GA 147

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Geheimnisse der Schwelle

Ein Vortragszyklus, gehalten in München
vom 24. bis 31. August 1913
im Anschluß an die Aufführungen der Mysteriendramen
«Der Hüter der Schwelle» und «Der Seelen Erwachen»

GA 147

1969

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG München, 24. August 1913

Sie haben es ja erfahren, daß wir unsere Festvorstellungszeit diesmal mit einem Ausfall beginnen mußten. Zu meinem großen Leid konnten wir dasjenige, was projektiert war, die Vorstellung der « Seelen-hütetin» von unserem verehrten Edouard Schuré, nicht schon in dieser Spielzeit zur Aufführung bringen. Wir mußten durch die mannig­faltigsten Gründe diese Aufführung verschieben. Dies war aus dem Grunde in einer gewissen Beziehung leidvoll, weil gerade in unseren Tagen, gerade in unserer Gegenwart es wichtig hätte erscheinen kön­nen, Sinn und Bedeutung dieses Werkes unseres verehrten Edouard Schuré vor unsere Seele hinzustellen. Werden ja in diesem Werke ge­wisse Strömungen und Wellenschläge der Menschheitsentwickelung zu einem äußeren physischen Ausdruck gebracht, die manches ver­ständlich machen können in den oft so erschütternden Ereignissen der Gegenwart, die an unseren Seelen vorüberziehen, ohne daß es eigentlich mit dem gegenwärtigen auf dem physischen Plan zu ent­wickelnden Verständnis, namentlich Westeuropas, möglich ist, in die tieferen Untergründe dieser Ereignisse hineinzudeuten.

Es ist tatsächlich für ein tieferes Sinnen auffällig, wie Bedeutsamstes sozusagen die Volksseelen durcheinanderrüttelt im europäischen Osten, wie da sich manches abspielt, was nur erklärlich wird, wenn man in Betracht ziehen kann, was sich unter der Oberfläche der physisch-sinnlichen Welt an Wellenschlägen im Völkerleben vollzieht. Es ist in einem gewissen Grade merkwürdig, wie wenig eigentlich westeuropäisches Verstandesdenken auch nur daran denkt, die tieferen Grundlagen dieser erschütternden Ereignisse zum Herzens-, zum Seelenverständnis zu bringen. Und da könnte es durch die unmittel­baren Eindrücke der Gegenwart, man möchte sagen, karmisch ge­boten erscheinen, ein Drama vor dem Seelenblick sich abspielen zu sehen, welches die Gegensätze in den Volksseelen an die Oberfläche heraufbringt.

Es wäre besonders reizvoll gewesen - nicht nur in ästhetischer Beziehung,

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sondern auch im Hinblick auf das Verständnis von manchem, was sich in unserer Zeit abspielt -, vor dem Seelenauge den Gegensatz zu haben, der uns in der « Seelenhüterin» hätte zutage treten können, den Gegensatz zwischen dem, was als Einschlag, als Impuls im west­lichen Europa von der alten keltischen Volksseele geblieben ist und was uns bei einem Teile der Personen dieses Dramas entgegentritt, und dem eigentlich romanisch französischen Element, das bei einem ande­ren Teile der Personen des Dramas uns dann wiederum vor die Seele getreten wäre; und wenn man weiter hätte ersehen können, wie in das Menschenieben heraufspielen, sich äußerlich im Sinnenleben aus­drückend, Wellenschläge, die im Okkulten sich vollziehen. Denn in diesem Drama sehen wir, wie durch gewisses Geschehen gleichsam eine Unwahrheit sich in der Sinneswelt ausbreitet, so daß die Verhält­nisse, die zwischen den Personen bestehen, diese Unwahrheit zum Ausdruck bringen, und wie von Untergründen des Seelenlebens aus -in diesem Falle von dem, was sich in den Geheimnissen des Blutes auslebt - dann bis zu einem gewissen Grade die Wahrheit sich ergießt in die unwahren Verhältnisse der Sinnenwelt. Das alles hätten wir in diesem Drama für das Seelenauge zum Ausdruck gebracht. Und wichtig ist es in unserer Zeit, solche Dinge auf die Seele wirken zu lassen, wo sich vor unseren Augen innerhalb Europas selbst Ereig­nisse abspielen, in die wirklich hineindringen die unter der Oberfläche waltenden Kräfte der Volksgemüter, und die nicht verstanden werden können, ohne daß man den Seelenblick hinrichtet auf diese Volks-gemüter.

Was sich im äußeren Leben abspielt, was ist es im Grunde genom­men anderes als etwas, das - in dieses äußere Leben wie karmisch heraufdringend - in unserem europäischen Osten und Südosten vor vielen Jahrhunderten die Volksgemüter ergriffen hat. Man könnte sagen: Unvernehmbar für die äußere Welt vollziehen sich jetzt kar­mische Dinge, die zusammenhängen mit dem, was nur symptomatisch auf dem physischen Plan zum Ausdruck kommt, eigentlich in vier Silben auf dem physischen Plan zum Ausdruck kommt. Was jetzt zum karmischen Ausdruck gelangt, hat sich vorbereitet, als eingeschlagen hat in die europäischen Volksgemüter, diese zerspaltend und zerklüftend

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in Osten und Westen, jenes berühmte und viel umzankte «fllioque». - Was geht im Grunde genommen unser gegenwärtiges Gemüt mit seinem Verständnis das an, worüber einstmals der Westen und Osten Europas sich gespalten haben, ob das, was als Heiliger Geist bezeichnet wird, nur vom Vater ausgehe, wie der Osten be­hauptet, oder auch vom Sohne, wie der Westen sagt? Es hat seine guten Gründe, daß in der damaligen Zeit der Westen jenes «filioque» hinzugefügt hat zum Ausgehen des Heiligen Geistes aus dem Vater, denn alle die Kräfte, die sich im europäischen Westen entwickelt haben, welche die Impulse für die Kultur Europas gegeben haben, hängen damit zusammen. Hier berührt uns nicht all das theologische Gezänke, welches sich entwickelt hat über dieses Credo der verschie­denen Glaubensbekenntnisse. Aber wichtig ist für uns, daß einmal das seelische Geschehen dadurch sich ausgedrückt hat, daß sich das ein­heitliche Glaubensbekenntnis gespalten hat in ein solches, das da sagt, daß der Geist vom Vater und vom Sohn ausgehe, während das andere glaubt, daß der Geist nur vom Vater ausgehe. Das drückt aus, was bis in unsere Zeiten hereinwirkt, was in den Untergründen wellt und schlägt und nur verstanden werden kann, wenn man sich ein wenig einläßt auf das geheimnisvolle Walten der okkulten Untergründe in den Volksseelen. Als das Karolingische Schwert vom Westen gegen den Osten hin zur Geltung gebracht hat - es war nicht die Papst-kirche, die es getan hat, sondern das Karolingische Schwert - das Glaubensbekenntnis, daß der Geist ausgehe vom Vater und vom Sohn, wurde in der europäischen Kultur der Grund gelegt für das, was wir in mächtigen und erschütternden Wellenschlägen heute wiederum heraufpulsieren sehen. So hätte ein Sich-Vertiefen in dieses Drama manchen Lichtstrahl bringen können in die Ereignisse der Gegenwart.

Nun, für das Aufschieben dieser Vorstellung war zuletzt der Um­stand ausschlaggebend, der nach der anderen Seite hin recht erfreulich ist, daß so viele Anmeldungen zu unseren Vorstellungen gekommen sind, daß wir für die Dramen «Der Hüter der Schwelle» und «Der Seelen Erwachen», wie jetzt der Titel unseres letzten Stückes heißt, viele unserer Freunde hätten abweisen müssen, wenn wir unser ursprüngliches

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Programm hätten einhalten wollen. Vielleicht hatte sich ohne diesen Umstand das ursprüngliche Programm dennoch durch­führen lassen. Alles war so weit gediehen, daß zum Beispiel die sämt­lichen Dekorationen vollständig fertig vorliegen, auch die sämtlichen Kostüme vollständig fertig da sind. Und wenn, wie gesagt, nicht der eben erwähnte Umstand eingetreten wäre, so hätten wir daran denken können, auch dieses dritte Stück zur Aufführung zu bringen. Allein, wir hätten eine Anzahl unserer Freunde ausschließen müssen von der Teilnahme an den Festvorstellungen in dieser Zeit. Und es ist natür­lich statthafter, eines der Dramen aufzuschieben, als von den statt-findenden Vorstellungen unsere Freunde, die daran teilnehmen wollen, auszuschließen.

Es hängt das, was wir mit der Vorstellung dieses Dramas gewonnen hätten, auch damit zusammen, daß wir in diesem Drama eine Arbeit vor uns haben unseres so hochverehrten Edouard Schuré Und be­denken müßten wir, wenn wir diesen Namen aussprechen, daß der-j enige Mann ihn trägt, welcher durch seine «Großen Eingeweihten», «Les Grands Initiés», und durch seine anderen Werke in gewisser Beziehung der erste Bannerträger der esoterischen Richtung des Abendlandes ist, für die wir unsere Kräfte einsetzen wollen. Immer wieder und wiederum müssen wir bedenken, was durch Edouard Schuré Epochemachendes für die Gegenwart und die zukünftige Menschheitsentwickelung geschehen ist. Daher darf ich wohl nicht nur aus dem tiefsten Drange meines eigenen Herzens heraus, sondern gewiß auch aus dem Herzensdrang aller hier versammelten Freunde mit größter Befriedigung begrüßen, daß wir auch in dieser unserer Münchener Zyklus- und Spielzeit wiederum Edouard Schuré unter uns haben dürfen. Er nimmt teil an dem Vormittagszyklus, aber da wir auch Veranstaltungen haben, wo wir alle beisammen sein werden, werden alle Freunde Gelegenheit haben, auch persöniich an der Seite des Mannes zu sein, der mit hoher Genialität und mit tiefem Einblick in esoterische Verhältnisse uns aus seinem innersten Impuls heraus wiederum zur Seite getreten ist in der Gegenwart, als wir verwickelt waren, wie Sie alle wissen, in einen Kampf, der uns aufgedrängt war, den wir wahrhaftig nicht gesucht haben. Und wiederum hat sich die

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innige Verbindung mit Edouard Schuré dadurch gezeigt, daß er mit jenem offenen Brief - der ja wiederholt, auch in unseren «Mitteilun­gen», gedruckt worden ist und den Sie verbunden finden mit der aus­gezeichneten Schrift unseres verehrten Freundes Eugen Lévy - uns zur Seite getreten ist in einem Kampf, der wichtige Lichtstrahlen darauf geworfen hat, wo Wahrheit und Gegnerschaft gegen die Wahrheit -denn so muß es genannt werden - in bezug auf unsere Bestrebungen zu suchen ist.

Und es ist tief charakteristisch, daß man sich jetzt nach längerer Zeit - man bemerkt das innere Widerstreben und daß man gern das Geständnis verborgen sehen möchte - zwar entschlossen hat, den törichten Jesuitenvorwurf gewissermaßen zurückzunehmen, daß man aber nicht umhin konnte, diese Zurücknahme zugleich wiederum zu verbinden mit einer in gewisser Weise so zu nennenden Beschimpfung desjenigen, was aus einem ernsten Wahrheitssinn Edouard Schuré in jenem offenen Briefe gebracht hat. Nicht unzusammenhängend waren die Schwierigkeiten, die sich gerade gegen die ohnedies nicht leichten Münchener Veranstaltungen ergeben haben dadurch, daß uns der hier nicht weiter zu erörternde Kampf aufgedrängt worden ist, der uns so viel Arbeit und Gedanken gekostet hat, und der wahrhaftig unnötig eigentlich gewesen ist und unnötig in seiner weiteren Fortsetzung sein wird.

Nun ist es für unsere Freunde notwendig, daß das, was geschehen ist zur Steuer der Wahrheit, jetzt auch ein wenig berücksichtigt werde. Ich erwähne außer Schriften, die schon früher erwähnt worden sind, das ausgezeichnete Buch unseres Freundes Lévy, das auch in deutscher Sprache nun zu haben sein wird; ich erwähne die Broschüre Dr. Ungers, diejenige der Frau Wolfram> des Herrn Walther> die außer anderen unter unseren Bücherwerken zu haben sein werden; Schriften, die sich wahrhaftig unsere Freunde abgerungen haben, weil im Grunde genommen jeder derselben etwas Wichtigeres zu tun gehabt hätte, als in solch einen unnötigen und wahrheitswidrigen Kampf sich einzu­lassen. Aber für unsere Freunde wird es notwendig sein, daß diese Broschüren nicht bloß geschrieben worden sind, sondern auch gelesen werden. Denn es wird schon einmal nötig sein, daß unsere Freunde,

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die es mit der Wahrheit ernst nehmen, sich all das wirklich zum Wissen bringen, was da vorgegangen ist, so unerquicklich dieses Wissen in gewisser Beziehung auch sein mag. Gerade von dieser Seite her ist auch unserer Arbeit in München manches schwere Hindernis in der letzten Zeit in den Weg getreten.

Und wenn ich von dieser Arbeit spreche, wie ich es auch in diesem Jahre wieder tun möchte, so muß erwähnt werden, daß für diejenigen Personen, welche sozusagen hinter den Kulissen die schwere und auf­reibende Arbeit für die Münchener Veranstaltungen zu leisten hatten, diese Arbeit nicht etwa dadurch erleichtert worden ist, daß ein Drama ausgefallen ist. Das ganze Arrangement mußte infolgedessen geändert werden, und so ist die Arbeit nicht nur nicht verringert, sondern sogar vermehrt und erschwert worden. Also, es darf nicht geglaubt werden, daß da, wo die Hauptlast der vorbereitenden Arbeiten liegt, irgendwie etwas erleichtert worden wäre dadurch, daß ein Drama ausgefallen ist, sondern es ist diese Arbeit, die vor allen Dingen Fräulein Stinde und Gräfin Kalckreuth und ihre Helfer zu leisten haben, im wesentlichen vermehrt worden. Auch in diesem Jahre ist es mir ein Herzens-bedürfnis, darauf hinzuweisen, in welch opferwilliger und hingebungs­voller Art sich ein großer Teil unserer Freunde wiederum gewidmet hat dem Zustandekommen dieser unserer Münchener Unternehmung. Sie kann ja nur dadurch zustande kommen, daß solche Opferwilligkeit bei einem großen Teile unserer Freunde vorhanden ist. Im Juni müssen schon die Vorbereitungen beginnen, und so war es auch dieses Jahr. Unsere verehrten Maler, Herr Linde, Herr Haß> Herr Volckert, sie mußten sich wieder einer langen Arbeit widmen, und wie gesagt, es wurden diese Arbeiten vollständig fertig geliefert. Und mit ihnen wirkte eine ganze Gruppe von Menschen, welche sich gleichsam hinter den Kulissen oder sogar, bevor die Kulissen zustande kommen konn­ten, ganz im stillen dieser Arbeit hingaben. Und es ist wirklich schön und wird immer wieder und wiederum schön sein, wie sich diese Opferwilligkeit auf diesem Gebiete zeigt. Nur als ein Symptoma­tisches sei hervorgehoben, daß zum Beispiel einer unserer Freunde, da ihm zwei große Rollen zugedacht waren, von denen die eine geht durch den «Hüter der Schwelle» und « Der Seelen Erwachen» und die

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andere gewesen ware im Schuréschen Stück, daß dieser Freund nicht einmal wußte, ob er sich werde aufrechterhalten können durch die vielen Proben, die für die drei Stücke zu leisten gewesen wären; dennoch hat er die Arbeiten mit Willigkeit übernommen. Das alles sind Dinge, die bezeugen, wie sehr die Hingabe und Opferwilligkeit nach und nach gewachsen sind bei einem ausgedehnten Kreise inner­halb unserer Anthroposophischen Gesellschaft. Die Freunde, die, wie gesagt, zum Teil sehr früh mit ihren Arbeiten beginnen mußten, die genannten Maler, auch Fräulein von Eckardtstein, welche die Leitung der Kostümzusammenstellung hat, sie mußten schon vom Juni aus sich ganz dem Werke widmen. Diejenigen, die an der Darstellung beteiligt sind, sind den ganzen Tag beschäftigt, so daß sie kaum etwas anderes während des Tages unternehmen können. Sie sind unseren Freunden von der Anthroposophischen Gesellschaft ja auch bekannt, und die Freunde, die sich dieser Arbeit gewidmet haben, werden es mir erlassen, da ich eine lange, lange Liste aufzählen müßte, einzelne Namen zu nennen. Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich nur im allgemeinen, was leicht geglaubt werden wird, zum Ausdruck bringe, wie auch in diesem Jahre wiederum gegenüber all denen, die ihre Leistungen dargebracht haben, sozusagen das Herz von Dank­barkeit überfließt bei mir und gewiß auch bei all denjenigen, wel­che in irgendwelcher Weise haben genießen dürfen das, was durch unsere Freunde für diese Münchener Unternehmungen vorbereitet worden ist.

Wenn auch gewissermaßen die Gegner von allen Seiten heranwach­sen, so zeigt sich denn doch auch, wie unsere Arbeit, unser Streben ihre Erweiterung finden. Und es hat schon eine große Zahl von unseren Freunden Interesse genommen für das, was sich sozusagen als ein neuer Zweig aus unserem Bestreben heraus gebildet hat: aus­drucksvolle Gebärde, ausdrucksvolle Bewegung, im edelsten Sinne ausgeführt, was man Tanzkunst immer genannt hat. Eine Anzahl unserer Freunde hat hinlänglich Gelegenheit gehabt und wird sie weiter haben, mit dem, was hier als Eurythmie auftritt, sich bekannt­zumachen. Bei einer unserer geselligen Zusammenkünfte werden wir Gelegenheit nehmen, etwas von diesem Zweige unserer Tätigkeit

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unseren verehrten Freunden vorzuführen. Das, meine lieben Freunde, ist im wesentlichen, was ich sozusagen als Persönliches unserem dies­maligen Vortragszyklus vorauszuschicken hätte.

Wenn Sie sich erinnern an die Bühnenvorgänge der letzten Tage, so bieten diese mancherlei, was Anknüpfung geben kann zu den Be­trachtungen dieses Vortragszyklus. Ich darf sagen, daß ich auf ver­schiedene Anfragen hin jedes Jahr den Ansatz dazu nicht nur mit der Feder gemacht habe, sondern auch bis zu einem gewissen Grade etwas ausgearbeitet hatte, was wie eine Erklärung, wie eine Art Kom­mentierung unserer Mysteriendramen sein könnte, daß ich aber jedes­mal die Sache wiederum zurückgelegt habe aus dem Grunde, den ich auch ein wenig angedeutet habe in den vorläufi gen Bemerkungen von «Der Seelen Erwachen». Es widerstrebt mir, hinterher verstandes­mäßig dasjenige zu kommentieren, was wahrhaftig nicht einen theo­retischen, einen verstandesmäßigen Ursprung hat, was in seinen Bil­dern fertig dasteht wie eine Eingebung aus der geistigen Welt, und über das ich verstandesmäßig auch nicht anders sprechen könnte, als ein anderer sprechen kann, wenn er in die Sache eingeht. Es besteht ein gewisses Bedürfnis, die Dinge, die auf solche Weise gegeben sind, durch sich selbst sprechen zu lassen und sie nicht sozusagen abzu-zapfen auf die dünne Vorstellungsart, die doch immer nur Verstandes-denken und Theoretisieren sein kann. Dennoch darf vielleicht an eini­ges angeknüpft werden innerhalb dieses Vortragszyklus. Und da möchte ich heute zunächst Ihre Aufmerksamkeit lenken auf das, was Ihnen vorgeführt wurde als neuntes, zehntes und als dreizehntes Bild in « Der Seelen Erwachen». Gerade in diesen Bildern haben wir etwas vor uns, was man nennen könnte schlichte Bildeindrücke, während vielleicht mancher erwarten könnte, daß nach den Bühnenvorgängen, die sich auf das Geistgebiet und die ägyptische Initiation beziehen, etwas mehr Tumultuarisches, Tragisches, etwas, man möchte sagen Laut-Erklingendes, nicht im Stillen der Seele Ablaufendes vor das Seelenauge geführt werde. Und dennoch würde alles, was in dem neunten, zehnten und dreizehnten Bild anders sein würde, dem okkul­ten Auge unwahr erscheinen müssen. Wir haben vor uns Seelenentwickelungen.

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Demgegenüber muß sogleich gesagt werden, daß zwar mit theoretischen Darstellungen, wie sie auch von uns für die Seelenentwickelung hinauf in die höheren Welten gegeben werden, Anhaltspunkte für jede Seele gegeben werden in bezug auf den Weg in die geistigen Welten; daß aber diese Seelenentwickelung für jede Seele nach deren besonderen Eigenart, Charakter, Temperament und sonstigen Verhältnissen verschieden sein muß. Daher kann man auch ein tieferes Verständnis für die okkulte Seelenentwickelung nur ge­winnen, wenn man sie betrachtet in ihrer Verschiedenheit, wie sie sich verschieden abspielt für Maria und verschieden für Johannes Thomasius und verschieden für die anderen Personen unseres Dra­mas.

Das neunte Bild ist zunächst gewidmet jenem Seelenmoment der Maria, wo in die Seele hereintritt ein Bewußtsein dessen, was diese Seele sozusagen in ihren Untergründen noch nicht voll bewußt durchlebt hat in der vorangegangenen devachanischen Zeit, und was sie in ferner Vergangenheit durchgemacht hat, in der Zeit, in die die ägyptische Initiation fällt. Wir haben es in dem, was diesmal im Geist-gebiet dargestellt worden ist, zu tun mit den Erlebnissen der Seele zwischen jenem Tod, der nach einer mittelalterlichen Inkarnation ein­getreten ist, und der Geburt in jene Gegenwart herein, in welcher spielen «Die Pforte der Einweihung», «Die Prüfung der Seele», «Der Hüter der Schwelle» und «Der Seelen Erwachen». Alle diese Erlebnisse mit Ausnahme der Episode in der «Prüfung der Seele», die den Inhalt der geistigen Rückschau des Capesius in sein voriges Leben darstellt, spielen in der Gegenwart; in jener Gegenwart, die sich anschließt an die geistige Vergangenheit, welche sich deva­chanisch abgespielt hat zwischen dem Tod der entsprechenden Personen nach der mittelalterlichen Verkörperung, die der Inhalt der betreffenden Episode ist, und dem gegenwärtigen Leben. Das, was die Seelen erleben in ihrer devachanischen Zeit, ist verschieden, je nachdem die Seelen diese oder jene Vorbereitung auf der Erde durchgemacht haben. Als ein bedeutsames Seelenerlebnis muß auf­gefaßt werden, wenn die Seele mit einem Bewußtsein in der deva­chanischen Zeit durchgeht durch das, was die Weltenmitternacht

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genannt ist. Für Seelen, welche nicht dazu vorbereitet sind, wird diese Weltenmitternacht so durchlebt, daß die Seelen gleichsam schlafen in jener Zeit, die man als die Saturnzeit des Devachan bezeichnen kann. Denn man kann die aufeinanderfolgenden Zeiten, die die Seelen durchmachen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, mit Bezug auf die einzelnen Planeten als Sonnen-, Mars-, Merkurzeit und so weiter bezeichnen. Manche Seelen verschlafen sozusagen diese Wel­tenmitternacht. Vorbereitete Seelen wachen in der Zeit ihres geistigen Lebens in jener Weltenmitternacht. Das bedingt aber noch nicht, daß solche Seelen, die durch ihre entsprechende Vorbereitung zwischen dem Tod und einer neuen Geburt bewußt erleben, im Wachen also die Weltenmitternacht erleben, auch ein Bewußtsein von diesem Er­leben hereinbringen in das Erdenieben, wenn sie zum physischen Dasein kommen. Für Maria, für Johannes Thomasius vollzieht sich das so, daß sie entsprechend vorbereitet die Weltenmitternacht er­leben in ihrer geistigen Zeit zwischen dem Tod und neuer Geburt, daß sich aber eine Art von Seelentrübuis ausgebreitet hat im Beginne dieses Erdenlebens und durch lange Zeiten desselben hindurch über das Erlebnis in der Weltenmitternacht, und daß dieses auftaucht in einem späteren Stadium des gegenwartigen Erdenlebens. Es taucht aber nur dann auf, wenn eine gewisse innere Ruhe und Geschlos­senheit der Seele eingetreten ist. Bedeutsam und tiefgehend sind die Ereignisse, die mit der Seele geschehen, wenn sie Weltenmitternacht im Wachen erlebt. Ruhiges Innenerlebnis, abgeklärtes Innenerlebnis muß die Erdenerinnerung sein an Weltenmitternacht; denn die Wir­kung dieses Erlebens von Weltenmitternacht ist, daß das, was sonst nur subjektiv ist, was sonst als Seelenkräfte im Inneren nur wirkt, wesenhaft sich vor die Seele stellt. Es stellt sich vor Maria so hin, wie es im neunten Bild von «Der Seelen Erwachen» dargestellt ist in der Gestalt der Astrid und der Luna, daß diese lebendige Wesen werden. Für Johannes Thomasius wird die andere Philia lebendiges Wesen der geistigen Welt; für Capesius Philia, wie sie als lebendiges Wesen der geistigen Welt in dem dreizehnten Bilde dargestellt ist. Die Seelen mußten sich so erfühlen, so erleben lernen, daß das, was vorher nur abstrakte Kräfte in ihnen waren, gleichsam geistig greifbar

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vor sie hintritt. Und das, was da geistig greifbar wie wahre Selbsterkenntnis sich vor die Seele hinstellt, muß in vollständiger Seelenruhe eintreten können wie ein Ergebnis der Meditation; das ist es, um was es sich handelt, damit solche Ereignisse im wahren, echten Sinn des Wortes zur wirklichen Erstarkung und Erkraftung der Seele erlebt werden können. Würde man in tumultuarischer Tragik, nicht in abgeklärter Meditation die Rückerinnerung erleben wollen an die Weltenmitternacht oder an ein solches Ereignis, wie es in der ägyptischen Einweihungsszene dargestellt ist, dann würde man es gar nicht erleben können. Dann würde sich das geistige Ereignis, das sich in der Seele abspielt, verfinsternd vor die Seele hinstellen, so daß sich die Eindrücke der Seelenbeobachtung entziehen würden. Eine Seele, welche Weltenmitternacht erlebt hat und welche mit einem bedeutenden Eindruck in den Untergründen der Seele so etwas er-lebt hat, wie es im siebenten und achten Bilde von «Der Seelen Erwachen» dargestellt wird, kann sich nur zurückerinnern an das, was sie durchgemacht hat, wenn die Seele in vollständiger abge­klärter Ruhe das Heranrücken der Gedanken an das vorher im Gei­stigen oder im vorigen Erdenleben Erlebte so empfindet, wie es mit den Worten im Beginne des neunten Bildes ausgedrückt ist:

Ein Seelenstern, am Geistesufer dort, -

Er nahet, - nahet mir in Geisteshelle,

Mit meinem Selbste nahet er, - im Nahen -

Gewinnt sein Licht an Kraft, - an Ruhe auch.

Du Stern in meinem Geisteskreise, was -

Erstrahlt dein Nahen meiner Seelenschau?

Wahr okkultistisch empfinden kann man das Auftreten der Erinne­rung an Weltenmitternacht und an das Erlebnis der vorhergehenden Inkarnation nur dann, wenn die Seele in dieser ruhigen Verfassung ist, so daß nicht in tumultuarischer Tragik die Sache an die Seele heranrollt. Da, wo es erlebt wird, wo Weltenmitternacht durch­gemacht wird, erlebt man allerdings Bedeutsamstes für das Seelen-erleben des Menschen; da erlebt man das, was sich nicht anders aus­drücken läßt als dadurch, daß man sagt: Es werden in jener Weltenmitternacht

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Dinge erlebt, die tief, tief verborgen unter der Ober­fläche nicht nur der Sinneswelt liegen, sondern auch unter der Ober­fläche mancher Welt, in die ein anfängliches Hellsehen hineinführt. Es entzieht sich der Sinneswelt, aber auch noch manchem hellsichti­gen Blick, der gewisse Schichten unter der Sinneswelt schon durch­schaut, dasjenige, was man - wir werden davon noch weiter spre­chen - die Notwendigkeiten im Weltengeschehen nennen kann, jene Notwendigkeiten, die in den Untergründen der Dinge wurzeln, in denen allerdings auch die tiefsten Untergründe der menschlichen Seele wurzeln, aber die sich dem Sinnlichen und auch dem anfäng­lichen heilseherischen Blicke entziehen und sich dem letzteren erst dann ergeben, wenn so etwas durchlebt wird, wie es bildhaft in der Saturnzeit geschildert wird. Dann darf man sagen, daß es für einen solchen hellseherischen Blick, der zuerst auftreten muß in der Zeit zwischen Tod und einer neuen Geburt, wirklich so ist, wie wenn Blitze das ganze Blickfeld der Seele überziehen würden, die in ihrem schrecklichen Leuchten die Weltennotwendigkeiten überleuchten, die aber zugleich so blendend hell sind, daß die Erkenntnisblicke durch das helle Leuchten ersterben und aus den ersterbenden Erkenntnis-blicken sich Bildformen bilden, die sich dann in das Weltenweben einweben als die Formen, aus denen die Schicksale der Weltenwesen erwachsen. Man durchschaut die Gründe der menschlichen und anderer Weltenwesen Schicksale in den Untergründen der Notwen­digkeiten erst dann, wenn man mit solchen Erkenntnisblicken schaut, die im Erkennen durch die aufleuchtenden Blitze ersterben und sich wie zu erstorbenen Formen umbilden, die dann fortleben als die Schicksalsimpulse des Lebens. Und alles das, was eine wahre Selbst­erkenntnis in sich findet - nicht jene Selbsterkenntnis, von der auf theo­sophischem Felde so viel geschwatzt wird, sondern jene hochernste Selbsterkenntnis, die sich im Verlaufe des okkulten Lebens eben er­gibt -, alles, was die Seele in sich selber erblickt mit allen Unvoll­kommenheiten, die sich die Seele zuschreibt, es wird gehört zur Weltenmitternacht wie verwoben in hinrollendem Weltendonner, der in den Untergründen des Daseins verrollt.

Das alles können Erlebnisse sein, die mit einer großen Tragik

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und mit einem heiligen Ernste ablaufen als das Erwachen gegenüber der Weltenmitternacht zwischen Tod und einer neuen Geburt. Wenn die Seele reif sein soll, ein Bewußtsein davon eintreten zu lassen in die physische Sinneswelt, dann muß das in jener Abgeklärtheit der Meditationsstimmung geschehen, die angedeutet worden ist mit den Worten der Maria im Beginne des neunten Bildes. Dann aber muß vorangegangen sein für diese Seele dasjenige, was diese Seele inner­halb ihres Geisteslebens empfunden hat, wie wenn etwas von ihr selber, etwas, was innig zu ihr selber gehört, was sich nur nicht immer in dem, was man so sein Selbst nennt, aufgehalten hat, herangekom­men wäre aus den Weltenweiten. Die Stimmung, in der etwas wie ein Stück des eigenen Seibstes in der Geisteswelt, aber wie aus Weiten, herankommt, wurde versucht wiederzugeben in den Worten, die Maria im Geistgebiete spricht:

Die Flammen nahn, - sie nahn mit meinem Denken -

Von meinem Welten-Seelen-Ufer dort;

Es naht ein heißer Kampf; - mein eignes Denken, -

Es kämpft mit Luzifers Gedanken;

In andrer Seele kämpft mein eignes Denken, - -

Es zieht das heiße Licht - aus finstrer Kälte, -

Wie Blitze flammt - das heiße Seelenlicht, - -

Das Seelenlicht - im Welten-Eis-Gefilde -.

Die Erinnerung an das, was erlebt wird und sich ausdrücken läßt in solchen Worten, kann wiedergegeben werden in den an­gedeuteten Worten der Maria im Beginne des neunten Bildes. Das aber, was die Seele erleben muß, um eine solche Erinnerung an Weltenmitternacht zu haben, das muß auch im Erdenieben liegen, und zwar so, daß die Menschenseele Erlebnisse durchgemacht hat, welche ihr zum Erleben gebracht haben Stimmungen innerer Tragik, inneren Ernstes, innerer Furchtbarkeit, die sich nur ausdrücken lassen mit solchen Worten, wie sie am Ende des vierten Bildes Maria in den Mund gelegt werden. Da muß man gefühlt haben, wie sich das eigene Selbst entreißt demjenigen, was man gewöhnlich das Innen-leben nennt; wie sich das Denken, mit dem man sich so vertrauensvoll

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im Leben verbunden fühlt, herausreißt aus dem Inneren, wie es in ferne, ferne Weiten des Blickfeldes geht. Und man muß in sich gefunden haben als lebendige Seelengegenwart das, was in solchen Worten zum Ausdruck kommt, die natürlich dem äußeren Sinnes-erfassen und dem an das physische Gehirn gebundenen Verstand wie ein kompletter Unsinn, wie eine Fülle von Widersprüchen erscheint. Man muß erlebt haben erst diese Stimmung des Fortgehens des eige­nen Selbstes, des eigenen Denkens von dem Innensein, wenn man in vollständiger Ruhe die Erinnerung an Weltenmitternacht erleben will. Dem Erinnern im Erdenieben muß vorangegangen sein das Erleben der Weltenmitternacht im geistigen Leben, wenn so etwas eintreten soll, wie es im neunten Bilde zum Ausdruck kommen will. Aber daß das möglich ist, dazu muß wiederum die Seelenstimmung vor­angegangen sein, die sich ausdrückt am Ende des vierten Bildes. Die Flammen fliehen wahrhaftig; sie kommen nicht früher in das Erden-bewußtsein herein, sie nahen nicht früher dem Ruhen in der Medi­tation, bevor sie erst geflohen sind, bevor eine Wahrheit diese Seelen-stimmung gewesen ist:

Die Flammen fliehn, - sie ffiehn mit meinem Denken;

Und dort am fernen Welten-Seelen-Ufer

Ein wilder Kampf, - es kämpft mein eignes Denken -

Am Strom des Nichts - mit kaltem Geisteslicht. -

Es wankt mein Denken; - kaltes Licht, - es schlägt

Aus meinem Denken heiße Finsternis. - - -

Was taucht jetzt aus der finstren Hitze auf? - -

In roten Flammen stürmt mein Selbst - ins Licht; -

Ins kalte Licht - - der Welten-Eis-Gefilde. --

So hängen die Dinge zusammen, und wenn sie so zusammenhängen, dann erkraften sie die inneren Seelenfähigkeiten, so daß das, was erst nur abstrakte Seelenkraft war, geistig leibhaftig vor die Seele hintritt, so daß es zugleich eine besondere Wesenheit ist und zugleich man es selbst hat, wie Astrid und Luna vor Maria hintraten. Und dann tre­ten diese Wesenheiten, die wahrhaftige Wesenheiten sind und die zugleich

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als Seelenkräfte erlebt werden, so hin, daß sie im Verein auf­treten können mit dem Hüter der Schwelle und mit Benedictus, wie das im neunten Bilde zur Darstellung gekommen ist. Aber das We­sentliche ist, daß man die Stimmung dieses Bildes verspürt, indem in ganz anderer, individueller Weise, so daß die innere Seelenkraft, welcher die andere Philia entspricht, leibhaftig wird, das Erwachen, die Erinnerung an Weltenmitternacht und an die ägyptische Vorzeit bei Johannes Thomasius geschieht. Für die gerade so gestimmte Seele, wie sie in Johannes Thomasius vorhanden ist, hat das Wort der anderen Philia seine Bedeutung:

Verzaubertes Weben des eigenen Wesens -

mit all dem, was daran hängt im Verlauf des Mysteriendramas. Da­durch, daß das so ist, treten gerade in einer solchen Weise herein der Geist von Johannes' Jugend, Benedictus und Luzifer, wie sie dar­gestellt werden gegen das Ende des zehnten Bildes. Es ist wichtig, daß gerade für dieses Bild ins Seelenauge gefaßt wird, wie da Luzifer herantritt an Johannes Thomasius und dieselben Worte fallen, die in « Der Hüter der Schwelle» am Ende des dritten Bildes gefallen sind. In diesen Worten zeigt sich, wie durch alle Welten und Mensch­heitsleben hindurchgeht der Kampf des Luzifer, hindurchgeht aber auch die Stimmung, die den Worten des Luzifer entgegentönt aus den Worten des Benedictus. Man versuche einmal zu erfühlen, was in diesen Worten liegt, die von Luzifer ertönen sowohl in «Der Hüter der Schwelle» am Ende des dritten Bildes wie am Ende des zehnten Bildes von «Der Seelen Erwachen»:

Ich werde kämpfen.

Benedictus: Und kämpfend Göttern dienen.

Man fasse bei dieser Gelegenheit etwas anderes ganz besonders ins Auge; man fasse ins Auge, daß dieselben Worte an diesen zwei Orten gesprochen werden, daß sie aber gesprochen werden können, indem sie zugleich an diesen beiden Orten etwas ganz verschiedenes bedeuten. Das, was sie am Ende des zehnten Bildes von « Der Seelen Erwachen» bedeuten, wird dadurch bedingt, daß die vorangehenden

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Worte der Maria Verwandiungsworte von anderen Worten gewesen sind, welche in « Der Hüter der Schwelle» gesprochen werden, daß in der Seele der Maria das lebt, was von ihr vorher gesprochen wird:

Maria, so wie du sie schauen wolltest,

Ist sie in Welten nicht, wo Wahrheit leuchtet.

Mein heilig ernst Gelöbnis strahlet Kraft,

Die dir erhalten soll, was du errungen.

Jetzt sagt sie:

Du findest mich in hellen Lichtgefilden,

sie sagt nicht mehr:

Du findest mich in kalten Eisgefilden,

sondern:

Du findest mich in hellen Lichtgefilden,

Wo Schönheit strahlend Lebenskräfte schafft;

In Weltengründen suche mich, wo Seelen

Das Götterfühlen sich erkämpfen wollen

Durch Liebe, die im All das Selbst erschaut.

Die Worte sind anders gewendet als im zweiten Bild von « Der Seelen Erwachen». Dadurch wird das, was als Gespräch zwischen Luzifer und Benedictus am Ende dieses zehnten Bildes in « Der Seelen Er­wachen» erscheint: « Ich werde kämpfen» - « Und kämpfend Göttern dienen», etwas ganz anderes, als es war am Ende des dritten Bildes in «Der Hüter der Schwelle». Damit ist Licht geworfen auf etwas, was gleichsam als ein ahrimanischer Einschlag waltet gerade in allem ver­standesmäßigen Denken, in der ganzen verstandesmäßigen Kultur der Gegenwart.

Zu dem schwersten für dieses äußere Verstandesmäßige in der Kul­tur der Gegenwart gehört es bei den Menschen, daß sie einsehen, daß dieselben Worte in verschiedenen Zusammenhängen Verschiedenes ausdrücken. Unsere Gegenwartskultur ist so geartet, daß die Menschen

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meinen, wenn sie Worte haben, dann müsse aus diesen Worten, insofern sie auf dem physischen Plan geprägt sind, immer das gleiche folgen. Hier hat man zugleich die Stelle, wo Ahriman den Menschen der Gegenwart am intensivsten im Nacken sitzt, wo er sie verhindert zu begreifen, daß die Worte erst lebendig werden in ihrer tiefen We­senheit, wenn man sie in dem Zusammenhang erschaut, in dem sie darinstehen. Nichts, was über den physischen Plan hinausreicht, kann man verstehen, wenn man diese okkulte Tatsache nicht ins Auge faßt. Ganz besonders wichtig ist es für unsere Gegenwart, daß eine solche okkulte Tatsache als ein Gegengewicht gegen die äußere Verstandes-kultur, die alle Menschen ergriffen hat, auf die Seelen, auf die Herzen wirken kann.

Beachten Sie unter dem Mancherlei, was für diese Mysteriendramen in Betracht kommt, wie die eigenartige Gestalt des Ahriman gerade in «Der Seelen Erwachen» zuerst leise heranschleicht, wie sie sozu­sagen wie zwischen den Persönlichkeiten hindurchgehend sich zeigt, wie sie immer mehr und mehr Bedeutung gewinnt gegen das Ende von «Der Seelen Erwachen». Ich werde auch versuchen, solche Dinge, wie sie für die Gestaltung des Ahriman und des Luzifer und für manches andere in Betracht kommen, in einer besonderen Schrift dar­zulegen, die noch innerhalb dieses Vortragszyklus, womöglich bis Mitte der Woche, in Ihre Hand gelangen kann und die da heißen wird «Die Schwelle der geistigen Welt», weil es mir besonders not­wendig erscheint, daß für unsere Freunde in dieser Zeit über man­cherlei Gebiete Licht kommt. Man kommt nicht so leicht ins klare über solche Gestalten, wie sie Luzifer und Ahriman sind. Insbeson­dere kann vielleicht für manchen nützlich sein, gerade in « Der Seelen Erwachen» ein wenig acht zu geben darauf, daß derjenige, der sich nicht so ganz unklar ist über das Ahrimanische in der Welt, man­ches denken kann, was vielleicht ein anderer aus unbewußten ahrimanischen Impulsen heraus auch denkt, aber in einer anderen Stim­mung denkt. Vielleicht wird es doch manche Seele unter Ihnen geben, welche nachfühlen kann all die Verhältnisse, die einströmen in solche Worte, wie sie bei Ahriman zum Ausdruck kommen, solange er so­zusagen noch zwischen den Personen hinschleicht:

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So laß von ihm dich nicht noch ganz verwirren.

Er hütet treulich ja die Schwelle doch,

Wenn er sich auch der Kleider jetzt bedient,

Die du erst selbst aus alten Schauerstücken

In deinem Geist zusammen dir geflickt.

Als Künstler solltest du ihn allerdings

Im schlechten Dramenstile nicht gestalten.

Das wirst du aber später besser machen.

Doch dient der Seele selbst das Zerrbild noch.

Es braucht auch nicht zu viel an Kräftedruck,

Um dir zu weisen, was es jetzt noch ist.

Du solltest merken, wie der Hüter spricht:

Elegisch ist sein Ton, zuviel an Pathos. -

Erlaub ihm dieses nicht, dann zeigt er dir,

Von wem er heute noch zuviel entlehnt.

Ich kann mir vorstellen, daß mancher auch von diesem oder jenem ästhetischen Standpunkt aus Tadelnswertes findet an der ganzen Art, wie diese Mysteriendramen vor uns stehen. Auch diese Einwände unter mancherlei anderen Einwänden gegen die Anthroposophie, sie erledigen sich für denjenigen, der sich in die Stimmung des Ahriman hineinzuversetzen vermag. Die überklugen Leute der Gegenwart, wel­che die Anthroposophie abkanzeln, gehören durchaus zu jenem Volk, von dem der Dichter sagt: Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte. - Aber diese Gegner der Anthro­posophie können ein wenig beurteilt werden durch das, was hier Ahriman während seines Herumschleichens sagt.

Dann tritt Ahriman uns aber in seiner ernsteren Gestalt entgegen, da, wo der Tod des Strader nach und nach hereinspielt in das Geschehen, das im Mysteriendrama dargestellt ist, so hereinspielt, daß die Kräfte, die von diesem Tode ausgehen, gesucht werden sollten für den Seelenblick in ihrer Wirksamkeit in alledem, was sonst in «Der Seelen Erwachen» geschieht. Und immer wieder muß gesagt werden, daß dieses Erwachen in verschiedener Weise geschieht. Für Maria geschieht es dadurch, daß durch besondere Dinge jene Seelenkräfte,

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die ihren leibhaftigen geistigen Ausdruck finden in Luna und Astrid, vor Marias Seele hintreten. Für Johannes Thomasius geschieht es dadurch, daß in ihm ein Erlebnis wird das verzauberte Weben des inneren Wesens, wie es greifbar geistig - wenn der absurde Aus­druck gebraucht werden darf - in der anderen Philia vor ihn hin-tritt; und wiederum in anderer Weise für Capesius durch Philia. Aber noch in viel anderer Form kann nach und nach das Erwachen her­aufdämmern in den Seelen. So sehen wir es im elften Bilde herauf­dammern für die Seele des Strader. Da haben wir nicht die - wie schon gesagt - greifbar geistigen Seelenkräfte Luna, Philia, Astrid und die andere Philia, da haben wir noch die imaginativen Bilder, die hereinstrahien die geistigen Ereignisse in das physische Bewußt-sein. Jene Stufe des Erwachens der Seele, die so eintreten kann in Strader, sie kann nur dadurch dargestellt werden, daß eine solche imaginative Erkenntnis wie das Bild von dem Schiff im elften Bilde zur Darstellung gebracht wird.

Und in noch anderer Form kann sich allmählich das Erwachen der Seele vorbereiten. Das wieder finden Sie - und jetzt, wohl gedacht, nachdem Ahriman vorgeführt worden ist im zwölften Bilde in seiner tieferen Bedeutung - angedeutet im dreizehnten Bilde im Gespräch zwischen Hilarlus und Romanus. Da ist der Seelenblick zu wenden auf das, was vorgegangen ist in der Seele des Hilarlus von den Geschehnissen an in «Der Hüter der Schwelle» bis zu denen in «Der Seelen Erwachen» und was sich ausdrückt in den Worten des Hila­rius:

Habt Dank, mein Freund, für diese Mystenworte.

Ich habe sie schon oft gehört; jetzt erst

Erfühle ich, was sie geheim enthalten.

Der Welten Wege sind nur schwer ergründlich.

Und mir, mein lieber Freund, geziemt zu warten,

Bis mir der Geist die Richtung zeigen will,

Die meinem Schauen angemessen ist.

Was sagt Romanus für Worte? Er sagt die Worte, die Hilarius immer wieder und wiederum hören konnte von dem Platz aus, an dem

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im Tempel Romanus steht, die Romanus oft und oft an diesem Platz gesprochen hatte, die vor dem Seelenblick des Hilarius bis zu diesem Erlebnis vorbeigegangen waren ohne jenes tiefere Verständnis, das man Lebensverständnis nennen kann. Das ist auch schon ein Stück Er­wachen der Seele, wenn man sich durchgerungen hat zum Verständ­nis dessen, was man in Gedankenform aufgenommen, recht gut ver­standen haben kann, vielleicht sogar Vorträge darüber halten kann, und was man doch nicht in lebendigem Lebensverständnis hat. Man kann alles das, was in der Anthroposophie verkündet wird, was Bücher, Vorträge und Zyklen enthalten, in sich aufgenommen haben, kann es sogar anderen mitteilen, vielleicht zum großen Nutzen der­selben mitteilen, und kann doch darauf kommen: So verstehen, wie Hilarius die Worte des Romanus versteht, kann man sie erst nach einem gewissen Erlebnis, auf das man in Ruhe bis zu einem bestimm­ten Grade des Erwachens in der Seele warten muß.

Oh, könnte ein großer Teil unserer Freunde in die Stimmung des Erwartens sich hineinversetzen, in diese Stimmung des Erwartens eines Herankommens von etwas, was vielleicht nur seine scheinbar recht klare, aber doch noch unverstandene Vorherverkündigung in den Theorien und Auseinandersetzungen enthält, dann würde in die­sen Seelen auch etwas Platz greifen können von dem, was zum Aus­druck gekommen ist im dritten Bilde von «Der Seelen Erwachen» in den Worten Straders: da, wo Strader steht zwischen Felix Balde und Capesius, wo er in einer eigentümlichen Weise steht zwischen beiden, wo er so steht, daß ihm wortwörtlich das alles bekannt ist, was diese sagen, daß er es aber jetzt, trotzdem er es sich selbst hätte wiederholen können, nicht begreiflich finden kann. Er weiß es, kann es sogar für Weisheit halten, aber er merkt jetzt, daß es so etwas gibt, was man ausdrücken kann mit den Worten:

Capesius und Vater Felix, beide...

Verbergen dunklen Sinn in klaren Worten.

Unsere überklugen Leute der Gegenwart werden wohl manchmal zu­geben, daß es dem oder jenem Menschen passieren kann, Sinn, klaren Sinn in dunklen Worten zu verbergen; aber das wird nicht leicht

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jemand von den ganz gescheiten Leuten der Gegenwart zugeben, daß in klaren Worten ein dunkler Sinn verborgen sein könnte. Dennoch ist dieses Zugeben, daß in klaren Worten ein dunkler Sinn verborgen sein könnte, das Höhere in der Menschennatur. Klar sind viele Wis­senschaften, sind viele Philosophien. Ein Wichtiges aber wäre gesche­hen in der Weiterentwickelung der Menschheit, wenn Philosophen kommen würden, die das Geständnis ablegen könnten, daß ja von System zu System in den Philosophien gewiß die Leute Klares und immer wieder Klares gebracht haben, so daß man sagen kann: Die Dinge sind klar -, daß aber in klaren Worten ein dunkler Sinn sein kann. Ein Wichtiges wäre geschehen, würden viele lernen, die sich übergescheit dünken, die das, was sie wissen, in gewissen Grenzen berechtigterweise für Weisheit halten, sich so hinzustellen vor die Welt, wie sich Strader hinstellt neben Vater Felix und Capesius, und sagten:

Begreiflich fand ich oft, - was ihr jetzt sprecht -;

Ich hielt es dann für Weisheit; - doch kein Wort

In euren Reden ist mirje~t verständlich.

Capesius und Vater Felix, beide...

Verbergen dunklen Sinn in klaren Worten...

Nun denken Sie sich einmal einen Philosophen der Gegenwart oder der Vergangenheit, der eine nach seiner Art plausible, klare Philo­sophie zustande gebracht hat, und der sich neben diese seine Philo­sophie hinstellt, die doch in gewissem Sinn das Ergebnis des Mensch­heitsdenkens ist, und sagen würde: Begreiflich fand ich oft, was ich da geschrieben habe, ich hielt es dann für Weisheit; doch kein Wort davon ist mir jetzt verständlich in diesen Reden; sogar in denen, die ich selber geschrieben habe, ist mir jetzt manches unverständ­lich; diese Reden verbergen dunklen Sinn in klaren Worten. - Nicht wahr, nian kann sich nicht leicht einen Philosophen der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit mit einem solchen Geständnis den­ken, auch nicht einen der überklugen Menschen in unserer materiali­stischen oder, wie man nobler sagt, monistischen Zeit. Und dennoch wäre es ein Segen für unsere Gegenwartskultur, wenn die Menschen

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sich gegenüber dem Gedanken und sonstigen Kulturleistungen so hinstellen könnten, wie hier Strader sich hinstellt neben Vater Felix und Capesius; wenn diese Menschen immer zahlreicher und zahl­reicher würden, und wenn wahrhaftig die Anthroposophie etwas bei­tragen könnte gerade zu dieser Selbsterkenntnis.

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ZWEITER VORTRAG München, 25. August 1913

Sie werden gesehen haben, daß die Erlebnisse der Seelen, welche in « Der Seelen Erwachen» dargestellt sind, sich an dem Grenzgebiet zwischen der Sinneswelt und den übersinnlichen, den geistigen Wel­ten abspielen. Es ist für die Geisteswissenschaft von ganz besonderer Bedeutung, dieses Grenzgebiet in das Seelenauge zu fassen, denn es ist naturgemäß, daß zunächst alles das, was die menschliche Seele in der geistigen, in der übersinniichen Welt erleben kann, gewisser­maßen ein unbekanntes Land ist für alle Fähigkeiten, für alles seelische Erleben des Menschen in der sinnlich-physischen Welt. Wenn der Mensch nun sich in die geistige Welt einiebt durch die verschie­denen Methoden, die wir kennengelernt haben, das heißt, wenn die Seele lernt, in der geistigen Welt zu erleben, zu beobachten, zu er­fahren außerhalb des physischen Leibes, dann ist zu solchem Leben, zu solchem Erfühlen in der geistigen Welt notwendig, daß die Seele ganz besondere Fähigkeiten, ganz besondere Kräfte heranbilde. Wenn die Seele das hellsichtige Bewußtsein innerhalb des Erdendaseins an­strebt, so ist es natürlich, daß die hellsichtig gewordene Seele oder hellsichtig werden wollende Seele sich in der geistigen Welt aufhalten kann außerhalb ihres Leibes und auch wiederum zurückkehren kann in den physischen Leib - das muß sie ja als Erdenmensch -, also wiederum so leben kann, wie der Mensch als Sinneswesen normal innerhalb der Sinneswelt nun einmal als Erdenmensch leben muß.

Man kann also sagen: Die hellsichtig gewordene Seele muß sich gesetzmäßig bewegen können in der geistigen Welt und muß immer wieder und wiederum die Grenze überschreiten können in die phy­sisch-sinniiche Welt herein und sich da, wenn ich mich trivial aus­drücken darf, in der richtigen, sachgemäßen Weise benehmen kön­nen. - Da die Fähigkeiten der Seele andere sein müssen für die geistige Welt und andere sind, wenn sich diese Seele bedient der physischen Sinne und des ganzen übrigen physischen Leibes, so muß die Seele in einem gewissen Maße die Beweglichkeit erobern, wenn sie hellsichtig

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werden will, sich in der geistigen Welt zu erfühlen, zu er-leben mit den dazugehörigen Fähigkeiten, und dann, wenn sie die Grenze überschreitet, wiederum mit den entsprechenden Fähigkeiten die Sinneswelt erleben können. Diese Fähigkeit, diese Beweglichkeit, diese Verwandlungsfähigkeit sich anzueignen, ist nun keinesfalls so ganz besonders leicht; aber es muß für eine richtige Abschätzung des Unterschiedes der geistigen von der physisch-sinnlichen Welt gerade dieses Grenzgebiet zwischen den beiden Welten scharf ins Seelenauge gefaßt werden, die Schwelle selbst genau ins Auge gefaßt werden, über welche die Seele treten muß, wenn sie aus der physisch-sinn­lichen Welt in die geistige Welt eindringen will. Denn wir werden es in der mannigfaltigsten Weise sehen im Verlaufe dieses Vortragszyklus: Es kann der Seele nur von Nachteil sein, die Gepflogenheiten der einen Welt in die andere hineinzutragen, wenn sie die Schwelle nach der einen oder anderen Richtung überschreiten muß.

Besonders schwierig wird sozusagen das Verhalten beim Übergang über diese Schwelle dadurch, daß innerhalb unserer Weltenordnung diejenigen Wesenheiten vorhanden sind, die in den dargestellten Er­lebnissen von «Der Seelen Erwachen» und den anderen Dramen eine gewisse Rolle spielen, Wesenheiten, die wir als luziferische und ahri­manische Wesenheiten bezeichnen können. Denn um das angedeutete richtige Verhältnis vom Übergang von der einen in die andere Welt zu gewinnen, ist es notwendig, daß man sich zu diesen beiden Arten von Wesenheiten, zu den luziferischen und ahrimanischen, in der richtigen Art zu verhalten weiß. Nun wäre es zunächst am bequem­sten - und dieses bequeme Auskunftsmittel wählen für sich, wenig­stens theoretisch, recht viele Seelen -, daß man sagen würde: Nun ja, Ahriman scheint ein gefährlicher Geselle zu sein, und wenn er seinen Einfluß auf die Welt und das menschliche Handeln hat, so ist es das einfachste, man tilgt die Impulse, die von Ahriman kommen, aus der Menschenseele aus. - Es scheint das am bequemsten zu sein, ist aber für die geistige Welt ebenso gescheit, als wenn jemand das Gleichgewicht auf einer Waage dadurch herzustellen versucht, daß er da, wo die Waage herunterdrückt, die Last wegnimmt, um das Gleichgewicht dadurch herzustellen. Diese Wesenheiten, die wir als

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ahrimanische und luziferische bezeichnen, sind da in der Welt, haben ihre Aufgabe innerhalb der Weltenordnung, und man kann sie nicht austilgen. Es handelt sich auch gar nicht um das Austilgen, sondern darum, daß, wie die Lasten auf zwei Waageschalen, sich die ahri­manischen und luziferischen Kräfte in ihren Impulsen auf den Men­schen und die anderen Wesen das Gleichgewicht halten müssen, aus­gleichen müssen. Nicht dadurch führt man die richtige Wirksamkeit einer Kräfte- oder Wesensart herbei, daß man sie wegschafft, sondern dadurch, daß man sich in das richtige Verhältnis zu ihr stellt. Und diese Wesenheiten, die die luziferischen und ahrimanischen sind, sind ganz falsch aufgefaßt, wenn man einfach sagt: Das sind schädliche, sind böse Wesenheiten. - Daß sich diese Wesenheiten in einer gewis­sen Weise auflehnen gegen die allgemeine Weltenordnung, die schon vorgezeichnet war, bevor sie in diese Weltenordnung eingetreten sind, rührt nicht davon her, daß diese Wesenheiten eine schädliche Tätig­keit unter allen Umständen ausüben müssen, sondern davon, daß diese Wesenheiten wie die anderen, die wir als die rechtmäßigen Wesenheiten innerhalb der höheren Welten kennenlernen, ein bestimmtes Gebiet ihres Wirkens im Ganzen der Weltenordnung haben. Und die Auflehnung, das Gegenwirken gegen die Weltenordnung besteht darin, daß sie dieses Gebiet überschreiten, daß sie die Kräfte, die sie auf ihrem rechtmäßigen Gebiet ausüben sollten, über dieses Gebiet hinaus ausüben. Betrachten wir von diesem Gesichts­punkt aus Ahriman oder die ahrimanischen Wesenheiten.

Man kann Ahriman ganz gut charakterisieren, wenn man sagt:

Ahriman ist im weitesten Umkreis der Herr des Todes, der Beherr­scher all der Mächte, welche innerhalb der physisch-sinnlichen Welt dasjenige herbeiführen sollen, was notwendig in dieser physisch-sinn­lichen Welt da sein muß als Vernichtung,als Tod derWesenheiten.-Der Tod innerhalb der Sinneswelt gehört zu den notwendigen Einrichtun­gen, da die Wesenheiten die Sinneswelt überwuchern würden, wenn innerhalb der Sinneswelt nicht Vernichtung und Tod vorhanden wären. Die Aufgabe, diesen Tod in der entsprechenden Weise aus der geistigen Welt heraus gesetzmäßig zu regeln, fiel Ahriman zu; er ist der Herr der Regulierung des Todes. Sein ihm im eminentesten Sinn zukommendes

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Reich ist die mieralische Welt. Die mineralische Welt ist im-met tot; der Tod ist sozusagen ausgegossen über die ganze mine­ralische Welt. Aber so, wie unsere Erdenwelt ist, ist das minera­lische Reich, die mirieralische Gesetzmäßigkeit auch in alle anderen Naturreiche hineinergossen. Die Pflanzen, die Tiere, die Menschen, in­sofern sie den Naturreichen angehören, sind alle durchsetzt von dem Mineralischen, nehmen die mineralischen Stoffe, damit auch die mine­ralischen Kräfte und Gesetzmäßigkeiten auf, und unterliegen den Gesetzen des Mineralreiches, insofern dieses dem Erdenwesen an-gehört. Damit erstreckt sich das, was zum berechtigten Tod gehört, auch in diese höheren Reiche der rechtmäßigen Herrschaft des Ahri-man. In dem, was als äußere Natur uns umgibt, ist Ahriman der rechtmäßige Herr des Todes, und insoferne er dieses ist, ist er nicht als eine böse, sondern als eine durchaus in der allgemeinen Welten-ordnung begründete Macht anzuerkennen. Wir kommen nur in ein richtiges Verhältnis zur Sinneswelt, wenn wir dieser Sinneswelt ent­sprechendes Interesse entgegenbringen, wenn dieses Interesse zur Sinneswelt so geregelt ist, daß wir die Dinge dieser Sinneswelt her­aufkommen sehen, daß wir ihrer nicht so weit begehren, daß wir ein ewiges Dasein für die sinnlichen Formen fordern, sondern daß wir sie entbehren können, wenn sie ihrem natürlichen Tode entgegen­gehen. Sich in der entsprechenden Weise freuen können an den Dingen der Sinneswelt, aber nicht so an ihnen hängen, daß dies den Gesetzen von Vergehen und Tod widersprechen würde: das ist ein rechtmäßiges Verhältnis des Menschen zur Sinneswelt. Und daß das alles so sein kann, daß der Mensch ein richtiges Verhältnis zur Sinneswelt haben kann, zu Entstehen und Vergehen, dazu ist er von den ahrimanischen Mächten durchpulst, dazu sind die ahrimanischen Impulse in ihm.

Aber Ahriman kann sein Gebiet überschreiten; er kann es vor allen Dingen zunächst so überschreiten, daß er sich an das menschliche Denken heranmacht. Der Mensch, der nicht in die geistige Welt hin­einblickt und kein Verständnis für sie hat, wird ja nicht glauben, daß Ahriman in ganz realer Weise sich an das menschliche Denken heranmacht. Er macht sich heran! Insoferne dieses menschliche Denken

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in der Sinneswelt lebt, ist es an das Gehirn gebunden, das der Vernichtung verfallen muß nach der allgemeinen Weltenordnung. Da hat Ahriman zu regulieren diesen Gang des menschlichen Gehirns nach der Vernichtung hin. Wenn er nun sein Gebiet überschreitet, dann bekommt er die Tendenz, die Intention, das Denken abzulösen von seinem sterblichen Instrument, dem Gehirn, es zu verselbständi-gen; loszureißen das physische Denken, das Denken, das auf die Sinneswelt gerichtet ist, von dem physischen Gehirn, in dessen Ver­nichtungsstrom dieses Denken sich hineinergießen sollte, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht. Ahriman hat die Tendenz, wenn er den Menschen hineinläßt als physisches Wesen in die Strö­mung des Todes, loszulösen von dieser Vernichtungsströmung das Denken. Das macht er das ganze menschliche Leben hindurch, daß er immer in dieses Denken faßt mit seinen Krallen und den Menschen so bearbeitet, daß das Denken sich losreißen will von der Vernichtung. Weil Ahriman so im menschlichen Denken wirksam ist, und die Men­schen, die an die Sinneswelt gebunden sind, natürlich nur die Wir­kungen der geistigen Wesenheiten verspüren, fühlen die Menschen, die Ahriman in dieser Weise am Kragen hat, den Drang, das Den­ken loszureißen von seinem Eingefügtsein in die große Weltenord­nung. Und das macht die materialistische Stimmung, das macht es, daß die Menschen das Denken nur auf die Sinneswelt anwenden wol­len. Am meisten sind diejenigen Menschen besessen von Ahriman, die an keine geistige Welt glauben wollen, denn Ahriman ist es, der ihr Denken verlockt, verführt, in der Sinneswelt zu bleiben.

Für die menschliche Seelenstimmung hat das zunächst, wenn der Mensch nicht praktischer Okkultist geworden ist, nur die Folge, daß er ein grobklotziger Materialist wird und nichts von der geistigen Welt wissen will. Er ist dazu gerade verlockt von Ahriman, den er nur nicht merkt. Für Ahriman steht die Sache aber so, indem es ihm gelingt, dieses Denken loszureißen von seiner als physisches Denken an das Gehirn gebundenen Grundlage, daß Ahriman mit diesem Denken herausschafft in die physische Welt Schatten und Schemen, und diese dann die physische Welt durchsetzen. Mit diesen Schatten und Schemen will sich Ahriman fortwährend ein besonderes ahrimanisches

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Reich begründen. Immer steht er auf der Lauer, vom mensch­lichen Denken, wenn dieses Denken hineingehen will in den Strom, in den der Mensch geht, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet, so viel loszureißen, als nur irgend geht - zurückzuhalten das Denken und zu bevölkern die physische Welt mit Schatten und Schemen, die gebildet sind aus dem von seinem Mutterboden losgerissenen physi­schen menschlichen Denken. Okkult betrachtet, huschen, schädigend die Weltenordnung, diese Schatten und Schemen herum in der physi­schen Welt. Es sind die Produkte, die Ahriman auf diese Weise, wie geschildert worden ist, zustande bringt. Wir haben die richtige Stim­mung Ahriman gegenüber, wenn wir ihn so schätzen, daß, wenn er seine gesetzmäßigen Impulse in unsere Seelen hereinkommen läßt, wir ein rechtmäßiges Verhältnis zur Sinneswelt haben. Wir müssen aber Wache halten, daß er uns nicht in dieser Weise verlockt, wie es nun angedeutet worden ist. Bequemer ist allerdings die Auskunft, welche die Menschen wählen, die da sagen: Nun, dann tilgen wir alle ahrimanischen Impulse aus unserer Seele. - Mit einem solchen Aus-tilgen wird aber nichts anderes gewonnen, als daß man die andere Waagschale erst recht zum Sinken bringt. Und wem es wirklich gelin­gen würde, durch falsche Theorie die ahrimanischen Impulse aus der Seele auszutilgen, der würde dem luziferischen Impuls verfallen.

Dies zeigt sich ganz besonders dann, wenn die Menschen aus einer gewissen Scheu vor einem richtigen Verhältnis zu den ahrimanischen Gewalten die Sinneswelt verachten, die Freude und das richtige Ver­hältnis zur Sinneswelt in sich austilgen und, um nicht an der Sinnes-weit zu hängen, alles Interesse an der Sinneswelt vertilgen. Dann kommt die falsche Askese. Und diese falsche Askese bietet die stärkste Handhabe zum Eingreifen wiederum der unrichtigen luziferischen Im­pulse. Man könnte geradezu die Geschichte der Askese so schreiben, daß man sie als fortwährende Verlockung von seiten Luzifers dar­stellen würde. Da setzt sich der Mensch in der falschen Askese den Verlockungen Luzifers aus, weil er, statt die Waagschale ins Gleich­gewicht zu versetzen, die Kräfte als polarisch zu verwenden, die eine Seite ganz austilgt. So hat Ahriman seine volle Berechtigung für alle richtige Schätzung des Menschen gegenüber der physisch-sinnlichen

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Welt. Das mineralische Reich ist das sozusagen ureigen dem Ahriman zugehörige Reich, das Reich, über das der Tod fortwährend aus­gegossen ist, in den höheren Naturreichen ist Ahriman der Regulie­rer des Todes, insofern er gesetzmäßig in den Gang der Vorgänge und Wesenheiten eingreift. Dasjenige, was wir als Übersinnliches mehr in der Außenwelt verfolgen können, bezeichnen wir aus gewissen Gründen als geistig; das, was mehr seelisch in dem Menschen wirkt, was mehr innerlich im Menschen wirkt, bezeichnen wir als seelisch. Ahriman ist ein mehr geistiges Wesen, Luzifer ein mehr seelisches Wesen. Ahriman ist der Herr sozusagen desjenigen, was abläuft in der äußeren Natur; Luzifer dringt mit seinen Impulsen an das Innere des Menschen heran.

Nun gibt es wiederum eine rechtmäßige, eine ganz im Sinne der allgemeinen Weltenordnung liegende Aufgabe des Luzifer. Diese Auf­gabe des Luzifer ist, den Menschen und alles Seelische in der Welt überhaupt in einer gewissen Beziehung loszureißen von dem bloßen Leben und Aufgehen im Sinnlich-Physischen. Denken Sie sich, wenn es gar keine luziferische Gewalt in der Welt gäbe, dann würde der Mensch hinträumen in dem, was von der Außenwelt als Wahrneh­mungen einströmt, in dem, was von der Außenwelt kommt durch den Verstand. Das wäre eine Art Verträumen des menschlichen und seeli­schen Daseins innerhalb dieser Sinneswelt. Impulse sind aber da, wel­che zwar diese Seelen nicht losreißen wollen von der Sinneswelt, in­soferne sie zeitlich an diese Sinneswelt gebunden sind, die aber die Seelen erheben wollen, so daß die Seelen anderes erleben und erfüh­len und sich erfreuen können als nur an dem, was diese Sinneswelt bieten kann. Wir brauchen nur zu denken an das, was die Menschheit gesucht hat in der künstlerischen Entwickelung. Überall da, wo der Mensch etwas erschafft in seinem Vorstellungs-, Gefühis- und Seelen-leben, was nicht grob hängt an der Sinneswelt, sondern sich erhebt über diese, da ist Luzifer die Macht, die ihn losreißt von der Sinnes­welt. Ein großer Teil dessen, was an Erhebendem, an Befreiendem in der künstlerischen Entwickelung der Menschen lebt, sind Eingebun­gen Luzifers. Noch etwas anderes können wir als Eingebungen Luzi­fers bezeichnen. Der Mensch ist in der Lage, dadurch, daß es luziferische

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Mächte gibt, mit seinem Denken nicht hängen zu bleiben an der bloßen porträtartigen Nachbildung der physisch sinnlichen Welt; er kann im freien Denken sich über diese erheben. Das tut er zum Bei­spiel in seinem Philosophieren. Alles Philosophieren ist von diesem Gesichtspunkt aus eine Eingebung Luzifers. Man könnte geradezu eine Geschichte der philosophischen Entwickelung der Menschheit schreiben, insofern diese nicht reiner Positivismus ist, das heißt, sich nicht hält an das äußerlich Materielle, und man könnte sagen: Die Entwickelungsgeschichte der Philosophie ist ein fortwährendes Auf­zeigen der Inspirationen Luzifers. Denn alles über die Sinneswelt sich erhebende Schaffen wird verdankt den berechtigten Kräften und Tätigkeiten des Luzifer.

Aber nun kann wiederum Luzifer dieses sein Gebiet überschrei­ten. Darauf beruht immer das Auflehnen gegen die Weltenordnung, daß diese Wesenheiten ihr Gebiet überschreiten. Er überschreitet es und hat fortwährend die Tendenz, es zu überschreiten, indem er ver­seucht das Seelisch-Fühlende. Während es Ahriman mehr mit dem Denken zu tun hat, hat es Luzifer mehr mit dem Fühlen, mit dem Affekt-, Leidenschafts-, Trieb-, Begierdeleben zu tun. Alles das, was seelisch fühisam ist in der physisch-sinnlichen Welt, ist das, worüber Luzifer Herr ist. Und er hat die Tendenz, dieses Seelisch-Fühlsame herauszulösen, herauszuschälen aus der physisch-sinnlichen Welt, es zu vergeistigen, und auf einer besonderen, man möchte sagen, isolierten Insel des geistigen Daseins ein luziferisches Reich sich einzurichten mit all dem, was er erhaschen, erbeuten kann an Seelisch-Fühisamem in der Sinneswelt. Während Ahriman das Denken zurückhalten will in der physisch-sinnlichen Welt und es als Schatten und Schemen her­einschafft in die Sinneswelt, so daß es für das elementarische Hell-sehen als herumhuschende Schatten sichtbar ist, macht Luzifer das andere: er nimmt das Seelisch-Fühisame in der physisch-sinnlichen Welt, reißt es heraus und steckt es in ein besonderes luziferisches Reich, das er im Gegensatz zur allgemeinen Weltenordnung ein­richtet wie ein isoliertes Reich, das seiner eigenen Natur ähnlich ist.

Wie Luzifer da an den Menschen herankommen kann, davon kann man sich insbesondere eine Vorstellung machen, wenn man eine Erscheinung

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des Menscheniebens, über die wir auch noch genauer sprechen werden, ins Seelenauge faßt, diejenige Erscheinung, die man als die Liebe im weitesten Sinne bezeichnet und die doch im Grunde genommen die Grundlage des eigentlich sittlich-moralischen Lebens in der menschlichen Weltenordnung ist. Über diese Liebe im weite­sten Sinne muß man das Folgende sagen: Wenn diese Liebe in der physisch-sinnlichen Welt auftritt und wirkt innerhalb des mensch­lichen Lebens, dann ist sie absolut geschützt vor jedem unberechtig­ten luziferischen Eingriff, wenn sie so auftritt, daß der Mensch das Wesen, das er liebt, um dieses Wesens willen liebt. - Nicht wahr, wenn uns irgendein Wesen, ein anderer Mensch oder ein Wesen an­derer Naturreiche in der physisch-sinnlichen Welt entgegentritt, so tritt es uns mit bestimmten Eigenschaften entgegen. Wenn wir eine freie Empfänglichkeit, eine Eindrucksfähigkeit für diese Eigenschaf­ten haben, dann nötigen uns diese die Liebe ab, dann können wir nicht anders, als dieses Wesen lieben. Wir werden durch das Wesen veranlaßt, es zu lieben. Diese Liebe, wo die Ursache der Liebe nicht in dem Liebenden liegt, sondern im geliebten Wesen, das ist die­jenige Art, diejenige Form von Liebe in der Sinneswelt, die absolut gefeit ist vor jedem luziferischen Einfluß. Aber nun können Sie, wenn Sie das menschliche Leben betrachten, bald ersehen, daß auch eine andere Art von Liebe hereinspielt in das menschliche Leben, die­jenige Liebe, wo man lieht, weil man selber gewisse Eigenschaften hat, die sich befriedigt, entzückt, erfreut fühlen, wenn man dieses oder jenes Wesen lieben kann. Man liebt dann um seinetwrnen; man liebt, weil man so oder so geartet ist, und diese besondere Artung ihre Befriedigung fühlt dadurch, daß man das andere Wesen liebt. Sehen Sie, diese Liebe, die man eine egoistische Liebe nennen könnte, muß auch da sein. Sie darf nicht etwa fehlen in der Mensch­heit. Denn alles, was wir in der geistigen Welt lieben können, die geistigen Tatsachen, alles das, was in uns durch Liebe als Sehnsucht, als Drang hinauf in die geistige Welt leben kann, zu umfassen die Wesenheiten der geistigen Welt, die geistige Welt zu erkennen: es entspringt natürlich auch der sinnlichen Liebe zur geistigen Welt. Aber diese Liebe zum Geistigen, die muß, nicht etwa darf, sondern

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muß notwendigerweise um unseretwillen geschehen. Wir sind Wesen, die ihre Wurzeln in der geistigen Welt haben. Es ist unsere Pflicht, uns so vollkommen als möglich zu gestalten. Um unseretwillen müs­sen wir die geistige Welt lieben, daß wir so viel Kräfte als möglich in unsere eigene Wesenheit aus der geistigen Welt hereinbringen. In der geistigen Liebe ist dieses persönliche, individuelle Element, man möchte sagen dieses egoistische Liebeselement, voll berechtigt, denn es entreißt den Menschen der Sinneswelt, es führt ihn hinauf in die geistige Welt, es leitet ihn an, die notwendige Pflicht zu erfüllen, sich immer vollkommener und vollkommener zu machen.

Nun hat Luzifer die Tendenz, diese beiden Welten miteinander zu vermischen. Überall in der Menschenliebe, wo der Mensch in der physisch-sinnlichen Welt liebt mit einem egoistischen Anflug, um sei-netwillen, da geschieht es deshalb, weil Luzifer die sinnliche Liebe der geistigen ähnlich machen will. Dann kann er sie herausreißen aus der Sinneswelt und kann sie in sein besonderes Reich führen. So daß alle Liebe, die eine egoistische Liebe genannt werden kann, die nicht da ist um des Geliebten, sondern um des Liebenden willen, den luziferischen Impulsen ausgesetzt ist. Wenn man das, was eben gesagt worden ist, recht ins Auge faßt, dann kommt man schon dar­auf, daß insbesondere in der Gegenwart, in der materialistischen Kultur der Gegenwart alle Veranlassung vorliegt, auf diese luzife­rischen Verlockungen gegenüber dem Leben in der Liebe hinzu­weisen. Denn ein großer Teil unserer heutigen wissenschaftlichen, insbesondere der medizinischen Literatur und Anschauung, ist durch­setzt von dieser luziferischen Auffassung der Liebe. Man müßte da gewissermaßen etwas heikle Gebiete berühren, wenn man genauer sprechen wollte. Aber das luziferische Element in der Liebe wird geradezu gehätschelt von einer großen Partie unserer medizinischen Wissenschaft, wenn den Männern - insbesondere wird da die Män­nerwelt bevorzugt - immer wieder und wiederum gesagt wird, daß sie ein gewisses Gebiet der Liebe pflegen müssen, weil das zu ihrer Gesundheit, also um ihrer selbst willen notwendig ist. Viele Rat­schläge werden nach solcher Richtung gegeben, wo gewisse Erlebnisse in der Liebe den Männern anempfohien werden nicht um der geliebten

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Wesen willen, sondern weil man im Auge hat: das ist notwen­dig für das männliche Leben. Wenn wir solchen Ausführungen be­gegnen, und wenn sie noch so sehr in dem Gewand der Wissenschaft­lichkeit auftreten, so sind sie nichts anderes als Inspirationen des luziferischen Elementes in der Welt. Und ein großer Teil der Wissen­schaft ist einfach von luziferischen Anschauungen durchsetzt. Und Luzifer findet die besten Rekruten für sein Reich unter den Men­schen, die sich solche Ratschläge geben lassen, die glauben können, daß es für die Förderung der eigenen Person notwendig sei, ge­wisse Formen des Liebeslebens zu pflegen. Derlei Dinge zu wissen, ist durchaus notwendig. Denn immer wieder muß es betont werden, was ich schon gestern sagte: Den Teufel, sowohl in der luziferischen wie in der ahrimanischen Form, spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kragen hätte! - Daß den Menschen, die als materialistische Wissenschafter Ratschläge geben, wie die angedeuteten, der Luzifer dahinten im Nacken sitzt, das merken die Leute nicht. Sie leugnen ihn ja, weil sie alle geistigen Welten leugnen.

So sehen wir, wie auf der einen Seite Großes und Erhabenes, was die Menschheitsentwickelung trägt und hebt, von Luzifer abhängt. Die Menschheit muß verstehen, die Impulse, die von Luzifer kom­men, in den entsprechenden Gebieten zu halten. Überall da, wo Luzi­fer auftritt als der Pfleger des schönen Scheines, als der Pfleger der künstlerischen Impulse, da entsteht aus der luziferischen Tätig­keit Großes und Erhabenes, Gewaltiges in der Menschheit. Aber es gibt auch eine Schattenseite der luziferischen Tätigkeit. Luzifer hat überall das Bestreben, das Seelisch-Fühisame loszureißen von dem Sinnlichen, es zu verseibständigen, es mit Egoismus und Egoität zu durchsetzen. So treten im Seelisch-Fühisamen das Element des Eigen­sinnes und ähnliche Momente auf, so daß der Mensch sich im freien Schaffen allerlei Ideen bildet über die Welt - man möchte sagen auf freie Hand. Wie viele Menschen philosophieren sozusagen aus dem Handgelenk heraus, ohne sich darum zu kümmern, ob sich die Philo­sophiererei einfügt in den allgemeinen notwendigen Gang der Wel­tenordnung. Die philosophierenden Sonderlinge sind wirklich sehr verbreitet in der Welt; sie verlieben sich in ihre Meinungen, sie

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gleichen das luziferische Element nicht durch das ahrimanische aus, das überall fragen muß, ob das, was man innerhalb der physisch-sinnlichen Welt denkend erwirbt, auch in die Gesetze der physisch-sinnlichen Welt hineinpaßt. Und so sieht man diese Leute mit ihren Meinungen, die nichts anderes sind als eine Schwärmerei, die sich nicht der allgemeinen Weltenordnung fügt, durch die Welt laufen. Alle Schwärmereien, alle Verworrenheiten der eigensinnigen Meinungen, alle Sonderlingsmeinungen, alle falschen, schwärmerischen Idealis­men, sie stammen von den Schattenseiten der luziferischen Impulse. Ganz besonders aber tritt uns in der Bedeutung für das Grenz­land oder für die Schwelle zwischen dem Sinnlichen und Über­sinnlichen das luziferische und ahrimanische Element entgegen, wenn man das hellsichtige Bewußtsein ins Auge faßt.

Wenn die Menschenseele das mit sich vorgenommen hat, was sie fähig macht, in die geistige Welt zu schauen, in die geistige Welt Einblicke zu gewinnen, dann muß sie ganz besonders die Aufgabe selbst übernehmen, die sonst von den unterbewußten Regulatoren des Seelenlebens geleistet wird. Daß der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht allzusehr die Gepflogenheiten und Gesetzmäßigkeiten des einen Reiches in das andere hineinträgt, dafür sorgt die allge­meine Naturordnung, denn diese allgemeine Naturordnung käme ganz außer Rand und Band, wenn die Welten durcheinander gewor­fen würden. Wir haben eben betont, daß für die geistige Welt die Liebe sich so entwickeln muß, daß der Mensch vor allen Dingen auf die Durchdringung mit innerer Stärke in bezug auf sein Selbst sich entfalten muß, daß der Mensch den Drang entwickeln muß, sich zu vervollkommnen. Er muß sich selbst im Auge haben, wenn er die Liebe zur geistigen Welt entwickelt. Wenn er diese selbe Art von Antrieben, die ihn in der geistigen Welt zum Erhabensten führen können, ins Sinnliche überträgt, können sie zum Abscheulichsten führen. Es gibt Menschen, die sich im äußeren physischen Erleben, in dem, was sie den ganzen Tag über tun, gar nicht besonders interessieren für die geistige Welt. In unserer Zeit, so sagt man, sollen diese Menschen gar nicht so selten sein. Aber die Natur läßt mit sich keine Vogel-Strauß-Politik treiben. Nicht wahr, diese Vogel-Strauß-Politik

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besteht darin, daß der Vogel den Kopf in den Sand steckt und dann glaubt, die Dinge, die er nicht sieht, seien nicht da. Die materialistisch gesinnten Menschen glauben, die geistige Welt sei nicht da, weil sie sie nicht sehen. Sie sind richtige Vogel-Strauße. Aber in der eigenen Seele, in den Tiefen der eigenen Seele ist deshalb der Drang zur geistigen Welt nicht etwa nicht da, weil die Menschen ihn leugnen, weil sie sich darüber betäuben. Er ist da. In jeder Menschenseele ist ein lebendiger Trieb, eine lebendige Liebe zur geistigen Welt vorhanden, auch in den materialistischen Seelen. Die Menschen machen sich nur seelisch ohnmächtig gegenüber diesem Drang. Nun gibt es ein Gesetz, daß, wenn etwas auf der einen Seite durch Betäubung zurückgedrängt wird, es auf der entgegen­gesetzten Seite herauskommt. Die Folge davon ist, daß der egoi­stische Trieb sich in die sinnlichen Triebe hereinschlägt. Es schlägt aus der geistigen Welt die Art von Liebe, die nur für sie berechtigt ist, in die sinnlichen Triebe, Leidenschaften, Begierden und so weiter hinein, und da werden diese sinnlichen Triebe pervers. Die Perversi­täten der sinnlichen Triebe, alle abscheulichen Abnormitäten der sinn­lichen Triebe sind das Gegenbild von dem, was hohe Tugenden in der geistigen Welt wären, wenn man die Kräfte, die dann in die physische Welt gegossen werden, in der geistigen Welt verwenden würde. Darüber muß man nachdenken, daß dasjenige, was in verab­scheuungswürdigen Trieben in der Sinneswelt zum Ausdruck kommt, wenn es in der geistigen Welt verwendet würde, das Erhabenste in der geistigen Welt leisten könnte. Das ist ungeheuer bedeutsam.

So sehen Sie auch schon auf diesem Gebiete, wie das Erhabene in das Abscheuliche umschlägt, wenn die Grenze zwischen der phy­sisch-sinnlichen und der übersinnlichen Welt nicht in der entsprechen­den Weise beachtet und geschätzt wird. Das hellsichtige Bewußtsein muß sich nun so entwickeln, daß die hellsichtige Seele in den über­sinnlichen Welten gemäß den Gesetzen dieser übersinnlichen Welten, leben kann, daß sie wiederum imstande sein muß, zurückzugehen in das Leben im Leibe, ohne sich in der normal-physisch-sinn­lichen Welt von den Gesetzen der übersinnlichen Welten beirren zu lassen.

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Nehmen wir an, eine Seele könne das nicht, dann kann das Fol­gende eintreten. Wir werden noch sehen, daß die Seele beim Übergang über das Grenzgebiet von der einen Welt in die andere ins­besondere lernt durch die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, sich richtig zu verhalten. Aber nehmen wir an, es hätte eine Seele -es kann das durchaus auch eintreten - sich hellsichtig gemacht, wäre hellsichtig geworden durch irgendwelche Verhältnisse und hätte nicht in ordentlicher Weise die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle durchgemacht. Dann kann eine solche Seele hellsichtig in die über­sinnlichen Welten hineinsehen, auch Wahrnehmungen machen, aber es kann ihr passieren, wenn sie dann zurückgeht in die physisch-sinn­liche Welt, nachdem sie eigentlich nicht in rechtmäßiger Weise in der geistigen Welt war, daß sie «genascht» hat in der geistigen Welt. Solche Näscher der geistigen Welt gibt es zahlreiche, und man darf wahrhaftig sagen, das Naschen in der übersinnlichen Welt ist viel bedenklicher als das Naschen in der physisch-sinnlichen Welt. Man kann also naschen in der geistigen Welt; dann tritt sehr häufig ein, daß man dasjenige, was man dort erlebt hat, herübernimmt in die Sinneswelt; aber dann verdichtet es sich, dann wird es zusammen­gezogen. So daß ein solcher nicht nach den Gesetzen der all-gemeinen Weltenordnung sich verhaltender Hellseher in die physisch-sinnliche Welt zurückkommt und die verdichteten Bilder und Ein-drücke der übersinnlichen Welten mitbringt, aber nicht bloß in der physisch-sinnlichen Welt schaut und denkt, sondern vor sich hat, in­dem er in seinem physischen Leibe lebt, die Nachwirkungen der geistigen Welt in Bildern, die ganz ähnlich den sinnlichen aussehen, nur daß sie keiner Realität entsprechen, daß sie Illusionen, Halluzi­nationen, Träumereien sind.

In der geistigen Welt wird derjenige, der richtig schauen kann, nimmermehr Wirklichkeit mit Phantasterei verwechseln. Da ist es wirklich so, daß sich die Schopenhauersche Philosophie, insoferne sie einen Fehler macht, von selbst widerlegt. Sie widerlegt sich ja auch in der Sinneswelt in bezug auf ihren Hauptfehler, daß alle unsere Um­gebung unsere Vorstellung sei. Wenn man diesen Satz preßt, dann wird er widerlegt, weil man schon durch das Leben angeleitet wird,

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zu unterscheiden zwischen einem heißen Eisen von neunhundert Grad, das eine wirkliche Wahrnehmung ist, und dem vorgestellten Eisen von neunhundert Grad, das nicht weh tut. Wenn man in der wirk­lichen Welt mit den entsprechenden Fähigkeiten lebt, so liefert das Leben schon den Unterschied für die Realität und für die Phanta­sterei. Auch der Kantsche Satz, mit dem Kant an die sogenannten Gottesbeweise herangegangen ist, daß hundert gedachte Taler ebenso­viel wert sind wie hundert wirkliche, wird vom Leben widerlegt. Gewiß, hundert gedachte Taler enthalten ebensoviel Pfennige als hundert wirkliche, aber zwischen beiden gibt es doch einen Unter­schied, der gegenüber dem Leben sehr stark hervortritt. Und ich möchte jedem, der diesen Satz für richtig hält, raten, seine hundert Taler, die er schuldig ist, mit eingebildeten Talern zu bezahlen, dann wird er schon den Unterschied merken. So wie das für die physisch-sinnliche Welt ist, wenn man wirklich darinnen steht und ihre Gesetze beachtet, so ist es auch für die übersinnlichen Welten. Wenn man nur nascht, dann ist man vor dem Verwechseln von Wahn und Wirklichkeit nicht gefeit, dann verdichten sich die Bilder, und man nimmt das, was bloß Bild sein soll, für Realität. Und was man so an Näscherei aus der geistigen Welt in sich trägt, das ist ganz besonders eine Beute, über die sich Ahriman hermachen kann. Aus dem, was er dem gewöhnlichen Menschendenken entnimmt, bekommt er nur luftige Schatten, aber er bekommt, trivial gesprochen, recht fette Schatten und Schemen, wenn er aus den menschlichen Leibes­individualitäten herauspreßt, so gut er es kann, die falschen Wahnes-bilder, die durch das Naschen in der geistigen Welt entstanden sind. Und damit wird auf ahrimanische Weise die physisch-sinnliche Welt mit geistigen Schatten und Schemen, die sehr schlimm der allgemei­nen Weltenordnung widerstreben, durchsetzt.

Da sehen wir also, wie das ahrimanische Prinzip ganz besonders eingreifen kann, wenn es seine Grenzen überschreitet und der all­gemeinen Weltenordnung entgegenwirkt, wie da ganz besonders die­ses ahrimanische Prinzip aus der Verkehrung seiner regelrechten Tätigkeit zum Bösen werden kann. Es gibt kein absolutes Böses. Alles Böse entsteht dadurch, daß etwas, was in irgendeiner Weise

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gut ist, in einer anderen Weise in der Welt verwendet wird; da­durch wird es in das Böse verkehrt. In einer ähnlichen Weise kann das luziferische Prinzip, das zu so Erhabenem, Großartigem den An­laß geben kann, gerade für die hellsichtig gewordene Seele gefähr­lich, bedeutsam gefährlich werden. Und das geschieht im umgekehr­ten Falle. Jetzt haben wir den Fall betrachtet, wenn eine Seele in der geistigen Welt nascht, also darinnen wahrnimmt, und, wenn sie zu­rückkommt in die physisch-sinnliche Welt, nicht sich sagt: Jetzt darfst du dich nicht dieses Vorstellungslebens bedienen, das für die geistige Welt paßt, - dann ist sie in der physisch-sinnlichen Welt dem ahri­manischen Einfluß ausgesetzt. Aber es kann das Umgekehrte statt­finden; es kann die Menschenseele hineintragen in die geistige Welt das, was nur der physisch-sinnlichen Welt angehören soll, und das ist die Empfindungs-, die Gefühis-, die Affektweise, die die Seele not­wendigerweise bis zu einem gewissen Grade in der physisch-sinn­lichen Welt entwickeln muß. Alles das, was an Leidenschaften und so weiter die Seele sich ausbildet in der physisch-sinnlichen Welt, darf nicht hineingetragen werden in die geistige Welt, wenn es nicht in bedeutsamer Weise den Anfechtungen und Verlockungen Luzifers verfallen soll.

Das ist etwas von dem, was darzustellen versucht worden ist in dem neunten Bilde von «Der Seelen Erwachen» in der Gemuts-, in der Seelenverfassung der Maria. Es wäre ganz falsch, wenn jemand an dieser Stelle ein Tumultuarisches, dramatisch-tumultuarisch Regsames verlangen würde, wie man es in einem äußeren physischen Drama hat. Wenn das Gemüt der Maria so wäre, daß es in dem Moment auf­regende Leidenschaften, aufregende Triebe und Affekte erleben könnte bei dem Empfang der Erinnerungen aus der devachanischen Welt und der ägyptischen Zeit, dann würde die Seele der Maria da­durch auf den Wogen der Leidenschaften hin und hergeworfen wer­den. Eine Seele, welche nicht in innerer Ruhe, in absoluter Gelassen­heit, in einem Hinaussein über alles äußere physische Dramatische entgegennehmen kann die Impulse der geistigen Welt, eine solche Seele erleidet in der geistigen Welt ein Schicksal, das ich nur in der folgenden bildhaften Weise bezeichnen kann. Denken Sie sich, ein

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Wesen wäre aus Kaurschuk und es flöge in einem Raum, der von allen Seiten geschlossen wäre, hin und her, flöge nach der einen Wand, würde aber da gleich wiederum zurückgeworfen, flöge nach der anderen Wand, würde wiederum zurückgeworfen, und flöge so hin und her und wäre so in einer tumultuarischen Bewegung auf den Wogen des Leidenschaftslebens. Das tritt tatsächlich ein mit einer Seele, welche die Empfindungsweise, die Gefühls- und Affektweise der sinnlich-physischen Welt hineinträgt in die geistige Welt. Dann tritt aber etwas weiteres ein. Es ist nicht angenehm, so kautschukmäßig hin-und hergeworfen zu werden wie in einem Weltgefängnis. Daher spielt die Seele in einem solchen Falle als hellsichtige Seele ganz be­sonders Vogel-Strauß-Politik; sie betäubt sich nämlich über dieses Hin- und Hergeworfenwerden, sie trübt sich das Bewußtsein, so daß sie nichts davon merkt. Dann glaubt sie, sie werde nicht hin- und her-geworfen. Da kann Luzifer um so mehr heran, weil das Bewußtsein getrübt ist; der lockt die Seele heraus und führt sie hin nach seinem isolierten Reiche. Da kann die Seele dann ihre geistigen Eindrücke empfangen, aber es sind rein luziferische Eindrücke, weil sie in sei­nem Inselreiche empfangen werden.

Weil Selbsterkenntnis da schwierig ist und die Seele über gewisse Eigenschaften außerordentlich schwer zur Klarheit kommt, und weil außerdem die Menschen den Drang haben, möglichst schnell in die geistige Welt hineinzukommen, ist es gar nicht zu verwundern, daß Menschen sich sagen: Ich bin schon reif, ich werde schon meine Leidenschaften beherrschen. - Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Insbesondere gibt es Eigenschaften, wo es mit dem Beherr­schen recht sehr schlimm steht. Eitelkeit, Ehrgeiz und ähnliche Dinge, die sitzen so in den Menschenseelen, daß das Selbstgeständnis: Du bist eitel und ehrgeizig, du hast Machtgelüste! - nicht so leicht ist, und man sich meistens täuscht, wenn man gerade über diese Dinge mit sich zu Rate geht. Aber das sind die schlimmsten Affekte. Trägt man diese in die geistige Welt hinein, dann wird man am allerleich testen eine Beute des Luzifer. Und weil man, wenn man merkt, man werde hin- und hergeworfen, sich nicht gerne sagt: Das kommt vom Ehrgeiz, von der Eitelkeit -, so sucht man eben die Seelentrübnis

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auf; und da entführt einen Luzifer in sein Reich. Dann kann man aller­dings Eindrücke haben, aber sie stimmen nicht mit der Weltenordnung überein, die schon vorgezeichnet worden ist, bevor Luzifer einge-griffen hat, sondern sie sind geistige Eindrücke rein luziferischer Art. Man kann die sonderbarsten Impressionen haben; man wird sie für ab­solut richtige Wahrheiten halten. Man kann den Leuten alle mög­lichen Inkarnationen von diesen oder jenen Wesen erzählen, und es können rein luziferische Eingebungen sein und ähnliche Dinge.

Damit das richtige Verhältnis zustande kommt bei dem Erwachen der Maria, mußte Maria in dem Moment, wo die geistige Welt in solcher Gewalt auf sie hereinbrechen sollte, eben so dargestellt wer­den, daß es im Grunde genommen für einen Menschen, der, sagen wir, so ein niedliches Kritikerchen wäre aus unserer Gegenwart, recht absurd erscheint. Denn so ein niedliches Kritikerchen könnte sagen:

Da hat sich die ägyptische Szene abgespielt, und dann sitzt diese Maria da, wie wenn sie vom Frühstück gekommen wäre, und er­lebt diese Dinge in einer Weise, daß jedes dramatische Leben fehlt. -Und dennoch, alles andere wäre unwahr auf dieser Entwickelungs­stufe. Wahr ist allein jene Gelassenheit auf dieser Entwickelungs stufe, da die Strahlen, das Licht des Geistigen hereinfallen. So sehen wir, daß es von der Seelenstimmung abhängt, die in sich fertig sein muß mit all den Affekten und Leidenschaften, die nur für die phy­sisch-sinnliche Welt Bedeutung haben, wenn die Seele über die Schwelle der geistigen Welt in der richtigen Weise treten soll und nicht in der geistigen Welt die notwendige Konsequenz der geblie­benen sinnlichen Empfindungsweise erleben will.

Ahriman ist ein mehr geistiges Wesen; was er an unrechtmäßiger Tätigkeit, an unrechtmäßiger Schöpfertätigkeit entwickelt, fließt so-zusagen in die allgemeine Sinneswelt hinein. Luzifer ist ein mehr seelisches Wesen; was er an fühisamen Seelenelementen heraus-ziehen will aus der Sinneswelt, will er einverleiben seinem beson­deren luziferischen Reich, in welchem er jedem Menschen - gemäß dem den Wesen eingepflanzten Egoismus - sozusagen die größte Möglichkeit willkürlicher Unabhängigkeit sichern will. Man sieht dar­aus eben, daß es sich bei der Beurteilung von solchen Wesenheiten,

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wie Ahriman und Luzifer, nicht darum handeln kann, sie einfach als gut oder böse zu bezeichnen, sondern darum, aufzufassen, welches die rechtmäßige Tätigkeit, das eigentliche Reich dieser Wesenheiten ist, und wo ihre unrechtmäßige Tätigkeit, wo die Überschreitung ihrer Grenze beginnt. Denn dadurch, daß sie ihre Grenze überschreiten, verlocken sie den Menschen zum unrechtmäßigen Überschreiten der Grenze in die andere Welt hlnein mit den Fähigkeiten und Gesetzen der einen Welt. Von dem Erlebten beim Herüber- und Hinüber­gehen über die Grenze zwischen der physisch-sinnlichen und der übersinnlichen Welt handeln insbesondere die Bilder von «Der Seelen Erwachen». Heute wollte ich den Anfang machen, indem ich einiges von dem schilderte, was beachtet werden muß an dem Grenzgebiet zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt. Morgen wollen wir dann mit dieser Betrachtung weiterfahren.

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DRITTER VORTRAG München, 26. August 1913

Wenn man in einet solchen Weise, wie es hier in diesem Vortrags-zyklus geschleht, über die geistigen Welten spricht, dann ist es not­wendig, daß man beachtet, daß das hellsichtige Bewußtsein, zu dem sich die Menschenseele entwickeln kann, insofern an der Natur und Wesenheit des Menschen nichts ändert, als alles dasjenige, was in dieses Bewußtsein hereintritt, schon vorher in der Menschennatur vorhanden war. Indem man eine Sache erkennt, schafft man sie nicht, sondern man lernt nur wahrnehmen, was als Tatsache schon vorhan­den ist. So selbstverständiich dieses ist, so muß es doch hervor-gehoben werden, weil man einmal den Gedanken darauf hinlenken soll, daß die Wesenheit des Menschen in den verborgenen Unter­gründen des Daseins liegt, und daß sie nur heraufgeholt wird aus diesen verborgenen Untergründen des Daseins durch das hellseheri­sche Erkennen. Daraus folgt nämlich, daß die wirkliche, wahre Wesensnatur des Menschen durch nichts anderes an den Tag treten kann als durch das hellsichtige Bewußtsein. Durch keine Art von Philosophie kann man wissen, was eigentlich der Mensch ist, als nur durch ein solches Wissen, das sich auf das hellsichtige Bewußtsein stützt. Denn für das Beobachten in der Sinneswelt und für den Ver­stand, der an die Sinneswelt gebunden ist, liegt die Wesenheit des Menschen, die wahre, echte Wesenheit des Menschen, in verbor­genen Welten. Wenn nun dieses hellsichtige Bewußtsein, von dessen Gesichtspunkt aus die Welten jenseits der sogenannten Schwelle betrachtet werden sollen, zunächst diese Schwelle überschreitet, dann werden an dasselbe, damit es wahrnehmen, erkennen kann, ganz andere Anforderungen gestellt als in der Sinneswelt. Und das ist die Hauptsache, daß die Menschenseele gewissermaßen sich daran ge­wöhnen muß, daß es nicht nur die Art des Anschauens, des Wahr­nehmens gibt, die für die Sinneswelt die richtige, die gesunde ist.

Ich werde hier die erste Welt, welche des Menschen Seele, wenn sie hellsichtig wird, betritt, nachdem sie über die Schwelle gekommen

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ist, die elementarische Welt nennen. Nur derjenige, welcher die Gepflogenheiten der Sinneswelt auch in die höheren, in die über­sinnlichen Welten hineintragen will, kann verlangen, daß eine gleich­förmige Namengebung für alle Gesichtspunkte gewählt werde, von denen aus die höheren Welten betrachtet werden. Ich werde sowohl am Schlusse dieses Vortragszyklus, wie auch in der Schrift, die in den nächsten Tagen hier aufliegen und den Titel führen wird «Die Schwelle der geistigen Welt», darauf hinweisen, welches Verhältnis besteht zwischen der Namengebung, wie sie hier gewählt wird, zum Beispiel der Bezeichnung «elementarische Welt», und den Bezeich­nungen zu den Schilderungen, die als Seelenwelt, als geistige Welt und so weiter in meiner «Theosophie» und in meiner «Geheimwis­senschaft in Umriß» gegeben werden, damit man nicht in leicht­fertiger Weise da Widersprüche suchen könne, wo in Wirklichkeit keine vorhanden sind. Ganz neue Anforderungen treten an das Seelen­leben heran, wenn es über die Schwelle hinweg die elementarische Welt betritt. Würde die Menschenseele mit den Gepflogenheiten, mit den Gewohnheiten der Sinneswelt in die elementarische Welt ein­treten wollen, so würden zwei Tatsachen eintreten können: entweder es würde sich im Umkreis des Bewußtseins, im Blickekreis, Nebel­haftigkeit oder völlige Verfinsterung ausbreiten, oder aber es würde die andere Tatsache eintreten: die Menschenseele würde, wenn sie un­vorbereitet für die Gepflogenheiten und die Anforderungen der ele­mentarischen Welt in diese eintreten wollte, wiederum zurückgewor­fen werden in die Sinneswelt. Die elementarische Welt ist eine durch­aus andere als die sinnliche Welt. In der sinnlichen Welt ist die Sache so, daß, wenn Sie innerhalb dieser Welt von Wesen zu Wesen, von Vorgang zu Vorgang schreiten, Sie zwar dann diese Wesenheiten, diese Vorgänge vor sich haben, sie betrachten können, daß Sie aber vor jedem Vorgang, vor jeder Wesenheit in der Beobachtung ganz deutlich Ihre in sich geschlossene Wesenheit, Ihr persönliches Sein behalten. Sie wissen in jedem Augenblick, Sie sind derselbe, der Sie gegenüber einem anderen Vorgang, einer anderen Wesenheit gewesen sind, wenn Sie einem Neuen gegenübertreten, und Sie können sich nie­mals verlieren in diesem Vorgang, in dieser Wesenheit. Sie stehen

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ihnen gegenüber, Sie stehen außerhalb derselben und Sie wissen, wo immer Sie auch in der Sinneswelt herumschreiten, daß Sie derselbe bleiben. Das wird sogleich anders, wenn man die elementarische Welt betritt. In der elementarischen Welt ist es notwendig, daß man mit dem ganzen Innenieben seiner Seele einem Wesen, einem Vorgang sich so weit anpaßt, daß man sich mit seinem Seelenleben in dieses Wesen, in diesen Vorgang selbst verwandelt. Anders kann man nichts erkennen in der elementarischen Welt, als wenn man den Wesen so gegenübertritt, daß man innerhalb jedes Wesens ein anderer wird, und zwar in hohem Grade ähnlich wird dem Wesen und dem Vor­gang selber.

Das muß man für die elementarische Welt als eine Eigentümlich­keit seiner Seele haben: Verwandiungsfähigkeit des eigenen Wesens in fremde Wesenheiten. Die Möglichkeit der Metamorphosierung muß man haben. Man muß gleichsam untertauchen können und zu den Wesen selber werden und man muß verlieren können dieses Bewußtsein, das man in der Sinneswelt immer haben muß, wenn man in dieser seelisch gesund bleiben will, das Bewußtsein: du bist der und der. In der elementarischen Welt lernt man ein Wesen nur kennen, wenn man es in gewisser Weise innerlich mit seinem Seelen-leben wird. So muß man schreiten durch die elementarische Welt, wenn man sie betreten hat über die Schwelle hinweg, indem man mit jedem Schritt sich selber verwandelt in jeden einzelnen Vor­gang, in jedes Wesen gleichsam hineinkriecht. Was in der physischen Welt zur Gesundheit der Seele gehört, daß man sich selbst behauptet beim Durchschreiten der Sinneswelt in seiner ureigenen Wesenheit, das ist ganz unmöglich in der elementarischen Welt; das würde dort entweder zur Verfinsterung des Horizontes führen oder einen in die Sinneswelt wiederum zurückwerfen.

Nun können Sie sich leicht vorstellen, daß die Seele noch etwas anderes braucht, um diese Verwandlungsfähigkeit auszuüben, als was sie in der Sinneswelt schon hat. Die Seele des Menschen ist zu schwach, um sich fortwährend zu verwandeln, sich jedem Wesen an­zupassen, wenn sie in derselben Weise hineingeht in die elementari­sche Welt, wie sie in der Sinneswelt ist. Daher müssen die Kräfte

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dieser Menschenseele verstärkt, erhöht werden, und daher sind jene Vorbereitungen notwendig, die beschrieben sind in meiner «Geheim­wissenschaft» und in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», die ja alle dazu führen, daß das Seelenleben in sich stärker, kraftvoller wird. Dann kann die Seele untertauchen in die anderen Wesenheiten, ohne sich selber in diesem Untertauchen zu verlieren. Indem so etwas erwähnt wird, sehen Sie zugleich, wie not­wendig es ist, voll zu beachten dasjenige, was man die Schwelle nennt zwischen der Sinneswelt und den übersinnlichen Welten. Es ist schon gesagt worden, daß das hellsichtige Bewußtsein, solange der Mensch Erdenmensch ist, fortwährend sozusagen hinüber- und her-übergehen muß: daß es außer dem physischen Leib beobachten muß in der geistigen Welt jenseits der Schwelle, dann wiederum zurück­kehren muß in den physischen Leib und in gesunder Weise jene Fähigkeiten ausüben muß, welche zur richtigen Beobachtung der physischen Welt, der Sinneswelt führen.

Nehmen wir einmal an, ein hellsichtig gewordenes Bewußtsein würde jene Verwandiungsfähigkeit, die es haben muß, damit für dieses die geistige Welt überhaupt da ist, herübernehmen in die Sinneswelt, wenn es die Schwelle wiederum überschreitet zurück in diese Sinnes-welt. Diese Verwandiungsfähigkeit, von der ich gesprochen habe, ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Ätherleibes, der vorzugs­weise in der elementarischen Welt lebt. Nehmen wir also an, ein Mensch kehre zurück von der geistigen in die sinnliche Welt und er würde seinen Ätherleib so verwandlungsfähig lassen, wie er ihn ha­ben muß in der elementarischen Welt. Was würde dann eintreten? Jede Welt hat ihre besondere Gesetzmäßigkeit. Die Sinneswelt ist die Welt der abgeschlossenen Formen; die Geister der Form regieren in der Sinneswelt. Die elementarische Welt ist die Welt der Beweglichkeit, die Welt der Metamorphose, der Verwandlung. Wie man sich selber, wenn man sich in der elementarischen Welt erfühlen will, fortwäh­rend verwandeln muß, so verwandeln sich alle Wesen fortwährend in der elementarischen Welt. Es gibt keine geschiossene, keine abge­grenzte Form in der elementarischen Welt; alles ist in fortwährender Metamorphose. Und dieses sich metamorphosierende Dasein muß

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man mitmachen als Seele außerhalb des physischen Leibes, wenn man sich in der elementarischen Welt erleben will. In der physisch-sinnlichen Welt muß man seinen Ätherleib, der als Ätherleib ein Wesen der elementarischen Welt ist und die Verwandiungsfähigkeit hat, untertauchen lassen in den physischen Leib. Durch dieses Phy­sische ist man eine bestimmte Persönlichkeit in der physisch-sinn­lichen Welt; man ist diese oder jene bestimmte Persönlichkeit. Der physische Leib prägt einem die Persönlichkeit auf, der physische Leib und die Verhältnisse in der physisch-sinnlichen Welt, in die man gestellt ist, machen einen zur Persönlichkeit. In der elementarischen Welt ist man nicht eine solche Persönlichkeit, denn Persönlichkeit erfordert Formgeschlossenheit. Aber hier kommt es in Betracht, daß das, was das hellsichtige Bewußtsein erkennt in der menschlichen Seele, immer vorhanden ist. Durch die Kräfte des physischen Leibes wird jene Beweglichkeit des Ätherleibes nur zusammengehalten. So­bald der Ätherleib untertaucht in den physischen Leib, werden seine beweglichen Kräfte zusammengehalten, in die Form hineingepaßt. Und der Ätherleib, wenn er nicht im physischen Leib gleichsam wie in seiner Tüte stecken würde, hätte immer den Trieb zu fortwähren­der Verwandlung.

Nehmen wir nun an, eine hellsichtig gewordene Seele trüge in ihrem Ätherleib diesen Trieb zur Verwandlungsfähigkeit in die physisch-sinnliche Welt herüber. Dann ist dieser Ätherleib mit seiner Tendenz zur Beweglichkeit gleichsam locker im physischen Leib dar­innen, und man gerät dadurch als Menschenseele durch die Kräfte seines Ätherleibes in einen Widerspruch mit den Anforderungen der physischen Welt, die einen zu einer bestimmten Persönlichkeit prägen will, weil der Ätherleib, der sich frei bewegen will, dann, wenn er die Schwelle von der geistigen Welt zur physisch-sinnlichen Welt in unrichtiger Weise zurücküberschreitet, alle Augenblicke etwas ande­res sein will, etwas, was in Widerspruch stehen kann mit der festen Prägung des physischen Leibes. Um es etwas exakter auszudrücken, man kann vermöge des physischen Leibes, sagen wir, ein europäi­scher Bankbeamter sein, aber weil der Ätherleib den Trieb zur Be­freiung vom physischen Leib herübergetragen hat in die physische

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Welt, kann man sich einbilden, man sei der Kaiser von China. Oder, um ein anderes Beispiel zu gebrauchen, kann man, sagen wir, Präsident in der Theosophischen Gesellschaft sein, und, wenn der Ätherleib locker geworden ist, sich einbilden, man sei vor dem Direktor des Globus gestanden. Da sehen wir, wie in der entschieden­sten Weise beachtet werden muß die Schwelle, die sich zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt genau ergibt; wie man die Anfor­derungen einer jeglichen Welt ins Seelenauge fassen muß und wie man sich anpassen muß diesen Anforderungen; wie die Seele anders sich verhalten muß, je nachdem sie jenseits oder diesseits der Schwelle steht. Das hängt also damit zusammen, daß man immer und immer wiederum betont, es dürfen nicht in unrechtmäßiger Weise zurück-getragen werden die Gepflogenheiten der übersinnlichen Welten in die sinnliche Welt, wenn man zurückschreitet über die Schwelle. Wenn ich mich flach auszudrücken mir erlauben darf, so kann ich sagen: Man muß sich in der richtigen Weise in beiden Welten zu benehmen verstehen, man darf nicht das Beobachten, das in der einen Welt richtig ist, in die andere hinübertragen.

Das also ist zunächst zu beachten, daß eine Grundfähigkeit für das Sich-Erleben, für das Sich-Erfühien der Seele in der elementarischen Welt die Verwandlungsfähigkeit ist. Nun aber könnte die mensch­liche Seele niemals dauernd in dieser Eigenschaft der Verwandlungs-fähigkeit leben; der ätherische Leib könnte der elementarischen Weit ebensowenig dauernd angehören im Zustand der Verwandlungs­fähigkeit, wie der Mensch in der physischen Welt fortwährend wachen könnte. In der physischen Welt kann der Mensch auch nur diese wahrnehmen, wenn er wacht; wenn er schiäft, nimmt er sie nicht wahr. Dennoch muß der Mensch den Wachzustand abwechseln las­sen mit dem Schlafzustand. Etwas Ähnliches ist auch für die elemen­tarische Welt notwendig. Ebensowenig wie es für die physische Welt angeht, fortwährend zu wachen, wie das Leben gleichsam im Pen­delschlag in der physischen Welt verlaufen muß zwischen Wachen und Schlafen, so ist etwas Ähnliches auch für das Leben des Äther-leibes in der elementarischen Welt notwendig. Es muß gleichsam ein Gegenpol, eine Gegenwirkung gegen die Verwandlungsfähigkeit, die

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zum Wahrnehmen in der geistigen Welt führt, da sein. Dasjenige, was einen verwandlungsfähig macht für die geistige Welt, das ist das Vorsteilungsleben des Menschen, das ist die Fähigkeit, das Vorstellen, das Denken beweglich zu machen, so daß man durch das beweglich gewordene Denken in die Wesen und Vorgänge untertauchen kann. Für den anderen Zustand, der sich da vergleichen läßt mit dem Schlafe in der Sinneswelt, muß ausgebildet, erkraftet sein das mensch­liche Wollen. Für die Verwandiungsfähigkeit also das Denken oder Vorstellen, für den anderen Zustand das Wollen.

Wir werden uns da verstehen, wenn wir beachten, daß in der sinnlich-physischen Welt der Mensch ein Selbst ist, ein Ich ist. Da­durch, daß der physisch-sinnliche Leib das Nötige dazu tut, sofern der Mensch wacht, fühlt er sich als ein Selbst, als ein Ich. Es sind die Kräfte des physisch-sinnlichen Leibes so, daß dieser ihm die Kräfte liefert, wenn der Mensch in den physisch-sinnlichen Leib unter-taucht, die ihn sich empfinden lassen als ein Selbst, als ein Ich. So ist es nicht in der elementarischen Welt. Da muß der Mensch das, was in der physisch-sinnlichen Welt der physische Leib leistet, selber leisten bis zu einem gewissen Grade. Man kann kein Selbstgefühl entwickeln in der elementarischen Welt, wenn man sein Wollen nicht anstrengt, wenn man sich nicht selber wilL Das erfordert allerdings eine Überwindung der menschlichen Bequemlichkeit, einer Bequem­lichkeit, die ungeheuer tief eingewurzelt ist. Das Sich-selber-Wollen ist notwendig für die elementarische Welt; und ebenso wie Schlafen und Wachen abwechseln in der physisch-sinnlichen Welt, so muß der eine Zustand des Sich in die Wesen Hineinverwandelns in der ele­mentarischen Welt mit diesem im Wollen erstarkten Selbstgefühle abwechseln. Wie man in der physisch-sinnlichen Welt durch die Tagesarbeit müde wird, wie einem da schließlich die Augen zu­fallen, kurz, wie die Übermannung durch den Schlaf eintritt, so kom­men Momente in der elementarischen Welt für den Ätherleib, wo die­ser fühlt: ich kann mich jetzt nicht fortwährend verwandeln, ich muß jetzt alles ausschließen, was an anderen Wesen und Vorgängen da ist. Ich muß das alles aus meinem Blickekreis heraustreiben, ich muß absehen von allen anderen Wesenheiten und Vorgängen und mich,

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mein Selbst, wollen, einmal ganz, ganz in mir leben und nichts wissen von den anderen Wesenheiten und Vorgängen der elementarischen Welt. Das würde entsprechen dem Schlaf der physischen Welt: dieses Wolien seiner selbst mit Ausschluß der anderen Wesenheiten und Vor­gänge.

Nun würde man sich unrichtig vorstellen, wenn man dächte, daß in solcher Weise, gleichsam naturgesetzlich geregelt, die Abwechs­lung von Verwandlungsfählgkeit und erstarktem Ich-Gefühl in der elementarischen Welt vorhanden wäre wie Wachen und Schlafen in der physisch-sinnlichen Welt. Es ist alles für das hellsichtige Be­wußtsein - und für dieses ist es nur wahrnehmbar - willkürlich; nicht daß es von selbst übergeht wie das Wachen in den Schlaf, sondern nachdem man eine mehr oder weniger lange Zeit in der Ver­wandlung gelebt hat, emplindet man das Bedürfnis in sich, nun wie­der zu erleben, zu entfalten gleichsam den anderen Pendelschlag des elementarischen Lebens. So wechselt in einer viel willkürlicheren Weise als wachen und schlafen in der physisch-sinnlichen Welt Ver­wandlungsfähigkeit und in sich leben mit erstarktem Selbstgefühl in der elementarischen Welt. Ja, das Bewußtsein kann es dazu bringen, daß gleichsam durch eine Elastizität dieses Bewußtseins beide Zu­stände unter gewissen Voraussetzungen gleichzeitig vorhanden sind, daß man sich gewissermaßen auf der einen Seite verwandelt und den­noch gewisse Teile seiner Seele zusammenhält und in sich ruht. Man kann, was man in der sinnlich-physischen Welt nicht gerade zum Vorteil des Seelenlebens unternehmen soll, in der elementari­schen Welt zugleich wachen und schlafen. So sehen wir, daß auch in dieser elementarischen Welt ein solcher Pendelschlag des Seelenlebens notwendig ist, wie in der physischen Welt Wachen und Schlafen not­wendig ist.

Man muß ferner berücksichtigen, daß, wenn das Denken sich zur Verwandlungsfähigkeit entwickelt, also sich einlebt in die elemen­tarische Welt, dieses Denken selber, so wie es in der physisch-sinn­lichen Welt gesund und richtig ist, für die elementarische Welt nicht zu brauchen ist. Wie ist denn dieses Denken in der physisch sinnlichen Welt? Verfolgen Sie einmal, wie es ist. Man erlebt in seiner

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Seele Gedanken. Man weiß, daß man innerlich diese Gedanken er­faßt, erzeugt, verbindet, trennt. Man fühit sich innerlich in der Seele Herr dieser Gedanken. Diese Gedanken verhalten sich gleichsam pas­siv, lassen sich verbinden und trennen, lassen sich machen und wieder fortschaffen. Dieses Denkleben, dieses Gedankenleben muß sich in der elementarischen Welt um eine Stufe weiter entwickeln. In der ele­mentarischen Welt ist man nicht in der Lage, solchen passiven Gedan­ken gegenüberzustehen wie in der physisch-sinnlichen Welt. Wenn man sich wirklich mit der hellsichtigen Seele einlebt in die elemen­tarische Welt, dann ist das so, wie wenn die Gedanken nicht Dinge wären, die man beherrscht, sondern die Gedanken werden wie leben­dige Wesen. Stellen Sie sich einmal vor, Ihre Gedanken wären nicht so, daß Sie sie machen und verbinden und trennen, sondern in Ihrem Bewußtsein fingen die Gedanken, jeder derselben, ein Eigenleben an, ein wesenhaftes Leben. Sie steckten gleichsam Ihr Bewußtsein hin­ein in etwas, wo Sie gar nicht die Gedanken so haben können wie in der physisch-sinnlichen Welt, sondern wo die Gedanken leben­dige Wesenheiten sind. Ich kann nicht anders, als ein groteskes Bild gebrauchen; aber dieses Bild kann uns ein wenig aufmerksam machen, wie anders das Denken werden muß in der elementarischen Welt, als es in der physisch-sinnlichen Welt ist. Denken Sie sich, Sie steckten Ihren Kopf in einen Ameisenhaufen, und das Denken hörte au£ Da­für hätten Sie Ameisen statt Ihrer Gedanken im Kopfe. So werden die Gedanken, wenn Sie untertauchen mit Ihrer Seele in die elemen­tarische Welt, daß sie sich selber verbinden und trennen, daß sie ein Eigenleben für sich führen. Nun, wahrhaftig, man braucht eine stär­kere Kraft der Seele, um mit seinem Bewußtsein lebendigen Gedan­kenwesen gegenüberzustehen, als den passiven Gedanken der physi­schen Welt, die mit sich machen lassen, was man will, die sich sogar gefallen lassen, daß sie sich nicht nur gescheit verbinden und tren­nen lassen, sondern auch manchmal recht töricht. Das sind gedul­dige Dinger, diese Gedanken der physisch-sinnlichen Welt; sie las­sen sich von der Seele alles gefallen. Das wird ganz anders, wenn man sozusagen die Seele hineinsteckt in die elementarische Welt. Da leben die Gedanken ihr selbständiges Leben. Da muß man sich aufrecht

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erhalten und behaupten mit seinem Seelenleben, nicht passiven Gedanken gegenüber, sondern einem aktiven, in sich selber regsamen Gedankenleben. Es ist durchaus so, daß man in der physisch-sinn­lichen Welt etwas recht Dummes denken kann; das tut in der Regel nicht weh. In der elementarischen Welt kann es sehr gut vorkom­men, wenn man mit seinem Denken Dummheiten dort macht, daß das, was da als selbständige Wesen herumkriecht, einem recht weh tut, einem recht Schmerzen macht.

So sehen wir, wie durchaus die Gepflogenheiten des Seelenlebens anders werden müssen, wenn man die Schwelle von der physisch-sinnlichen in die übersinnliche Welt überschreitet. Würde man mit den Gepflogenheiten, die man den lebendigen Gedankenwesen der elementarischen Welt entgegenbringt, herüberkommen in die phy­sisch-sinnliche Welt, die Schwelle überschreiten und zurückgehen und würde dann nicht das gesunde Denken mit den passiven Gedan­ken entfalten, sondern festhalten wollen das Verhalten für die elemen­tarische Welt, dann gingen einem die Gedanken fortwährend durch, dann liefe man den Gedanken nach; dann würde man der Sklave seiner Gedanken werden. Wenn man sich mit der hellsichtigen Seele hin­einbegibt in die elementarische Welt und die Verwandiungs£ähigkeit entwickelt, dann also taucht man, in bezug auf das Innenleben, sich verwandelnd unter, je nachdem man diesem oder jenem Wesen ge­genübersteht.

Was erlebt man denn da, wenn man so untertaucht? Sehen Sie, wenn man so untertaucht, wenn man sich in das eine oder andere Wesen verwandelt, dann erlebt man etwas, was man nennen könnte:

Sympathien und Antipathien, welche wie aus den Seelentiefen herauf-fluten und sich als Erlebnisse in der hellsichtig gewordenen Seele ausnehmen. Ganz bestimmte Arten von Antipathien oder Sympa­thien erlebt man, indem man sich in das eine Wesen verwandelt oder in das andere. Indem man so von Verwandlung zu Verwandlung schreitet, erlebt man fortwährend andere Sympathien und Antipathien. Und so, wie man in der physisch-sinnlichen Welt die Wesen, die Dinge charakterisiert, beschreibt, erkennt, überhaupt wahrnimmt, da­durch, daß man sie durch das Auge in Farben sieht, durch das Ohr

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in Tönen hört, so würde man dementsprechend, wenn man innerhalb der geistigen Welten selber beschreiben würde, in bestimmten Sym-pathien und Antipathien beschreiben. Nur ist dabei zu beachten zweierlei: Erstens, wenn man mit den Gewohnheiten der physisch-sinnlichen Welt spricht, so unterscheidet man gewöhnlich nur Grade von Sympathien und Antipathien, stärkere und schwächere Sympa-thien und Antipathien. So ist es nicht in der elementarischen Welt, sondern da sind die Sympathien und Antipathien nicht nur dem Grade nach voneinander verschieden, sondern qualitativ, so daß es verschiedenartige Sympathien und Antipathien gibt. Wie die gelbe und rote Farbe verschiedenartige Farben sind, qualitativ verschieden sind, so sind die mannigfaltigen Sympathien und Antipathien, die man erlebt in der elementarischen Welt, auch qualitativ verschieden, nicht bloß daß die eine stärker und die andere schwächer ist. Daher würde man nicht richtig beschreiben, wenn man, von den Gepflogen­heiten der physisch-sinnlichen Welt ausgehend, sagen würde, beim Untertauchen in das eine Wesen verspürt man größere, beim Unter-tauchen in das andere getingere Sympathie. Nein, verschieden sind die Sympathien!

Das ist das eine, was zu beachten ist. Das andere ist, daß man das Verhalten zu Sympathien und Antipathien, wie es ganz natur­gemäß ist für die physisch-sinnliche Welt, nicht hinübertragen kann in die elementarische Welt. Ja der physisch-sinnlichen Welt fühlt man sich angezogen von Sympathien und abgestoßen von Antipathien; man geht zu Wesenheiten hin, die eineni sympathisch sind, man wil] mit denen zusammen sein; von Wesen und Dingen, die einem anti­pathisch sind, flieht man hinweg, man will mit ihnen nichts zu tun haben. Das kann nicht der Fall sein mit den Sympathien und Anti­pathien der elementarischen Welt, daß einem, wenn ich mich grotesk ausdrücken darf, die Sympathien sympathisch und die Antipathien anti­pathisch sind; das darf nicht eintreten in der elementarischen Welt. Das wäre da gerade so, als wenn in der physisch-sinnlichen Welt etwa jemand sagen würde: Ich kann nur die blauen, grünen Farben leiden, ich mag aber nicht die roten und gelben Farben, vor denen laufe ich, was ich laufen kann. - Daß ein Wesen antipathisch ist in der

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elementarischen Welt, bedeutet, daß es eine bestimmte Eigenschaft dieser elementarischen Welt hat, die man eben als antipathisch be­zeichnen muß. Und man muß sich zu diesem Antipathischen so ver­halten, wie man sich in der sinnlichen Welt gegenüber von Blau und Rot verhält, nicht daß einem das eine sympathischer und das andere antipathischer ist. So wie man in der physisch-sinnlichen Welt allen Farben mit einer gewissen Gelassenheit entgegentritt, weil sie zum Ausdruck bringen, was die Dinge sind, und nur, wenn man ein Ner­vösling ist, vor den einen oder anderen Farben davonläuft, oder, wenn man ein Stier ist, die Farbe nicht leiden kann, so wie man da in der physisch-sinnlichen Welt mit Gelassenheit die Farben hin-nimmt, so muß man die Sympathien und Antipathien in der elemen­tarischen Welt als Eigenschaften dieser Welt in vollständigem Gleich­mut beobachten können. Dazu ist notwendig, daß das Verhalten der Seele, wie es naturgemäß in der physisch-sinnlichen Welt ist, daß dieses Verhalten der Seele, die von Sympathien sich angezogen und von Antipathien abgestoßen fühlt, zu einem ganz anderen wird. Jene Gemütsstimmung, jene Gefühlsverfassung, welche den Sympathien und Antipathien in der physisch-sinnlichen Welt entspricht, muß ab­gelöst werden gegenüber der elementarischen Welt durch das, was man Seelenruhe, Geistesfriedsamkeit nennen könnte. Mit innerlich geschlossenem Seelenleben, mit geistesftiedsamem Seelenleben muß man untertauchen in die Wesenheiten und dann beim Untertauchen, indem man sich in sie verwandelt, herauftauchen fühien aus den eigenen Seelentiefen die Eigenschaften dieser Wesen als Sympathien und Antipathien. Dann erst, wenn man dieses alles kann, wenn sich die Seele so verhalten kann zu Sympathien und Antipathien, ist diese Seele fähig, in ihren Erlebnissen das Sich-sympathisch- oder -antipa­thisch-Erleben, -Erfühlen in den Dingen der elementarischen Welt bildhaft richtig vor sich hintreten zu lassen. Das heißt: dann erst ist man imstande, nicht bloß dasjenige zu fühlen, was eben das Erfühien in Sympathien und Antipathien ist, sondern wirklich das Erleben seiner selbst, verwandelt in ein anderes Wesen, aufschießen zu sehen als dieses oder jenes farbige Bild oder dieses oder jenes Tonbild der elementatischen Welt. Wie Sympathien oder Antipathien in bezug auf

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das Erleben der Seele in der geistigen Welt eine Rolle spielen, kön­nen Sie auch gewahr werden, wenn Sie mit einem gewissen inneren Verständnis das Kapitel in meiner «Theosophie» verfolgen, das von der Seelenwelt handelt. Da werden Sie sehen, daß die Seelenwelt gerade aus den Sympathien und Antipathien aufgebaut ist.

Aus meiner Darstellung haben Sie ersehen können, daß das, was einem bekannt ist in der physisch-sinnlichen Welt als das Denken, eigentlich nur der äußere, durch den physischen Leib hervorgerufene schattenhafte Abdruck ist desjenigen Denkens, das in den okkulten Untergründen ruht und das eigentlich Lebewesenheit genannt wer­den kann. Sobald wir mit unserem ätherischen Leib in der elemen­tarischen Welt uns bewegen, werden die Gedanken, ich möchte sagen dichter, lebendiger, selbständiger, wahrer in ihrer Wesenheit. Was man innerhalb des physisch-sinnlichen Leibes als Denken erlebt, ver­hält sich zu diesem wahreren Element des Denkens wie ein Schatten­bild an der Wand zu den Gegenständen, von denen es geworfen wird. Es ist in der Tat der Schatten des elementarischen Gedanken-lebens, der hereingeworfen wird in die physisch-sinnliche Welt durch die Einrichtung des physischen Leibes. Wir denken gleichsam in den Gedankenwesensschatten, wenn wir in der physisch-sinnlichen Welt denken. Da eröffnet das übersinnliche, das hellsichtige Erkennen einen Ausblick in die wahre Natur des Denkens. Keine Phliosophie, keine äußere Wissenschaft, wenn sie noch so geistreich auftritt, kann über diese wahre Natur des Denkens irgend etwas Richtiges erkunden; allein die Erkenntnis, die auf dem hellsichtigen Bewußtsein beruht, kann etwas Richtiges erkennen.

Ebenso ist es auch mit dem Wollen. Das Wollen muß erstarken, weil man es in der elementarischen Welt nicht so bequem hat wie in der physisch-sinnlichen Welt, wo einem das Ich-Gefühl durch die Kräfte des physischen Leibes gegeben wird. Man muß dieses Ich-Gefühl selber wollen, man muß erleben in der elementarischen Welt, was es heißt, in der Seele ausgefüllt sein mit dem Bewußtseinsinhalt:

Ich will mich. - Man muß es erleben, daß es ein Bedeutsamstes ist, daß in dem Augenblick, wo man nicht stark genug ist, nicht den Gedanken, sondern den wirklichen Willensakt zu entfalten: Ich will

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mich -, rnan sich wie in eine Ohnmacht verfallend empfindet. Hält man sich nicht selber in der elementarischen Welt, verfällt man in dieser Welt gleichsam wie in eine Ohnmacht. Da blickt man hinein in die wahre Natur des Wollens, die wiederum nicht gegeben werden kann durch äußere Wissenschaft, durch äußere Philosophie, sondern nur durch das hellsichtige Erkennen. Das, was wir den Willen nennen in der physisch-sinnlichen Welt, ist eine Abschattung jenes starken wesenhaften Willens, der sich so entfaltet, daß er das Selbst aufrecht erhält aus der Willkür heraus, nicht durch äußere Kräfte gestützt. Alles wird willkürlicher - so dürfen wir sagen - in dieser elemen­tarischen Welt, wenn wir uns in dieselbe hineinleben.

Vor allen Dingen erwacht durch die ureigene Natur des ätherischen Leibes, wenn man den physischen Leib verläßt und dann in seinem Ätherleibe die elementarische Welt zur Umwelt hat, der Trieb nach Verwandlung. Man will in die Wesenheiten untertauchen. Aber wie im Tagwachen das Bedürfnis sich erzeugt nach Schlafen, so erwacht im Wechsel damit das Bedürfnis in der elementarischen Welt, bei sich selbst zu sein, alles auszuschließen, wo hinein man sich ver­wandeln könnte. Dann aber wiederum, wenn man sich eine Weile in der elementarischen Welt bei sich gefühit hat, wenn man eine Weile jenes starke Willensgefühl entwickelt hat: Ich will mich -, dann tritt etwas ein, was man nennen kann eine furchtbare Einsamkeitsemp­findung, ein Verlassensein, welches die Sehnsucht hervorruft, aus diesem Zustand des Sich-selber-nur-Wollens wiederum gleichsam auf­zuwachen zur Verwandlungsfähigkeit. Im physischen Schlaf ruht man, und die Kräfte sorgen dafür, daß man aufwacht, ohne daß man etwas dazu tut. In der elementarischen Welt muß man, wenn man sich in den Schlafzustand des Sich-selber-nur-Wollens versetzt hat, durch die Aufforderung des Gefühls des Verlassenseins sich wiederum in den Zustand der Verwandlungsfähigkeit zurückversetzen, das heißt: auf­wachen wollen. Sie sehen aus alledem, wie verschieden die Bedingun­gen des Sich-Erlebens, des Sich-Erfühiens in der elementarischen Welt von denen der physisch-sinnlichen Welt sind. Und Sie können er­messen, wie notwendig es ist, immer wieder und wiederum zu be­achten, daß das hellsichtige Bewußtsein, das von der einen Welt in die

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andere hinüber- und herübergeht, wirklich sich richtig den Anforde­rungen der entsprechenden Welt fügt und nicht beim Übertreten der Schwelle die Gepflogenheiten der einen Welt in die andere mit hin-überträgt. Erstarkung, Erkraftung des Seelenlebens gehört daher zu den auch von uns schon oft erwähnten Vorbereitungen für das Er­leben der übersinnlichen Welten. Erstarkung und Erkraftung des Seelenlebens.

Und vor allen Dingen müssen stark und kraftvoll werden diejeni­gen Erlebnisse der Seele, die man bezeichnen könnte als die höheren moralischen Erlebnisse, Erlebnisse, die sich ausdrücken in der Seelenstimmung der Charakterfestigkeit, der inneren Sicherheit und Ruhe. Innerer Mut und Charakterfestigkeit müssen vor allen Dingen in der Seele ausgebildet werden, denn durch Charakterschwäche schwächt man das ganze Seelenleben, und man kommt mit einem schwachen Seelenleben in die elementarische Welt hinein. Das darf man aber nicht, wenn man richtig und wahr in der elementatischen Welt erleben will. Daher wird niemand, der es wahrhaftig ernst nimmt mit dem Erleben in den höheren Welten, jemals außer acht lassen, zu betonen, daß zu jenen Kräften, welche das Seelenleben verstärken müssen, damit es richtig eintritt in die höheren Welten, die Stärkung der moralischen Seelenkräfte gehört. Und es gehört zu den traurigsten Verirrungen, die der Menschheit vorgemacht wer­den, wenn man es unternimmt zu sagen, daß Hellsichtigkeit an­geeignet werden solle mit Außerachtlassung der Verstärkung des moralischen Lebens. Es muß durchaus betont werden, daß dasjenige, was ich charakterisiert habe in der Schrift «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» als die Ausbildung der Lotus­blumen, die bei dem sich heranbildenden Hellseher gleichsam in dem Geistleib des Menschen sich kristallisieren, daß dieses Heran-bilden der Lotusblumen auch geschehen kann - aber eben nicht geschehen sollte - mit Außerachtlassung der moralischen Stärkungs­mittel.

Diese Lotusblumen müssen da sein, wenn der Mensch die Ver­wandiungsfähigkeit haben will; denn letztere besteht darin, daß die Lotusblumen ihre Blätter in Bewegung von dem Menschen hinweg

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enifalten und die geistige Welt umfassen, sich an sie anschmiegen. Was man als Verwandlungsfähigkeit entwickelt, drückt sich für das hell­seherische Anschauen in der Entfaltung der Lotusblumen aus. Was man als verstärktes Ich-Gefühl heranbildet, ist innere Festigkeit, die man nennen könnte ein elementarisches Rückgrat. Beides muß man entsprechend entwickelt haben: Lotusblumen, daß man sich verwan­deln kann, und etwas Ähnliches wie ein Rückgrat in der physischen Welt, ein elementarisches Rückgrat, damit man sein verstärktes Ich in der elementarischen Welt entwickeln kann. So wie gestern er­wähnt worden ist, daß dasjenige, was - in geistiger Art entwickelt -zu hohen Tugenden in der geistigen Welt führen kann, wenn man es in die Sinneswelt hinunterströmen läßt, zu den stärksten Lastern führen kann, so ist es auch in bezug auf die Lotusblumen und das elementarische Rückgrat. Es ist auch möglich, daß man durch ge­wisse Verrichtungen die Lotusblumen und auch das elementarische Rückgrat erweckt, ohne daß man moralische Festigkeit sucht, aber kein gewissenhafter Hellseher wird das anempfehlen. Denn es handelt sich nicht bloß darum, daß man für die höheren Welten dieses oder jenes erreicht, sondern darum, daß man alles beachtet, was in Betracht kommt.

In dem Augenblick, wo man die Schwelle zur geistigen Welt überschreitet, kommt man in ganz anderer Weise, als man ihnen in der physisch-sinnlichen Welt gegenübertritt, in die Nähe der luzife­rischen und ahrimanischen Wesenheiten, von denen wir schon ge­sprochen haben. Und man erlebt das Eigentümliche, sobald man die Schwelle überschritten hat, das heißt, sobald man Lotusblumen und ein Rückgrat hat, daß man sogleich die luziferischen Mächte heran­kommen sieht. Diese haben das Bestreben, die Blätter der Lotus­blüten zu ergreifen. Sie strecken die Fangarme aus nach unseren Lotusblüten, und man muß in der richtigen Weise sich entwickelt haben, damit man diese Lotusblüten zur Erfassung der geistigen Vor­gänge verwendet, und daß sie einem nicht erfaßt werden von luzi­ferischen Mächten. Daß sie nicht erfaßt werden von luziferischen Mächten, ist aber nur möglich, wenn man mit Befestigung der mora­tischen Kräfte in die geistige Welt hinaufsteigt.

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Ich habe schon angedeutet, daß in der physisch-sinnlichen Welt die ahrimanischen Kräfte mehr von außen, die Inziferischen mehr von innen in der Seele an den Menschen herankommen. In der geistigen Welt ist es umgekelrrt: da kommen die luziferischen Wesenheiten von außen und wollen die Lotusblumen ergreifen, und die ahrimanischen Wesenheiten kommen von innen und setzen sich fest in dem elemen­tarischen Rückgrat. Und jetzt schließen, wenn man nicht in Moralität hinaufgestiegen ist in die geistige Welt, einen merkwürdigen Bund mit­einander die ahrimanischen und die luziferischen Mächte. Wenn man mit Ehrgeiz, Eitelkeit, mit Machtgelüsten, mit Stolz hinaufgestiegen ist, dann gelingt es Ahriman und Luzifer miteinander einen Bund zu schließen. Ich werde zwar ein Bild gebrauchen für das, was dann Ahriman und Luzifer tun, aber dieses Bild entspricht der Wirklich­keit, und Sie werden mich verstehen. Es geschieht wirklich, was ich durch dieses Bild andeute: Ahriman und Luzifer schließen einen Bund, und Luzifer mit Ahriman zusammen knüpfen die Blätter der Lotusblumen an das elementarische Rückgrat an. Alle Blätter der Lotusblumen werden mit dem elementarischen Rückgrat zusammen-gebunden, der Mensch wird in sich selber zusammengeschnürt, in sich selber gefesselt durch seine entwickelten Lotusblumen und durch sein elementarisches Rückgrat. Und das hat zur Folge, daß ein Grad von Egoismus und ein Grad von Liebe zur Täuschung eintritt, die ganz undenkbar sind, wenn der Mensch in der physischen Welt nur stehenbleibt. Das ist es also, was passieren kann, wenn hellsichtiges Bewußtsein nicht in der gehörigen Weise herangebildet wird: Ahri­man und Luzifer schließen den Bund, durch den die Blätter der Lotusblumen an das elementarische Rückgrat angebunden werden. Und so wird man in sich selber gefesselt durch seine eigenen ele­mentarischen oder ätherischen Fähigkeiten. Das sind alles Dinge, die man wissen muß, wenn man versuchen will, in die wirkliche geistige Welt erkennend einzudringen.

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VIERTER VORTRAG München, 27. August 1913

Wenn die hellsichtig gewordene Seele immer weiter und weiter fort­schreitet, dann dringt sie aus dem, was in den letzten Tagen hier die elementarische Welt genannt worden ist, weiter hinein in die eigent­lich geistige Welt. Vieles von dem, was bereits angedeutet worden ist, muß in einem noch verschärften Maße beachtet werden, wenn es sich um den Aufstieg der menschlichen Seele in die eigentlich geistige Welt handelt. Innerhalb der elementarischen Welt erinnert noch man­ches in den Vorgängen und Dingen, welche die hellsichtig gewor­dene Seele in dieser elementarischen Welt um sich hat, an Eigenschaf­ten, an Kräfte, an allerlei in der Sinneswelt. Wenn aber die Seele in die geistige Welt hinaufsteigt, dann treten ihr die Eigenschaften, die Merkmale der Vorgänge und Wesenheiten in einer ganz anderen Art entgegen, als dieses in der Sinneswelt der Fall ist. In einem viel erhöhteren Maße muß die Seele für die geistige Welt gewissermaßen sich abgewöhnen, mit den Fähigkeiten und mit dem Anschauungs-vermögen, die für die Sinneswelt taugen, auskommen zu wollen. Und zu dem Beunruhigendsten gehört es ja für die menschliche Seele, ge­genüberzustehen einer Welt, an die sie ganz und gar nicht gewöhnt ist, die für sie notwendig macht, daß sie alles gleichsam hinter sich läßt, was sie bisher hat erfahren, beobachten können. Dennoch, wenn Sie in meiner «Theosophie» oder in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» oder auch jetzt wiederum in dem fünften und sechsten Bild von «Der Seelen Erwachen» die Darstellungen ins Auge fassen, die von der eigentlich geistigen Welt gegeben sind, so wird Ihnen auf­fallen, daß diese Darstellungen, sowohl die mehr wissenschaftlich gehaltenen wie die mehr anschaulich und szenengemäßen, in Bilder-material gegeben sind, das sozusagen durchaus entnommen ist Eindrücken, Beobachtungen der physisch-sinnlichen Welt.

Erinnern Sie sich einen Augenblick, wie dargestellt ist der Durch­gang durch das sogenannte Devachan, oder wie ich es genannt habe, das Geisterland. Sie werden finden, die Bilder, die da verwendet sind,

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entaalten Merkmale, die der sinnlichen Anschauung entnommen sind. Das muß von vornherein ja notwendig erscheinen, wenn man es unternimmt, das Geistgebiet, das Gebiet, welches die menschliche Seele durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, sze­nisch auf der Bühne darzustellen. Da ist es notwendig, die Vor­gänge, alles, was geschieht, in Bildern zu charakterisieren, die der physisch-sinnlichen Welt entnommen sind. Denn Sie können sich leicht vorstellen, daß mit dem, was man aus der eigentlich geistigen Welt bringen würde, und was in gar nichts etwas gemein haben könnte mit der Sinneswelt, daß mit dem etwa die heutigen Theaterarbeiter wenig anzustellen wüßten. So ist man in die Notwendig­keit versetzt, wenn man das Geistgebiet darstellt, sich durch Bilder auszudrücken, die der sinnlichen Beobachtung entnommen sind. Nun ist aber nicht bloß dieses der Fall. Man könnte leicht glauben, in der Darstellung müsse man so verfahren - weil dasjenige, was man da als sinnliche Bilder verwendet, hindeutet auf eine Welt, die gar nichts in ihren Merkmalen gemeinschaftlich hat mit der Sinneswelt -, man könnte glauben, derjenige, der diese Welt darstellen will, der nehme eben seine Zuflucht zu sinnlichen Bildern. Das ist aber nicht der Fall. Denn die hellsichtig gewordene Seele, wenn sie sich in die geistige Welt hineinbegibt, sieht wirklich diese Szenerie in genau den Bildern, die Sie im Drama in den beiden Bildern des Geist-gebietes dargestellt sehen. Diese Bilder sind nicht ausgedacht, um etwas durch sie zu charakterisieren, was ganz anders ist, sondern die hellsichtig gewordene Seele ist in einer solchen Szenerie, die ihre Um­welt bildet, wirklich und wahrhaftig darinnen. Wie die Seele in der physisch-sinniichen Welt in einer Landschaft ist, wo Felsen, Berge, Wälder, Felder um sie herum sind, und wie sie diese für Realität, für Wirklichkeit halten muß, wenn sie gesund ist, so ist die hellsichtig gewordene Seele, wenn sie außer dem physischen und auch dem ätherischen Leibe beobachtet, ganz genau so in einer Szenerie dar­innen, die sich aufbaut aus diesen Bildern. Diese Bilder sind nicht willkürlich gewählt, sondern sind tatsächlich in der betreffenden Welt die wahre Umgebung der Seele. So ist es also nicht etwa so, daß dieses fünfte und sechste Bild von «Der Seelen Erwachen» dadurch

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zustande gekommen wären, daß irgend etwas hätte ausgedrückt wer­den sollen von einer unbekannten Welt, und dann hätte man nach­gedacht: Wie kann man das ausdrücken? -, sondern es ist so, daß das eine Welt ist, welche die Seele um sich herum hat und gewisser­maßen nur nachbildet.

Nun ist es aber doch notwendig, daß die hellsichtig gewordene Seele für das Geistgebiet, für das Geisterland das richtige Verhält­nis gewinnt zu der wahrhaftigen Realität, die nichts gemein hat mit der Sinneswelt. Man kann sich eine Vorstellung machen von diesem Verhältnis, das die Seele gewinnen muß zur geistigen Welt, wenn man die Art, wie die Seele aufzufassen hat diese geistige Welt, in der folgenden Weise zu charakterisieren versucht. Denken Sie sich einmal, Sie schiagen ein Buch auf. Da oben, da finden Sie so etwas wie einen Strich von links oben nach rechts unten, dann einen Strich von links unten nach rechts oben, dann wieder einen Strich von links oben nach rechts unten parallel zum ersten und einen weiteren von links unten nach rechts oben parallel zum zweiten; dann kommt etwas, was oben einen Kreis hat und unten einen nicht ganz geschlossenen Kreis; dann kommt etwas, das zwei vertikale Striche hat, die oben verbun­den sind, und noch einmal so etwas. Nicht wahr, so machen Sie es nicht, wenn Sie ein Buch aufschlagen und das erste, was da steht, ins Auge fassen, sondern Sie lesen das Wort: Wenn. Sie beschreiben nicht das W als Striche und das e als oben einen Kreis und unten einen nicht ganz geschlossenen Kreis und so weiter, sondern Sie lesen. Sie gewinnen, indem Sie die Formen der Buchstaben, die vor Ihnen sind, ins Auge fassen, ein Verhältnis zu etwas, was nicht auf der Seite des Buches steht, sondern worauf das, was auf der Seite des Buches steht, hindeutet.

So ist es tatsächlich auch mit dem Verhältnis der Seele zu der gesamten Bilderwelt des Geistgebietes. Das, was man da zu tun hat, ist nicht ein Beschreiben bloß desjenigen, was da ist, sondern es laßt sich vielmehr vergleichen mit einem Lesen; und das, was raan an Bildern vor sich hat, ist im Grunde genommen eine kosmische Schrift, und man hat die richtige Seelenverfassung dazu, wenn man sich so stellt, daß man fühit, man habe in den Bildern eine kosmische

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Schrift vor sich, und die Bilder vermitteln, bedeuten einem dasjenige, was die Realität der geistigen Welt ist, vor welche eigent­lich diese ganze Bilderwelt hingewoben ist. Daher muß man im echten, wahren Sinne sprechen von einem Lesen der kosmischen Schrift im Geistgebiete.

Nun darf man sich die Sache aber nicht so vorstellen, daß man dieses Lesen der kosmischen Schrift so zu lernen hat wie das Lesen in der physischen Welt. Das Lesen in der physischen Welt beruht mehr oder weniger wenigstens heute - in der Urzeit des Menschheit war es nicht so-, auf der Beziehung von Willkürzeichen zu dem, was sie bedeuten. So lesen lernen, wie man für diese Willkürzeichen lesen lernt, braucht man nicht gegenüber der kosmischen Schrift, die sich wie ein mächtiges Tableau als Ausdruck des Geisterlandes für die hell­sichtig gewordene Seele darstellt. Sondern man soll eigentlich nur das, was sich da darstellt an Bilderszenerie, unbefangen und mit emp­fänglicher Seele hinnehmen, denn das, was man daran erlebt, das ist schon das Lesen. Diese Bilder strömen sozusagen ihren Sinn von selber aus. Daher kann es leicht vorkommen, daß eine Art von Kom-mentieren, von Interpretieren der Bilder der geistigen Welt in ab­strakten Vorstellungen eher ein Hindernis ist für das unmittelbare Hingelenktwerden der Seele zu dem, was hinter der okkulten Schrift steht, als daß es einen unterstützen könnte in diesem Lesen. Bei so etwas handelt es sich vor allen Dingen, sowohl in dem Buch «Theosophie» wie auch in den Bildern von «Der Seelen Erwachen» darum, daß man die Dinge unbefangen auf sich wirken läßt. Mit den tiefe­ren Kräften, die manchmal ganz schattenhaft zum Bewußtsein kom­men, erlebt man schon den Hinweis auf die geistige Welt. Um diesen Hinweis auf die geistige Welt zu bekommen - fassen Sie das wohi ins Seelenauge -, braucht man nicht einmal die Hellsichtigkeit anzu­streben, sondern man braucht nur solche Bilder so aufzufassen, daß man für sie eine offene, empfängliche Seele hat, daß man nicht mit grobem materialistischem Sinn an die Sache geht und sagt: Das ist doch alles Unsinn, das gibt es ja gar nicht! - Eine empfängliche Seele, welche eingeht auf den Verlauf solcher Bilder, lernt sie schon lesen. Durch die Hingabe der Seele an diese Bilder ergibt sich das

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Verständnis, das gesucht werden sollte für die Welt des Geisterlandes. Und weil das, was ich gesagt habe, wirklich so ist, ergeben sich aus unserer gegenwärtigen materialistischen Weltanschauung heraus die zahlreichen Einwände gegen die Geisteswissenschaft.

Solche Einwände sind im Grunde genommen auf der einen Seite sehr naheliegend, auf der anderen können sie sehr geistvoll und scheinbar außerordentlich logisch sein. Man kann sagen - und das ist wirklich ein Einwand, der nicht unberechtigt ist -, wenn man zum Beispiel ein Ferdinand Reinecke ist, der so überschlau ist, daß er nicht nur von Menschen dafür gehalten wird, sondern auch in berech­tigter Weise von Ahriman, man kann sagen: Ja, ihr, die ihr uns das hellsichtige Bewußtsein beschreibt, die ihr von der geistigen Welt sprecht, ihr stellt diese ganze geistige Welt doch nur mit dem Mate­rial der sinnlichen Vorstellungen zusammen; ihr gruppiert das Mate­rial der sinnlichen Vorstellungen. Wie könnt ihr behaupten, da ihr doch wirklich nur aus lauter bekannten sinnlichen Bildern eine Sze­nerie zusammenstellt, daß man dadurch etwas Neues erfahren sollte, etwas, was man sonst nicht erfährt, wenn man sich nicht der geisti­gen Welt nähert. - Das ist ein Einwand, der sehr viele blenden muß, und der vom gegenwärtigen Bewußtsein aus, man könnte sagen, mit einem gewissen scheinbaren und doch wiederum vollen Recht ge­macht wird. Und dennoch, wenn man tiefer eingeht auf solche Ein­wände Ferdinand Reineckes, dann ist doch das Folgende richtig. Solch ein Einwand käme ganz gleich dem anderen, den jemand machte, wenn er zu einem, der eben einen Brief bekommen hat, sagen würde: Ja, sieh, du hast da einen Brief bekommen, ich sehe da nichts anderes als Buchstaben und Worte, die ich längst kenne; wie willst du da durch diesen Brief etwas Neues erfahren! Da kannst du nur etwas erfahren, was wir längst schon kennen. - Und dennoch, wir erfahren durch das, was man längst kennt, unter Umständen etwas, wovon wir uns nichts haben träumen lassen. So ist es auch mit den Bilderszenerien, die sich nicht nur in der Darstellung einfinden müssen, sondern die dem hellsichtigen Bewußtsein ringsum geoffen­bart werden. Sie sind in gewisser Beziehung zusammengestellt aus Reminiszenzen der Sinneswelt; aber wie sie sich darbieten als kosmische

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Schrift, stellen sie dasjenige dar, was der Mensch nicht inner­halb der Sinneswelt und auch nicht innerhalb der elementarischen Welt erfahren kann. Immer wieder und wieder soll betont werden, daß dieses Sich-Verhalten zur geistigen Welt verglichen werden muß mit einem Lesen, nicht mit einem unmittelbaren Anschauen.

Während also der Erdenmensch, der hellsichtig geworden ist, die Dinge und Vorgänge der sinnlich physischen Welt so aufzufassen hat, wenn er mit einer gesunden Seele sich zu diesen Dingen verhalten will, daß er diese Dinge anschaut und möglichst treu beschreibt, ist das Verhältnis zum Geisterland ein anderes. Da hat man es zu tun, sobald man die Schwelle in die geistige Welt überschritten hat, mit etwas, was man mit einem Lesen zu vergleichen hat. Wenn man ins Auge faßt, was aus diesem Geisterlande heraus für das menschliche Leben erkannt werden muß, dann gibt es allerdings noch anderes, was die Einwände Ferdinand Reineckes aus dem Felde schlagen kann. Solche Einwände muß man nicht leicht nehmen; man muß sich ge­wissermaßen, wenn man in der richtigen Art Geisteswissenschaft ver­stehen will, mit diesen Einwänden auseinandersetzen. Man muß be­denken, daß die Menschen der Gegenwart vielfach gar nicht umhin können, solche Einwände zu machen, weil alles Vorstellungsleben, weil die Denkgewohnheiten der Menschen der Gegenwart eben so sind, daß sie aus Scheu, aus Furcht, vor dem Nichts zu stehen, wenn sie von der geistigen Welt hören, diese geistige Welt einfach ablehnen. Man kann da von dem Verhältnis der Menschen der Gegenwart zur geistigen Welt gute Begriffe sich machen, wenn man ins Auge faßt, was über die geistige Welt solche Menschen denken, die eigentlich in gewisser Beziehung gutmeinend in bezug auf die geistige Welt sind.

Da ist in der Literatur der Gegenwart in der letzten Zeit ein Buch erschienen, das lesenswert auch für diejenigen ist, die sich ein wirk­liches Verständnis für die geistige Welt schon erworben haben, denn es rührt von einem Manne her, der eigentlich gutmeinend ist, und der sich ganz gerne eine Art Erkenntnis von der geistigen Welt bil­den möchte, von Maurice Maeterlinck. Das Buch ist auch in die deut­sche Sprache übersetzt und heißt: «Vom Tode.» Es rührt von einem Manne her, der in den ersten Kapiteln zeigt, er möchte etwas verstehen

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von diesen Dingen. Da wir wissen, daß er in gewisser Weise ein feinsinniger Geist ist, der sich unter anderem von Novalis hat an­regen lassen, der in einer gewissen Weise die mystische Romantik sich zu eigen gemacht hat, der selber manches, was sehr interessant ist, theoretisch und künstlerisch in bezug auf das Verhältnis des Men­schen zur übersinnlichen Welt geleistet hat, so ist gerade sein Beispiel ganz besonders interessant. In den Kapiteln des Buches «Vom Tode» des Maurice Maeterlinck, in denen er auf das eigentliche Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt zu sprechen kommt, wird nun die­ses Buch ganz töricht und absurd. Und das ist eine interessante Erscheinung, daß ein gutmeinender Mensch, der mit den Denkge­wohnheiten der Gegenwart operiert, töricht wird. Ich sage das nicht, um eine schimpfende Kritik auszusprechen, sondern um objektiv zu charakterisieren, daß ein solcher gutmeinender Mensch töricht wird, wenn er das Verhältnis der menschlichen Seele zum Geisterlande ins Auge fassen will. Denn davon kann sich Maurice Materlinck gar keinen Begriff machen, daß es eine Möglichkeit gibt, die mensch­liche Seele so zu erkraften und zu erstarken, daß sie alles hinter sich lassen kann, was in sie hereinkommen kann durch sinnliche Beob­achtung und durch das gewöhnliche Denken, Fühlen und Wollen auf dem physischen Plan und sogar auch noch in der elementarischen Welt. Für solche Geister, wie Maurice Maeterlinck einer ist, ist einfach, wenn die Seele alles, was die Sinneswahrnehmung und das damit verbun­dene Denken, Fühlen und Wollen ausmacht, hinter sich läßt, gar nichts mehr da. Daher verlangt Maurice Materlinck in dem genannten Buche Beweise für die geistige Welt und ihre Tatsachen. Es ist natür­lich durchaus berechtigt, Beweise für die geistige Welt zu verlangen. Man hat damit ganz recht. Aber man kann sie nicht so verlangen wie Maurice Materlinck. Er würde sich Beweise gefallen lassen, die so handgreiflich sind wie die Beweise nach dem Muster der Wissenschaft für den physischen Plan. Er würde sich auch noch gefallen lassen -weil in der elementarischen Welt die Dinge noch an die physische Welt erinnern - durch Experimente, die den physischen nachgebildet sind, sich beweisen zu lassen, daß die Dinge der geistigen Welt be­stehen. Das fordert er. Aber damit zeigt er gerade, daß er für die

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wahre geistige Welt nicht das allergeringste Verständnis hat. Denn er will Dinge und Vorgänge, die nichts an sich haben von den Dingen und Vorgängen der physischen Welt, mit den Mitteln, die der phy­sischen Welt entlehnt sind, bewiesen haben. Man hätte vielmehr die Aufgabe zu zeigen, wie solche Beweise, die Maurice Materllnck ver­langt, eben unmöglich sind für die geistige Welt. Ich muß solch ein Verlangen, wie das des Maurice Maeterlinck, immer wieder ver­gleichen mit etwas, was sich in der Mathematik vollzogen hat. Die verschiedenen Akademien haben bis vor kurzer Zeit immer wieder und wieder Abhandlungen bekommen über die sogenannte Quadra­tur des Zirkels. Das heißt, man versuchte geometrisch zu beweisen, wie man einen Kreis in ein Quadrat verwandeln kann. Unzählige mathematische Abhandlungen in mathematischer Beweisführung sind darüber geschrieben worden. Heute ist jeder ein Dilettant, der eine solche Abhandlung noch versuchen wollte, denn es ist bewiesen, daß eine solche Quadratur des Zirkels mit den geometrischen Mitteln nicht ausführbar, nicht möglich ist. Dasjenige nun, was Maurice Materlinck als Beweis für die geistige Welt verlangt, ist auf das geistige Gebiet übertragen nichts anderes als die Quadratur des Zirkels, und ist eben­so deplaciert für die geistige Welt wie für das Mathematische die Quadratur des Zirkels. Was verlangt Maurice Maeterlinck im Grunde genommen? Wenn man weiß, daß, sobald man die Schwelle zur gei­stigen Welt übertritt, man in einer Welt lebt, die nichts gemein hat mit der physischen und auch elementarischen Welt, so kann man nicht verlangen: Ja, wenn du mir etwas beweisen willst, dann gehe gefälligst zurück in die physische Welt und beweise mir dort die Dinge der anderen, der geistigen Welt. - Man muß sich schon einmal für die Dinge der Geisteswissenschaft damit bekanntmachen, daß von den gutmeinendsten Menschen Absurditäten geschehen, die, wenn man sie ins gewöhnliche Leben überträgt, sogleich als Absurditäten erscheinen. Das ist so, wie wenn jemand sagen würde, man solle sich auf den Kopf stellen und dennoch mit den Beinen gehen. Wenn man das verlangt, so sieht das jeder als einen Unsinn ein. Wenn man es in bezug auf Beweise der geistigen Welt macht, dann ist es geistvoll, dann ist es wissenschaftliche Forderung, dann merkt es der

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Autor am wenigsten, und seine Bekenner, besonders wenn es sich um einen berühmten Autor handelt, merken es natürlich auch nicht. Der ganze Fehler solcher Forderungen entspringt eben daraus, daß Men­schen, die solche Forderungen stellen, sich niemals über das Verhält­nis des Menschen zur geistigen Welt aufgeklärt haben.

Wenn man Vorstellungen, die nur aus der geistigen Welt heraus gewonnen werden können, durch das hellsichtige Bewußtsein erlangt, so können diese von den Ferdinand Reineckes natürlich auch viele Anfechtungen erfahren. Alle Vorstellungen, die wir gewinnen sollen über die sogenannte Reinkarnation, über die wiederholten Erden-leben, also wirklich reale Rückerinnerungen an frühere Erdenieben, kann man nur erlangen durch dasjenige Verhalten der Seele, das eben notwendig ist, zur geistigen Welt. Nur aus der geistigen Welt heraus kann man sie erlangen. Wenn man nun Eindrücke, Vorstellungen in der Seele hat, die einen zurückverweisen auf frühere Erdenleben, so werden solche Eindrücke ganz besonders der Gegnerschaft unserer heutigen Zeit ausgesetzt sein. Es soll von vornherein nicht geleugnet werden, daß gerade auf diesem Gebiete der schlimmste Unfug selbst­verständiich getrieben wird, denn gar mancherlei Leute haben diese oder jene Impression und beziehen sie auf diese oder jene vorher­gehenden Inkarnationen. Da wird es der Gegner leicht haben, zu sagen: Ja, da fluten in dein Seelenleben Vorstellungen von Erlebnis­sen zwischen Geburt und Tod herein, die du nur nicht als solche er­kennst. - Das kann gewiß - man muß das zugeben - in hundert und aber hundert Fällen der Fall sein. Man muß sich nur klar darüber sein, daß der Geistesforscher in solchen Dingen eben Bescheid wissen muß. Es kann durchaus sein, daß irgend jemand etwas im Kindheits-, im Jugendalter erlebt, und daß in vollständiger Umwandiung in einem späteren Lebensalter das, was da erlebt ist, ins Bewußtsein wieder herauftritt. Es kann sein, daß er das nicht erkennt und es dann für eine Rückerinnerung an vorhergehende Erdenleben hält. Das kann der Fall sein. Man weiß auch innerhalb der Geisteswissenschaft, wie leicht das zustande kommen kann. Sehen Sie, Erinnerungen können sich bilden nicht nur an das, was man klar erlebt hat. Man kann ein Erlebnis haben, das so vorüberhuscht, daß man es sich nicht ganz

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klar zum Bewußtsein bringt, während man es erlebt, und dennoch kann es später als Erinnerung auftreten und dann deutlich sein. Da wird man, wenn man sich nicht kritisch genug verhält, darauf schwö­ren, man habe etwas in der Seele, was man niemals in diesem gegen­wärtigen Leben erlebt hat. Weil das so ist, ist es begreiflich, daß mit solchen Impressionen viel Unfug getrieben wird von mancherlei Leu­ten, die sich mit Geisteswissenschaft - aber nicht in genügendem Ernst - befassen. Gerade bei der Lehre von der Reinkarnation kann das vorkommen, da außerdem in bezug auf diese Reinkarnation so viel von menschlicher Eitelkeit, von menschlichem Ehrgeiz in Be­tracht kommt. Es ist für manchen Menschen so wünschenswert, in einer früheren Inkarnation Julius Cäsar oder Marje Antoinette ge­wesen zu sein. Ich könnte zum Beispiel fünfundzwanzig, sechsund­zwanzig wiederverkörperte Maria Magdalenen aufzählen, die mir im Leben vorgekommen sind! Da spielen so viele Dinge hinein, daß der Geistesforscher gar keine Veranlassung hat, nicht selber aufmerksam zu machen auf den Unfug, der in dieser Beziehung getrieben wird. Aber dem gegenüber muß etwas anderes betont werden.

Bei dem wahren Hellsehen, wenn es Impressionen hat von früheren Erdenleben, treten diese Eindrücke in einer Art, mit einer Charakte­ristik auf, wenn man als hellsichtige Seele eben eine gesunde Seele hat, daß man dann sehr deutlich erkennen kann und es unverkennbar ist, daß man es nicht mit etwas zu tun hat, was aus dem gegenwärtigen Leben zwischen Geburt und Tod herstammen kann. Denn diese Re­miniszenzen, diese wahren, echten Erinnerungen des richtigen Hell­sehens an frühere Erdenverkörperungen haben vielmehr etwas Über­raschendes, etwas Frappierendes, als daß man glauben könnte, die Seele brächte sie aus ihren Tiefen herauf mit den Mitteln, die ihr menschenmöglich sind, wenn sie nicht bloß das, was in ihrem Bewußt­sein ist, sondern auch in ihren unterbewußten Tiefen ist, zuhilfe nimmt. Man muß sich eben als Geisteswissenschafter bekanntmachen mit dem, worauf eine Seele nach ihren Erlebnissen von außen kom­men kann. Es werden nicht bloß die Wünsche, die Begierden sein, die eine große Rolle spielen, wenn aus den unbekannten Seelenfluten Impressionen heraufgezogen werden in verwandelter Gestalt, so daß

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man sie nicht als Erlebnisse des gegenwärtigen Lebens erkennt, es spielen noch viele andere Dinge mit. Aber das, was zumeist die er­schütternden Eindrücke aus vorhergehenden Erdenleben sind, kann man sehr leicht unterscheiden von solchen Impressionen aus dem gegenwärtigen Leben. Um ein Beispiel anzuführen: Wenn jemand eine wahre Impression hat aus einem vorhergehenden Erdenleben, wird das zum Beispiel so der Fall sein, daß der Betreffende innerlich erlebt, wie aus den Seelenfluten herauftauchend: du warst im vorher­gehenden Erdenieben der und der. - Und dann wird sich zeigen, daß in dem Zeitpunkt, in dem diese Impression herankommt, man äußer­lich in der physischen Welt gar nichts anzufangen weiß mit dieser Erkenntnis. Diese kann einen vorwärtsbringen in der Entwickelung, aber sie zeigt sich in der Regel so, daß man sich sagt: Nun, du warst in der vorhergehenden Inkarnation mit dieser Fähigkeit ausgestattet. Wenn man aber eine solche Impression hat, dann ist man schon so alt, daß man gar nichts mehr mit dem anfangen kann, was man in dem vorhergehenden Leben gewesen ist. Und solche Umstände werden immer da sein, die einem zeigen, die Impressionen können gar nicht aus dem stammen, wo rauf man aus dem gegenwärtigen Leben kom­men könnte, denn wenn man aus dem gewöhnlichen Traum heraus arbeiten würde, dann würde man sich ganz andere Eigenschaften für eine vorhergehende Inkarnation beilegen. Wie man in der vorher­gehenden Inkarnation war, davon läßt man sich gewöhnlich nichts träumen. Es ist gewöhnlich al]es anders, als man denkt. Wenn man die Impression hat, daß man dieses oder jenes Verhältnis zu einem Erdenmenschen hatte, wenn das im wahren Heilsehen als eine wirk­liche, richtige Impression von einem vorhergehenden Erdenleben auf­taucht, muß man natürlich wiederum darauf aufmerksam machen, daß im unrichtigen Hellsehen ja viele vorhergehende Inkarnationen so beschrieben werden, daß sie sich auf die Freunde und Feinde, die man in der unmittelbaren Umgebung hat, beziehen. Das ist meist Unfug. Wenn man eine wirkliche richtige Impression hat, dann zeigt sich, daß man ein Verhältnis hat zu einer Persönlichkeit, zu der man nicht kommen kann, wenn man die Impression hat, so daß man diese Dinge unmöglich auf das unmittelbar praktische Leben anwenden kann.

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Und man muß solchen Impressionen gegenüber auch eine Stim­mung entwickeln, die notwendig ist für das hellsichtige Bewußtsein. Natürlich, wenn man die Impression hat: Zu der Persönlichkeit stehst du so-, so müssen sich die Dinge ausleben, die durch die Impression gegeben sind. Man muß durch die Impression mit der Persönlichkeit wiederum in ein Verhältnis kommen. Das kann sein in einem zweiten, dritten Erdenleben. Man muß die Stimmung haben, ruhig zu warten, eine Stimmung, die man bezeichnen kann als wirkliche innere Seelen-ruhe, Geistesfriedsamkeit. Das gehört zur richtigen Beurteilung des-sen, was man in der geistigen Welt erlebt.

Wenn man in bezug auf irgendeinen Menschen in der physischen Welt etwas erfahren will, so tut man irgend etwas, was man in dem Sinne dieser Erfahrung für nötig hält. Das kann man nicht mit der Impression von Geistesfriedsamkeit, Seelenruhe, Abwartenkönnen. Es ist eine durchaus berechtigte Schilderung der Verfassung der Seele gegenüber den wahren Eindrücken der geistigen Welt, wenn man sagt:

Erstreben nichts - nur friedsam ruhig sein,

Der Seele Innenwesen ganz Erwartung.

In einer gewissen Beziehung muß diese Stimmung über das ganze Seelenleben ausgegossen sein, wenn in der richtigen Weise an die hell­sichtige Seele die Erfahrungen des Geisterlandes herantreten sollen.

Aber die Ferdinand Reineckes sind nicht immer so leicht zu wider­legen, selbst nicht in einem solchen Fall, wo Impressionen in der Seele auftreten, von denen man sagen kann: Es ist nicht menschenmöglich, daß die Seele mit den Kräften und Gewohnheiten, die sie sich im gegenwärtigen Erdenleben angeeignet hat, das vorstellen könnte, was da herauftaucht aus den Seelenfluten -, im Gegenteil, wenn es nach ihr ginge, würde sie sich etwas anderes vorgestellt haben. - Selbst wenn man das sagen kann, was ein sicheres Kennzeichen ist für die wahren, echten Eindrücke aus der geistigen Welt, so kann noch ein überschlauer Ferdinand Reinecke kommen und etwas einwenden. Und in der Geisteswissenschaft muß man durchaus auf dem Standpunkt stehen, daß man nicht gegenüber den Einwänden der der Geisteswissenschaft

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fernestehenden und von ihr nichts wissen wollenden Gegner sagt: Der Seele Innenwesen ganz Erwartung. - Das ist gegen­über der geistigen Welt die richtige Stimmung. Aber in bezug auf die Einwände der Gegner sollte man gerade als Geistesforscher nichts erwarten, sondern sich selber all diese Einwände machen, so daß man weiß, was eingewendet werden kann. Und da ist ein Einwand, der heute naheliegt, der wirklich auch in der psychologischen, psycho­pathologischen, physiologischen Literatur, in den manchmal gelehrt und wissenschaftlich sich dünkenden Schriften gemacht wird, da ist der Einwand: Nun, das Seelenleben des Menschen ist kompliziert. In den Tiefen desselben ist manches, was in das Oberbewußtsein nicht heraufdringt. - Da, wo man heute überschlau sein will, sagt man nicht nur, daß die Wünsche, die Begierden allerlei heraufbringen, was da unten in den Seelenfluten ist, sondern man sagt noch: Das Seelen-leben, wenn es irgendein Erlebnis hat, erlebt im Geheimen etwas wie eine Auflehnung, wie eine Art Opposition gegen das, was es erlebt. Von dieser Opposition, die der Mensch immer erlebt, weiß er in der Regel nichts, aber sie kann dann heraufdringen aus den unteren in die oberen Regionen des Seelenlebens. - Man gibt sogar vielfach in der psychologischen, psychopathologischen, physiologischen Litera­tur, weil man die Tatsachen nicht leugnen kann, Dinge zu, wie die folgenden: Nun, wenn eine Seele in eine andere recht verliebt ist, so kann sie nicht anders, als in den unbewußten Seelentiefen neben der bewußten Verliebtheit eine furchtbare Antipathie gegen die geliebte Seele nebenbei zu entwickeln. - Und es liegt im Sinne mancher Psycho-pathologen, zu sagen: Wenn einer recht liebt, so ist in den Tiefen der Seele Haß. Dieser Haß wird nur überstimmt durch die Liebesbegierde, aber Haß ist doch vorhanden. - Wenn solche Dinge - sagen dann die Ferdinand Reineckes - aus den Tiefen der Seele heraufkommen, dann sind das Impressionen, die sehr leicht die Täuschung abgeben können, daß sie nicht in der individuell erlebten Seele ihren Sitz haben können; dennoch können sie ihn haben, weil das Seelenleben kompliziert ist -sagen die Ferdinand Reineckes. Man kann immer nur sagen: Gewiß, das weiß der Geistesforscher gerade so gut wie der Psychologe oder Psychopathologe oder Physiologe der Gegenwart. Es wurzelt tief in

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dem materialistischen Bewußtsein unserer Zeit, solche Einwände zu machen. Dieses Erlebnis hat man schon einmal, wenn man heute die genannte Literatur durchinacht, die gerade über das Seelenieben han­delt, über das gesunde und kranke, diesen Eindruck, daß Ferdinand Reinecke eine realistische, überall vorkommende, außerordentlich bedeutungsvolle Figur in der Gegenwart ist. Ferdinand Reinecke ist keine Erfindung. Wenn man all die Schriften, die heute so zahlreich erscheinen, Seite für Seite durchnimmt, wenn man die Blätter so umblättert, hat man den Eindruck: da springt überall das merkwürdige Gesicht Ferdinand Reineckes hervor. Er läuft überall herum in der heutigen Wissenschaft. Aber demgegenüber muß immer und immer wiederum betont werden, und ich stehe nicht an, demgegenüber auch eine Sache immer wiederum zu wiederholen, daß der Beweis, daß etwas nicht Phantasie, sondern Wirklichkeit, Realität ist, durch das Leben geführt werden muß. Immer wieder muß ich es sagen: Dieser Teil der Schopenhauerschen Philosophie, als ob die Welt nur Vor­stellung wäre und man nicht unterscheiden könne Vorstellung von wirklicher Wahrnehmung, kann nur durch das Leben widerlegt wer­den. Ebenso wird die Kantsche Behauptung gegen den sogenannten Gottesbeweis, daß hundert mögliche Taler genau so viel Pfennige enthalten wie hundert wirkliche Taler, von jedem widerlegt, der seine Schuld mit möglichen Talern bezahlen will und nicht mit wirklichen. Und so muß auch das, was man Vorbereitung, Hineinleben der Seele in die Hellsichtigkeit nennt, in seiner Realität genommen werden. Da theoretisiert man nicht bloß, da eignet man sich ein Leben an, durch das man im Geistgebiete ebenso klar unterscheidet eine wirkliche Im­pression von einem vorhergegangenen Erdenleben von einer Impres­sion, die das nicht ist, wie man heißes Eisen, das man an die Haut anlegt, unterscheidet von bloß eingebildetem Eisen. Wenn man das bedenkt, wird man sich auch darüber klar sein, daß die Einwände Ferdinand Reineckes auf diesem Gebiete eigentlich gar nichts besagen, weil sie eben von Leuten herkommen, die das Geistgebiet - ich will gar nicht sagen - nicht hellsichtig beschritten haben, sondern es auch niemals zu ihrem Verständnis gebracht haben.

Das also muß ins Auge gefaßt werden, daß man sich, wenn man die

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Schwelle der geistigen Welt überschreitet, in ein Weltgebiet hinein-begibt, welches nichts mehr gemein hat mit dem, was die Sinne wahr­nehmen können, und mit dem, was man wollend und denkend und fühlend in der physischen Welt erlebt.

Man muß sich den Eigentümlichkeiten der geistigen Welt auch noch durch das Folgende nähern. Man muß sich sagen: Wodurch und wie man erfährt und beobachtet in der physisch-sinnlichen Welt, das alles muß man auch hinter sich lassen. - Ich habe beim Wahrnehmen der elementarischen Welt ein Bild gebraucht, das scheinbar ganz grotesk ist, das Bild von dem Hineinstecken des Kopfes in einen Ameisenhaufen. So ist es wirklich mit dem Bewußtsein in der elemen­tarischen Welt. Man hat es da nicht zu tun mit Gedanken, die alles vertragen, die passiv sich vertragen, sondern man steckt das Bewußt­sein in eine Welt hinein, in eine Gedankenwelt, wenn man sie so nennen will, die kribbelt und krabbelt, die Eigenleben hat. Daher muß man sich stark aufrecht erhalten in der Seele gegen die sich selbst bewegenden Gedanken. Aber in der elementarischen Welt erinnert eben so manches auch in diesem Raum kribbelnder und krabbelnder Gedanken an die physische Welt noch. Wenn man in die geistige Welt eintritt, dann erinnert nichts mehr an die physische Welt, sondern da lebt man sich ein in eine Welt - ich will den Ausdruck gebrauchen, den ich auch in der Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» ge­brauchen werde -, in eine Welt von Gedankenlebewesen. In dieser geistigen Welt findet man das, von dem man in der physisch-sinnlichen Welt, wenn man denkt, nur etwas wie Schattenbilder, wie Gedanken-schatten hat: die Gedankensubstanz, aus der die Wesen bestehen, in die man sich da hineinlebt. Wie die physisch-sinnliche Welt aus Fleisch und Blut besteht, so bestehen diese Wesen in der geistigen Welt aus Gedankensubstanz; sie sind Gedanken, lautere Gedanken, bloße Ge­danken, aber lebendige Gedanken mit Innenwesenheit, sie sind Ge­dankenlebewesen. Daher können diese Gedankeniebewesen, in die man sich hineinlebt, auch nicht so Taten verrichten wie mit physischen Händen. Das, was die Wesen an Taten verrichten, was das Verhältnis des einen zum anderen Wesen bewirkt, das läßt sich für die geistige Welt nur vergleichen mit dem, was in der Sinneswelt als schwache

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Nachbilder davon existiert, mit der Verkörperung der Gedanken im Sprechen. Man lebt sich in die geistige Welt hinein, erlebt Gedanken-lebewesen, und alles, was sie tun, was sie sind, wie sie aufeinander wirken, bildet ein Geistergespräch. Ein Geist spricht zum anderen, und eine Gedankensprache wird gesprochen in diesem Geisterlande. Aber diese Gedankensprache ist nicht bloß eine Sprache, sondern sie ist in ihrer Gesamtheit das, was die Taten der geistigen Welt darstellt. Indem diese Wesen sprechen: handeln, tun, agieren sie. Man lebt sich also, wenn man die Schwelle zur geistigen Welt überschreitet, in eine Welt hinein, wo Gedanken Wesen, wo Wesen Gedanken sind, aber als Wesen dort viel realer sind als der Mensch in Fleisch und Blut in der Sinneswelt. In eine Welt lebt man sich hinein, wo das Handeln im Geistgespräch besteht, wo die Worte sich hinüber- und herüber-bewegen und wo etwas geschieht, indem es ausgesprochen wird. Da-her muß man innerhalb dieser geistigen Welt und für die Vorgänge innerhalb derselben dasjenige sagen, was im dritten Bild von «Der Hüter der Schwelle» gesagt wird:

An diesem Orte sind die Worte Taten,

Und weitre Taten müssen ihnen folgen.

Und alle okkulte Wahrnehmung, alles das, was die Eingeweihten aller Zeiten für die Menschheit geleistet haben, erschaute auf einem ge­wissen Gebiete dasjenige, was dieses Geistergespräch, das zugleich Geister-Tun ist, bedeutet. Und mit einem charakteristischen Ausdruck wurde das genannt das Weltenwort.

Sehen Sie, jetzt sind wir unmittelbar mit unserer Betrachtung dar­innen in dem Geisterlande, schauen uns die Wesenheiten und die Taten der Wesenheiten an. Und ihr Zusammenhang ist das vielstim­mige, vieltönige, vieltatenreiche Weltenwort, in das man sich selber mit seiner eigenen seelischen Wesenheit - selber Weltenwort - tönend hineinlebt, so daß man selber Taten innerhalb der geistigen Welt ver­richtet. Der Ausdruck Weltenwort, der durch alle Zeiten und Völker geht, drückt durchaus einen wahren Tatbestand des Geisterlandes aus. Verstehen in unserer Gegenwart, was mit dem Weltenwort gemeint ist, kann man nur dadurch, daß man sich in der Art, wie wir es versucht

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haben in dieser Betrachtung, der Eigentümlichkeit der geistigen Welt nähert. Wie man in den Okkultismen der verschiedenen Zeiten und Völker mehr oder weniger verständnisvoll gesprochen hat von dem Weltenwort, so ist es unserer Zeit notwendig, damit die Mensch­heit nicht durch den Materialismus veröde, daß Verständnis gewon­nen werde für solche Worte, welche mit Bezug auf das Geisterland gesprochen werden:

An diesem Orte sind die Worte Taten,

Und weitre Taten müssen ihnen folgen.

Notwendig ist es für unsere Zeit, daß die Seelen Realität, Vorstellung von Realitäten empfinden, wenn solche Worte gesprochen werden aus der Erkenntnis der geistigen Welt heraus. Man muß wissen, inwie­fern dieses ebenso eine Charakteristik der geistigen Welt ist, als wenn man die gewöhnlichen sinnlichen Vorstellungen anwendet, um die sinnlich-physische Welt zu charakterisieren.

Wie weit unsere Gegenwart solchen Worten: «An diesem Orte sind die Worte Taten, und weitre Taten müssen ihnen folgen», mit Ver­ständnis entgegenkommt, davon wird abhängen, wie die Gegenwart die Geisteswissenschaft aufnimmt und wie gut die Menschen der Gegenwart vorbereitet sein werden, zu verhüten, daß durch den Mate­rialismus, der sonst doch herrschen muß, die Menschheits kultur immer mehr und mehr in die Verödung, in die Verarmung, in den Nieder­gang hineinkomme.

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FÜNFTER VORTRAG München, 28. August 1913

Ich möchte alles tun, daß wir uns über die Verhältnisse der geistigen Gebiete, über die wir uns während dieses Vortragszyklus verständigen wollen, gut verstehen können. Und aus diesem Grunde möchte ich wie eine Episode zunächst in unsere Zyklusbetrachtungen heute eine kleine Geschichte einschalten, welche geeignet sein wird, mancherlei aufzuklären in den Fragen, die wir zu betrachten haben werden und die wir auch schon betrachtet haben.

Professor Capesius war in einer bestimmten Zeit seelisch recht zer­quält und zergrübelt. Das kam durch die folgenden Gründe. Sie wer­den namentlich aus der «Pforte der Einweihung» entnommen haben, daß Capesius eine Art Geschichtsgelehrter ist, ein Historiker. Nun hat mir die okkulte Forschung ergeben, daß eine Anzahl namhafter Historiker der Gegenwart dieses gerade dadurch geworden sind, daß sie in irgendeinem Verhältnis gestanden haben zur ägyptischen Ein­weihung im dritten nachatlantischen Kulturzeitraum. Entweder daß solche Geschichtsgelehrten direkt mit dem Einweihungsprinzip zu tun hatten oder den Tempelgeheimrissen in der einen oder anderen Art nähertraten. Sie werden bemerkt haben, daß Capesius ein Histori­ker ist, der sich nicht allein auf äußere Schriftwerke verläßt, sondern der auch versucht, die Ideen der Geschichte zu durchdringen, die in der Menschheitsentwickelung, in der Kulturentfaltung spielen.

Während ich versuchte, in der «Pforte der Einweihung», in der «Prüfung der Seele» und in dem «Hüter der Schwelle» Capesius zu charakterisieren, muß ich gestehen, stand mir immer seine Beziehung zu dem ägyptischen Einweihungsprinzip vor Augen, die im siebenten und achten Bilde in «Der Seelen Erwachen» näher zum Ausdruck gekommen ist. Und das sollte man eigentlich festhalten, daß die Er­lebnisse, welche die Capesius-Seele während ihrer ägyptischen In­karnation hatte, all den späteren Schicksalen zugrunde liegen, die für diese Seele auch für die Gegenwart in Betracht kommen. So ist Cape­sius Historiker, Geschichtsgelehrter. Er hat sich hauptsächlich in seinem

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Gelehrtenleben mit Geschichte befaßt, mit all dem, was das Wer­den und Wesen der Völker, der Kulturen, der einzelnen Menschen in den aufeinanderfolgenden Epochen zur Entwickelung gebracht hat.

Eines Tages aber war an Capesius etwas von der Literatur des Haeckelismus herangetreten. Er hatte sich mit dieser ganzen Welt­anschauung, mit der er sich früher wenig befaßt hatte, bekannt­gemacht und im Anschluß daran allerlei Schriften über atomistische Weltanschauung gelesen. Das war der Grund zu seiner Zerquältheit, und es war eine merkwürdige Stimmung, die über ihn kam, als er in verhältnismäßig spätem Alter diesen atomistischen Haeckelismus ken­nenlernte. Sein Verstand sagte ihm: Man kann eigentlich mit den Er­scheinungen der Natur um sich herum nicht ordentlich zurechtkom­men, wenn man sich nicht in dieser Weise aus Atomen heraus durch eine mechanische Weltanschauung die Erscheinungen der Natur er­klären will. - Mit anderen Worten, es kam Capesius immer mehr und mehr dazu, in einer gewissen Weise das einseitige Recht des Atomismus, die mechanische Naturanschauung einzusehen. Er gehörte nicht zu denen, die fanatisch eine solche Sache von vornherein ablehnen, denn er mußte sich auf seinen Verstand verlassen, und da erschien ihm manches notwendig von dieser Anschauung, um die Erscheinun­gen der Natur um sich herum zu erklären. Aber dennoch quälte ihn das. Denn er sagte sich: Wie öde, wie unbefriedigend für die mensch­liche Seele ist wiederum diese Naturanschauung! Wie schlecht kommt jede Idee dabei weg, die man über Geist und Geistwesen, über das Seelische gewinnen will!

So fand sich Capesius von Zweifeln hin- und hergetragen, und da trat er denn, ich möchte sagen fast instinktiv denjenigen Gang an, den er oft angetreten hat, wenn es ihm schwer um die Seele geworden ist. Er ging ins Balde-Häuschen, um sich dort mit den guten Leuten zu besprechen, die ihm oftmals so schöne, gute Seelendienste geleistet hatten. Oftmals hatte ihn erfrischt, was in ihren wunderbaren Mär­chenbildern Frau Balde Capesius zu geben hatte. Und da ging er hin. Er traf zunächst, weil Frau Balde im Haus beschäftigt war, als er ankam, nur Felix Balde, den Vater Felix, den er im Laufe der Zeit so sehr lieben gelernt hatte. Dem trug er seine Qualen vor, seine Zweifel,

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in die er durch das Bekanntwerden mit dem Haeckelismus und Ato­mismus versetzt worden war. Er setzte ihm erstens auseinander, wie notwendig es dem Verstande erscheine, so etwas auf die Naturerschei­nungen anzuwenden; und auf der anderen Seite trug er dem guten Vater Felix vor, wie öde und unbefriedigend eine solche Weltanschau­ung sei. Recht beunruhigt war Capesius, als er da sozusagen seelisch hilfesuchend zu dem Vater Felix kam. Vater Felix ist eben eine andere Natur als Capesius. Er geht seinen bestimmten Gang. Er lehnte so etwas wie den Haeckelismus und die atomistische Weltanschauung direkt ab, indem er unserem guten Professor Capesius auseinander-setzte, was es damit auf sich habe. Er sagte ihm: Gewiß, Atome muß es geben. Es ist ganz berechtigt, von Atomen zu sprechen. Aber man muß sich klar sein darüber, daß diese Atome, wenn sie die Welt irgend­wie bilden sollen, sich so aneinander schichten und lagern müssen, daß die Aneinanderlagerung den Zahlen und Maßen entspricht; daß das Atom der einen Substanz zu vier, der anderen zu drei, der anderen zu eins, zwei eine Ganzheit bildet; daß auf diese Weise die Stoffe zu­stande kommen, die in der Welt sind. - Capesius, der historisch gut unterrichtet war, kam das etwas pythagoreisch vor; er fühlte, daß da das pythagoreische Prinzip in Felix Balde waltete. Felix Balde wollte ihm klarmachen, daß man mit den Atomen nichts anfangen könne, sondern daß da drinnen Maß und Zahl weise herrschen. Und immer komplizierter wurde das, was Vater Felix auseinandersetzte in immer komplizierteren Zahlenverhältnissen, nach denen die Weltenweisheit die Atome aneinander gruppiert und sie als geistiges Prinzip zwischen den Atomen geltend macht. Immer komplizierter wurden die Figuren, die Vater Felix dem Capesius vorkonstruierte. Da überkam den guten Professor Capesius eine merkwürdige Stimmung, eine Stimmung, die man so charakterisieren könnte: er mußte sich so anstrengen, dieses Komplizierte zusammenzuhalten, daß er, trotzdem ihn die Sache außerordentlich interessierte, eine Art Gahnen unterdrücken mußte, daß er in eine Art traumhaften Zustandes fast verfiel.

Da kam, bevor sozusagen der gute Professor Capesius völlig in einen traumhaften Zustand verfiel, Frau Balde dazu, die erst noch eine Weile die ganze Auseinandersetzung über die Zahlen und Figuren

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mit anhören mußte. Sie setzte sich geduldig hin. Sie hatte eine Eigen­tümlichkeit an sich. Wenn sie von etwas nicht ganz sympathisch, im guten Sinne sympathisch, berührt war, und es nötig hatte, sich hin­wegzuhelfen über eine gutgemeinte Langeweile, da machte sie mit beiden Händen eine Faust und bewegte die Daumen im Kreise, und immer, wenn sie das tat, da konnte sie das Gahnen dadurch ganz zu­rückhalten. Nachdem sie so das ein bißchen gemacht hatte, entstand eine Pause, und sie konnte jetzt anfangen, mit einer erfrischenden Erzählung Capesius wiederum aufzurütteln. Und da erzählte denn Frau Felicia dem guten Professor Capesius das Folgende.

Es war einmal in einer sehr einsamen Gegend eine große Burg. In dieser Burg wohnten viele Menschen, alte und junge, von den jüng­sten bis zu den ältesten; aber alle waren mehr oder weniger verwandt, so daß alle in irgendeiner Weise zusammengehörten.

Diese Menschen, die für sich eine abgeschlossene Gemeinde bilde­ten, waren aber auch von der übrigen Welt in einer gewissen Weise abgeschlossen, denn ringsherum waren weit und breit nicht Menschen und menschliche Ansiediungen zu finden. So daß eine Zeit kam, in der es einer größeren Anzahl dieser Menschen etwas unbehaglich wurde. Und das hatte zur Folge, daß einzelne dieser Menschen wie Visionäre wurden, Visionen bekamen, die wohl durch die Art, wie sie auftraten, auf etwas Reales sich beziehen konnten. Da erzählte dann Frau Felicia, daß eine größere Anzahl von Personen die gleiche Vision hatten. Zunächst hatten sie die Vision, wie aus den Wolken herunter-stieg eine mächtige Lichtgestalt; eine Lichtgestalt, welche sich dann, indem sie herunterkam, wie erwärmend in die Herzen und Seelen der Burgbewohner hineinsenkte. Und man fühlte wirklich auch - so er­zählte Frau Felicia - etwas von Erleuchtendem, was hereinkam wie aus Himmelshöhen durch diese Iichtgestalt, die von oben kam.

Bald aber, so erzählte sie, stellte sich für all die Menschen, welche diese Vision der Lichtgestalt hatten, auch noch etwas anderes ein. Sie sahen um die Burg herum überall wie aus der Erde herauskrabbelnd alle möglichen schwärzlich-bräunlichen, stahlgrauen Gestalten. Wäh­rend die Lichtgestalt von oben eine einzige war, kamen viele, viele solche Gestalten um die Burg herum. Während die Lichtgestalt mehr

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in die Herzen, mehr in die Seelen ging, waren diese Wesen - man könnte sie Elementarwesen nennen - wie Belagerer der Burg.

Und so lebten denn lange Zeit diese Persönlichkeiten in der Burg -und es war eine ziemlich große Anzahl - zwischen dem, was von oben kam, und dem, was die Burg von außen belagerte. Eines Tages aber zeigte es sich, daß die Gestalt von oben sich tiefer senkte als sonst, und auch die Belagerer mehr hereinkamen. Bei den Visionären im Schloß verbreitete sich eine unbehagliche Stimmung. Wir mussen be­rücksichtigen, daß Frau Balde ein Märchen erzählte. Die Visionäre kamen mit den übrigen Schioßbewohnern in eine Art von traum­hafter Stimmung. Die Gestalt von oben teilte sich in einzelne Licht-wolken; aber diese wurden von den Belagerern der Burg erfaßt und verdunkelt. Das hatte zur Folge, daß allmählich die Schioßbevölke­rung in Traum versetzt wurde, und dadurch wurde die irdische Lebens­dauer der Schloßbewohner auf Jahrhunderte verlängert. Und sie fan­den sich nach Jahrhunderten wieder; aber jetzt fanden sie sich ver­teilt in kleinere Gemeinden und an die verschiedensten Orte der Erde hin versetzt. Sie bewohnten wiederum kleinere Burgen, die wie eine Kopie der großen Burg waren, die sie vor Jahrhunderten bewohnt hatten. Und es zeigte sich, daß dasjenige, was sie erlebt hatten in der alten Burg, jetzt in ihrer Seele war als Seelenstärke, als Seelengut, als Seelengesundheit. Und sie konnten wacker in den Burgen alles mög­liche treiben: Ackerbau, Viehzucht und so weiter; sie wurden tüch­tige Leute, tüchtige Bebauer des Feldes, hatten gesunde Seelen und auch gesunde Leiber.

Nachdem Frau Felicia das erzählt hatte, war durch die Erzählung, wie ihm das immer passiert war, der gute Professor Capesius sehr an­genehm berührt. Vater Felix aber fühlte die Notwendigkeit, etwas zur Erklärung dieses Bildes, das dazumal Frau Felicia zum erstenmal erzählt hatte, beizutragen. Und Vater Felix fing an: Ja, die Gestalt, die da von oben aus den Wolken kam, das ist das luziferische Prinzip, und die Gestalten, die von außen wie Belagerer kamen, die sind das ahrimanische Prinzip und so weiter. Und immer komplizierter wurde Vater Felix. Frau Felicia hörte anfangs zu, machte dann ihre Faust mit beiden Händen, rollte die Daumen, dann aber sagte sie, als Vater

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Felix immer komplizierter wurde: Ja, ich muß jetzt selbst nach der Küche sehen; wir haben heute Kartoffelklöße, die würden zu weich werden. - Und schlich hinaus in die Küche. Capesius wurde durch die Erklärungen des guten Vater Felix so gestimmt, daß er nicht recht mehr zuhören konnte, trotzdem er den Vater Felix gern hatte, und daß er eigentlich das, was dieser noch zur Erklärung brachte, wirklich nicht mehr recht hörte.

Nun muß ich hinzufügen, daß Capesius dieses, was ich jetzt erzählt habe, in einer Zeit passiert ist, in welcher er schon mit Benedictus bekannt war, sozusagen ein guter Schüler desselben war. Und er hatte oftmals von Benedictus erzählen hören, wie es sich mit dem luziferi­schen und dem ahrimanischen Element verhält. Trotzdem der Pro­fessor Capesius ein sehr kluger Mensch ist, konnte er aber nie so ganz zurechtkommen mit den Auseinandersetzungen des Benedictus über das luziferische und das ahrimanische Element. Es blieb immer ein Rest; er wußte mit den Erklärungen des Benedictus doch nichts Rech­tes anzufangen. So ging er denn diesmal weg, behielt in der Seele die Erzählung von der Burg, die sich vervielfältigte, und mußte oftmals, fast täglich an diese Erzählung denken. Da kam er wiederum einmal zu Benedictus, und siehe da, Benedictus konnte jetzt bemerken, daß etwas vorgegangen war in der Seele des Capesius. Capesius selber hatte bemerkt: Jedesmal, wenn er sich an die Erzählung von der Burg, die sich vervielfältigte, erinnerte, wurde seine Seele eigentümlich innerlich angeregt. Es war, wie wenn diese Erzählung kräftebildend in seiner Seele gewirkt hätte, wie wenn seine Seele durch sie erkraftet worden wäre. Daher wiederholte er die Erzählung immer wieder und wiederum wie meditierend. Und nun kam er wieder zu Benedictus, der bemerkte, daß diese Seelenkräfte in sich erkraftet waren. Und Bene­dictus setzte ihm in eigenartiger Weise jetzt das Folgende auseinander.

Während vorher der Professor Capesius, vielleicht gerade wegen seiner Gelehrsamkeit, die Auseinandersetzungen des Benedictus weni­ger verstanden haben würde, hatte er jetzt ein ganz außerordentliches Verständnis. Es war wie ein Samenkorn, das seine Seelenkräfte befruch­tet hatte, was da hineingefallen war durch die Erzählung der Frau Felicia.

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Benedictus sagte: Betrachten wir einmal drei Dinge! Erstens be­trachten wir das menschliche Denken, das menschliche Vorstellen, den Gedanken, den der Mensch in sich tragen kann, durch den er sich die Welt begreiflich macht in aller seiner Einsamkeit. Gedanken zu haben, innerlich sich auseinanderzusetzen in voller Einsamkeit, das kann der Mensch ganz, für sich. Dazu braucht er sich nicht anzuschlie­ßen an irgendeinen Menschen. Er macht es sogar am besten dadurch, daß er sich abschließt in seinem Kämmerchen und im stillen, in sich geschlossenen Denken mit der Kraft, die in irgendeinem Zeitpunkt sein Denken hat, versucht, die Welt und ihre Vorgänge zu verstehen. Nun sagte Benedictus: Ja, wenn man so verfährt mit dem Gedanken, dann ist es aber beim einzelnen Menschen immer so, daß das fühlsame Element der Seele heraufwirkt in den Gedanken, in die Vorstellungen hinein. Dadurch tritt immer die Versuchung, die Verlockung des luzi­ferischen Elementes an den Menschen heran. Es ist gar nicht denkbar, daß der Mensch in Einsamkeit grübelt und spintisiert und philoso­phiert und sich über die Dinge der Welt auf klärt, ohne daß aus seiner fühlsamen Seele dieser Einschlag in das Denken kommt, und dadurch ein luziferischer Impuls in das einsame Denken hineinkommt. Der von dem einzelnen Menschen erfaßte Gedanke ist immer durch­drungen, zum großen Teil erfaßt und durchdrungen vom luziferi­schen Element.

Während früher Capesius wenig verstanden, wenn Benedictus vom luziferischen und ahrimanischen Elemente sprach, war es ihm jetzt selbstverständiich, zu begreifen, daß in dem einsamen Gedanken, den der Mensch in sich faßt, immer die Verlockungen des luziferischen Elementes stecken müssen. Und er verstand jetzt, daß Luzifer an der Betätigung des Menschen im einsamen Denken immer einen Anhalts­punkt hat, um den Menschen aus dem fortschreitenden Gang der Weltentwickelung herauszureißen und hinzuführen - weil sich der Mensch von der Welt absondert im einsamen Denken - zu der iso­lierten Insel, die sich Luzifer, abgesondert von der übrigen Welten-ordnung, errichten will, um alles, was sich absondert, da gewisser­maßen anzusiedeln. Es lenkte also Benedictus zunächst auf das ein­same, persönliche, innerliche Denken den Capesius hin.

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Und jetzt, sagte er, wollen wir etwas anderes ins Auge fassen. Wol­len wir einmal ins Auge fassen dasjenige, was in der Schrift auftritt. In der Schrift haben wir ein merkwürdiges Element der menschlichen Kulturentwickelung. Wenn man das Bedeutsame des Gedankens ins Auge faßt, so muß man sagen: Der Gedanke, so wie er zunächst ist, lebt im einzelnen Menschen. Er ist Luzifer zugänglich, weil Luzifer das Seelische aus der physischen Welt herausführen und in die Isolie­rung hineinbringen will. Aber dieser einzelne Gedanke ist Ahriman nicht zugänglich, denn dieser einzelne Gedanke ist den ganz normalen Gesetzen des Entstehens und Vergehens des physischen Planes unter­worfen. Bei der Schrift ist es etwas anderes, da wird das, was Gedanke ist, der Vernichtung entzogen, wird dauernd gemacht.

Nun habe ich Sie darauf hingewiesen, wie Ahriman überall darauf bedacht ist, dem Strom der Vernichtung zu entziehen, was im mensch­lichen Denken lebt, es da zu behalten in der physisch-sinnlichen Welt. Das ist der charakteristische Vorgang, wie das entsteht, was man auf-schreibt. Da wird der menschliche Gedanke, der sonst in der Zeit ver­gehen würde, fixiert, wird für die Zeit aufbewahrt. Da dringt gerade Ahriman in die menschliche Kultur ein. Obwohl der Professor Capesius kein Rückschrittler ist und es nicht mit denen halten will, die etwa die Schrift abschaffen oder in den Volksschulen verbieten wollen, so sah er doch ein, daß, indem die Menschheit Schriftwerke um Schriftwerke überall ansammelt, die ahrimanischen Impulse in die Kulturentwickelung hereinkommen. So wußte er jetzt: im einsamen Gedanken ist luziferische Verlockung; in den Schriftwerken, in all dem, was fixiert wird durch Schreiben oder Drucken, ist ahrimanisches Element. Er wußte, daß die menschliche Entwickelung schon in der äußeren physischen Welt gar nicht sein kann, ohne daß das Ahrimani­sche und Luziferische allüberall hereinspielen. Und er verstand es jetzt, daß gerade mit der fortschreitenden Kultur, indem die Schrift immer größere Bedeutung gewinnt - um das zu erkennen, braucht man nicht hellsichtig zu sein, sondern nur die Entwickelung zu ver­folgen um ein paar Jahrhunderte -, auch das Ahrimanische immer mehr Bedeutung gewinnen muß. Ahriman gewinnt immer mehr und mehr dadurch, daß die Schrift immer größere Bedeutung in der

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Menschheitsentwickelung bekommt. Und heute, wo sie eine so große Bedeutung hat - Capesius war sich darüber klar -, haben wir gerade­zu große ahrimanische Zwingburgen. Es ist zwar noch nicht üblich geworden - soweit hat es die Geisteswissenschaft noch nicht gebracht, daß man sich im öffentlichen Leben in der Wahrheit ausdrückt -, daß, wenn ein Student auf die Bibliothek geht, er sagt: Ich gehe jetzt in die Ahrimanburg ochsen! - Aber die Wahrheit ist das doch. Die gro­ßen und kleinen Bibliotheken sind die Ahrimanburgen, sind diejeni­gen Zwingburgen, von denen aus Ahriman in die menschliche Kultur-entwickelung in intensivster Weise eingreift. Man muß nur in einer solchen Beziehung den Tatsachen kühn ins Auge schauen.

Nun aber erklärte Benedictus dem Capesius noch etwas anderes. Er sagte ihm: Nun gut, jetzt haben wir den Gedanken in der einsamen Persönlichkeit auf der einen Seite; wir haben das Schriftwerk, das Ahriman angehört, auf der anderen Seite; aber dazwischen haben wir einen mittleren Zustand. Im Luziferischen haben wir etwas Einheit­liches. Der Mensch strebt nach der Einheit, wenn er im Gedanken die Welt sich erklären will. In der Schrift haben wir etwas Atomisti-sches. Dann zeigte Benedictus dem Capesius, was dieser wiederum gut verstand infolge der Auffrischung seines Gemütes durch die Er­zählung der Frau Felicia: Zwischen beiden, zwischen dem einsamen Gedanken und der Schrift, haben wir das Wort; das Wort, in dem man nicht einsam nur sein kann, wie mit seinen Gedanken. Durch das Wort lebt man in einer Gemeinschaft. Denken kann man abgeson­dert, allein. Es hat eine Bedeutung, wenn man allein denkt; aber man brauchte kein Wort, wenn man einsam für sich gehen will. Die Sprache hat Bedeutung in der Gemeinsamkeit. So ist das Wort herausgeholt aus der Einsamkeit der menschlichen Persönlichkeit; es entfaltet sich in der Gemeinsamkeit. Es ist der verkörperte Gedanke, das Wort, aber es ist zugleich für den physischen Plan etwas ganz anderes als der Gedanke. Man braucht nicht auf die heliseherischen Resultate ein­zugehen - in verschiedenen Vorträgen habe ich darauf aufmerksam gemacht -, sondern man kann schon äußerlich historisch, und weil er ein Historiker war, verstand das Capesius sehr gut, man kann schon durch die äußere Historie einsehen, daß das Wort oder die Sprache

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ursprünglich ein ganz anderes Verhältnis haben sollte zur Menschheit, als sie es gewonnen hat in der heutigen Zeit. Wenn man nämlich immer weiter und weiter zurückgeht in den Sprachen, so merkt man, daß man wirklich einmal kommen muß - wie es die okkulte Beobach­tung zeigt - zu einer menschlichen Ursprache, die den ganzen Erd­kreis umfaßte und die sich nur differenziert hat. Schon wenn man zum Hebräischen - in dieser Beziehung ist die hebrälsche Sprache ganz besonders merkwürdig - zurückgeht, merkt man in den Worten etwas anderes als in den Worten Westeuropas. Die Worte des Hebräertums sind viel weniger konventionell, sie haben sozusagen eine Seele, so daß man ihren Sinn ihnen anfühlt; sie sprechen einem ihren notwendi­gen Sinn aus, mehr als die westeuropäischen Sprachen. Je weiter man zurückgeht in der Entwickelung, desto mehr findet man solche Spra­chen, die der gemeinsamen Ursprache ähnlich waren. Das, was erzählt wird als Turmbau zu Babel, ist Symbolum für die Tatsache, daß es wirklich eine Ursprache gegeben hat, und daß diese differenziert wor­den ist in die einzelnen Volks- und Stammessprachen. Dadurch, daß die gemeinsame Ursprache in die Volks- und Stammessprachen sich differenziert hat, kommt sozusagen das Wort auf halbem Wege ent­gegen der Einsamkeit des Gedankens. Es spricht nicht ein jeder Mensch seine eigene Sprache - da würde die Sprache nicht ihren Sinn haben -, sondern es sprechen nur Menschengruppen die gemeinsame Sprache. Es ist also das Wort ein Mittelding geworden zwischen dem einsamen Gedanken und der Ursprache. In der Ursprache gab es ein bestimmtes Wort, das verstand man durch den Laut, den es hatte, durch das, was es durch seinen Lautwert war. Man brauchte sich nicht weiter konventionell über den Lautwert zu unterrichten, sondern man fand in der Ursprache die Seele des Wortes. Das ist, wie gesagt, diffe­renziert. Und alles, was Absonderung bewirkt, wirkt auch dem Luzi­fer in die Hände, so daß die Menschen, indem sie differenzierte Spra­chen sich bildeten, dadurch ein absonderndes Prinzip aufnahmen, das heißt, sich in die Strömung hineinbegaben, die es Luzifer leicht macht, den Menschen aus der allgemeinen Weltenordnung herauszuheben, die schon vorbestimmt war, bevor Luzifer da war; also auf die Isolier­insel den Menschen zu setzen, ihn abzusondern von dem übrigen fortschreitenden

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Gang der Menschheitsentwickelung. So liegt im Element der Sprache, des Wortes, ein mittlerer Zustand. Wenn das Wort das geblieben wäre, was es hat werden sollen, wenn das Luziferische sich nicht hergemacht hätte über das Wort, so würde das Wort dem von Luzifer und Ahriman freien mittleren göttlichen Zustand entsprechen, in dem der Mensch hinsegeln kann rein entsprechend der fortschrei­tenden göttlich-geistigen Weltenordnung. So ist das Wort auf der einen Seite luziferisch beeinflußt worden. Während der Gedanke fast ganz, wenn er einsam gefaßt ist, dem luziferischen Element unterliegt, ist das Wort ein wenig ergriffen in der Weise, wie ich es ausein­andergesetzt habe, von dem luziferischen Element auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite wirkt aber auch die Schrift auf das Wort zu­rück, und gerade je weiter die Menschheit fortschreitet, desto größere Bedeutung bekommt die Schrift für die Sprache. Das liegt dem Um­stand zugrunde, daß die Dialekte, die noch nichts mit der Schrift zu tun haben, allmählich untertauchen, und als das vornehmere Element vielfach das auftritt, was man sogar die Schriftsprache nennt. Das be­zeugt, daß rückbeeinflußt wird die Sprache von der Schrift. Man kann das in einzelnen Gegenden sehr klar sehen. Ich muß mich immer wie­der erinnern an etwas, was mir aufgefallen ist an mir selber und an meinen Schulgenossen. In Österreich, wo man so vieles Dialektisches durcheinander hatte, wurde großer Wert darauf gelegt in den Schulen, daß die Schüler eine Schriftsprache lernten, die sie früher, wenigstens zum großen Teil, nicht gesprochen hatten. Und das hat sogar eine ganz besondere Wirkung, diese Aneignung der Schriftsprache. Ich kann ganz unbefangen darüber reden, weil ich selbst der eigentüm­lichen Wirkung dieser Schriftsprache, dem österreichischen Schul­deutsch, eine lange Zeit meines Lebens ausgesetzt war und mir es nur mit Mühe abgewöhnt habe - manchmal schlägt es schon noch durch. Diese Eigentümlichkeit besteht darin, daß man alle kurzen Vokale lang und alle langen kurz spricht, während der Dialekt, die Sprache also, die aus dem Wort herausgeboren ist, richtig sagt. Wenn man zum Beispiel meint die Sonne, die am Himmel steht, dann sagt der Dialekt: D' Sunn. - Derjenige aber, der durch die österreichischen

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Schulen gegangen ist, ist versucht zu sagen: Die Soone. - Der Dialekt sagt: Der Sun für Sohn; die österreichische Schulsprache sagt dafür:

Der Sonn. - So sagt man denn: die Soone und der Sonn. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es hängt einem durchaus an oder wenigstens hing es einem an.

Da sieht man, wie sozusagen die Schrift zurückwirkt auf die Spra­che. Aber sie wirkt überhaupt zurück. Man wolle sich nur einmal den Fortschritt der Kultur vor Augen stellen; man wird finden, wie gerade mit fortschreitender Kultur die Sprache das Lebensvolle, das Ele­mentarische, das Organische, das auf dem Grund und Boden gewach­sen ist, verliert, wie die Menschen immer mehr und mehr eine Art Büchersprache sprechen. Da wirkt von der anderen Seite das Ahrima­nische, das im Schrifttum immer ist, wiederum auf das Wort zurück. Derjenige, der sich naturgemäß entwickeln will, der wird natürlich gerade an diesem Beispiel der drei Dinge, die jetzt Benedictus für Capesius herausgewählt hat, merken, wie unsinnig es wäre, Ahriman und Luzifer aus der Entwickelung ausschalten zu wollen.

Drei Dinge, so zeigt Benedictus, kommen in Betracht: der einsame Gedanke, das Wort, die Schrift. Nun wird niemand wollen, der ge­sund denkt, auch wenn er die Wahrheit ganz eingesehen hat, daß dem einsamen Gedanken Luzifers Einfluß zugrunde liegen muß, und der Schrift Ahrimans Einfluß. Es wird niemand jetzt Luzifer ausrotten wollen, da, wo er so handgreiflich wirkt, denn das würde heißen, das einsame Denken verbieten. Manchem - man muß das sagen - wäre das das Bequemste, aber offen wird man es ganz gewiß nicht vertreten wollen. Auf der anderen Seite wird man auch nicht die Schrift aus­rotten wollen, sondern sich sagen müssen: Wie positive und negative Elektrizität einen Gegensatz bedeuten in der äußeren physischen Natur, so bedeuten das Ahrimanische und das Luziferische einen Gegensatz, der da sein muß. Zwei Pole sind es, von denen keiner nicht da sein darf, sondern die nach Maß und Zahl in Verhältnis gebracht werden müssen. Dann kann der Mensch in jener mittleren Linie sich bewegen im Zustand des Wortes. - Es ist ja die Bestim­mung des Wortes, Weisheit zu enthalten, Erkenntnis zu enthalten, Gedanken, Vorstellungen zu enthalten. Es kann sich nun der Mensch

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zum Beispiel sagen: Ich muß mich innerhalb des Wortes so entwickeln, daß ich alles Eigensinnige, bloß Persönliche mir gerade durch das Wort korrigieren lasse, dadurch, daß ich aufnehme in meine Seele, was in dem Wort, in dem weisheitsvollen Wort aller Zeiten hervor­gebracht worden ist. - Achtung nicht nur vor der eigenen Meinung, nicht nur vor dem, was man selber glaubt und als richtig anerkennen kann durch eigene Kraft, sondern Respekt vor dem, was sich durch die Kulturen und durch das Mühen um Weisheit der verschiedenen Völker in der geschichtiichen Entwickelung ergeben hat. Das bedeu­tet auf der einen Seite, Luzifer sozusagen zum Worte in das rechte Verhältnis zu bringen. Nicht das einsame Denken ausschalten, aber auch beachten, daß das Wort der Gemeinsamkeit angehört und man das Wort verfolgen muß durch Zeitalter. Je mehr man dieses tut, um so mehr gibt man dem Luzifer den richtigen Einfluß auf das Wort. Man verfällt dann nicht bloß der Autorität des Wortes, sondern man schützt das Wort, das die Weisheit der Erde von Kulturepoche zu Kulturepoche trägt. Auf der anderen Seite obliegt es dem Menschen, der den Tatbestand richtig einsieht, daß er auch nicht dem starren autoritativen Prinzip verfällt, das in der Schrift liegt, denn damit ver­fällt er, ob die Schrift das Heiligste oder Profanste enthält, dem Ahri­man. Man muß sich klar sein, daß für die äußere materielle Kultur der Mensch schon einmal die Schrift haben muß, und daß die Schrift etwas ist, wodurch Ahriman, wie es seine Aufgabe ist, das Denken herauslösen will aus dem Strom der Vernichtung. Er will es nicht einströmen lassen in die Todesströmung. Da haben wir in der Schrift die beste Gelegenheit, zurückzuhalten das Denken auf dem physischen Plan. Mit vollem Bewußtsein dem gegenüberstehen, daß man das ahrimanische Element im Schriftwerk hat, niemals dem Schriftwerk zugeben, daß es Gewalt bekommt über den Menschen, kurz, sich das Wort im mittleren Zustand so bewahren, daß gleichsam von links und rechts - vom Denken und von der Schrift - die zwei polarischen Gegensätze Luzifer und Ahriman wirken: so muß man sich verhalten, wenn man auf dem rechten Boden stehen will. Wenn man dieses rich­tig ins Seelenauge faßt, wenn man sich klar ist, daß überall Gegensätze wirken müssen, dann steht man auf rechtem Boden.

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Als Capesius von Benedictus dieses gehört hatte und es umfangen hatte mit seinen durch Frau Felicia gestärkten Seelenkräften, da stand er zu dem, was ihm jetzt Benedictus auseinandersetzte, in ganz ande­rem Verhältnis als früher, wo auch schon Benedictus ihm das luzife­rische und ahrimanische Element auseinandergesetzt hatte. Dadurch, daß immer mehr und mehr wirkten diese die Seelenkräfte befruchten­den Märchen, die aus der geistigen Welt heraus inspiriert sind, kam Capesius selber dahin, zu erleben, daß seine Seelenkräfte innerlich erstarkten, daß seine Seelenfähigkeiten innerlich erkrafteten. Das ist dargestellt im dreizehnten Bilde von «Der Seelen Erwachen», wo die eine Seele nkraft in Capesius, die mit der Philia gemeint ist, ihm wirk­lich geistig greifbar entgegentritt, nicht bloß als abstrakte Seelenkraft. In demselben Maße, in dem Philia zu einer Wesenheit sich aus-wuchs in der Seele des Capesius, in demselben Maße verstand er in der richtigen Weise immer mehr und mehr das, was eigentlich Bene­dictus von ihm wollte. Dazumal, als er die besonders befruchtende Erzählung von der Burg, die sich vervielfältigte, die in die Zahl schoß, hörte, hatte sie anfangs nicht gleich gewirkt, da schlief er fast sanft ein, und namentlich war er vorher fast eingeschlafen, als Vater Felix von den Atomen geredet hatte. Jetzt aber erkannte diese Seele des Capesius, nachdem sie so gereift war, daß eine Dreiheit vorliegt in der ganzen Strömung der Weltenentwickelung: das Luziferische auf der einen Seite - einsame Gedanken; das Ahrimanische auf der anderen Seite - die Schrift; das dritte, der mittlere Zustand, das rein Göttliche. Die Dreizahl erkannte er jetzt in diesem bedeutungsvollen Faktum der Kulturentwickelung des physischen Planes, und er konnte ahnen, wie diese Dreizahi überall zu suchen ist. Jetzt stellte sich Capesius anders zum Gesetz der Zahl als früher; jetzt fuhlte er durch die in ihm erwachende Philia das Wesen der Zahl im Werdegang der Welt, und jetzt wurde ihm auch das Wesen des Maßes klar, daß in jeglicher Dreiheit zwei wie Gegensätze sich verhalten und gegenseitig maßvoll in Harmonie gesetzt sein müssen. Und ein großes, gewaltiges Weltgesetz erkannte Capesius, von dem er jetzt wußte, daß es sich in irgend­einer Weise finden müsse, nicht nur auf dem physischen Plan, sondern auch in den höheren Welten.

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Wir werden über das alles noch zu sprechen haben bei den subtilen Auseinandersetzungen über die göttlich geistige Welt. Capesius ahnte, daß er in ein Gesetz eingedrungen war, das sich sonst in der physischen Welt verhält, wie wenn ein Schleier es zudeckte, und daß er mit ihm etwas hatte, womit er die Schwelle überschreiten kann. Und wenn er die Schwelle überschreitet, dann kommt er in die geistige Welt, wo er hinter sich lassen muß alles das, was bloß durch die phy­sische Erfahrung angeregt ist. Zahl und Maß, er hatte sie fühlen, er­fühlen, erleben gelernt. Und jetzt verstand er auch, wenn Benedictus andere Dinge heranzog, zunächst auch noch einfache, um ihm das Prinzip völlig beizubringen. Es sagte zum Beispiel Benedictus zu

Capesius: Man kann nun auch dasselbe Walten der Dreiheit, der Polarität oder des Gegensatzes in der Dreiheit, des maßvollen Aus-gleiches, an anderen Punkten des Daseins finden. Man kann wiederum ein Ding von einem anderen Gesichtspunkt aus ins Auge fassen: das Denken, das innere Vorstellen. Das innere Vorstellen, das Sich-Er­arbeiten der Weltengeheininisse, das ist das eine; das zweite ist das reine Wahrnehmen, sagen wir das bloße Hinhören. Es gibt Menschen, welche mehr daraufhin angelegt sind, alles in sich ergrübelnd zu über­legen. Andere Menschen, die denken nicht gerne, die hören überall hin, nehmen alles auf das Hinliorchen, auf die Autorität hin an, und wenn es auch die Autorität der Naturerscheinungen ist, denn es gibt auch eine Dogmatik der äußeren Erfahrung, wenn man sich nämlich die äußeren Naturerscheinungen aufdrängen läßt.

Nun konnte leicht Benedictus dem Pröfessor Capesius zeigen: In dem einsamen Denken liegt wiederum die luziferische Verlockung; in dem bloßen Hinhorchen, in dem bloßen Wahrnehmen liegt das ahrimanische Element. Man kann aber einen mittleren Zustand ein­halten, sozusagen zwischendurchgehen. Man braucht weder bloß zu verweilen in dem abstrakten, grüblerischen Denken, wobei man sich einsiedlerisch in der Seele abschließt, noch sich hinzugeben dem blo­ßen Hinhören und Hinsehen auf das, was die Ohren und Augen wahr­nehmen können. Man kann noch ein anderes tun, indem man das, was man denkt, innerlich so lebendig macht, so kraftvoll macht, daß man den eigenen Gedanken wie etwas Lebendiges vor sich hat und

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in ihn lebendig sich vertieft wie in etwas, was man draußen hört und sieht, so daß der eigene Gedanke so konkret wird wie das, was man hört oder sieht. Das ist ein mittlerer Zustand. In dem bloßen Gedan­ken, der dem Grübeln zugrunde liegt, da liegt das Herantreten des Luzifer an den Menschen; in dem bloßen Hinhören, sei es durch das Wahrnehmen oder sei es durch die Autorität der Menschen, liegt das ahrimanische Element. Wenn man innerlich erkraftet und erweckt die Seele, daß man seinen Gedanken gleichsam hört oder sieht, dann hat man das Meditieren. Das Meditieren ist ein mittlerer Zustand. Es ist weder Denken noch Wahrnehmen. Es ist ein Denken, das so lebendig in der Seele lebt, wie das Wahrnehmen lebendig lebt, und es ist ein Wahrnehmen, das nicht Äußeres, sondern Gedanken in der Wahr­nehmung hat. Zwischen dem luziferischen Element des Gedankens und dem ahrimanischen Element der Wahrnehmung fließt hin das Seelenleben im Meditieren als in dem göttlich-geistigen Element, das nur den Fortschritt der Welterscheinungen in sich trägt. Der medi-tierende Mensch, der in seinen Gedanken so lebt, daß sie lebendig in ihm werden, wie Wahrnehmungen in ihm sind, lebt in dem göttlichen Dahinströmen. Rechts hat er den bloßen Gedanken; links das ahrima-nische Element, das bloße Hinhorchen; und er schließt nicht das eine und das andere aus, sondern weiß, daß er in einer Dreiheit lebt, daß die Zahl das Leben regelt. Und er weiß, daß eine Polarität, ein Gegen­satz da ist, ein Gegensatz zweier Dinge, zwischen denen sich das Meditieren hinströmend bewegt. Und er weiß auch, daß maßvoll das luziferische und das ahrimanische Element hier in dem Meditieren sich das Gleichgewicht halten müssen.

Auf allen Gebieten lernt der Mensch kennen dieses Weltprinzip von Zahl und Maß, das Capesius, nachdem seine Seele vorbereitet war, durch die Anleitung des Benedictus erkennen lernte. So lebt sich die Seele, die sich vorbereiten will für die Erkenntnisse der geistigen Welten, allmählich in diese hinein, daß sie überall in der Welt, an jedem Punkt, den man erreichen kann, die Zahl sucht, vor allen Din­gen die Dreizahl; daß sie die polarischen Gegensätze sieht, durch die sich alles offenbaren muß, und die Notwendigkeit, daß die Gegen­sätze sich als Polaritäten das Gleichgewicht halten. Ein mittlerer Zustand

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kann nicht nur ein bloßes Hinströmen sein, sondern überall er-leben wir den Strom so, daß wir nach links und rechts das Seelenauge lenken müssen und unser Schiff hindurchsteuern müssen als das Dritte zwischen dem linken und rechten polarischen Gegensatz. Dies füh­lend, hatte Capesius kennengelernt durch Benedictus, in der richtigen Weise hinaufzusteuern in die geistigen Welten, die Schwelle der gei­stigen Welt zu überschreiten. Und so wird es jeder lernen müssen, der eindringen will in die Geisteswissenschaft so, daß ihm zu wirklichem Verständnis kommt die wahrhaftige Erkenntnis über die höheren Welten.

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SECHSTER VORTRAG München, 29. August 1913

In Anknüpfung an das, was gestern gesagt worden ist, dürfen noch einzelne Bemerkungen gemacht werden. Denn wir haben gesehen, daß es notwendig ist, um in das eigentliche Geistgebiet mit dem hell­sichtigen Bewußtsein hinaufzukommen und in entsprechender Weise die Schwelle der geistigen Welt zu überschreiten, alles zurückzulassen, was Wahrnehmungen der physischen Welt sind, was auch mit dem gewöhnlichen Denken, Fühlen und Wollen in der physischen Welt unternommen werden kann. Bereit sein muß man, vor Vorgängen und Wesenheiten zu stehen mit Merkmalen, die nichts von dem haben, was in der Sinneswelt beobachtet und erfahren werden kann. Dazu ist aber notwendig, daß man die Seele erst erkraftet, daß man die Fähig­keiten der Seele erst verstärkt. Und diese verstärkten, erkrafteten Fähigkeiten der Seele muß man hinauftragen. Man muß etwas mit­bringen, wenn man die Schwelle überschreitet in das Geistgebiet. Und wir haben darauf aufmerksam gemacht, daß alles das, was die sinnliche Welt uns geben kann, und die Vorstellungen, die Gefühle, die wir innerhalb der Sinneswelt gewinnen, Abbilder sind des sinnlich Wahrzunehmenden. Alles, was man so gewinnen kann, kann einem nicht helfen in der geistigen Welt. Das aber, was nicht Abbild der Sinneswelt ist, was zunächst nicht Bedeutung hat für die Sinneswelt, was aber angeregt werden kann innerhalb der Sinneswelt, was in freiem, innerem Seelenerleben ausgestaltet werden kann, muß hinauf-getragen werden in die übersinnlichen Welten. Und so haben wir denn darauf hingewiesen, wie man sich Vorstellungen aneignen kann von einer Dreiheit als von einem Zahlenverhältnis, von einem maß­vollen Zusammenwirken von Gegensätzen, wobei wir besonders das luziferische und ahrimanische Element berücksichtigt haben, von einem mittleren Zustand und so weiter. Solche Begriffe haben zu­nächst nicht eine unmittelbare Bedeutung in der physischen Welt. Man kann selbstverständlich auskommen in der physischen Welt ohne diese Begriffe, aber man muß sie sich schon in der physischen Welt

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bilden, wenn man sie hinauftragen will in die geistigen Welten. Und deshalb versuchten wir an Hand der Lehren des Benedictus darauf auf­merksam zu machen, wie innerhalb des physischen Planes in der mensch­lichen Kulturentwickelung wirken in der Dreiheit von Gedanke, Wort und Schrift Luziferisches, Ahrimanisches und der mittlere Zustand.

In Anknüpfung daran will ich nur bemerken, daß da mancherlei in Betracht kommt, was, wenn man es richtig ins Auge faßt, in der Tat ungeheuer notwendig werden kann für das Verständnis des Lebens der Menschheit, welches sich der Mensch von der Gegenwart aus wird erwerben müssen, wenn die Kultur in richtiger Weise fortgehen soll. Man wird es schon sehen, daß man bald nicht mehr auskommen wird mit den Begriffen, die man sich so bildet aus den Bedingungen heraus, aus denen die heute so bequeme Menschheit ihre Begriffe für Völker- und Zeitverständnis sich bilden möchte. Wir haben innerhalb der europäischen Kultur Völker, die sich in bezug auf die Sprache unterscheiden, Völker, die sich unterscheiden in bezug auf die Schrift­zeichen. Die westlichen Völker Europas schreiben mit den sogenann­ten lateinischen Lettern, aber es gibt auch europäische Völker, welche mit ganz anderen Buchstabenformen schreiben. Und innerhalb Euro­pas haben wir die Tatsache, daß zu den lateinischen Buchstaben die sogenannte Kurrentschrift hinzukommt, die gotische Schrift, und daß man beide nebeneinander hat. Das ist eine bedeutsame Erscheinung für die Beurteilung der Kultur Europas. Solche Dinge sind scheinbar kleine Symptome, aber es sind an die Oberfläche getriebene Symptome, die auf tiefe Urgründe des Daseins hindeuten. Völker, welche sich verschiedener Schriftzeichen bedienen, werden zu einer richtigen gegenseitigen Verständigung erst kommen, wenn sie berücksichtigen, daß diese Verständigung durch die gemeinsame Ergreifung eines spi­rituellen Elementes herbeigeführt werden müsse. Für Völker, welche verschiedene Schriftzeichen schreiben und durch diese dem ahrimani­schen Impuls besondere Angriffspunkte geben, genügt nicht ein Ver­ständigen unter den bloßen Bedingungen des physischen Planes, son­dern da muß von beiden Völkern ergriffen werden das spirituelle Element, und die Harmonie muß in diesem spirituellen Element ge­sucht werden. Für Völker, welche Schriftzeichen schreiben wie die

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lateinischen Buchstaben, ist es notwendig, daß sie, um sich zu ver­ständigen, das spirituelle Element so weit treiben, daß auch in bezug auf die Tatsachen des physischen Planes Verständigung eintritt. Das kann der, der solche Dinge, wie sie jetzt besprochen worden sind, versteht, in bezug auf die gegenseitigen Verhältnisse des europäischen Völkerlebens erkennen. Und tief bedeutsam ist es, daß in Mittel­europa, gleichsam um das eigentümliche Verhältnis des ahrimanischen und luziferischen Elementes auszudrücken, die beiden Schriftarten nebeneinander verwendet werden. Das ist aus dem Grunde, weil hier ein mittlerer Zustand nur unter ganz besonderen Schwierigkeiten er­reicht werden kann, so daß das mehr dem ahrimanischen Elemente ausgesetzte lateinische Alphabet in einen gewissen Gegensatz gebracht werden muß gegenüber dem mehr dem luziferischen Element aus­gesetzten gotischen Alphabet. Und es ist charakteristisch, daß manche Menschen in ihrem Schreiben durcheinandermischen müssen Kurrent­und Lateinschrift. Ungeheuer bedeutsam, hinweisend auf tief in den Untergründen der Seele Liegendes, ist solch ein Durcheinander­mischen, weil es hinweist auf die bedeutungsvolle Tatsache, in welch besonderer Art mit dem luziferischen und ahrimanischen Element eine solche Persönlichkeit sich auseinanderzusetzen hat. Und da kommt es darauf an, daß mancher sich ungeheuer bemühen muß, wenn er in deutscher Sprache schreibt, nicht in die Kurrentschrift zu verfallen, wenn er lateinisch schreiben will, nicht in die Lateinschrift zu verfallen, wenn er kurrent schreiben will. In solch feiner Art das Leben zu betrachten, daß man auf die Symptome schaut, die dasjenige, was in den okkulten Untergründen spielt, an die Oberfläche herauftragen, wird immer notwendiger und notwendiger in der Zukunft sein. Da­durch wird man lernen, innerhalb der physisch-sinnlichen Welt sich solche Vorstellungen, Empfindungen und Begriffe anzueignen, die man dann in günstiger Weise über die Schwelle in das Geistgebiet hinauftragen kann.

Man wird sich allerdings bekanntmachen müssen damit, welch ein ungeheures Talent, welch eine Genialität in der Gegenwartskultur für Flachheit da ist gegenüber dem, was sich als Geistiges in der Welt zum Ausdruck bringt. Und so muß man denn schon sich in der physischen

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Welt die Begriffe aneignen für das, was aus der geistigen Welt hereinleuchtet und hineinstrahit in die physisch sinnliche Welt. Des­halb sei noch an einem Gebiet gezeigt, wie das luziferische und ahri­manische Element innerhalb der physischen Welt spielen. Das sei zu­nächst auf künstlerischem Gebiete besprochen. Dabei bleibt durchaus bestehen, daß das richtig ist, was schon immer hervorgehoben wurde, daß in alle künstlerische Entwickelung der Menschheit der luziferi­sche Impuls hineinspielt, und daß in hohem Maße das luziferische Element, wie ich es dargetan habe, in der künstlerischen Entwicke­lung der Menschheit vorhanden ist. Aber dazu kommt etwas anderes. Wenn man die Künste betrachtet, wie sie uns in der physischen Welt entgegentreten, hat man zunächst im wesentlichen fünf solche Künste:

die Baukunst oder Architektur, die Plastik, die Malerei, die Musik und die Poesie. Es gibt Künste, welche die verschiedenen Elemente, die in den angeführten Künsten sind, vermischen oder miteinander verbinden, sagen wir die Tanzkunst, die mancherlei verbindet. Wenn man sie recht versteht, versteht man sie aus dem, was Grundbedin­gung ist in den verschiedenen Künsten; die können natürlich durch­aus wieder verbunden werden. Von den fünf Künsten ist das Archi­tektonische und das Plastische vorzugsweise dem ahrimanischen Im­puls ausgesetzt; in die Architektur und in die Plastik spielen die ahri­manischen Impulse hinein. Da hat man es mit den Formen zu tun. Will man etwas leisten in Architektur oder Plastik, so muß man sich in das Formelement einleben. Dieses Formelement herrscht nament­lich auf dem physischen Plan. Hier sind die eigentlichen Herrscher die Geister der Form. In ihr geistiges Element muß man untertauchen, wenn man sich mit ihnen bekanntmachen will, wie ich es ausgespro­chen habe in dem Bild von dem Hineinstecken des Kopfes wie in einen Ameisenhaufen. Und jeder, der etwas mit dem plastischen Ele­ment zu tun hat, muß so den Kopf hineinstecken in das lebendige Element der Geister der Form. Auf dem Gebiete der physischen Welt haben es nun gemeinsam zu tun die Geister der Form mit dem ahri­manischen Element.

Besonders bei einer solchen Gelegenheit sieht man, wie es not­wendig ist, nicht in der äußeren oberflächlichen Weise einfach zu

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sagen, man müsse sich vor dem ahrimanischen Elemente hüten. Man muß immer berücksichtigen, daß es sich hier darum handelt, daß solche geistige Wesenheiten wie die luziferischen und ahrimanischen eben ihr bestimmtes Gebiet haben, auf dem sie normalerweise sich auszuleben und auszuwirken haben, und daß das böse Wirken nur dadurch zustande kommt, daß sie ihr Gebiet überschreiten. Ein durch­aus berechtigtes Gebiet haben die ahrimanischen Impulse in der Archi­tektur und Plastik. Wenn wir von der anderen Seite nehmen das musi­kalische und poetische Element, so sind das die Künste, wo im enge­ren Sinne die luziferischen Impulse wirken. In einem gewissen Sinn kann man geradezu Poesie und Musik die luziferisch beeinflußten Künste nennen, Architektur und Plastik die ahrimanisch beeinflußten. Wie sich in gewisser Weise der Gedanke in der Einsamkeit der Seele abspielt und dadurch sich absondert von der Gemeinsamkeit, so haben auch die Erlebnisse der Musik und Poesie etwas, was dem Inneren der Seele angehört, wo es sich unmittelbar mit dem luziferischen Im­puls begegnet. Wenn wir auch bei Baukunst und Architektur Volks-grenzen beachten müssen, weil eben überall da, wo Ahriman ist, auch Luzifer hineinspielt, wenn diese Künste also in gewisser Beziehung sich auch nach den Volkscharakteren richten, so kann man doch sagen, daß dieses Element in gewisser Beziehung neutral bleibt. Poesie ist im wesentlichen gebunden an jenes luziferische Element, das in der Differenzierung der Volkscharaktere zum Ausdruck kommt. Bei der Musik beachtet man es wenig, daß auch in ihr etwas ist, was gewis­sermaßen zur Differenzierung führt, mehr als in der Baukunst und Plastik.

Aber gerade bei einem solchen Gebiete sieht man wiederum, daß man in so bequemer Weise, wie es mancher haben möchte, mit den Begriffsbildungen für die höheren Welten nicht auskommen kann. Es ist durchaus richtig, wenn gesagt wird, daß das ahrimanische Element in der Architektur und Plastik, das luziferische mehr in der Musik und Poesie wirkt. Doch muß man sagen, sobald man mit Begriffen zu tun hat, welche ihre Gültigkeit auch in den höheren Welten haben, hat man es nicht so bequem, daß man einfach darauf antworten kann, wenn einer fragt: Nun, wirkt in der Plastik mehr Ahriman oder Luzifer?

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- Gewiß, auf dem physischen Plan wird man leicht eine Auskunft geben können, wenn jemand fragt: Welche Farbe hat die Cichorie offlcinalis? Man wird sagen: Sie hat eine blaue Farbe. - So leicht möchte man es auch haben für die höheren Welten. Das ist aber eine falsche Anschauung, daß man so glatte Antworten auch da erhalten kann. Aber es ist zum Beispiel auch das Folgende durchaus wahr, trotzdem alles bestehen bleibt, was ich eben gesagt habe. Für die Bau­kunst wird es im wesentiichen gelten, daß darin das ahrimanische Ele­ment die bedeutsamsten Impulse liefert. Aber in die Plastik hinein kann wieder das luziferische Entgegenwirken so stark sein, daß es plastische Werke geben kann, in denen Luzifer mehr herrscht als Ahriman. Trotzdem ist richtig, was vorhin gesagt worden ist. Denn in der geistigen Welt ist nicht nur Verwandiungsfähigkeit, sondern man kann sagen, alles ist überall. Jedes geistige Element sucht im Grunde genommen alles zu durchsetzen. So kann es eine luziferische Plastik geben, trotzdem es wahr ist, daß auf die Plastik der ahrimani­sche Impuls vorwiegend wirkt. Man muß also sagen: Während aller­dings die Poesie im wesentlichen dem luziferischen Einfluß unter­liegen wird, kann auf die Musik in hohem Grade der ahrimanische Impuls wirken, so daß es Musikalisches geben kann, wo viel mehr Ahrimanisches darinnen ist als Luziferisches, trotzdem das gilt, daß die Musik in erster Linie dem luziferischen Impuls unterliegt.

In der mittleren Linie zwischen dem Ahrimanischen in Baukunst und Plastik und dem Luziferischen in Poesie und Musik liegt die Malerei. Sie ist in gewisser Weise ein neutrales Gebiet, aber nicht ein solches, in dem man sich bequem niederlassen kann und sich sagen kann: So, nun male ich drauf los, da kann nicht Luzifer und da kann nicht Ahriman heran! - sondern in dem Sinn, daß man gerade in die­ser mittleren Linie in dem Fall ist, daß nun von beiden Seiten erst recht der luziferische und ahrimanische Angriff kommt, und daß man sich in jedem Augenblicke gegen beide aufrecht zu erhalten hat, so daß also auf malerischem Gebiete im eminentesten Sinn das Unterliegen unter dem einen oder anderen Einfluß stattfinden kann. Die mittlere Linie ist immer diejenige, wo man geradezu im eminentesten Sinne zwischen den Polaritäten, zwischen den Gegensätzen den harmonischen

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Ausgleich durch den menschlichen Willen und die menschliche Tat herbeizuführen hat.

So sieht man, wenn man diese Gebiete betrachtet, wie wir es jetzt getan haben - es könnte das ebensogut mit anderen Gebieten gesche­hen -, dann eignet man sich gewisse Begriffe an, Begriffe, ohne die man selbstverständlich auf dem physischen Plan auskommen kann. Denn wenn man flach und oberflächlich bleiben will, kann es jeder aushalten auf dem physischen Plan, wenn er die Musik nicht luzife­risch und die Architektur nicht ahrimanisch findet, selbstverständlich. Aber, wenn man auskommen will ohne dieses, so kann man hier auf dem physischen Plan eben keine Begriffe, Vorstellungen und Emp­findungen bilden, welche die Seele so erstarken, daß sie die Schwelle zur geistigen Welt in günstiger Weise überschreitet und hinaufkom­men kann in das eigentliche Geistgebiet, sondern man muß dann hier unten bleiben in der physisch-sinnlichen Welt. Also man muß sich Begriffe, Empfindungen und Vorstellungen für das Geistgebiet an­eignen, wenn man die Schwelle wirklich überschreiten will, die zwar angeregt sind vom Physischen, die aber über das physisch-sinnliche Gebiet hinausgehen. Wenn man dann mit einer so erkrafteten Seele über die Schwelle der geistigen Welt tritt, dann lernt man die Welt kennen, in welcher das stattfindet, was charakterisiert worden ist als das Geistgespräch der Gedankenlebewesen. Man lebt sich in eine Welt hinein mit der erkrafteten Seele, die dann sich so zeigt, daß innerhalb ihrer die Wesenheiten vorhanden sind, die aus Gedankensubstanz be­stehen, und zwar so aus Gedankensubstanz bestehen, daß sie in ihr lebendiger, persönlicher, individueller und viel realer sind als die Menschen auf der Erde. Wie der Mensch auf dem physischen Plan innerhalb von Fleisch und Blut real ist, so sind diese Wesenheiten innerhalb ihrer Gedankensubstanz real. Man lebt sich in jene Welt hinein, wo in gewissem Sinne ein Gedankengespräch von Wesen zu Wesen geht, wo die Seele gezwungen ist, Gedankengespräche zu füh­ren, wenn sie zu einem Verhältnis kommen soll zu den Gedanken-lebewesen, die in diesen Welten sind. Ich habe das in dem nun vor­liegenden Buch <(Die Schwelle der geistigen Welt» angedeutet. Hier kann mancherlei Ergänzung noch hinzugefügt werden. Mit all der

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Verantwortlichkeit, mit der so etwas getan werden muß, habe ich versucht, in diesem Buch eine systematische Darstellung zu vermei­den, aber gewisse Dinge in aphoristischer Form zu sagen, die nützlich sein kann, auch wenn man das schon aufgenommen hat, was in den verflossenen Zyklen und Büchern vorgebracht worden ist.

Als ein Gedankenlebewesen muß man sich finden in dem Geist-gebiete, von dem man sagen kann: Hier an diesem Orte sind die Worte Taten, und andere Taten müssen ihnen folgen. - Während man in der physischen Welt als Mensch in der Bewegung seiner Hand die Taten ausführt, sind Gedanken, die im Weltenwort in dem Sinne leben, wie charakterisiert worden ist, unmittelbar Taten. Was gesprochen ist, ist getan. Darauf kommt es an für die geistige Welt. Im Geistgespräche liegt zugleich das, was ein Wesen dem anderen tut, was ein Wesen tut in bezug auf die um es herum liegende geistige Außenwelt. Das Ge­sprochene ist überall Tat. So muß man sich also selber hinaufleben in das Geistgebiet, und dann findet man sich als Gedankenlebewesen unter anderen Gedankenlebewesen. Man muß sich so benehmen, das heißt, Worte Taten sein lassen bei sich selber, wie sich die anderen Lebewesen benehmen - wenn das flache Wort gebraucht werden darf. Was findet man da? Man findet auch für sein eigenes Selbst nicht mehr das, was man unten in der physischen und auch in der elementarischen Welt hat. Dieses Selbst, das der Mensch durch die physische und ele­mentarische Welt trägt, ist eine Summe von Erlebnissen, die sich zu­sammensetzen aus den Eindrücken der physischen Welt und aus dem, was aus dem Denken, Fühlen und Wollen entspringt, welche die Seele auf dem physischen Plan entwickelt. Aber weder die Eindrücke noch das Denken, Fühlen und Wollen in der Form, wie sie uns auf dem physischen Plan entgegentreten, haben irgendeine Bedeutung für die geistige Welt. Man findet deshalb etwas anderes für das sogenannte menschliche Selbst des physischen Planes und der elementarischen Welt in der geistigen Welt. Man findet da sozusagen von sich das, was zwar in den Seelentiefen immer vorhanden ist, was aber das ge­wöhnliche Bewußtsein des physischen Planes in dem Menschen selber nicht kennen kann. Man findet sein anderes Selbst wie eine zweite Wesenheit, sein anderes Selbst findet man in der geistigen Welt.

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Ich werde zum Schlusse dieser Vorträge - wie ich es auch im Schluß­kapitel des Buches «Die Schwelle der geistigen Welt» getan habe -für denjenigen, der Widersprüche wittern möchte, noch darauf auf­merksam machen, wie sich die Benennungen verhalten, die hier ge­braucht werden, zu demjenigen, was als Terminologie, als Namen­gebung in meiner «Theosophie» und «Geheimwissenschaft im Um­riß» von mir gebraucht worden ist.

Hier aber kann gesagt werden: Der Mensch lebt in seinem physi­schen Leibe in der physischen Umwelt. Wenn er von ihm wegkommt, wenn er außerhalb des physischen Leibes erlebt, dann erlebt er in sei­nem ätherischen Leibe und hat als Umwelt die elementarische Welt. Wenn er auch aus dem herauskommt, dann erlebt er im astralischen Leibe das Geistgebiet. Gegenüber diesem Erleben, diesem Erfühlen in dem astralischen Leibe kommt eine Begegnung zustande, welche man in der geistigen Welt hat, die Begegnung mit dem anderen Selbst, mit jenem zweiten Selbst, von dem Johannes Thomasius spricht am Ende von «Der Hüter der Schwelle», das gleichsam durch den gan­zen Vorgang von «Der Seelen Erwachen» neben dem ersten Selbst bei Johannes Thomasius steht und die Erlebnisse hervorruft. Von diesem anderen Selbst werden wir noch das Prinzipielle besprechen. Es ist das, was der Mensch kennenlernt, wenn er in der geistigen Welt inner­halb seines astralischen Leibes erfühlen, wahrnehmen, erleben lernt. Es ist das, was von Erdenleben zu Erdenleben, von Inkarnation zu Inkarnation geht. Was da von Erdenleben zu Erdenleben geht, webt sich in einer so geheimnisvollen Weise zwischen dem Tod und einer Geburt in das menschliche Wesen hinein, daß das physische Bewußt-sein dieses andere Selbst gewöhnlich nicht wahrnehmen kann, denn es ist dieses andere Selbst in der geistigen Welt, trotzdem es zugleich mit dem physischen Wesen des Menschen verbunden ist.

Wie wirkt dieses andere Selbst? Nun, es ist gerade gesagt worden, daß dieses andere Selbst der geistigen Welt im Geistgebiete angehört, ein Gedankenlebewesen unter Gedankenlebewesen ist. Bei denen sind die Worte Taten, und das, was sie wirken, wirken sie durch das, was man mit einem Worte Inspiration nennen kann. Inspirierend wirkt das zweite Selbst in die Natur des Menschen. Was inspiriert es denn?

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Es inspiriert das, was wir unser Karma, unser Schicksal nennen. Und Her haben wir den geheimnisvollen Vorgang: Was wir erleben, sei es an Schmerzlichem, sei es an Freudvollem, was in unserem Leben sich abspielt, es ist inspiriert von unserem anderen Selbst aus der gei­stigen Welt herein. Gehen Sie auf die Straße, erleben Sie etwas, was Ihnen wie zufällig erscheint, es ist inspiriert aus der geistigen Welt herein von Ihrem anderen Selbst. - Also, es gibt etwas wie Inspiration in der geistigen Welt, und die Inspiration offenbart sich auf dem phy­sischen Plan und bewirkt die Tatsachen, die Ihr Schicksal sind im Kleinen und im Großen. Das Schicksal des Menschen wird von dem anderen Selbst inspiriert aus dem Geistgebiet heraus. Wenn die hell­sichtige Seele in dieses Geistgebiet hineinkommt, dann erlebt sie als eine Offenbarung in dem Geistgespräch das, wovon man sagen kann:

Worte sind Taten. - Aber alles, was in der geistigen Welt geschieht, prägt sich aus in der physischen Welt. Ob Sie einen Stein, eine Pflanze, eine Wolke, ob Sie den Blitz betrachten, hinter all dem stehen geistige Wesenheiten und geistige Vorgänge. Auch hinter den physischen Vor­gängen Ihres Schicksals stehen geistige Wesenheiten und Vorgänge. Was für geistige Wesenheiten und Vorgänge? Inspirationen! Ge­schehnisse eines Geistgespräches in der geistigen Welt. Das Welten-wort wirkt als Jnspirator des menschlichen Schicksals. Das ist etwas Bedeutungsvolles in der geistigen Erkenntnis, wenn man seinem ande­ren Selbst begegnet. Dann vergeht es einem, seine Menschheitspersön­lichkeit nur innerhalb der Grenzen zu denken, innerhalb welcher man sie gewöhnlich denkt. Man dehnt sein Selbst, in das man das andere Selbst einschließen muß, über sein ganzes Schicksal aus. Und dann erst ist man recht Mensch, wenn man ebenso wie man seinen Finger zu sich rechnet und sagt: Der gehört zum Ich auf dem physischen Plan -, ebenso sagt: Es gehört zu mir, wenn ich mir etwa eine blutige Wunde schlage, oder wenn ich falle - und so weiter. Denn das alles wird inspiriert von dem anderen Selbst aus.

Nun muß man aber berücksichtigen, wie man diesem anderen Selbst begegnet, wenn man über die Schwelle hinaus in das Geistgebiet ein­tritt. Immer wieder und wiederum muß man sich vor die Seele stellen, daß man durch das, was man erlernt, beobachtet, erfahren hat in der

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physischen Welt und auch in der elementarischen Welt, daß man in alldem nichts hat, was übereinstimmen könnte mit den Merkmalen der geistigen Welt, in der die Gedanken Lebewesen sind. Würde man also nur mit demjenigen hineinkommen, was man in der physischen und auch in der elementarischen Welt erfahren kann, würde man in dem Geistgebiete dem Nichts gegenüberstehen. Was kann man denn nun hineinbringen in dieses Geistgebiet? Überlegen wir uns das genau. Das muß sich die Seele angewöhnen, daß sie im Geistgebiete nicht so wahrnehmen, so denken, so fühlen, so wollen will, wie das in der physischen und auch in der elementarischen Welt der Fall ist. Das muß sie hinter sich lassen. Aber erinnern muß sie sich an das, was sie in der physischen Welt erfahren, erdacht, gefühlt, gewollt hat. Wie man in spätere Lebensperioden die Erinnerungen früherer Perioden hinüberträgt, so muß man hinübertragen von dem physischen Plan in das Geistgebiet dasjenige, was man in der Seele erkraftet, erstarkt hat. Also mit der an die physische Welt sich erinnernden Seele muß man in die geistige Welt eintreten. Und dann muß man etwas Be­stimmtes ertragen. Was man da ertragen muß, kann man in der fol­genden Weise schildern. Denken Sie sich, ein Moment könnte in Ihrem gewöhnlichen Erdenleben für Sie eintreten, in dem all Ihr Wahrnehmen aufhören würde. Sie würden nichts mehr sehen, hören, nichts mehr Neues denken, fühlen und wollen können. Alle bisherige Art des Lebens hörte auf, und Sie würden nur das wissen, woran Sie sich erinnern können. Genau in dieser Lage sind Sie, wenn Sie mit hellsichtigem Bewußtsein in die geistige Welt hinaufsteigen. Da gibt es nichts, was Sie für den ersten Moment neu erleben könnten. Sie verstehen nur aus Ihren Erinnerungen, da liegt Ihr Dasein in dem, was Ihnen in Ihren Erinnerungen geblieben ist. Die Seele erlebt sich so, daß sie von sich sagen kann: Du bist jetzt nur das, was du ge­wesen bist, dein Dasein besteht in deinem Gewesensein, Gegenwart und Zukunft haben zunächst für dich keinen Sinn, dein Sein besteht in deinem Gewesensein. - Das ist etwas, was sich unter Umständen leicht ausspre­chen läßt. Aber sich so anschauen, daß man sich nur Erinnerung ist, daß man keine Gegenwart erleben kann, daß man von seinem Sein als von einem Gewesensein sprechen kann, ist ein bedeutungsvolles Erlebnis.

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Und wenn der Mensch dieses Erlebnis durchmacht, wenn sich die hellsichtige Seele bis zu ihm durchringt, dann erst beginnt man ein ganz richtiges Verständnis zu haben für die Gestalt, deren Name jetzt so oftmals ausgesprochen worden ist, für Luzifer. Denn die mensch­liche Seele lebt sich hinaus in das Geistgebiet so, daß sie einen Moment erlebt: Du bist nur ein Gewesenes. - Luzifer ist ein Wesen, das inner­halb der Weltenordnung dazu gekommen ist, immer nur ein solches Gewesenes zu sein, nur eine Vergangenheit zu sein, nur zu sein, was abgelebte Erdenepochen gegeben haben, was abgelebte Weltenepo­chen der Seele Luzifers gebracht haben. Und Luzifers Leben besteht darin, sich mit seiner Vergangenheit Gegenwart und Zukunft zu er­kämpfen, während ihn die anderen, im regelrechten Fortgang der Erdenentwickelung sich befindlichen göttlich-geistigen Wesenheiten verurteilt haben zur Vergangenheit. So steht Luzifer vor dem hell­seherischen Blick, in seinem Dasein bewahrend Göttlich-Geistiges der Ursprünge der Welt, alle Herrlichkeiten der Welt in seiner Seele tra­gend und verurteilt, zu ihnen nur zu sagen: sie sind in dir gewesen. Und nun beginnt sein ewig währender Kampf, dieser Vergangenheit auch die Gegenwart und die Zukunft in der Weltenordnung zu er­kämpfen. Da erlebt man, indem man die Ähnlichkeit Luzifers, die makrokosmische Ähnlichkeit Luzifers mit dem mikrokosmischen Wesen der menschlichen Seele an der Schwelle zwischen der elemen­tarischen und geistigen Welt erlebt, die ganze tiefe Tragik dieser Gestalt Luzifers. Und man beginnt etwas zu ahnen von den großen Weltengeheimnissen, die im tiefen Schoß des Daseins ruhen, wo nicht nur ein Wesen mit dem anderen kämpft, wo Zeitalter mit Zeitalter, die zu Wesen werden, gegeneinander im Kampfe liegen. Es beginnt wahrhaftig eine Anschauung der Welt, wo tiefer Ernst und tiefe Würde sich ausgießen über die Seele, und wo man etwas von dem verspürt, was man den Hauch der ewigen Notwendigkeiten nennen könnte, die in der Weltenmitternacht erlebt werden, wenn Blitze zucken über das Dasein, die im Leuchten auch so etwas erleuchten wie die Gestalt eines Luzifer, aber die im Erkennen sterben und sterbend sich zu Schicksalszeichen formen, so daß sie als Form des inneren tragischen Karmas in der Menschenseele fortwirken. Die Menschenseele selber,

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indem sie sich hinauflebt in diese geistigen Welten, hat einen Moment, wo sie bloß Gewesenes ist, wo sie gegenüber dem Nichts steht, wo sie wie ein Punkt im Weltenall ist und sich nur wie einen Punkt erlebt.

Aber dieser Punkt wird nun Zuschauer, Zuschauer gegenüber et­was anderem. Zwei andere Dinge sind da, zu denen als drittes die punktuell gewordene Menschenseele gehört, die eigentlich nichts in sich hat zunächst, wie der Punkt nichts hat. Das eine, was hinzu-kommt, ist dasjenige, woran man sich erinnert, was wie eine Außen­welt ist, auf die man zurückschaut, von der man sagen kann: Das ist dein Gewesenes. - Wenn man selber, ohne eigentlich zunächst von sich zu wissen, neben diesem seinem Sein steht, das ein Gewesensein ist, das man aber über die Schwelle in die geistige Welt heraufgebracht und ihm Gedankenlebewesenheit verliehen hat, und wenn man dann die Stimmung der Seelenfriedsamkeit hat, dann fängt das, was man da als sein Gewesensein in die geistige Welt heraufgetragen hat, das Geistgespräch an mit der umliegenden Welt der Gedankenlebewesen. Und wie ein objektiv nebenbeistehender Zuschauer, der aber gleich­sam punktuell ist, sieht man die zwei anderen das Gespräch beginnen. Seine eigene Gedankenvergangenheit und die Gedankenlebewesen­heit sprechen miteinander. Das, was man selber heraufgetragen hat, zum Gedanken gemacht hat, entfaltet ein Geistgespräch im Welten­wort mit der geistigen Gedankenlebewesenheit des Geistgebietes. Man lauscht da, was die eigene Vergangenheit mit der geistigen Lebe­wesenheit im Geistgebiet spricht. Da ist man zunächst wie ein Nichts. Aber als solches Nichts wird man geboren, indem man auf das eigene Gespräch der Vergangenheit mit den geistigen Wesenheiten des Geist­gebietes lauscht. Und indem man lauscht, erfüllt man sich mit neuem Inhalt. Man lernt sich jetzt erkennen, indem man punktuell ist und als Punkt sich erfühlt, während man dem Gespräch zwischen der eige­nen Vergangenheit und der geistigen Lebewesenheit im Geistgebiete lauscht. Und je mehr man in sich aufnimmt von diesem Geistgesprä­che seines eigenen Gewesenseins mit der Zukunft, desto mehr wird man selber, wird man selber ein Geistwesen. Das ist der Vorgang, in welchem man in der geistigen Welt innerhalb einer Dreiheit steht. Das eine Glied dieser Dreiheit ist das eigene Gewesensein, das man

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heraufgetragen hat in die geistige Welt, das man sich erobert hat in der Art, wie es sich als Geistiges offenbart schon in der Sinneswelt und dann über der Schwelle empfindet als Gewesensein. Das zweite ist die ganze geistige Umgebung, und das dritte Glied ist man selbst. So steht die Dreiheit in der geistigen Welt, und innerhalb der Dreiheit entwickelt sich durch den Gegensatz des Gewesenseins und der gei­stigen Lebewesenheit im Geistgebiet das Dritte, das Mittlere, das nur wie ein Punkt ist und das durch das Erlauschen des Geistgespräches zwischen dem Gewesensein und der geistigen Welt immer voller und voller wird, ein sich entwickelndes Wesen wird innerhalb der geistigen Welt. So wird man selbst im hellsichtigen Bewußtsein innerhalb der geistigen Welt.

Das ist es, was ich versuchen wollte, Ihnen mit Worten zu schildern, die selbstverständlich, da sie der Sprache entlehnt sein müssen, die dem Physischen angehört, immer einseitig bleiben müssen. Aber man versucht eben, so gut es geht, mit den Worten der Sprache des physi­schen Planes diese erhabenen und tiefen Verhältnisse zu charakteri­sieren. Denn diese Verhältnisse sind einzig und allein geeignet, den Menschen mit seinem wahren Wesen bekanntzumachen, das er, wie gesagt, erlauscht in der geistigen Welt aus den zwei anderen. In dieses wahre Wesen des Menschen hineinzuführen, versucht man mit sol­chen Vorträgen, wie sie hier in diesem Vortragszyklus gehalten wer­den.

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SIEBENTER VORTRAG München, 30. August 1913

Wir haben im Laufe dieser Vorträge gesprochen über den Aufstieg des hellsichtigen Bewußtseins in die Welten, in welchen die wahre Wesenheit des Menschen, die durchaus den übersinnlichen Welten angehört, ergründet werden kann. Und wir haben gerade in den letz­ten Tagen versucht, zu zeigen, wie die Menschenseele, wenn sie auf­steigt über die Schwelle, zunächst durch die elementarische Welt durchgeht und dann in die geistige Welt eintritt, wie diese Seele die Begegnung mit dem hat, was man das andere Selbst des Menschen nennen kann. Man könnte den Aufstieg auch so charakterisieren.

Zunächst lebt der Mensch innerhalb seines physischen Leibes in der physisch-sinnlichen Welt. Wenn er sich seines physischen Leibes entledigt, also herausgeht aus seinem physischen Leibe, lebt er zu­nächst in seinem ätherischen Leibe und lebt da in der elementarischen Welt als seiner Umwelt. Wie gesagt, ich werde morgen für diejenigen, die Widersprüche wittern wollten, darauf aufmerksam machen, wie die hier gebrauchten Benennungen stehen zu den Benennungen in meiner «Theosophie». In seinem ätherischen Leibe lebt der Mensch in der elementarischen Umwelt. Wenn der Mensch dann auch sich seines ätherischen Leibes entledigt, so steigt er in die eigentlich gei­stige Welt auf; diese ist dann seine Umwelt, und er ist in seinem astralischen Leibe. In seinem astralischen Leibe erlebt der Mensch also sein anderes Selbst, das von Inkarnation zu Inkarnation geht, und von dem wir haben hervorheben können, daß man es so erlebt, daß man gleichsam als einem Dritten zwei anderen Tatsachen gegenüber­steht. Wie ein punktuelles Wesen steht man gegenüber dem, was man nennen kann sein Gewesenes, was man als Erinnerung mitbringt in die geistige Welt, was man dadurch, daß man es hinaufgetragen hat, selber ins Geistige verwandelt hat. Und dieses Gewesene beginnt dann ein Gespräch in der Region, wo die Gedankenlebewesen ihre Geist-gespräche haben. Ein solches Geistgespräch beginnt da, das man wie neugeboren - in der geistigen Welt erlauschen muß, was die

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eigene Vergangenheit spricht mit der geistigen Umgebung, und man dadurch als Gedankenlebewesen selber heranreift und heranwächst.

Nun ist mancherlei zu beobachten bei diesem Hineinwachsen in die geistigen Welten. Nehmen wir zunächst, um uns gut zu verständigen, sozusagen das ideale normale Hinaufleben in die geistige Welt, also ein Hinaufleben, das bei einer Seele eintreten würde, die gar keine irgendwie gearteten Störungen hätte. Man kann schon sagen, eine solche Seele gibt es kaum. Das ist der Grund, warum ich bestrebt war, nicht nur im allgemeinen den geistigen Pfad zu schildern, sondern ihn auch so dramatisch darzustellen, wie es geschehen ist, weil jede Seele von einem bestimmten Ausgangspunkt ausgeht, und deshalb ein normaler idealer Aufstieg eigentlich nicht vorhanden sein kann. Jede Seele hat ihren individuellen geistigen Pfad. Das kann man natürlich nur zeigen, wenn man an einzelnen Seelen, wie an Maria, Johannes Thomasius, Capesius, Strader zeigt, wie sich der individuelle Aufstieg für diese einzelnen Seelen ausnimmt. Aber sehen wir zunächst einmal einen Augenblick davon ab. Denken wir, wie es wäre, wenn der Aufstieg einer Seele normal ideal sein könnte, wenn also alle ideal­sten Bedingungen erfüllt wären für das Überschreiten der Schwelle, für das Hinaufsteigen in die geistigen Welten. Dann würde der Mensch, wenn er in der geistigen Welt seinem anderen Selbst begeg­nete, das nicht etwa so erleben können, wie man eine Photographie von sich selbst erlebte, sondern das, was in der physisch-sinnlichen Welt und in der elementarischen Welt subjektiv ist, was da innerhalb der Seele in abstrakter Subjektivität lebt, was Seelenkräfte sind, Den­ken, Fühlen und Wollen, wovon man sagt, daß man sie im Inneren hat, das hat man dann nicht mehr im Inneren. Dieses Denken, Fühlen und Wollen, das man in der physischen Welt hat, tritt einem, wenn man dem anderen Selbst begegnet in der geistigen Welt, objektiv ent­gegen, und zwar als eine Dreiheit. Und ich versuchte, diese Dreiheit, der man begegnet, und der gegenüber man das Bewußtsein in sich haben muß, diese Drei ist man selber, darzustellen in den Gestalten von Philia, Astrid und Luna. Diese Gestalten sind ganz reale Ge­stalten; sie sind so oft in der geistigen Welt vorhanden, als es einzelne Menschenseelen gibt. Man erkennt sie, wenn man sie einmal erkannt

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hat, wie man alle Haferkörner kennt, wenn man ein Haferkorn kennen­gelernt hat. Aber man muß sich klar sein, daß das, was sonst nur ein Schattenbild, ein schwaches Schattenbild in der menschlichen Seele ist, einem dann, wenn man seinem anderen Selbst begegnet, als eine le­bendige Dreiheit, als eine wirklich differenzierte Dreiheit, in drei Wesen differenzierte Dreiheit entgegentritt. Man ist Philia, Astrid, Luna selber. Aber das sind trotzdem durchaus selbständige Gedankenlebewesen.

Und was man in der erstarkten Seele dann haben muß, das ist das Bewußtsein, man ist die Einheit dieser drei Wesen. Und auch davon muß man ein Bewußtsein haben, daß das, was man Denken, Fühlen und Wollen nennt, eine Maja ist, nämlich das Schattenbild, das von diesen Dreien in die Seele hereingeworfen wird. Das Krankhafte der Seele würde darin bestehen können, entweder, daß man sich nicht er­kennt in der geistigen Welt als diese drei Wesen, daß man diese drei als Wesen betrachten würde, die nichts mit einem zu tun haben, oder daß man nicht die Einheit festhalten könnte, sondern sich selber so halten würde daß ein Teil der Seele die Luna, ein anderer die Astrid und wieder ein anderer die Philia ist. Aber so in seiner vollen Dreiheit dieses andere Selbst zu sehen, das erfordert eben einen normalen idealen Entwickelungsgang der Seele, wie er kaum vorhanden sein kann bei einer menschlichen Seele.

Faßt man das, was vorhanden sein kann, was im wirklichen Sinne real werden kann, ins Auge, so muß man sagen: Wir haben schon bemerklich gemacht, daß diejenigen Gestalten, die man bezeichnet durch Ahriman und Luzifer, ihre Impulse in die physisch-sinnliche Welt hineinsenden. Wir haben sie gefunden, Ahriman und Luzifer, auf den verschiedensten Gebieten der physischen Welt. - Aber in einem viel intensiveren Maße, viel stärker kommt die Menschenseele mit Ahriman und Luzifer in Berührung, wenn sie den Pfad des hell­sichtigen Bewußtseins antritt. Wenn sie hinausgeht aus der physischen Welt und in die höheren Welten einzudringen versucht, dann machen sich Ahriman und Luzifer an diese Menschenseele heran, dann ver­suchen sie so manches mit dieser Seele zu vollbringen. Um einiges von den Taten des Ahriman und Luzifer auf diesem Gebiete einzu­sehen, sei das Folgende erwähnt.

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Die Menschenseele ist wirklich ein recht kompliziertes Wesen, und man hat als solches gar mancherlei in sich, was einander widerspricht, was man nicht beherrscht, was in den Seelentiefen ist, ohne daß man im Oberbewußtsein das richtige Verständnis dafür hat. Nun habe ich schon folgendes erwähnt. Wenn man in die elementarische Welt ein­tritt, ist es so, daß sich das Erlebnis vergleichen läßt mit dem grotes­ken Bild des Hineinsteckens des Kopfes in einen Ameisenhaufen; das heißt, man steckt das Bewußtsein so in die elementarische Welt hin-ein, daß die einzelnen Gedanken besondere Gedankenlebewesen sind, daß das anfängt, ein selbständiges Leben zu haben und man das Be­wußtsein hineintaucht in dieses Leben. Nun, für die hellsichtige Seele stellt sich das Folgende heraus. Der Mensch hat immer in seiner Seele einiges, was er sozusagen nicht voll beherrscht, wofür er besondere Affekte hat. Solchen Dingen gegenüber, was so geartet ist, daß der Mensch mit seinem Inneren in ganz eigenartiger Weise zusammen­hängt, entfaltet Ahriman eine besondere Tätigkeit. Es gibt in der Menschenseele solche Teile, die man gewissermaßen loslösen kann von dem Ganzen dieser Menschenseele. Weil der Mensch nicht eine vollständige Herrschaft ausübt über solche Einschlüsse, macht sich Ahriman darüber her. Und da macht sich durch Ahrimans Tätigkeit, die unberechtigt ist, die dadurch entsteht, daß Ahriman seine Grenze überschreitet, dann die Tendenz geltend, daß solche Teile der mensch­lichen ätherischen Wesenheit und auch der menschlichen astralischen Wesenheit, welche die Neigung haben, sich von dem übrigen Seelen-leben loszutrennen und selbständig zu werden, von Ahriman sich formen lassen, so daß er ihnen die menschliche Gestalt gibt. Im Grunde genommen steht es mit allen möglichen Gedanken, die in uns selber sitzen, so, daß sie die menschliche Gestalt annehmen können. Wenn der Mensch diesen Gedanken als Gedankenlebewesen gegen­übertritt, wenn dann Ahriman die Gelegenheit hat, einen solchen Teil der menschlichen Seele zu verselbständigen, ihm die menschliche Form zu geben, und man lebt sich in die elementarische Welt hinein, dann steht man diesem verselbständigten Teil seiner Wesenheit als seinem Doppelgänger gegenüber. Es ist immer ein Teil der mensch­lichen Seele, dem Ahriman die Form der menschlichen Gestalt gibt.

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Man muß sich nur klarmachen, daß, wenn man die elementarische Welt betritt, wenn man außerhalb seines physischen Leibes ist, sich in den ganzen Verhältnissen so manches ändert. Wenn man in seinem physischen Leibe darinnensteckt, so kann man sich nicht gegenüber­treten; wenn man aber in seinem ätherischen Leibe die elementarische Welt betritt, so kann man in ihm stecken und ihn dennoch von außen sehen, wie man den Doppelgänger sieht. Dies ist mit dem Doppel­gänger gemeint. Er ist im Grunde genommen, wenn man substantiell spricht, ein großer Teil des ätherischen Leibes selber. Während man einen Teil desselben zurückbehält, sondert sich ein Teil ab, wird objektiv. Man schaut ihn an, es ist ein Teil der eigenen Wesenheit, dem Ahriman die Gestalt gegeben hat, die man selber hat. Denn Ahriman versucht alles sozusagen hereinzudrängen in die Gesetze der physischen Welt. In der physischen Welt herrschen die Geister der Form, und sie teilen diese Herrschaft mit Ahriman, so daß Ahriman das durchaus ausführen kann mit einem Teil der menschlichen Wesen­heit, was man bezeichnen kann als das Gestalten eines Teiles der menschlichen Wesenheit zum Doppelgänger.

Es ist verhältnismäßig eine elementarische Erscheinung, diese Be­gegnung mit dem Doppelgänger, und sie kann auftreten durch be­sondere unterbewußte Eindrücke und Impulse der menschlichen Seele, auch wenn der Mensch nicht hellsichtig ist. Es kann das Folgende vorkommen: Irgendein Mensch kann ein Intrigant sein, kann man­cherlei Menschen durch seine Intrigen Böses zugefügt haben. Er kann wieder einmal ausgegangen sein und irgendeine Intrige ein­gefädelt haben. Er kommt zurück in seine Wohnung, tritt vielleicht in sein Schreibzimmer ein, auf seinem Schreibtisch liegen vielleicht Papiere, auf denen Dinge stehen, mit denen er die Intrigen eingefädelt hat, und es kann ihm passieren, trotzdem er in seinem Oberbewußt­sein zynisch geartet sein kann, daß doch sein Unterbewußtsein erfaßt wird von jenen Impulsen des Intrigierens. Er tritt ein in sein Schreib-zimmer, schaut zu seinem Schreibtisch hin und siehe da: er sitzt da selber. Das ist eine unangenehme Begegnung, wenn man durch seine eigene Türe ins Zimmer tritt und sich selbst am Schreibtisch sitzen sieht. Aber solche Dinge gehören in den Bereich dessen, was sehr oft

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passiert und was dann gerade leicht passieren kann, wenn solches Intrigieren stattfindet. Dasjenige, dem man da begegnet, ist durchaus der Doppelgänger, den ich wiederum mit anderen Aufgaben versucht habe, in dem «Hüter der Schwelle» und in «Der Seelen Erwachen» darzustellen. Wir wissen, daß dieser Doppelgänger von Johannes Thomasjus erlebt wird, und es hängt mit der eigentümlichen Ent­wickelung des Johannes Thomasius zusammen, daß er an den Stellen, wo es gezeigt wird, die Begegnung mit dem Doppelgänger hat, weil durch die eigentümlichen Erlebnisse, die er gehabt hat, Ahriman einen Teil seiner Seele formgemäß so gestalten kann, daß dieser Teil der Seele substantiell als Teil des ätherischen Leibes mit selbstsüchtigen Seelenelementen erfüllt ist. So etwas tritt dann auf, wenn die Vor­bedingungen geschaffen sind wie bei Johannes Thomasius. Sie kön­nen ein wenig in die eigenartige Seele dieses Johannes Thomasius durch die vier Dramen hindurchblicken. Es ist auch am Ende von « Der Hüter der Schwelle» ein gewisser Entwickelungspunkt in der Seele des Johannes Thomasius angedeutet. Solch ein Entwickelungs-punkt kann für viele Seelen eintreten, welche den Weg in die über­sinnlichen Welten hinauf suchen.

Wollen wir einmal kurz zusammenfassen, wie es denn mit diesem Johannes Thomasius eigentlich steht. Wenn wir zuruckblicken auf «Die Pforte der Einweihung», da haben wir Johinnes Thomasius so­zusagen erlebend die höhere Welt. Aber wie erlebt er sie? Man darf wohl sagen: Wenn man nur diesen Teil der Dramen nimmt, « Die Pforte der Einweihung», und betrachtet darin Johannes Thomasius, so kommt er da eigentlich nicht besonders weit. Er kommt nicht weiter als zu dem, was man nennen kann imaginative Seelenerlehnisse mit all ihren Einseitigkeiten und Fehlern. Alles, was da dargestellt ist, sind subjektive Erlebnisse, mit Ausnahme der Bilder, die nicht zur Handlung gehören, des Vorspieles und der Einschiebung vor dem achten Bilde. Aber was sonst da ist, sind subjektive imaginative Er­lebnisse des Johannes Thomasius. Über diese Stufe kommt Johannes in «Die Pforte der Einweihung» nicht hinaus. Das ist auch ziemlich handgreiflich angedeutet, indem ganz klar geschildert ist, daß bei allen Szenen, mit Ausnahme der zwei genannten, Johannes. was ja

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für den Darsteller ziemlich schwierig ist, immer auf der Bühne ist. Und zu denken ist alles in der Seele des Johannes als imaginative Er­kenntnis. Wenn auch am Ende der «Pforte der Einweihung» Johan­nes Thomasius im Tempel allerlei Worte spricht, die theoretisch ob­jektive Gültigkeit haben, so darf erwähnt werden, daß in den ver­schiedenen Tempeln manche Leute Worte sprechen, für die sie lange nicht reif sind, zu denen sie erst heranreifen müssen. Das ist nicht das Maßgebende, sondern man erkennt aus der ganzen Darstellung: da hat man es mit subjektiven Imaginationen des Johannes Thomasius zu tun.

Weiter geht die Sache schon in der « Prüfung der Seele», wo ein höherer Aufstieg herbeigeführt wird dadurch, daß Johannes zu Im­pressionen aus früheren Erdenleben kommt, was nicht bloß Imagina­tion ist, wo die Sache in die objektive Welt hinausgeht, wo man es mit geistigen Tatsachen zu tun hat, die abgesondert von der Seele des Johannes Thomasius als solche existieren. In der «Prüfung der Seele» treten wir aus der Subjektivität des Johannes Thomasius in die objek­tive Welt hinaus. So daß man diese zwei ersten Stücke so betrachten kann, daß Johannes Thomasius allmählich sich von seinem Inneren loslöst und in die äußere geistige Welt hinaustritt. Gerade deshalb lag es so nahe - weil Johannes die erste Stufe der eigentlichen Initia­tion während der « Prüfung der Seele» durchinacht -, daß da Luzifer jenen versucherischen Einfluß gewinnt, der am Ende der «Prüfung der Seele» dargestellt ist. Und damit wiederum war das gegeben, was eine solche Seele wie die des Johannes Thomasius durchmachen kann, und was angedeutet wird im «Hüter der Schwelle».

Im « Hüter der Schwelle» wird Johannes Thomasius in die geistige objektive Welt hineingestellt, wo er, allerdings noch durch die Arbeit getrieben, mehr subjektiv zunächst Ahriman gegenübersteht, von dem er aufnimmt, was er im Gegensatz zur göttlichen Weltenordnung an Egoistischem entwickelt. Dann aber beginnen die objektiven Erleb­nisse, in denen Luzifer waltet. Da haben wir es durchaus nicht mehr mit bloß subjektiven Erlebnissen zu tun, sondern mit der Darstellung der geistigen Welt, losgelöst vom Menschen, die man im Geistigen erlebt, so wie man die äußere physische Welt im Physischen erlebt.

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Aber Johannes Thomasius tritt sozusagen da erst in die objektive geistige Welt hinein. Daher kann er da noch alle Verirrungsmöglich­keiten der menschlichen Seele mitbringen, vor allen Dingen das eigen­tümliche Verhältnis zu Theodora. Dieses Verhältnis muß man nur fassen, wie es gemeint ist. Man möchte sagen, mit all den Schlacken des niederen Selbstes tritt Johannes in diese höhere Welt herein, aber er steht der höheren Welt gegenüber. Und wenn ich mit einem recht flachen Ausdruck die Sache bezeichnen will, so möchte ich sagen:

Okkult verliebt sich Johannes Thomasius in Theodora. - Es werden also in dem Verhältnis des Johannes Thomasius zu Theodora gewisse Impulse der physischen Welt in die höhere Welt hinaufgetragen. Durch alles dies hindurchgehend, kommt Johannes Thomasius zu dem, was angedeutet ist am Ende vom « Hüter der Schwelle». Zu einem Erleben des gewöhnlichen Selbstes, das der physischen Welt und der elementarischen Welt angehört, das man mit sich trägt, wenn man als Mensch durch die Welt geht, und des anderen Selbstes, dem man begegnet, wenn man die geistige Welt betritt, kommt Johannes Thomasius. Sowohl im neunten Bilde, in dem Spaziergang, wie auch im Tempel vor Hilarius gelangt Johannes Thomasius an das, was man nennen kann sein inneres Erfühlen sowohl des einen wie des anderen Selbstes. Man merkt aber genau, daß Johannes Thomasius noch nicht recht Ordnung geschaffen hat in bezug auf die Harmonie zwischen dem gewöhnlichen und dem anderen Selbst, daß er hin und her lebt zwischen beiden Selbsten. Wenn man das ins Auge faßt, daß Johannes Thomasius am Ende vom « Hüter der Schwelle» und damit am An­fang von «Der Seelen Erwachen» dasteht wie eine Seele, die in sich fühlt das Nebeneinanderwirken des gewöhnlichen und des anderen Selbstes, dann wird man begreifen, daß bei Johannes Thomasius viele Dinge in seiner Seele sind, die sozusagen herausgeschält werden kön­nen. Der Doppelgänger wird zunächst herausgeschält durch Ahriman Aber auch in anderer Weise kann aus ihm etwas herausgeschält werden.

Ich betone, daß ich diese Dinge nicht schildere, um einen Kommen­tar zu geben zu den Dramen, sondern um das, was in den Dramen dargestellt ist, zu benützen, um wirkliche geistige Verhältnisse und geistig Wesenhaftes darzustellen. Wenn man das menschliche Karma

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in Betracht zieht, die ganze Gesetzrnäßigkeit des menschlichen Schick­sals, dann muß man sagen: In der menschlichen Seele ist vieles von ausgetragenem, aber auch nicht ausgetragenem Karma. - Man hat in seinem verflossenen Erdenleben manches durchlebt, was ausgeglichen werden muß. Man hat vieles, was noch nicht ausgeglichen ist, was unausgeglichen sozusagen auf dem Grunde der Seele ruht, unaus­geglichenes Karma. Jede Seele hat solches nicht ausgetragenes Karma. Johannes Thomasius muß ganz besonders viel nicht ausgetragenes Karma sich zum Bewußtsein bringen da, wo sich seine innere Wesen­heit spaltet in das gewöhnliche und in das andere Selbst. Und da son­dert sich recht viel ab von unausgetragenem Karma. Solches sondert sich ab, was eigentlich leicht und oft jede Seele als abgesondert emp­findet, die sich nach und nach zur Hellsichtigkeit hin entwickelt. Eine Seele, die das tut, wird ja geboren, das heißt, tritt durch die Geburt ins physische Dasein so ein, daß sie sich zunächst mit Eigenschaften erlebt, wie man eben als junger Mensch ist. Man findet nicht immer so geneigte Seelen, daß man zu einem Krishnamurti gemacht wird. Man lebt herein in die Welt wie natürliche Kinder hereinleben zu ihrem Nutz und Vorteil, auch wenn sie später hellsichtige Persönlich­keiten werden. Da kann man dann in irgendeinem Zeitpunkt auf­leuchten sehen, was auch karmisch bedingt ist, das Hineinschauen in die geistigen Welten. Aber gerade hei der hellsichtigen Seele kommt es oft vor - und es ist wichtig, daß es vorkommt -, wenn sie etwas außerordentlich Elegisches in der Stimmung hat, etwas Tragisches haben kann, daß dann bei dieser hellsichtigen Seele auftritt dieses Schauen der eigenen Jugend wie einer objektiven Wesenheit. Ein Schauen der Jugend tritt auf, aus der man herausgewachsen ist, von der man sagt: Was wäre aus dieser Jugend geworden, die einem fast fremd ist, wenn man nicht eingelaufen wäre in die geistigen hell­seherischen Verhältnisse? - Es findet wirklich eine Art Spaltung des Menschen statt. Man erlebt etwas wie eine Art Neugeburt, und man sieht zur Jugend hin wie zu einer fremden Wesenheit. Und in dieser Jugend liegt sehr vieles, wovon man sagt, man kann es in dieser In­karnation gar nicht austragen. Da liegt viel Karma darinnen begraben, das später einmal ausgetragen werden muß, oder demgegenüber man

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sich bemühen muß, es schon jetzt zum Austrag zu bringen. Von solch unausgetragenem Karma ist vieles in der Seele des Johannes Thoma­sius.

Solches unausgetragenes Karma, solches Erlebnis wie das, wenn man auf seine Jugend sieht wie auf eine andere Wesenheit, ist etwas, was man im Inneren erlebt. Zu solchem Erleben hat Luzifer Zugang; das kann Luzifer heraussondern; er kann sich einen substantiellen Teil des Ätherleibes nehmen und ihn gleichsam beseelen mit dem unaus­getragenen Karma. Dann wird ein Schattenwesen daraus unter dem Einfluß des Luzifer, ein solches Schattenwesen, wie es in dem Geist des jungen Johannes Thomasius dargestellt ist. Ein solches Schatten-wesen ist ein wirkliches Wesen; es ist da, abgesondert von Johannes Thomasius, nur daß es grausige Verrichtungen hat aus dem Grunde, weil es eigentlich der allgemeinen Weltenordnung widerspricht. Was als Schattenwesen draußen ist, sollte in dem Johannes darinnen sein. Dadurch wird das hervorgerufen, was man als ein tragisches Geschick dieses Schattenwesens empfindet, das als ein Teil des Ätherleibes in der elementarischen und geistigen Welt draußen lebt. Das ist also durch Luzifer zum Schattenwesen verselbständigtes unausgetragenes Karma des Johannes Thomasius. Derjenige, der so etwas erlebt - und das ist ein wichtiges, ein bedeutungsvolles Erlebnis -, erlebt es so, daß er weiß, weil er Karma unausgetragen hat, hat er eine Art kosmischer Schuld auf sich geladen, hat er ein Wesen geschaffen, das eigentlich nicht draußen sein sollte, sondern in einem selber. Das wird in «Der Seelen Erwachen» durch die andere Philia dem Johannes Thomasius zum Bewußtsein gebracht, daß er ein solches Seelenkind geschaffen hat, das draußen in gewisser Beziehung ein unberechtigtes Dasein hat. Das ist die Eigentümlichkeit, wenn man sich in die geistigen Welten hinaufleht, daß man seiner eigenen Wesenheit entgegentritt, aber daß einem in der geistigen Objektivität diese eigene Wesenheit verviel­fältigt entgegentreten kann. Bei Johannes Thomasius haben wir die mannigfaltigste Vervielfältigung. Es tritt ihm entgegen ein Teil seines Wesens als Doppelgänger, jetzt ein anderer Teil seines Wesens, denn das Karma gehört durchaus zum Wesen des Menschen, als der Geist des jungen Johannes Thomasius.

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Dann aber tritt ihm noch ein Drittes entgegen, denn er ist nicht in der Lage, das durchzumachen, was die Maria durchmacht. Sie macht verhältnismäßig eine normale Entwickelung durch. Im neunten Bilde treten ihr Astrid und Luna, zwar nicht im Verein mit der wirklichen Philia entgegen, aber immerhin treten ihr zwei Seelengestalten ent­gegen. Das ist eine verhältnismäßig dem Normalen angenäherte Ent­wickelung. Ganz normal wäre es, wenn Maria vor den drei Seelen-gestalten stünde und das ganze Denken, Fühlen und Wollen so objektiviert wäre, daß Maria sie als Einheit empfände. Aber so eine normale Entwickelung ist kaum vorhanden. Und ich betone: das, was ich zu charakterisieren versuchte, sind reale Gestalten, so daß die Verhält­nisse absolut real möglich sind. Also solch eine Seele, der Astrid und Luna entgegentreten, unter Ausschluß der Philia - weil das, was Be­wußtseinsseele und Verstandesseele ist, in einer regelmäßigeren Weise bei Maria ausgebildet ist als die Empfindungsseele -, solch eine Seele macht schon eine in hohem Grade normale Entwickelung durch. Bei Johannes Thomasius haben wir eine sehr stark von der normalen abweichende Entwickelung. Da haben wir zunächst das Auftreten des Doppelgängers. Indem Johannes Thomasius entgegenrückt seinem anderen Selbst, haben wir das Auftreten des Doppelgängers und des Geistes von Johannes' Jugend. Das alles ist in die Zahl vervielfältigt, etwas, was zum anderen Selbst gehört, respektive auftritt, weil das andere Selbst wie der Beleuchter dieser inneren Verhältnisse auftritt. Und weil Johannes Thomasius an dieses andere Selbst nicht gleich herankommt - würde er ganz herankommen, so würden ihm alle drei Seelengestalten entgegentreten, er muß aber durch mancherlei hin-durch, was sich ihm da entgegentürmt auf dem Wege zum anderen Selbst -, so kommt an ihn heran auch das, was noch nähersteht der Subjektivität. Das ist die andere Philia. Die andere Philia ist auch in gewisser Beziehung das andere Selbst. Aber das andere Selbst, das noch in den Tiefen der Seele darinnen ruht und sich nicht ganz los-gelöst hat, das zusammenhängt mit etwas, was der geistigen Welt hier in der physischen Welt am ähnlichsten ist, zusammenhängt mit der allwaltenden Liebe, und was einen hinaufführen kann in die höheren Welten, weil es mit dieser Liebe zusammenhängt. In der Gestalt der

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anderen Philia tritt ein Drittes dem Johannes Thomasius entgegen auf dem Weg zum anderen Selbst. Wenn einer Seele entgegentreten würden alle drei Seelengestalten, so hätte sozusagen diese Seele gar kein Hindernis. So aber kann sich noch das ganze Wesen des Men­schen verobjektivieren, in den Raum hinausprojizieren, als Ganzheit hinausprojizieren. Das ist heim Schauen der anderen Philia am Ende des zweiten Bildes in «Der Seelen Erwachen» der Fall.

Nun habe ich Ihnen charakterisiert, daß sich der Mensch, indem er sich in die elementarische Welt hineinlebt - und gewisse Merkmale dieses Hineinlebens bleiben auch, wenn sich der Mensch in die geistige Welt hinauflebt -, die Verwandiungsfähigkeit aneignen muß, weil in der geistigen Welt alles in Verwandlung ist, weil da nicht eine starre abgeschlossene Form ist. Form ist in der physischen Welt nur. In der elementarischen Welt ist Beweglichkeit, Verwandlungsfähigkeit. Da-mit ist aber verknüpft, daß, weil alles in stetiger Verwandlung ist, Verwechslungen eintreten können, wenn einem irgend etwas Wesen­haftes entgegentritt. Es ist eben alles in stetiger Verwandlung. Wenn man sozusagen nicht gleich nachkommt, so verwechselt man das eine mit dem anderen. Das ist es, was Johannes Thomasius passiert, indem er zuerst die andere Philia vor sich hat und dann den Doppelgänger für die andere Philia hält. Solche Verwechslungen treten außerordent­lich leicht ein. Man muß sich klar sein, daß man sich erst hindurch-arbeiten muß zum wahren Anschauen der höheren Welten, und daß da gerade leicht wegen der Verwandlungsfähigkeit Verwechslungen eintreten können. Und die Art, wie sich diese Verwechslungen her­ausstellen, ist außerordentlich bedeutsam für den Gang, den die Ent­wickelung einer Seele nimmt. Sie erinnern sich, dreimal hat Johannes ein Erlebnis. Daß Johannes Thomasius dieses Erlebnis gerade so hat, hängt davon ab, daß er in einer gewissen Weise geworden ist. Das erste Erlebnis ist mit der anderen Philia, das zweite Mal mit dem Doppelgänger, das dritte Mal wieder mit der anderen Philia Da haben wir eine Dreiheit von Erlebnissen. Mit Dreiheiten haben wir es über­haupt in der Welt zu tun. Wir müssen diese Dreiheiten geradezu suchen, weil immer Dreiheiten da sind. Daß Johannes Thomasius zweimal die andere Philia vor sich hat, einmal nur den Doppelgänger,

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und einmal diese Verwechslung begeht, das hängt zusammen mit dem, was er erreicht hat. Mit dem, was er ist, hängt aber auch zu­sammen, daß er dieses Seelenkind sozusagen, den Geist des jungen Johannes, wahrnimmt, der sein Geschöpf ist - allerdings mit Hilfe des Luzifer zustande gebracht -, der aber da draußen in der Welt vor­handen ist. Das ist etwas, was zu den oft erschütterndsten Erlebnissen des hellseherischen Bewußtseins gehört, daß man Teile des Karma, die unausgeglichen sind, durch Luzifer verselbständigt in Schatten-wesen, in der geistigen Welt findet. Man kann viele solche Schatten-wesen finden, die man durch sein unausgetragenes Karma selber, durch Luzifer veranlaßt, in die geistige Welt versetzt hat. Diese Er­lebnisse mit den Schattenwesen sind so, wie sie dem Entwickelungs-punkt der Seele entsprechen. Nehmen wir an, die Sache läge für Johannes Thomasius anders. Er würde eine zweimalige Verwechslung begehen, würde zweimal unrichtig sehen und einmal richtig, oder zweimal den Doppelgänger sehen und einmal die andere Philia Aber bei Johannes Thomasius liegt die Sache so, daß er noch zu stark in der Subjektivität steckt. Maria steht schon in der Objektivität so stark, daß zwei Seelenkräfte ihr gegenübertreten. Johannes muß noch so seine Seele erkraften, daß das, was noch ziemlich subjektiv bleibt, ihm entgegentritt: verzaubertes Weben des eigenen Wesens. Das wird objektiv. Und mit diesen Worten erkraftet er auch seine Seele, mit den Worten: «Verzaubertes Weben des eigenen Wesens.» Und indem dieses verzauberte Weben des eigenen Wesens herauf kommt, sich nähert dem anderen Selbst, steht sich Johannes gegenüber als Doppel­gänger, als Geist des jungen Johannes, als andere Philia. Johannes Thomasius wäre anders geartet, wenn er die Dreiheit anders erleben würde, wenn er, sagen wir, zweimal Verwechslungen begehen würde und zweimal den Doppelgänger erleben könnte. Wenn das der Fall wäre, dann wäre Johannes eben ein anderer. Wenn die Sache nicht gerade so wäre, wie es in «Der Seelen Erwachen» dargestellt worden ist, so würde Johannes nicht einen Geist des jungen Johannes, sondern viele solche im Schattenreich erblicken. Stellen Sie sich an der Stelle des Johannes Thomasius einen solchen Johannes vor, der zweimal Verwechslungen begehen würde oder zweimal den Doppelgänger erleben

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könnte, dann müßten viele Geister des jungen Johannes da sein, denn dann würden viele solcher Seelenkinder des Johannes da sein müssen. Wir stoßen mit diesen Dingen vielfach an den Rand großer seelischer Geheimnisse.

Aus all dem aber, was ich Ihnen dargestellt habe, sehen Sie, daß der Weg der hellsichtigen Seele zur wahren Wesenheit des Menschen hin kompliziert ist, daß diese menschliche Seele ein kompliziertes Wesen ist. Man nähert sich der wahren Wesenheit des Menschen all­mählich beim Aufsteigen in die geistige Welt, wenn man sich selber zum Erinnerungswesen, zum Gewesenen wird, wenn also einmal für die menschliche Seele das Bewußtsein auftaucht: Du bist jetzt nicht in der Gegenwart, du hast auch zunächst keine Zukunft vor dir, du bist das, was du gewesen bist, trägst dein Gewesenes in die Gegen­wart herein. - Man wächst dann als geistiges Wesen so weiter, daß dieses Gewesene, das, was man heraufgetragen hat in die geistige Welt, was man selber geistig erlebt, ein Geistgespräch beginnt mit der umliegenden Geistwelt. Man wächst heran, indem man lauscht diesem Gespräche der eigenen Vergangenheit mit den Gedankenlehe­wesen der geistigen Welt. Aber man hat, wenn man sich so hinein-versetzt fühlt in die geistige Welt, in der man sein anderes Selbst fin­det, immer ein Gefühl, ein Erleben, das etwa in der folgenden Weise ausgedrückt werden kann. Der Mensch fühlt, du bist jetzt zwar in der geistigen Welt, du kannst dein anderes Selbst, indem du dich inner­halb deines astralischen Leibes in der geistigen Welt aufhältst, als eine geistige Wesenheit finden, aber dein ganz wahres Wesen, das, was du eigentlich bist, kannst du in dieser Welt doch noch nicht finden. Das­jenige, wovon dein Ich in der physischen Welt das Schattenbild ist, das findest du trotz des Aufstieges in die geistige Welt noch nicht. Da lernt man nach und nach erkennen, was man für ein bedeutsames Erlebnis noch haben muß, um das wahre Ich, um die wahre innere, noch in diesem anderen Selbst eingehüllte Wesenheit zu finden. Ja, die menschliche Wesenheit ist kompliziert und liegt tief, tief in den Seelentiefen drunten. Und um wirklich auf das wahre Ich zu kommen, sind so mancherlei Erlebnisse durchzumachen. Wir haben manches von dem geschildert, was der Mensch durchmachen muß, um zu seinem

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wahren Selbst zu kommen, das in ihm lebt. Um zum wahren Ich zu kommen, ist noch das Folgende durchzumachen.

Wir haben betont, wie man heraufdringt in die geistige Welt mit der Erinnerung, wie man zunächst keine neuen Eindrücke hat, son­dern dasjenige sprechen lassen muß, was man gewesen ist, wie man als punktuelle Wesenheit lauschen muß dem Geistgespräch zwischen dem Gewesenen seiner selbst und der geistigen Umwelt. Diese Er­innerung bleibt einem. Sie bleibt einem auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das, was man gewesen ist, ist gerade in der gei­stigen Welt zunächst vorhanden. Die Erinnerung an das sinnlich wirkliche Dasein zwischen Geburt und Tod bleibt gerade fest be­stehen und bleibt innerhalb der Seele vorhanden zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Will man aber als hellsichtig gewordene Seele zum wahren Ich vordringen, dann lernt man erkennen, daß ein Entschluß, eine geistige Tat notwendig ist. Und von dieser geistigen Tat kann gesagt werden, sie muß der starke Willensentschluß sein, das, was man heraufgetragen hat in die geistige Welt, was man als Erinnerung seiner selbst heraufgebracht hat, in sich auszutilgen, in sich zu vergessen, durch Willensentschluß auszutilgen die Erinnerung dessen, was man gewesen ist mit allen Einzelheiten. Da kommt man dann an dasjenige, was ja schattenhaft heteinleuchten kann auch schon für frühere hellsichtige und Erkenntnisstufen. Angedeutet ist sozu­sagen eine frühere Ankündigung dessen, was man da erlebt in der geistigen Welt, in dem dritten Bild von «Der Seelen Erwachen», wo Strader am Abgrund seines Daseins steht. Aber so ganz richtig in wahrer Gestalt steht man am Abgrund des Daseins, wenn man den Entschluß faßt, durch freies inneres Wollen, durch energische Willens-tat, sich auszulöschen, zu vergessen. Im Grunde genommen sind im Menschenwesen alle diese Dinge auch als Tatsache vorhanden; der Mensch weiß nur nichts davon. Jede Nacht muß er sich in dieser Weise unbewußt auslöschen. Aber es ist eben etwas ganz anderes, mit vollem Bewußtsein sein Erinnerungs4ch der Vernichtung, dem Ver­gessen, dem Abgrund anheimaugeben, wirklich eine Weile zu stehen in der geistigen Welt am Abgrund des Seins gegenüber dem Nichts als Nichts. Es ist das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann,

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und man muß mit großem Vertrauen an dieses Erlebnis gehen. Um als Nichts an den Abgrund zu gehen, ist notwendig, daß man das Vertrauen hat, daß einem aus der Welt dann das wahre Ich entgegen­gebracht wird. Und das geschieht. Man weiß dann, wenn man am Abgrund des Seins dieses Vergessen zustande gebracht hat: Aus­gelöscht ist alles, was du bisher erlebt hast, du hast es selbst aus­gelöscht. Aber dir kommt aus einer Welt, die du selbst bis jetzt nicht erkannt hast, aus einer, ich möchte sagen, übergeistigen Welt dein wahres Ich entgegen, das in dem anderen Selbst nur noch eingehüllt war. - Jetzt erst begegnet man sich, nachdem man sich völlig aus­gelöscht hat, mit seinem wahren Ich, von dem das Ich innerhalb der physischen Welt das Schattenbild, die Maja ist. Denn das wahre Ich des Menschen gehört der übergeistigen Welt an, und der Mensch steckt mit seinem wahren Ich, von dem ein schwaches Schattenbild das physische Ich ist, in der übergeistigen Welt darinnen. So ist ein innerliches Erleben das Aufsteigen zur übergeistigen Welt, das Erleben einer völlig neuen Welt am Abgrund des Seins und das Empfangen des wahren Ich aus dieser übergeistigen Welt am Abgrund des Seins. Diese Schilderung wollte ich wie eine Verbindungsbrücke zwischen der heutigen Betrachtung und der morgigen in Ihre Seelen legen. Sie soll uns in gewisser Weise beschäftigen zwischen heute und morgen wie ein Verbindungsglied zwischen der heutigen und morgigen Be­trachtung. Denn anknüpfend an die Worte, die ich heute gesprochen habe über die Begegnung am Abgrund des Seins, wollen wir dann morgen weitersprechen.

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ACHTER VORTRAG München, 31. August 1913

Bei einem solchen Zyklus von Vorträgen, wie wir ihn wiederum ab­solviert haben, kommen einem leicht Gedanken, die da oder dort hin­weisen auf dasjenige, was man Kultur der Gegenwart nennen kann. Haben wir doch in mancherlei Einzelheiten aufmerksam machen müs­sen, wie in diese Kultur der Gegenwart in eigenartiger Weise die ahrimanischen, die luziferischen Kräfte hereinspielen. Nun wird der­jenige, welcher mit unbefangener Empfindung und mit einigem Ver­ständnis für die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse sich in eine Art objektiver Betrachtung der Kultur der Gegenwart hineinfindet, zweifellos das Chaotische, das Verworrene gerade dieser Kultur der Gegenwart finden müssen. Es ist sozusagen eine von mir seit Jahren immer gepflogene Gewohnheit gewesen, möglichst wenig nach dieser oder jener Seite hinzuweisen, sondern lieber unsere Zeit dazu zu ver­wenden, in positiver Weise das, was wir können, zum Erschließen der geistigen Welten beizutragen. Aber obwohl im wesentlichen nicht abgewichen werden soll von dieser Gewohnheit, so darf doch und muß immer wiederum betont werden, daß sich durch diese - wahr­haftig nicht aus Unbescheidenheit sei das Wort gewählt - selbst auf­erlegte Bescheidung mancherlei Mißverständnisse in den ganzen Gang gerade unseres Strebens und unserer Arbeit einschleichen. Und notwendig wäre uns, gerade von unserem Gesichtspunkt aus, ein Zweifaches. Erstens ein objektiv richtiges Verständnis dafür, daß allerdings die Evolution, die Entwickelung der nachatlantischen Welt mit einer gewissen verständlichen Notwendigkeit das Chaotische, das Verworrene, das zum Teil Inferiore und Untergeordnete der gegen­wärtigen Menschheitskultur in weitesten Kreisen herbeigeführt hat, daß man mit einer bloßen Kritik also nicht auskommen kann, sondern daß man ein objektiv richtiges Verständnis braucht. Auf der anderen Seite ist notwendig, sich mit klaren und offenen Augen dieser Ver­worrenheit und dem Chaotischen des gegenwärtigen Geisteslebens entgegenzustellen, sofern man auf dem durch die Geisteswissenschaft

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zu erschließenden Gesichtspunkte steht. Denn man muß immer wie­der und wiederum erleben, wie durchaus gutmeinende, bestmeinende unserer Freunde doch mit der Redewendung kommen, da oder dort sei wiederum etwas ganz Anthroposophisches aufgetreten, und wie man sich überzeugen muß, wie inferior dann diese sogenannten anthroposophischen Dinge sind. Wie gesagt, ich will nicht abweichen von der von mir gepflogenen Gewohnheit, aber ich möchte doch, gleichsam wie zum Exempel, wenigstens auf eine einzelne besonders groteske Erscheinung beim Abschlusse unseres Vortragszyklus hin­weisen. In der Gegenwart machen sich gerade solche Persönlichkeiten ganz besonders breit, welche mit einer gewissen gelehrten Miene, ohne eigentlich auch nur das Allergeringste von irgend etwas zu ver­stehen, sich der Welt geben. Und wer sich eben nicht angewöhnt, Unterscheidungsvermögen anzuwenden, kann durch solche gelehrt sich gebenden Worte unter Umständen sehr leicht verführi werden. Das ist etwas, was allmählich gerade in unseren Kreisen schwinden sollte. Ein objektives klares Unterscheidungsvermögen sollten wir uns aneignen. Wir würden dadurch auch das Verhältnis jener infe­rioren Strömungen und Persönlichkeiten zu unserer eigenen Bewe­gung, wie wir sie wollen, richtiger ins Auge fassen, als das bisher ge­schehen ist.

Unter mancherlei Umständen machen sich solche Strömungen gel­tend, und nicht um zu kritisieren, oder um irgend etwas vorzubringen, das mit Gegnerschaften unserer Arbeit zusammenhängt, sondern wie gesagt, um objektiv zu charakterisieren, möchte ich nur eines er-wähnen. Da erscheint in einem Berliner Verlag zum Beispiel eine Aus­gabe der «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz» und anderer Werke des Christian Rosenkreutz. Nun werden selbstverständ­lich manche unserer Freunde oder sonst Leute, die sich für okkulte Strömungen interessieren, leicht zu einer solchen neuen Ausgabe von Schriften greifen, die sonst immer schwer zu haben waren. Nun er­scheint gerade zur «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz» eine Einleitung, die wirklich an grotesk Gelehrtem - ich will die nähere Bezeichnung lieber vermeiden - alles übertrifft, was überhaupt vorstellbar ist. Ich will Ihnen nur von dieser Einleitung, Seite II, ein

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paar Zeilen vorlesen. Ich will mich nicht näher einlassen auf das, was sonst vorgebracht wird, aber ein paar Zeilen will ich vorlesen. «Wenn man an die Geheimwissenschaften» - heißt es - «mit kritischem und exaktem Rüstzeug herantritt» - das sind Worte, die an sich schon manchen verführen -, «wird man bald gewahr werden, daß man ge­rade von hier aus Fühlung nach den beiden genannten Polen be­kommen kann.» Ich will nicht sprechen über die Pole, die der be­treffende Verfasser anführt, denn das alles ist ja nur - ich will die nähere Bezeichnung lieber vermeiden. «Dazu eignet sich besonders gut der neu formulierte Begriff der , unter dessen Führung man über alle von beiden Seiten kommenden Schwierigkeiten leicht Herr wird.» Allomatik, das ist etwas, was manchem besonders im­poniert. «Allomatik ist die Lehre, Wissenschaft und Philosophie vom Andern (abgeleitet vom griechischen allos = der andere, im Gegensatz zu autos = selbst). Die Allomatik lehrt die Nichtigkeit und Nicht-existenz des Ichs. Alles ist und kommt her vom Nicht-Ich, also von außen, von oben, von unten, kurz: vom Andern.» Und in dieser Gelehrsamkeit geht es weiter. Diese Gelehrsamkeit, mit der da die Menschen prapariert werden für die « Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz» - ich sage das wirklich nicht aus Animosität heraus, sondern aus objektiver Logik-, ist vollständig gleich mit dem, wenn man begründen würde statt der Xenologie und Allomatik eine Birnologie oder eine Birnomatik. Denn genau mit derselben Logik, wie dieser sonderbare Kauz, der die Welt auf Ich und Nicht-Ich zurückführt, kann man zurückführen die Welt auf eine Birne und alles, was nicht diese Birne ist, nämlich das Andere dieser Birne. Und man kann genau dieselben Worte und Begriffe brauchen, um die ganze Welt zu erklären aus Birne und Nicht-Birne. Es bleibt, im Sinne eines solchen Herrn, nichts weg von der Welt und ihren Erscheinun­gen, wenn man sie, statt aus Ich und dem Anderen zu erklären, nach einer Birnologie und Birnomatik, einer Lehre von der Birne und dem Andern der Birne erklärt. Das gibt sich als gelehrte Arbeit, das wendet auch allerlei Vergleiche aus der Embryologie an, um sich als gelehrte Arbeit geben zu können; das spricht ungefähr in demselben Tone wie viele unserer sogenannten gelehrten Arbeiten, die als etwas Ernsthaftes

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hingenommen werden und die oftmals auch - wie gesagt, ohne Animosität sei das gesagt, sondern eben gerade in voller Brüderlich­keit - unter unseren Freunden ehrlich hingenommen werden, als ob es auch etwas wäre, während es nur aus der Inferiorität unserer Zeit hervorgeht. Es bedeutet das recht wenig Unterscheidungsvermögen für das, was einen inneren Wert hat, und für das, was auf einer solchen Stufe des Literatentums steht wie solches Zeug. Daher kann man auch mit voller Objektivität sagen: Wenn ein solcher Mensch gerade einer von denen ist, die auch das törichte Jesultenmärchen aufgebracht oder nachgesprochen haben, so kann man sich auch einen Begriff bilden von dem Wert der Gegnerschaften, die von allen Seiten sich in der letzten Zeit geltend gegen uns gemacht haben. - Es handelt sich hauptsächlich darum, daß man das richtige Verhältnis gewinnt zu dem, was sich aus allen Winkeln der Welt gerade auf okkultem Boden heute hervorwagt und was doch von manchem für gleichbedeutend genommen wird mit ehrlich gemeinter tiefer Geisteswissenschaft. Es handelt sich darum, daß man die richtige Empfindung manchen dieser Herren gegenüber gewinnt, wenn man sich ehrlich zur Geisteswissen­schaft bekennen will, und diese Empfindung besteht darin, daß man sie am besten ignoriert, statt daß man sie hätschelt und pflegt in allem, was sie hervorbringen, daß man weiß, daß man eigentlich ihnen den Rat geben müßte, sich in den Zeiten, in denen sie sich mit derlei Schreibereien beschäftigen, der Menschheit nützlicher zu machen, indem sie sich mit etwas anderem beschäftigen, wie zum Beispiel mit Laubsägearbeiten. Das würde der Menschheit viel mehr nützen als solches Zeug. Es ist notwendig, daß wir solche Dinge in voller Objektivität ansehen und uns daran gewöhnen, die Kultur der Gegen­wart mit diesen ihren Ingredienzien wirklich in der richtigen Weise ein- und abzuschätzen. Haben wir nur die richtigen Gedanken und Empfindungen über diese Dinge und über die entsprechenden Persön­lichkeiten, dann werden wir auch zurechtkommen. Wir müssen uns über eines klar sein, daß allerdings auf der anderen Seite diese Er­scheinungen der Gegenwart erklärlich sind, denn wir haben in die Kulturentwickelung der Menschheit hineinragen sehen ahrimanische und luziferische Kräfte.

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Gerade so, wie sich alles - wir haben öfters darauf hingewiesen -in den Impulsen, die in der Menschheitsentwicke'ung spielen, von Epoche zu Epoche ändert, so ändern sich auch die ahrimanischen und luziferischen Einflüsse. Unsere Epoche ist in gewisser Weise eine Art umgekehrter Wiederholung des ägyptisch-chaldäischen Zeitraumes, aber weil es eine umgekehrte Wiederholung ist, spielen in unserer Zeit die luziferischen und ahrimanischen Kräfte in der äußeren Kultur im großen und ganzen auch eine andere Rolle als im alten ägyptisch­chaldäischen Zeitalter. Während der ägyptisch-chaldaischen Zeit konnte die menschliche Seele hinblicken auf das, was geschieht, und in gewisser Weise sagen: Von der einen Seite her kommen die ahrimani­schen, von der anderen die luziferischen Einflüsse. Das war noch in der agyptischen Kultur sehr gut äußerlich auseinanderzuhalten. In der griechisch-lateinischen Kulturepoche war das schon so, daß, man möchte sagen, unmittelbar vor der menschlichen Seele sich begegne­ten Luzifer und Ahriman. Und sie hielten sich da die Waage. Wer tiefer eingehen kann in die eigentliche Grundwesenheit der griechisch-lateinischen Kultur, wird dieses Sich-die-Waage-Halten zwischen Luzifer und Ahriman schon beobachten können. In unserer Zeit ist das wieder anders geworden. Da ist es so, daß in der Außenwelt gewissermaßen Luzifer und Ahriman miteinander einen Bund schlie­ßen, ihre Impulse in der Außenwelt schon zu einem Knoten zu­sammenschließen, bevor diese Impulse an die Menschenseele heran­kommen, so daß man den Knäuel, den Knoten innerhalb unserer Kulturentwickelung hat, wo man in alten Zeiten getrennte Fäden von ahrimanischen und luziferischen Impulsen hatte. Da wird es dem Menschen ganz besonders schwierig, diesen Knoten zu entwirren, in diesem Knäuel sich zurechtzufinden. Überall haben wir in unserer Kulturbewegung darinnen bunt durcheinander geschlungene luzife­tische und ahrimanische Fäden, und nicht früher wird man ein ge­sundes Anschauen unserer Kulturverhältnisse gewinnen, als bis man sich klarmacht, daß in sehr vielen Agitationsströmungen, ja in sehr vielen abstrakten Ideen und äußerlichen Veranstaltungen, die gegen­wärtig und in die Zukunft hinein getroffen werden, die zusammen­geknäuelten Fäden der luziferischen und ahrimanischen Impulse spielen.

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Wachsamkeit auf diese Fäden, Wachsamkeit auf das, was im bunten Durcheinander an Luziferischem und Ahrimanischem ist, das ist es, was notwendig ist zu beachten. Und niemand kommt heute mehr in die Lage, sich voll auseinanderzusetzen mit diesem luziferi­schen und ahrimanischen Elemente als derjenige, welcher versucht, den geistigen Erkenntnispfad zu gehen, die Seele mit hellsichtigen Kräften auszurüsten, so daß das, was der Mensch als Wesenheit ist, was er aber mit dem gewöhnlichen Bewußtsein nicht wissen kann, auch wirklich enthüllt und Gegenstand wahrer Geisteswissenschaft werde. Und dabei kommt in Betracht - das geht aus den Darstellungen hervor, welche gegeben worden sind -, daß man, sobald man die höheren Welten betritt, gewissermaßen eine Schwelle zu überschreiten hat. Daß man, insofern man ein Erdenmensch ist und seine Seele hellsichtig gemacht hat, über diese Schwelle hin- und zurückgehen muß und sich immer in der richtigen Weise sowohl in der geistigen Welt, jenseits der Schwelle, wie in der physischen Welt, diesseits der Schwelle, zu verhalten wissen muß. Es ist auch in den Vorträgen und nun schon wiederholt in unserem Dramenzyklus auf ein wichtiges Erlebnis hingewiesen worden, auf das Schwellenerlebnis, auf die so­genannte Begegnung mit dem Hüter der Schwelle.

Man kann durchaus - das ist auch schon erwähnt worden - in die geistigen Welten hinaufsteigen, mancherlei erleben in den geistigen Welten, ohne dieses zum Teil erschütternde, aber zum anderen Teil höchst bedeutsame und wichtige Erlebnis mit dem Hüter der Schwelle zu haben. Aber für ein klares, objektives Anschauen der geistigen Welten ist von unendlicher Wichtigkeit eben, daß man einmal diese Begegnung mit dem Hüter der Schwelle gehabt hat. Ich habe auf alles, was damit zusammenhängt, in meiner Schrift «Die Schwelle der geisti­gen Welt» hingedeutet, soweit das in einer Schrift möglich ist, die in aphoristischer Weise diese Dinge behandelt. Mancherlei habe ich hinzugefügt im Laufe dieser Vorträge. Ich möchte hier - denn sollte ich die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle im einzelnen charakte­risieren, müßte ich einen langen Zyklus von Vorträgen halten - nur noch einzelnes zur Charakteristik dieses Hüters der Schwelle hinzu­fügen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß der Mensch, wenn

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er zunächst seinen physischen Leib verläßt, in welchem er die physische Welt zur Umwelt hat, die elementarische Welt betritt; und dann, wenn er diese elementarische Welt zur Umwelt hat, lebt er, wie er in der physischen Welt im physischen Leibe lebt, im ätherischen Leibe. Wenn er dann hellsichtig aus dem ätherischen Leibe herausgeht, dann lebt er im astralischen Leibe und hat zur Umwelt die geistige Welt. Und wir haben darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch auch aus seinem astralischen Leibe herausgehen und in seinem wahren Ich sein kann. Dann hat er zur Umwelt die übergeistige Welt. Indem der Mensch in diese Welten eintritt, gelangt er also zuletzt zu dem, was er in seinen Seelentiefen immer hat, zu seinem wahren Ich, während er schon in der geistigen Welt zu der Art gelangt, wie in ihr das wahre Ich, das andere Selbst sich offenbart, nämlich umhüllt von Gedankenlebewesenheit. Alle, die wir auf dem physischen Plan herumgehen, haben in uns dieses andere Selbst, nur daß das gewöhnliche Bewußtsein davon nichts wis­sen kann, daß man die Wesenheit dieses anderen Selbstes, dieses wahren Ich, erst erlebt, wenn man hinaufsteigt in die geistige und übergeistige Welt. Aber im Grunde genommen tragen wir also wie unseren ständigen Begleiter dieses wahre Ich immer in uns. Aber dieses wahre Ich, dem man begegnet an der Schwelle in die geistige Welt, ist in einer eigentümlichen Weise vorhanden, man möchte sagen in einer eigentümlichen Ausstaffierung. An der Schwelle zur geistigen Welt kann sich dieses wahre Ich kleiden in alles das, was unsere Schwächen, unsere Mängel sind, in alles das, was uns sozusagen ge­neigt macht, hängen zu bleiben mit unserem ganzen Wesen an der physisch-sinnlichen Welt oder wenigstens an der elementarischen Welt.

Wir begegnen also unserem eigenen wahren Ich an der Schwelle in die geistigen Welten. Abstrakte Theosophie kann sehr leicht sagen:

Das sind wir selber, dieses andere Selbst, dieses wahre Ich. - Gegen­über der Wirklichkeit hat diese Redewendung, daß wir es selber sind, nicht viel Bedeutung. Wir wandeln allerdings alle als unser anderes Selbst in den geistigen Welten herum, aber wir sind gar sehr ein anderer. Wenn wir mit unserem Bewußtsein in der physischen Welt verweilen, dann ist unser anderes Selbst wirklich recht sehr ein ande­res, ein uns Fremdes, eine Wesenheit, der wir wahrhaftig viel fremder

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entgegentreten als einem anderen Menschen der Erdenwelt. Und dieses andere Selbst, dieses wahre Ich kleidet sich in unsere Schwächen, in all das, was wir eigentlich verlassen müssen und nicht verlassen wollen, weil wir gewohnheitsmäßig als physisch-sinnliche Menschen daran hängen, wenn wir die Schwelle überschreiten wollen. Wir begegnen also eigentlich an der Schwelle zur geistigen Welt einem Geistwesen, das sich unterscheidet von allen anderen Geistwesen, denen wir in den übersinnlichen Welten begegnen können. Alle anderen Geistwesen erscheinen gleichsam mehr oder weniger mit Hüllen, die doch ihrem Eigensein mehr angemessen sind, als es mit den Hüllen des Hüters der Schwelle der Fall ist. Er kleidet sich in dasjenige, was uns nicht nur Sorgen und Kummer, sondern oft Abscheu und Widerlichkeit er­weckt. Er kleidet sich in unsere Schwächen, in das, von dem wir sagen können, wir erbeben in Furcht, uns nicht von ihm zu trennen, oder auch, wir erröten nicht nur, wir vergehen fast in Scham, wenn wir hinschauen müssen auf das, was wir sind und in was sich der Hüter der Schwelle kleidet. Es ist also eine Selbstbegegnung, aber in Wahrheit doch die Begegnung mit einer anderen Wesenheit.

Nun kommt man nicht so leicht an dem Hüter der Schwelle vor­über. Man kann sagen: Im Verhältnis zu einer wahren, richtigen An­schauung der geistigen Welten ist es leicht, überhaupt eine Anschau­ung der geistigen Welten zu gewinnen. Irgendwelche Eindrücke der geistigen Welt zu haben, ist eigentlich, besonders in unserem heutigen Zeitpunkt, nicht so ganz besonders schwierig. Aber in die geistige Welt so einzutreten, daß man sie in ihrer Wahrheit schaut, das macht notwendig, wenn es einem vielleicht auch erst spät aufbewahrt ist, die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle zu haben, daß man sich doch gut vorbereitet haben muß, um sie, wenn man sie haben kann, in der richtigen Weise zu erleben. - Die meisten Menschen oder wenigstens sehr viele kommen sozusagen bis zum Hüter der Schwelle. Es handelt sich aber immer um das wissende Kommen zum Hüter der Schwelle. Unbewußt stehen wir jede Nacht vor ihm. Und dieser Hüter der Schwelle ist eigentlich ein recht großer Wohltäter, daß er sich nicht sehen läßt, denn die Menschen würden ihn nicht ertragen. Was wir unbewußt in jeder Nacht der Tatsache nach erleben, zum Wissen zu

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bringen, heißt eigentlich, die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle haben. Für gewöhnlich gehen die Menschen so weit, daß sie gerade bis zu der Grenze kommen, wo sozusagen der Hüter der Schwelle steht. In solchem Augenblick aber tritt mit den Seelen etwas sehr Eigentümliches ein. Die Seele erlebt nämlich diesen Augenblick im Dämmerzustand zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit, sie läßt ihn nicht ganz zum Bewußtsein kommen. Die Seele neigt dazu, an der Grenze sich selber zu sehen, wie sie ist, wie sie hängt an der physischen Welt mit ihren Schwächen und Mängeln. Aber die Seele kann das nicht ertragen, und noch früher, als der ganze Vorgang zum Bewußt­sein kommen kann, betäubt sich sozusagen diese Seele das Bewußt­sein durch den Abscheu, den sie hat. Und solche Momente, wo die Seele ihr Bewußtsein betäubt, sind die besten Angriffspunkte für die ahrimanischen Wesenheiten. Wir kommen in der Tat hin zum Hüter der Schwelle, indem mit einer ganz besonderen Stärke und Kraft sich zum Beispiel unser Selbstgefühl ausgebildet hat. Dieses Selbstgefühl müssen wir erstarken, wenn wir uns in die geistige Welt hinaufleben wollen. Mit der Erkraftung dieses Selbstgefühls erkraften sich auch alle Neigungen und Gewohnheiten, die Schwächen und Vorurteile, die sonst in der äußeren Welt durch Erziehung, durch Gewöhnung, durch die äußere Kultur in ihren Grenzen zurückgehalten werden. An der Schwelle der geistigen Welt machen sich von innen heraus die luziferischen Impulse recht geltend, und, indem die Menschenseele die Tendenz hat, sich zu betäuben, verbindet sich sogleich Luzifer mit Ahriman, und die Folge ist dann, daß dem Menschen der Eintritt in die geistige Welt verwehrt wird. Wenn der Mensch mit seiner ge­sunden Seele die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft sucht und nicht unter einer krankhaften Gier nach geistigen Erlebnissen lebt, so wird es nicht dazu kommen, daß etwas besonders Übles an dieser Grenze geschehen kann. Wenn alles das beobachtet wird, was inner­halb echter, wahrer Geisteswissenschaft zu beobachten ist, so geschieht sonst nichts, als daß sich in einer gewissen Weise Luzifer und Ahriman für die strebende Seele an der Schwelle der geistigen Welt das Gleich­gewicht halten, und der Mensch nicht hineinkommt mit seiner Seele in die geistige Welt. Wenn aber eine besondere Gier da ist, in die

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geistige Welt hineinzukommen, dann kommt es dahin, daß wirklich das eintritt, was man nennen kann, man nascht an der geistigen Welt. Und das, was man genascht hat, verdichtet Ahriman, und es drängt sich dann in das Bewußtsein des Menschen etwas, was doch nicht hinein kann. Der Mensch erlebt dann dasjenige, was er genascht hat an der geistigen Welt, in verdichtetem Zustand, wo es ihm so ent­gegentritt, daß es ganz nach den Mustern von physischen Eindrücken aussieht. Kurz, er hat Halluzinationen, Illusionen, er glaubt vor einer geistigen Welt zu stehen, weil er bis zum Hüter der Schwelle vor­gedrungen, aber nicht vorbeigekommen ist, sondern mit seiner Ge­näschigkeit an der geistigen Welt zurückgeworfen wurde. Und das, was er da genascht hat, verdichtet sich zu dem, was durchaus wahre Bilder der geistigen Welt enthalten kann, aber was das Wichtigste nicht enthält, wodurch die Seele ein klares Anschauen über die Wahr­heit und den Wert dessen, was sie sieht, haben kann.

Zum richtigen Vorbeikommen an dem Hüter der Schwelle ist durchaus notwendig, daß der Mensch in entsprechender Weise Selbst­erkenntnis entwickelt, wirkliche, echte Selbsterkenntnis, rückhaltlose Selbsterkenntnis. Nicht hinauf wollen in die geistigen Welten, wenn einem innerhalb der Inkarnation das Karma es möglich macht, das ist eine Pflichtverletzung gegenüber dem Fortschrittsgang. Sich jemals zu sagen, weil man glaubt, man könnte irren: Nicht hinein will ich in die geistigen Welten - das ist ganz falsch. Wir sollen so intensiv streben in die geistigen Welten hinein, als wir nur irgend können. Aber auf der anderen Seite müssen wir uns klar sein, daß wir vor dem nicht zurückschrecken dürfen, vor dem der Mensch am willigsten und am geneigtesten zurückschreckt, vor wirklicher, wahrer Selbsterkenntnis. An diesem Punkt erlebt man ja so manches. Nichts ist eigentlich im Leben dem Menschen so schwer als wirkliche Selbsterkenntnis. Da kann man gar mancherlei erleben, Groteskes, Merkwürdiges. Man kann Menschen begegnen, welche in ihrem Oberbewußtsein fortwäh­rend betonen, daß sie dieses oder jenes in völliger Selbstlosigkeit tun, daß sie ganz und gar nichts für sich wollen. Wenn man Verständnis hat für solche Seelen, dann zeigt sich oft, daß sie sich das zwar vormachen, daß sie aber in ihrem Unterbewußtsein vollständige Egoisten sind und

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eigentlich nur das wollen, was gerade ihrem Ich angemessen ist. Oh, man kann auch erleben, daß Menschen auftreten, welche von ihrem Oberbewußtsein aus, sagen wir, Reden halten, Worte führen, Schriften schreiben, so daß auf verhältnismäßig kurzen Seiten achtzehn- bis fünfundawanzigmal Worte wie Liebe, Toleranz und dergleichen vor­kommen, ohne daß im geringsten in den wirklichen Tatsachen der Seele etwas davon vorhanden ist. Man kann sich über nichts so leicht täuschen als über sich selber, wenn man nicht immer wieder und wiederum Wache hält durch eine gediegene, ehrliche Selbsterkenntnis, die man übt. Aber diese Selbsterkenntnis ist schwierig, schwierig, wenn sie unmittelbar geübt werden soll. Es soll doch sogar schon vor­gekommen sein, daß Menschen sich so sehr vor der Selbsterkenntnis verschließen, daß sie sich, ehe sie sich gestehen, was sie in der Gegen­wart sind, lieber gestehen, daß sie Affen gewesen sind in der Monden-entwickelung, lieber das, als daß sie sich eingestehen, was sie eigent­lich in der Gegenwart sind. So groß kann die Verblendung sein gegen­über der Verpflichtung zur wahren, echten Selbsterkenntnis des Men­schen. Es ware eine gute Übung für so manchen, der auf geistigem Gebiete strebt, wenn er ab und zu im Leben, immer wieder und wiederum, zum Beispiel das Folgende machte, wenn er sich sagte: Ich will die letzten drei, vier Wochen oder besser Monate zurückdenken, will mir wichtige Tatsachen vor Augen führen, wo ich mancherlei getan habe. Ich will ganz systematisch absehen von alledem, was mir Unrechtes passiert sein könnte. Ich will alles das ausschalten, was ich sonst so oft sage zur Entschuldigung dessen, was mir passiert ist, daß der andere schuld sei. Ich will niemals darauf reflektieren, daß ein anderer schuld sein könnte als ich selber. - Wenn man bedenkt, wie leicht die Neigung der Menschen ist, stündlich für das, was ihnen nicht paßt, den anderen verantwortlich zu machen und nicht sich selber, so wird man ermessen, wie gut eine solche Rückschau auf das Leben ist, wo man selbst dann, wenn einem Unrecht geschehen ist, wissentlich den Gedanken an dieses Unrecht ausschaltet und nichts aufkommen läßt an Kritik, daß der andere Unrecht gehabt haben könnte. Man probiere eine solche Übung und man wird sehen, daß man innerlich ein ganz anderes Verhältnis zur geistigen Welt gewinnen wird. Solche

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Dinge ändern vieles an der wirklichen Verfassung, an der wirklichen Stimmung der menschlichen Seele. Wie schwierig es ist, wenn man den Weg zur hellsichtigen Seele sucht, vollständig ungefährdet so­zusagen in die höheren Welten einzutreten, das zeigt - wir haben das immer wieder und wieder betont -, daß es nötig ist, daß man nicht aufgelöst wird, wenn man den Kopf in den Ameisenhaufen hinein-zustecken hat. Ein erstarktes, ein erkraftetes Selbstgefühl ist nötig, ein Selbstgefühl, das man in der physischen Welt, wenn man nicht ein ausgepichter Egoist sein will, gar nicht entfalten darf. Will man sich in den höheren Welten behaupten, will man sich da erfühlen und er­leben, so muß man mit erstarktem Selbstgefühl da hineintreten. Man muß aber auch die Fähigkeit haben, wenn man wiederum in die Sinneswelt zurückkommt, dieses Selbstgefühl auszuschalten, damit man herüben nicht ein ausgemachter Egoist sei. Also drüben in den anderen Welten muß man ein erstarktes Selbstgefühl haben. Das kann durchaus eine Behauptung sein, daß der Mensch, um in den höheren Welten der Geistigkeiten zu leben, ein erstarktes Selbstgefühi braucht. Aber man braucht dazu sozusagen den Gegenpol der Behauptung, die eben ge­tan worden ist, die Erkenntnis, daß man zwar im Geistigen das erstarkte Selbstgefühl finden muß, daß aber in der physischen Welt der Geist sich ausleben muß in einer besonderen Art in demjenigen,was man im wei­testen Umfang in der physischen Welt die Liebe nennt, die Liebefähig­keit, die Fähigkeit zum Miffühlen, zum Mitleiden und zur Mitfreude.

Wer sich hellseherisch hineinlebt in die höheren Welten, weiß, daß das richtig ist, was Maria in «Der Seelen Erwachen» sagt, daß eigent­lich das gewöhnliche sinnliche Bewußtsein, welches der Mensch auf dem physischen Plan hat, gegenüber dem Erleben und Erfühlen in den höheren Welten eine Art Schlaf ist, und daß das Eintreten in die höheren Welten ein Aufwachen ist. Durchaus richtig und wahr ist es, daß die Menschen innerhalb der physischen Welt gegenüber dem Er­leben der höheren Welten schlafen, und daß sie den Schlaf nur nicht fühlen, weil sie immer schlafen. Wenn es also in den geistigen Welten ein Aufwachen in erstarktem Selbstgefühl ist, was die hellseherische Seele erlebt, wenn sie über die Schwelle der geistigen Welt tritt, so ist auf der anderen Seite das Aufwachen des Selbstes in der physischen

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Welt enthalten in der Liebe, in jener Liebe, die in einem der ersten Vorträge charakterisiert worden ist. Ich mußte sagen: Die Liebe, die um der Eigenschaften und Merkmale des Geliebten willen da ist, das ist die Liebe, die beschützt ist vor luziferischen und ahrimanischen Einflüssen, das ist die Liebe, die innerhalb der physisch-sinnlichen Welt wirklich unter dem Einflusse der guten, fortschreitenden Ge­walten des Daseins stehen kann. - Wie es sich mit dieser Liebe verhält, zeigt sich insbesondere in den Erfahrungen des hellsichtigen Bewußt­seins. Was man an Egoismus ausbildet in der physischen Welt und worüber man sich so wenig gern Selbsterkenntnis verschafft, das zeigt sich, wenn man es hinaufträgt in die geistigen Welten. Nichts ist so störend, nichts ist auch so wirklich verbitternd und schlimm zu er­leben wie das, was man hinaufträgt als die Folgen von Lieblosigkeiten und von Gefühlsmängeln, die man in der physischen Welt entwickelt. Man fühlt sich gar sehr gestört, wenn man durch die hellsichtige Seele in die geistige Welt hinaufkommt, durch alles, was man an Lieblosig­keiten, an Selbstsinn innerhalb der physisch-sinnlichen Welt ent­wickelt hat. Denn übertritt man die Schwelle der geistigen Welt, so zeigt sich alles das, was man so hineinträgt an nicht nur offenem, son­dern an verstecktem, in der Tiefe der Seele wütendem Egoismus, den die Menschen haben. Und während sie sich dem Traum hingeben, selbstlos zu sein, ist vielleicht derjenige, der einen äußeren Egoismus zutage trägt und ruhig gesteht, daß er dieses oder jenes haben will, viel weniger egoistisch als diejenigen, welche aus anthroposophischen Abstraktionen heraus eine gewisse egoistische Selbstlosigkeit in ihrem Oberbewußtsein zutage treten lassen, insbesondere wenn sie von die­ser Selbstlosigkeit deklamieren in allerlei oft und oft wiederholten Worten von Liebe und Toleranz. Was man so hinaufträgt in die höheren Welten an Lieblosigkeit, an Mangel an Mitgefühl, verwandelt sich in häßliche, oftmals grauenvolle Gestalten, die man erlebt, wenn man in die geistigen Welten eintritt. Diese Gestalten sind wirklich sehr störend, sehr widerwärtig für die Seele.

Und dann tritt einer von jenen Augenblicken ein, die sehr bedeut­sam sind, die man beachten muß, wenn von den Erkenntnissen und Erlebnissen der höheren Welten gesprochen wird. Es wäre noch das

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beste, wenn der Mensch, sobald er hinaufkommt in die höheren Welten und nun in einer Sphäre von Widerlichkeiten ist, diese mutvoll und kühn anschauen und sich gestehen würde: Nun, du trägst eben so viel von Egoismus in die höheren Welten herau£ - Es wäre wirk­lich noch das beste, kühn und frank und frei sich diesem Egoismus gegenüberzustellen. Aber die menschliche Seele hat gewöhnlich die Tendenz, bevor noch diese Widerlichkeiten so recht zum Bewußtsein kommen, sie abzustreifen, sozusagen auszuhauen links und rechts, wie Rosse tun, und wegzustreifen diese Unannehmlichkeiten. In dem Augenblick, wo man das wegstreift, was Folgen des Egoismus sind, haben Luzifer und Ahriman ein leichtes Spiel mit der Menschenseele. Da können sie in ihrem Bündnis sehr leicht die Menschenseele in ihr besonderes Reich führen, wo sie ihr alle möglichen geistigen Welten vorführen können, die der Mensch dann für die wahren, echten, in der Weltenordnung begründeten geistigen Welten hält. Man darf sagen:

Die Entwickelung wahrer, echter Liebe, ernsten und ehrlichen Mit­gefühls sind zugleich gute Vorbereitungen für die Seele, die sich hell­sichtig in die geistigen Welten hinaufleben will. - Daß dieses Wort nicht so ganz unwichtig ist, wird derjenige einsehen, der ein bißchen nachsinnt über die Schwierigkeit, mit der echtes Mitgefühl und echte Liebefähigkeit in der Welt zu erzielen sind.

Damit haben wir einiges von dem charakterisiert, was im Zusam­menhang steht mit dem Überschreiten der Schwelle in die geistigen Welten. Wenn dieses Verhältnis des Menschen zu den geistigen Welten geschildert wird, muß man sich klar darüber sein, daß wirkliche, wahre Erkenntnis des menschlichen Wesens doch nur durch diese Schilderungen erzielt werden kann. Daß man nur durch diese wissen kann, was eigentlich in Wahrheit der Mensch ist, und daß man da­durch allein auch ein Verhältnis zu dem gewinnen kann, was in natur­gemäßer Weise, wenn auch etwas verändert, den Menschen vor die höheren, vor die geistigen Welten hinstellt, nämlich in den Zeiten, die der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt verlebt. Und hier ist es, wo ich mit ein paar Worten hindeuten muß auf das, was ich auch in dem letzten Kapitel der Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» auseinandergesetzt habe.

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Wir wissen aus den früheren Darstellungen in der «Theosophie» und in der «Geheimwissenschaft im Umriß», daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, seinen physischen Leib ablegt, daß er dann eine Weile noch, die vielleicht nur nach Tagen zu dauern braucht, seinen ätherischen Leib an sich hat. Dann legt er auch diesen ab. Man kann sagen: Wenn der Mensch diesen ätherischen Leib ab­gelegt hat, dann ist er zunächst in seinem astralischen Leib. - Die Seele macht also mit dem astralischen Leib sozusagen eine Art Weiter-wanderung durch. Der ätherische Leib ist abgelegt; er hat ein Schick­sal, das von derjenigen Welt abhängt, in welche dieser ätherische Leib hineinversetzt ist, und das ist die elementarische Welt. Und in dieser elementarischen Welt herrscht - wie wir haben auseinandersetzen können - Verwandlungsfähigkeit. Alles ist in fortwährender Ver­wandlung. Ohne daß also die Menschenseele dabei ist, wird der äthe­rische Leib der elementarischen Welt überliefert und macht, weg-gesondert von der menschlichen Seele, in der elementarischen Welt seine Verwandlungsschicksale durch. In den Jahren nun, die für den einen kürzer, für den anderen länger dauern, lebt der Mensch im astralischen Leibe, und er lebt in dem, was von dem Gesichtspunkt des hellseherischen Bewußtseins genannt werden kann die elementa­rische Welt. Aber es besteht eine ganz bestimmte Tendenz der Seele in der nächsten Zeit nach dem Tode. In der physischen Welt ist man nicht dazu veranlagt, fortwährend hinzuschauen auf seine eigene Leber, Milz, auf seinen Magen; man kann es ja nicht. Man sieht nicht in seinen Leib hinein. Es ist nicht die Gewohnheit des Menschen auf dem physischen Plan, die Augen in den eigenen Leib hineinzurichten, sondern die Menschen sehen die Umwelt. Gerade das Gegenteil ist der Fall, wenn der Mensch die Pforte des Todes überschritten hat und in der Welt lebt, die in meiner «Theosophie» Seelenwelt genannt ist. Da hat die Seele die naturgemäße Tendenz, hauptsächlich den Blick hinzurichten auf die Schicksale des eigenen Ätherleibes. Was der Ätherleib da für Verwandlungen durchinacht in der elementarischen Welt, das ist gewissermaßen durch die ganze Kamalokazeit hindurch die Umwelt, die Außenwelt der Seele. Man sieht in dieser Zeit, wie die elementarische Welt aufnimmt unseren ätherischen Leib. Ist man

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ein guter Kerl gewesen hier auf dem physischen Plane, so sieht man, wie die « Gutkerligkeit» sich verträgt mit den Gesetzen der elementa­rischen Welt. Ist man ein schlechter Kerl gewesen, so sieht man, wie wenig sich der eigene Ätherleib, der teilgenommen hat an der « Schlechtkerligkeit», mit den Gesetzen der elementarischen Welt ver­trägt, wie dieser ätherische Leib, den man zwar abgelegt hat, auf den man aber das ganze Augenmerk hinrichtet, überall zurückgewiesen wird. Die Kamaloka-Erlebnisse bestehen darin, daß man sieht, was man gewesen ist, an dem sich verwandelnden Schicksal des äthe­rischen Leibes.

Man darf die Anthroposophie nicht gerade anklagen, wenn sie dieses sagt. Denn Aristoteles und auch noch andere haben noch viel anderes gelehrt. Sie haben zum Beispiel gelehrt, daß dieses Zurück­schauen auf sein eigenes Schicksal sogar eine ganze Ewigkeit dauert, so daß man auf der Erde vielleicht ein Leben von achtzig, neunzig Jahren lebt, aber dann eine Ewigkeit zurückschauen muß auf das, was man angerichtet hat an seinem eigenen Ätherleib. Die Wahrheit ist diese, welche die Anthroposophie lehrt, daß diese Rückschau auf den ätherischen Leib und seine Schicksale, die man bewirkt hat durch das, was man war, ein oder zwei oder drei Jahrzehnte dauert. Das ist die Umwelt. Die Umwelt in der elementarischen Welt bilden die Ver­wandlungen hauptsächlich solcher Wesenheiten, welche gleichartig sind mit dem eigenen atherischen Leib des Menschen, hauptsächlich des ätherischen Leibes des Menschen selber. Wenn man das anschau­lich schildern will, so kommt ganz dasselbe heraus, was ich beschrieben habe in meiner «Theosophie» als den Durchgang der Seele durch die Seelenwelt.

Wenn man überhaupt die geistigen Welten ordentlich schildern will, so muß man nicht in solch pedantischer Weise die Begriffe starr fest­halten, wie das für das Physische nützlich sein kann, sondern man muß sich klar sein, daß die ganze Umwelt während der Kamalokazeit von der Stimmung der Seele abhängt, davon abhängt, daß das, was man als elementarische Welt schildern muß, sich zur Seelenwelt dadurch modifiziert, daß man hauptsächlich sich auflösende Ätherität in dieser elementarischen Welt sieht. Diese sich auflösende Ätherität kann

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man stufenweise schildern, wie sie in meiner «Theosophie» geschil­dert ist.

Dann kommt die Zeit, in welcher gleichsam etwas eintritt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, was gewissermaßen künstlich durch das hellsichtige Bewußtsein herbeigeführt werden muß im Sinne des­sen, was wir besprochen haben. Der Mensch lebt also, nachdem er seinen ätherischen Leib abgestreift hat, in seinem astralischen Leib, aber es beginnt auch die Zeit, wo dieser astralische Leib sich loslöst von dem wahren Ich, in dem man dann weiterlebt. Aber diese Los­lösung nimmt sich in einer eigenartigen Weise aus. Diese Loslösung geschieht nicht etwa so, wie man eine Schlangenhaut von sich los­lösen würde, sondern dieser astralische Leib löst sich nach allen Seiten heraus, wird immer größer und größer und gliedert sich ein in die ganze Sphäre. Er wird dabei immer dünner und dünner, wird aber gleichsam von der ganzen Umwelt aufgesogen. Erst steht man so­zusagen in bezug auf die eigene geistige Umwelt in der Mitte. Von allen Seiten löst sich der astralische Leib los und wird überall hin auf­gesogen, so daß die Umwelt, die man um sich hat nach dem Tode, wenn sich der astralische Leib losgelöst hat, aus der geistigen Welt und aus dem besteht, was da aufgesogen wird von dem eigenen astra­lischen Leibe. Man sieht so den eigenen astralischen Leib fortgehen. Dabei wird er selbstverständlich immer undeutlicher, weil er immer größer und größer wird. Man fühlt sich auch darinnen in diesem astralischen Leibe, wie ich es in manchen Vorträgen dargestellt habe, und doch wieder losgelöst davon. Diese Dinge sind außerordentlich schwierig zu beschreiben. Denken Sie sich einmal, um ein Bild zu haben, Sie haben einen ganzen, aus vielen Mücken bestehenden Mückenschwarm. Wenn Sie ihn von weitem sehen, da ist er eine schwarze Kugel. Wenn sich die einzelnen Mücken nach allen Seiten entfernen, dann können Sie von ihm bald gar nichts mehr sehen. So ist es mit dem astralischen Leibe. Wenn er aufgesogen wird von der ganzen Weltensphäre, so wird er undeutlicher und undeutlicher, man sieht ihn in der Welt sich zerstreuen, bis er sich verliert. Mit diesem astralischen Leib verliert sich das, was immer vorhanden ist, wenn man durch die Pforte des Todes gegangen ist, das, was man sein Gewesensein

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nennen kann, das Verbundensein mit dem, was man erlebt hat auf der physischen Erde innerhalb des physischen Leibes und des ätherischen Leibes. Man sieht gleichsam die eigene Wesenheit sich hinausvetlleren in die geistige Welt. Das kommt dem gleich, was man künstlich suchen muß zur Entdeckung seines wahren Ich in der geistigen Welt. Dieser erschütternde, bedeutsame Eindruck, den man haben kann, wenn man auf dem Wege des hellsichtigen Bewußtseins wandelt, tritt naturgemäß in der Weise ein, wie es geschildert worden ist, und ein wahres Vergessen tritt um so früher ein, je weniger die Seele sich nach dem Tode erkraftet und erstarkt erweist. Selbstlose, unegoistische Seelen, die man oftmals schwach schilt im sinnlichen Leben, sind gerade die starken Seelen nach dem Tode; sie können lange nachsehen dem, was sie erinnerungsgemäß von dem physischen Dasein in die geistige Welt hineingetrieben hat. Die sogenannten stark-egoistischen sind die Schwächlinge der geistigen Welt. Es ent­schwindet ihnen sehr bald die eigene Astralltät, wenn sie sich draußen in der geistigen Welt allmählich sphärenhaft auflöst.

Und dann tritt wirklich der Moment ein, wo all das verschwindet, woran man sich erinnern kann. Dann kommt es wiederum zurück, aber jetzt in veränderter Weise. Es wird alles das einem wiederum zurückgetragen, was verschwunden ist; es sammelt sich wiederum, aber so, daß es zeigt, wie es werden muß infolgedessen, was da weg­gegangen ist, damit das richtige neue Leben karmagemäß sich auf­baue im Sinne der alten Erdenleben. Da rückt wiederum von der Un­endlichkeit herein nach einem Mittelpunkte das, was sich ergeben muß, was wiederum aus der Vergessenheit zurückkommen muß in unser Bewußtsein, damit wir uns karmagemäß das neue Leben zim­mern. Eine Art Vergessen also, ein bloßes Sich-Erleben im wahren Ich ist vorhanden ungefähr in der Mitte zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Die meisten Seelen der Menschen sind heute noch nur so vorbereitet, daß sie dieses Vergessen erleben wie in einer Art Geistesschlaf der Seele. Aber die dazu vorbereitet sind, erleben gerade in diesem Mo­ment des Vetgessens, des Übergangs von der Erinnerung an die vor­hergehenden Erdenleben zur Vorbereitung der kommenden dasjenige,

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was in «Der Seelen Erwachen» die Weltenmitternacht genannt ist, wo man sich vertiefen kann in die Notwendigkeiten des Daseins. So daß dieses Bild von der Weltenmitternacht in der Tat mit den tiefsten Geheimnissen des menschlichen Daseins zusammenhängt. Wir dürfen also sagen: Was der Mensch geheimnisvoll ist, was seine wahre Wesenheit ist, worin auch er lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, und was das gewöhnliche Bewußtsein niemals erfahren kann, enthüllt sich der hellsichtigen Seele. Und dieses Erleben des Absor­biertwerdens der eigenen Astralität von der geistigen Umwelt, die wir diesmal beschrieben haben vom Standpunkt des hellsichtigen Bewußt­seins, kann man stufenweise ganz genau so beschreiben, wie es in meiner «Theosophie» und « Geheimwissenschaft» als das eigentliche Geisterland beschrieben ist. Was die Seele erlebt, wenn naturgemäß eintritt, was künstlich eintritt durch die Erlebnisse, die für das hell­sichtige Bewußtsein geschildert worden sind, kann dann beschrieben werden, wie es in der «Theosophie» geschehen ist. Da haben Sie die Übereinstimmung der Ausdrücke, die hier gebraucht sind für diese Verhältnisse, mit denjenigen, die in der «Theosophie» und «Geheim­wissenschaft» gebraucht sind.

Und so können wir sagen, daß wir versucht haben, sowohl in die­sem Vortragszyklus wie auch in dem Dramenzyklus, hinzuweisen auf das Wesen der Welt und auf dasjenige, was Anteil hat an diesem Wesen der Welt, auf die Wesenheit des Menschen. Wenn solche Be­trachtungen angestellt worden sind, dann darf wohl vielleicht auch das noch eingefügt werden, daß es notwendig sein wird, solche Wege, wie sie angedeutet worden sind in diesem Vortragszyklus, ein wenig fortzusetzen mit der eigenen Seele. Denn Sie werden sehen, wenn Sie versuchen, immer tiefer und tiefer, auch wiederum in « Der Seelen Erwachen», einzudringen, daß Ihnen manches von den Geheimnissen des Daseins so aufgehen wird, daß Sie sagen werden: Diese Dinge sind wirklich da zur Offenbarung und Enthüllung dieser Geheim­nisse. - Ich mache Sie zum Beispiel aufmerksam, versuchen Sie medi­tativ weiter zu erleben, was ich über Ahriman als den Herrn des Todes in der Welt gesagt habe und was in «Der Seelen Erwachen» dargestellt ist. Es ist deutlich dargestellt, angefangen von dem dritten Bilde in

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«Der Seelen Erwachen», aber andeutungsweise schon von jenen Wor­ten an, die Strader spricht zum Bürochef: «Es wird geschehen, was geschehen muß», aus denen der Bürochef etwas wie ein Raunen der geistigen Welt hört, wodurch seine Geistesschülerschaft beginnt. Mehr oder weniger andeutungsweise ist es da dargestellt. Aber vom dritten Bilde ab sehen wir, wie allmählich immer deutlicher und deutlicher heranrücken die Stimmungen, die Kräfte, welche den Tod des Strader vorbereiten. Man wird nicht verstehen, warum in dem entscheidenden vierten Bilde die Theodora auftritt und sagt, was sie im Geisterlande tun will für Strader, wenn man nicht ein undeutliches Gefühl hat - wie es richtig ist an diesem Orte -, das einen etwas erwarten läßt. Man wird nicht richtig empfinden, was Benedictus in demselben Bilde als eine Beeinträchtigung seines Schauens sagt, wenn man nicht emp­findet, wie in dieses Schauen die Kräfte des herannahenden Todes des Strader treten. Man wird nicht richtig empfinden in dem einfachen, aber vielsagenden elften Bilde, wo Benedictus und Strader mitein­ander sprechen, wenn man nicht das bildhafte Schauen des Strader mit der Ahnung, daß das, was er aufwendet an Erkraftung der Seele, zu­weilen verderblich gegen die eigene Seele sich wendet, auffaßt auch da in Zusammenhang mit den Worten des Benedictus, die wiederum von einer Beeinträchtigung seines Schauens sprechen, so daß man etwas Unbestimmtes herannahen fühlt. Es ist die Stimmung des herannahenden Todes Straders ausgegossen über die ganze Entwickelung auch der anderen Personen dieses Dramas vom dritten Bilde ab. Und wenn Sie das zusammenhalten mit dem, was ausgeführt worden ist über Ahriman als den Herrn des Todes, dann werden Sie zu immer tieferen und tieferen, in die geistigen Geheimnisse hineinkommenden Erkenntnissen gelangen, besonders wenn Sie in Betracht ziehen, wie Ahriman hineinspielt in die Stimmung des Dramas, die unter dem Einfluß der Todesimpulse Straders steht.

Und wiederum wird man die letzte Begegnung, die bedeutungsvoll gemeinte Begegnung zwischen Benedictus und Strader gegen das Ende und dann die letzten monologischen Worte des Benedictus richtig verstehen können, wenn man das berechtigte und unberechtigte Eingreifen Ahrimans in die Welt der Seele und in das Wort der

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Weltenreiche richtig ins Auge faßt. Es sind diese Dinge wirklich so gemeint, daß man sie nicht nur an der Seele vorüberziehen lassen, sondern daß man sich immer tiefer und tiefer in sie einlassen sollte. Nicht um zu kritisieren, sondern nur um objektive Tatsachen darzustellen, darf schon gesagt werden, daß durch mancherlei Symptome doch hervorgetreten ist, daß die in den letzten drei, vier Jahren er­schienenen Druckschriften und Zyklen nicht eigentlich so gelesen worden sind, wie sie gelesen werden könnten, so daß man auf alles das käme, was gemeint und gesagt ist, mehr oder weniger sogar handgreif­lich gesagt ist. Das wird wahrhaftig nicht im Sinne eines Vorwurfes hier gemeint. Ganz weit entfernt bin ich von einem solchen. Sondern es wird gesagt, weil gewissermaßen gerade durch alles das, was drum und dran hängt, fast alljährlich am Schlusse des Münchener Zyklus solche Gedanken in der Seele auftreten können, Gedanken, welche gemahnen an das ganz Hineingestelltsein unserer anthroposophischen Bewegung in die Gegenwart. Man muß daran denken, wie das richtige Hineinstellen dieser Bewegung in die Gegenwart, in dieses chaotische Getriebe der sogenannten Gegenwartskultur ist. Man wird erst dann klare, wachsame Gedanken über dieses Hineingestelltsein entwickeln können, wenn man vor allen Dingen eines ins Auge faßt. Das ist, daß unsere Kultur ganz gewiß veröden und verdorren wird, wenn sie jene Auffrischung nicht erlangt, die aus den Quellen des ernst und echt gemeinten Okkultismus kommt. Aber auf der anderen Seite wird gerade ein solcher Vortragszyklus, der die Notwendigkeit der Hinwendung zur Geisteswissenschaft vielleicht hat erkennen lassen, etwas anderes uns nahelegen, jeder einzelnen Seele von uns nahelegen kön­nen. Das ist das, was man bezeichnen könnte mit Verantwortlichkeitsgefühl.

Gar mancherlei von dem, was verknüpft ist mit dem Fühlen dieser Verantwortung und mit dem Hineinschauen in die Art und Weise, wie sich diese unsere so notwendige, so unerläßliche Bewegung auch mit Schattenseiten und Fehlern geltend macht, prägt sich tief in die Unter­gründe der Seele hinunter. Und man erlebt da so manches dann an­gesichts der Art, wie unsere Bewegung sein sollte und wie sie ganz verständlicherweise heute erst sein kann, was wirklich kaum mit

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Worten ausgesprochen werden kann, was auch am liebsten der, der es voll empfunden in seiner Seele trägt, nicht ausspricht, denn so emp­funden lastet manchmal diese Verantwortung auf den Seelen, und so empfunden erscheint es erst in dem recht beklagenswerten Lichte, wenn auf so vielen Seiten heute die Okkultismen auftauchen, und so wenig von diesem Verantwortungsgefühl vorhanden ist. Denn wenn man auch wirklich um des Heiles des Entwickelungsganges der Menschheit willen als das Schönste, als das Größte, das der Gegen­wart und der nächsten Zukunft geschehen kann, auf der einen Seite das Aufblühen der anthroposophischen Weistümer anschauen möchte, so möchte man doch auch auf der anderen Seite als das Herrlichste, Schönste, das oft Befriedigendste begrüßen, wenn auch das andere käme, wenn man sehen würde, wie die Ströme des Verantwortungs­gefühls in jeder einzelnen Seele erwachen, die ergriffen wird von unserer Geisteswissenschaft. Und mehr noch möchte man schätzen dieses Auftauchen des Verantwortlichkeitsgefühls.

Da würde man diese unsere Bewegung besonders glücklich schätzen, wenn man in ihrem Hinausströmen zugleich überall als ein schönes Echo dieses Verantwortlichkeitsgefühl erschauen könnte. Gar man­cher, der es empfindet, dieses Verantwortlichkeitsgefühl, würde es ge­wissermaßen leichter tragen können, wenn er ein solches Echo im Ver­antwortlichkeitsgefühl vielfältiger wahrnehmen könnte. Doch da gibt es viele Dinge, in bezug auf die man sich Zukunftshoffnungen, Zu­kunftserwartungen hingeben muß, in bezug auf die man leben muß in dem Glauben und in dem Vertrauen, daß das Rechte und Wahre die Menschenseele durch seinen eigenen Wert ergreifen werde, und daß wirklich geschehen werde, was eigentlich geschehen muß. Beim Aus­einandergehen von diesem Vortragszyklus kann man das so recht empfinden. Denn da möchte man eigentlich so recht in jede Seele etwas von dem legen, was als Wärme für unsere Sache, aber auch als Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber unserer Sache aufwachen und aufleuchten könnte. Und das würde die schönste Besiegelung unseres geisteswissenschaftlichen Strebens sein, wenn wir alle fühlen könnten, wie uns zusammenhält als schönstes Band, wenn wir räumlich nicht beisammen sind, in echter wahrer Geistgemeinschaft das in allen

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Seelen vorhandene Gleichgeartete in der Wärme für unsere Sache, in der Liebe und Hingabe an unsere Sache und zugleich in dem Verant­wortlichkeitsgefühl für unsere Sache.

Nun, so sei denn auch diesmal dieses als mein Abschiedsgruß Ihren Seelen gesagt für die Zeit, in der wir uns wiederum zerstreuen, nach­dem wir eine Weile räumlich beisammen waren. Möge immer mehr und mehr die Wahrheit des geistigen Lebens an unseren eigenen Seelen sich bekräftigen und offenbaren dadurch, daß dann, wenn wir nicht räumlich beisammen sind, wir doch beisammen seien, beisammen seien dadurch, daß in uns lebt die echte Wärme, die aus einem offen­herzigen, aus einem liebevollen Erleben unserer Wahrheit in unseren Seelen aufleuchten kann, verbunden mit dem echten, ehrlichen Ver­antwortlichkeitsgefühl oder wenigstens mit dem Streben nach diesem Verantwortlichkeitsgefühl für unsere heilige und der Welt so not­wendige Sache. Fühlen wir so, dann sind wir immer gleich im Geiste beisammen. Ob wir, durch unser Karma zusammengeführt, räumlich zusammensein dürfen, oder ob uns unser Karma für eine Welle zu unseren verschiedenen Taten und Lebenswerken räumlich zerstreut, wir sind doch sicher beisammen, wenn wir in der Wärme und in dem Verantwortlichkeitsgefühl unserer Seelen beisammen sind. Sind wir das aber, dann dürfen wir alle Hoffnung und Zuversicht und alles Vertrauen zu unserer Sache haben. Denn sie wird sich dann so ein-leben in die Kultur, in die geistige Entwickelung der Menschheit, wie sie sich einleben soll, so einleben, daß wir sie wirklich, diese unsere Sache, empfinden dürfen wie das Raunen aus der geistigen Welt her­aus, das warm einschlägt in all unsere Seelen. Es wird geschehen, was geschehen soll, was geschehen muß - auch. Und versuchen wir, daß wir dieser unserer geistigen Gemeinschaft dadurch fähig werden, daß, soweit es an uns ist, durch uns geschehe, was geschehen soll, was ge­schehen muß.

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HINWEISE

Zum ersten Male sind diese Vorträge 1914 gedruckt erschienen als Zyklus XXIX im

Philosophisch-Anthroposophischen Verlag, Berlin W 30, Motzstraße 17, und

1930 als Zweitdruck durch Adolf Arenson von der Anthroposophischen Bücherstube

GmbH., Berlin W 30, Motzstraße 17, herausgegeben.

Die vorflegende Ausgabe berücksichtigte beide Veröffentlichungen.

Rudolf Steiner mußte die Vorträge infolge des starken Besuches von Freunden aus dem In- und Auslande zweimal am Tage, vormittags und abends, halten. Die Ver­anstaltungen fanden in dem Prinzensaale des Café Luitpold statt.

Auch die Auffübrungen der beiden Mysteriendramen «Der Hüter der Schwelle» und «Der Seelen Erwachen» mußten im Volkstheater zweimal gegeben werden. Der Titel des 1913 uraufgeführten Mysteriendramas hieß noch in der Programmankündi­gung «Marias und Thomasius' Erwachen (oder Das Jenseits der Schwelle)».

Rudolf Steiner hatte das ursprünglich ebenfalls zur Uraufführung vorgesehene Drama von Edouard Schuré «Die Seelenhüterin» [Le Tbéatre de l'ame: 1 Les enfants de Lucifer (Drame antique) II La strur gardienne (Drame moderne)] bis zur fünften Szene des dritten Aktes auf Grund der Übersetzung von Marie Steiner-von Sivers - ebenso wie 1907 «Das heilige Drama von Eleusis» und 1909 «Die Kinder des Lucifcr» - für die Bühne sprachlich eingerichtet; das handgeschriebene Manuskript liegt vor; die Proben hatten auch bereits begonnen.

Über die in München während der Festspielzeiten gehaltenen Vortragsveranstaltungen von Rudolf Steiner und die unter seiner Leitung stattgefundenen Festaufführungen orientiert eine Zeittafel.

Allgemein bekannt ist, daß für das Jahr 1914 die Auftunrung eines fünften Mysterien-dramas geplant war. Für den Münchener Vortragszyklus «Über okkultes Hören und okkultes Lesen» vom 18.-27. August waren die Einladungen bereits verschickt worden. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte der Münchener Festspieltteit ein jähes Ende. In Dornach fanden dann auf Bitten der Mitglieder vier Vorträge über « Okkultes Lesen und okkultes Hören» vom 3.-6. Oktober statt, die keinen « Ersatz» darstellten «für dasjenige, was in München beabsichtigt war».

Im Winter 1922 kündigte Rudolf Steiner für den kommenden Sommer die Auf­führung der vier Mysteriendramen im Goetheanum in Dornach, das zur Aufführung dieser Dramen errichtet worden war, an. In der Silvesternacht 1922123 wurde aber der Bau ein Raub der Flammen.

Beim Studium dieser Vorträge bilden die grundlegenden Werke Rudolf Steiners, welche durch ihn selbst auch im Verlaufe des Zyklus erwähnt werden, die Voraussetzung für ein volles Verständnis der Darstellungen. Siehe das Verzeichnis Seite 159.

Zu den Mysteriendramen vergleiche außer den in München bei den Uraufführungen gehaltenen Vortragszyklen (siehe Zeittafel S.154) auch noch die drei Vorträge in Basel und Berlin «Über die Mysteriendramen und », Dornach 1964 und « Entwüffe, Fragmente, Paralipomena zu den vier Mysteriendramen», Bibl.-Nr. 44, Gesamtausgabe Dornach 1969.

Zu Seite:

9 Edouard Schuré, 1841-1929. «Die großen Eingeweihten» (Les Grands Initiés).

Autorisierte Übersetzung von Marie Steiner, mit einem Vorwort zur ersten,

zweiten und dritten deutschen Auflage von Rudolf Steiner, München 1955.

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Zu Seite:

12 Kampf, der uns aufgedra ängt war: Die Auseinandersetzungen mit der Theosophischcn Gesellschaft, die durch Schreiben der Präsidentin Annie Besant vom 7. März 1913 zum Ausschlull der Deutschen Sektion führten. Siehe «Mitteilungen für die Mit­gileder der Anthroposophischen Gesellschaft (theosophischen Gesellschaft), Köln, April1913, Nr.1, Zweiter Teil».

13 mit jenem offenen Brief: Edouard Schuré teilte in einem längeren Schreiben am

1. März 1913 Herrn Charles Blech, dem Präsidenten der Theosophischen Gesell­schaft in Frankreich, seinen Austritt aus der Gesellschaft mit, deren Ehrenmitglied-schaft ihm 1907 angeboten worden war.

mit der ausgezeichneten Schrift: Eugéne Lévy, «Mrs. AnnIe Besant und die Krisis in der Theosophischen Gesellschaft», Berlin 1913.

außer Schrften, die schen früher erwähnt werden sind: Baronin Ernmy von Gumppen­berg, «Offener Brief an Dr. Hühbe-Schleiden in Antwort auf seine . Thekla von Reden, «Dr. Hübbe-Schleidens un­befangen betrachtet».

Ich erwähne $e Broschüre: Dr. Carl Unger, «Wider literarisches Freibeuteren! Eine Abfertigung des Herrn Dr. Hübbe-Schleiden». Elise Wolfram, «Der Humbug des Sterns im Osten». Kurt Walther, «Diene der Wahrheit! Eine kritische Be­trachtung», 1913.

14 wenn ich t>on dieser Arbeit spreche: Grain Pauline von Kslckreuth und Sophie Stinde waren seit 1907 hauptverantwonlich tätig bei der Durchführung der Festspiel-veranstaltungen. Siehe Rudolf Steiner, «Treue / Wahrheitssinn / Richtungs­festigkeit», Dornach 1945, vorgesehen in BibL-Nr. 174b.

Hermann Linde, Fritz Haß, Hans Volckert: Siehe Rudolf Steiner, « Unsere Toten», Ansprache beim Tode von Hermann Linde (1923), BibL-Nr. 261, Gesamtausgabe Dornach 1963.

15 Imme, Freiin von Eckardtstein, 1871-1930. Von 1909 an übergab Rudolf Steiner iht die Leitung der Kostümanfertigung; sie war auch schauspielerisch tätig : Luzifer (1913) und Dionysos in «Das heilige Drama von Eleusis». In Dornach, wohin Frau Marie Steiner sie nach dem Tode von Rudolf Steiner berufen hatte, schuf sie alle Kostüme für die Mysteriendraanen und starb 1930, rsachdem sie noch für die erste öffentliche Aufführung der ägyptischen Einweihungaszenen die Kostüme ausgeführt hatte.

was hier ah Ewythmie auftritt : Diese erste Darbietung in eurythmischer Kunst fand am 28. August 1913 für die Teilnehmer der Festspielveranstaltungen in der Tonhalle statt. Siehe «Entstehung und Entwickelung der Eurythmie», Bibl.­Nr. 277a, Gesamtausgabe Dornach 1965.

16 Bühnenvergänge der letzten Tage: Siehe Zeittafel, S.154.

etwas ausgearbeitet habe: Der erwähnte Versuch aus dem Jahre 1913 hat sich er­halten. Siehe : «Entwürfe, Fragmente, Paralipomens zu den vier Mysterien-dramen», Bibl.-Nr. 44, Gesamtausgabe Dornach 1969.

21 Worten, die Maria im Geistgebiet spricht: « Der Seelen Erwachen», sechstes Bild.

23 das Wort der anderen Philia : « Der Seelen Erwachen», zweites Bild.

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Zu Seite:

25 wie die eigenartige Gestalt des Ahrima" gerade in « Der Seelen Erwachen» zuerst leiee

heransechleicht: Drittes Bild. Der sturume Aufttitt des Ahriman wird im Buch nicht

besonders angegeben.

Werte, wie sie bei Ahriman zum Assdiuck kommen: «Der Seelen Ersehen», viertes Bild.

26 den Teufil spürt.:. : Worte des Mephisto in

27 Was sagt Romanwfür Worte?: Siehe auch «Die Prüfüng der Seele», dreizchntes Bild.

44/80 die Schopenhanersche Philosophie : Arthur Schopenhauer, 1788-1860. «Die Welt als Wille und Vorstellung», wo es im i. Buch § 1 wörtlich heißt: «Die Welt ist meine Vorstellung : dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Merach allein sie in das reflektierte, abstrakte Bewußtsein bringen kann : und tut er dies wirklich, so ist die philosophische Be­sonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist...»

45/80 der Kantsche Satz daß hundert Taler: Immanuel Kant, 1724-1804. «Kritik der reinen Vernunft», im 3. Hauptstück, 4. Abschnitt heißt es:« Und so enthält das Wirk­liche nichts mehr als das bloß Mögliche. Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr als hundert mögliche.»

48 bevor Luzefer eingegriffen hat : Maria : «Bevor noch Luzifer zum Kampfe schritt.::», «Der Hüter der Schwelle», siebentes Bild.

61 was man ... Geistesfriedsamkeit nennen könnte : «Der Seelen Erwachen», viertes Bild.

Der Hüter : Auch mich erblickst du nur als Wahagebilde,

Wenn Wunscheswahn dem Schauen sich verbündet, Und Geistcsfriedsamkeit als Seelenleib

Sich deines Wesens nicht bemächtigt hat.

71 Ferdinand Reinecke : «Der Hüter der Schwelle», erstes und achtes Bild. «Der Seelen Erwachen», zwölftes Bild, wo es in der szenischen Bemerkung heißt:

Die Seele Ferdinand Reineckes ist der Gestalt rsach eine Kopie von Ahriman

72 Maurice Maeterlinck : 1862-1949, belgischer Dichter und Schriftsteller. «Vom Tode», deutsch von Friedrich von Op>peln-Bronikowski, Jena 1913.

78 Erstreben nich..... : Worte des Felix Balde in «Der Seelen Erwachen», drittes Bild und dreizehntes Bild.

102 Begriffe für Völker- und Zeitverständnis: Siehe «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie», Bibl.-Nr. 121, Gesamtausgabe Dornach 1962.

109 am Ende von «Der Hioter der Schwelle»: «Der Hüter der Schwelle», neuntes und zehntes Bild.

120 an den Stellen, wo es gezeigt wird: Zuerst in «Die Prüfung der Seele», fünftes Bild. ein gewisser Entwickelimgspio'kt : «Der Hüter der Schwelle», neuntes und zehntes Bild.

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Zu Seite:

121 am Ende der «Prüfung der Seele»: «Die Prüfung der Seele», zwölftes Bild.

123 zu einem Keishnamurti gemacht wird: Rudolf Steiner bezieht sich hier auf das seiner­zeit von Annie Besant und Lradleeatter propagierte zu erwartende Wieder-erscheinen des Christus, zu dessen Träger sie den Inderknaben Krishnamutti bestimmten. Dieser hat sich später von dieser ihm zugedachten Rolle distanziert. Siehe Hinweise zu S.12/13.

dieses Schauen der eigenen Jugend wie einer objektiven Wesenheit : Vgl. auch dazu «Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Er­kenntnis des Menschengeistes», Bibl.-Nr. 233, Gesamtausgabe Dornach 1962.

126 dreimal hat Johannes ein Erlebnis: In «Der Seelen Erwachen», zweites, viertes und zehntes Bild.

132 Da erscheint in einem Berliner Verlag: «Chymische Hochzeit : Christiani Rosen­kreutz. Anno 1459», eingeleitet und herausgegeben von Dr. med. Ferdinand Maack, Berlin 1913.

134 Wenn ein solcher Mensch... das törichte Jesuitenmärchen: Ferdinand Maack, 1861-1930, Arzt und Schriftsteller. In: «Zweimal gestorben!», Leipzig 1912, wird Dr. Steiner im zweiten Abschnitt : «Theosophische Hochschule für Geisteswissenschaft» als Jesuitenzögling bezeichnet.

140 daß der Mensch... Selbsterkenntnis entwickelt: Siehe die 1912 in München erschienene Schrift von Rudolf Steiner «Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, in acht Meditationen», Bibl.-Nr. 16, Gesamtausgabe Dornach 1956.

142 was Maria in «Der Seelen Erwachen» sagt : «Der Seelen Erwachen», zweites Bild.

146 Aristotelos und ... andere haben noch viel anderes gelehrt : Vgl. dazu z.B. Vincenz Knauer «Grundlinien zur Aristoteiisch-Thomistischen Psychologie», Wien 1885, Kap. XVII: Die Trennung von Leib und Seele.

147 wie ich es in manchen Vorträgen dargestellt habe : Siehe zum Beispiel «Welche Bedeu­tung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen - physischen Leib, Ätberleib, Astralleib - und sein Selbst?», Bibl.-Nr. 145, Gesamtausgabe Dornach 1957.

149/150 von jenen Worten an : «Der Seelen Erwachen», erstes und vierzehntes Bild.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.