also die Verstorbene nicht als seine Ge­liebte, nein, als seine Dirne behandelt. In ein Liebesverhältnis der

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beiden hätte sich der Professor gefügt, denn das erschien ihm natürlich. Er hätte die Frau sogar freigegeben, wenn die Lieben­den den Mut gefunden hätten, das zu verlangen. Was sich nun aber enthüllt, erfüllt ihn mit Ekel, und er weist dem Niedrig-gesinnten die Türe. Aus Gesprächen zwischen dem Professor, der Freundin der Verstorbenen und dem Assistenten erfahren wir alles, was sich im Laufe vieler Jahre abgespielt hat. Diese Ge­spräche bilden nur den Schluß einer länger andauernden Reihe von Tatsachen. Die Freundin meint, daß eben dadurch, daß der Professor die volle Wahrheit erfahren habe, er nun seinen Frieden wiedergewinnen könne. Er wisse nun, wie wenig er die Frau besessen habe, die eben gestorben ist. Er leide nun, da sie dahin­gegangen, nicht mehr unter dem Druck einer unnatürlichen Ehe, und er brauche auch den Tod des Weibes nicht zu betrauern, das ihm immer fremd war, das nur zufäflig in diesem Hause gestor­ben ist. Was aber vor diesem Schluß liegt, ist, nach dem, was wir erfahren, durchaus nicht dramatisch. Jahrelang hintergeht eine Frau ihren Mann mit einem andern. Sie weiß zuletzt sogar, daß der andere sich mit einer andern zu verbinden gedenkt. Der Pro­fessor ahnt etwas, tut aber nichts. Und der Verführer lebt das Leben, das ihn tiefer berührt, außer dem Schauplatze der Hand­lung. So stimmungsvoll auch Schnitzler die Gespräche zu gestalten weiß: ergreifend ist nichts. Das Ganze läßt gleichgültig, weil den Tatsachen keine Seelenvorgänge zugrunde liegen, die allein ein tieferes Interesse hervorrufen könnten.

Noch weniger Eindruck konnte auf mich der zweite Einakter «Der grüne Kakadu> machen. In einer Pariser Spelunke, zur Zeit der Revolution, versammeln sich allabendlich heruntergekom­mene Schauspieler und sensationslüsterne Adlige. An dem Abend, der uns vorgeführt wird, wird die Bastille erstürmt. Die Ex-Komödianten führen mit schllmmstem Pathos Verbrecherszenen vor, und die Adligen bekommen dabei das Gruseln. Henri, einer der Schauspieler, hat sich eben mit Léocardie vermählt. Er will darstellen, wie er den Herzog von Cadignan getötet hat, weil seine Frau mit diesem in Liebschaft lebte. Da erfährt er, daß diese Un­treue auf Wahrheit beruht. Der Herzog kommt zur rechten Zeit

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in die Spelunke, und Henri tötet ihn nun wirklich. So packend das auch für ein auf äußere Theaterwirkungen sehendes Publikum sein mag: das Ganze ist doch nur ein höherer Ulk; es erinnen an Schaustellungen, die niederem Geschmack dienen, und ist im ein­zelnen langweilig.

Der beste der drei Einakter ist «Paracelsus». Die abenteuerlich-geheimnisvolle Persönlichkeit des 16. Jahrhunderts führt mit Hilfe des Hypnotismus im Hause eines Waffenschmiedes einen Streich aus. Er suggeriert der Gattin des derben, plumpen Handwerks-meisters, daß sie einen Nachmittag lang die Wahrheit sagen müsse. Da erfährt denn der Gatte allerlei Erbauliches über das Herz seines von ihm «treu gehüteten» Weibes. Trotzdem die Zeichnung der Figuren interessant ist und der Vorgang eines ge­wissen Hintergrundes nicht entbehrt, scheint mir die Sache doch nichts weiter zu sein als ein Extrakt dessen, was man über Para­celsus und den Hypnotismus in einem Salongespräch vorbringen und dort mit nicht gerade tiefem Witz begleiten kann.

«HANS»

#G029-1960-SE345 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«HANS»

Drama in drei Akten von Max Dreyer

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Kurze Zeit vor dieser Aufführung [Schnitzler-Abend] brachte das Deutsche Thater ein Drama in drei Akten von Max Dreyer: «Hans>. Ein Gelehrter lebt mit seiner Tochter auf einer Nordsee-insel. Er ist Leiter einer biologischen Anstalt. Die Tochter ist ein gelehrtes Mädchen an der Seite des Vaters geworden. Sie mikroskopiert, macht wissenschaftliche Entdeckungen wie ein deut­scher Professor. Man weiß nicht, wer gescheiter ist: der Vater oder die Tochten Eine ehemalige Pensionatskollegin kommt zu den beiden, um die Freundin aus der Mädchenzeit zu besuchen. Der Vater verliebt sich in diese Freundin. Die Tochter sieht mit Unwillen, daß sich jemand zwischen sie und den Vater stellt.

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Auch hat die Gelehrsamkeit allen Sinn für natürliche Empfin-dungen aus Hans - so nennt der Gelehrte seine Tochter Johanna -ausgetrieben. Ein ehemaliger Offizier und nunmehriger Maler liebt Hans. Sie behandelt ihn recht abstoßend. Daß sie seine Bil­der nicht lobt, würde er hinnehmen. Aber den Ton, in dem sie es tut, kann er nicht ertragen. Das Verhältnis des Vaters zu der Freundin wird Hans besonders widerlich, als sie erfährt, daß dies Mädchen ein außereheliches Kind gehabt hat. Der Vater aber liebt das Mädchen und wird wiedergeliebt. Damit alles gut geht, ent­deckt Hans plötzlich ihr Herz. Sie entbrennt in glühender Liebe zu dem Malet Jetzt kann sie alles verstehen. Auch die Liebe des Vaters. Eine willkürliche Entwickelung der Handlungen und kon­struierte Personen. Schablonenfiguren und ein ödes Gespinst, das zur Voraussetzung hergebrachte Vorurteile hat.

«HERODES UND MARIAMNE»

#G029-1960-SE346 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«HERODES UND MARIAMNE»

Eine Tragödie in fünf Aufzügen von Friedrich Hebbel

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Die unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit des Sonnensystems hat Keplers weltumspannende, von der Phantasie befruchtete Ge­dankenkraft auf ein paar einfache Formeln von monumentaler Größe gebracht. Solche Formeln erfüllen uns mit tiefster Befrie­digung. Unser Gefühl für den Reichtuin der Wirklichkeit verliert nichts, wenn ihm das Bewußtsein gegenübertritt, daß einfache, große, eherne Gesetze sich in der Fülle dieser Wirklichkeit aus-sprechen. Denn das Schaffen der Natur hat zu seiner Grundlage das Geheimnis, daß es aus der Einfachheit die Mannigfaltigkeit heraus erzeugt; und unser Geist hat den Drang, von den verwir­renden Einzelheiten zu dem einfachen, in wenigen Linien über­schaubaren Grundplan vorzudringen.

Und wie die Natur schafft, so schafft der große Dichter. Hebbels Schöpfungen liegt diese Natürlichkeit im schönsten Sinne des

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Wortes zugrunde. Die Einzelheiten des menschlichen Seelenlebens, seine großen Konflikte, seinen Adel und seine Verirrungen ent­faltet dieser Dichter in großen Gemälden. Und wenn wir dlese Gemälde überblicken, so enthüllen sich in ihnen die großen, ein­fachen Züge, nach denen die menschliche Seele lebt. Geradezu zur Bedingung echter, dramatischer Dichtung hat es Hebbel gemacht, daß ihre Schöpfungen sich auf einfache, große Formeln bringen lassen wie die Erscheinungen der Natur selbst.

Die große Liebe erzeugt die Eifersucht. Und diese Eifersucht kann den Gedanken nicht ertragen, daß die Geliebte jemals einem andern angehören könne. Herodes will, daß Mariamne mit ihm zugleich sterbe, damit in sein Heiligstes kein anderer Mann dringe. Wie er das zu verwirklichen sucht, ist der Inhalt von «Herodes und Mariamne». Was erfolgen muß, wenn sich erfüllt, was dieser Wille fordert, ist mit grausiger Konsequenz durchgeführt, mit jener Konsequenz, die wieder nur die Natur zeigt, wenn sie die Tatsachen im Raume und in der Zeit ihren einfachen Grund-gesetzen gemäß entwickeln läßt. In Mariamnes Seele lebt der Widerklang von Herodes' Leidenschaft. Auch sie will nicht leben, wenn der Geliebte nicht mehr da ist. Aber sie will diese Konse­quenz selbst herbeiführen; und daß Herodes Mittel sucht, von sich aus seinen Willen durchzuführen, daß er nicht das Vertrauen hat, sie werde selbst in den Tod gehen, wenn ihr der seinige verkündet wird: das führt die Katastrophe herbei. Mariamne rächt sich, in­dem sie sich schuldig stellt und Herodes veranlaßt, sie wegen einer Schuld, die sie nicht begangen hat, zum Tode verurteilen zu lassen.

Herodes' tragisches Geschick ist, daß er von der Liebe der Gat­tin nicht erwartet, daß sie sich der seinigen gleich erweisen werde. Er greift in ihre freie Willenssphäre ein. Wo er zu lieben ge­denkt, will er herrschen. Seiner Liebe brächte Mariamne jedes Opfer; seine Herrschaft prallt an ihrem Stolze ab. Das ist die ein­fache, große Wahrheit, die uns in dem hinreißenden Seelen-gemälde vor Augen geführt wird.

Als ein Seelenmaler ohnegleichen, als Kündiger der mensch­lichen Leidenschaften in ihrer tiefsten Gestalt, zeigt sich Hebbel

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da wie in allen seinen Dramen. Die Naturtreue im einzelnen geht Hand in Hand mit der Naturwaurheit in den großen Zügen. Es wird immer ein Irrtum bleiben, wenn die Dichtung nach der Wahrheit im einzelnen strebt. Sie verkennt dadurch die tiefere Wesenheit der Dinge. Sie geht sogar über diese hinweg.

«PHARISÄER»

#G029-1960-SE348 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«PHARISÄER»

Komödie in drei Akten von Clara Viebig

Besprechung anlä ßlich der Uraufführung in Bremen

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Ein echtes Gegenwattsdrama hat Clara Viebig mit ihren «Phari­säern> geschaffen. Es ist darin alles Gegenwart. Die Charaktere sind durchaus aus dem sozialen Milieu der Gegenwart erwachsen; der Stoff mit seinem erschütternden Konflikte ist in dieser Form ganz aus dem Leben genommen, das den absterbenden Kultur-strömungen der Gegenwart angehört; und so recht gegenwärtig ist die künstlerische Empfindungsweise und Darstellungsart der Ver­fasserin, die mit einer durchdringenden Beobachtungsgabe fein­stes Gefühl für dramatische Beweglichkeit verbindet, mit scharf-realistischer Charakteristik der Personen und Vorgänge ein stilvolles Kompositionstalent.

Diese standesstolze, allen feineren und natürlichen Empfindun­gen gegenüber brutale, dabei bigotte und auf starre Formen hal­tende Frau Rittergutsbesitzerin ist ein Geschöpf, das in jedem Zuge Wirklichkeit zeigt; ihr Mann, der Schwächling, stellt uns den echten Repräsentanten eines dem Verfall entgegengehenden Standes, einer in den Grundlagen des Seelischen angefaulten Ge­sellschaftsklasse dar. Neben den beiden steht eine Tochter, eines von jenen Geschöpfen, die aus sich heraus mitten in einer grund-verdorbenen Umgebung Wahrheit und Adel des Herzens wieder­gefunden haben, die zeigen, daß das Absterbende aus sich heraus immer wieder Zukunftskeime schafft. Den dreien gegenüber tritt

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der Inspektor Hobrecht, ein fähiger, strebsamer Mann, eine im schönsten Sinne ehrliche, tüchtige Natur. Er verwaltet das Gut des faulen, unfihigen Brotgebers, aber er geht nicht in die Kirche. Der Gutsherr ist ungemein froh, diese vortreffliche Kraft auf sei­nem Besitztum zu haben. Denn er wäre, wenn es auf ihn allein ankäme, zu bequem, sich nach einer neuen Persönlichkeit umzu­sehen. Aber seine Frau. Wie kann sie auf ihrem Gute einen bra­ven, tüchtigen Menschen dulden, der nicht zur Kirche geht! Die Tochter jedoch erwidert aus voller Seele die Liebe, die ihr dieser Mann entgegenbringt. Und so gewiß es den beiden erscheint, daß der Augenblick, in dem die Eltern des Mädchens etwas von dem Liebesverhältnis erfahren werden, auch zugleich derjenige sein wird, in dem sie es mit aller Macht zu zerstören suchen werden, so gewiß ist es ihnen, daß sie sich niemals trennen lassen werden. Die große Kraft der Charakteristik Clara Viebigs tritt uns so recht entgegen in einer alten Frau, die im Hause des Gutsbesitzers das Gnadenbrot «genießt». Sie war früher Haushälterin und wird «Tante Fritzchen» genannt. Sie ist blind, schwerhörig, gottesfürch­tig und abergläubisch. Das Stübchen, das man ihr zur Verfügung gestellt hat, ist ungesund. Die Schweineställe sind in unmittelbarer Nähe, und die Ratten sind tägliche Gäste der alten Person, die so belohnt wird für die treuen Dienste, die sie dereinst in dem Hause ihrer Herren geleistet hat. Die Tochter des Hauses teilt der guten Frau immer den Inhalt der Predigt mit. Auch die Herrschaft läßt sich, wenn sie Anwandlungen besonderer Hochherzigkeit und Leutseligkeit hat, herbei, in das greuliche Stübchen zu gehen und mit der Alten ein paar «gütige> Worte zu sprechen. Diese Herr­schaft heuchelt eben «in der Furcht des Herrn». Mit großen, un­gemein ausdrucksvollen Farben und Strichen ist diese alte Frau gemalt. Ihr Aberglaube bringt die Lösung des Konfliktes. Man hört immer etwas des Nachts, etwas Unheimliches im Hause, und «Tante Fritzchen> kann das nicht anders deuten, als daß der «Böse» sein Unwesen treibt. Die fromme Frau Gutsbesitzerin ruft dann den Freund des Hauses, den vertrottelten Pastor Hobrecht herbei, um mit dem Bösen zurechtzukommen. Aber es zeigt sich, daß die Tochter des Hauses nächtlich mit dem Manne ihres Herzens

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zusammentrifft>. Tante Fritzchen kostete diese nächtliche Be­schwörung des «Bösen> das Leben>. Sie stirbt unter dem Eindruck, den das Ereignis auf sie macht Diese Sterbeszene ist von tiefer Wirkung und von ergreifender Wahrheit Für die heuchlerischen Gutsbesitzersleute gibt es nur eines: die Tochter von ihrer Wahn­idee kurieren und den Skandal vermeiden>. Zu diesem Zwecke wird die zweite Tochter und deren Mann, der Landrat Dr>. Wiegart, herbeigerufen>. Das ist der «rechte> Mann, der das praktische Le­ben kennt, der die Standesehre zu schützen und alles zu unter­drücken versteht, was öffentliches Ärgernis erregen könnte. Er findet sogleich das Rechte>. Den wahnwitzigen Liebhaber fertigt man mit Geld ab; der Geliebten lügt man vor, daß der Mann nichts wollte, als sie in Kauf nehmen, um so ihren Besitz an sich zu bringen, und daß er sich die holde Angebetete um schnödes Geld abkaufen läßt - Und sollte etwa gar - das Verhältnis Fol­gen haben: nun, der «Herr Landrat> ist eben dabei, ein Findel­haus zu gründen, in dem mancherlei Kinder von mannigfaltiger Herkunft untergebracht werden können>. Im Hause des Guts-besitzers ist man sofort einig darüber, daß man Ansehen und «Ehre> durch diese «kluge> Idee des Hertn Landrat retten könne; aber der Verlogene vcrgißt gewöhnlich eines, daß es Leute gibt, für welche die Wahrheit noch etwas ist>. Und der ehrliche Verwal­ter erweist sich ebenso standhaft in der Ablehnung jeglichen Judaslohnes wie seine Geliebte in ihrem Glauben an seine Wahr­haftigkeit und Ehre>.

In tief zu Herzen dringender Art schließt das Drama mit dem Finden der beiden Menschen aus Heuchelei und Vorurteil heraus. Das Drama hat den Vorzug wahrer dramatischer Kunstwerke: es trägt den Stempel der Aufführbarkeit in jeder Szene an sich>. Es erhebt sich turmhoch über die meiste dramatische Produktion der Gegenwart>. In Bremen hat es nun die Feuerprobe bestanden>. Ob es in Berlin und an andern großen Theatern in dieser Saison noch aufgeführt werden wird, das dürfte davon abhängen, ob es Theater-direktoren gibt, die die notwendige Initiative haben, von sich aus zu einem Drama «Ja> zu sagen. Dazu gehört ja vielleicht etwas mehr, als zu wissen, daß Autoren, die früher «gezogen> haben,

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auch weiter ziehen werden>. Aber ohne solches Mehrwissen wird denn doch unser gegenwärtiger Theaterzustand nicht von einem allerdings recht wünschenswerten neuen abgelöst werden>.

«EIN FRÜHLINGSOPFER»

#G029-1960-SE351 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«EIN FRÜHLINGSOPFER»

Schauspiel in drei Aufzügen von E>. von Keyserling

Aufführung zum Jubiläum der Freien Bühne, Berlin

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Die «Freie Bühne> in Berlin feierte am 12. November das Fest ihres zehnjährigen Bestehens. Sie hat sich bei ihrer Gründung die Aufgabe gesetzt, Dramatikern den Weg zur Bühne zu ebnen, die trotz ihrer reifenden oder gereiften Künstlerschaft eine solche Unterstützung brauchten, weil der herrschende Geschmack an ihnen vorüberging. Die Vorstellung vom 12>. November war wenig geeignet, die Erinnerung an die so löblichen Absichten der Grün­der des Institutes aufzufrischen. Das «Frühlingsopfer> ist ein Bün­del von Konzessionen - weiter nichts>. Eine Konzession an den Naruralismus, die zweite an die Romantik, die dritte an den herr­schenden Theatergeschmack.

Die außereheliche Tochter des Säufers Kappel, halb noch Kind, halb zur Jungfrau erblüht, lebt im Hause ihres Vaters. Das Weib, das den verlumpten Mann geheiratet hat, ist ein braves Geschöpf. Sie hat das Kind, das von aller Welt mißachtet wird, ins Haus genommen>. Hier wird es auch von dem Vater mißhandelt. Die Stiefmutter liegt im Sterben; sie hat eben die Tröstungen des Pfarrers empfangen>. Damit setzt das Drama ein>. Dem Sündenkind steht in Aussicht, daß sich der Vater nach dem Tode der Gattin wieder verheiratet und die Tochter aus dem Hause jagt>. Während die Mutter mit dem Tode ringt, flammt in der Jungfrau zum ersten Male leidenschaftliche Liebe zu einem jungen Bauern auf, der sie zunächst scheinbar erwidert, in kürzester Zeit aber zu seiner

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Madda wieder zurückkehrt. Das Mädchen hat alle Empfindun­gen einer jäh auflodernden Neigung in wenigen Stunden durch­gemacht>. Es muß bald auch den Schmerz der Verlassenen erfahren>. Es hat in die Welt des Glückes einen Blick getan und ist nun, nachdem der Geliebte es verlassen, doppelt unglücklich Es wird nun nicht nur wegen der Sünde ihrer Mutter verachtet werden, sondern man wird es auch noch als ein Wesen betrachten, das sich an den Nächstbesten wegwirft>. Aus diesen Voraussetzungen hätte ein naturalistisches Drama geschaffen werden können. Der Autor fügt diesem Stoffe einen romantischen Sauerteig bei. Im Hause lebt eine alte Großmutter>. Sie erzählt dem Mädchen, daß im Walde eine schwarze Kapelle ist mit einem Muttergottesbilde>. Dort hat einst eine Frau die Gesundung eines Kindes erbetet und dafür ihr eigenes Leben zum Opfer gebracht. Ein Gleiches will das Mädchen nun für ihre Stiefmutter tun>. Es will sterben, auf daß ihre Wohltäterin lebe>. Es geht hin und erhält bei der Gottesmut­ter Erhörung>. Auf dem Rückwege geschieht es ihm dann, daß es sich verliebt>. Jetzt will es wieder nicht sterben>. Es bereut, was es getan. Doch der Gang der Vorsehung geht richtig weiter>. Als die Jungfrau nach Hause kommt, findet sie die Kranke auf dem Wege der Besserung>. Da erfährt sie die Untreue ihres Geliebten. Nun will sie doch wieder sterben. Sie wartet aber nicht auf das Wun­der der Muttergottes, sondern nimmt - wieder ganz naturalistisch -Gift in Form der Tropfen, die der Arzt der Kranken verordnet hat.

Ich weiß natürlich, daß alles in dem Srücke seinen natürlichen Gang hat, und daß die Romantik des Aberglaubens nur in den Köpfen der alten Großmutter und des Mädchens ihren Sitz hat. Die Mutter gesundet, nicht weil die Stieftochter gebetet hat, son­dern weil sie die Tropfen genommen hat, die ihr der Arzt gegeben hat>. Aber wozu vergiftet sich denn das Mädchen? Wenn es an das Wunder glaubt, so könnte es doch, still ergeben, seinen ihm sicher erscheinenden Tod erwarten>. Der könnte aber nicht kom­men, wenn der Dichter nicht selbst den Gang der «Vorsehung> zum treibenden Motiv des Dramas machte>. Deshalb ist der Selbst­mord des Mädchens durch nichts motiviert. Er ist die Konzession an die Theatermache>. Solcher sind noch viele in dem Stück.

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Man müßte traurig werden über die dramatische Produktion der Gegenwart, wenn Vereinigungen wie die keine besseren Stücke finden könnten. Aber es wird wohl nicht an dieser Produktion liegen, daß wir am 12. November diesen Mischmasch aller möglichen Stile vor uns aufmarschieren sahen.

«DER PROBE KANDIDAT»

#G029-1960-SE353 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER PROBE KANDIDAT»

Schauspiel in vier Aufzügen von Max Dreyer

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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Dr. Fritz Heitmann, dem Probekandidaten, ist der naturwissen­schaftliche Unterricht in der obersten Klasse eines Gymnasiums übertragen. Er hat den Darwinismus zur Grundlage seiner wissen­schaftlichen Denkweise gemacht und möchte auch seine Schüler im Geiste dieser Wahrheit heranbilden. Auch ist er ein ehrlicher Mann, der die Unwahrheit auch dann haßt, wenn sie in der viel­fach beliebten Form der Notlüge auftaucht. Feigheit gegenüber denen, die im sozialen Körper höher stehen oder mächtiger sind als wir, sei der Ursprung dieser Untugend, sagt er zu seinem Schü­ler, der in der Religionsstunde ihre Berechtigung gelernt haben will. Es wird dem Manne schwer, auf dem Boden der Wahrheit zu bleiben. Er erregt den Zorn des Präpositus Dr. v. Korff. Dieser, ein Verwandter des Ministers und ein Träger der «Überzeugung>, daß die Religion dem Volke nicht genommen werden dürfe, ver­anlaßt den Direktor der Schule, den unkrautsäenden Lehrer zur Raison zu bringen. Der ist in einer schwierigen Lage. Er soll die Stütze seiner Familie werden, die der Vater, ein verltrachter Gutsherr, nicht mehr über Wasser halten kann. Außerdem hat er eine Braut, deren Hand er von den Eltern nur erhalten kann, wenn er als Äquivalent seine Anstellung als Lehrer bieten kann. Er läßt sich zu dem Versprechen hinreißen, in einer Probelektion vor seinen

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Schülern die «Irrlehren> zu widerrufen, die er ihnen vor­getragen hat, und dafür echt christliche Offenbarungswahrheiten in die Seelen zu pflanzen. Dafür soll er des Amtes eines Jugend bildners würdig befunden werden. Als er aber seine Schüler um sich versammelt sieht und ihnen in die lieben Augen blickt, wird ihm klar, daß diese die Wahrheit und nichts anderes von ihm verlangen, und er bestätigt vor den Ohren seiner Vorgesetzten die von ihm vertretenen Gesichtspunkte. Die dankbaren Schüler loh­nen ihn mit einem Ständchen; die Braut geht ihm verloren. Er ist aber ein aufrechter Mann geblieben.

Man hat diesem Drama seine «Tendenz» vorgeworfen. Darüber kann sich Dreyer beruhigen. Es kann nur von seiten derer ge­schehen, welche die «Räuber> des Tendenzdichters Schiller von dem Standpunkte einer «wahren> Ästhetik abkanzeln. Wir wollen damit aber nicht etwa ins umgekehrte Extrem verfallen und Dreyers Stück wegen seiner durchaus sympathischen Tendenz im Range der Kunst zu hoch stellen. Man hat es in dem Stücke mit Karikaturen von Charakteren und mit einer karikierten Handlung zu tun. Ein Werk, das die Wahrheit der Darstellung zur Voraus­setzung hat, ist der «Probekandidat» nicht. Er wimmelt von Über­treibungen, von Unwahrscheinlichkeiten. Man muß aber den Stim­men gegenüber, die aus dieser Tatsache ihre Einwände gegen das Schauspiel holen, betonen, daß die Karikatur ein durchaus berech­tigter Kunststil ist. Wenn man den «Probekandidaten» nicht zu hoch einschätzt, sondern ihn als Ausdruck des auf die Bühne ver­pflanzten Stiles ansieht, der in den durchaus künstlerisch berech­tigten Journalen auf dem Gebiete der Zeichnung keinen Gegner findet, so wird man ihm gerecht werden.

Wahrheit und Wahrscheinlichkeit sind keine feststehenden Forderungen an das Drama. Der Schauspieldichter darf dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen, das der politische oder sen­stige Karikaturenzeichner hat Warum sollten wir den Dichter tadeln, wenn er den Stil wählt, der uns im «Simplicissimus> so oft ergötzt?

«JOSEPHINE»

#G029-1960-SE355 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JOSEPHINE»

Spiel in vier Aufzügen von Hermann Bahr

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Bonaparte ist grenzenlos verliebt in die schöne Josephine Bezuharnais - so verliebt, daß er den ganzen Tag nichts tun möchte, als mit dem süßen Weib kosen. Sie aber möchte ihn mit Barras betrügen. Deshalb schickt sie ihn von Paris fort zum Heere. Er denkt, während rings usn ihn der Sturm der Schlachten tobt, an nichts als an seine Josephine. Wenn sie ihm zu selten schreibt oder wenn ihre Briefe zu kurz sind, da wird er wütend, stürzt sich in das Kampfgetütnmel und erringt einen seiner glän­zenden Siege. So wird er, ohne daß er was dafür kann, ein Held. Die Franzosen machen ihn zum Konsul. Jetzt denkt er auch ein bißchen darüber nach, was sich für einen großen Mann schickt. Es schickt sich nicht für ihn, den ganzen Tag zu liebeln. Also ver­nachlässigt er die gute Josephine, der er doch seinen Ruhm ver­dankt. Es schickt sich aber auch für ihn, sich «anständige Manie­ren» anzueignen. Deshalb läßt er sich den Schauspieler Talma kommen, der sie ihm beibringt. So wurde aus dem kleinen ver­liebten Bonaparte der große Napoleon. Es gibt unzweifelhaft zwei Menschen, die diesen Standpunkt vertreten; der eine ist der Sol­dat, der Napoleon auf seinen Feldzügen begleitet, um ihm die Stiefel zu putzen, der andere ist der Wiener Poet Hermann Bahr. Beide haben die Gesinnung, die man gewöhnlich mit dem Satz treffen will: «Für den Kammerdiener gibt es keine Große.» Mit den obigen paar Sätzen haben wir nämlich den Inhalt eines «Dra­mas» Hermann Bahrs wiedergegeben, das am 9. Dezember im Lessing-Theater aufgeführt worden ist. Es ist vor längerer Zeit bereits in Wien über die Bretter gegangen, die sonst manchmal die Welt bedeuten. Ich vermute, daß man damals den ausgelacht hat. Denn er fühlte sich veranlaßt, die folgende «Ehrenrettung» seines «Dramas> zu schreiben: «Man hat mir nachgesagt, daß ich in meiner den Bonaparte verspotten wollte. Manche haben das gelobt, viele hat es geärgett; aber niemand hat

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gezweifelt, daß es der Sinn des Spiels war, einen Helden lächer­lich und klein zu machen. Mir ist das seltsam zu vernehmen ge­wesen: denn daran hätte ich niemals gedacht, sondern ich habe gerade an einem unzweifelhaft großen Menschen zeigen wollen, was das Leben ist.>

ist nämlich das erste Stück einer Trilogie.... der anfangende Mensch... glaubt noch, daß er für sich auf der Welt ist, um sich selber darzustellen. Er weiß noch nicht, daß er für sich selbst nichts bedeuten kann, sondern nur in der großen Hand­lung der ewigen Komödie mitwirken soll. Nein, sein eigenes Leben möchte er lehen. Wie ihm das abgewöhnt wird und er ler­nen muß, sich im Takt des &hicksals zu bewegen, das macht den ersten Akt unseres Lebens aus. Hier ringt der Jüngling mit dem Schicksal. Er mag nicht auf sich verzichten, er wehrt sich, er will sich und sein Leben selber bestimmen. Er will nicht dienen. Er hat seine eigenen Pläne mit sich, diesen will er folgen. Aber er muß erleben, daß das Schicksal stärker ist. Wer so weit ist, wer dem Schicksal gehorchen gelernt hat, wer sich nicht mehr wehrt, tritt in den zweiten Akt ein, in das melancholisch heitere Spiel des Mannes. Der Mann weiß, daß es nicht des Menschen ist, sein Le­ben zu bestimmen. Er weiß, daß er einer großen Macht untertan ist, der er sich nicht widersetzen kann. Er weiß, daß wir Werk-zeuge sind, mit welchen nach unerforschlichen Plänen an un­erforschlichen Werken geschaffen wird. Niemand darf je ver­muten, was denn seine Handlungen bedeuten. Wir fühlen wohl, daß ein ungeheurer Sinn unsere Existenz beherrscht, aber es ist uns nicht vergönnt, ihn zu erblicken. Es gibt für uns nichts als gehorchen ... Endlich im dritten Akt des Lebens ist der Mensch vom Schicksal frei geworden. Er hat seine Rolle besorgt, nun tritt er von der Bühne ab, der große Direktor entläßt ihn ... das We­sen des Greises ist, daß er frei geworden ist und jetzt nach ab­gelegter Rolle endlich für sich leben darf... Das Schicksal braucht einen Tyrannen und nimmt dazu einen Troubadour. Wie klein sind unsere Wünsche, wie groß ist das Schicksal! Dies habe ich dar­stellen wollen: in der , wie die unbekannte Macht ihn

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einfängt, den Träumer in den Krieg schickt und den Poeten zum Helden werden läßt, ob er sich auch wehrt und von seinem Hel­dentum nichts wissen will; im zweiten Teil, seiner Liebe zur Walewska, wie er zum Mann geworden ist, der sich dem Schick­sal ergeben hat und weiß, daß wir dienen müseen, und gehorsam seine unbegreifliche Rolle verrichtet..., im dritten Teil, auf der Insel, wie er ausgespielt hat und vom Schicksal freigeworden ist, wie er endlich jetzt nach sich selber leben darf, und wie da der Kaiser und Held von ihm fällt und er wieder zum korsischen Schwärmer wird, der mit wilden Träumen hinausblickt...>

Es ist doch drollig, wie sich in dem Kopf dieses Dichters die Welt spiegelt. Der Mensch, der frei sein will, um mit Josephine zu liebeln, den aber das Schicksal unfrei macht, zum Manne, der die Völker Europas von West bis Ost durcheinanderrüttelt, weil er «dienen, gehorchen» muß, und der endlich «frei> wird, als er gefangen seine letzten Tage auf einer einsamen kleinen Insel ver­bringt! !! Die Kammerdienergesinnung muß groteske Purzelbäume schlagen, wenn sie zur Philosophie werden will. Schade, daß Her­mann Bahr nicht Naturhistoriker geworden ist. Ich stelle mir eine von ihm nach dem Rezept seiner Napoleon-Schicksal-Weisheit geschriebene Naturgeschichte recht nett vor. Es könnte da zum Beispiel zu lesen sein: «Der Löwe ist das gutmütigste Tier. Wenn er Heißhunger hat und ihm in der Wüste ein Wanderer begeg­net, legt er sich hin und bittet den Menschen, .... Und an einer anderen Stelle könnte man lesen: - -

«WENN WIR TOTEN ERWACHEN»

#G029-1960-SE358 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«WENN WIR TOTEN ERWACHEN»

Ein dramatischer Epilog von Henrik Ibsen

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Tiefer als es uns bisher möglich war, sehen wir jetzt, da er uns seinen «Dramatischen Epilog» mitgeteilt hat, in die Seele Henrik Ibsens. So persönlich. so rückhaltlos hat er noch nie gesprochen. Das Schicksal des Schaffenden, sein eigenstes, will er bloßlegen. Es ist eine erschütternde Tragödie, in der er dies tut. Furchtbar stellt er den Augenblick hin, da der Schaffende erkennt, welch grausames Spiel die ewigen Mächte mit ihm treiben. Sie haben ihn getötet, um ihn zum Schaffenden zu machen. Und wenn er auf der Höhe angelangt ist und hinunterblickt auf den Weg, den er gegangen, da erwacht er und erkennt, daß er als Toter durch das Leben gewandelt. Er hat das Leben gesucht, wie jedes Ge­schöpf es sucht. Aber auf seinen Wegen ist es nicht zu finden. Als er herausgetreten aus dem Stande der Unschuld und aus-gegangen ist, ein höheres Reich in der Kunst zu suchen, da ist ihm das Leben fremd geworden, so fremd, daß er nicht mehr den Weg zu ihm finden konnte. Im Geiste wollte er die höhere Natur, eine wahre Wirklichkeit suchen. Aber Dichtung, Traumwirklich­keit bleibt alles, was der findet, der die Kreise des Lebens verläßt. Das Kind, das mit frischen, unschuldigen Sinnen die Dinge um sich her wahrnimmt, der naive Mensch, der Wald und Feld durch­streift und voll auf sich wirken läßt, was er sieht: sie haben die Natur. Der Schaffende, der den Dingen auf den Grund gehen will, der hinaufstrebt zu den Urbildern: ihm wird zuletzt die Er­kenntnis, daß ein holder Wahn es war, dem er nachgegangen ist. Tief ergteifend ist dies Geständnis aus der Seele des Dichters, der sein ganzes Leben hindurch die Wirklichkeit in allen Formen suchte und zu verkörpern strebte. Niederschmetternd ist es für alle diejenigen, die ewig dem Schaffenden das Wort zurufen: Halte dich an die Natur. Ibsen erteilt ihnen die Antwort auf diese Forderung. Seid keine Schaffenden. So lautet diese harte Antwort. Wenn ihr das Leben, die Natur, die Wirklichkeit haben wollt, dann suchet nach den täglichen Genüssen; alles, was darüber hinausgeht.

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tötet das Leben. Im Bilde der «Auferstehung> wollte der Bildhauer Professor Rubek ein Werk der göttlichreinen Schön­heit schaffen. Das Weib, das er zum Modell nimmt, ist von der Natur wie zum Ideal der Schönheit geschaffen. Er schließt mit ihr eine Ehe im Reich des Geistes. Die Vermählung des Schaffenden mit der Schönheit soll sich vollziehen. Alle Herrlichkeiten der Welt will er der Geliebten zeigen. Sie suchen zusammen das Le­ben. Aber sie suchen es im Geiste. Und so kann es keiner von ihnen finden. Er berührt das Weib nicht, denn in dem Augen­blicke, in dem Irdisches sich in den Genuß der himmlischen Schönheit mischt, glaubt er die letztere selbst verloren zu haben. Und so müßte, seiner Meinung nach, auch das Weib denken, in dem er die Schönheit verkörpert sieht. Sie aber ist von der Natur als natürliches Wesen geschaffen. Und sie wird die Hasserin des Schaffenden, der ihre irdischen Triebe nicht befriedigt. Sie ver­läßt ihn. Ihre Seele kann den Rückweg zum Leben nicht mehr finden. Der Wahnsinn ereilt sie zuletzt, und sie lebt in der Vor­stellung, eine Tote zu sein. Der Schaffende hat ihr das Leben genommen. Er hat es auch sich genommen. Und nun, da er es wieder sucht, kann er in ihm nicht glücklich werden und aach nicht beglücken. Er findet zum zweiten Male ein Weib. Zu einer Ehe im irdischen Sinn ist er nicht mehr fähig. Die Frau, mit der er eine solche eingegangen ist, kennt nichts von Gelüsten nach einer höheren Welt. Das Leben ist ihr Reich. Und als ihr der erste beste Naturmeusch in den Weg tritt, der nicht nach der Schönheit strebt sondern nach Bärenjagd im wilden Wald, da fühlt sie ihr Wesen mit dem seinigen verwandt. Gleichzeitig fin­det der Küristler diejenige wieder, die auch durch ihn ihr irdisches verloren hat, die er zur Toten gemacht hat. Wie sein Weib sich dem Naturmenschen in die Arme wirft so er der ehedem geistig mit ihm Vermahlten der Tote der Toten Auf der Hohe des Ge birges, da wo der Sturm der naturlichen Elemente entfesselt ist erfüllt sich das Schicksal der vier Menschen Die Lebende wird in den Armen des Lebenden dem Lawinensturm entrissen und in das sichere Tal getragen wo sie ihr Gluck finden wird Die bei den toten Geistmenschen werden von der Lawine erfaßt Sie

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haben erkannt, daß sie sich beide zum Leben, zur Natur feindlich gestellt haben. Sie suchen im Augenblicke, da sie von ihrem Tode erwachen, oben auf den Bergen die Natur; aber der Augenblick ihres Erwachens ist der ihres Unterganges. Unerbittlich hat das Schicksal gesprochen. Die Unschuldigen, die Naiven, die Natur­menschen stehen zur Rechten der Natur. Ihnen ist das Leben. Die Schaffenden, die Erkennenden, die Geistmenschen, sie stehen zur Linken. Ihnen ist der Tod. Ewig unvereinbar im Dasein des Men­schen ist das Leben und das Schaffen. Und nur die holde Einfalt, die nie etwas erlebt hat, nichts von der Wirklichkeit und nichts von dem Geiste: sie kann glauben, daß Friede möglich sei zwi­schen Schaffen und Leben. Diese holde Einfalt aber hat das letzte Wort der Tragödie. Die Diakonissin, die die Wahnsinnige zu begleiten hat, eilt der Kranken nach, als diese mit dem Bildhauer auf die gefährliche Höhe steigt. Und da sie beide in den Schnee-massen umkommen sieht, ruft sie: Pax vobiscum.

Als solch Einfältige erscheint dem Dichter jetzt, da er erwacht, auch sein Publikum. Es hat ihn als den Finder des Lebens, der Natur gar oft bezeichnet. Er aber sagt offenbar dasselbe von den Gestalten seiner Dramen, was sein Professor Rubek von seinen Büsten sagt: , wie man es nennt, und wovor die Leute mit offe­nem Munde dastehen und staunen - aber in ihrem tiefsten Grund sind es ehrenwerte, rechtschaffene Pferdefratzen und störrische Eselsschnuten und hängohrige, niedrigstirnige Hundeschädel und gemästete Schweinsköpfe, - und blöde, brutale Ochsenkonterfeis sind auch drunter.> Wie die einfältige Diakonissin, die nicht die Wirklichkeit kennt und auch nicht das Schaffen, so sprachen die Leute immerfort von dem Frieden des Lebens und der Dichtung, wenn sie von Ibsens Schöpfungen sprachen. Der Dichter aber, der von den Toten erwacht ist: er weiß, daß es kein solches gibt. In seine tragische Empfindung mischt sich das Hohngelächter über sein Publikum, das auf der Urteilshöhe seiner

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Diakonissin steht. Es nimmt voll, die

In drei Geschlechter scheint Ibsen die Menschen zu teilen. In die unschuldigen Naturkinder, die das Leben in vollen Zügen genießen; in die Schaffenden, die dem Leben absterben, weil sie über dasselbe hinaus wollen; und in die Kunstfreunde und Wirk­lichkeitsträumer, die in ihrer Urteilslosigkeit von der Vermäh­lung des Schaffens mit der Natur schwärmen. Das erste Ge­schlecht betrachtet er mit Wehmut; in dem zweiten sieht er die Genossen des eigenen tragischen Geschicks; über das dritte stimmt er ein Hohngelächter an.

Das Leben des Schaffenden ist für ihn eine Tragödie, wenn er sich selbst betrachtet, eine Komödie, wenn er die betrachtet, die seine

SEZESSIONS-BÜHNE IN BERLIN

#G029-1960-SE361 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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SEZESSIONS-BÜHNE IN BERLIN

Aufführung der Sezessions-Bühne, Berlin

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Einer Muse, die der Maeterlincks ähnelt, hat sich Wilhelm von Scholz verschrieben. Es war Schönheit in den Bildern, die geheim­nisvoll die erste Vorstellung der Sezessions-Bühne an uns vorüberziehen ließ. Ein Dichter kam zu Worte, der vieles bedeutungsvoll sagen will; dessen Empfindungsschatz allerdings für sein Wollen noch nicht ausreicht. Es ist aber erhebend, so viel und so ernst­liches Wollen zu vernehmen. Daß der Versuch berechtigt war, dieses Sagendrama auf die Bühne zu bringen, darüber sollte kein Streit sein. Martin Zickel und Paul Martin, die die Sezessions­Bühne ins Leben gerufen haben und sie leiten, verdienen Dank

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für diesen Versuch. Was Wilhelm von Scholz zum dramatischen Problem geworden, das hat er schön in dem Prolog zu seinem ausgesprochen:

«Denn dem Abend dienen alle Tage,

Dem sinkenden Abend,

Dem steigenden Abend,

Der mit tief schattendem Flügelschlage

Hinwegnimmt, was die Erde bekümmert,

Der die Sternengerüste zimmert

Und die Quellen zum Rauschen ruft,

Zu dem der Tag hinaufgestuft

Wie eine leuchtende Tempeltreppe,

Die zum raunenden Marmordämmer führt,

Hinüberleitet in weißer Schleppe

Den Priester, daß er die Harfe rührt... »

Die Vergänglichkeit, die mit dem ewigen Urquell alles Seins tief verwandt ist, sucht der Dichter dramatisch zu gestalten. Das Werden, das in schwankender Erscheinung schwebt, ist ihm zum Problem geworden. Ein Ritter und ein Mönch zugleich ist die Hauptfigur seines dramatischen Märchens. Der greift tief in das Leben hinein, denn er entfesselt des Lebens tiefste Macht, die Liebe, da, wohin er kommt. Aber mit des Lebens Blüte bringt er zugleich den Tod. Einfach ist die Handlung. Der «Ritter vom Stern>, der . «Er liebt sie, und sie werden still und reich, bis sie an seinen Blicken sterben » «Er tötet sie manchmal in einer Nacht, in einer Stunde, die sie süß durchlacht.> So geschieht es auch in dem Vorgang, der dem kleinen Drama zugrunde liegt. Wenn dies von der Bühne herab nicht voll verständlich ist, so liegt das nicht an der durchaus echten, wahren Grundidee. Die gehört zu den Elementen unseres Seelenlebens, die unzähligemale in jedem Menschen auftauchen, der fähig ist, Einkehr in sich zu halten, und der die Natur in ihrem ewigen Werdegang zu beobachten versteht; wie sie immer wieder den Tod über das Leben breitet und das Leben aus dem Tode zaubert,

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wie sie Gegenwart in Erinnerung wandelt und die Größe im Denkmal allein dauern läßt. Hätte der Dichter zu seinem Ver­mögen, das Einfach-Große zu empfinden, auch das andere, es ebenso in einfacher Größe darzustellen, dann könnte über die Unverständlichkeit seiner Schöpfung keine Klage sein. Wäre das der Fall, dann stände in plastischen Gestalten vor uns, was so als erhebende Stimmung in uns anklingt, wenn der zum Mönch gewandelte Ritter an der Leiche der von ihm Getöteten steht und die Kerzen auslöscht, die den Umkreis des Werdens symbolisch darstellen: vergessenes Kindheitsglück, die junge Liebeslust, die reife Liebe, die freudige Pflichterfüllung, die Wahrheit, die Schön­heit, der Glaube. Dann hätte allerdings der Dichter aber auch nicht nötig, sein dramatisches Gedicht von der personifizierten Sage mit den Worten einleiten zu lassen:

«Sucht nicht das Wort, das alles lösen kann,

Was dieser Stunde schwerer Dämmertraurn

Euch bringen wird. Ein scheuer Bann

Rührt, wenn ein Tag versprüht in Duft und Schaum

Oft eure Seele wehend an,

Bis ihr allein seid, ihr im leeren Raum!

Kein Wort sagt euch, was ihr empfindet -

Es wird aus Wolken, bis es wolkig schwindet.»

Das ist eben des wahren Dichters Macht über das Wort, daß er es zu gestalten versteht, auf daß es nicht aus Wolken wird und wolkig, gestaltenlos schwindet, sondern als Gestalt, inhaltvoll und bestimmt, vor uns hinstellt, was wir empfinden. Wir können von dem Dichter, der verspricht, daß in seinem Werke «Tod und Leben ... sich die Hand zum Bunde geben», verlangen, daß er uns nicht zu den Wolken hinaufweist und unsere Phan­tasie an ihren ewig wechselnden Unbestimmtheiten einlullt; wir wollen das Größte in vollem Wachen, nicht im Traume schauen. Es bleibt eine unumstößliche Wahrheit, daß es des Dichters ist, zu befestigen in dauernden Gestalten, was in schwankender Er­scheinung schwebt. Und dem Dramatiker können wir es schon gar nicht verzeihen, wenn er uns behandeln will wie Hamlet den

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Polonius. In der reinen Stimrnungsdramatik muß schon solche Größe liegen, wie sie uns aus Maeterlincks Schöpfungen anweht, wenn wir über den Mangel an Gestaltung hinwegsehen sollen. Für Maeterlinck, der so viel in dem an uns vorüberziehenden all täglichen Ereignisse sieht, eignen sich die verschwimmenden, viel­deutigen Stimmungstöne allerdings viel besser als die bestimmte, geschlossene Eindeutigkeit der Anschauung. Wilhelm von Scholz hat aber nicht das leise Weben ewiger Urkräfte im Kleinsten im Auge; vor ihm steht vielmehr ein ewiges Weltgeheimnis in seiner abstrakten Linienhaftigkeit; und für dieses sucht er nach Aus-druck, nach Verkörperung. Sie aber kann er nicht finden. Maeter­linck sucht das Ewige in den kleinen Vorgängen, worin es unzwei­felhaft lebt, weil es alldurchdringend ist, aber wohin es nicht gestaltend wirkt. Scholz bleibt einfach mit seiner Empfindung hinter der gestaltenschaffenden Phantasie zurück.

Warum die Leiter der Sezessions-Bühne uns den «Kammer­sänger» von Frank Wedekind gebracht haben, ist mir unerfind­lich. Der große Wagnertenor Girardo, der von unreifen Mädchen und reifen Frauen umschwärmt wird, und die Handlung des un­gemein flotten Dramas mit dem Hintergrunde einer zynischen Lebensauffassung eignen sich vorzüglich für eine Abendauffüh­rung auf einer unserer gewöhnlichen Bühnen. Nichts steht einer solchen Aufführung im Wege. Das Theaterpublikum hätte Ge­fallen an den Karikaturen, und die Kritiker würden die Sache loben, wie sie es auch hübsch brav getan haben. Sie haben ganz richtig herausgefühlt: Wedekind kann, was er will; Scholz kann nicht, was er will. Nun, es gibt noch mehr «Dramendichter», die auch können, was sie wollen: Blumenthal, Schönthan und so wei­tet Und wir können einige nennen, die nicht immer konnten, was sie wollten, wenn wir natürlich nicht Scholz irgendwie mit ihnen in Zusammenhang bringen wollen: Hebbel, Kleist und - Goethe und Schiller.

«LORD QUEX»

#G029-1960-SE365 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«LORD QUEX»

Lustspiel in vier Aufzügen von Arthur W. Pinero

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Das Lessing-Theater hat am 13. Januar «Lord Ouex>, Lustspiel in vier Aufzügen von Arthur W. Pinero, zur Aufführung gebracht. Wenn diese Aufführung keine andere Bedeutung hätte als die, uns ein dramatisches Werk zu zeigen, das in London mit großem Beifalle unzählige Male gespielt worden ist, so könnte man zufrie­den sein. Denn es ist doch gut, wenn wir Gelegenheit haben, kennenzulernen, was ein anderes Volk interessiert. Die Auffüh­rung wäre schon damit gerechtfertigt, aber sie ist es auch in anderer Beziehung mehr, als die Tageskritik zugeben will. Man findet das Lustspiel langweilig. Doch das hängt ganz von der Persönlichkeit ab. Ohne irgendwie «Lord Quex> überschätzen zu wollen: es ist mehr Geist darinnen als in dem neulich von der Kritik mit so zarten Händen angefaßten «Tugendhof». Aber Pinero lebt in London - das ist weit. Da urteilt man objektiver.

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«FREUND FRITZ»

Lustspiel von Erckmann-Chatrian

Aufführung der Neuen Freien Volkshühne, Berlin

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Die Neue Freie Volksbühne hat am 14. Januar «Freund Fritz», Lustspiel von Erckmann-Chatrian, vorgeführt. Es muß ihr das als Verdienst angerechnet werden. Das Lustspiel ist bedeutend durch die Wahrheit der Charakteristik, durch die lebensvolle Handlung und durch vornehme künstlerische Haltung.

«SCHLUCK UND JAU»

#G029-1960-SE366 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«SCHLUCK UND JAU»

Spiel zu Scherz und Schimpf mit fünf Unterbrechungen

von Gerhart Hauptmann

Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

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«Schluck und Jau.» Über dieses vielumstrittene «Spiel zu Scherz und Schimpf> von Gerhart Hauptmann, das in S. Fischers Verlag (Berlin) soeben erschienen und im Deutschen Theater aufgeführt worden ist, soll erst in der nächsten Nummer dieser Zeitschrift gesprochen werden. Unser Urteil weicht so sehr von dem ab, was bisher pro und kontra zu vernehmen war, daß wir erst dann hof­fen dürfen, gehört zu werden, wenn sich die aufgeregten Gemüter etwas beruhigt haben.

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wenn mir Karl, mein «denkender> Genosse, seine Lebensphilo-sophie mitteilt. Man hat Jau, den Säufer, in einem fürstlichen Bett aus seinem Rausch erwachen lassen; man hat ihn in Fürsten-kleider gesteckt und redet ihm dann ein, er sei Fürst und nicht wandelnder Strolch. Karl unternimmt dieses Manöver, um seinen Fürsten zu erheitern. Er belehrt ihn dann:

«Nimm dieses Kleid ihm ab, dies bunt gestickte,

So schlüpft er in die Lumpen wiederum,

Die nun zum kleinen Bündel eingeschnürt

Der Kastellan verwahrt. Kleid bleibt doch Kleid!

Ein wenig fadenscheiniger ist das seine,

Doch ihm gerecht> und auf den Leib gepaßt.

Und da es von dem gleichen Zeuge ist

Wie Träume seins so gut wie unsres Jon' -

Und wir den Dingen, die uns hier umgeben

Nicht näher stehen als eben Träumen, und

Nicht näher also wie der Fremdling Jau -

So rettet er aus unstem Trodler-Himmel

Viel weniger nicht als wir in sein Bereich

Der Niedrigkeit. Wie? Was? Sind wir wohl mehr

Als nackte Spatzen? mehr als dieser Jau?

Ich glaube nicht! Das, was wir wirklich sind,

Ist wenig mehr, als was es wirklich ist -:

Und unser bestes Glück sind Seifenblasen.

Wir bilden sie mit unsres Herzens Atem

Und schwärmen ihnen nach in blaue Luft,

Bis sie zerplatzen: und so tut er auch.

Es wird ihm freistehn, künftig wie bisher,

Dergleichen ewige Künste zu betreiben.>

Die uralte Weisheit, daß die Unterschiede zwischen den Men­schen nur auf einem Scheine beruhen, daß sich uns als das Wesen des Menschen etwas ganz Neues enthüllt, wenn wir aus dem Lebenstraum für eine Weile erwachen, etwas, das in jedem Men­schen steckt, sei er Fürst oder Bettler - diese nicht gerade tiefe, aber doch wahre Weisheit wird hier dargestellt, wie sie in das

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Hirn eines Menschen, wie Karl einer ist, paßt. Und wunderbar ist der Typus solcher Menschen getroffen, die derlei Dinge, die andere längst in die Kategorie der banalsten Selbstverständlich­keiten verwiesen haben, wichtig nehmen und mit Wichtigkcir zum Aundt>uck bringen. Man kennt ihn, den Grafen, der mit einer Miene, als ob er bei Buddha selbst in die Schule gegangen ware, einige Trivialitäten aus einem Katechismus über indische Philo-sophie vorbringt. Trefflich ist er gestaltet, dieser philosophie­rende Salonheld von Gerhart Hauptmann. Auch das Nietzsche­rum hat heute solche philosophierende Grafen gefunden. Ich selbst kannte einen, der die kleine Ausgabe des «Zarathustra> in einem niedlichen Prachtbändchen immer in den Hosentaschen mit sich herumtrug. In der andern Hosentasche trug der gräfliche Denker eine ebenso wohl ausgestattete kleine Ausgabe der Bibel. Er schien der Meinung zu sein, daß man die Lehren des «Buches der Bücher» durch die Sprüche des Zarathustra trefflich bestätigt finden kann und daß sich Nietzsche nur geirrt habe, wenn er sich für einen antichristlichen Philosophen gehalten hat. Warum sollte es Karl, der eben solchen Geistes Kind ist, nicht einen furchtbaren Spaß bereiten, seinem Genossen klar zu machen, daß es nur der Schleier der Maja ist, der uns einen Unterschied fin­den läßt zwischen Bettler und König, und daß ein Bettler, wenn man ihn nur in die Lage versetzt, einen Tag König zu sein, seine Rolle ebensogut spielen wird wie der geborene Fürst?

Der Humor, der dazu notwendig wäre, um das ganze Possenspiel durchzuführen, scheint Hauptmann allerdings zu fehlen. Er ist eine kontemplative Natur. Er legt die Seelen in wunderbarer Weise bloß. Die beiden Lampen Schluck und Jau, mit ihrer Gesindelphilosophie und Gesindellebensführung, sind herrlich ge­zeichnet. Die psychologische Feinkunst Hauptmanns zeigt sich in jedem Strich, mit der er diese beiden Typen charakterisiert. Da­durch sind Anfang und Ende des Stückes vortrefflich gelungen:

die Szene, die uns die beiden angetrunkenen Lumpen auf dem grünen Plan vor dem Schlosse vorführt, und die andere, am Schlusse, die sie uns zeigt, nachdem sie ihre Abenteuer im Schlosse bestanden haben und wieder auf die Straße geworfen worden sind.

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Anders steht es mit dem, was dazwischen liegt. Hier hätte ein dramatischer Karikaturenzeichner seine Kunst entfalten müssen. Auf diesem Gebiete versagt Hauptmanns Begabung. Die unwider­stehliche Komik, die hier allein am Platze wäre, ist wohl nicht seine Sache. Das eigentliche Possenspiel erscheint daher matt, farblos. Shakespearesche Art wurde angestrebt. Sie ist aber über­all nur halb erreicht. Damit ist zugleich darauf hingedeutet, was überhaupt als bedenklich bei diesem Stück erscheint. Es verrät keine ganze Eigenart. Man wird an so vieles erinnert, ohne daß man durch das, was neu in Erfindung und Behandlung ist, zu­gleich sich voll entschädigt fühlte. Weniger Shakespeare und mehr Hauptmann wäre uns lieber gewesen.

Ich bitte zu entschuldigen, daß es mir doch nicht ganz geglückt ist, mir ein fürstliches Jagdgesellschaft-Gehirn einzuschalten, son­dern daß sich mein eigenes so aufdringlich geltend gemacht hat.

«JUGEND VON HEUTE»

#G029-1960-SE369 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«JUGEND VON HEUTE»

Eine deutsche Komödie von Otto Ernst

Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin

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Aus mehreren Orten wurde ein bedeutender Erfolg dieser Ko­mödie gemeldet. Auch hier im Königlichen Schauspielhaus hat> sie einen solchen erzielt. Otto Ernst ist der Stimmung des weitaus größten Teiles des Theaterpublikums in bedenklichster Weise ent­gegengekommen. Was könnte es auch für dieses Publikum Ein­leuchtenderes geben, als daß sein Denken, Empfinden und Wollen vortrefflich, einzig und allein gesellschafterhaltend sei und daß nur lächerliche, alberne Geistesgigerln an der soliden Gesinnung echten Bürgertums etwas tadelnswert finden können. Einer der­artig soliden bürgerlichen Familie gehört der junge Arzt Hermann Kröger an. Sein Vater ist ein Philister von demjenigen Typus, wie man ihn in Beamtenstellungen oft findet. Diese Leute sind ihrem Geiste nach so «normal>, daß sie nur wenig brauchen, und

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sie haben die Grenze überschritten, wo der Schwachsinn beginnt. Haben sie diese Grenze überschritten, dann werden sie pensio­niert. Die Mutter ist entsprechend. Sie liebt ihre Kinder, wie #SE029-371

die Farben, durch die wir die Eigentümlichkeiten der Personen verstehen sollen, in dicken Klexen hirunalt; die Vorgänge folgen sich, als ob es so etwas wie eine Logik der Tatsachen nicht gäbe. Es ist zwar richtig, daß wir diese im Lustspiel auch entbehren können, aber dann gibt es nur ein Mittel, das Unmögliche für unsere Phantasie in ein augenblicklich Genießbares umzuwan­deln: den Witz. Er hat bei Abfassung der Komödie dem Dichter nicht zur Seite gestanden.

«DIE DREI TÖCHTER DES HERRN DUPONT»

#G029-1960-SE371 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DIE DREI TÖCHTER DES HERRN DUPONT»

Schauspiel in vier Aufzügen von Eugéne Brieux

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Was ursprünglich Geist hat, zeigt diesen auch in einer mehr oder weniger verstümmelten Nachbildung. Die etwas «freie» Übersetzung dieses Schauspiels beweist das. Ein soziales Schau­spiel ist es, im besten Sinne des Wortes, voll innerer Wahrheit. Herr Dupont hat drei Töchter. Die älteste ist früh verführt, dann ins Leben hinausgeworfen worden; nun lebt sie wie diejenigen, die ein lebender Beweis gegen den nationalökonomischen Grund­satz zu sein scheinen, daß nur #SE029-372

für das Richtige, Wünschenswerte zu halten. Die Verlogenheit im Gewande der Biederkeit, das Unmoralische im Kleide des Moralisch-Korrekten. Ein echter dramatischer Satiriker hat diesen Druckereibesitzer gezeichnet.

«DER ATHLET»

#G029-1960-SE372 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER ATHLET»

Schauspiel in drei Aufzügen von Hermann Bahr

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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Von Hermann Bahrs theatralischen Versuchen ist dieser der beste. Was Rechtes ist er allerdings trotzdem nicht. Ein öster­reichischer Baron ist, wie man sagt, aus der Art geschlagen. Er hat so seine eigenen Ideen und Grundsätze. Es heißt das nicht viel anderes, als daß er gegenüber den sonstigen Mitgliedern seiner aristokratischen Verwandtschaft relativ vernünftig ist. Des-halb gilt er diesen andern als Sonderling. Er hat sich verheiratet, nicht aus leidenschaftlicher Liebe zu seiner Frau, sondern - nun, weil er sich verheiratet hat. Das ist in dem ganzen «Athlet» das Charakteristische, daß man auf jedes «Warum» ohne «Darum» bleibt. Der Mann arbeitet mit der Frau fleißig zusammen. Die gemeinsamen Pflichten machten sie einander schätzenswert. Sie ist das, was man eine ganz tadellose Frau nennt. Aber sie betrügt doch ihren Mann. Warum? Ja, weil es eben Bahr so gefällt. Der Mann erfährt die Sache. Er ist zuerst zerknirscht. Er will sich mit dem Verführer schlagen. Sein Bruder soll die Sache einleiten. Als dieser kommt, tritt dem guten Mann die Lächerlichkeit der Ge­sinnung vor Augen, auf der bei seinen Verwandten in solchen Fällen das Duell beruht. Er gibt es auf, sich zu duellieren. Er kann der Frau zwar nicht verzeihen, aber er wird sich mit ihr weiter den gemeinsamen Pflichten widmen.

Das Ganze ist eine Sammlung dramatisierter Aperçus, die Bahr über das Leben gemacht hat. Unzusammenhängend, unmotiviert, launisch, bahrisch. Dieser Mann hat eine ganz hervorstechende

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Geisteseigentümlichkeit. Man kann sie an seinen kritischen Aus-führungen ganz besonders studieren. Er hat eine selbst erfundene Erkenntnislehre. Bekanntlich kann man viel nachdenken, wodurch etwas wahr ist, das man als wahr behauptet. Der eine führt da dies, der andere jenes an. Bahr hat immer nur einen Grund, warum er etwas behauptet. Das ist der, daß es ihm eben einge­fallen ist.

«DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH»

#G029-1960-SE73 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS TAUSENDJÄHRIGE REICH»

Drama in vier Aufzügen von Max Halbe

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Halbes Liebesdrama #SE029-374

unserer organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuwei­sen; hier ist alles Zufall! » Diese Worte stehen in dem Buche, in dem der größte Nanirforscher der Gegenwart seine Welt­anschauung zusammengefaßt hat, in Ernst Haeckels «Welträtsel» (Bonn 1899). Der menschliche Geist hat jahrtausendelang nach dem #SE029-375

Heiland zuzuführen; in diesem macht man sich zum Ver­künder der dionysischen Lehre von der Einen tragischen Charakter von solcher Art hat Max Halbe geschaffen. Zwei Welten stoßen aneinander. Die der äußeren Vorgänge und die Spiegelung dieser Vorgänge in Drewfs Kopfe. Ein Schmiedemeister heiratet eine Frau, die des Gutsherrn Ge­liebte war. Er hat sie im Verdacht, daß sie es auch nach der Ver­heiratung geblieben ist. Ein Zufall hat ihn Anno dreizehn im Kriege mit dem Gutsherrn an einen Ort zusammengeführt, wo er hätte leicht Rache nehmen können. Sie waren beide allein auf Vorposten. Er hat zum Schuß angelegt. Ein Zufall fügt es, daß ihn in diesem Augenblicke selbst eine feindliche Kugel trifft. Drewfs sieht nicht einen Zufall, sondern eine weise Fügung. Der Herr hat ihm ein Zeichen gegeben, daß er zu Großem auserwählt sei. Ein weiterer Zufall fügt es, daß sein Kind stirbt. Für Drewfs ist das wieder ein Fingerzeig Gottes. Dieser hat damit gezeigt, daß es sich um ein Sündenkind handelt, gezeugt von dem Guts-herrn im ehebrecherischen Bett. Drewfs fühlt sich als Prophet. Er versammelt Anhänger um sich, die er dem wiedererstehenden Heiland zuführen will. Und nun ist für ihn nichts mehr da als der krankhafte Gedanke an seine Mission. Sein Charakter gewinnt die Prägung, die der Zarathustra-Sänger mit den Worten bezeich­net: «Werdet hart.» Sein Weib geht neben ihm elend zugrunde. Der Glaube ihres Mannes, daß sie die Ehe gebrochen, und alles, was sich an diesen Glauben knüpft, treibt sie zum Selbstmorde. Vollends zerstören kann in Drewfs Seele alles aber nur dasjenige Element, das alles aufgebaut hat: der Zufall. Ein Blitz schlägt in seine Schmiede ein und zerstört ihm Hab und Gut. Der Schmiede­meister verliert allen Halt. Die Seelenpein, die sich seiner be­mächtigt, besänftigt er nach den beiden schrecklichen Ereignissen, dem Selbstmord der Frau und dem Blitzschlag, kurze Stunden durch - Schnaps; und dann folgt der Irrsinnige seiner Gattin freiwillig in den Tod.

Die scharfe Logik in der Seelentragik des Schmiedemeisters springt in die Augen. Man hat die folgerichtige Entfaltung einer

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Geistesdisposition vor sich. Dieselbe Anlage, die das hervorbringt, was man als religiösen Wahnsinn bezeichnen kann, die intensive Hinneigung zu gewissen einseitigen Ideen und die Stumpfheit gegenüber allen anderen Gedanken und Gefühlen, die mit jenen sich organisch zusammenschließen sollten - diese Anlage führt zuletzt zur Haltlosigkeit. Halbes Schmiedemeister ist nämlich durchaus keine von den großen Naturen, die ein harmonisches Geistesnaturell in die Dienste einer Idee zu stellen haben und die deshalb im physischen Untergange noch groß, ja erst recht groß erscheinen; nein, er ist einer von den Charakteren, bei denen eine Idee in den Vordergrund tritt, weil sie zu minderwertigen Geistes sind, um die ganze Harmonie des Geistes zur Entfaltung zu bringen. In dem Augenblicke, in dem diese Idee für ihn an überzeugender Kraft verliert, in dem bleibt eben nur die geistige Schwäche allem übrigen Leben gegenüber. Daß dieser Schmied sein Häuflein Gläubiger zu keinem gedeihlichen Ziele führen kann, weiß man von Anfang an. Halbe hat sich nicht die Auf­gabe gestellt, eine von den starken Persönlichkeiten zu schildern, deren Charakter von einer großen Idee bis zu Ende getragen wird, und die sich selbst treu bleiben, auch wenn sie von der ganzen Welt verlacht, verhöhnt, gesteinigt werden; nein, er hat eine jener schwachen Naturen gezeichnet, in deren Seele eine Idee wie ein verhängnisvolles, zerstörendes Element eindringt, um diese Seele zu zerstören. Nicht Überfülle von Kraft ist es, die solche Men­schen zu Propheten macht, sondern im Gegenteil: die Schwäche.

Wer von diesem Gesichtspunkte aus mit künstlerischem Sinne das Drama auf sich wirken läßt, wird dessen dramatische Struk­tur nur im hohen Grade vollendet finden können. Drei Akte hindurch mit strenger Notwendigkeit das Ausleben einer fixen Idee im Kopfe eines Menschen, in stetiger Steigerung. Und um das Leben dieser fixen Idee herum all die Erscheinungen, die sie folgerichtig mit sich bringen muß. In feinsinniger Weise sind die Charaktere gezeichnet, die innerhalb der Anhängerschar des reli­giösen Fanatikers stehen. Die feinen Nuancen der Suggestion, durch die eine solche Persönlichkeit auf die Mitmenschen wirkt, kommen gut zur Anschauung. Der Schmiedegeselle Jörgen, der

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auf seinen Reisen die moderne Form der Mitleidsreligion, den Sozialismus, in sich eingesogen hat, gibt eine vortreffliche Kon­trastfigur ab zu dem weltfremden Schmiedemeister, der an dem Wortlaut des Johannesevangeliums kleben bleibt. Daß zuletzt die religiöse Propaganda des Schmiedes in eine triviale Kneipszene umschlägt und der Gottesmann im Alkohol seine gefallenen Göt­zen zu ertränken sucht, scheint mir durchaus stilvoll. Der Kenner der Menschenseele wird nicht leugnen können, daß es verwandte Geistesdispositionen sind: die eine, die den schwachen Willen und schwachen Intellekt in die fixe Idee hineintreibt, und die andere, eigentlich nicht andere, die ihm in dem Alkoholnebel eine ihm begehrenswerte Atmosphäre schafft. Damit ist auf die innere Wahrheit hingedeutet, die die drei ersten Akte des «Tau­sendjährigen Reiches» mit dem vierten zusammenhält. Gerade in dem vierten Akte, der viel getadelt worden ist, zeigt sich uns der eigentliche Nährboden, aus dem Drewfs religiöser Wahnsinn ge­wachsen ist: die innere Haltlosigkeit, der Defekt in den Geistes-kräften. Dieser Defekt mußte sich mit all seinen Schattenseiten zeigen, nachdem die Idee, die den Mann zu etwas anderem stem­pelt, als er tief innerlich doch ist, von ihm gewichen ist. Die geringe Summe von geistiger Kraft, die er besessen, hat sich nicht natürlich über seinen Organismus verteilt; sie ist zu einem künst­lichen Auswuchs seines Hirns geworden. Sie wird aus dem Boden gerissen, und was übrig bleibt, ist ein geistig minderwertiger Mensch. Dieser mußte sich zuletzt enthüllen. Menschen, die aus sich die großen Ideen gebären, werden allerdings so nicht endigen. Wohl aber diejenigen, die durch einen Bruch ihres Geistes zum ungesunden Träger solcher Ideen werden. Keine schroffe Grenze ist zwischen der fixen Idee des Wahnsinnigen und der frucht­baren des großen Genius, sondern ein allmählicher, stetiger Über­gang. Man kann das zugehen, ohne sich auf den Philisterstand­punkt zu stellen, der im Genie nur eine pathologische Erschei­nung erkennen will.

Es ist zweifellos, daß wir gegenwärtig Dramatiker haben, die im äußeren szenischen Aufbau Besseres leisten als Halbe. Aber ebenso zweifellos ist es, daß Halbe vielen von diesen voraus ist

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durch seine Vertrautheit mit den großen Problemen des Daseins. Er hat ein Herz für diese Probleme, und er sucht ihre Wirkung auf die verschiedenartigen menslichen Charaktere zu verfolgen. Man siebt es seinem neuesten Drama an, daß er die Stimmung, in die wir durch das Zussunmenwirken von Zufall und Geset>z versetzt werden, am eigenen Leibe erfahren hat. Er kennt als tra­gische Stimmung, was er als tragisches Geschick an seinem Schmiedemeister Drewfs darstellt. Das wird immer das rechte Verhältnis sein zwischen der Persönlichkeit des Dichters und seiner Schöpfung. Die Art der Erlebnisse, die er darstellt, wird er aus eigenster innerer Erfahrung kennen. Diese Art wird in seiner Einzelschöpfung zum individuellen Gebilde werden. Was für den Dramatiker ein Teilerlebnis ist, wird für den drama­tischen Helden ein ganzes Schicksal. Ich fühle aus den bedeuten­deren Werken Halbes durchaus diesen Zusammenhang zwischen Leben und Wirklichkeit heraus. Es drückt> dieser Zusammenhang für mich die innere Wahrheit seiner Schöpfungen aus. Man hat oft an ihm getadelt, daß seine Technik unbeholfen ist. Dem gegenüber konnte man diesen Tadel wieder hören. Er lasse, sagt man, Dinge geschehen, wie sie in Wirklichkeit> nie vorkommen werden. Dergleichen wirke kindlich. Solches behauptet> man zum Beispiel von dem Einschlagen des Blitzes in das Haus des Schmiedemeisters. Mir scheint>, daß in die Lage, dergleichen Unwahrscheinlichkeiten geschehen zu lassen, jeder Dramatiker kommt, der auf die tieferen Grundlagen des Daseins zurückgeht>. Das Drama fordert äußeres Geschehen. Für die Persönlichkeiten, die sich aus innerer Notwendigkeit entwik-keIn, werden die äußeren Erlebnisse immer mehr oder weniger zufällig sein. Und ich würde es unnatürlich empfinden, wenn in einem Drama, in dem es auf die Entwickelung einer Geistesslispo­sition ankommt, die äußeren Geschehnisse am Faden einer stren­gen Tatsachenlogik aufgewickelt wären, wie in einem Drama, in dem sich alles aus den Situationen entwickelt. Was wir in den äußeren Geschehnissen Notwendigkeit nennen, ist doch wohl meist nichts als ein gemachter Zusammenhang, der in einem gewissen Glauben an eine moralische Notwendigkeit in den Weltereignissen

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seinen Ursprung hat. Im Grunde ist es nicht notwen­diger und nicht zuf älliger, wenn Maria Stuart im Park mit der Königin Elisabeth zusammentrifft, als wenn der Blitz in des Schmiedemeister Drewfs Haus einschlägt. Die größere oder gerin­gere Wahrscheinlichkeit, daß dieser Blitz gerade in dieses Men­schen Haus einschlägt, ist keine dramatische, sondern höchstens eine mathematische oder statistische. Aber wer ein Haus in eine Feuerversicherung aufnimmt, muß mit einer Wahrscheinlichkeit rechnen, die denn doch für den Dramatiker nichts Verbindliches zu haben braucht. Was mathematisch im höchsten Grade unwahr­scheinlich ist, kann doch dramatisch als stilvoll erscheinen.

« FREILICHT»

#G029-1960-SE379 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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« FREILICHT»

Schauspiel in vier Akten von Georg Reicke

Aufführung im Berliner Theater, Berlin

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Zu den reizvollsten Erscheinungen der gegenwärtigen drama-tischen Kunst gehört zweifellos Georg Reickes Schauspiel , das vor kurzem im Berliner Theater zur Aufführung ge­langt ist. Wir haben es hier mit einer dichterischen Persönlichkeir zu tun, an deren Vorzügen man leicht vorbeigehen kann. Je mehr man sich aber in die genannte Schöpfung liebevoll vertieft, desto mehr erscheinen einem diese Vorzüge vor der Seele. Die Frau, die von dem modernen Streben nach Befreiung der Persönlich­keit ergriffen wird, die deshalb den Kreisen, in denen sie geboren und erzogen ist, entfremdet wird und die unter Schmerzen und Entbehrungen einen eigenen Lebensweg sich bahnen muß: sie war schon oft Gegenstand der dramatischen Dichtung. Sie ist es auch in Reickes Drama. Aber dieser Dichter hat etwas vor denen vor­aus, die den gleichen Stoff behandelt haben. Er ist ein intimerer Beobachter. Deshalb springt er nicht, wie so viele andere, von der Beobachtung zu der tendenziösen Zuspitzung 4es Problems, der These üben Es ist heute noch vieles in der Frauenseele, was der verstandesmäßigen Ergreifung der Freiheitsidee widerstrebt.

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Eine langwirkende Kulrurvererbung hat auf den Grund dieser Seele Empfindungen gelegt, die sich wie ein Bleigewicht der kühnen Idee der Frauenbefreiung anhängen. Gerade die Frauen, die nicht>s von solchen Empfindungen wissen wollen, die glauben, ein absolutes Bewußtsein von Freiheit in sich zu tragen, erschei­nen dem feineren Beobachter heute wie unredliche weibliche Poseure. Die tiefinnerlich ehrlichen, wahren Frauencharakt>ere haben mit einer starken Empfindungsskepsis zu kämpfen. Eine erschütternde Tragödie des Herzens ist ihnen die Wahrnehmung des vollen Freiheitsbedürfnisses. Man muß ganz feine Beobach­tungsorgane haben, um die seelischen Imponderabilien wahrzu­nehmen, die im Innern einer solchen Frau wirken, die nicht aus Programm, sondern aus ihrer Natur heraus der Freiheit> zustrebt, heraus aus den Fesseln, die traditionelle gesellschaftliche An­schauungen geschmiedet haben. Georg Reicke hat> solche Beob­achtungsorgane. Jeder Zug in der Charakteristik seiner Cornelie Linde ist psychologische Wahrheit, und keiner ist Tendenz.

Man kann sehr leicht die Beobachtung machen, daß modern sein wollende Dichter zwar neue Ideen vertreten, daß sie aber im Grunde ihres Wesens, in ihrer eigentlichen Gesinnung sich gar nicht unterscheiden von den Philistern, die sie verspotten. Sie sind Philister des Neuen, wie die andern Philister des Traditio­nellen sind. Von solchen Dichtern ist Reicke grundverschieden. In ihm ist auch nicht eine Spur von Philistertum. Eben darum steht er den Dingen objektiv, als wahrer Künstler gegenüber. Das hat bewirkt, daß der Mann, den er der Cornelie gegenüberstellt, der Maler Ragnar Andresen, eine so prächtige Gestalt geworden ist. Ein echter Bekenner der Freiheit, ein Mensch, dem dieses Bekenntnis natürlich ist wie eine leibliche Triebfeder. Man wird lange suchen müssen, bis man unter den modernen dramatischen Typen eine so posenlose Persönlichkeit finden wird.

Und ebenso wahr wie diese modernen Gestalten sind die einer alt gewordenen Kultur. Die Geheimratsfamilie, aus der Cornelie herausgewachsen ist, der Leutnant Botho Thaden, mit dem sie verlobt ist und von dem sie sich los macht, um zu dem ihr kon­genialen Ragnar zu flüchten: alles von klarer Wahrheit. Nirgends

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eine andere Tendenz als die, die Charaktere des Lebens begreif­lich erscheinen zu lassen. Nirgends die falsche Gegenüberstellung des vortrefflichen Neuen und des bösen Alten. Aber überall das Bewußtsein, daß das Neue sich naturgemäß aus dem Alten ent­wickelt hat, daß dieses Neue doch die vom Alten vererbten Züge noch an sich tragen muß. Nicht bloß Berechtigung des Zukünf­tigen, sondern durchaus auch Verstehen des Vergehenden.

Solche Charaktere sind in eine Handlung gefaßt, die nichts hat von dem oft so Gemachten dramatischer Entwickelungen und auch nichts von den überraschenden szenischen Wendungen. Wie das Leben in Irrgängen verläuft, so verläuft diese Handlun& Wir haben fast in jedem Augenblicke das Gefühl, alles könnte auch anders werden. So ist es auch im Leben. Gewiß herrscht überall Notwendigkeit, aber gerade diese Notwendigkeit: sie ist eine treue Schwester des Zufalls. Hinterher sagen wir uns: es hat alles so werden müssen; vorher haben wir nur die Perspektive in un­zählige Zukunftsmöglichkeiten. Das ist bei Reicke in Form einer feinen dichterischen Künstierschaft vorhanden. Es gibt in seinem Drama keine grotesken Überraschungen, aber es gibt auch das peinliche Vorhersehen des Ausgangs nicht, das uns so oft in der Dichtung als Lebensunwahrheit erscheint.

Besonders anziehend ist Reickes Stimmungsmalerei. Mit ein­fachen, dezenten Mitteln stellt er das Münchener Maleratelier, in dem Cornelie die Luft der Freiheit atmet, vor uns hin; und mit ebensolchen Mitteln verkörpert er das Milieu der Berliner geheim­rätlichen Häuslichkeit.

Ein freier, durch kein Vorurteil getrübter Blick für das Wirk­liche tritt mir bei diesem Dichter entgegen. Ein Blick, der das Äußere der Lebensvorgänge ebenso anschaulich ergreift wie die im Innern der Menschenseele sich abspielenden Erscheinungen. Wir haben es mit einem Manne zu tun, der keine grellen Farben, keine starken Lichter und Schatten braucht, um zu sagen, was er zu sagen hat. Mit einem Kenner der Übergänge in den Erschei­nungen haben wir es zu tun. Ein realistischer Dichter ist Georg Reicke, zugleich mit jenem Zug nach dem Idealismus, den das Leben selbst hat.

«KÖNIG HARLEKIN»

#G029-1960-SE382 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«KÖNIG HARLEKIN»

Ein Maakenspiel in vier Aufzügen von Rudolf Lothar

Aufführung durch das Wiener Deutsche Volkstheater

im Deutschen Theater, Berlin

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Ein «Maskenspiel> auf die dramatischen Notwendigkeiten hin prüfen wie ein ernstes Drama, scheint mir auf gleicher Stufe zu stehen mit dem Beginnen des Anatomen, der eine Karikatur auf die anatomische Richtigkeit hin prüft. Ich würde das nicht erst sagen, wenn nicht Kritiker, die in Betracht> kommen, sich zu Rudolf I,othars «König Harlekin> so verhalten hätten. Mir ist vor allen Dingen eines klar geworden. Wir haben hier ein Drama. in dem Humor in des Wortes allerbester Bedeutung lebt. Prinz Bohemund kehrt nach zehnjähriger Abwesenheit in das Eltern­haus zurück. Sein Eintreffen fällt mit> des Vaters Sterbestunde zusammen. Dieser Vater war dem Reiche ein schlimmer König. Sein Bruder Tancred ein noch schlimmerer Kanzler. Die Königin hat sich blind geweint über das Unglück ihres armen Landes. Auch von Bohemund als Nachfolger kann sie sich nichts Gutes versprechen. Ihm fehlt jeder Ernst. Er ist nur in der Welt umher­gezogen, um sich zu amüsieren. Statt Bundesgenossen bringt er sich eine Schauspielertruppe mit. Harlekin kopiert mit grossem Geschick den Prinzen selbst Wenn diesem in galanten Aben­teuern etwas schief gegangen ist, so daß Prügel bevorstehen, muß flugs Harlekin die Königsmaske aufsetzen und die Prügel statt seines Herrn einheimsen. Columbine, ein anderes Mitglied der Truppe, soll durch ihre weiblichen Reize dem Prinzen die Zeit vertreiben. Aber Harlekin liebt Columbine und ist auf seinen Herrn fürchterlich eifersüchtig. Gerade in dem Augenblicke, in dem der alte König seinen Geist aufgibt, führt diese Eifersucht Harlekin so weit, daß er den Prinzen mordet. Nun kommt ihm seine Geschicklichkeit, den Herrn zu kopieren, zu Hilfe. Er steckt sich in dessen Maske, erklärt sich für den Prinzen und behauptet, er habe Harlekin totgeschlagen. Also wird Harlekin König. Der gewohnt ist, nur auf Brettern zu spielen, die die Welt bedeuten,

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soll in der wirklichen Welt eine Rolle spielen. Und das bringt er nicht fertig. Er will wirklicher König sein. Er stößt auf Tan­creds Widerstand, der in dem König nur die willenlose Ausfül­lung des Königsgedankens sieht. Nicht der König soll regieren, nein, dieser abstrakte Gedanke soll herrschen, und die Person ist gleichgültig. Der Schauspieler kann Menschen spielen: Sein Spiel ruht auf dem Glauben, daß die Menschen, die seinen Figuren zu Vorbildern dienen, wirkliche Menschen seien. Weil er beim Über-tritt in die Wirklichkeit diesen Glauben meint beibehalten zu können, ist er in dieser Wirklichkeit unmöglich. Tancred be­schließt, ihn ermorden zu lassen, um einen nicht vollsinnigen Königssproß auf den Thron zu setzen. Harlekin rettet sich wieder in sein Schauspielerleben zurück, nachdem er in einem heiteren Spiel, wieder in den Harlekin zurückverkleidet, dem Hof die Er­fahrungen gezeigt, die er in den Tagen seines Königseins ge­macht hat. Der Königsgedanke wird mit dem nicht vollsinnigen Sprossen ausgefüllt.

Keine bittere Satire, sondern eine humorvolle Dichtung haben wir vor uns. Der Dichter begreift die Notwendigkeiten des Le­bens und schildert sie ohne Pessimismus; aber er findet die humo­ristische Stimmung, die es allein möglich macht, über den Pessi­mismus hinwegzukommen. Rudolf Lothar hat glücklich eine Klippe vermieden. Es lag nahe, den Gedanken auszuführen: «Ein Komödiant könnt' einen König lehren.> Fritz Mauthner hält das für das Bessere. Harlekin hätte mit seinen höheren Zwecken wachsen können; er, als Komodiant, hätte an wahrer Klugheit und Menschlichkeit einen Tancred übertreffen können. Mir scheint, daß Lothars dramatische Grundidee tiefer ist Denn Har­lekin ist nicht deshalb ein unmöglicher König, weil er zum Königsein unfähig ist, sondern deshalb, weil er fähig ist. Er scheitert nicht daran, daß er einen König nicht lehren könnte, son­dern daß die Belehrung unmöglich ist.

Die einzig mögliche Stimmung, die dieser Gedanke erträgt, ist die humoristische. Ein tragischer Ausgang wäre unerträglich. Man denke sich: Harlekin gehe unter, weil er König spielen will und nicht kann! Das wäre nicht tragisch, sondern lächerlich. Aber ein

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Schauspieler, der merkt, daß er nicht König sein kann, weil er als Repräsentant eines abstrakten Gedankens den Inhalt seiner Per­sönlichkeit aufgeben müßte, und der sich aus dem Staube macht, als er das merkt: das wirkt humoristisch.

Wer an Stelle des Lotharschen Dramas eine Tragödie haben will, der will eben ein anderes Drama. Aber ein solcher bedenkt nicht, daß Lothars Harlekin keine Mission auf sich nimmt, son­dern eine Rolle. Er glaubt, nur auf der Bühne sei das Bedeuten die Hauptsache. Er muß es erleben, daß dies auch im Leben sein soll. Im Spiel verträgt er das Bedeuten, im Leben nicht. Also fort auf den Schauplatz, wo das Bedeuten am Platze ist. Etwas bedeu­ten, das will Harlekin gern, wenn er bloß mit der Prätention aufzutreten braucht, etwas zu bedeuten; soll er aber etwas bedeu­ten mit der Prätention, dies zu sein, so wird ihm das Bedeuten unerträglich.

Lothars Gestalten sind so lebensvoll, wie humoristische Figuren nur sein können. Man kann an solchen Figuren Übertreibungen nicht missen. Nur müssen die Übertreibungen sinnvoll den Ge­danken verkörpern. Wir dulden es gern an der Zeichnung einer Persönlichkeit, wenn die Nase vergrößert ist, sobald wir uns klar darüber sind, daß in dieser Nasenvergrößerung eine Charakteri­stik liegt, zu der wir kommen, wenn wir in unserer Empfindung die Eigenschaft in den Vordergrund treten lassen, der die Ver­größerung der Nase als Zeichen dient.

Über die Aufführung habe ich zu sagen, daß ich Herrn Kramer in der Hauptrolle (Harlekin) prächtig fand, wenn ich die Schwie­rigkeit in Betracht ziehe, die darin liegt, von einem wirklichen Harlekin zu einem gespielten König den Übergang begreiflich zu machen. Frau Albach-Retty habe ich zwar schon in Rollen gesehen, die sie besser spielt; doch möchte ich ihr auch diesmal volle Anerkennung entgegenbringen für die Durchführung der Aufgabe, die den Eindruck des fein Abgetönten machte. Ich möchte auch über die Regie das beste Urteil fällen; es waren ein tadelloses Zusammenspiel und gelungene Bühnenbilder zu beob­achten.

«DAS NEUE JAHRHUNDERT»

#G029-1960-SE385 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DAS NEUE JAHRHUNDERT»

Eine Tragödie von Otto Borngräber

Mit einem Vorwort von Ernst Haeckel

Besprechung und anschließend Kritik

der Aufführung im Alten Theater, Leipzig

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Es ist ein Wagnis, das Otto Borngräber mit seiner Giordano Bruno-Tragödie unternommen hat. Er wird manche Enttäuschun­gen - fürchte ich - erleben. Ich wünschte, daß ich mich täusche. Aber ich zweifle, daß unsere Zeit die Unbefangenheit haben wird, den Intentionen dieses Dramatikers zu folgen. Wir leben in einer Epoche der kleinen Perspektiven. Und Otto Borngräber hat einen Menschen mit einer denkbar gtößten Perspektive dramatisiert. Trotz der Feste, die im Februar dieses Jahres zu Ehren Giordano Brunos abgehalten worden sind, trotz der dithyrambischen Artikel, die über ihn geschrieben worden sind, glaube ich nicht, daß das Publikum dieses «Übermenschen andrer Art», wie ihn Ernst Haeckel in seiner Vorrede zu dem Drama nennt, ein sonderlich großes ist. Denn ich kann nicht an die innere Wahrheit dieses Giordano Bruno-Kultus glauben. Man erlebt zu charakteristische Symptome für die kleinliche Denkweise unserer Zeit. Ich gestehe, daß es für mich geradezu niederdrückend ist, eines dieser Symp­tome jetzt in dem Kampfe gegen das vor kurzem erschienene Buch Ernst Haeckels «Die Welträtsel» zu beobachten. Wie oft hat man Gelegenheit, die aus den verborgensten Winkeln der Seelen unserer Zeitgenossen hervorkriechende Freude wahrzuneh­men über die Angriffe, die sich von theologischer Seite gegen Haeckels Kampf um die neue Weltanschauung vernehmen ließen. Ein Kirchenhistoriker in Halle, Loofs, glaubt ohne Zweifel mit seiner nun schon in mehreren Auflagen erschienenen Broschüre «Anti-Haeckel» innerhalb der Gegnerschaft gegen Haeckel den Vogel abgeschossen zu haben. Er hat gefunden, daß einige Kapitel in Haeckels Buch gegen Vorstellungen verstoßen, die sich gegen­wärtig die Kirchenhistorie über den Zusanmenhang gewisser Tatsachen

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gebildet hat. Haeckel hat sich in den betreffenden Kapi­teln an das Buch eines englischen Agnostikers, Stewart Ross, an­gelehnt, das in deutscher Sprache unter dem Titel «Jehovas ge­sammelte Werke» erschienen ist. Dieses Buch ist in Deutschland wenig bekannt. Die meisten Leser Haeckels werden von dessen Daseins erst aus den «Welträtseln» Kenntnis erhalten haben. So ist es auch Loofs gegangen. Er hat es nun in seinem einer Kritik vom Standpunkte des heutigen «aufgeklär­ten» protestantischen Kirchenhistorikers unterzogen. Diese Kritik ist vernichtend ausgefallen. Was die heutige Bibelkritik, die histo­rische Erforschung der Evangelien und der anderen kirchen­geschichtlichen Quellen als «Tatsachen» festgestellt hat, daran hat sich Ross schwer versündigt. Loofs kann sich nun in der Ver­urteilung des Buches nicht genug tun. Er bezeichnet es als ein Schandbuch, eingegeben von kirchengeschichtlicher Unwissenheit und gotteslästerlicher Denkweise. Man kann nun leider bemerken, daß er mit seinem Urteile auf einen großen Kreis von Gebildeten Eindruck gemacht hat. Bis zum Überdruß kann man es wieder­holen hören, Haeckel hätte sich durch die Schrift des englischen Ignoranten «hereinlegen» lassen.

Alle diese Urteile aus dem Munde «Gebildeter» beweisen mir nur eines. Ihnen hat die Weltanschauung Haeckels etwas Unbe­hagliches. Aus unbestimmten Gefühlen heraus ist ihnen die alte christliche Dogmatik doch lieber als die moderne Naturanschau­ung. Aber diese Anschauung hat einen zu guten Grund, als daß es leicht wurde, gegen sie selbst anzukämpfen. Die Tatsachen, auf die sich Haeckel stützt, sprechen zu deutlich. Man vergibt sich zu viel, wenn man gegen diese Weltanschauung sich offen verschließt. Das hindert nicht, daß man ein inniges Behagen emp­findet, wenn ein Theologe kommt und Haeckels Dilettantismus in der Kirchengeschichte nachweist. Man ist da in der Lage, gleichsam von hinten herum, ein absprechendes Urteil über die neue Weltanschauung zu fällen. Man tritt nicht offen dem Monis­mus des großen Naturforschers gegenüber. Dazu gehörte Mut. Den hat man nicht. Aber man kann sich hübsch das Urteil zu­rechtzimmern: ein Mann wie Ernst Haeckel, der so naiv auf die

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Ignoranz eines Stewart Ross hereinfällt, kann uns doch in unseren Vorstellungen nicht tief erschüttern. Loofs selbst hält mit einem ähnlichen Urteil nicht zurück. Er streicht geradezu Haeckel aus der Liste der ernsten wissenschaftlichen Forscher, weil dieser sich auf ein angeblich so Man nehme aber doch dieses Buch einmal zur Hand. Wer es ohne Befangenheit liest, wird - das wage ich durchaus zu be­haupten - nicht genug erstaunen können über die tiefe innere Unwahrhaftigkeit der Loofsschen Kritik. Denn nach dieser muß er unbedingt glauben, daß er die Schrift eines frivolen Menschen vor die Augen bekommt, dem es nicht um Wahrheit zu tun ist, sondern um die Verspottung von Überzeugungen, die Millionen von Menschen heilig sind. Statt dessen erhält er das Buch eines tiefernsten Mannes, dem man bei jedem seiner Sätze einen gewal­tigen Kampf um die Wahrheit nachempfindet, der offenbar Seelenkrisen hinter sich hat, von denen sich Leute wie Loofs in dem bequemen Ruhekissen ihrer Kirchenhistorie keine Vorstel­lung machen. Heiliger Eifer für Menschenwohl und Menschen-glück haben hier eine Persönlichkeit zu Zornesworten inspiriert gegen hergebrachte Vorurteile, die sie für ein Menschenunglück hält. Mit keinem leichtsinnigen Absprecher hat man es zu tun, sondern mit einem Entrüsteten, der die Geißel schwingt, weil er die Wahrheit von Pharisäern entstellt glaubt.

Ich brauche den Hintergrund dieser Tatsache, um an einem bemerkenswerten Symptom die Zweifel, die ich oben ausgespro­chen habe, in die Empfänglichkeit des Publikums für die Born­gräbersche Tragödie zu rechtfertigen. Ich kann nur noch einmal sagen: ich möchte, daß ich mich gründlich täusche und daß sich erfülle, was Haeckel am Schlusse seines Vorwortes ausspricht:

«Wir können nur den herzlichen Wunsch aussprechen, daß die große, ganz auf der Höhe unserer Zeit stehende Tragödie nicht nur als veredelndes wie spannendes Buch einen weiten Leserkreis finden, sondern auch durch baldige Aufführung auf einer grö­ßeren deutschen Bühne die ihr sicher gebührende Würdigung und Wirkung finden möge.»

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Ich glaube nicht, daß das Drama vor dem Richterstuhle der­jenigen Ästhetiker, die in den letzten zwei Dezennien sich in ihren Anschauungen befestigt haben, Gnade finden wird. Wer die drasuatische Technik der fällen. Weder vor dem naturalistischen noch vor dem symbolistisch-romantischen Forum der letzten Jahre wird Born-gräbers Technik mit ihrer Hinneigung zur dekorativen Schön­heit, zur Stilisierung bestehen können. Wer freilich tiefer geht, wird seine Freude haben an dieser Stilisierung, die einen Renais­sancehelden dramatisiert mit unverhohlener Freude an renaissance-mäßigen Formen. Ich glaube, in Borngräber einen Dichter zu erkennen, der sich mit seinem Geschmacke ferngehalten hat von den Sympathien und Antipathien des Tages. Für seine künst­lerische Form setzt er ein Publikum voraus, dessen Freude an der Formenschönheit nicht ganz verloren gegangen ist in den Nei­gungen des Zeitgeschmackes. Ich will damit nicht sagen, daß ich ein rückhaltloser Lober des Dramas in ästhetischer Beziehung sei. Ich finde nicht, daß Borngräber schon ein Meister des Stils ist, den er sich gewählt hat. Aber alles dieses scheint mir zurück­zutreten hinter der großen Weltanschauungsperspektive, die sich in dem Werk ausspricht. Es wird sich nicht darum handeln, ob Borngräber den ästhetischen Urteilern dieser oder jener Richtung eine tadellose Tragödie geliefert hat, sondern ob eine Tendenz dazu vorhanden ist, daß sich die große Weltanschauung, für die uns der vor drei Jahrhunderten in Rom verbrannte Märtyrer ein erster Repräsentant ist, von einer Elite von geistigen Kämpfern auf eine größere Menschenmenge überträgt.

Wer imstande ist, mit Brunos Weltperspektive zu empfinden, der allein kann ein Gefühl haben für die tragische Gewalt, die sich in dieser Persönlichkeit ausspricht. Diese Tragik liegt in dem Verhältnis, welches Brunos Persönlichkeit zu der Umwälzung der Weltanschauung hat, die durch Männer wie Kopernikus öder Galilei heraufgeführt worden ist. Kopernikus und Galilei haben Bausteine zu der Weltanschauung geliefert, an deren Ausbau die letzten Jahrhunderte gearbeitet haben. Bruno ist einer von denjenigen,

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die zu jener Zeit mit weitausschauendem Zukunftsblick in großen Umrissen die Wirkungen gezeichnet haben, die durch Kopernikus und Galileis Ideen für die Auffassung der Natur des Menschen folgen müssen. Er sprach Wahrheiten aus, für die erst die ersten tatsächlichen Keime vorhanden waren. Er tat es in einer Zeit, in der diese Keime noch nicht die Wachstumsfähig­keit hatten, sich zu einer Weltanschauung auszubilden. Born­gräber stellt mit feinem Sinne Galileis Gestalt der Brunos gegen­über. Galilei ist keine tragische Persönlichkeit, trotzdern er un­streitig derjenige ist, dem wir mehr verdanken als Bruno, wenn wir auf die Bausteine sehen, aus denen sich unsere Weltanschau­ung zusammensetzt. Ich kann mir Bruno ganz wegdenken aus dem Entwickelungsgange des Geistes in den letzten Jahrhunderten. Auch ohne daß er an der Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahr­hunderts die Gedanken vorausgenommen hat, die mich heute erfüllen, könnten diese doch genau dieselben sein, die sie sind. Ein Gleiches ist bei Galilei nicht der Fall. Ohne Galilei gäbe es keinen Newton, ohne Newton keinen Lyell und Darwin und ohne Lyell und Darwin keine moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung. Ohne Giordano Bruno gäbe es das alles. Galilei ging nicht über das hinaus, wozu ihn unbedingt seine physikalische Grundlage nötigte; Bruno verkündete Dinge, die eine Persön­lichkeit mit Galileis Gesinnung erst heute für sich in Anspruch nehmen kann. Darin liegt Brunos tiefe Tragik.

Ich mußte bei der Lektüre von Borngräbers Buch unausgesetzt an einen einsamen Kämpfer unserer Tage denken, an den tap­feren Eugen Reichel. Er hat eine Persönlichkeit aus dem sech­zehnten Jahrhundert vor unsere Augen gestellt, an der wir die Tragik in noch ganz anderem Sinne verwirklicht finden, für die uns Borngräber Giordano Bruno als Repräsentant hinstellt. Nach Reichels Überzeugang starb 1586 ein Mann, der damals die Welt in unserem heutigen Sinne angesehen hat und dessen Andenken bisher völlig ausgetilgt ist aus dem Gedächtnisse der Menschheit.

Reichel ist der Ansicht, daß dem Tieferblickenden sich in Shakespeares Dramen und in dem «Novum organon» Baco von Verulams eine gewaltige, genialische Persönlichkeit offenbare, die

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als Dichter und Denker gleich groß ist, die aber, ohne von der Mitwelt verstanden worden zu sein, in Vergessenheit gestorben ist. Wie die Dramen Shakespeares vor uns liegen, sind sie nicht das Werk ihres ursprünglichen genialischen Schöpfers, sondern durch Verstümmelung, dilettantische Ergänzung und Umarbeitung des Nachlasses entstanden. Ebenso ist das 391

Borngräbers Drama soll demnächst in Leipzig eine durch einen Kreis von Freunden des Werkes veranlaßte Aufführung erleben. Mögen derselben andere nachfolgen, und mögen sich bald auch unsere Bühnen (in Berlin) ermannen, der Bruno-Tragödie die Pforten zu öffnen. Sie können dann eine schöne Aufgabe erfüllen in dem großen Kampf um den «neuen Glauben>. . Bedeutendes könnte zum Verständnisse dieses Kampfes durch würdige Aufführungen dieses Dramas beigetra­gen werden. Soli die Bühne ein Bild der Welt geben, so darf sie sich nicht ausschließen von dem Höchsten, was es für Menschen in dieser Welt gibt, von den geistigen Bedürfnissen.

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Einen schönen Festabend erlebten wir am 7. Juli 1900 in Leip­zig durch die Aufführung der Giordano-Tragödie Otto Born­gräbers «Das neue Jahrhundert». Ich komme in der nächsten Nummer auf die wohlgelungene Aufführung, die uns eine her­vorragende Leistung des Dresdener Hofschauspielers Paul Wiecke (als Giordano Bruno) brachte, zurück.

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Es war ein schönes Fest der monistischen Weltanschauung, das wir am 7. Juli im Alten Theater in Leipzig mitmachten. Was ich über das Drama Otto Borngräbers zu sagen habe, findet man in dieser Wochenschrift. Es war keine leichte Aufgabe, der sich die Dresdener Hofschauspieler Paul Wiecke und Alice Politz mit den Künstlern des Weimarischen Theaters unterzogen. Aber eine um so dankbarere. Man darf die Lösung als eine vorläufig gelungene bezeichnen. Die große Gestalt Giordano Brunos, die wie ein Sym­bol der siegesgewissen Weltanschauung erscheint, die den Kampf aufgenommen hat gegen die Finsternis und den blinden Offen­barungsglauben, fand eine würdige Darstellung durch Paul

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Wiecke. Otto Borngräber und alle, die seine Sache vertreten, dür­fen es mit Dank begtühen, daß ihr Held diesen Darsteller gefun-den hat. Paul Wiecke erscheint um so bedeutender, je bedeuten­der die Aufgaben sind, die ihm gestellt sind. Er fand den rechten Ton für die Mitte, die hier einzuhalten war, zwischen dem Rea­lismus, der als künstlerischer Begleiter notwendig zur monisti­schen Weltanschauung gehört, und jener monumentalen Kunst, die sich bewußt ist, daß durch sie eine Weltanschauung zum Aus-druck kommt, der der Stempel des Ewig-Wirksamen aufgedrückt ist. Das Gewicht dieser Weltanschauung lebte in dem edel-maß­vollen Spiel Paul Wieckes sich vortrefflich aus. Herzenswarm und hoheitsvoll zugleich waren die Töne, die der Künstler anzuschla­gen verstand. Durch Alice Politz fand die vornehme Dame Vene­digs' die mit hingebungsvoller Seele die neue Lehre ergreift, eine treffliche Darstellung. Der Regie stellt das Drama und dürften wohl auch die Verhältnisse, unter denen die Aufführung stattfand, keine geringen Aufgaben gestellt haben. Der Regisseur Grube vom Weimarer Hoftheater hat diese Schwierigkeiten meisterhaft bewältigt. Ihm gebührt besonderer Dank von seiten derjenigen, die ihre rückhaltlose Freude an der Festaufführung gehabt haben. Der Raum gestattet uns nicht mehr, als von den anderen, die sich um die gute Sache verdient gemacht haben, einige Namen zu nennen. - Wir heben heraus Herrn Krähe (Thomaso Campanella)' Herrn Berger (Jesuit Lorini)' Herrn Franke (Buchhändler Ciotto), Herrn Niemeyer (protestantischer Kerkermeister und Petrucci). Die Leipziger Studentenschaft hat sich um die Darstellung der Volksszenen verdient gemacht. Mit voller Befriedigung verließen wir das Theater und merkten dann erst bei der Nachfeier etwas von den Verdiensten, die sich so mancher «hinter den Kulissen» erworben hatte. Der flüchtige Abend hat uns natürlich da keinen vollen Einblick gewährt. Aber eines Mannes möchten wir denn doch noch gedenken: Burgs, aus dessen zufriedenen Mienen bei der Nachfeier die Sorgenfalten, die ihm die vorhergehenden Tage bei den Vorarbeiten gebracht haben, sich nicht ganz haben tilgen lassen. Das Erträgnis der Aufführung ist zum Besten des Schrift­stellerheims in Jena bestimmt.

«DER BUND DER JUGEND»

#G029-1960-SE393 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER BUND DER JUGEND»

Lustspiel von Henrik Ibsen

Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

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, wie man es nennt, und wovor die Leute mit offenem Munde dastehen und staunen, - aber in ihrem tiefsten Grund sind es ehrenwerte, rechtschaffene Pferdefratzen und störrische Esels­schnuten und hängohrige, niedrigstirnige Hundeschädel und ge­mästete Schweinsköpfe, - und blöde, brutale Ochsenkonterfeis sind auch darunter - alle diese lieben Tiere, die der Mensch nach seinem Bilde verpfuscht hat. Und die den Menschen dafür wieder verpfuscht haben. - Und diese hinterlistigen Kunstwerke bestellen nun die biederen, zahlungsfähigen Leute bei mir. Und kaufen sie in gutem Glauben - und zu hohen Preisen. Wiegen sie schier mit Gold auf, wie man zu sagen pflegt.»

An diese Selbstbekenntnisworte Ibsens, die er dem Professor Rubek in seinem , in den #SE029-394

liegen bereits hier angedeutet. Schon steht er vor uns, der große Ironiker, der aus Realismus nicht Vollmenschen, sondern Men-schensymbole geschaffen hat, weil er weiß, daß der reale, der Voll-mensch ein Ideal ist, das nicht leibhaftig unter uns wandelt. Die Menschen, mit denen er lebt, erinnern Ibsen nur an diesen oder jenen Charakterzug des Menschen, wie uns Tiere an diese oder jene menschlichen Charaktere erinnern. Sind denn diese Nora, diese Hedda Gabler, dieser Rosmer und wie sie alle heißen nicht bloße Menschensymbole? Im «Bund der Jugend» sehen wir diese Art, menschliche Charakterzüge zu symbolisieren, noch wesentlich gesteigert. Dieser Rechtsanwalt Stensglrd, der gar kein Mittel scheut, um zu Macht und Einfluß zu gelangen, dieser Kammer-herr Bratsberg, dieser bankerotte, ewig nörgelnde und prozessie­rende Kaufmann David Hejre, dieser Parvenu Monsen: sie alle sind Karikaturen im vollsten Sinne des Wortes; und nicht minder ist die ganze Handlung eine Karikatur, die sich im letzten Akt so­gar zu einem wüsten Hohn auf alle Natürlichkeit steigert. Außer­lich genommen unterscheidet sich dieser «Bund der Jugend» in nichts von einer französischen Sittenkomödie Dumassehen Genres. Und dennoch verlassen wir die Vorstellung in dem Bewußtsein, etwas gesehen zu haben, das Größe atmet. Es ist die Größe, die von all den Geistern ausgeht, die hinter die Kulissen des Welt-geschehens zu schauen wissen. Dieser Blick hinter die Kulissen beleuchtet die Menschen so, wie sie im «Bund der Jugend» ge­zeichnet sind. Sie sind nicht so, aber sie wären so, wenn sie nicht Lügenhüllen um sich trügen. Ibsen zeichnet die Wahrheit in den wandelnden Lügen der Weltbühne. Sozusagen die «Dinge an sich» der Menschen stellt er vor uns hin. Das ist es, was Ibsen zu dem großen Ironiker macht. Da steht ein Mensch vor ihm mit wohl-gebildetem Antlitz. Aber dies Antlitz lügt. Nimmermehr dürfte er dies Antlitz tragen, wenn das Äußere zeigen sollte, was auf dem Grunde der Seele schlummert. Da müßte er eine häßliche Schweineschnauze oder eine Pferdeschnute haben. Ibsen gibt sie ihm. - Und wenn uns das im «Bund der Jugend» noch mehr in die Augen fällt als in Ibsens späteren Stücken: wie er Seelenwahr­heit und dabei Körperunwahrheit, Karikatur zeichnet, so rührt das

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lediglich davon her daß die Ideen die Weltanschauung, später höher, voller, ausgebildeter geworden sind, so daß wir dann die Karikatur hinnehmen weil uns die Ideen ganz in Anspruch neh­men. Im «Bund der J'ugend» ist noch alles Ideelle nur angedeutet, noch wie eine dunkle Empfindung, wie eine Ahnung nur in des Dichters Seele vorhanden Alle die sozialpsychologischen Motive die in Ibsens Dramen dann eine Sprache fuhren, aus der kunftige Kulturhistoriker ein volles Bild dessen schopfen werden, was in unserer Zeit an geheimen und offenbaren Triebkraften pulsiert alle diese Motive werden hier bereits angeschlagen Jenseits des sen, was sie darleben werden die Menschen betrachtet und jen seits der Gestalt die es dem Portratisten bietet, wird das Leben hier geschlldert Als der «Bund der Jugend» bei seiner Erstauf-führung so radikal abgelehnt worden ist, da hatte namentlich der Umstand Schuld, daß zuletzt scheinbar die Reaktionäre recht behalten, daß sie in ihren alten Traditionen doch noch fester stehen als die liberalen Streber. Aber, was ging Ibsen schon da­mals Reaktion und Liberalismus an. In ihnen sah er keine Men­schen-Lebensäußerungen' sondern Masken; und hinter diesen Mas­ken sah er Menschen, die im Grunde nichts dafür können, ob sie reaktionäre oder liberale Streber sind.

«DER GNÄDIGE HERR»

#G029-1960-SE395 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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«DER GNÄDIGE HERR»

Drama in drei Akten von Elsbeth Meyer-Förster

Aufführung der Sezessions-Bühne, Berlin

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Mit der dritten ihrer Leistungen der Aufführung des dreiakti­gen «Dramas» «Der gnadige Herr» von Elsbeth Meyer Forster, hat die Sezessions Buhne ihrem Publikum ein nicht leicht losbares Rätsel aufgegeben Es ist zwar bekannt daß uber die Marlitt von ehedem heute geschimpft wird uber die Marlitt von heute, die doch wohl Elsbeth Meyer Forster zweifellos ist, Lobspruche uber Lobsprüche uns an die Ohren sausen Daß aber ein solches Modeurteil

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die Leiter der Sezessions-Bühne hat bewegen können, ein über alle Maßen kindliches Machwerk ihrem Spielplan einzuver­leiben, das tut weh, besonders wenn man - wie ich - voller An­erkennung sein möchte für die schönen Bestrebungen dieser Leiter.

Der Inspektor eines polnischen Gutes ist alt geworden und erhielte zweifellos die Kündigung, wenn sich seine ältere Tochter nicht dazu herbeiließe' mit dem Gutsbesitzer auch die­sem Bräutigam gefällig zu sein. Denn auch das Schicksal dieses Bräutigams hängt davon ab, daß seine Braut st nicht dumm. Er will leben, und warum sollte er ein behagliches Dasein nicht einem Monopol auf seine Gattin vorziehen. Damit ein paar Episoden geschaffen werden können, ist noch ein Gutspraktikant da, der des Lehrers Braut liebt, der des Lehrers rote Krawatte - hier ist sie nicht Symbol einer sozial-demokratischen Gesinnung - haßt, und ein Backfisch, eine jün­gere Schwester der

DR. WÜLLNER ALS OTHELLO

#G029-1960-SE397 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Über einzelne Darsteller Vortragsabende Theather-chronik

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DR. WÜLLNER ALS OTHELLO

Gastspiel im Hoftheater, Weimar

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Einen glücklichen, lichtbringenden Einfall hatte derjenige, der zuerst die Größe der Dramen Shakespeares aus dem Umstande erklärte, daß ihr Dichter Schauspieler war. Es kommt dabei weni­ger in Betracht, daß dieser Dichter die Schauspielkunst berufs-mäßig ausgeübt hat, sondern daß er, seinem Grundcharakter nach, eine Schauspielernatur war. Es gehört zum Wesen einer solchen Natur, daß sie, mit völliger Verleugnung der eigenen Persönlich­keit, in fremde Charaktere untertauchen kann. Der Schauspieler verzichtet darauf, er selbst zu sein. Es ist ihm die Möglichkeit gegeben, aus fremden Wesenheiten heraus zu reden. Und er ist um so mehr Schauspieler, je schmiegsamer, je verwandlungs­fähiger er ist. Es hat einen tiefsymbolischen Sinn, daß wir von Shakespeare als Person so gut wir gar nichts wissen. Was geht er uns auch als Person an? Er spricht nicht als Person zu uns; er spricht in Rollen zu uns. Er ist das wahre Chamäleon. Er spricht als Haanlet, als Lear, als Othello zu uns. Shikespeare spielt Thea­ter, auch wenn er Stücke schreibt. Er empfindet nicht mehr, was in seiner Seele vorgeht, wenn er die Gestalten seiner Stücke schafft. Weil Shakespeare nur Schauspieler war, deshalb können seine Dramen auch nur von wahren Schauspielern gespielt wer­den. Es wird immer das Zeichen eines Mangels an einem Schau­spieler sein, wenn seine Kunst in Shakespeareschen Dramen versagt.

Diese Gedanken gingen mir letzten Sonntag durch den Kopf, als ich den Othello des Herrn Wüliner gesehen hatte. Ich wurde während der ganzen Vorstellung eine gewisse Ungeduld nicht los. Ich wollte den Othello sehen und sah den ganzen Abend nur Herrn Wüllner. Ich wollte begreifen, wie Othello allmählich in diese furchtbare Wut der Eifersucht hineingeraten kann, und ich lernte nur die Empfindungen kennen, die Herrn Wüllner beherr­schen, wenn er den Othello betrachtet. Herr Wüllner hat nicht die Kraft der Selbstentäußerung, die den wahren Schauspieler macht. Er läßt in jedem Augenblicke auf den Grund seines eigenen Wesens schauen.

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Man soll gegen Herrn Willlner nicht ungerecht sein. Seine Kunst ist keine geringe. Er hat eine große Herrschaft über seine Ausdrucksmittel, er ist Meister der schauspielerischen Nuancen. Es wäre müßig, über einzelnes zu reden. Da gibt es vieles zu loben. Aber es ist ärgerlich, wenn man solche Kunst da angewen­det sieht, wo die Hauptsache verfehlt ist.

Herr Wifilner war früher gelehrter Philologe. Ich glaube den Gelehrten auch in dem Schauspieler wiederzuerkennen. Dem Ge-lehrten fehlt die Fähigkeit des Hineinschlüpfens in das Fremde; er betrachtet es nur, er grübelt meist nur darüber. Und Herr Wüliner spielte nicht den Othello, sondern er spielte über den Othello Er spielte das, was er über den Othello ergrühelt hat. Aber was kümmert den Zuschauer, was Herr Wüllner über den Othello empfindet, auch wenn es noch so lebhaft empfunden ist. Ich möchte die Empfindungen und Gedanken des Herrn Wüllner über den Charakter des Othello lieber in einer literarischen Arbeit niedergelegt als auf der Bühne gespielt sehen. Ich bezweifle nicht, daß eine solche Arbeit interessant wäre. Auf der Bühne interessie­ren mich aber keine interessanten Doktrinen. Da wirken sie un­interessant. Es war deshalb langweilig und ermüdend, den Othello des Herrn WülIner bis zum Ende anzusehen. Einen Charakter so hinzustellen, daß er wie aus einem Guß dasteht, daß der Zuschauer bei jedem Worte, bei jeder Gebärde, bei jedem Schritt die Emp­findung hat, alles das muß so sein: dies vermag, wie es scheint, Herr Wüllner nicht. Man hat bei jeder Einzelheit das Gefühl, diese könnte auch anders sein, ohne daß im ganzen etwas geändert wäre. Eine Mosaikarbeit schauspielerischer Nuancen bot Herr WülIner, keinen einheitlichen Charakter. Seiner Kunst fehlt der Stil. Sie wirkt manieriert. Sie stellt die Kehrseite des guten Schau­spielerturus dar. Sie verleugnet alles, was gute Schauspieler groß macht Herr Wüllner kann den «Doktor» in sich nicht ausmerzen.

ZUR ERÖFFNUNG DES MARIE SEEBACH-STIFTS

#G029-1960-SE401 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ZUR ERÖFFNUNG DES MARIE SEEBACH-STIFTS

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Am 2. Oktober 1895 wurde in Weimar das Marie Seebach-Stift eröffnet. Die Stifterin hat sechzehn deutschen Bühnenkünstiern, die durch Alter oüer Krankheit für ihren Beruf untauglich geworden sind, ein freundliches Heim geschaffen. Sie hat damit innerhalb der Grenzen, die ihr durch die Verhältnisse geboten waren, eine schöne Idee verwirklicht Gegenüber der großen Zahl deutscher Bühnenangehöriger hat die Sache allerdings ein bescheidenes An­sehen. Sie kann nur als eine glückliche und sehr dankenswerte An-regung betrachtet werden. Die Stifterin hat es aber verstanden, ein wahrhaft nachahmenswertes Vorbild zu geben. Fände die Nach­ahmung in reichlichem Maße statt und würde dabei immer ein gleich sicherer Sinn für das den Bedürfnissen Entsprechende be­wiesen wie bei Marie Seebach, so wäre in der Tat eine wichtige soziale Frage der deutschen Bühnenkünstler gelöst.

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MARIE SEEBACH

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Marie Seebach ist am 2. August 1897 in St. Moritz gestorben. Ich gehöre zu denjenigen, welche die große Art, mit der diese Künst­lerin das Gretchen, das Klärchen, die Ophelia, die Desdemona in den sechziger Jahren zur Darstellung brachte, nur aus der Theater-geschichte und aus den hegeisterten Schilderungen älterer Leute kennen. Von stürmischer Begeisterung der Zuschauer, von rück­haltlosem Beifall der besten Kenner berichten die Theaterhisto­riker. Man erhält die Vorstellung, daß Marie Seebach eine Auf­fassungsweise und Wiedergabe der genannten dichterischen Schöp­fungen eigen war, die ein Stück Schauspielkunst für sich darstellt, das in dem Zeitpunkte verloren war, als sie sich nicht mehr jung genug fühlte, jene Gestalten zu verkörpern. Und erst, wenn man

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die Augenzeugen ihrer Leistungen reden hört! Wie sich in diesen die Erinnerung an große Kunsterlebnisse in Worten der stur­mischsten Begeisterung ausströmt! Man merkt, sie haben von etwas zu erzählen, was sie als einzig in seiner Art schätzen. Zwar gehörte in den letzten Jahren die Kunst der Marie Seebach der Geschichte an: lebendig aber war die Hochachtung vor der groß­angelegten Frau. Der Eindruck, den ihre Persönlichkeit machte, hatte etwas Erhebendes. Ich empfand diesen Eindruck, als sie vor einiger Zeit in Weimar mit einer edlen, herzlichen Rede das von ihr begründete Asyl für altgewordene, bedürftige Schauspieler seinem Zweck übergab. Ein Leben voll schöner und schmerzlicher Erfahmngen blickte aus ihren Augen. Eine große Natur war es, die da sprach. Unvergeßlich sind mir die Worte, mit denen sie kundgab, wie sie Trost finde für den «größten Schmerz, der ein Mutterherz treffen könne>, den Verlust des von ihr innig gelieb­ten Sohnes, in der Stiftung, die sie zum Wohle derjenigen ihrer Berufsgenossen geschaffen, denen es nicht gegönnt ist, sich selbst ein sorgenfreies Alter zu sichern.

GABRIELLE RÉ JANE Gastspiel im Lessing-Theater, Berlin

#G029-1960-SE402 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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GABRIELLE RÉ JANE Gastspiel im Lessing-Theater, Berlin

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Ich habe dringender Pflichten halber diese große Künstierin nur in wenigen Rollen sehen können. Sie haben mir aber genügt, um den Eindruck zu bekommen, daß Gabrielle Réjane eine Dar­stellerin ist, die das, was sie durch ihre Persönlichkeit sein kann, in einem Grade erreicht hat, der nicht höher zu denken ist. Dem Genie des Schauspielers sind durch seine Mittel Richtung und Grenzen seiner Kunst gegeben. Wenn das Genie ausreicht, um aus sich, aus der Sumtne seiner Mittel dasjenige zu machen, was bei ihm einer Steigerung nicht fähig ist, dann ist er ein vollkom­mener Künstler. Und die Re'jane ist eine vollkommene Künstlerin in diesem Sinne. Es ist undenkbar, daß Gilbere («Frou-Frou») besser

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dargestellt werden kann, wenn sie von der Réjane dargestellt wird. Wer die persönlichen Eigenschaften der Darstellerin als gegebene Voraussetzungen hinnimmt, kann von ihr nur eine Gilbere ver­langen, die er vollkommen nennen muß. Und diese spielt sie. Ihr Genie bleibt nirgends hinter ihren Mitteln zurück. Zu welchen Gefühlen die Künstlerin den Zuschauer hinreißen kann, das habe ich am besten an ihrer Helene Ardan in Donnays neuestem Schauspiel gesehen. Diese sensitive Liebesleidenschaft in ihrer in­timen Wahrheit, die dem Zuschauer einen warmen Hauch durch den ganzen Leib treiben muß, bringt die Réjane in unübertreff­licher Art zur Darstellung. Sie ist eine starke Persönlichkeit mit vollkommenem Anempfindungsvermögen; und sie bringt die Per­sönlichkeit, die ihrem Geiste vorschwebt, so zur Darstellung, daß alles selbstverständlich erscheint, was sie tut. Mit einer Leichtig­keit ohnegleichen bringt sie zum Ausdrucke, was sie von dem Menschen erfaßt hat, den sie verkörpert. Und diese Leichtigkeit ist das wahre Charakteristikum der Kunst des großen Stils.

ERMETE ZACCONI Gastspiel im Neuen Theater, Berlin

#G029-1960-SE403 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ERMETE ZACCONI Gastspiel im Neuen Theater, Berlin

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Die Italiener nennen gegenwärtig Ermete Zacconi ihren größ­ten Schauspieler. Seit einigen Tagen sehen wir ihn jeden Tag im Neuen Theater in Berlin. Vorher hat er ein Gastspiel im Wiener Carl-Theater absolviert. Die Nachrichten, die wir über dieses Gast­spiel aus Wien erhalten haben, grenzten ans Unglaubliche. Seit die Duse die Kunstgemeinde der Donaustadt in Begeisterung ver­setzt hat, ist dort etwas Ähnliches nicht erlebt worden. Die Leute verfielen in ein Delirium, als sie Zacconi sahen. In dieser Zeit­schrift hat vor acht Tagen ein Wiener Theaterkritiker erzählt, daß sich die Theaterbesucher Wiens wochenlang, während Zacconi bei ihnen war, mit der Frage beschäftigten: worin liegt das Geheim­nis des großen Schauspielers? Nun haben wir ihn auch hier in

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Berlin gesehen. Seine erste Rolle war die des Oswald in den «Ge­spenstern>. Die Botschaft von dem Wiener Delirium hat so wenig auf die Berliner gewirkt, daß Zacconi am dritten Tage sei nes Gastspiels, als er zum dritten Male den Oswald spielte, sich vor leeren Bänken produzierte. Und von einer Aufregung über die Frage: worin liegt das Geheimnis des großen Schauspielers, war hier ganz und gar nichts zu bemerken. Und ich muß gestehen, auch mir will die Aufregnng in Wien nicht recht begreiflich erscheinen. Mich hat Zacconi nur eines gelehrt. Wenn die Schau­spielkunst sich von dem Drama emanzipiert und aufdringlich, selbstherrlich vor uns erscheint, so wird sie uns doch widerwärtig. Wir wollen, daß der Schauspieler die Intentionen des Dichters zur Ausführung bringt. Wir nennen dann einen Schauspieler groß, wenn es ihn gelingt, die Absichten des Dichters in der reinsten, unverfälschtesten Art auf die Bühne zu bringen. Darinnen liegt für jeden Verständigen das Geheimnis des großen Schauspielers. Ein anderes gibt es nicht. Zacconi hat uns über dieses Problem nicht die geringste Aufklärung gebracht. Seine Kunst hat im Grunde mit dieser Art von Schauspielkunst nicht das geringste zu tun. Es ist lächerlich, darüber zu streiten, ob Zacconi ein großer Schauspieler ist in dem Sinne, den er anstrebt. Ihn geht keine Dichtung etwas an. Er hat das Drama die «Gespenster» von Ibsen kennengelernt. Er hat gesehen, daß darinnen ein Paralytiker vorkommt. Nun spielt er den Verlauf der Paralyse in meisterhaf­ter Weise. Die Art, wie er die Entwickelung dieser Krankheit in allen ihren Phasen darstellt, ist von unbeschreiblicher Vollkom­menheit. Nichts Besseres kann man wahrscheinlich in dieser Rich­tung auf der Bühne sehen. Er stellt die Paralyse in idealer Voll­kommenheit dar, wie Goethe den Typus der edlen Frau in der Iphigenie darstellt. Er erhebt ein klinisches Bild zum Kunstwerk. Aber Ibsens Drama geht Zacconi nichts an. Was in diesem Drama außer dem Verrücktwerden des Oswald vorgeht, ist Zacconi gleich-gültig. Die ganze Handlung könnte anders verlaufen, als sie Ibsen darstellt: Zacconi würde alles doch so spielen, wie er es spielt, wenn nur das eine feststeht, daß Oswald Paralytiker ist. Wütend könnte man werden, wenn man sieht, wie hier die aufdringliche

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Kunst des Komödianten mit einer großen Dichtung umgeht. Aber man wird nicht wütend. Und das ist das Merkwürdige an Zacconi. Seine Kunst ist doch wieder so groß, daß man in ihren Bann gezogen wird. Sie ist so groß, daß man selbst seine Gewalttaten gegenüber den Dichtern verzeiht. Man sagt sich: Ibsens Oswald wird von Zacconi nicht dargestellt. Aber was Zacconi darstellt, ist interessant in jedem Zuge. Man verfolgt jedes Wort, jede Gebärde, jede Bewegung mit gespanntester Aufmerksamkeit. Man sagt sich, wenn ein Schauspieler so Bedeutendes kann, so wollen wir ihn einmal genießen, auch wenn er sich in einer falschen Richtung bewegt. Man verzeiht es Zacconi auch, wenn er in den denkbar schlechtesten Stücken auftritt. Wo uns der Dichter nicht inter­essiert, da hängen wir mit aufrichtigem Interesse an dem Schau­spieler.

Ich war neugierig auf Zacconi als Kean. Ich habe mir gesagt, ich habe es hier mit einem Schauspieler zu tun, der nichts weiter ist als Schauspieler, Komödiant. In dem dummen Stück «Kean» hatte nun Zacconi einen Komödianten zu spielen. Das muß seine Glanzrolle sein dachte ich. Da wird herauskommen, was er eigent­lich kann. Den' Schauspieler als Menschen, meinte ich, wird er auf die Bühne bringen. Was der Komödiant leidet und welche Freu­den er empfindet, das wird Zacconi darstellen, so dachte ich. Und merkwürdig! Gerade als Kean hat mir Zacconi am wenigsten ge­fallen. Er stellt den Schauspieler nicht als Menschen dar, sondern als Schauspieler. Zacconis Kean schauspielert nicht nur, wenn er den Hamlet auf der Bühne darstellt; er schauspielert auch, wenn er sich im Salon mit den Mitgliedern der vornehmen Gesellschaft unterhält; er schauspielert auch, wenn er in seinem Ankleidezim­mer die Besuche seiner Geliebten empfängt. Im Kean hat Zacconi sein Wesen bloßgelegt. Er hat seine ganze Persönlichkeit an die Komödiantenkunst hingegeben. Seine Individualität, seine Seele ist in dieser Kunst aufgegangen und völlig verschwunden. Er ist gar nicht mehr Mensch; er ist nur Komödiant Und Komödiant ist er in allem was er auf die Bühne bringt. Wir bewundern des-halb seine Ku'nststücke; aber wir werden nie ergriffen, nie hin-gerissen. Wir suchen hinter die Kniffe zu kommen, wie er dies

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und jenes macht; aber weiter kommt es nicht mit unseren Emp­findungen ihm gegenüber. Er stellt nicht Handlungen von Men­schen dar, sondern seelenlose Bilder dieser Handiungen;

Eine selbständige Kunst ist Zacconis Schauspielkunst. Und eine Kunst, die in dieser Selbständigkeit jede Berechtigung verliert. Die Dichter könnten keine Dramen für die Bühne schreiben, wenn alle Schauspieler so spielten, wie Zacconi spielt. Sie müßten bloß Anweisungen für die Schauspieler schreiben. Ibsen hätte nicht seine «Gespenster> schreiben sollen, sondern den allgemeinen Umriß einer Handiung, in der ein Paralytiker vorkommt. Diese Handlung im einzelnen auszuführen, hätte er dem genialen Schall-spieler überlassen müssen. So lange die Dramatiker so schaffen, wie sie es gegenwärtig run, hat Zacconis Art keinen Sinn.

GASTSPIELE

#G029-1960-SE406 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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GASTSPIELE

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Als ich vor einigen Jahren nach Berlin reiste, nur um das ein­zige schauspielerische Phänomen, die Duse, kennenzulernen, da besuchte ich auch einen hervorragenden Kunsthistoriker. Es war nur natürlich, daß ich diesen Mann um seine Meinung über die Künstlerin befragte. Er hatte aber eine solche Meinung nicht. Denn er war in keiner der Berliner Duse-Aufführungen gewesen und sagte: ich will die Duse nicht sehen, denn die alten, unbedeu­tenden Stücke, in denen sie auftritt, interessieren mich gar nicht. In welchem Gegensatz stand diese Äußerung zu meinen eigenen Empfindungen. Uns Duse-Enthusiasten waren die Rollen ganz gleichgültig, in denen die große Italienerin auftrat. Wir kümmer­ten uns nicht um den künstlerischen Wert der Stücke, in denen die Duse auftrat, uns kam es darauf an, den großen Stil der Künst­lerin kennenzulernen, gleichviel, ob sie in guten oder schlechten Stücken spielte.

Später mußte ich aber doch viel über den Ausspruch des geist­reichen Kunsthistorikers nachdenken. Und die Gastspiele, die in

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diesem Winter in Berlin stattfanden, haben mir klar gezeigt, wie sehr er recht hatte. Man hatte Gelegenheit in dieser Saison, in Berlin die Gastspiele der Réjane, des Herrn Zacconi, der Tina di Lorenzo und das einer englischen Truppe kennenzulernen. Und dabei fiel mir auf, ja wurde mir zur Gewißheit, daß die wahrhaft bedeutende Schauspielkunst nur an bedeutenden Rollen beurteilt werden kann. Ein guter Schauspieler ist nicht derjenige, der in schlechten Stücken seine größten Erfolge erringt, sondern der­jenige, der in guten vollendet und befriedigend spielt.

Gegen diesen Satz sündigen die meisten herumziehenden Schau­spielertruppen. Sie wählen zumeist die schlechtesten und ab­geleiertsten Stücke, um ihre Kunst in aller Eile zeigen zu können. Besonders in dem Falle der Tina di Lorenzo konnte ich das bemer­ken: «Cyprienne», den «Hüttenbesitzer» und ähnliche Dinge führte sie uns mit ihrer Truppe auf. Man hatte von diesen Vor­stellungen rein nichts. Man konnte die Kunst der Gastspieler in diesen Stücken nicht beurteilen. Wie leicht kam man dagegen zu einem Urteile, als Zacconi den Oswald in den «Gespenstern» oder als die genannte englische Truppe den «Macbeth> oder «Hamlet» aufführte. Es kann nicht genug betont werden, daß zu Gastspielen dieser Art nur wahrhaft bedeutende dramatische Kunstwerke gewählt werden sollen. Wenn es den Gastspielem darauf ankommt, ihre Kunst zu zeigen, dann müssen sie in Stücken zuerst auftreten, deren künstlerischer Wert über alle Zweifel er-haben ist. Verletzen sie dieses Gebot, dann erwachsen auch der trefflicheren Kritik ungeheure Schwierigkeiten. Deshalb nament­lich fielen die Berliner Urteile über die Tina di Lorenzo so un­bestimmt aus, deshalb kamen sie mit so vielen Vorbehalten zu-tage. Eine Lebensfrage gastierender Schauspielertruppen ist die Wahl von nur bedeutenden, künstlerisch wertvollen Stücken.

EINE DRAMATURGISCHE STUDIE

#G029-1960-SE408 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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EINE DRAMATURGISCHE STUDIE

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Dramaturgische Studien über einzelne hervorragende Bühnen-künstler sind entschieden sowohl für die Mitglieder des Schau­spielerstandes als auch für den Theaterkritiker von dem größten Nutzen. Und auch das Theaterpublikum wird Interesse an ihnen haben. Unsere Anschauungen über die Bühnenkunst gewinnen erst das rechte Leben, wenn wir sie bereichern durch die konkrete Be­trachtung des einzelnen Darstellers, seiner besonderen Eigentüm­lichkeiten, seiner Mittel und der Art, wie er sich deren bedient. Vor kurzem ist nun eine solche Studie erschienen: «Friedrich Haase>, eine dramaturgische Studie von Otto Simon (Berlin, Ver­lag Alexander Duncker, 1898). Sie bietet in jeder Beziehung ein Zerrbild dessen, was man von einer solchen Arbeit verlangen kann. Eine gewisse Überlegenheit der Anschauung, die notwendig ist, um den Grad der Künstlerschaft des einzelnen Darstellers zu kennzeichnen, fehlt hier ganz. Dagegen tritt eine unbegrenzte An­preisung und eine unbedingte Anbetung des beschriebenen Schau­spielers hervor, die den Verfasser der Schrift für jeden kritischen Ge­sichtspunkt blind und unzugänglich macht. Das Büchlein ist so abge­faßt, als ob es sich um den größten deutschen Schauspieler handelte.

Und eine Forderung ist nicht erfüllt. Der Verfasser einer sol­chen Schrift muß die Fähigkeit haben, scharf zu beobachten, in welcher eigenartigen Weise der Bühnenkünstler seine Rollen ge­staltet, welcher besonderen Mittel er sich bedient, um seine Ab­sichten augenfällig zu machen. Und dazu muß er die Fähigkeit haben, in präziser, eindeutiger Weise diese Eigenart zu beschrei­ben. Otto Simon hat beides nicht. Er redet über die Eigenart des von ihm beschriebenen Künstlers in allgemeinen, unbestimmten, unklaren Ausdrücken, die höchstens die etwas verwaschenen Ge­danken charakterisieren, die dem Autor bei einer Rolle Friedrich Haases durch den Kopf gegangen sind, aber rein gar nichts davon verraten, auf welche Weise der Künstler seine Absichten zum sinnfälligen, theaterwirksamen Ausdruck gebracht hat. Trotz vieler Worte tritt die schauspielerische Physiognomie Haases nirgends klar hervor.

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Durch einige Beispiele wird es klar werden. Was gewinnen wir dadurch, daß uns von Haases Hamlet gesagt wird: «Herrn Haase erscheint als die Grundidee in der Figur des Dänenprinzen die religiöse (christliche) Gewissenhaftigkeit im Konflikt mit den Anforderungen, welche die äußere Existenz und die Ehre (das lebhafte Bewußtsein seines künftigen Herrscherberufes) an einen Menschen stellen, der in der Welt der Ideale heimischer ist als in der Wirklichkeit. Die Idee Hamlets ist - nach Herrn Haases An­sicht - eine höhere als die der bloßen geistreichen Blasiertheit, ästhetischen Überreizung und charakterlosen Willensschwäche der modernen Zeit - Eigenschaften, welche dem Zeitalter Shakespeares an sich noch fremd waren.» Von Herzog Alba wird gesagt: «In Haases Darstellung sehen wir den eisernen Herzog voll verkörpert, eine hagere, hohe, elastische Gestalt, straff soldatisch und doch ritterlicher Haltung, in sich gefestigt durch königliche Autorität und eigene Willenskraft, ein hochbedeutender Kopf mit mächtiger Gedankenstirn, bald kalten, starren, bald dämonisch-glühenden Augensternen, dem charakteristischen langen, schmalen Albabarte, gekleidet in dunkles, wenn auch kostbar verziertes spanisches Ko­stüm, die, wie der freche Spötter Vansen sagt, in bis zum Leibe reichenden dunklen Reitstiefeln: so sehen wir in Haases Alba den berühmten spanischen Feldherrn vor uns, alles konzentrierte Kraft, Entschlossenheit, Unbeugsamkeit nach eig& nem und doch nur des Königs Willen.>

Es ist nicht zu leuguen, daß in dieser Charakteristik ein Ansatz dazu gemacht ist, zu schildern, wie der Künstler seine Absichten dem Auge dazustellen suchte. Jede Spur eines solchen Versuches fehlt dagegen in der Beschreibung der Thorane-Rolle. «Die Mei­sterschaft Haases als Thorane beruht hauptsächlich darin, daß er so entgegengesetzte Eigenschaften und Gewohnheiten, wie den Hang zu schwermütiger Träumerei und leicht erregbares National­gefühl, begeisterte Liebe für die schönen Künste und militärische Straffheit, Scheu vor den Frauen und ritterliche Artigkeit, wo er mit ihnen in Berührung kommt, zu einem einheitlichen Bilde zu verschmelzen weiß, und daß er dieser Figur noch dazu den fein­sten Schliff und den charakteristischen Ton der altfranzösischen

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Aristokratie verleiht.> Das ist eine Darstellung des Charakters des Grafen Thorane, nicht eine Charakteristik der schauspielerischen Art Friedrich Haases.

Was bei ähnlichen Arbeiten gewöhnlich als Mangel auftritt, das gewahren wir auch hier: auf das Spezifische der Schauspielkunst wird nicht der Hauptron gelegt; ja, es fehlt dem Verfasser das Vermögen, von dem Gesamtbühnenbilde das abzutrennen, was das Wesen dieser Kunst ausmacht.

ADELE SANDROCK Gastspiel in Berlin

#G029-1960-SE410 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ADELE SANDROCK Gastspiel in Berlin

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Soll ich mit ein paar Worten das Gefühl beschreiben, das ich habe, wenn Adele Sandrock auf der Bühne ist, so muß ich sagen:

ich schwelge in dem Genuße reifer, süßer Schönheit. In der har­monischen Stimmung, die ich sonst nur habe, wenn es mir gelun­gen ist, eine schwierige Arbeit zu meiner vollen Zufriedenheit zu vollenden, verlasse ich das Theater. Eine wohltuende Ruhe be­mächtigt sich meiner Seele. Nicht eine Ruhe gleich derjenigen, die den Müßiggang zur Mutter hat, sondern eine Ruhe, die ähn­lich ist einer solchen, die vom richtig vollbrachten Leben kommt.

Das war nicht immer so, wenn ich Adele Sandrock gesehen habe. Vor zehn Jahren, als sie eben anfing, dem Publikum als große Schauspielerin zu gelten, da ging ich mit heißem Kopfe und fieberhaft erregten Nerven aus ihren Vorstellungen. Alles zuckte in mir, als ich damals ihre Eva, ihre Alexandra - in Richard Voß' Stücken - oder gar ihre Anna in Gunnar Heibergs «König Midas» sah. Eine große Natur sprach aus ihr. Alles, was man an Lebenskraft hatte, regte sie auf. Aber man mußte damals durch sich selbst wieder zur Ruhe kommen. Sie gab einem nichts, wodurch man die zerrissene Harmonie der Seele hätte wieder­finden können. Es fehlte immer etwas, was zur vollen Schönheit gehört. Diese muß die Wogen auch wieder glätten, die sie erregt

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hat. Ein Sturmwind war ehedem die Sandrock, jetzt ist sie eine Macht geworden, die Sturm und Windstille gleichmäßig zu ver­teilen weiß. Deswegen sage ich, ihre Kunst hat das Kennzeichen der reifen Schönheit, die von der Harmonie kommt.

Ich glaube, das hat Adele Sandrock dem Umstande zu danken, daß sie zur rechten Zeit ans Burgtheater gekommen ist. Ihre Art war ausgereift, und im Burgtheater fand sie die Windstille vor. Die Schönheit blühte dort, aber die Wärme der Leidenschaft, des Temperamentes war in dieser Schönheit erstorben. Wie Charlotte Wolter war, so war das ganze Burgtheater. Adele Sandrock brachte alles mit, was Charlotte Wolter fehlte, und sie eignete sich mit der Art des Genies an, was sie von der Wolter lernen konnte.

Jetzt bei ihrem Berliner Gastspiele fand ich bei Adele Sandrock alle die Züge wieder, die mich einst in Hitze gebracht haben, aber alles ist abgedäsupft durch die edle Kunstart, die im Burg-theater immer zu Hause war.

Schon am ersten Abend, als sie die Francillon gab, war mir dies klar. Noch klarer wurde es mir bei der Vorstellung der Und am folgenden Abend, diese Christine in Schnitzlers flotter, echt dramatischer, duftig schöner Unbedeutendheit «Liebelei». Das Wiener Mädel mit allem Zauber der Liebenswürdigkeit, die in der Donaustadt so reizvoll ist. Ich mußte mich immer fragen:

wo habe ich dieses Mädel denn nur gesehen? Wie eine gute Be­kannte wirkte sie auf mich. Und doch auch wieder alles im Stile des Burgtheaters gespielt. Gleich darauf die übermütige, zynische Ausgelassenheit der Anni in Schnitzlers «Abschiedssouper>. Wie Schwarz zu Weiß verhalten sich die beiden Rollen, und die Sandrock vergriff auch nicht einen Ton in einer derselben.

Am lebhaftesten aber tauchten alte Erinnerungen auf, als sie die Eva spielte. Das war eine der Rollen, in denen sie vor zehn Jahren glänzte. Wie anders spielt sie sie jetzt. Eine edie Würde zwingt die ausbrechende Leidenschaft immer wieder in die schöne

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Form zurück. Adele Sandrock sagt heute, was sie vor zehn Jahren gesagt hat, aber sie hat alles so umgegossen, wie Goethe seine Iphigenie in Jtalien umgegossen hat. Ihre Leidenschaft ist noch dieselbe wie ehedem, ihre Wärme ist noch dieselbe wie ehedem:

aber über der Leidenschaft, über der Wärme steht die Persönlich­keit der Künstlerin, die sich nicht mehr von ihren Seelengewalten bezwingen läßt und gehetzt wird von ihnen. Heute herrscht sie über sie mit spielender Kraft.

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Als Adele Sandrock vor kurzem in Berlin gastierte, erschien im Berliner Tageblatt von ihr ein kurzer Artikel, in dem sie für die Anstellung weiblicher Regisseure eintrat. Der Gedanke hat gewiß viel Verlockendes, und wenn man im allgemeinen dafür ist, daß den Frauen die Berufe, zu denen sie bisher Vorurteil und Irrtum nicht hat kommen lassen, geöffnet werden, so wird man auch dem Vorschlag der großen Wiener Schauspielerin nur mit Beifall gegenüberstehen können. Dennoch aber wird man Bedenken in dieser Hinsicht nicht unterdrücken dürfen. Dazu fordern vor allem die Gründe heraus, die Adele Sandrock vorgebracht hat Es handelt sich bei der Regieführung vielfach um Arrangements, die im wirklichen Leben die Frauen besorgen. Sie sollen deshalb

- nach Adele Sandrocks Meinung - auch für die Herausarbeitung dieser Arrangements auf der Bühne mehr Verständnis haben als die Männer. Dabei ist eines nicht berücksichtigt: Ein anderes ist es, ein Ding im wirklichen Leben zu machen, ein anderes, es auf dem Gebiete der Kunst nachzuahmen. Hier scheint es sich um einen Grundirrtum in der Kunstauffassung von Adele Sandrock zu handeln. Könnte denn nicht zur Nachahmung jener Dinge auf der Bühne, die im Leben die Frauen besorgen, gerade die männ­liche Phantasie besser taugen als die weibliche? Es wird freilich nicht zu leugnen sein, daß sich in den Reihen der Schauspiele­rinnen immer einige Frauen finden werden, welche eine aus­gesprochene Begabung für Regieführung haben. Diesen sollte die Möglichkeit nicht entzogen werden, diese Begabung anzuwenden. Auch wird es Stücke geben, die durchaus einer weiblichen Hand

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bedürfen. Es werden diejenigen sein, in denen frauenhaftes Emp­finden und weibliche Anschauungen im Vordergrunde stehen. Kurz, einfach zurückzuweisen wird der Vorschlag von Adele Sandrock nicht sein. Berlin wird übrigens bald die Vorzüge einer weiblichen Regieführung kennenlernen. Die unternehmungs­lustige Nuscha Butze wird ja nicht verfehlen, in ihrem Theater zu der Bürde der Direktion, die sie Lautenburgs Schultern ab­nimmt, auch die der «Oherregie> zu fügen, mit der ihr Vorgänger doch auch belastet war.

FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1897

#G029-1960-SE413 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1897

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Ein reizvoller Vortragsabend wurde den Mitgliedern dieser Ge­sellschaft am 25. November geboten. Hans Olden las ein «Jugend-erlebnis» vor. In launiger Weise charakterisiert er einen gefeier­ten Bühnenkünstler, der von der ganzen Welt und deshalb auch von dem Verein, dem der junge Olden angehörte - Musenheim heißt er natürlich - wie ein Ideal des Menschen vergöttert wird, und der sich zuletzt als eitler Poseur entpuppt. Er spielt nicht bloß auf der Bühne, sondern auch im «Musenheim» Komödie. Man kann ein solches Erlebnis, das in ähnlicher Weise fast auf jeden jungen Menschen einmal wie ein «Faustschlag> gewirkt hat, nicht in witzigerer Art darstellen, als es Olden getan hat. Und ich meine, daß auch die Vortragsweise Oldens sich an diesem Abend als eine ungewöhnlich wirksame erwiesen hat - Zwei stimmungsvolle Arbeiten las Wilhelm Hegeler vor: «Des Pfarrers Traum> ist eine künstlerisch intime Leistung. Der stocktauhe Pfarrer, dem am Abend des Lebens ein Traum verkündet, daß ihm die blinde alte Gattin noch ein Knäblein bescheren wird, und dem sein junger Kandidat mit dem Hausfräulein im Bunde diesen Traum verwirklicht - er ist eine köstliche Figur. Nicht minder der Künstler in «Goldenes Licht auf dunklem Grunde»,

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das Hegeler noch vorlas. - Carlot G. Reuling unterhielt in präch-tiger Weise mit seiner Humoreske «Der verlorene Gedanke». Seine Verspottung des unfruchtbaren Gelehrtentums, das vor wirklichen Gedanken fast die Flucht ergreift, ist durch die Treff­sicherheit der Darstellung ebenso überwältigend, wie die Arbeit durch die liebenswürdige Form, in der sie auftritt, amüsant ist.

FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

#G029-1960-SE414 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

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Am 12. Januar veranstaltete die Berliner «Freie Literarische Gesellschaft» einen humoristischen Vortragsabend. Zuerst las Otto Julius Bierbaum Teile aus seinem neuesten Roman «Stilpe» vor. Ein naiver Humor macht sich in diesem Roman geltend. Wenn man sich seine Jugend bewahrt hat, lacht man über die Dinge, über die Bierbaum lacht. Harmlos ist dieses Lachen. Die Dinge, über die gelacht wird, sind so niedlich. Wäre der Vortragende besser disponiert gewesen: es wäre gewiß auch letzten Mittwoch viel gelacht worden.

Einen seltenen Vortragserfolg erzielte Guido Thielscher mit Otto Erich Hartlebens kleinen Meisterwerken: «Das Kalbs­kotelett> und «Moritz, der Sortimenter». Ich habe nicht die Ver­pflichtung, mein Urteil über Otto Erich Hartlebens Leistungen unausgesprochen zu lassen, weil ich mit ihm befreundet bin. Ich kenne in der Gegenwart keinen Künstler, der wie er mit solcher Vollendung übt, worauf es in der Kunst nach meiner Empfindung ankommt. Mit sicheren Strichen zeichnet er Gestalten hin, die leben. Er ist Meister der Kunstform im allerbesten Sinne des Wortes. Er verschtnäht alles, was nicht zu dieser Kunstform ge­hört. Künstlerische Vornehmheit ist ein Grundzug seines Schaf­fens. Und weil ihm diese Vornehmheit so natürlich ist, wirkt sie

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auf mich wie ein überlegenes Schalten mit den Dingen. Hartleben kennt die Ironie der Lebensverhältnisse, und er kennt das Natur­notwendige der Banalität. Und beides weiß er zu gestalten. Im «Kalbskotelett> zeigt er sich von der ersten, in «Moritz, der Sortimenter» von der zweiten Seite. Leichte Skizzen sind es, die aber nur ein ganzer Künstler schreiben kann.

Guido Thielscher brachte beides zu voller Wirkung. Alle Nuancen kamen zur Geltung. Eine feine Charakterisierungskunst ist Thielscher eigen. Er dringt liebevoll in die Dinge ein und ver­steht sie in anschaulicher Weise wiederzugeben. Er gehört zu denjenigen Darstellern, denen man mit dem höchsten Interesse nicht nur wegen der Dichtung folgt, der sie durch ihre Vortrags­kunst dienen, sondern die auch das höchste Interesse erwecken durch das Wie, durch die Art, wie sie eine Sache zum Ausdruck bringen.

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Freitag, den 28. Januar, hatte die «Freie Literarische Gesell­schaft» Gelegenheit, einen ausgezeichneten Rezitator kennen­zulernen. Marcell Salzer las Dichtungen und Prosaschöpfungen der Wiener Autoren: Arthur Schnitzler, Loris (Hugo von Hof­mannsthal), Peter Altenberg, Christian Morgenstern und Hermann Bahr. Marcell Salzer hat eine - Hermann Bahr würde in seinem Wienerisch sagen - gemütliche Art, sich in die artistisch feinen und amüsanten Dinge Schnitzlers, Morgensterns und Bahrs ein­zuleben und sie so wiederzugeben, daß dem Wiener, der ihn hört, ganz heimisch zu Mute wird. Aber mir scheint, Salzers Talent geht noch weiter. Er ist als Rezitator ein wirklicher Künstler. Das ist gar nicht so leicht. Denn dem Rezitator wird es schwer, Künst­ler zu sein. Der Kreis seiner Mittel ist nur ein geringer. Wort und Wort-Nuancierung kommen im Grunde allein in Betracht. Will der Rezitator mit andern Mitteln wirken, so wird er auf­dringlich. Seine Kunst gehört zu den intimsten, die es gibt. Ich fand bei Vorlesung aus den Werken der genannten Autoren, daß Marcell Salzer sich in den Grenzen seiner Kunst hält und inner­halb dieser Grenzen Vorzügliches leistet. Die aus dem Wienertum

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heraus geborenen Skizzen Schnitzlers, Bahrs und Morgen-sterns sind bis auf die reizvolle Andeutung des Dialektes hinein echt wiedergegeben worden.

Hugo von Hofmannschal, der kokette Pathetiker, und beson­ders Peter Altenberg, der lyrische Bummler, kamen weniger zur Geltung. Hugo von Hofmannsthal ist ein versetzter Musiker. Er komponiert in Vokalen. Marcell Salzer ist als Rezitator Charak­teristiker. Er sollte Hofmannsthal nicht lesen. Weibisch-Lyrisches macht er theatralisch. Das ist kein Tadel. Ich muß das sagen, um den Rezitator zu loben. Wie sollte er Schnitzler und Bahr gut vortragen, wenn er Hofmannsthals unmännlichen Ton treffen wollte! Die Blätter im Walde rauschen, wie dieser Dichter spricht, der Quell rauscht seine Weisen. Aus menschlichen Kehlen wird immer unnatürlich klingen, was er singt und sagt. Und Peter Altenberg! Wozu haben wir solche Dichter? Es ist ja ganz schön, daß wir uns solchen Luxus gönnen können. Warum soll nicht noch etwas kommen, wenn die letzten Tafelgenüsse abgeräumt sind? Eine recht feine Zigarre. Wir wollen sie nicht entbehren. Peter Altenberg ist eine feine Zigarre. Aber nicht alle Menschen sind Raucher, und nicht alle Raucher haben Verständnis für feine Zigarren. Da muß man schon auf der geheimnisvollen Stufen­leiter zum Vornehmen wieder - zur Philistrosität hinangestie­gen sein.

Ich schreibe das, um Marcell Salzer, der ein vorzüglicher Rezi­tator ist, einen guten - vielleicht überflüssigen - Rat zu geben. Kabinettstücke seiner Kunst waren die Proben von Schnitzler, Bahr und Morgenstern. Mit Loris und dem Herrn Peter verdirbt er sich die schönsten Wirkungen.

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Dienstag, den I. März, veranstaltete die Berliner «Freie Litera­rische Gesellschaft» einen Autoren-Abend. Sigmar Mehring las seinen Einakter: «Vom Baume der Erkenntnis. Ein Mysterium> vor. Der Autor dieses kleinen Dramas hat die alte Frage des Sündenfalles in einer Weise zu behandeln versucht, die in der Mitte liegt zwischen der einfachen Bibelerzählung und einer

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philosophisch-spekulativen Auslegung des mythischen Vorganges. Im zweiten Teile des Abends erfreute uns Ludwig Fulda mit einer Reihe launiger Dichtungen: Sein und Nichtsein, Beichte, Der Beneidenswerte, Zweierlei Auffassung, Eigener Nachruf, Drei Parabeln, Studienkopf - und mit der heiteren Humoreske recht oft in ähnlicher Weise erfreuen möge wie diesmal. Diese wird ihm sehr dankbar sein.

VORTRAGSABEND: EMANUEL REICHER

#G029-1960-SE417 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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VORTRAGSABEND: EMANUEL REICHER

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Am 15. Oktober 1898 las Emanuel Reicher im Urania-Theater das Drama «Moses» von Ludwig Klausner-Dawoe vor. Es war eine Art Rettung einer Dichtung, die sich wohl kaum die Bühnen erobern wird. Reicher wandte seine große Kunst auf das in einem etwas aliväterlichen Ton geschriebene Werk. Der Inhalt der Dich­tung ist der Aufstand Korahs gegen den Träger des Gesetzes, Moses. Das Drama ist aus Empfindungen hervorgegangen, die uns unzählige Male in anderer Form begegnet sind. Auch die Bebandlungsart bietet nichts gerade Neues. Man hat es zwar mit einem Dichter zu tun, aber doch mit einem solchen, der manches nicht miterlebt hat, was die letzten Jahre gebracht haben. Er ge­hört der älteren Generation an und teilt deren Gefühle und Emp­findungen. Er weiß auch seinen Personen kein volles Leben ein­zuhauchen. Dennoch waren für mich die Stunden dieser Vor­lesung genußreich. Ich mußte Reichers große Kunst bewundern, mit den Mitteln des bloßen Rezitators ein vieraktiges Drama in solcher Vollendung vor uns hinzustellen.

VORTRAGSABEND: MARGARETE PIX

#G029-1960-SE418 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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VORTRAGSABEND: MARGARETE PIX

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Als eine wirkliche Vortragskünstlerin lemten wir am 1. Novem­ber 1898 Frau Margarete Pix kennen. Ihre ganze Art wirkt sympa­thisch. Mir wurde das besonders klar heim Vortrage des Gedichtes «Anna» von Julius Hart und einiger Dichtungen der leider in Norddeutschland so wenig bekannten M. E. delle Grazie. Auch einiges von Theodor Fontane hörte ich gern in der Wiedergabe der Frau Pix. Ich möchte überhaupt den Abend durchaus als gelungen bezeichnen mit Ausnaume der ersten Nummer des Pro-grammes. «Der Vicar» von Adalbert von Hanstein ist eine von den Dichtungen, die von der allerschlimmsten Rhetorik leben. Frau Pix hat ein schönes Vortragstalent. Sie wird die besten Erfolge haben, wenn sie es vermeiden kann, ihre Vortragskunst in den Dienst solcher «Kunstprodukte» zu stellen, die durch ihre Unnatur den Hörer rasend machen können.

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VORTRAGSABEND: THEKLA LINGEN, ALWINE WIECKE

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Im Frühling wurden in dieser Zeitschrift eine Reihe von Ge­dichten von Thekla Lingen veröffentlicht. Soeben ist ein Bänd­chen «Arn Scheidewege» von dieser Dichterin erschienen. Aus ihm hat sie einzelne Perlen am 4; November 1898 im Saal Bechstein vorgelesen. Da ich die Eigenart dieser Dichterin nächstens hier charakterisieren will, so darf ich mich heute wohl auf ein paar Berichtworte beschränken. Lingens Dichtungen wirken wie Offen­barungen der Frauenseele. Sie hat uns viel, sehr viel zu sagen, weil sie eine großangelegte Natur ist, und weil diese Natur das Leben von Seiten kennengelernt hat, von denen es kennenzulernen selten Menschen Gelegenheit haben. Dem Vortrage der Frau Lingen ging eine Ausführung von Dr. Paul Remer über «Moderne Frauenlyrik» und die Rezitation von Alwine Wiecke «Die ver­stoßene

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Seele» von Maria Janitschek und Dichtungen von Anna Ritter und Ada Negri voraus. Über Paul Remers Vortrag etwas zu sagen, habe ich nicht nötig; er wird in einer der nächsten Nummern des «Magazins» erscheinen. Frau Wieckes Vortrags­kunst trug zu dem in jeder Beziehung vollendeten Abend das ihrige bei. Diese Kunst entsteht ja durch das Zusammenwirken eines seltenen Organes mit einer hohen Intelligenz und einer bewundernswerten Beherrschung der Kunstmittel.

FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

#G029-1960-SE419 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

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Hans Olden und Ernst von Wolzogen haben der «Freien Lite­rarischen Gesellschaft> am 17. November einen schönen Abend geschenkt. Olden las sein einaktiges Drama «Finale» vor. Meine Beziehungen zu Oldens launenhafter Muse waren selten so gute wie diesmal, wo er auch ein wenig Dichter und nicht nur Theater-schriftsteller ist. Luise, die Frau des höchstgeachteten Legationsrat von Mellenthin, hat einen Geliebten, den Viktor von Bibrach. Dieser Viktor ist eines von den Individuen der so zahlreichen Männergattung, die allen Menschen gleichgültig sind, mit Aus­nahme des Weibes, das ohne dieses «Ideal von Mann> -

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das verrät sie der Freundin - ; sie hat sich und . «Ich mag ihn nicht und hab ihm das nicht ver­hehlt. Ich war nicht mehr seine Frau, seit ich Viktor... Nein, so eine bin ich nicht.» Nun kommt der geliebte Viktor, und Luise verrät ihm - während die Freundin sich seitwärts zurückzieht -, daß sie an ihn einen Brief geschrieben habe, dieser aber beim Ausklopfen der Kleider durch das Dienstmädchen vom Winde auf die Straße geworfen und dort von dem ekligen Baron Flei­scher gefunden worden sei. Der Börsenbaron Fleischer ist eben eklig, denn er hat den Brief gefunden und darauf der Legations­rätin Luise von Mellenthin gesagt: «Entweder - oder>. Das «Oder» bedeutet, daß er, wenn das «Entweder» nicht ist, den Brief unverzüglich dem Herm Legationsrat übermitteln wolle.> Der Herr von Bibrach handelt nun als Ehrenmann.> Er veranlaßt die Frau Legationsrätin, den Baron Fleischer zu sich zu bestellen.> Dort macht der Bibrach dem Fleischer wieder so ein «Entweder

- oder> klar. Entweder du gibst den Brief sofort heraus, oder ich erschieße dich. Und zugleich verrät der Herr von Bibrach, daß es ihm «heute abend» gar nicht schwer wird, einen anderen zu erschießen. Denn er will sich hinterher doch gleich selbst er-schießen. Warum sollte er also nicht noch einen mit ins unge­wisse Jenseits nehmen. Nachdem der Baron noch den Versuch gemacht hat, mit seinen an der Börse erbeuteten Scheinen das Leben des verkrachten Herrn von Bibrach und damit auch sein eigenes zu erhalten, rettet er lieber sich allein durch Herausgabe des Briefes. Der Herr von Bibrach aber sagt zu seiner Geliebten:

«Wir haben uns lieb gehabt - so wild und heiß.> Heute abend hab ich daran zu sterben. Und du wirst's mutig dulden - ohne Wort, ohne Miene. Eine kleine Löwin.> Leb wohl.»>

Ernst von Wolzogen erfreute hierauf die Gesellschaft mit dem Vortrag einiger Gedichte, die er in der «Jugend» und im «Sim­plizissimus> hat erscheinen lassen. Der meisterhaft satirische Ton, der aus diesen Dichtungen spricht und der in der ausgezeichneten

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Wiedergabe des Dichters so reizvoll wirkt, hat die Zuhörer mit Recht in frohe Stimmung versetzt. Und mit Genuß wurde die Erzählung «Der seidene Jupon> verfolgt, die Wolzogen in ganz vorzüglicher Weise las, und in dem er sich als Dramatiker des Erzählens erwiesen hat, wie es wenige gibt. Es ist lustig zu sehen, welches Leben in der Erzählung die einfache Tatsache gewinnt, daß das liebe unschuldige Katherl bei ihrer Schulfreundin einen seidenen Unterrock sieht, einen solchen sich nun auch als Ideal vorsetzt, für ihn jeden ersparten Pfennig zurücklegt und durch diesen Hang zum Bessern endlich moralisch verkommt.

RIA GLAASSEN ÜBER «SYMBOLIK IN LYRIK UND DRAMA UND HUGO VON HOFMANNSTHAL»

#G029-1960-SE421 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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RIA GLAASSEN ÜBER «SYMBOLIK IN LYRIK UND DRAMA UND HUGO VON HOFMANNSTHAL»

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Vorträge, wie der am 26. November 1898 im «Verein zur Förde­rung der Kunst» gebotene, gehören zu den Seltenheiten auf dem Gebiete der Redekunst. Was wir so oft bei Vorträgen entbehren, daß vor uns eine Persönlichkeit steht, in deren Bann wir uns gerne eine Stunde lang begeben, war hier in vollstem Maße vor­handen. Frau Ria Claassen sprach über «Symbolik in Lyrik und Drama und Hugo von Hofmannsthal». Was sie sagt, könnte sie auch in einem Aufsatze sagen. Aber ein solcher Aufsatz würde zum Beispiel für mich nur ein Viertel von dem bieten, was mir die Vortragende an jenem Abend gab. Ich habe so oft bei Vor­trägen das Gefühl: hier redet nicht ein Mensch, sondern eine Anschauung. Der Vortragende könnte sich auch durch einen anderen vertreten lassen, der diese Anschauung hat. Bei Ria Claas-sen hatte ich den Eindruck: nur sie persönlich konnte mir sagen, was sie gesagt hat. Die internationale Kultur Europas hat Ria Claassen in sich aufgenommen und in sich so verarbeitet, daß alles, was sie vom Standpunkte fortgeschrittenster Gegenwartsbildung

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aus sagt, wie der unmittelbare, naive Ausfluß ihrer Per­sönlichkeit erscheint. Jeder Ausdruck der modulationsfähigen Phy­siognomie, jede Bewegung der Hände sagt bei der Vortragenden etwas. Ich habe nicht oft gesehen, daß Hände den Worten so zu Hilfe kommen wie in diesem Falle.

Die Vortragende sprach über Hugo von Hofmannsthal und die Blüte der neuen Kunst, die hesonders durch diesen Wiener Dich­ter ihre Pflege gefunden hat: die Symbolik. Daß diese Kunst-gattung jetzt, nach der Epoche des modernen Naturalismus, auf dem Horizonte des Geisteslebens auftritt und nicht geringe Wir­kungen übt, ist im höchsten Maße charakteristisch für die Zeit-seele. Und der Ausdruck, den Ria Claassen findet, um diese Sym­bolik zu deuten, ist nicht weniger charakteristisch.

Eine Sehnsucht nach dem Paradiese des Geistes ist es, die in Ria Claassen lebt. Sie hat Bedürfnisse nach etwas Seltenem, Besonderem, das in der Fülle des alltäglichen Lebens nicht zu finden ist. Und diese Bedürfnisse wirken in ihr mit der Stärke einer religiösen Empfindung. Der Naturalismus kann diese Sehn­sucht nicht befriedigen. Denn er sucht gerade das Leben, aus dem Ria Claassen sich fortsehnt, getreulich wiederzugeben. Er betrach­tet es als den Triumph der Kunst, wenn er sagen kann: dieses Drama wirkt von der Bühne herab so, daß wir nicht Kunst vor uns zu haben glauben, sondern daß wir das wirkliche, alltägliche Leben vor uns zu haben meinen. Für Ria Claassen wird ein Kunstwerk um so höher stehen, je mehr es uns dieses wirkliche, alltägliche Leben vergessen läßt und die höheren Mächte, die in den Tiefen des Daseins walten, vor uns hinstellt. Nicht das Leben, sondern die «Mysterien des Lebens» sollen der Gegenstand der Kunst sein.

In der Dramatik Richard Wagners sieht Ria Claassen ihre Kunstsehnsucht verwirklicht. In einem Werke, wie «Tristan und Isolde> eines ist, werden die Kunstmittel nicht dazu verwendet, die Wirklichkeit abzubilden, sondern die tieferen Kräfte des Daseins. Wagner glaubt nur in der Musik ein Mittel zu finden für diese höhere Mission der Kunst. Daß auch ohne Zuhilfe­nahme der Tonwelt eine symbolische Kunst möglich ist, zeigen

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Maeterlincks und Hofmannsthals Schöpfungen. Diese Dichter stellen eine Anzahl von Sätzen so vor uns hin, daß wir aus ihnen die Offenbarungen eines höheren Lebens empfinden. Ein Höhe­punkt in dieser Kunstströmung ist - nach Ria Claassens Ansicht -in Hofmannsthals Lyrik erreicht. Sie ist eine Kunst der Worte, solcher Worte, bei deren Anhören wir göttliche Stimmen zu hören bekommen.

Wie innig Ria Claassen mit dieser von ihr charakterisierten Kunst verwachsen ist, hat sie durch ihren Vortrag mehrerer Hof­mannsthalscher Dichtungen gezeigt. Ich möchte die Art ihres Vortrags selbst als symbolistische Rhetorik bezeichnen. Aus ihrem feinen, vornehmen Organ glaubte ich auch etwas von dem zu vernehmen, was sie in der symbolistischen Kunst sucht. Hofmanns­thal kann sich kaum einen besseren Rezitator wünschen.

VORTRAGSABEND: ANNA RITTER, CLARA VIEBIG, FRIEDA VON BÜLOW

#G029-1960-SE423 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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VORTRAGSABEND: ANNA RITTER, CLARA VIEBIG, FRIEDA VON BÜLOW

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Am 2. Februar 1899 veranstaltete der Verein «Berliner Presse> einen Damenabend. Drei Künstlerinnen der Gegenwart kamen zum Worte: Anna Ritter, Clara Viebig und Frieda von Bülow. Anna Ritter ist in überraschend kurzer Zeit «berühmt» geworden. So schnell, wie es fast nur bei Modedichtern der Fall ist, die schnell auch wieder verschwinden. Sie verdient aber dieses Schicksal ge­wiß nicht. Denn sie ist ein wirklicher Lyriker. Ein Lyriker, aus dem das Bleibende des Menschentums spricht. Man kann sich Anna Ritter so ziemlich in jeder Zeit denken. Denn sie besingt, was nie alt und nie neu, aber immer gegenwärtig ist. Man wird an Mörike erinnert, aber auch an Walther von der Vogelweide, beide ins Weibliche umgesetzt. Sie singt von dem Weibempfin den, das ewig ist. Wenn ich ihre Gedichte lese, geht in mir eine Welt der Empfindung auf. Bei ihrem Vortrage habe ich fast Blut

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geschwitzt. Muß denn solche Schaustellung sein? Müssen denn die Empfindungen, die heilig sind, profaniert werden durch falsche Sentimentalität des Vortrags vor hundert Zuhörern? In einer besseren Lage war Qara Viebig. Ihre - ich möchte verraten, daß ich sie ganz kenne - sind ein wirksames Drama, das . Man könnte damit den Beweis liefern, daß wir Talente für das Drama haben. Die Direktoren sollten Dramen lesen. Frieda von Bülow hat eine Novelle vorgelesen. Ich vermag darüber nichts zu sagen. Das aber ist nicht meine Schuld. Während gelesen wurde, liefen fortwäh­rend die Zuhörer davon. Es soll mich doch der Teufel holen:

aber so schlechte Manieren Vertrag ich nicht. Ein anständiger Mensch tut so etwas nicht; und wenn sich ein Kritiker nicht fortwährend zu ärgern hat über das pobelhafte Davonrennen, dann wird er es auch nicht nötig haben, seine Inkompetenz einzu­gestehen.

FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

#G029-1960-SE424 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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FREIE LITERARISCHE GESELLSCHAFT IN BERLIN 1898

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Am 13. März fand in der «Freien Literarischen Gesellschaft» zu Berlin der vierte Vortragsabend dieses Winters statt. Zum Vortrag kam ein einaktiges Drama #SE029-425

Aber Nietzsche, der Lyriker, ist Nietzsche, der Mensch, auf dem das individuelle Leben schwer lastet, der das Glück nur allzuwenig kennengelernt hat. Aus dem leidenden Menschen her­aus hat Nietzsche ein Bild des lachenden Philosophen geschaffen. Die Größe dieses Bildes erdrückte Nietzsche, den Menschen. Aus solchen Stimmungen heraus sind seine Gedichte erwachsen. Was Nietzsche, der leidende Einzelmensch, gegenüber dem hohen Bilde seines Übermenschen empfand, das strömt uns aus seinen Dichtungen entgegen. - Maeterlinck ist abhold den groben, in die Augen fallenden Tatsachen des Lebens. Nicht die großen Worte, nicht die starken Empfindungen und Leidenschaften sind ihm die Verkünder des Allertiefsten in der Welt. Wenn ich einen Men­schen nur flüchtig sehe, so kann sich zwischen seiner und meiner Seele etwas ereignen, das tiefer und göttlicher ist, als was sich in den Worten eines Plato oder Fichte oder in der Leidenschaft eines Othello ausspricht. Solch grobe Aussprüche, solche Leidenschaften verdunkeln für uns nur das Tiefere, das in den scheinbar alltäg­lichsten Ereignissen gesehen werden kann. Die beiden vorgetra­genen Balladen zeigen, mit wie einfachen Mitteln Maeterlinck erschütternde Wahrheiten ausspricht.

Herr Kraußneck machte durch seinen Vortrag einen tiefen Ein-druck auf die Zuhörer. Reickes Einakter stellt die traurige Lage dar, in welch er die Familie eines Pastors ist, der sein Amt auf-zugeben hat, weil ihn sein Gewissen in einen Konflikt mit den Lehren der Kirche gebracht hat. Die Frau ist tot; Die Tochter allein muß für den Vater und die Geschwister den Unterhalt ver­dienen. Sie könnte sich verheiraten und ihr Glück finden. Aber sie darf ihren Posten innerhalb der Familie nicht verlassen. Die Art, wie ihr Vater sie auf diesem Posten zu halten sucht, und ihr herzzerreißender Verzicht auf das Glück wird im Zusammenhange mit den Charakteren in packender Weise dargestellt. Herr Krauß­neck fand die Art, die feine Psychologie des Werkes zur Geltung zu bringen. Nicht minder wirksam war der Ausdruck, den er den ergreifenden Dichtungen Nietzsches und Maeterlincks gab.

Den Abschluß machte eine in echt volkstümlichem Ton gehal­tene Legende «Die vier Räuber> von Ludwig Jacobowski. Dieser

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Dichter sucht die einfachsten, ungekünstelten Töne und erreicht damit eine Höhe der Kunst, wie wir sie an dem vollendeten Volkslied bewundern.

THEATER- CHRONIK 1897-1899

#G029-1960-SE426 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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THEATER- CHRONIK 1897-1899

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Dr. Raphael Löwenfeld, der verdienstvolle Leiter des Berliner Schiller-Theaters, hat soeben den Vortrag «Volksbildung und Volksunterhaltang», den er am 8. Juni 1897 in der General-versammlung der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung zu Halle a. S. gehalten hat, in Druck erscheinen lassen. Er tritt dafür ein, daß an der Bildung weiterer Schichten des Volkes durch Volkstheater mit billigen Eintrittspreisen und durch Ver­anstaltung von Vortragsabenden gearbeitet werde. Wie ein Volks-theater zu denken, das wird an dem Beispiel des Schiller-Theaters, dessen Tätigkeit Löwenfeld schildert, veranschaulicht. Die Vor­tragsabende sollen einzelne künstlerische Persönlichkeiten einem größeren Zuhörerkreis vorführen. An einem solchen Abend soll zuerst eine Charakteristik eines Dichters oder Tonkünstlers ent­wickelt werden, und daran sollen sich Deklamationen oder musi­kalische Reproduktionen einzelner Schöpfungen der betreffen­den Künstler knüpfen. Es ist zu wünschen, daß die schönen Ab­sichten des Verfassers viel Anklang finden. Denn man muß ihm beistimmen, wenn er die Kunst als das beste Mittel für die Fort­bildung des gereiften Menschen empfindet. Wer nach harter Tagesarbeit nicht mehr in der Lage ist, wissenschaftlichen Aus­einandersetzungen zu folgen, der vermag sehr wohl seinen Geist zu erfrischen und zu bereichern an den Schöpfungen der Kunst. Mit Recht sagt Löwenfeld: «Wer von der Erwerbsarbeit kommt, körperlich müde und geistig ermattet, der bedarf der Anregung in reizvollster Form... Nicht Tatsachenwissen, nicht Fachausbil­dung, sondern geistige Anregung im weitesten Sinn ist die Auf­gabe der Volksbildung.»

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Eine interessante Erinnerung ruft der 13. November 1897 hervor. Er ist der hundertjährige Geburtstag des Komponisten Gustav Reichardt, dem wir das Lied «Was ist des Deutschen Vaterland> verdanken. Nach den Befreiungskriegen wurde das Lied in einer andern Melodie gesungen. Sie war nicht geeignet, populär zu werden. Der Reichardtschen ist es im höchsten Maße gelungen. Es wird erzählt, daß der Komponist die Melodie in der alten kleinen Kapelle auf der Schneekoppe während einer Fußwande­rung niedergeschrieben har.

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Ein wahres Muster unklaren Denkens bildet ein Aufsatz vom Berliner Hofkapellmeister F. Weingartner in der «Neuen Deut­schen Rundschau». Nachdem Weingartner seinem Groll über die jüngeren Komponisten, ihre Anhänger und Lobhudler in rück­haltloser Weise Luft gemacht hat, schildert er den «kommenden Mann» in der Musik, den Erlöser aus der Verwirrung, welche die jungen Originalitätshascher angerichtet haben. «Ich denke mir ihn zunächst unabhängig von allem Parteiwesen und sich nicht damit befassend, weil über ihm stehend; ich denke mir ihn weder engherzig deutschtümelnd noch schal international, sondern all-menschlich empfindend, weil die Musik eine allmenschliche Kunst ist; ich denke mir ihn von einer glühenden, schrankenlosen Be­geisterung erfüllt für das von den großen Geistern aller Zeiten und Nationen Geschaffene, unüberwindliche Abneigung gegen die Mediokrität empfindend, mit der er durch Zwang, höchstens einmal durch seine eigene Gutmütigkeit in Berührung kommt. Ich denke mir ihn neidlos, weil seines eigenen hohen Wertes bewußt und darauf vertrauend, daher auch fern jeder kleinlichen Propaganda für seine Werke, aber, wenn es not tut, von gründ­licher Aufrichtigkeit, ja Rücksichtslosigkeit, daher an vielen Stel­len nicht sonderlich beliebt. Ich denke mir ihn sich dem Leben nicht ängstlich verschließend, aber mit Hang zur Einsamkeit - die Menschen nicht in übertriebenem Weltschmerz hassend, aber ihre Kleinlichkeit und Beschränktheit verachtend, daher nur Ausnah­men zu seinem näheren Umgang wählend. Ich denke mir ihn

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nicht unempfindlich gegen Erfolg oder Mißerfolg, aber durch beides nicht einen Schritt von seinem Wege abzubringen, gegen die sogenannte öffentliche Meinung sehr gleichgültig, in seiner politischen Gesinnung Republikaner im Sinne Beethovens. . . Sich nur mit den größten Genies wirklich verwandt fühlend, weiß er doch, daß auch er nur ein neues Glied der Kette ist, welche diese miteinander bilden, und weiß auch, daß andere Gewaltige auf ihn folgen werden. So gehört allerdings auch er einer Rich­tung an, einer solchen aber, die über den Köpfen der Mensch­heit schwebt und über sie hinwegfliegt.> Glaubt denn Herr Wein­gartner wirklich, daß sich die Natur veranlaßt sehen wird, seine Phantastereien zu verwirklichen? Und wenn nicht, warum schreibt er sein Ideal des künftigen Musikers auf? Dieses Ideal wäre übri­gens für jegliches Schaffen höchst nützlich. Wenn der Nachfolger Badenis die von Weingartner geschilderten Eigenschaften hätte:

die Verwirrung in Österreich könnte der schönsten Harmonie weichen. Es ist unbegreiflich, wie sich ein hochbegabter Künstler in solchen Spielereien des müßigen Denkens gefallen kann.

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In diesen Tagen gingen durch die Zeitungen statistische Nach­richten über die Repertoireverhältnisse der verflossenen Saison an deutschen Bühnen. Man konnte aus ihnen ersehen, daß den größten Zuspruch die Jammerstücke der Firma Blumenthal-Kadel-burg - #SE029-429

Burckhard in seinen Nachmittagsvorstellungen im Wiener Burg­theater versucht hat: die Zuschauer finden sich wirklich. Es ist etwas Wahres an dem Satze: Jeder Theaterdirektor hat das Publi­kum, das er verdient. Nicht einen Verfall des allgemeinen Ge­schmackes beweisen unsere entsetzlichen Repertoireverhältnisse, sondern nur, daß unsere Theaterleiter schlechte Stücke lieber auf­führen als gute, und daß sie deshalb die Liebhaber der schlechten Stücke in das Theater locken, das Publikum, das besseren Ge-schmack hat, dagegen vom Theaterbesuch fernhalten. Klassiker-vorstellungen, in würdiger Weise dargeboten, werden immer ein Publikum haben. Wenn nun noch gar die Theaterdirektoren zu-gleich «Dichter> sein wollen und ihre eigenen Machwerke an den Mann bringen wollen, dann ist das Übel das denkbar größte. Es sollte sich als eine Art Regel des Anstandes für Theaterleiter her-ausbilden, daß sie an ihren eigenen Instituten niemals ihre eigenen Stücke aufführen. Vielleicht fordert eine solche Anstands­regel einige Eigenschaften, die nicht jedem gegeben sind; aber so etwas fordert jeder Ehrenkodex.

Ich sehe gar nicht ein, warum die Theaterleiter durchaus den Geschmack bestimmen sollen. Sie haben sich in den letzten Jah­ren so vorurteilsvoll erwiesen, daß man ihnen durchaus nicht zu-zustimmen braucht, wenn sie sagen: wir können nichts Besseres aufführen, weil uns sonst niemand ins Theater geht. Sie sollen es einmal anders versuchen. Vielleicht machen sie dann auch andere Erfahrungen. Vielen möchte ich sogar ernstlich raten: sie sollen das Stückeschreiben lassen.

Bübnenbearbeitung

#G029-1960-SE429 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Bübnenbearbeitung

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Heinrich Jantsch, der Direktor des «Wiener Jantsch-Theaters», der früher dem Meininger Ensemble angehörte, hat eine Bühnen-bearbeitung des «Wilhelm Teil» (Halle 1898) erscheinen lassen. Er erklärt, daß er mit seiner Arbeit eine Debatte eröffnen möchte, und zwar darüber, wie Theaterstücke am besten einstudiert werden

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können. Er liefert ein Regiebuch, in dem alle Anweisungen enthalten sein sollen, die für die Darsteller eines Stückes notwen­dig sind. Alles über eine Rolle soll dieses Regiebuch bringen, was vorgeht, während der Träger vor dem Publikum steht. Man wird sich gewiß nicht enthalten können, ernstliche Bedenken gegen solch weitgehende Anweisungsbücher geltend zu machen. Dar­steIler, die auf ihre Selbständigkeit halten, werden gegen solchen «Drill» sich auflehnen. Aber man bedenke, daß der Verfasser kaum den Willen haben kann, die berechtigte Selbständigkeit zu unterdrücken. Einen Vorschlag will er machen - nichts weiter! «Steht der Darsteller der Rolle geistig höher als der, der die Anmerkung gemacht, ja, glaubt er nur eine eigene Meinung ver­treten zu dürfen, niemand wird ihn hindern. Er wächst über die Anmerkung hinaus, vielleicht gerade wegen dieser ersten Anre­gung. Jedenfalls hat sie an die Stelle von nichts - etwas gesetzt! »Man darf nicht verkennen, daß zu einer solchen eigenen Mei­nung in unzähligen Fällen gar nicht die nötige Zeit vorhanden sein wird. Ein Buch, wie es Jantsch im Auge hat, darf natürlich nicht auf Grund willkürlicher Einfälle entstanden sein. Es muß das Ergebnis einer längeren Erfahrung sein. Und dann wird es auch dem gewiegtesten und begabtesten Schauspieler vorzügliche Dienste leisten. Es muß enthalten, was sich bewährt hat. «Ein solches Regiebuch braucht nicht das Werk eines Einzelnen zu sein, wie ja auch unsere schönsten Szenerien oft unter der Mit­wirkung vieler Darsteller entstehen. Man schimpfe nicht über den Drill, der aus einem solchen Szenarium herauszuwachsen scheint, er ist tausendmal besser als das Chaos; er erklärt der Gedanken­losigkeit auf der Bühne den Krieg. » Hier soll aus den einleiten-den Bemerkungen Jantschs einiges wiedergegeben werden, um Tendenz und Art des Vorschlags zu charakterisieren.

«Je kleiner die Rolle, desto notwendiger oft Anmerkung und Erläuterung, nicht nur was die äußere, auch was die innere Ge­staltung betrifft. - Nehmen wir die vielverschrienen Bedienten-rollen, davon eine, die gar nicht auf dem Lessingschen Theater-zettel von «Emilia Galotti» genannt wird. - Wir befinden uns auf dem Lustschlosse Dosalo, der Prinz mit Emilia zusammen. Da

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kommt die Geliebte des Prinzen, die Gräfin Orsina dazwischen, die niemand geahnt - Diese Schreckenspost überbringt ein Be­dienter mit den Worten:

Der Prinz:

Bedienter:

In dieser Bedientenrolle keimt die Katastrophe des Stückes! -Dieser aalglatte Geselle, der in den Buhlschaftssünden seines Herrn gtoß geworden ist, verliert Sinn und Verstand bei der Meldung: Eben kommt die Gräfin an. - Für ihn, für den Prin­zen, für alle im Schloß war sie ! nicht die Gräfin Orsina, nicht die Frau Gräfin. - In dem Vorstellungskreis des Bedienten gibt es in diesem Augenblick nur einen Grafen und eine Gräfin, und dieser Graf ist hier der Prinz selbst.

Hat der Regisseur der mittleren Bühnen Zeit, diese - doch so notwendigen Anmerkungen zu geben? Wird er - wenn er sie gibt - Dank erhalten von dem Darsteller der Bedientenrolle, der

- sonst ein hochschätzbares Chormitglied - sich gegen das sträubt?! - In der Chorprobe ist er das Abrichten ge­wöhnt, beim Schauspiel wäre es Erniedrigung - so groß ist das Verkennen. - Liegt die Anmerkung geschrieben in seiner Rolle, dann geht es leichter, ist anders nicht das Mitglied ein abgesagter Feind des Rollenlesens - was auch vorkommen soll.

Das Wort verdankt seine unsterbliche Lächerlichkeit den armen Teufeln, welche land­läufig in die Papperüstungen gezwängt als die zehn Kürassiere von Pappenheim beim Wallenstein zur Audienz erscheinen. -Solange auch das Stück schon vorher gespielt wurde, erst die Meininger haben die Kürassiaszene zu dem gemacht, was sie ist. -Da wurde nicht gelacht! Warum denn auch? Ein bißchen Exer­zieren, und das Publikum nimmt uns ernst.

Welch großen Wert Schiller - der eminente Bühnenpraktiker -auf die Bedientenrolle legte, das beweist der Umstand, daß er wiederholt Anmeldungen den Helden selbst in den Mund legte. So im nach dem Monologe . - Der schwedische Oberst soll gemeldet werden. Der Page tritt ein.

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Wallenstein zum Pagen:

Im Wallenstein haben wir das Beispiel, daß die Meldung:

Von Pappenheim verlangen dich im Namen

Des Regiments zu sprechen>

von Terzky gesprochen wird. - Neumann aber ist der eigentliche Überbringer; der aber tritt nur herein, führt den Grafen Terzky beiseite und sagt diesem die Meldung ins Ohr.>

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Carl Heine, der Leiter der von der «Leipziger Literarischen Ge­sellschaft» veranstalteten Theatervorstellungen, hat ein Ensemble zusammengestellt, mir dem er in verschiedenen deutschen Städten Vorstellungen Ibsenscher Werke gibt. Gelegentlich des Wiener Gastspieles dieses Ensembles hat nun Dr. Heine in der Wochen-schrift «Zeit» die Ziele und den Charakter seines «Ibsen-Thea­ters> in einem interessanten Aufsatze entwickelt, dessen Haupt­punkte mir der Erwähnung an dieser Stelle wert erscheinen.

Heine geht von der Überzeugung aus, daß Ibsen die beste Schule für ein Ensemble ist, das nach Stil strebt. Mit vollem Recht hebt er hervor, daß Ibsen ein Segen für die Schauspieler ist, weil sie gezwungen sind, in seinen Stücken nicht Rollen und Theater­schablonen, sondern Lebenstypen und Individualitäten zu spielen. Wer eines der späteren Dramen Ibsens besetzen will - bei den früheren Stücken ist das noch nicht in ausgesprochener Weise der Fall -, der kann sich unmöglich an die alten Fächer: den Bonvivant, den Charakterspieler, den gesetzten Liebhaber, die An­standsdame und so weiter halten; in Heines Ensemble liegen die Rollen des Rank, Aslaksen, Großhändler Werle, des fremden Mannes, Rosmer und Jörgen Tesmann in einer Hand, ebenso diejenige des Brendel, Dr. Stockmann, Brack, Hjalmar Ekdal, Os-wald, Günther und Gabriel Borkmann. Durch eine solche Fach-losigkeit ist der Schauspieler gezwungen, sich ans individuelle Leben, an die Beobachtung zu halten, nicht an die am Theater hergebrachte Gewohnheit und Tradition.

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Auch die Führung des Dialogs erfordert bei Ibsens Dramen eine besondere Kunst. Von Mimik und Geste glaubt Heine, daß sie weniger wichtig sind als im älteren Drama. Er wendet sie nur als Hilfsmittel und so sparsam wie möglich an. Dagegen legt er Wert auf die Gruppierung. Die Stellung der Personen zueinan­der, ihr Sich-Verfolgen, Sich-Fliehen, die Ausscheidung einer Per­son und ihre nähere oder weitere Entfernung von der Haupt-truppe bilden, seiner Meinung nach, einen großen Teil dessen, was man Stimmung nennt. Nur dadurch, daß in dieser Richtung dasjenige getroffen wird, was den Absichten des Dichters ent­spricht, kann diejenige Illusion erzeugt werden, die beim Publi­kum zur rechten Aufnahme eines Ibsen-Dramas notwendig ist. Die Schwierigkeit liegt darinnen, daß fast in jedem Werke dieses Dichters andere Mittel der Art in Anwendung gebracht werden müssen, weil jedes dieser Werke seinen eigenen Stil hat. Jenen Stil, der von dem Inhalt gefordert wird. Nur wer alle Einzelheiten der Regie so zu treffen weiß, daß sie sich zusammenschließen, wie es der individuelle Charakter eines Ibsenschen Stückes fordert, kann ein solches kunstgemäß in Szene setzen. «Für diese ideale Forderung bildet Ibsen eine Vorschule. Nicht zwei seiner Dra­men haben denselben Stil. Man vergleiche nur einmal , , , und . Aber jedes seiner Dramen hat seine eigene, streng umrissene Form, die von Drama zu Drama kunstvoller, reiner und klarer wird . . . So ist Ibsen auch darin für den Schauspieler ein Lehrmeister, daß er ihn von den einfacheren Aufgaben zu den kunstvollsten führt; und wie in Ibsens Gesellschaftsdramen die Männer Wahrheit, die Frauen Freiheit suchen, so ist in Ibsens Dramatik für den Schauspieler die Schule, die ihn zu den letzten Zielen der Kunst reif machen kann, zu den Zielen, denen die Kunst jeder Zeit nachstrebte: Zur Freiheit und Wahrheit.>

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In den Nummern 11 und 14 dieser Zeitschrift ist von dem Plane der Gründung eines Elsässischen Theaters und von den Zie­len, welche diese Gründung verfolgt, gesprochen worden. Dieser

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Plan nähert sich gegenwärtig seiner Ausführung. Es hat sich eine Vereinigung gebildet, welche das Elsässische Theater begründen wird. Ihr gehört als Vorsitzender Dr. Julius Greber an, der Verfas­ser des dramatischen Sittenbildes «Lucie> - das von der Zensur verboten worden ist -, dann der junge Maler und Dichter Gustav Stoskopf, ferner die Herren Hauß, Redaktor und neugewählter Reichstagsabgeordneter, Bastian, der Verfasser von elsässischen Volksstücken, und Horsch.

Der Verfasser des Artikels «Theater und Kunst in den Reichs-landen> (Nr.14 dieser Zeitschrift) hat bereits darauf hingewiesen, daß politische Tendenzen mit der neuen Gründung nicht be­absichtigt werden sollen, sondern daß lediglich der Wunsch maß­gebend gewesen sei, elsässisches Volksleben auf der Bühne zu sehen. In diesem Sinne sind auch die Statuten der Vereinigung ab­gefaßt.

Im nächsten Winter sollen acht Novitäten zur Aufführung ge­langen. Zum artistischen Leiter der neuen Theaterunternehmung ist der ehemalige Direktor des Stadttheaters (Straßburg>, Alex­ander Heßler, ausersehen. Ihm wird ein scharfer, sicherer Kunst-verstand und ein gutes Auge für die Beurteilung künstlerischer Kräfte nachgerühmt.

Wenn man bedenkt, welche ungeheuren Erfolge die volkstüm­lichen Vorstellungen der Schlierseer überall haben, so wird man Unternehmungen wie dem Elsässer Volkstheater die besten Aus­sichten für die Zukunft eröffnen können. Solche Unternehmun­gen entsprechen ganz entschieden einem bemerklichen Zuge unserer Zeit. Unsere Kunst gewinnt immer mehr einen inter­nationalen Charakter. Die Sprache ist fast das einzige Element, das noch daran erinnert, daß die Kunst aus dem Boden der Na­tionalität herauswächst. Volkstümliche und gar landschafdiche Denk-, Anschauungs- und Empfindungsweise verschwinden immer mehr aus den Stoffen unserer Kunstleistungen. Und das Wort von «guten Europäern» ist heute durchaus keine bloße Phrase. Wir verstehen die Pariser Sitten, die uns von der Bühne herab gezeigt werden, heute fast ebensogut wie die unseres Heimatortes. Neben dieser einen extremen Richtung macht sich aber eine andere gel­tend.

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Wie ein Jugenderlebnis uns lieb ist, so sind uns die volks­tümlichen Eigenarten, die sozusagen Kindheitserinnerungen der Nation sind, lieb. Und je mehr uns die kosmopolitische Kultur im allgemeinen von ihnen wegführt, um so lieber kehren wir «hie und da» zu ihnen zurück. Wie Jugenderinnerung mutet es in der Tat uns an, wenn wir heute die Schlierseer spielen sehen; Jugend­erinnerung ist der Inhalt der Stücke, die sie uns vorspielen, und Jugenderinnerung ist vor allen Dingen die Stufe der Kunst, die wir an ihnen beobachten können.

Es wäre zu wünschen, daß ähnliche Unternehmungen wie das Elsässische Theater in den verschiedensten Gegenden Deutsch­lands entstünden. Vielleicht sind sie das einzige Mittel, die land­schaftlichen Individualitäten noch einige Zeit zu retten, über die der kosmopolitische Zug der Zeit erbarmungslos hinweggeht. Sieger wird zuletzt allerdings der Kosmopolitismus bleiben.

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Was ist denn eigentlich «Theater»? Diese Frage wirft Her­mann Bahr in der Nummer 200 der «Zeit» auf. «Das Stück eines Dichters fällt durch, und es heißt dann, daß es eben leider doch nicht ist. Oder wir sehen einen rohen Menschen mit schlechten Sachen von gemeiner Art die Bühne beherrschen, und zur Entschuldigung heißt es, daß er eben weiß, was ist. Was ist nun eigentlich dieses ? Da will niemand ant­worten. Jeder spürt, daß es Dinge gibt, die nicht

sind, und andere, die es sind, aber mehr scheint man nicht zu wissen. Es wird behauptet: Man kann das nicht sagen, man muß es fühlen. So drehen wir uns immer in demselben Kreise. Auf die Frage, wie das sein muß, was auf dem Theater wirken soll, heißt es, daß es theatralisch sein muß, und auf die Frage, was denn theatralisch ist, heißt es: was auf dem Theater wirkt. So kommen wir nicht aus dem Zirkel -.»

Ich bin etwas verwundert über diese Aussprüche eines Mannes, der in der letzten Zeit immer so getan hat, als wenn er endlich den Schlüssel gefunden hätte, der das Tor des Theatralischen öffnet. Hermann Bahr war einst ein schlimmer Stürmer und

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Wüterich. Er konnte sich nicht genug tun in der Verurteilung des «Theatralischen». Die reinen Forderungen der Kunst standen ihm obenan. Ich glaube, er hat vor noch nicht langer Zeit nicht nachgedacht darüber: was wirkt auf dem Theater? Was ist theatralisch? Er hat darüber nachgedacht: was fordert die «Mo­derne» für eine dramatische Technik? Dann hat er alles in der bösesten Weise verfolgt, was gegen diese Technik der «Moderne» verstoßen har. Und wäre damals Herr von Schönthan oder Herr Oskar Blumenthal zu ihm gekommen und hätte ihm gesagt:

Deine «Moderne» ist ja ganz nett, aber auf dem Theater wirkt sie nicht, so hätte er sie elende Macher geschimpft und sie - aller­dings nur kritisch - aus dem Tempel der Kunst getrieben.

In den letzten Jahren ist Hermann Bahr zahmer geworden. Er hat das selbst erklärt.

Marco Brociner hat im Herbst vorigen Jahres in Wien ein Stück aufführen lassen, das gar nicht «Kunst», sondern nur «Thea­ter» war; da hat Hermann Bahr geschrieben: «Als ich noch ein Stürmer und ein Wüterich war, habe ich die Stücke des Herrn Marco Brociner gehaßt. Sie sind ja, was man «unliterarisch» nennt, und das ist mir damals schrecklich gewesen. Ich war da­mals ein einsamer Mensch, so ein Einziger und Eigener, der nichts anerkennt und sich nicht fügen will, sondern seinen Verstand, sei­nen Geschmack herrschen läßt. Jetzt bin ich bescheidener; es ist mir ja schwer geworden, aber ich habe doch nach und nach bemerkt, daß auch noch andere Leute auf der Welt sind. Diese wollen auch leben, das kann der Jüngling freilich nicht begreifen. Heute sage ich mir: Ich habe meinen Geschmack, andere Leute haben einen anderen; wer schreibt, was mir gefällt, das ist mein Autor, aber die anderen wollen doch auch ihre Autoren haben, das ist nur billig...»

Nicht nur in dem Aufsatze, den er über Marco Brociner ge­schrieben hat, sondern auch in nicht wenigen anderen Auslassun­gen sagt Hermann Bahr, daß er heute bescheidener denkt als einst, da er ein «Stürmer und ein Würerich» war.

Daß man Konzessionen machen muß, diesen Grundsatz aller echten Philister hat überhaupt Hermann Bahr als seiner Weisheit

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vorläufig letzten Schluß glücklich herausgefunden. Er hat das in den letzten Nummern der «Zeit» immer und immer wiederholt. «Der Mann hat gehorchen gelernt, er entsagt sich, er weiß, daß er nicht allein ist; - er hat eine andere Leidenschaft; er will hel­fen, will wirken. Er fühlt, daß die Welt nicht da ist, um sein Mit­tel zu sein, sondern er für sie, um ihr Diener zu werden.»

Doch warum schreibe ich hier über Hermann Bahrs neueste Wandlung? Warum suche ich zu erforschen, welches der Weg ist von dem «Stürmer und Wüterich» zum halben Hofrat?

Nur deshalb, weil heute der «halbe Hofrat» Fragen aufwirft, die einst der «Stürmer und arge Wüterich» als höchst überflüssig bezeichnet hätte

Ja, wohl überflüssig. Und wir anderen, die wir uns nicht ent­schließen können, den Sprung ins Halb-Hofrätliche mitzumachen, wissen zu unterscheiden zwischen dem «Theatralischen», das rohe Menschen mit schlechten Sachen auf das Theater bringen, und dem «Theatralischen», das trotz aller «Theaterfähigkeir» echte und gute Dichtung ist. Ein wirklicher Dramatiker schafft bühnen-mäßig, weil seine Phantasie bühnenmäßig wirkt.

Und wenn man uns heute noch die Frage vorlegen will: «was ist theatralisch?», so lachen wir ganz einfach. Shakespeare hat das schon gewußt, und Hermann Bahr wüßte es auch, wenn er nicht auf der Bahn vom «Stürmer und Wüterich» zum zahmen Hofrat begriffen wäre.

Aber so ist es: man muß einiges verlernen, wenn man so weit gekommen ist, daß man einsieht, was Hermann Bahr eingesehen hat: «Wer seine Kraft gemessen hat und erkennt, wohin er mit ihr treten soll, ist gefeit, es kann ihm nichts mehr geschehen: weil er notwendig geworden ist. Notwendig werden, seinen Platz fin­den, seine Rolle wissen, das ist alles.»

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Über den augenblicklichen Stand der Berliner Theaterzensur spricht der Rechtsanwalt Paul Jonas in einer der jüngsten Num­mern der «Nation» (Oktober 1898). Er betont, daß dieser augenblickliche

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Stand sich zu einer Kalamität ausgewachsen hat, und daß bei uns auf diesem Gebiete kaum bessere Zustände herrschen als im benachbarten Zarenreiche.

Wie in so vielen anderen Fällen dient den Wächtern der öffentlichen Ordnung auch bei Handhabung des Zensurstiftes eine jahrzehntealte Polizeiordnung. Die in der Gegenwart schrei­benden Drarnatiker werden nach Bestimmungen vom 10. Juli 1851 beurteilt. Das Oberverwaltungsgericht hat anerkannt, daß der Zensurstift hinweggleiten müsse über Dinge, die «nur eine ent­fernte Möglichkeit, es könne die Aufführung eines Stückes zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führen», erkennen lassen, und daß dieses spitzige Instrument nur dann walten dürfe, wenn eine «wirkliche drohende nahe Gefahr» in Aussicht steht. Trotz­dem hat der in Rede stehende Stift aus Hauptmanns «Florian Geyer» folgende Sätze zu vertilgen für nötig befunden:

«Fresse die Pest alle Pfaffenknechte.»

«Der Papst verschachert Christentum, die deutschen Fürsten verschachern die deutsche Kaiserkrone, aber die deutschen Bauern verschachern die evangelische Freiheit nit! »

«Wer will halten rein sein Haus, der behalt' Pfaffen und Mönche draus.»

«Den Rhein heißet man gemeiniglich die Pfaffengasse. Wo aber Pfaffen uf ein Schiff treten, da fluchen und bekreuzen sich die Schiffsleut', weil Sag' ist: Pfaffen bringen dem Schiff Unheil und Verderben.»

Was muß der den bedenklichen Stift führende Beamte für eine Vorstellung haben von dem Bewußtsein und Empfinden eines Theaterbesuchers von heute! Ein Mann, der glauben kann, daß in den Anschauungen eines gebildeten Menschen der Gegenwart eine Verheerung dadurch angerichtet werden könne, daß er die an­geführten Worte von der Bühne herab vernimmt, weiß nichts von dem Leben, das wir heute führen. Das gekennzeichnete Gebaren ist geeignet, weitesten Kreisen die Augen darüber zu öffnen, welche Kluft besteht zwischen den Vorstellungen der in der Tradition

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des Staates erzogenen Bürokratenseele und dem Empfinden jener Kreise, die den Fortschritt des Lebens mitmachen.

Das Küssen scheint nach der Polizeiverordnung vom 10. Juli 1851 zu den Handlungen zu gehören, aus denen «Sitten-, Sicherheits-, Ordnungs- oder gewerbepolizeiliche Bedenken entstehen». Denn ein roter Polizeistrich tötete aus Max Halbes «Jugend» einst die

Stelle:

«Annchen, du bist so schön! So schön, wenn du so sitzest. (Packt ihren Arm.) Ich könnt' ja alles vergessen. (Außer sich.) Küsse mich, küsse mich!»

Das Verbot des #SE029-440

wird jedes Ding profaniert. Das moderne Empfinden sagt aller­dings: es wird dadurch geadelt. Das bürokratische Empfinden schleppt Vorurteile mit sich, die das übrige Leben sogar schon jahrhundertelang abgestreift hat.

Die praktische Folge von alledem ist, daß die Künstler und Leiter von Kunstinstituten zwischen zwei Übeln stets die wider­wärtige Wahl zu treffen haben: entweder Konzessionen an den bürokratischen «Geist» zu machen und äußerlich hübsch brav auf­zutreten, während es in ihrem Innern rumort, oder sich fortwäh­rend mit den Polizeigewalten herumzubalgen. Wenn es nach den Tendenzen des charakterisierten Geistes gegangen wäre, dann hätte in der Cyrano-Aufführung des «Deutschen Theaters» ein törichter Mönch kein «Gottesschaf» genannt werden und der kleine Fuchs von Madame d'Athis hätte kein Klistier erhalten dürfen. Als verwerflich wurde auch der Satz bezeichnet, daß das Magenpressen des Königs von den Ärzten als Majestätsbeleidi­gung hingestellt und sein erhabener Puls wiederhergestellt wor­den sei.

Der Streit, der über diese Striche zwischen der Polizeibehörde und dem Deutschen Theater entbrannt ist, mag an dieser Stelle ein anderes Mal besprochen werden. Für dieses Mal kam es nur darauf an, den «Geist» der polizeilichen Gewalt und den Geist des Lebens in der Gegenwart einander gegenüberzustellen. Dazu bot der Aufsatz «Zensur-Streiche» von Dr. P. Jonas eine er­wünschte Anknüpfung.

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Adam Müller Guttenbrunn, der Direktor des neuen Wiener Kaiserjubiläums-Stadttheaters, hat Kleists «Hermannsschlacht » in seiner Einrichtung soeben herausgegeben. Die Einleitung, die er zu dem Drama geschrieben hat, beschäftigt sich weniger mit des­sen künstlerischen Eigenschaften, als vielmehr mit Kleists Liebe zu Österreich. Diese Liebe ist aus den Verhältnissen, unter denen Kleist gelebt hat, erklärlich. Zu der Zeit, in welcher Napoleon die Deutschen demütigte, war das mannhafte Vorgehen des Kai­sers Franz und seines Feldherrn, des Erzherzogs Carl, eine Begeisterung

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weckende Tat. Daß Müller-Guttenbrunn in einer Vorrede zu Kleists «Hermannsschlacht» alles hervorhebt, was der Dichter zum Lobe Österreichs gesagt hat, um das Drama «Ein Gedicht auf Österreich» nennen zu können, hat seinen Grund wohl darin, daß der neue Theaterleiter für seinen zum 5ojährigen Jubiläum er­bauten Kunsttempel einen Hymnus auf sein Vaterland nötig hat.

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Schiller hat in der bedeutungsvollen Abhandlung «Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie», die er seiner «Braut von Messina» hat vorangehen lassen, gezeigt, wie tief der Zusammen­hang der Chorfrage mit den Vorstellungen über das Wesen der dramatischen Kunst ist. Niemand ist berufen, sich über Idealis­mus und Realismus im Drama auszusprechen, der sich nicht über diese Frage volle Klarheit verschafft hat. Im realistischen oder gar naturalistischen Drama ist der Chor natürlich ein Unding. Im stilisierten Drama ist er es nicht. Das stilisierte Drama muß Sym­bole in seinen Körper aufnehmen. Es wird Dinge zum Ausdrucke bringen wollen, die mit den Mitteln, die das alltägliche Leben zu seinem Ausdrucke hat, nicht zustande zu bringen sind. Im Drama müssen oft Dinge gesagt werden, die nicht einer einzelnen Per­son in den Mund gelegt werden können.

Jeder Versuch, die Bedeutung des Chores in der Tragödie zu schildern, muß daher mit Freuden begrüßt werden. Ein solcher Versuch ist das Büchlein von Dr. Friedrich Klein «Der Chor in den wichtigsten Tragödien der französischen Renaissance» (Erlan­gen und Leipzig 1897). Der Verfasser hat die große Anzahl von «Poetiken und Verslehren in metrischer und prosaischer Form» sowie die umfangreichen Kommentare zu Aristoteles' «Poetik», welche «seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in Italien und Frankreich veröffentlicht wurden», sorgsam studiert und auf Grund dieses Studiums über «den Stand der theoretischen Kennt­nisse vom tragischen Chore im sechzehnten Jahrhundert» treff­liche Aufschlüsse gegeben. Eine ausführliche Betrachtung der Schrift sollen diese Blätter noch bringen. [Ist nicht erschienen.]

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Da es in irgendwelchen Winkeln der Welt noch Leute mit pöbelhafter Gesinnung geben soll, so bemerke ich ausdrücklich, daß mir der obige Aufsatz [«Auch ein Kritiker» von L. Gutmann] von einem mir bis jetzt selbst dem Namen nach unbekannten Manne zugeschickt worden ist, und daß ich es für eine Feigheit ansehen würde, ihn mit Rücksicht auf den Gesinnungspöbel zu­rückzuweisen. Ich selbst habe kein Bedürfnis, mich Herrn Kert gegenüber zu verteidigen. Er nennt mich einen Kritiker zum Kugeln; ich bekenne, daß mir die Vorstellung des «sich kugeln-den Kerr> ebensoviel Spaß macht wie seine in eingelerntem Gigerl-stil geschriebenen Betrachtungen über die Gesellschaften des Ber­liner Westens, seinen Hausherrn und andere wichtige Dinge. Ich drucke den obigen Aufsatz lediglich deswegen ab, weil er zeigt, was alles sich als großen Mann aufzuspielen wagt.

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Soeben ist eine für die deutsche Dramaturgie höchst bedeut­same Schrift erschienen: «Deutsche Bühnenaussprache». Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Büh­nenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaale des Königlichen Schauspielhauses in Berlin stattgefunden haben. Im Auftrage der Kommission herausgegeben von Theodor Siebs (Ber­lin, Köln, Leipzig 1898). - Die «Dramaturgischen Blätter> wer­den demnächst einen ausführlichen Bericht über diese wichtige Publikation bringen. [

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In dem Werke «Unser Wissen», das in Wien erscheint, hat Richard Specht unter dem Titel #SE029-443

Persönlichkeiten als der des Dichters auf der Bühne einen rest­losen künstlerischen Eindruck zu machen imstande ist. Es ist ein­leuchtend, daß diese Mithilfe nur dann möglich ist, wenn das Werk an sich schlechthin unvollkommen bleibt, wenn es für die künstlerischen Schöpfungen anderer - der Schauspieler, des Regisseurs, des Musikers, des Malers - noch Raum übrig läßt. Jenen Meisterwerken dramatischer Form, deren Gefäß völlig durch die Seele des Dichters ausgefüllt ist und die keinen Raum für den Kunsttrieb der anderen übrig haben, ist man kaum jemals noch durch eine Bühnenaufführung gerecht geworden. Das liegt nicht an einem der darstellenden Kunst, sondern daran, daß bei solchen Werken die darstellende Kunst eben - zu viel ist. Ein Stück, in dem die Persönlichkeit des Dichters so un­gemein vorherrscht, daß sie den Ausdruck der Persönlichkeit des Schauspielers vollkommen verhindert, ist ein Stück, das dem Leser einen gleichen oder höheren Eindruck macht als dem Zuhörer. Damit ist für ein solches Stück die Bühne überflüssig gemacht, die hier nicht ergänzen, sondern bloß stören kann, und damit ist ein derartiges Drama vielleicht ein edieres Kunstwerk, aber gewiß ein schlechtes Stück. Das Ideal der in diesem Sinne wird wohl immer bleiben.

Dies wird man immer wieder betonen müssen gegenüber den so vielfach auftauchenden Bestrebungen, das Wesen des Theaters zu verkennen und seine Bedeutung innerhalb des Kunstlebens in einem schiefen Lichte darzustellen.»

Noch eine zweite Stelle des Aufsatzes soll hier angeführt wer­den, die Burckhards Abgang vom Wiener Hoftheater von dem Gesichtspunkte aus betrachtet, der durch die obige grundiegende dramaturgische Wahrheit gekennzeichnet wird. Specht sagt von Burckhard: «Er hat literarisches Leben ins Theater gebracht, aber er hat das schauspielerische Leben geschwächt. Die Bühne kann aber in erster Linie nur vom Schauspieler leben, und trotz der erfolgreichen Versuche, modernem Darstellungsstil zum Durch­bruch zu verhelfen, ist der eigentliche Ruhm des Burgtheaters

- im ganzen ein herrliches Ensemble und im einzelnen prächtige Menschen, die sich schauspielerisch auszudrücken vermögen -

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unter ihm beträchtlich gesunken, wenn nicht gar verlorengegan­gen. Trotzdem muß man sagen, daß er selber während seiner Direktionszeit so viel gelernt hat, daß man bei einer Umschau um den nächsten fähigen Direktor den Namen Max Burckhards hätte nennen dürfen. Aber die Verbitterung und Gehässigkeit der zu oft mit Recht aufgebrachten und gereizten Künstler wäre zu groß gewesen, um an ersprießliche gemeinsame Arbeit denken zu kön­nen, und diese Erwägung allein mußte genügen, um den Abschied Burckhards zu einem unwiderruflichen zu machen.>

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Der Sünder Max Halbe vor dem Forum des erzbischöflichen Ordinariats in Freiburg im Breisgau

#G029-1960-SE444 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Der Sünder Max Halbe vor dem Forum des erzbischöflichen Ordinariats in Freiburg im Breisgau

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Wie eine seit langer Zeit in den Archiven ruhende Urkunde nimmt sich das folgende Schreiben des Erzbischofs von Freiburg:

«Herabwürdigung des katholischen Klerus durch das Theater» betreffend, aus. Es ist aber - in unseren Tagen gefertigt und bezieht sich auf ein dramatisches Kunstwerk unserer Tage.

«Großherzoglichem Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts beehren wir uns ergebenst mitzuteilen:

In dem Hof- und Nationaltheater zu Mannheim wurde in der zweiten Hälfte des Monats April das von Max Halbe aufgeführt. Die katholische Presse (, Nr. 91 und 99) hat daraus mit Recht Veranlas­sung genommen, gegen einen solchen Mißbrauch der Bühne aufs schärfste zu protestieren. Wir konnten uns der Aufgabe nicht ent­ziehen, angesichts dieser öffentlich gegen die Mannheimer Theater-leitung erhobenen Anklage, einen dem Publikum vorgeführt zu haben, auch unsererseits das in Rede stehende Stück einer Durchsicht zu unterziehen. Zu unserem größten Bedauern müssen wir darnach feststellen, daß die Aufführung eines solchen Stückes nichts ande­res

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ist als eine raffinierte schwere Herabwürdigung des katho­lischen Klerus, gegen welche zu protestieren unsere Pflicht ist. Wir wollen nur hervorheben, daß in dem Stücke ein Kaplan zum Kaffeetisch kommt, daß keiner der beiden Prie­ster im Stücke seinen Beruf mit dem sittlichen Ernste gewählt hat, wie die Kirche es verlangt und seine Heiligkeit es vorschreibt, daß der Kaplan über die Berufswahl skandalöse Grundsätze ver­tritt, daß er einerseits sich als wütender Fanatiker geriert und trotzdem andererseits mit einem Mädchen nach eingeholter des Pfarrers tanzt. Zum Schlusse kommt eine vor, welche eine Herabwürdigung des Buß.Sakramentes darstellt.

Nimmt man dazu den geradezu unsittlichen Charakter des Stük­kes, so glauben wir, daß es im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit geboten sei, gegen einen solchen Mißbrauch eines Theaters einzuschreiten, und wir bitten dringend, Maßregeln er­greifen zu wollen, welche für die Zukunft demselben vorbeugen.

gez. Thomas. gez. Keller.»

Soll man derlei Manifestationen der katholjschen Kirche als ein Symptom für das in der Gegenwart mit jedem Tage steigende Selbstbewußtsein der Vertreter mittelalterlicher Anschauungen be­trachten? Bei dem rückschrittlichen Zug unseres «neuen Kurses» ist eine solche Auffassung nicht ausgeschlossen. Max Halbe wird wohl nunmehr, natürlich, nach Professor Schells Vorbild sich «löblich unterwerfen» und fortan in seinen Dramen nur die Emp­findungen des unfehlbaren römischen Stuhles vertreten.

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Ein Preisausschreiben in Höhe von zehntausend Mark zur Ge­winnung einer neuen deutschen Volksoper für die deutsche Bühne erläßt der als warmherziger Förderer der Kunst weiten Kreisen bekannte Prof. Dr. Walter Simon, Stadtrat in Königsberg i. Pr. Diese Tatsache ist wohl seit langem eine der erfreulichsten Mani­festationen deutschen Kunstinteresses. An der Konkurrenz dürfen sich alle deutschen und deutsch-österreichischen Komponisten be­teiligen. Zugelassen werden noch nicht aufgeführte abendfüllende Opernwerke, welche einen deutschen bürgerlichen Stoff behandeln,

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wie er etwa in Goethes «Hermann und Dorothea» zum Aus­druck kommt. Auch Stoffe aus der neueren deutschen oder aus der preußischen Geschichte, seit Friedrich dem Großen (zum Beispiel Eleonore Prochaska>, ebenso frei erfundene Stoffe sind willkommen. Die Werke sind portofrei in Partitur, Klavierauszug und Buch an den von dem Preisstifter mit der Durchführung des Preisausschreibens betrauten Oberregisseur der Leipziger Stadt­theater, Herrn Albert Goldberg, bis längsten l. Juli 1901 unter Beobachtung der üblichen Vorschriften einzusenden, über welche die im Druck vorliegenden Bestimmungen des Prof. Dr. Walter Simonschen Preisausschreibens nähere Auskunft geben. Diese Be­stimmungen werden auf schriftliches Ansuchen von Herrn Ober­regisseur Goldberg, Leipzig, Neues Theater, Interessenten unent­geltlich und portofrei übersandt. Das Preisrichteramt haben die folgenden Herren, die sich in der Bühnenwelt eines wohlbegrün­deten Rufes erfreuen, übernommen: Oherregisseur Anton Fuchs, München, Oberregisseur Math. Schön, Karlsruhe, Großh. Hof-theater, Oberregisseur Hofrat Harlacher, Stuttgart, Kgl. Hofthea­ter, Hofkapellmeister Aug. Klughardt, Dessau, Herzogl. Hoftheater, Königl. Kapellmeister Prof. Mannstädt, Wiesbaden, Kgl. Theater, Prof. Arno Kleffel, Köln, Stadttheater, und Oberregisseur Albert Goldberg, Leipzig, Stadttheater. Für die Herren Komponisten dürfte es von ganz besonderem Werte sein, daß die preisgekrönte Oper auch sofort aufgeführt werden wird und zwar am Leipziger Stadttheater.

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Herr Dr. Erich Urban, unser bisheriger Musikkritiker

#G029-1960-SE446 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Herr Dr. Erich Urban, unser bisheriger Musikkritiker

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Von achtungswerter Seite ist ein lebhafter Protest erhoben worden gegen die Art, wie Herr Dr. Erich Urban vor vierzehn Tagen hier über Frau Carrefio und Frau Haasters gesprochen hat. Es wurde gesagt, daß in einer Kunstkritik weder der Satz über die Arme der Frau Carrefio noch der über die eheliche Liebe der Frau Haasters etwas zu tun habe. Die Entrüstung hat sich, wie es

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scheint, auch gegen mich, den verantwortlichen Redakteur des «Magazins», gewandt, der solche Dinge in dem Blatte abdrucken lasse. Ich bin der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig. Herr Dr. Erich Urban kam vor einiger Zeit zu mir und ersuchte mich, seine kritische Laufbahn im Im übrigen kann ich nur sagen, daß ich bedauere, mich in Herrn Erich Urban geirrt zu haben, und daß ich vollständig auf Seiten seiner Ankläger stehe. Er hat sich leider dem Einflusse jener kritischen Art nicht entziehen können, die ich in meinem heutigen Leitartikel im Auge habe, und die ich scharf verurteile. Er ist in seiner Jugendlichkeit der Nachahmer schlechter Vor­bilder geworden. Dieser Vorbilder sind genug vorhanden. Die Herren sind aber klug und wissen äußerlich Maß zu halten. Herr Urban hat sich auf solches Maß nicht verstanden. Er hat Fehler nicht bloß nachgeahmt, sondern sie in vergrößerter Form zur Anwendung gebracht. Er wollte recht amüsant sein, und, was er in dieser Absicht schrieb, wurde bloß taktlos.

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Den Herren aber, die es nicht verzeihen können, daß mir der Rotstift einmal entglitten ist, wünsche ich, daß ihnen nie Schlim­meres passiert in ihrem Leben.

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Zu einer Bekanntmachung *

#G029-1960-SE448 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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Zu einer Bekanntmachung *

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Es besteht die Absicht, das Beiblatt des «Magazins für Litera­tur», die «Dramaturgischen Blätter», vom l. Januar 1900 ab nicht mehr erscheinen zu lassen. Wir entsprechen damit einem sehr oft geäußerten Wunsche aus dem Leserkreise dieser Wochen-schrift. Diese standen einer Beilage nicht sympathisch gegenüber, welche die speziellen Fragen der Bühne und der Dramaturgie behandelt. Die gegenwärtige Leitung hat bei Begründung der «Dramaturgischen Blätter» sich der Hoffnung hingegeben, daß im Kreise der Bühnenmitglieder und anderer, die dem Theater nahestehen, ein lebhaftes Interesse vorhanden sei für die Behand­lung von Fragen der eigenen Kunst und ihren Zusammenhang mit den übrigen Kulturaufgaben. Die Erfahrung hat das nicht bestätigt, und die obige «Bekanntmachung» beweist neuerdings, daß die in dieser Richtung gehegten Hoffnungen auf keine Er­füllung rechnen können. Die regere aktive Beteiligung durch Mitarbeiterschaft aus dem Kreise der zur Bühne Gehörigen war nicht zu erreichen. Durch Veröffentlichungen wie die « Schieds­gerichtsverhandlungen des deutschen Bühnenvereins» wurde aber in dem Glauben, einem besonderen Stande zu dienen, die Geduld der übrigen Leser auf eine harte Probe gestellt. Diese Leser wer­den den Raum, den bisher solche pedantisch-juristische, lang­wierige und für Nicht-Bühnenmitglieder ganz interesselose Erör­terungen einnahmen, lieber mit Dingen ausgefüllt sehen, die dem Gebiete der Literatur und Kunst angehören.

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* Ich bringe hiermit zu allgemeiner Kenntnis, daß unsere kontrakrüche Verbindung mit den zum l. Januar 1900 von mir gekündigt worden ist.

Der Präsident des deutschen Bühnen-Vereins:

Graf von Hochberg

ZUM ABSCHIEDE

#G029-1960-SE449 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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ZUM ABSCHIEDE

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Länger als drei Jahre habe ich die Redaktion dieser Zeitschrift geführt. Ich ging im Juli 1897 mit den besten Erwartungen an meine Aufgabe. Meine Absicht war, ohne jede Konzession nach irgendeiner Richtung hin, einer bestimmten Welt- und Lebens­anschauung Ausdruck zu geben und der Kunst und dem öffent­lichen Leben der Gegenwart im Sinne dieser Anschauung zu dienen. Es widerstrebte mir, zur Erreichung meiner Ziele mich anderer Mittel zu bedienen als der inneren Kraft dieser An­schauung selbst, an deren Wert ich glaube und für die ich immer mein Leben einsetzen werde. Besonders widerstrebte es mir, Wir­kung zu erzielen durch Gewinnung «klangvoller» Namen, die beim Publikum gut eingeführt sind, oder durch Ausnutzung sen­sationeller Vorkommnisse. Es war von vornherein meine Absicht, im Rahmen dieser Zeitschrift so lange für die von mir vertretene Sache einzutreten, als das durch deren Inhalt allein möglich ist. Höher als «klangvolle> Namen stand mir, neu aufstrebende, nach meiner Ansicht berechtigte Talente in die Öffentlichkeit einzu­führen; einen besonderen Wert legte ich darauf, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die als einsam Kämpfende mit ihren An­schauungen wenig Aussicht hatten, diese anderswo auszusprechen.

Zu beurteilen, in welchem Grade ich diesen meinen Absichten entsprochen habe, darf ich ruhig den Unbefangenen unter den Lesern dieser Zeitschrift überlassen. An Zustimmung solcher, deren Urteil mir von höchstem Werte ist, hat es mir nicht gefehlt. Die Freunde, die ich meiner Sache erstehen sah, konnten mir eine voll­kommene Genugtuung gewähren über manche Anfeindungen, die mir natürlich auch reichlich zuteil geworden sind.

Ich gab mich vom Anfang meiner Redaktionsführung an kei­ner Täuschung darüber hin, daß meine Absichten nur durch Opfer mannigfaltigster Art und, wie die Verhältnisse lagen, nur unter schweren Kämpfen zu erreichen seien. Ich darf sagen, daß ich drei Jahre willig der Sache wegen diese Opfer gebracht, diese Kämpfe auf mich genommen habe. Die Zustimmung so mancher Persön­lichkeit,

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die mir schätzbar ist, hat mir über vieles hinweggeholfen. Länger diese Opfer zu bringen, übersteigt meine Kräfte.

Das ist im Todesjahre Goethes begrün­det. Mehr als alles andere bezeugt die Tatsache, daß es bis heute sein Dasein behauptet hat, die Bedeutung dieses Daseins. Es wird unter anderer Führung weiter der Kunst, der Wissenschaft und dem öffentlichen Leben dienen.

Ich gebe die Leitung nicht leichten Herzens ab, denn ich war in den letzten drei Jahren, mehr als ich sagen will, mit dieser Zeitschrift verwachsen. Sie war mir eine Herzensangelegenheit, aber ich trete ohne Bitterkeit zurück. Ich habe das Bewußtsein, daß ich in der Weise gearbeitet habe, die mir allein möglich war. Ich trage das Gefühl in mir, daß meine Ziele eine innere Berech­tigung haben, und daß ich Mittel und Wege auch weiterhin fin­den werde, diesen Zielen mein Leben zu widmen. Diejenigen, die durch diese Zeitschrift meine Freunde geworden sind, mögen hier den Ausdruck meines innigsten Dankes entgegennehmen. Eine innere Notwendigkeit hat mich durch meine Redaktionsführung mit manchem zusammengeführt, von dem mich ein äußerliches Ereignis, wie die Abgabe dieser Redaktionsführung, nicht mehr trennen kann.

Die beiden Herren, die mit voller, unverbrauchter Kraft an die Aufgabe herantreten, diese Zeitschrift weiter zu führen, sind ihren Lesern durch bewährte Mitarbeiterschaft bekannt. Johannes Gaulke, der feinsinnige und energische Kunstschriftsteller und Kritiker, und der nicht weniger zu schätzende Schriftsteller und Künstler Franz Philips werden sich dieser Aufgabe unterziehen. Ich lege die Führung in ihre Hände mit den besten Wünschen, daß ihnen reichlicher Erfolg beschieden sein möge. Ich aber kann nicht umhin, zu dem Dank, den ich allen mich unterstützenden Freunden sowie den Mitarbeitern und Freunden des «Magazins» von ganzem Herzen hier ausspreche, auch noch den an S. Cronbach und seinen Verlag hinzuzufügen, die mir mit wahrem Verständnis, mit Anteil an der Sache und Opferwilligkeit entgegengekommen sind. Daß der Verlag von diesem Hause weitergeführt wird, gereicht mir zur besonderen Befriedigung.

Hinweise

#G029-1960-SE451 - Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie 1889 - 1900

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HINWEISE

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Zu Seite

17 Zur Einführung: Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kapitel XXIV / XXV. Dornach 1925, 6. Auflage Dornach 1949.

18 Freie literarische Gesellschaft: Berlin. Gegründet 1890. Ehrenvor­sitzender: Theodor Fontane. Vorsitzende: Otto Erich Hartleben und Rudolf Steiner.

Dramatische Gesellschaft: Berlin. Gegründet 1896. Vorstand: Otto Erich Hartleben, Dr. Bruno Wille, Hermann Sudermann, Dr. Lud­wig Fulda, Otto Neumann-Hofer.

23 Das Hofburgthestter in Wien wurde 1741 durch Maria Theresia gegründet.

Das Deutsche Volkstheater in Wien wurde 1888-1889 erbaut und am 14. September 1889 eröffnet.

24 «Cornelius Voß«, Lustspiel von F. von Schönthan. «Wilddiebe», Lustspiel in 4 Akten von Th. Herzl und Hugo Wittmann. »Der Flüchtling», Lustspiel in 1 Aufzug von Th. Herzl. »Die wilde Jagd», Lustspiel in 4 Aufzügen von Ludwig Fulda.

26 »Ein Fleck auf die Ehr» von Ludwig Anzengruber.

27 «Der Pfarrer von Kitchfeld», Volksstück mit Gesang in 4 Akten von Ludwig Anzengruber; «Die Rantzau», Charakterbild in 4 Aufzügen von Erckmann-Chatrian; «Der Hypochonder», Lustspiel in 4 Akten von Gustav von Moser; «Der Strohmann», Lustspiel in 1 Aufzug von A. Rembe; »Die Hochzeit von Valeni», Drama von Ludwig Ganghofer und Marco Brociner.

34 Johannes Volkelt. Das erwähnte Werk erschien in Jena 1876.

35 in diesen Blättern: «Nationale Blätter», S. Quellennachweis der Zeit­schriften, S.15.

45/46 «Moderne Dichtung.: Monatsschrift für Literatur und Kritik. Re­daktion: M. Constantin. Herausgeber: E. M. Kafka, 1. Jg., Brünn 1890.

47 »Die Gesellschaft«: Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik. Herausgeber: Michael Georg Conrad. Die Zeitschrift wurde 1885 in München von M. G. Conrad (Gnodstadt, Franken

1846-1927 München> begründet und war bis zur Jahrhundert­wende das Organ aller revolutionären Literaturbestrebungen. Spä­ter

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war Ludwig Jacobowski bis zu seinem Tode (1900) Mitheraus-geber.

48 «Dramaturgische Blätter»: s. Quellennachweis der Zeitschriften, S.15.

Deutscher Bühnennerein: Berlin. Vereinigung deutscher Bühnen-leiter, gegründet 1846.

66 Schiller hat umsonst gesprochen: Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, in einer Reihe von Briefen, 22. Brief, wörtlich: «Darin aber besteht das eigentümliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt.«

Goethe hat dieselbe Gesinnung: Faust II, 2. Akt, 2. Szene.

73 »Der Kunstwart«: München 1898, 11. Jahrg., Heft 9, S. 281: Su­dermanns «Johannes« und die Theaterkunst.

76 Fr. Th. Vischer: «Das Schöne und die Kunst«, Stuttgart und Berlin

1907, III. Aufl., S. 301/02.

85 Ludwig Tieck: Vgl.: Kritische Schriften II., III., IV. Band. Schriften II., III., IV., XI., XXVI II. Band. Dramaturgische Blätter III. Teil.

128 Tante Voß: «Vossische Zeitung» (Untertitel: Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen), gegr. 1704, stellte 1936 ihr Er­scheinen ein.

129 «Wissenschaftliche Kritik« von Hans Landsberg.

154 S.o. Hinweis zu S. 18.

162 «Cyrano von Bergerac« von Edmond Rostand (1898). »Das Ver­mächtnis» von Arthur Schnitzler (1898). «Mädchentraum«, Spiel in 3 Akten von Max Bernstein. »Der Vielgeprüfte« von Wilhelm Meyer-Förster.

163 «Der Herr Ministerial-Direktor», Lustspiel in 3 Akten von Alexan­der Bisson und Ferdinand Carré, übersetzt von Ferdinand Groß. »Schmetterlingsschlacht», Komödie in 4 Akten von Hermann Su­dermann.

181 «Wilddiebe«: s.o. Hinweis zu S. 24.

190 «Sprüche in Prosa«, Goethes Werke, Naturwissenschaftliche Schrif­ten, IV. Band, 2. Abtlg. (In Deutsche National-Literatur, 117. Band, Goethes Werke XXXVI/2), herausgegeben von Dr. Rudolf Stei­ner, Berlin und Stuttgart, o. J. (1897), VI. Abtlg.: Ethisches.

199 «Kluge Käthe«: Autor war nicht zu ermitteln.

208 «Die Journalisten«: Lustspiel von Gustav Freytag, 1853.

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225 »Die Einzige«, «Aschermittwoch»: Autor war nicht zu ermitteln.

291 Echt wie ein weihlkher Trast: s. Seite 195.

307/08 J. G. Fichte: »Über die Bestimmung des Gelehrten.« Dritte Vor­lesung.

334 Goethe: Italienische Reise, Rom, den 28. Januar 1787: .... Die zweite Betrachtung beschäftigt sich ausschließlich mit der Kunst der Griechen und sucht zu erforschen, wie jene unvergleichlichen Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis der göttlichen Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abge­schlossen ist, und worin kein Hauptcharakter so wenig als die Übergänge und Vermittlungen fehlen. Ich habe eine Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin. Nur ist noch etwas an­deres dabei, das ich nicht auszusprechen wiißte.«

365 «Tugendhof«: Autor war nicht zu ermitteln.

406 da besuchte ich auch einen hervorragenden Kunsthistoriker: ver­

mutlich Herman Grimm.

411 «Eva«, Schauspiel von Richard Voß, 1889.

434 Die Schlierseer waren eine Theatergruppe Schlierseer Bauern unter Leitung von Xaver Terofal, die auf ihren Gastspielreisen ober­bayrische Volkssrücke aufführte; gegründet wurde sie im Jahr 1891 von Konrad Dreher.

438 «Florian Geyer»: Vorspiel, I. und III. Akt.

Einige Aufsätze aus dem Gebiet der Literatur und Ästhetik, welche in Heft 3 und Heft 11 der «Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk« ab­gedruckt wurden, erscheinen nunmehr nicht in diesem, sondern in dem entsprechenden Bande der »Gesammelten Aufsätze» innerhalb der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.