GA 108

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Beantwortung
von Welt- und Lebensfragen
durch Anthroposophie

Einundzwanzig Vorträge,
gehalten zwischen dem 14. März 1908
und 21. November 1909
in verschiedenen Städten

GA 108

1986

Inhaltsverzeichnis

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I

ÜBER DIE HÖHEREN WELTEN Wien, 21. November 1908

Auf den Wunsch Ihres Vorsitzenden werden wir heute über ein Thema sprechen, das gewisse Voraussetzungen an die Zuhörer stellt, also in einer gewissen Weise für vorgeschrittene Anthroposophen bestimmt ist. Wir werden in den folgenden öffentlichen Vorträgen Gelegenheit haben, denjenigen Rechnung zu tragen, die von den Grundlagen der anthroposophischen Weltanschauung noch wenig gehört haben, und manches, was vielleicht in den internen Vorträgen sozusagen einer Aufklärung bedarf, wird wenigstens zum Teile in den öffentlichen Vorträgen eine solche erfahren. Wenn von vorgeschrittenen Anthroposophen gesprochen wird, so fassen Sie das keineswegs so auf, meine lieben Freunde, als ob damit gemeint wäre, daß man, um auf geisteswissenschaftlichem Felde vorgeschritten zu sein, theoretisch viel gelernt haben müßte; darauf kommt es eigentlich nicht an. Worauf es ankommt, ist weniger eine Welt von solchen Theorien im Inneren der Seele, sondern eine gewisse Ausbildung unserer Empfindungswelt, unserer Gefühlswelt, eine gewisse Gesinnung, könnte man sagen, die man sich allmählich aneignet, wenn man wieder und wieder im anthroposophischen Kreise arbeitet.

Diejenigen, welche viel und seit Jahren innerhalb dieses Kreises arbeiteten, oder innerhalb eines anderen solchen Kreises sich betätigten, die werden zurückdenken an die Zeit, wo sie sozusagen zum ersten Male etwas gehört haben von dem, was die anthroposophisehe Geisteswissenschaft der Menschheit zu sagen hat, und sie werden sich erinnern, daß mancherlei von dem, was ihnen damals wie eine erste Botschaft zugekommen ist, nicht nur unwahrscheinlich, sondern vielleicht konfus, phantastisch - wenn nicht vielleicht noch Schlimmeres davon gesagt werden müßte - geschienen hat. Aber im Laufe der Zeit haben sich solche, die dann der anthroposophischen Weltanschauung näher und näher traten, hineingewöhnt in eine gewisse Empfindungs - und Gefühlswelt, die es möglich macht, Dinge,

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die aus den höheren Welten mitgeteilt werden, hinzunehmen, wie eben Erzählungen von Tatsachen, die auf dem physischen Plane, in der physischen Welt geschehen, hingenommen werden. Dasjenige, was man Beweise für die geisteswissenschaftlichen Mitteilungen nennen könnte, ist ganz und gar nicht auf dem Felde zu suchen, wie der Beweis für die anerkannten wissenschaftlichen Wahrheiten. Mit solcher Beweisführung würde man nicht viel anfangen können. Die Beweisführung, die sich ergibt für den, der sich einlebt in die anthroposophische Weltanschauung, liegt in der ganzen intimen Umgestaltung, die das Seelenleben erfährt. Und lange bevor der Mensch so glücklich sein kann, durch Anwendung der geisteswissenschaftlichen oder okkulten Methoden hinaufzudringen zur Anschauung der geistigen Welten, bildet sich in ihm ein Vorgefühl, eine Vorahnung aus von der Richtigkeit, von der tiefen Begründetheit dessen, was mitgeteilt wird über diese höheren Welten. Mancherlei von dem, was uns eine Vorstellung wird geben können über die Art, wie der Mensch hinaufdringen kann in die höheren Welten, wie er mit seinen eigenen geistigen Sinneswerkzeugen wahrnehmen kann in diesen höheren Welten, wird Ihnen der nächste Vortrag «Was ist Selbsterkenntnis?» zur Anschauung bringen. Heute wollen wir mehr erzählend einige Betrachtungen über diese höheren Welten pflegen, über den Zusammenhang dieser Welten mit unserer physischen Welt.

Sie alle kennen ja aus Ihren bisherigen anthroposophischen Arbeiten außer unserer Welt zwei andere Welten, die sogenannte astralische und die sogenannte devachanische Welt, die von den Religionen, soweit sie hierzulande bekannt sind, die himmlische Welt genannt wird, die eigentlich geistige Welt. Sie kennen vor allem diese Welten als Gebiete, die der Mensch zu durchlaufen hat zwischen dem Tod und einer neuöen Geburt. Sie wissen ja, daß zunächst die astralische Welt als Kamaloka durchlaufen wird, daß dann der Mensch in eine rein geistige Welt, in das Devachan eintritt, wo er heranreift zu einer neuen Geburt um nach einer gewissen Zeit wieder herunterzusteigen zu einem neuen Erdenleben, einem Leben in der physischen Welt.

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Nun ist es aber nicht genug, wenn man die Astral- und Devachanweit eigentlich sich nur vorstellt als gewisse Gebiete, die der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchläuft, sondern diese Welten sind ja fortwährend um uns. Wir leben fortwährend nicht nur in der physischen Welt, sondern auch in der astralischen oder Seelenwelt, die uns mit ihren Wesenheiten und Tatsachen um- gibt. Man kann diese Astrai- oder Seelenwelt so bezeichnen, daß man sagt, sie durchdringt unsere physische Welt, wie wenn man einen Schwamm mit Wasser durchtränkt. Der Unterschied dieser beiden Welten gegenüber unserer physischen Welt ist nur der, daß unsere physische Welt wahrgenommen wird durch Werkzeuge unseres Leibes, und daß sich zunächst für den Menschen diese höheren Welten der Wahrnehmung deshalb entziehen, weil er dafür keine Wahrnehmungsorgane ausgebildet hat. So wahr sie innerhalb unserer Welt sind, so wahr spielen ihre Wirkungen fortwährend in unsere Welt herein. Und vieles, was in der physischen Welt vorgeht, würde sich der Mensch leichter erklären können, wenn er die dahin~rliegende geistige Astral- und Devachanwelt kennen würde, wenn er wüßte, daß in unserem Umkreis Wesen um uns sind und Tatsachen, welche mit unseren Sinnen nicht erfaßt und begriffen werden können. Die Astralwelt enthält zunächst nicht nur Tatsachen, die ich übersinnlich in unserer Umgebung abspielen; sie enthält auch W`esenheiten, die, wenn wir so sagen dürfen, in der Substanz dieserelt ebenso verkörpert sind, wie der Mensch, die menschliche stbewußte Wesenheit, hier in der physischen Welt verbunden ist Fleisch und Blut. Der Unterschied zu Wesenheiten wie den bezeichneten ist der, daß diese Wesenheiten keine so dichten ''hysischen Leiber annehmen, daß sie mit unseren physischen ~ugen gesehen werden. Ihr gröbster Leib ist der Astralleib.

Nun müssen wir gleich, wenn wir von den Wesenheiten spre~hen, die also zum untersten Gliede ihres geistigen Organismus rbenso den Astralleib haben, wie der Mensch zum untersten Gliede ;!!en physischen Leib hat, von vornherein aufmerksam machen, wie 'iun derjenige, dessen hellseherisches Bewußtsein geöffnet ist, der al;o schauen kann, diese Wesenheiten wahrnimmt. Diese Wesenheiten

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unterscheiden sich ganz wesentlich von den auf dem physischen Plane existierenden Wesenheiten unserer verschiedenen Naturreiche. Wir sind hier umgeben von Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen. Wenn wir eine charakteristische Eigenschaft dieser Wesenheiten der verschiedenen Naturreiche einmal hinstellen wollen, so ist es das Ständige, das Bleibende der Form. Einen Menschen, den Sie heute gesehen haben, werden Sie morgen oder übermorgen oder selbst nach Jahren noch daran erkennen, daß seine äußere Form beständig geblieben ist. Ebenso ist es der Fall beim Tier, bei der Pflanze, beim Mineral. Das ist nun ganz und gar nicht der Fall bei den Wesenheiten, die nur auf dem astralischen Plan verkörpert sind. Die haben fortwährend eine wechselnde Gestaltung, eine Gestaltung, die bei vielen Wesenheiten in jedem Augenblick eine andere wird; denn die Gestalt, welche auf dem astralischen Plan wahrgenommen wird ist ein genauer Abdruck der inneren Seelenerlebnisse und Seelenbetätigungen dieser Wesenheiten.

Denken Sie sich nur einmal, wenn Sie Ihre Seele betrachten am Morgen, wo Sie gerade einen freudigen Brief erhalten haben, und die frohe Botschaft die Seele angefüllt hat mit Freude und Lust, und sozusagen dieses Gefühl in Ihrer Seele lebt, denken Sie sich nun, wenn Sie Ihre äußere Gestalt jedesmal dem Seelenleben entsprechend änderten, wie anders diese Bilder aussehen würden als nachmittags, etwa wenn Sie eine Todesnachricht erhalten, oder in dem Augenblicke, wo Zorn und Furcht Sie durchzittern. Wenn dann jedesmal Ihre äußere Gestalt geändert würde und diese zum Ausdruck brächte, was in der Seele vorgeht, dann hätten Sie ein Bild dessen, was auf dem Astralplan vorgeht. Daher also das Verwirrende, das Hinhuschende und sich fortwährend Verändernde der Formen der Astralwesenheiten. So also müßten Sie sich vorstellen, daß das hellseherische Bewußtsein, wenn es die Aufmerksamkeit vom physischen Plane abwendet, umgeben ist von einer solchen astralen Bilderwelt. Natürlich kann alles das, was sich da abspielt, nicht geschildert werden; es können nur Einzelheiten skizzenhaft hingestellt werden.

Das Leben auf dem astralen Plan ist viel reicher als auf der physischen Welt. Sie müssen sich nur vorstellen, daß da in der Astralwelthte

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Bilder, die nicht an einem äußeren Gegenstande haften, hinschen, daß sie eine gewisse Form haben, die entweder licht oder niger licht, weniger leuchtend oder getrübt sind, daß sie in jedem igenblicke sich ändern und das sie nichts anderes sind als ein Ausuck für Seelen, sagen wir, die da leben auf dem astralen Plane. er diese lichten Körper zeigen nicht bloß Licht und verschiedene rbenbildungen sondern auch alle anderen dem Physischen ähnlie Sinneseindrücke; nur werden diese nicht mit äußeren, sondern [t den Geistorganen der Seele wahrgenommen.

ES ist nun ein Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines =htkörpers auf dem astralen Plane und der einer Farbe oder eines ~tkörpers auf dem physischen Plan. Demgegenüber, was dort als ~ht entgegentritt, hat das Bewußtsein nicht das Gefühl, als sei es ßerhalb dessen, sondern es hat das Gefühl: Du lebst darin. - Das zunächst recht schwer, sich vorzustellen; denn Sie müssen sich ~iken, daß in dem Augenblicke, wo das hellseherische Bewußtsein -Menschen aufgeht, der Mensch noch etwas anderes fühlt, als daß r der Raum sich mit astralen Tatsachen und Wesenheiten anfüllt, ~dern er fühlt, als wenn er wüchse, als wenn er größer und größer irde. Es dehnt sich das Bewußtsein: «Das bin ich» über die Haut raus. Das ist das Wesentliche des hellseherischen Bewußtseins. Er ~rt, wie wenn er sich hinausbreite und in das, was er wahrnimmt, ieinkröche, so daß er innerhalb dieser Leuchtkörper lebt und ~me- und Kälteempfindungen verspürt; er verspürt auch Geimack. Alle diese Empfindungen, die er zunächst aus der Sinnen.h kennt und die hier mit dem äußeren begrenzten Körper verüpft sind, durchströmen und durchhuschen den Raum, und vor ~n Dingen tritt noch etwas auf. Hier in der physischen Welt hat ~ Mensch natürlich das Gefühl, daß nur dasjenige zu einem Wesen ~ört, was sozusagen räumlich mit dem Wesen zusammenhängt. würde Sie sonderbar überraschen, wenn irgendein physisches den hineinliefe in den Raum und hinterher ein anderes, und jeLnd behauptete, die beiden gehören zusammen, obzwar keine Veridung zwischen ihnen da ist. Man würde sie für getrennte Wesen Iten; denn man wird niemals räumlich getrennte Körper in der

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physischen Welt als ein Wesen ansehen. In der Astralwelt ist das durchaus der Fall, daß das, was gar nicht räumlich zusammenhängt, ein Wesen ist, und da haben Sie keinen anderen Maßstab dafür, anzuerkennen, daß das ein Wesen ist, als daß, sagen wir, Sie drinnen sind und nun das Bewußtsein haben, diese zwei voneinander ganz abstehenden Glieder gehören zu einer Wesenheit. Verwirrend ist also, daß sich das hellseherische Bewußtsein nicht immer gleicht, und daß das, was zusammengehört, nicht immer als solches erblickt werden kann. Ja, es kann noch weitergehen: Daß Sie ein Wesen sehen können, das Ihnen erscheint als eine Reihe voneinander getrennter Kugeln, hier eine leuchtende Kugel, weit davon eine zweite, dann eine dritte, vierte und so weiter. Daraus werden Sie sehen, daß es auf dem Astralplan in gründlichster Weise anders aussieht als hier.

Aber es gibt ja etwas, das mit dem Menschen selbst verbunden ist und das in dieser Verbindung mit dem Menschen zu gleicher Zeit alle Eigenheiten der astralischen Welt als Wirkungen auf den Menschen äußert; das ist des Menschen eigener Astralleib. Das ist das dritte Glied seiner Wesenheit, von dem Sie erfahren haben, daß es in einer gewissen Weise eine selbstbegrenzte Gestalt hat. Während des Lebens zwischen Geburt und Tod kann man allerdings sehen, daß im wesentlichen der Astralleib sich wie eine Art ovale Wolke aus- nimmt, in welche der physische und Ätherleib eingebettet sind. Eine Art Eiform ist der Körper, auf dessen äußeren Grenzen beständig

wogende Bewegungen geschehen, so daß von einer Regelmäßigkeit keine Rede sein kann. Der Astralleib zeigt eine verhältnismäßig feste, bestaööndige Form, solange er im physischen Leibe drinnensteckt. Solange das der Fall ist, so lange bleibt diese Form. Schon in der Nacht, wenn der Astralleib sich herauszieht, beginnt dieser sich dem Seelenleibe anzupassen. Da kann man schon sehen, wie ein Mensch, der bei Tage in bösartigen Gefühlen lebt, in der Nacht eine andere Form zeigt als ein Mensch, der während des Tages in guten Gefühlen gelebt hat. Im allgemeinen bleibt aber doch die Form des astralischen Leibes in der Nacht bestehen, weil die Kräfte des physischen und Ätherleibes sehr stark wirken und auch in der Nacht noch

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nachwirken, und den Astralleib in seiner Form im wesentlichen, aber nur im wesentlichen, erhalten.

Aber wenn der Mensch im Tode, nach Beendigung seines physischen Lebens, zunächst den physischen Leib abstößt und dann auch denjenigen Teil des Ätherleibes abstößt, der abzustoßen ist, dann zeigt der Astralleib schon während der Kamalokazeit durchaus eine wechselnde Form. Ganz und gar angepaßt ist dieser Leib in seiner Form und Bildgestalt seinem Seelenleben, so daß ein Mensch, der seinen Leib im Tode mit häßlichen Gefühlen verloren hat, eine abschreckende Gestalt zeigt, während ein Mensch, der mit schönen Gefühlen gestorben ist, schöne, sympathische Formen des Astralleibes zeigt. Es kann so weit kommen, daß Menschen, die ganz und gar aufgehen in sinnlichen Begierden und die sich nicht erheben können zu irgendwelchen edlen Gefühlen und Trieben, nach dem Tode eine Zeitlang wirklich die Form von allerlei grotesken Tieren annehmen, nicht solchen, wie sie auf dem physischen Plan leben, sondern solchen, die nur daran erinnern. Derjenige nun, der Erlebnisse hat auf dem astralen Plan und verfolgen kann, welche Gestalten sich da dem hellseherischen Bewußtsein darbieten, der weiß, welches Bild einer Seele mit edlem und einer mit unedlem Inhalt entspricht; von dem kann also alles an den Gestalten erlebt und erschaut werden. Ich sagte schon, daß dieser astrale Menschenleib keineswegs absolut etwa ganz bestimmte innere und äußere Formen zeigt, sondern nur innerhalb bestimmter Grenzen ist das der Fall. Auch schon im physischen Leben> namentlich in jenem Teil des Leibes, der nach dem Einschlafen austritt, paßt sich in einer gewissen Weise der Astralleib doch auch dem an, was die Seele erlebt. Und da kann man aus gewissen Bildungen und Gestaltungen, die der Astralleib in sich annimmt, sehen, was innerhalb des Menschen vorgeht und was er erlebt.

Nur bezüglich einiger Dinge, die die Seele erleben kann> möchte ich Ihnen einiges angeben, nämlich, wie dann der astrale Leib gesehen wird. Nehmen Sie an, ein Mensch sei schwatzhaft, neugierig oder er neige zum Jähzorn oder anderen ähnlichen, sagen wir, Untugenden. Da drücken sich diese Untugenden in einer ganz bestimmten Weise in seinem Astralleib aus. Wenn der Mensch zum Beispiel

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geplagt wird von Zorn, Ärger, namentlich wenn er jähzornig ist, dann zeigen sich in seinem Astralleib knollige Bildungen, Verdichtungen durch den Astralleib. Er wird unrein. Von diesen Verdichtungen gehen recht schlimm aussehende schlangenartige Fortsetzungen aus, die sich auch in der Färbung von anderen Substanzen unterscheiden. Namentlich bei jähzornigen Menschen kann das leicht beobachtet werden. Wenn die Menschen schwatzhaft sind, dann zeigt sich dieses namentlich dadurch, daß der Astralleib allerlei Verdichtungen zeigt, die man so charakterisieren könnte, daß man sagt, durch die Verdichtungen werde nach allen Seiten ein Druck im Astralleib ausgeübt. Wenn die Menschen neugierig sind, dann zeigt sich das im Astralleib, indem er sich in Falten legt; gewisse Teile werden faltig schlaff, und es hängen sozusagen gewisse Teile einander entgegen; es zeigt sich ein allgemeines Schlaffwerden. Sie sehen also, daß dieser astrale Menschenleib in einer gewissen Art die allgemeinen Eigenschaften der Astralwelt teilt, daß er seine Form den inneren Seelenerlebnissen des Menschen anpaßt.

Nun finden wir, wenn wir die Astralwelt im allgemeinen durch- forschen, zunächst gewisse Wesenheiten, von denen der Mensch, der nur das Physische kennt, eigentlich keine Ahnung haben kann. Vor allen Dingen erscheint ihm diese physische Welt in einer ganz anderen Art, als sie ihm vorher erschienen ist. So zum Beispiel finden wir als ganz besondere Wesenheiten die Gruppenseelen der Tiere. Der Mensch, wie er uns hier entgegentritt, hat eine individuelle Seele, die, eine jede für sich, eine Ich-Wesenheit hat. Die Tiere haben nicht in der gleichen Weise eine Ich-Wesenheit. Bei ihnen haben die gleichgestalteten Formen, also alle Löwen, alle Tiger, alle Schildkröten dasjenige, was man eine gemeinsame, eine Gruppenseele nennen kann. Und Sie müssen sich vorstellen, daß auf dem astralen Plane eine Ichheit lebt, gleichgültig wo die Tiere im Physischen leben. Alle sind eingebettet in eine Ichheit, die auf dem astralen Plane eine wirkliche Persönlichkeit ist, und dort kann man dieser Persönlichkeit, dieser Gruppenseele begegnen, wie hier einem Menschen.

Ein Beispiel: Nehmen Sie einmal einen Vogelzug, wenn die Vögel anfangen, von den nördlichen Gegenden zum Äquator zu ziehen.

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Wer nicht oberflächlich diese wirklich außerordentlich weisheitsvollen Vogelzüge beobachtet, wird staunen darüber, wieviel von dem was man Intelligenz nennt, zu einem solchen Zuge der Vögel gehört. Die einen ziehen in diese, andere in die andere Region; Gefahren bestehen sie, sie landen, wo sie landen müssen. Da sieht das gewöhnliche physische Bewußtsein nur die dahinziehenden Schwärnie. Das hellseherische Bewußtsein aber sieht die Gruppenseele, das Wirken der Persönlichkeiten, die da leiten und lenken, was da vorgeht. Tatsächlich sind es solche Astrale Persönlichkeiten, die das Ganze führen und leiten. Diese Gruppenseelen sind es, die uns zu- nächst als eine Bevölkerung der Astralwelt entgegentreten. Die Mannigfaltigkeit, die in der Gruppenseele der Tiere auf dem Astralplan herrscht, diese Buntheit ist eine unendlich viel größere. Nur nehenbei sei erwähnt, daß auf dem astralen Plan Platz für alle ist, weil sich dort die Wesen durchdringen; denn das Gesetz der Undurchdringlichkeit gilt nur für den physischen Plan. Nur fühlen sie dort &e Einflüsse, wenn sie durchdrungen werden, gute wie böse; im innerlichen Erleben spüren sie das Durchgehen. Sie können also durch einander durchgehen; sie können auch an ein und demselben Orte leben. Es herrscht dort das Gesetz der Durchdringlichkeit.

Aber das ist wiederum nur ein Teil der Astralbevölkerung, allerdings einer, den wir im vollen, richtigen Sinne erst erkennen, wenn wir ihn ganz erfassen. Glauben Sie nicht, daß derjenige schon einenBegriff von einer Gruppenseele irgendeiner Tierform hat der, sagen , aufmerksam ist wie diese in der Astralwelt eingebettet ist und e zu dieser Gruppenseele hinauf sein Bewußtsein geleitet wird. aS genügt nicht. Gerade hier tritt uns lebendig entgegen, daß das, as räumlich getrennt ist, zusammengehört, so daß wir für jede 'Tiergruppenseele, die weisheitsvoll das Ganze leitet, ein Gegenbild haben, und zwar ein schlinimes Gegenbild. Darin besteht die Tierheit, daß sie einmal hinaufweist in die Astralwelt, aber dann hinunterweist in jenen Teil der Astralwelt, wo Häßlichkeit und Widrigkeit herrschen, so daß wir für jede Tiergruppe eine Lichtgestalt und eine häßliche Gestalt haben, welche sich einmal abgesondert hat von der Lichtgestalt als das Böse, Häßliche, was einmal in ihr drinnen

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war. Da können Sie nun sehen, wie die alten Bilder und Kunstwerke aus einer höheren Erkenntnis hervorgegangen sind. Heute erkennt man als eine Individualität nur das, was im Menschen lebt. Und man kann daher, wenn man etwas Höheres darstellen will, nur zur Phantasie greifen. So war das durchaus nicht immer. Damals, als ein großer Teil der Menschheit, namentlich der, welcher künstlerisch wirkte, ein gewisses hellseherisches Bewußtsein oder doch Überlieferungen vom Hellsehen hatte, da hat man immer dargestellt das, was sich wirklich in den höheren Welten vorfindet. Und so haben Sie in dem Ihnen bekannten Michael mit dem Drachen oder Sankt Georg mit dem Drachen eine wunderbare Darstellung der Verhältnisse, welche der Hellseher auf dem astralen Plane bezüglich der Tierformen immer vorfindet. Sie erhebt ihn zu einer höheren Gestaltung, die weise ist und weit hinausragt über die Weisheit der Menschen. Aber diese Weisheit ist errungen dadurch, das heraus- geworfen worden ist aus der Astralität solcher Wesenheiten die schlimme Seite. Diese schlimme Gestalt haben Sie in dem widrigen Drachen. Wenn der Hellseher aufsieht von der lebenden Form, so sieht er alles, was für die lebendige Form angeordnet wird von der höheren Wesenheit, die weise ist, die nur nicht die Liebe kennt. Aber diese Ausbildung der lichten Seelengestalt ist nur errungen worden dadurch, däß unter die Füße getreten worden sind die bösen Eigenschaften, die in der Wesenheitsform waren. Der Mensch hat seine heutige Natur dadurch errungen> daß er heute noch in seinem Karma Gut und Böse vermischt hat, während auf das Tier die moralischen Unterschiede von Gut und Böse sich nicht anwenden lassen. Aber der Begriff der lichtvollen Wesenheit ist mit dem Zuge nach oben, der des Gefallenseins mit dem, was überwunden worden ist, verknüpft. Alte Kunst hat meist so geschaffen in bedeutungsvollen Symbolen, und was da geschaffen worden ist, ist nichts weiter als ein Ergebnis hellseherischer Betrachtungen. Das wird erst dann begriffen werden, wenn man die astralischen Urbilder wieder erkennen wird.

Auch die Pflanzenwelt bietet auf der astralischen Ebene etwas Eigentümliches dar. Wenn der Hellseher eine Pflanze betrachtet, wie

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mit der Wurzel im Boden wurzelt, Blätter und Blüten ansetzt, Lt er zunächst vor sich die Pflanze, bestehend aus dem physischen .Leibe und dem Ätherleib. Das Tier hat noch den Astralleib. Nun konnen Sie einmal die Frage aufwerfen: Haben die Pflanzen gar chts von einem Astralleibe? Es wäre falsch, würde man das behaupten; er ist nur nicht drinnen, wie er in dem Tiere drinnen ist.

Tenn das hellseherische Bewußtsein die Pflanze beschaut, so sieht namentlich oben, wo die Blüten sind oder entstehen, die ganze FIanze eingetaucht in eine astrale Wolke, eine helle Wolke, die die FIanze namentlich an diesen Teilen umgibt und einhüllt, wo sie ~ht und Früchte trägt. Also die Astralität senkt sich gleichsam auf e Pflanze nieder und hüllt einen Teil der Pflanze ein. Der Astralib der Pflanze ist eingebettet in diese Astralität. Und das Eigenkmliche davon ist, daß, wenn Sie sich die ganze Pflanzendecke der rde denken, so werden Sie finden, daß die Astralleiber der Pflanzen ner an den anderen grenzen und sie ein Ganzes bilden, von dem le Erde eingehüllt ist wie von physischer Luft, von der Pflanzentralität. Wenn die Pflanzen nur einen Ätherleib hätten, würden e so wachsen, daß sie nur Blätter, keine Blüten ansetzen würden, ~nn das Prinzip des Ätherleibes ist Wiederholung. Wenn eine Wiederholung abgeschlossen und ein Abschluß gebildet werden soll, Luß ein Astralleib dazukommen.

So können Sie am Menschenleibe selbst betrachten, wie das Ätherische und das Astrale zusammenwirken. Denken Sie sich die aufeinnderfolgenden Ringe des Rückgrats. Da gliedert sich Ring an Ring. fange dies geschieht, wirkt hauptsächlich das ätherische Prinzip n Organismus. Oben, wo die knöcherne Schädelkapsel eintritt, ort überwiegt das Astrale, nämlich dort hat das Astrale das Übergedicht. Also das Prinzip der Wiederholung ist das Prinzip des Ätherischen, und das Prinzip des Abschlusses ist dasjenige des Astralen.Die Pflanze würde oben nicht abgeschlossen sein in der Blüte, wenn sich nicht in das Ätherische das Astrale der Pflanzennatur senken würde.

Wenn Sie eine Pflanze verfolgen, wie sie den Sommer hindurch wächst und dann im Herbste Früchte trägt und dann anfängt zu welken,

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also wenn die Blüte anfängt zu ersterben, dann zieht sich das Astrale wieder aus der Pflanze zurück nach oben. Das ist ganz besonders schön zu beoachten. Während das physische Bewußtsein des Menschen im Frühling seine Freude haben kann an dem Erblühen der Pflanzen, wie sich Flur um Flur mit herrlichen Blüten bedeckt, gibt es für das hellseherische Bewußtsein noch eine andere Freude. Wenn gegen den Herbst zu die Pflanzen, die einjährig sind, absterben, dann leuchtet es und huscht hinauf wie huschende Gestalten, die sich als astrale Wesenheiten herausbegeben aus den Pflanzen, die sie den Sommer hindurch versorgt haben. Hier ist wieder eine Tatsache, die uns in dem poetischen Bilde entgegentritt, das nicht verstanden werden kann, wenn nicht hierin das hellseherische Bewußtsein verfolgt werden kann. Da sind wir schon in einem intimen Felde des astralen Bewußtseins. Aber bei Völkern der Vorzeit, wo solche intime Hellseher vorhanden waren, da war auch schon dieses Sehen im Herbst vorhanden. Sie finden bei dem hellseherischen Volke Indiens in der Kunst das wunderbare Phänomen dargestellt, daß ein Schmetterling oder ein Vogel hinausfliegt aus einem Blütenkelch. Wiederum ein solches Beispiel, wie in der Kunst etwas aufsteigt> wo durchaus das hellseherische Bewußtsein zugrunde liegt aus jenen fernen Zeiten her, wo entweder das hellseherische Bewußtsein in den Künstlern gewirkt hat oder als eine Tradition beachtet wurde.

Ein Astralleib ist also auch in der Pflanze vorhanden. Das Tier hat physischen Leib, Ätherleib, Astralleib. Das Ich des Tieres haben wir` gefunden in der Gruppenseele. Wir haben jetzt vom Astralleib der Pflanze gesprochen, den wir, wenn die Pflanze welk wird, als ein sich herausziehendes Wesen charakterisiert haben. Hat die Pflanze auch ein Ich? Ja, es gibt dasselbe für die Pflanzen, was wir beim Tier die Gruppenseele nennen, nur herrscht hier das Eigentümliche vor, daß alle die Pflanzen-Iche nach einem einzigen Ort der Erde sich richten, nämlich nach dem Mittelpunkt der Erde. Es ist, als ob die Erde von allen Seiten bestrahlt würde von den Gruppen-Ichen aller Pflanzen, und deshalb wächst die Pflanze gegen die Erde zu. Dieses Ich aber kann auf dem astralen Plan nicht beobachtet werden. Dort

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findet der Hellseher die tierischen Gruppenseelen. Er findet auch jene Doppelwesen, wie wir sie im Symbol von Michael mit dem Drachen gesehen haben. Er findet auch, was nun geschildert worden ist, aber die Pflanzen-Iche würde er vergeblich auf dem astralen Plane suchen. Die sind erst in der höheren, in der eigentlich geistigen Welt, in den gröberen, unteren Partien des Devachans, im Rupa-Devachan.

Da sind die eigentlichen Pflanzenseelen, die Pflanzen-Iche, und die stecken alle so ineinander, daß sie mit ihrem eigentlichen Mittelpunkte alle ineinander sind, im Mittelpunkte der Erde vereinigt sind.

Da kann nun die Frage entstehen: Es sind doch der physische Plan, der astrale Plan, der devachanische Plan eigentlich ineinander, so daß der Hellseher sich räumlich nirgends anders befindet, als wo der physische Mensch sich befindet; wie unterscheidet man da eigentlich den einen von dem anderen? Es ist bald gesagt, wodurch der physische Plan sich vom astralen unterscheidet. Der physische Plan ist da, solange man sieht, hört, tastet, und wenn der Mensch innere Fähigkeiten entwickelt, dann werden ihm zwischen und in dem Physischen die astralen Wesen unterscheidbar. Dort, wo solche Wesen in unser Bewußtsein eintreten, die mit physischen Organen nicht wahrzunehmen sind, da beginnt der astrale Plan. Aber wann heginnt dann der devachanische Plan? Nun gibt es die Möglichkeit, Grenzen anzugeben zwischen dem astralen und devachanischen Plan, obwohl sie ineinander verschwimmen; es gibt durchaus eine äußere und eine innere Möglichkeit, den Aufstieg vom astralen zum devachanischen Plane zu erkennen. Die äußere Möglichkeit ist folgende: Wenn der Mensch sein hellseherisches Bewußtsein entwickelt, muß er zunächst Augenblicke im Leben haben, wo er die physische Welt in gewisser Beziehung verläßt. Das ist schon ein höherer Grad menschlicher Entwickelung, wenn er sozusagen gleich zeitig die physische und dann in ihr, diese durchsetzend, die astrale Welt erblickt, also zum Beispiel das Physische eines Tieres und den astr;alen Leib eines Tieres sieht. Aber das kann nur erreicht werden bei einem gewissen Grade von Entwickelung, nachdem man etwas anderes durchgemacht hat, nämlich, daß man die physische Welt nicht sieht, wenn man die astrale Welt sieht.

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Dieses Hineinleben des Menschen im Beginn der Entwickelung in die astrale Welt zeigt sich dadurch, daß sich folgendes abspielt. Der Mensch ist an einem bestimmten Orte. Er hört allerlei um sich, sieht die Gegenstände, er tastet sie, er schmeckt sie. Wenn nun der Mensch sich nach und nach hellseherisch in die astrale Welt einlebt, dann ist es so, daß diese sinnlichen Eindrücke zuerst anfangen, weiter und weiter vom Menschen abzuziehen, so daß der Ton wie in weiter, weiter Ferne zu sein und dann ganz und gar zu verschwinden scheint. Ebenso ist es mit den Tastwahrnehmungen: Der Mensch wird nach und nach dasjenige, was sonst getastet wird, nicht als unmittelbar empfinden; er wird mit gewissen Gefühlen die Körper durchdringen, in sie hineintasten. Ebenso die FarbenweIt, die Lichtwelt; der Mensch breitet sich aus, er lebt sich in diese Lichtwelt hinein. So zieht dasjenige, was die sinnliche Welt ist, vom Menschen ab, und an ihre Stelle treten die Erscheinungen, wie sie vorhin besprochen worden sind. Das erste nun zunächst, was da beobachtet werden muß, ist das, daß da, wo die Astralwelt wirklich vom Menschen beschritten wird, sozusagen vollständig die Tonwahrnehmungen, die Gehörwahrnehmungen, die Schallwelt, die Tonwelt ausgelöscht sind. Das ist eine Zeitlang überhaupt in der Astralwelt nicht vorhanden. Der Mensch muß sozusagen diesen Abgrund durchmachen, in einer tonlosen Welt zu leben. Allerdings ist sie dadurch ausgezeichnet, daß sich in ihr mannigfaltige Eindrücke finden, namentlich eine differenzierte Bilderwelt. Wenn er höher steigt in der Entwickelung, lernt er etwas kennen, was ihm jetzt ganz neu ist, nämlich das, was wie ein geistiges Gegenbild zur Tonwelt zu bezeichnen ist. Er lernt zuerst innerhalb der Astralwelt kennen das, was neu auftritt als geistiges Hören. Das ist nun freilich schwer zu beschreiben.

Nehmen Sie nun folgendes an: Sie sehen eine leuchtende Gestalt. Eine andere kommt ihr entgegen; sie nähern sich und durchdringen sich. Eine dritte kommt, kreuzt den Weg und so weiter. Nun, was sich Ihnen darbietet, das sehen Sie nicht bloß an mit dem hellseherischen Bewußtsein, sondern das gibt Ihnen in die Seele die mannigfaltigsten Gefühle. So kann es sein, daß in Ihnen die Gefühle einer geistigen

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Lust entstehen, dann wieder Unlust, aber die verschiedenst differenzierten Gefühle, wenn sich die Wesen durchdringen, oder wenn sie sich annähern oder entfernen. Und so lebt sich die hellsehend werdende Seele ein, so daß das Zusammenwirken auf dem astralen Plan nach und nach durchglüht und durchsetzt wird von erhabenen oder widersprechenden Gefühlen rein geistiger Art. Das ist die geistige Musik, die wahrgenommen wird. Aber mit dem Momente, wo dies auftritt, ist man schon im Gebiete des Devachan.

Also das Devachan beginnt äußerlich, wo die Tonlosigkeit beginnt aufzuhören, die zum Teile auf dem astralen Plane eine schauerliche Tonlosigkeit ist. Denn der Mensch hat keine Ahnung, was es heißt, in einer unendlichen Tonlosigkeit zu leben, die nicht nur keinen Ton darbietet, sondern die auch zeigt, daß sie keinen in sich hat. Das Gefühl der Entbehrung auf der physischen Welt ist eine Kleinigkeit gegen die Gefühle der Seele, wenn diese Unmöglichkeit empfunden wird, daß da etwas heraustönen kann aus dem unendlich sich ausbreitenden Raum. Dann kommen eben die Möglichkeiten, das Zusammenwirken der Wesenheiten, ihre Harmonie und Disharmonie wahrzunehmen, die Tonwelt beginnt. Das ist das Devachan, äußerlich in den Formen betrachtet.

Auch in anderer Weise kann die Seelenempfindung den Übergang von der Astralwelt zum Devachan anzeigen. In der physischen Welt begleitet der Mensch in seiner Seele die Dinge ja nach dem Charakter, den er hat. Der eine geht an einem Bilde vorbei und empfindet nichts, der andere fühlt eine Welt von Seligkeit, indem er vor dem Bilde steht. Menschen gehen aneinander vorbei; der eine sagt von dem anderen, daß er der Rechte sei und sieht vermöge seiner Seeleneigentümlichkeit, daß er zu dem anderen gehört, er empfindet eine aufleuchtende Freude. So ist es eigentlich in den höheren Welten sehr bald nicht mehr. Da fordert der Mensch mit einer inneren Notwendigkeit die Erlebnisse einer Gefühlswelt heraus, und da können Sie nicht etwa kalt oder nüchtern vor gewissen Erlebnissen des astraIen und devachanischen Planes vorbeigehen, sondern gewisse Erlebnisse fordern Ihnen ab eine Hingebung, ein volles Eingehen; andere hingegen stoßen Sie ab.

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Das ist es, was dem nicht richtig Vorbereiteten gefährlich werden kann, weil er nämlich in fortwährend wechselnden Empfindungen leben muß, die unter Umständen innerlich zerstören, innerlich zerreißen und daher wieder auf die Gesundheit schädigend rückwirken müssen. Da kann er von Stufe zu Stufe merken, in welcher Welt er ist. Während er in der Astralwelt ist, kennt er hauptsächlich zwei Gefühlsnuancen in der mannigfaltigsten Weise. Die eine ist die, die besonders stark hervortritt, wenn der Mensch unmittelbar nach dem Tode in dem Gebiete der Astralwelt ist, das wir Kamaloka nennen. Da ist er ja sozusagen mit seinen Gefühlen noch nicht losgekommen vom Leben der physischen Welt; da verlangt er nach ihr, er begehrt ihrer. Nehmen wir zum Beispiel einen Feinschmecker, der Verlangen nach leckeren Speisen hat. Nach dem Tode und nach dem Übergang in die Astralwelt hat er noch immer die Lust, aber nicht mehr die physischen Organe. Daher lechzt er gierig nach dem, was nur Zunge und Gaumen einem Menschen bieten können. Daher wird ihm dieses, was er in seiner Seele erlebt, zur peinigendsten Nuance dieses Gefühls, zum Gefühle der Entbehrung. Entbehrung ist überhaupt etwas, was auf der einen Seite unserer Gefühlswelt steht, wenn wir in der Astralwelt sind. Man lernt da, wenn man das Bewußtsein entwickelt hat, nicht jene peinigende Entbehrung kennen, wie ein Gestorbener sie hat, aber das Gefühl des Suchens nach etwas, das Gefühl der Entbehrung wird auch den Hellseher überkommen, wenn nicht ein anderes zum Erhalten des Gleichgewichtes da wäre. Betritt er unvorbereitet oder nicht in der richtigen Weise vorbereitet den astralen Plan, dann wird sich das geltend machen. Nicht Rast und nicht Ruhe hat die Seele; eine Unruhe, eine Rastlosigkeit wird die Seele von einem zum anderen drängen. Um das zu vermeiden, gibt es nur eines: die entgegengesetzte Gefühlsnuance muß ausgebildet werden, und in allen Geheimschulen wird diese Gefühlsnuance vorbereitet: die Entsagung. Man bereitet sich für ein richtiges Leben in der Astralwelt durch alles das vor, was in einer gewissen Weise mit Entsagung bezeichnet werden kann. Wenn Sie sich die geringste Kleinigkeit hier versagen, ist es durchaus wahr, daß Sie sozusagen einen Stein in die Treppe zum astralen Plan einlegen. Die

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ruhigere Betrachtung der Astralwelt wird errungen dadurch, daß man sich dazu vorbereitet durch die Gefühlswelt der Entsagung. Während das Gefühl der Begierde die Astralwelt zu einer Welt des Schmerzes und der Unlust macht, macht das, was man durch Entsagung erwirkt, daß man immer klarer und klarer, deutlicher und deutlicher die Gebilde und Wesenheiten des astralen Planes beobachten kann, so daß man nicht mehr hin und her schwanken muß zwischen Begierde und Entsagung. Das sind die Gefühlsnuancen im as;tralen Plane, und so lange diese vorzugsweise in der Seele tätig sind, ist man im astralen Plan.

Dann kommen neue Gefühlserlebnisse der Seele. Vor allen Dingen macht sich dort, wo die Seele die Grenze der Devachanwelt iiherschreitet, das Gefühl der Beseligung geltend, der Seligkeit. Selbst wenn man das Devachan unwürdig betreten würde, das heißt, wenn man durch irgendeinen Zauber oder durch schwarze Magie vor dem Tode dort eintreten könnte, würde man sehr bald in einem Meer von Seligkeiten geringeren oder höheren Grades schwimmen.

Nun könnte man sagen, das ist doch sonderbar, daß selbst ein unwürdiges Betreten des Devachan Beseligung verleiht. Es ist so, aber es hat in gewisser Weise auch seine Nachteile, lautet die Antwort. Dieses Gefühl aus- und hinfließender Seligkeit ist auf dem devachanischen Plane untrennbar mit etwas anderem verknüpft, nämlich mit dem Verluste des Selbst, der Selbstbewußtseinskraft, der inneren Ich-Kraft. Wir würden zei-fließen, wenn nicht eine andere Gefühlsnuance hinzutreten würde. Das ist die, die man in der Geheimwissenschaft das Gefühl der opferwilligen Hingabe, der Opferfähigkeit nennt.

Im astralen Plan finden wir also Entbehrung und Entsagung, auf dem devachanischen Plane Seligkeit und Opferwilligkeit. Und es ist sonderbar, aber doch wahr, daß, wenn der Mensch auf dem devachanischen Plane gar nicht das Gefühl hätte: Du sollst dich hingeben dem, was um dich ist -, sondern mit seinem Ich nur die Seligkeit genießen wollte, würde er zerfließen im Meere der devachanischen Wesenheiten. Wenn er aber mit dem Gefühle sich durchtränkt: Ich will mich opfern, ich will ausströmen lassen, was ich mir erworben

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habe -, dann bewahrt er sich im Devachan vor dem Zerfließen, vor dem Vergehen. Das höchste Gefühl der Liebe, der schaffenden Liebe, das muß als zweite Gefühlsnuance im Devachan da sein. Und das ist etwas, was Ihnen auch verständlich macht, wie das Wirken im Devachan zwischen Tod und einer neuen Geburt geschieht. Indem der Mensch aus dem Kamaloka, wo er zunächst in Entbehrung gelebt und die Dauer seines Aufenthaltes dadurch verkürzt, daß er entsagen gelernt hat, in das Devachan kommt, muß er gleich beginnen, an die Arbeit einer nächsten Inkarnation zu gehen. Langsam baut er sich die Urbilder seines nächsten Erdenlebens auf. Er wird es um so besser aufbauen, wenn er zum Gefühl der Seligkeit, das unbedingt eintritt, gelernt hat hinzuzufügen die opferwillige Hingabe seines Wesens an das, was ihn umgibt. In dem Maße, als er sich hinopfert mit seiner Seele, in dem Maße baut sich das Urbild seiner künftigen Persönlichkeit auf. Würde er das nicht können, dann würde er entweder ganz und gar vergehen oder riesig lange brauchen, bis er wieder zu einem irdischen Dasein kommen könnte. So sehen wir sozusagen, wie die Seele äußerlich in den Formen - beim Übergange aus der stummen, leuchtenden Astralwelt in die tönende DevachanweIt - die Grenzen findet; viel wichtiger aber ist, wie sie sich innerlich hineinlebt in die andere Welt. - Das sind so einige Hindeutungen auf die Verhältnisse der höheren Welten, die der Mensch betritt in der Beobachtung des alten griechischen Weisheitsspruches «Erkenne dich selbst !» Man könnte noch vieles hinzufügen, aber es kann ja immer nur ein Stück davon gegeben werden, was zur Charakteristik der höheren Welten zu gelten habe. So lebt man sich all mählich ein, und indem man sich einlebt, wird man auch die Wirkungen auf die physische Welt erkennen lernen, und so wird auch diese Welt immer durchsichtiger.

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WAS IST SELBSTERKENNTNIS? Wien, 23. November 1908

Wir haben vorgestern hier ein im eminentesten Sinne okkultes Thema behandelt, einen Ausblick gehalten in die höheren Welten. Wir haben dann gestern im öffentlichen Vortrag uns damit beschäftigt, durch welche Methode und Verrichtung der Mensch in die Lage kommt, die in seiner Seele schlummernden Fähigkeiten und Kräfte so zu erwecken, daß ihm nach und nach die Erkenntnis dieser höheren Welten möglich wird. Das Thema, das uns heute obliegen wird, steht in einem gewissen inneren Zusammenhange mit den beiden, und es steht in einer gewissen Beziehung auch mit allem anthroposophischen Streben. Nicht nur, daß in der Theorie so oftmals der Ausspruch gehört wird, daß eigentlich die anthroposophische Geisteswissenschaft nichts anderes sei als eine umfassende, universelle Selbsterkenntnis des Menschen, eine Selbsterkenntnis des Menschen so, daß ihm aufgeht der tiefste Grund, das tiefste Wesen des eigenen Ich und sich mit ihm Welterkenntnis erschließt. Aber nicht nur, sage ich, daß Sie diesen Ausspruch oftmals in der theosophischen Literatur und auch sonst finden können, sondern wahre, echte Selbsterkenntnis ist auch dasjenige, was wie eine Begleiterscheinung parallel laufen muß allem wirklichen Forschen auf dem Gebiete der höheren Welten, parallel laufen muß aller Entwickelung der inneren Seelenkräfte. Das «Erkenne dich selbst», dieser uralte Menschheitsspruch, bedeutet viel, sehr viel gerade für den Anthroposophen. Nun wollen wir heute das, was man im geisteswissenschaftlichen Sinne Selbsterkenntnis nennen kann, betrachten auf den verschiedensten Stufen der menschlichen Entwickelung. Wir wollen ausgehen von der gewöhnlichsten, alltäglichsten Selbsterkenntnis und wollen aufsteigen bis zu jener Selbsterkenntnis, die Welterkenntnis im anthroposophischen Sinne genannt werden kann, und wir wollen bei allen einzelnen Dingen, die wir zu besprechen haben, das, was man «geheim- wissenschaftlich» nennen könnte, die okkulte Seite, durchaus mit berücksichtigen.

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Selbsterkenntnis ist nun um so wichtiger innerhalb der anthroposophischen Weltanschauung zu besprechen, als sie, richtig verstanden, das Höchste einschließen kann, um was es sich im anthroposophischen Streben handeln kann, falsch verstanden, etwas außerordentlich Gefährliches werden kann. Falsch verstandene Selbsterkenntnis ist dasjenige, was insbesondere im Anfang des geisteswissenschaftlichen Strebens von der wahren Bahn, die uns in der Anthroposophie vorgezeichnet wird, eher ab- als hinführt. Goethe, der in vieler Beziehung auf diesem Felde durchaus bewandert war, sagte einmal, daß er schon ein gewisses Mißtrauen habe gegen den Ausdruck Selbsterkenntnis, daß dieser etwas bedeute, was Menschen vertreten, die im Grunde genommen in irgendeiner Art durch falsche Melancholie, Selbstbetäubung, in ein ganz unrichtiges Fahr- wasser hineingekommen sind. Und dies ist eine durchaus richtige Ausdrucksweise. Wir haben ja auf geisteswissenschaftlichem Felde immer wieder Gelegenheit, die komplizierte Menschennatur ins Auge zu fassen, wenn wir uns erinnern an dasjenige, was wir alle wissen: daß wir in anthroposophischer Hinsicht den Menschen gliedern in den physischen Leib, in das, was wir den Ätherleib, den Astralleib und den eigentlichen Ich-Träger nennen. Und wenn wir ins Auge fassen, daß im Grunde dasjenige, was wir das Selbst nennen, mit allen diesen Gliedern der Menschennatur zu tun hat, so werden wir leicht dazu kommen, daß Selbsterkenntnis etwas außerordentlich Kompliziertes ist.

Um die einfachste, niederste Art der Selbsterkenntnis gleich vor- wegzunehmen, erinnern wir uns daran, daß wir bei diesen vier Gliedern der menschlichen Natur allerdings unterscheiden müssen - je nach dem gegenwärtigen Verhältnisse dieser Glieder - den wachen- den und den traumlos schlafenden Menschen, daß wir sagen müssen,

daß beim schlafenden Menschen der physische und der Ätherleib verlassen sind vom Astralleib und dem Ich-Träger und die beiden letzteren außerhalb des Leibes sind. Wir wissen aber gleichzeitig, daß für den gegenwärtigen Menschheitszyklus normal ist, daß das Ich des Menschen nur dann seiner selbst bewußt werden kann, wenn es sich der physischen Organe bedient, um auf dem physischen

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Plan die Wahrnehmungen zu machen. So sprechen wir zwar im geisteswissenschaftlichen Sinne von einem Ich-Träger, der dauert durch diejenigen Zustände hindurch, die wir als den bewußtlosen Schlaf bezeichnen. Wir müssen aber von diesem Ich-Träger sagen, daß er die heutige Seite des Bewußtseins und Selbstbewußtseins nur entwickeln, also ins unmittelbare Beobachtungsfeld hereinbekommen kann, wenn er sich der physischen Organe bedient, also am Morgen wieder hineinsteigt in den physischen und Ätherleib. Da haben wir das für den heutigen Menschen normale Selbstbewußtsein vor uns, und wir müssen uns fragen: Was ist das Wesen dieses Selbstbewußtseins auf der niedersten Stufe? - Besser aber ist die Frage noch bezeichnet, wenn wir so sagen: Wie kommt der Mensch dazu, dasjenige zu erkennen, das vom Morgen bis zum Abend in seinem physischen Leibe wohnt und sich der physischen Organe bedient, wie kommt der Mensch zu einer Erkenntnis des Wesens des Ganzen oder des Selbst? - Leicht kann da geglaubt werden> daß der Mensch nun in sein Inneres blicken muß, daß er sozusagen sich selbst erforschen muß. Da kommen wir nun an alle möglichen Arten der Selbsterkenntnis, die da gepflogen und angeraten werden. Zum Beispiel soll der Mensch beobachten, was er tut, was seine Eigenschaften sind und seine Fehler, er soll hineinbrüten in sein Inneres und zu erkennen suchen, wievie`l er wert sei, wie tüchtig er zu dieser oder jener Handlung sei und dergleichen. Hier beginnen schon die Gefahren der falsch verstandenen Selbsterkenntnis, und darum müssen wir von den Gefahren sprechen. Wir haben ja immer im Auge, daß der Mensch versuchen soll> hinaufzukommen in die höheren Welten. Wir wissen auch, daß dieses Hinaufsteigen etwas ist, was aus dem Menschen etwas ganz anderes macht, als er heute ist, und deshalb ist es natürlich, daß da manche Hindernisse in den Weg treten. Durch falsche Selbsterkenntis wird der Aufstieg ebenso gefahrvoll, wie er erst möglich wird durch eine richtige Selbsterkenntnis. Diese Art Selbsterkenntnis, die man eher ein Bebrüten seines alltäglichen Ich nennen möchte> ein Achtgeben auf seine Fehler, ist eine falsche und eine Gefahr, die den Menschen tatsächlich eher zurückwirft, weil nämlich der umfassende Maßstab für das Urteil fehlt.

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Wenn der Mensch durch eine gewöhnliche Erwägung seiner Vorzüge und Fehler sagt: Das hast du richtig gemacht, das hast du unrichtig gemacht, da mußt du dich bessern -, setzt das voraus, daß er einen Maßstab habe, nach dem er sich richten kann. Dieser Maßstab wird sozusagen auch zu einem Wertmesser für dasjenige, was der Mensch auch in der Zukunft darstellen wird. Und auf diese Art wird der Mensch eigentlich niemals über sich selbst hinauskommen, und das ist gerade das, was der Anthroposoph sich immer vorzusagen hat: Nicht stehenbleiben, sondern immer und immer, Schritt für Schritt über diesen Punkt hinauskommen. - Ein Ausspruch, der beherzigt werden sollte, ist: Alles, was du in bezug auf Entwickelung der Seele unternimmst und was dich auf dem Lebenspfade vorwärts bringt, ist gut getan; alles, was dich auf dem Punkte erhält, ist im Grunde genommen für deine Seele ein Verlust. - Keine Selbsterkenntnis, die den Menschen dahin treibt, daß er in Reue zerknirscht ist oder ihn zu einer Selbstbefriedigung führt, kann den Menschen vorwärts bringen. Wenn wir nur eine Möglichkeit gewinnen wollen, einzusehen, worauf es ankommt, müssen wir uns die Frage vorlegen: Wovon hängt denn der eigentliche Mensch gewöhnlich ab? - Sie werden sich leicht hineinversetzen in den Gedanken: Wie wäre es denn mit meinen Vorstellungen, meinen Empfindungen und Gefühlen, wenn diese Individualität, die ja von Inkarnation zu Inkarnation gegangen ist und von Inkarnation zu Inkarnation gehen wird, wie wäre es, wenn diese Individualität nicht, sagen wir, vor so und soviel Jahren in Wien geboren wäre, sondern fünfzig Jahre früher etwa in Moskau? Was würde diese Individualität dann für einen Inhalt haben; welche Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Gedanken und Ideen würden dann diese Individualität durchziehen und ihr den eigentümlichen Grundton geben? Ganz andere! Sie kommen am leichtesten dazu, sich das ganz genau vorzustellen, wenn Sie einmal darüber reflektieren, wie vom Morgen bis zum Abend Ihre Vorstellungen und Empfindungen laufen, wieviel bei diesen abhängt davon, wann und wo Sie in die Welt geraten sind. Versuchen Sie, sich einmal genau eine Rechnung zu machen, ziehen Sie vom Inneren der Seele alles ab, was bedingt ist von dem Wann und Wo der Geburt.

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Alle diese Vorstellungen werfen Sie aus dem Seelenleben hinaus. Versuchen Sie einmal darüber nachzudenken, was dann noch bleibt, und versuchen Sie vor allen Dingen noch nachzudenken, wieviele von diesen Vorstellungen, die vom Morgen bis zum Abend durch die Seele ziehen, überhaupt Gültigkeit und Wert haben außer durch Ort und Zeit Ihres Lebens zwischen Geburt und Tod. Da werden Sie sehen, wie bedeutsam es ist für das Ich, wohl darauf zu achten, wie weit es unter den Einflüssen des Wann und Wo steht. Das lernen Sie nicht erkennen dadurch, daß Sie in Ihr Inneres hineinbrüten, sondern das lernen Sie erkennen durch eine gute Berücksichtigung des Dichterspruches: Willst du dich selbst betrachten, lerne dich durch die anderen kennen! - durch die Umgebung. Und so werden wir in eigenartiger Weise vom Bebrüten der Seele ab- und dazu geführt, daß wir sagen: Wir müssen, um unser Ich kennenzulernen, uns ein offenes Auge, einen offenen Sinn schaffen für die Eigenart des Weltinhalts, in den wir nach Wann und Wo hineingeboren sind. Je mehr wir uns bemühen, diesen offenen Sinn zu haben fiIr die Außenwelt, für das, was um uns ist, desto mehr kommen wir im geisteswissenschaftlichen Sinne zu dem, was wir auf diesem nie- ('ersten Gebiete Selbsterkenntnis nennen können.

Lernen wir durch freien Blick sozusagen die ganze Tonfärbung unserer eigenen Zeit kennen; versuchen wir einmal, uns klarzuma''1~chen, wie in der mannigfachsten Weise uns zur Verfügung steht das Eigenartige unseres Zeitalters, unseres Ortes, in dem wir leben. Höchst eigenartig ist diese Selbsterkenntnis, die uns hinweist von unserem Selbst auf unsere Umgebung. Lernen wir diese unsere Außenwelt kennen, versuchen wir in ihren Geist einzudringen, das zu erforschen, was uns herauskristallisiert hat, dann werden wir wie ein Spiegelbild unser Ich erkennen. Das ist ein objektiver Weg. Das Hineinschauen in sich selbst ist eine Gefahr. Man soll die Ursachen erkennen, warum man so und so ist. Die kann man in der Umgebung kennenlernen; dadurch werden wir von uns abgelenkt. Da haben wir also zunächst das, was uns die Fähigkeit gibt, uns zu erkennen, soweit wir ein Ich sind, das sich des physischen Organs bedient, um mit seiner Mitwelt zu leben.

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Nun bedient sich dieses Ich des Organs des Ätherleibes, des Lebensleibes, desjenigen feinen Organismus, der dem anthroposophischen Geisteswissenschafter seiner Beschaffenheit nach ganz geläufig ist, der den physischen Leib durchzieht und der ein fortwährender Kämpfer ist gegen den Zerfall des physischen Leibes. Das Selbst nun, wenn es morgens untertaucht in den physischen und in den Ätherleib, wirkt im heutigen Menschheitszyklus in beiden Leibern, also auch im Ätherleib. Da kommt dabei nicht dasjenige in Betracht, was Ort und Zeit, das Wann und Wo aus uns machen, sondern da kommt mehr in Betracht. Am Ätherleibe hängt noch etwas ganz anderes, was in gewisser Beziehung noch tiefer mit unserem Selbst verknüpft ist, was schon hinausgeht über Geburt und Tod. Da kommen wir dann zu dem, was in einer gewissen Beziehung dieses Selbst mit sich bringt, was von früher herstammt und in die Zukunft hineinreicht, was dieses Selbst schon hat, wenn es in einem physischen Leibe verkörpert wird. Äußerlich angesehen, indem man einfach den Menschen oberflächlich betrachtet, stellt sich besonders am Ätherleibe dasjenige dar, was wir als Talente, Anlagen, besondere Fähigkeiten des Selbst zu bezeichnen haben, und hier sind wir schon in einer gewissen Beziehung auf einem schwierigeren Gebiete der Selbsterkenntnis. Obwohl sie gegen das, was auf den höheren Stufen der höheren Entwickelung Selbsterkenntnis ist, eine verhältnismäßig noch niedere Stufe ist, wird der Mensch auch da nicht weit kommen, wenn er hineinbrütet in sein Inneres und sich klarwerden will: Welches sind deine Talente und Fähigkeiten?

Es würde heute zu weit führen, aus dem Wesen des Menschen heraus die Begründung zu geben zu dem, was ich jetzt sagen werde. Es lauern da der Selbsterkenntnis die schlimmsten Feinde auf, wenn der Mensch beginnt, sich klarwerden zu wollen über seine Talente und Fähigkeiten durch Selbstbebrütung. Gerade da muß er seine Betrachtungen von sich heraus auf die Umgebung, vom Persönlichen auf das Unpersönliche hinüberziehen. Da haben wir die Betrachtung nunmehr zu lenken, wo es auf das Gebiet des Ätherleibes geht, auf unsere Zusammengehörigkeit mit dieser oder jener Rasse. Da haben wir uns zu fragen, zu welchem Gliede der Menschheit gehörst

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du eigentlich? Und wir sollen uns bemühen, die Eigenart dieser Menschheitsgruppe, zu der wir gehören durch Familie, Rasse, Volk, im Vergleich mit den universellen Eigenschaften des ganzen Menschengeschlechts zu erforschen. Lernen wir also kennen dasjenige, was sich in der Vererbungslinie hindurchzieht, was vom Urgroßvater auf den Großvater und so weiter sich fortentwickelt, und was das Selbst innerhalb dieser Vererbungslinie eigentümlich färbt, was also nicht zusammenhängt direkt mit Wann und Wo, sondern zusammenhängt mit tieferen Grundgesetzen des Menschendaseins, lernen wir diese Eigentümlichkeiten kennen, dann werden wir wiederum den richtigen Hintergrund finden, um dann erst zu sehen, wie sich unser eigenes Selbst von diesem Hintergrunde abhebt. Aber jedes Selbstbebrüten des Selbst vor Betrachtung dieses Hintergrundes ist vom Übel. So also verlangt zwar die Anthroposophie von uns eine unbequemere Art der Selbsterkenntnis als diejenige ist, die oft phrasenhaft gemeint ist, aber auf eine andere Weise kommt man eben nicht zu einer wirklichen Selbsterkenntnis, weil der Maßstab fehlt, weil man nur in einen eigenen Punkt hineinbrütet und keinen Vergleichungsmaßstab hat.

Nun möchte ich gleich die okkulten Tatsachen anknüpfen. Wir wissen alle> daß dieser Menschenleib umgeben ist von einer Aura, eingebettet ist in diese astrale Aura, die wie eine ovale Wolke dem hellseherischen Bewußtsein sichtbar ist. Dadurch, daß der Mensch in eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort hineingeboren ist, wird das Maß seiner Aura in einer gewissen Weise bestimmt. Ein Mensch, welcher einen sehr geringen Gesichtskreis hat, der also eigentlich in seinem Selbst nur das erleben kann und beurteilen will und nur von den Willensimpulsen leiten lassen will, was ungesehen aus der Umgebung ihn anspornt, der also das Produkt des Wann und Wo ist, der zeigt dem hellseherischen Bewußtsein in seiner Aura etwas Zusammengepreßtes, Gedrücktes. Die Aura ist in diesem Falle nicht groß und reicht nicht weit hinaus über den physischen Leib. Im Augenblick, wo der Mensch seinen Gesichtskreis erweitert, in dem Augenblick, wo er also einen offenen Sinn, ein offenes Auge für die Beobachtung seiner Umgebung entwickelt, sehen wir

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tatsächlich, wie sich die Aura nach allen Seiten hin vergrößert, wie sie umfassender wird mit Bezug auf die Grenzen des physischen Leibes. Der Mensch wird also innerlich geistig größer dadurch daß er seinen Horizont in Bezug auf seine Begriffswelt und Gefühlswelt erweitert. Für das hellseherische Bewußtsein zeigt sich das in geradezu auffallender Weise, wie bei Menschen, die ein Echo ihrer Umgebung sind, die Aura klein ist. Wenn aber die Menschen anfangen, ihr Urteil zu einem feineren, unabhängigen zu machen, so daß sie dazu kommen, sich einmal zu unterscheiden von dem Landläufigen, dann sieht das hellseherische Bewußtsein, wie sich die Aura erweitert, wie sie groß wird, wie der Mensch in sich feiner und umfassender wird.

So grotesk es für viele klingen mag - Erkenntnis der Umgebung ist der erste Schritt der Selbsterkenntnis. Erkenntnis der Familie, Rasse ist der zweite Schritt. Bei dem Menschen, der In seinen Gefühls- und Willensimpulsen versucht, frei zu werden von dem, in das er hineingestellt ist, in Volk, Rasse, Familie und so weiter, bei ihm sieht das hellseherische Bewußtsein nicht nur, wie die Aura weiter wird, sondern auch wie sie in sich beweglicher wird, Vibrationen erhält, während sie früher tot war, unbeweglich. Nun, damit ist ja schon gesagt, daß - allerdings nicht unmittelbar, aber in einer gewissen Weise - dasjenige, was wir besondere Färbungen und Fähigkeiten nennen, mit dieser Vererbungslinie zusammenhängt.

Wie können wir uns nun erheben über dasjenige, was so die Bestimmungsgründe, die Ursachen des inneren Gefüges des Selbst sind? Es ist noch nicht viel erreicht für den Menschen, wenn er sich auf diese Weise erkennt. In bezug auf seine Talente und Fähigkeiten wird in der Regel nicht viel getan sein, wenn sich der Mensch nur eine Vorstellung über Abstammung und Vererbungslinie bildet da wird er nicht zu einem Herausgehen kommen. Hier kann nur die geisteswissenschaftliche Erfahrung sprechen. Es handelt sich darum, daß aus der geisteswissenschaftlichen Erfahrung gegeben werde das, was den Menschen unabängig macht von Talenten und Fähigkeiten. Dieses Heilmittel sieht dem, was es erreichen soll, gar nicht ähnlich, doch ist es das Heilmittel: Wenn der Mensch versucht, ein warmes, inniges Gefühl sich anzueignen für das, was ihn zunächst wenig

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interessiert, für das, was ihm Mühe macht, sich dafür zu interessIeren, und namentlich, wenn er sein Interesse vielseitig macht, dann wird er seine Individualität aus den ererbten Fähigkeiten heraus- arbeiten.

Der erste Schritt, die Erkenntnis der Umgebung, wird verhältnismäßig bald vollzogen sein; der zweIte - dieses Sich-Erziehen - bildet nur langsam die Talente um. Ja, es muß sogar darauf aufmerksam gemacht werden, daß zuweilen für diese Inkarnation verzichtet werden muß darauf, daß ein Umschaffen der Talente vollzogen werde, aber der Weg wird eingeleitet, und es ist außerordentlich wichtig, daß wir das wirklich versuchen. Dann wird sich dem hellseherischen Bewußtsein sehr bald zeigen, wie die Aura In sich beweglich wird, wie sie vibrierend wird. Wir werden wenigstens in den ersten Anfiingen eine Umwandlung unserer eigenen Natur sehen. In dieser nach und nach erfolgenden Selbsterziehung ergibt sich dann ganz von selbst dasjenige, was wir eine unpersönliche Selbsterkenntnis nennen können.

Nun kommen wir zum dritten wichtigen Gebiete. Wir kommen nun dazu, dasjenige an unserem Selbst zu betrachten, was dieses Selbst auslebt dadurch, daß es in einem Astralleibe steckt, in dem Träger von Lust und Schmerz, von Leidenschaften und so weiter. Dieser Astralleib ist im traumlosen Schlaf aus dem physischen und Ätherleibe herausgehoben. Der gewöhnliche Mensch hat den Astralleib niemals bewußt abgetrennt vom physischen und Ätherleibe. Das hellseherische Bewußtsein kann es, aber das normale Bewußtsein kann es nicht. Welches Gesetzmäßige in der Menschennatur wird nun gerade sein Charakteristisches in dem astralen Leibe ausleben? Da lebt dasjenige im Selbst sich aus, was wIr nennen das Karma, dasjenige, was Eigenart des Selbst oder der Individualität ist, was nicht nur In der Vererbungslinie sich fortentwickelt, sondern was von Inkarnation zu Inkarnation geht, was also zusammenhängt mit eigenen Taten, mit den eigenen Erlebnissen der Seele durch Inkarnationen hindurch. Was der Mensch erlebt durch seine Körper, das also, was als ein Gesetz von Ursache und Wirkung rein geistiger Art sich auslebt, das kommt bei der dritten Stufe der Selbsterkenntnis in Betracht.

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Es fragt sich nun: Kann der Mensch etwas tun, um auf diesem Gebiete zu einer Selbsterkenntnis zu kommen? Ich konnte bei einer Fragenbeantwortung darauf hindeuten, wie schwierig es im jetzigen Menschheitszyklus ist, auch nur zu begreifen, wie die Wirkung des Karma ist. Ich habe gesagt, es sei beispielsweise in dem Karma eines Menschen vorgezeichnet, daß er in einer Zeit, etwa in vierzehn Tagen, eine Reise machen muß. Nun nimmt er sich aber vor, daß er in drei Wochen etwas tun müsse, weil er das Karma nicht schaut, weil er nichts davon weiß. Dazu nun richtet er alles, bis er die Nachricht erhält, daß er die Reise jetzt unternehmen muß. Nun kommen die zwei Richtungslinien miteinander in Kollision. Das, was er getan hat, kommt in Widerspruch mit seiner Karmalinie. Sie sehen daraus, daß sich dem Karma immer Neues angliedert. Dadurch verstärken und verketten sich die Karmalinien. Damit nun soll gesagt sein, daß der Mensch in seiner normalen Entwickelung den Weg des Selbst, des Ich, schwer ermessen kann, insofern diese Karmaverkettung in Betracht kommt; denn wenn er nicht ein hellseherisches Bewußtsein von einer hohen Entwickelung hat, kann er nicht wissen, was In seinem Karma liegt.

Nun handelt es sich darum: Kann im normalen Leben Selbster kenntnis bis zu diesem Punkte errungen werden? Da muß ich Ihnen nun gleich jenes Mittel angeben, welches die geisteswissenschaftliche Erfahrung uns gibt, welches dem Menschen sozusagen möglich macht, dasjenige nicht zu übersehen, was karmisch richtig ist, und in einem gewissen Momente das Richtige zu vollziehen. Es ist eine ganz falsche Auffassung, der man zeitweilig begegnet, nämlich, daß der Mensch durch das Karma unfrei sei. Karma macht nicht unfrei.Eben vermöge seiner Freiheit kann der Mensch alle Augenblicke etwas tun, was Karma erzeugt. Das Karma schließt also nicht aus, daß die karmische Linie verwoben, hin und her verknüpft werden kann. Kann nun der Mensch etwas tun, um sich in eine gewisse Beziehung zu seinem Karma zu stellen, in einer Weise, daß er diesem Karma nIcht gar zu sehr entgegenwirkt und dadurch neue Ursachen legt, die ihn statt vorwärts nur zurück bringen? Da gibt es eines, was so wirkt, daß der Mensch immer mehr und mehr in die Richtung

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hineinkommt, die seine Karmalinie einhalten will, und zwar gibt es da etwas, was in den Kreisen, die die anthroposophische Weltanschauung pflegen, ja immer geübt und besprochen wird. Es ist gerade dasjenige, was sich als Gesinnung in der Seele ergibt unter dem Einfluß einer Weltanschauung wie die anthroposophische. Das ist dasjenige, was den Menschen in das Karma immer mehr hinein- bringt. Wir müssen uns in der anthroposophischen Weise richtig einstellen; die Bequemlinge, die nur davon sprechen, daß der Mensch sich in sich vertiefen soll, den Gott in sich suchen soll, werden den Menschen wenig weiter führen auf seiner Bahn, sondern dasjenige gerade bringt ihn weiter> was ihn von seiner Person weg- führt, was ihm eine Weltanschauung gibt, die ihm übersinnliche Weltanschauung möglich macht. Alles, was uns In der Anthroposophie geboten wird, läßt uns hineinschauen in die übersinnlichen Geschehnisse. Zunächst kann der Mensch wohl nicht selbst Hellseher sein; er muß hinnehmen, was ihm von hellseherischen Forschern gesagt wird. Es ist auch nicht geradezu notwendig, daß er Hellseher sein muß, geradesowenig wie einer gleich das Teleskop oder Mikroskop zur Hand nehmen muß. Dasjenige, was der Forscher auf diesem Gebiete mitteilt, ist durchaus durch eine vorurteilslose Logik zu erfassen. Der Mensch muß sich sozusagen selbst zu einem Instrumente machen, um selbst auf übersinnlichem Gebiete forschen zu können; eingesehen kann aber alles werden, ohne daß man selbst ein Instrument werden muß.

Wenn so der Anthroposoph sich ein Bild macht, wie es in den höheren Welten aussieht, wie es zugeht hinter den sinnlichen Tatsachen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung für sein ganzes Gemüts und Empfindungsleben. Das müssen wir uns einmal recht in die Seele sprechen daß wir uns nicht hingeben der bequemen Ausrede: es komme nicht darauf an, daß man viel lerne, sondern daß man diese oder jene moralischen Prinzipien habe. - Es ist einmal so, daß in der anthroposophischen Geisteswissenschaft das Lernen nicht erspart werden kann und daß derjenige auf dem Holzwege ist, der sagt: Was kümmert mich jene Theorie von höheren Welten und so weiter? - Gewiß kommt es auf die anthroposophische Gesinnung an; das ist

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eine selbstverständliche Bedingung; aber so wie ein Ofen das Zimmer warm macht, wenn er geheizt wird, weil Brennmaterial hineingelegt und entzündet worden ist, so auch ist es mit dem Menschen. Aber wenn Sie dem Ofen nur predigen, nur sagen: Lieber Ofen, deine Pflicht ist, das Zimmer warm zu machen -,50 wird er das Zimmer nicht wärmen. Predigen Sie den Menschen immer nur, es sei ihre Pflicht zu lieben und so weiter, so wird wenig daraus werden. Es nützt wenig, daß wir uns als Moralprediger hinstellen, denn alles Moralpredigen läßt die Menschheit so, wie sie Ist. Wenn Sie den Ofen heizen, macht er das Zimmer warm. Geben Sie ihm die Feuerung, dann wird sie die Veranlassung zur Wärme des Zimmers werden. Geben Sie dem Menschen die Weltanschauung, die ihm die Anthroposophie geben kann über die übersinnlichen Tatsachen, dann folgt dasjenige, was im ersten Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft enthalten ist - die allgemeine Verbrüderung -, ganz notwendig. Anthroposophische Gesinnung muß sein, aber das immer zu wiederholen, hilft nichts. Sie tritt sicher auf in der Gestalt als welche sie wirksam ist für die Welt, wenn sich die Erkenntnis der höheren Welt, die übersinnliche Welterkenntnis erschließt. Wie die Pflanzen sich der einen Sonne erschließen, ebenso streben alle, die nach dieser Welterkenntnis streben, der einen Zentralsonne zu, und alle die anderen Folgen ergeben sich von selbst. So ist anthroposophische Gesinnung, wie sie sich aus der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis ergibt.

Das ist dasjenige, was dem Menschen möglich macht, im Sinne seines Karma dann von selbst zu leben. Es handelt sich also nunmehr darum, daß der Mensch dazu kommt, die anthroposophische Lehre in die Tatsachen umzusetzen. Es ist notwendig, soll Karma nicht eine abstrakte Idee bleiben, soll sie wirksam werden, daß man daran geht, diese Karmaidee probeweise in das Leben einzuführen, probeweise wenigstens, weil man schon der Man- nIgfaltigkeit und der Unruhe unseres alltäglichen Lebens wegen nicht ständig in Selbstbeobachtung bleiben kann. Es ist notwendig, daß man sich die Frage vorlegt, was heißt das: karmisch denken?

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Nehmen wir eInen radikalen Fall als Beispiel an: Jemand hat einem anderen - mir zum Beispiel - eine Ohrfeige versetzt. Was heißt in einem solchen Falle «karmisch denken»? Ich war in einem früheren Leben da, der andere auch. Ich habe vielleicht damals, in dem früheren Leben, ihm zu seiner jetzigen Handlungsweise die Ursache gegeben, ihn dazu gedrängt, ihn erst gleichsam abgerichtet dazu. Ich will nicht theoretisieren, ich will eine Hypothese aufstellen, die eine Lebenshypothese werden soll. Gibt er mir nun den Schlag, wenn ich so denke? Nein, er gibt ihn mir gar nicht. Ich selbst gebe ihn mir, denn ich habe ihn selbst dahin gestellt auf den Platz, ich habe die Hand> die er gegen mich aufhob, selbst erhoben.

Nunmehr kann das Weitere nur die Erfahrung geben, und die gibt folgendes: Wenn der Mensch versucht, ernsthaft so die Karmaidee ins Auge zu fassen, ab und zu solch eine Frage zu stellen, in vollem Ernste und in voller Würde, wird er tatsächlich sehen, daß er einen Erfolg davon hat. Das kann Ihnen kein Mensch beweIsen. Sie müssen es sich selbst beweisen, indem Sie es tun. Da werden Sie sehen, daß tatsächlich Ihr inneres Leben ein ganz anderes wird, Sie bekommen ganz andere Gefühle, Willensimpulse über das Leben, und ein ganz anderes inneres Leben zeigt seine Konsequenzen; es wird sich zeigen an einer ganz anderen Stelle. Wo Sie großen Schmerz, Enttäuschungen erfahren hätten, nehmen Sie den Schmerz ruhig hin; Sie sind äquilibriert deswegen, weil Sie das so getan und gedacht haben. Es tritt die Folge ein, daß über das ganze Seelenleben eine merkwürdige Ruhe kommt, eine Art gesetzmäßigen Erfassens der Geschehnisse, keineswegs eines fatalistischen.

Das ist auch der Weg, den man einschlagen muß, wenn man nach und nach die Karmaidee, das Wahrhalten dieser Idee zur Gewißheit ausbilden will. Gegen die Karmaidee läßt sich streiten. Wer Gründe vorbringen will, der kann es. Man kann auch theoretisch so etwas nicht beweisen, sondern nur durch die Probe, und da gibt Ihnen die Erfahrung dasjenige, was dabei herauskommt. Die Erfahrung gibt, wenn sie intensiv wird, die Mittel, Karma zunächst zu begreifen. Dann merkt man aus der Gruppierung der Dinge, daß es wirklich

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etwas ist, was in den Dingen liegt, so wie man merkt, ob man ein Phantasiebild hat, oder ob man die Wirklichkeit des Bügelstahls hat, wenn man ihn angreift. So muß die Erfahrung selbst jene Zusammenfassung der Tatsachen des Lebens geben, wodurch wir nach und nach unsere Willkür, unsere Inneren Willensimpulse eingliedern in unser Karma. Diese Arbeit unseres Lebens, die kompliziert ist, ist etwas, was zu den besten Mitteln zur Erreichung einer dritten Stufe der wahren Selbsterkenntnis gehört. Dadurch lernen Sie nach und nach fühlen, was der Niederschlag im gegenwärtigen aus dem früheren Leben ist.

Diese Erkenntnis ist nicht so billig wie ein Hineinbrüten, weil sie doch wieder erst von der Umgebung zu sich kommen muß. Es handelt sich vor allem darum, aus sich herauszugehen, selbst bei der höchsten Selbsterkenntnis, die Welterkenntnis ist. Fichte hat gesagt Die meisten Menschen würden sich lieber für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich halten. - Da lernt man das Ich mehr in seinem punktuellen Dasein, mehr als einen Punkt kennen. Dieses Ich erkennt man als ein punktuelles Abbild der ganzen Welt. In diesem Sinne ist Selbsterkenntnis, wenn man will, Gotteserkenntnis, nicht im pantheistischen Sinne, sondern wie eIn Tropfen von gleicher Substanz und Wesenheit ist mit dem ganzen Meere. Und wie er infolge der Wesensgleichheit das Wesen und die Art des ganzen Meeres erkennen läßt, so ist der Mensch von dem gleichen Wesen mit der Gottheit, die er erkennen kann; aber keinem würde es einfallen, den Tropfen für das Meer zu erklären. Wir können Substanz und Wesenheit des Göttlichen wie die des Meeres aus dem Tropfen erkennen, aber kein Mensch wird sich vermessen zu sagen, mir genügt die Erkenntnis des Tropfens; und sicher wird jeder sagen, mir ist es zu tun um die Erkenntnis des Meeres, und das geschieht, wenn Sie dar- auf herumfahren. Sie lernen also insbesondere das Göttliche erkennen, wenn Sie den Tropfen des Göttlichen in sich, in Ihrem Inneren erfassen, aber Sie lernen dasjenige, wovon das in Ihrem Inneren wieder nur ein Tropfen oder Funke ist, nicht anders kennen, als indem Sie sich selbstlos in die großen übersinnlichen Welten in höchster Art vertiefen. Wollen wir uns selbst erkennen, müssen wir ganz

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aus uns herausgehen und müssen die übersinnlichen Welten in der allertiefsten Art erforschen.

Für die dritte Stufe möge das von Reinkarnation und Karma Gesagte genügen. Für die höchste Selbsterkenntnis müssen wir erringen die Erkenntnis des großen kosmischen Zusammenhanges unserer Erde; denn wir sind ein Teil unserer Erde, wie ein Finger ein Teil des ganzen Organismus ist. Der Finger gibt sich nicht der Illusion hin, daß er eine selbständige Wesenheit ist; schneiden Sie ihn ab, und er ist kein Finger mehr. Könnte er auf ihrem Organismus her- umgehen, dann könnte er sich wie der Mensch der Illusion hingeben, daß er ein selbständiger Organismus sei. Der Mensch bedenkt nicht, daß, wenn Sie ihn einige Meilen über die Erde hinaufheben, er kein Mensch mehr ist. Der Mensch ist ein Glied im Erdorganismus, die Erde wieder ein Glied im Kosmos. Dies können wir nur erschauen, wenn wir den Grund des kosmischen Zusammenhanges erfassen. Alles Nachdenken über das Selbst ohne umfassende WeIterkenntnis, ohne zu begreifen, wie das Ich alle vorhandengewesenen Ereignisse brauchte, ist umsonst; ohne das zu überblicken, können wir nicht zu einer Erkenntnis gelangen, auch nicht des Ich-Selbst. Wir kommen zu eIner Erkenntnis des Tag-Ich, wenn wir die Umgebung nach Wann und Wo untersuchen. Die Erkenntnis, wie sich das Ich im Ätherleibe auslebt, finden wir, wenn wir die Vererbungslinie betrachten. Die Erkenntnis, wie das Ich sich im Astralleibe auslebt, finden wir, wenn wir das Karma leben und die letzte Erkenntnis, wenn wir uns Welterkenntnis verschaffen; denn da ist ausgebreitet, was zusammengedrängt im punktuellen Ich des Menschen ist. Welterkenntnis ist Selbsterkenntnis.

Wenn Sie sich dasjenige genau vor die Seele führen, was in den Aufsätzen «Aus der Akasha-Chronik» über die Entwickelung der Erde geschildert wird, was scheinbar ganz fremd für die Seele ist, wie es zuletzt mit Notwendigkeit zur heutigen Konfiguration hinführt, dann haben Sie Selbsterkenntnis durch Welterkenntnis! So führt uns die Selbsterkenntnis immer weiter und weiter aus uns heraus, immer zum Unpersönlichen. Wie durch Anwendung des Karma im Leben die Aura heller und lichter wird, so wird durch die eigentliche

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Erkenntnis der kosmischen Zusammenhänge die Aura kraftvoller und fähig, aus sich heraus ursprünglich freie Impulse zu schaffen. Hier kommen Sie zur Lösung der Frage nach Freiheit und Unfreiheit. Denn Freiheit ist ein Entwickelungsprodukt, und man gelangt zu ihr immer mehr, je mehr man zur Selbsterkenntnis gelangt. Dann kommt man durch eine solche Übung der Selbsterkenntnis im geschilderten Sinne dazu, mancherlei auf dem geisteswissenschaftlichen Felde im richtigen Sinne zu erfassen, sich in die anthroposophische Geistesströmung hineinzufühlen. Mancherlei spukt als Kinderkrankheit in der anthroposophischen Bewegung, das wegfallen muß, namentlich wenn einmal solche Dinge begriffen worden sInd, wie sie als Anweisung zur Selbsterkenntnis gegeben wurden. Es wird die unpersönliche Art der anthroposophischen Erkenntnis immer besser erkannt werden. Sie ist ja errungen dadurch, daß sie von denjenigen Forschern gewonnen worden ist, welche nicht allein ihre Seele umgestaltet haben als Instrument der Selbsterkenntnis, sondern auch sie entwickelt haben - wie eben heute erzählt worden ist -, die also dazu gekommen sind, unpersönlich zu erzählen, was die höheren Welten darbieten. Ein erster Grundsatz, der gewonnen werden soll, ist der alte, schöne Grundsatz des griechischen Weisen: Wer zur Wahrheit kommen will, darf der eigenen Meinung nicht achten. - Daher werden Sie die Erfahrung machen, daß derjenige, der wirklich auf geisteswissenschaftlichen Wegen erfahren ist, sagt: Ja, mit Meinungen kann ich nicht dienen; ich kann Beschreibungen geben von Erfahrungen, nicht Regulationsprinzipien, keine Postulate des Handelns, und solche Beschreibungen sollen als Lehren ein- fließen in die Theorie der Geisteswissenschaft. - Meinungen und Standpunkte muß sich der Geisteswissenschafter abgewöhnen. Er hat keinen Standpunkt, weil alle Anschauungen sind wie Bilder, die von verschiedenen Standpunkten aus entstehen, und die so verschieden sind wie die Menschen, welche die Welt von den verschiedensten Seiten anschauen. Von einer Seite ist das Bild von materialistischer Anschauung, dann von anderen Seiten von einer spirituellen, einer mechanistischen, vitalistischen Anschauung. Das alles sind Anschauungen. Sie nicht nur theoretisch zu erkennen, sondern so zu

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leben mit einer Weltanschauung, daß sich alle Anschauungen wie Bilder von verschiedenen Seiten ausnehmen, das ist die innere Toleranz, um die es sich handelt. Es soll nicht Meinung und Meinung sich bekämpfen. Dann ergibt sich die innere und aus dieser die äußere Toleranz, die wir brauchen, wenn die Menschheit ihrem Heile in der Zukunft entgegengehen will.

Auch muß besonderer Wert auf die Einsicht gelegt werden, daß dasjenige, was an Ideen durch die anthroposophische Weltströmung fließt, ein Produkt des Unpersönlichen ist. Dadurch wird man da- hin kommen, eines auszuschalten aus der anthroposophischen Bewegung in dem Sinne, wie es in den früheren Zeiten und auch noch heute da ist: Autorität im schlimmen Sinne. Nennen wir das Mikroskop eine Autorität? Es ist eine Notwendigkeit, ein DurchgangsPunkt. So müssen auch die Menschen ein Durchgangspunkt wer- den, aber wir müssen uns erheben zum Unpersönlichen, weil nur durch Menschen in die Welt kommen kann, was kommen soll. Autoritätenglaube ist aus dem anthroposophischen Lexikon zu streichen, und darum gerade gelangen Menschen, die sich in diese Erkenntnis einleben, zu einer Unbefangenheit, so daß sie durch da`s Persönliche in das Unpersönliche des Weltenganges hineinkommen.

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DAS LEBEN ZWISCHEN ZWEI WIEDERVERKÖRPERUNGEN Breslau, 2. Dezember 1908

Wir haben gestern vor einem etwas größeren Kreise einiges besprechen können über die Wege die in die höheren Welten hineinführen. Heute mag es gestattet sein, einiges über die höheren Welten selbst zu sagen, und zwar wollen wir gleich eines der wichtigsten Kapitel aus dem Gebiet der übersinnlichen Welten herausgreifen und wollen einen Blick werfen auf die Vorgänge, die sich mit dem Menschen abspielen zwischen dem Tode und einer neuen Wiedergeburt. Es ist dies eines der wichtigsten Kapitel aus dem Gebiete des höheren Lebens deswegen, weil es die grundlegendsten Tatsachen und Vorgänge der menschlichen Entwickelung betrifft, und da das physische Dasein des Menschen zusammenhängt und verwoben ist mit bedeutsamen Vorgängen in jenen Welten, muß man in diese Geheimnisse eindringen, wenn man das menschliche Wesen überhaupt begreifen will.

Ich möchte sogleich damit beginnen, das Leben des Menschen zwischen Tod und einer neuen Geburt zu schildern, doch müssen wir, um begreifen zu können, was da in dieser Zwischenzeit geschieht, zunächst das Wesen des Menschen ins Auge fassen. Für diejenigen, die sich schon länger mit anthroposophischen Dingen und Studien befaßt haben, dürfte ja dasjenige, was in der Einleitung erläutert werden wird, nichts Neues sein. Aber wir müssen doch diese Dinge von vornherein ganz genau ins Auge fassen, um uns für ein vollständiges Verstehen der darauffolgenden Beschreibungen vorzubereiten.

Für die anthroposophische Geisteswissenschaft ist das Wesen des Menschen nicht bloß jenes Wesen materieller Art, wie es den äußeren Sinnen erscheint, das wir mit den Händen tasten können und das durch die physische Gesetzmäßigkeit an die physische Welt gebunden ist. Geisteswissenschaft zeigt, daß dieser-physische Körper des Menschen nur ein Teil von seiner ganzen Wesenheit ist, und

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zwar hat der Mensch diesen physischen Leib gemeinsam mit der mineralischen Welt. Wir können uns draußen umsehen in der Natur - alles, was scheinbar toter, mineralischer Natur ist, besteht aus denselben Stoffen, aus denen der menschliche Leib aufgebaut ist. Im Stein und im menschlichen Leibe zeigen sich dieselben physischen Vorgänge, aber es ist ein großer Unterschied zwischen den Vorgängen der gewöhnlichen, leblosen physischen Körper und dem Wesen des Menschen. Ein äußerlicher physischer Körper, wie ein Stein, hat eine Form, und er behält seine Form so lange, bis ein äußerer Vorgang, wie ein Zerschlagen oder sonst eine Gewalt, die Form zerstört. Der menschliche physische Leib dagegen oder der eines andercn lebenden Wesens wird im Tode zerstört durch die eigene Gesetzmäßigkeit der physisch-chemischen Stoffe, und der menschliche Leib ist in diesem Falle ein Leichnam.

Die Geisteswissenschaft zeigt uns nun, daß in dem Zustand zwien Geburt und Tod, also während unserer physischen Lebensit, noch ein zweites Glied der menschlichen Wesenheit vorhanden ist als ein fortwährender Kämpfer gegen diesen Zerfall des physischen Leibes. Wir nennen ihn den ätherischen Leib oder Lebensleib. In uns allen ist er. Würde dieses zweite Glied nicht im Menschen sein, so würde der Leib in jedem Augenblicke nur den physischen Kräften folgen; er würde zerfallen. Der Kämpfer gegen diesen Zerfall ist der ätherische Leib oder Lebensleib. Nur im Falle des Todes trennt sich dieser Lebensleib von dem physischen Körper. Diesen Lebensleib hat der Mensch gemeinsam mit jedem anderen Lebe- wesen; das Tier hat ihn, und auch die Pflanze hat einen solchen fort- währenden Kämpfer. Auch in ihnen muß gegen den Zerfall ein solcher fortwährender Kämpfer sein.

Wenn der physische Leib als ein erstes, der Lebensleib als ein zweites Glied der Lebewesen bezeichnet worden ist, so hat der Mensch aber über dieses zweite Glied hinaus noch ein drittes Glied. Schon mit dem Verstande allein, mit der Logik sind wir imstande, das einzusehen. Wir wollen annehmen, ein Mensch stünde vor uns. Ist in diesem Raume, den er einnimmt, ist in dieser Hand, die er gebraucht, ist da nichts weiter vorhanden, als das bisher Erwähnte?

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Oh, es ist noch etwas mehr darinnen als Knochen und Muskeln, als allerhand chemische Bestandteile, die wir mit unseren Augen sehen, mit unseren Händen tasten können. Und ein jeder von uns weiß es auch ganz genau, daß etwas mehr darinnen ist. Dieses Mehr, das ist die Summe seines Leides und seiner Lust; dieses Etwas kennt ein jeder, denn es ist alles, was an Empfindungen und an Gefühlen, von morgens bis abends, das ganze Leben hindurch abläuft. Es gibt einen unsichtbaren Träger dieser Empfindungen, und wir bezeichnen ihn als den astralischen Leib oder Empfindungsleib des Menschen. Dieser für das physische Auge des Menschen nicht wahrnehmbare astralische Leib ist bedeutend größer als der physische Leib. Für das hellseherische Bewußtsein ist er erkennbar als eine lichtausstrahlende Wolke, in welcher der physische Körper eingebettet ist. Dieses dritte Glied seiner Wesenheit hat der Mensch gemeinschaftlich mit dem Tiere, denn auch dieses besitzt einen astralischen Leib.

Dann aber gibt es noch ein viertes Glied in der menschlichen Wesenheit, die Krone des Erdenreichs, die Krone der menschlichen Natur. Dieses vierte Glied können wir ins Auge fassen, wenn wir ei- ner intimen Bewegung der menschlichen Seele nachspüren. Eines gibt es im Menschen, das niemals von außen an ihn herantreten kann. Es ist dieses ein Name, der einfache Name «Ich». Nur aus den tiefsten Tiefen der Seele kann dieser Name, diese Bezeichnung «Ich» herausklingen. Niemals kann ein anderer Mensch zu einem Mitmenschen «Ich» sagen. Nur zu sich selber kann der Mensch das sprechen; nur aus ihm heraus, aus seinem eigenen tiefsten Inneren her- aus kann es kommen, und hier beginnt etwas ganz anderes, etwas Göttliches durch den Namen «Ich» herauszutönen. Das empfanden auch alle großen Religionen, daß in dem Ich etwas Heiliges liegt. Auch im Alten Testament ist dies deutlich erkennbar. Da ist der Name «Ich» gleichbedeutend mit dem Namen Gottes. Nur der Priester durfte bei besonders feierlichen Gelegenheiten, bei besonders feierlichen Gottesdiensten den Gottesnamen aussprechen, und wenn er im Tempel den Namen «Jahve» ehrfurchtsvoll ertönen ließ, so bedeutete der Name «Jahve» nichts anderes als «Ich» oder «Ich bin». Daß der Gott selber im Menschen sich ausspricht, sollte es bedeuten.

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Und nur dasjenige Wesen kann dieses Wort in der Seele zu seiner Seele aussprechen, in dessen Natur das Gotteswesen sich offenbart. Die Offenbarung Gottes im Menschen ist ein viertes Glied der menschlichen Wesenheit. Aber nicht denken sollten wir nun, daß wir nun Gott selber wären. Ein Funken ist es aus dem Meere der Gottheit, der im Menschen aufblitzt. Wie ein Tropfen aus dem Meere nicht das Meer selber ist, sondern nur ein Tropfen daraus, so ist das Ich des Menschen kein Gott, sondern ein Tropfen aus der göttlichen Substanz: der Gott beginnt zu sprechen in der menschlichen Seele.

Nur der Priester durfte Jahve, den heiligen Namen, bei besonders feierlichen Anlässen aussprechen. Dieses Gotteswesen in der Seele des Menschen zum Tönen zu bringen dadurch, daß der Mensch sagen kann: «Ich bin», das ist die Krone der Schöpfung. Dieser Ich- Träger, das vierte Glied in der menschlichen Natur, macht den Menschen zum ersten unter den Wesen, die sichtbar sind in der irdischen Schöpfung. Daher sprach man überall in den alten Mysterien von der heiligen Vierheit, deren erstes Glied der sichtbare physische Leib ist, deren zweites Glied der ätherische Leib oder Lebensleib, deren drittes Glied der astralische Leib oder Empfindungsleib und deren viertes Glied das Ich ist. Das sind die vier Glieder, die wir zunächst betrachten wollen. Und von der Art und Weise, wie sie miteinander verbunden sind, hängt das menschliche Leben, das menschliche Bewußtsein ab.

Nur im Tagesbewußtsein, im Wachen, durchdringen sich die vier Glieder der menschlichen Natur. Da haben wir den physischen Leib durchdrungen von dem Ätherleib, nur feiner und etwas größer, über den physischen Leib hinausragend. Dann haben wir den Astra1leib, den Träger unserer Empfindungen, den Ätherleib durch- dringend und wie ein großes glänzendes Oval den mit dem Ätherleib verbundenen physischen Leib umragend. Und dann haben wir den Ich-Leib. Die vier Glieder der menschlichen Natur durchdringen sich aber nur beim Wachen. Wenn der Mensch schläft, tritt der Astralleib mit dem Ich-Träger heraus, während der physische Leib mit dem Ätherleib verbunden im Bette liegen bleibt. Am Morgen,

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oder wenn der Mensch erwacht, steigen die ersteren beiden der vier Glieder wieder herab und verbinden sich wieder mit den anderen beiden.

Was tut nun beim gewöhnlichen Menschen der astralische Leib in der Nacht? Er ist nicht untätig. Wie eine spiralige Wolke erscheint er dem Auge des Hellsehers, und es gehen Strömungen von ihm aus, die ihn mit dem daliegenden physischen Leibe verbinden. Wenn wir des Abends ermüdet einschlafen, was ist da die Ursache dieser Ermüdung? Daß der astralische Leib den physischen Leib während des Wachens am Tage gebraucht und dadurch abnützt, das erscheint als Ermüdung. Die ganze Nacht aber, während des Schlafens, arbeitet der astralische Leib an der Fortschaffung der Ermüdung. Daher rührt die Erquickung durch den guten Schlaf, und daraus ist zu ermessen, wie wichtig ein wirklich gesunder Schlaf für den Menschen ist. Er stellt in der richtigen Weise wieder her, was durch das Wach- leben abgenutzt wurde. Auch noch andere Schäden bessert der astralische Leib während des Schlafes aus, so zum Beispiel Krankheiten des physischen und auch des Ätherleibes. Sie werden es nicht nur aus eigener Lebenserfahrung an sich selbst und an anderen Menschen beobachtet haben, Sie werden auch erfahren haben, daß jeder vernünftige Arzt sagt, in gewissen Fällen sei der Schlaf ein unentbehrliches Heilmittel zur Wiedergesundung. Das ist die Bedeutung des Wechselzustandes zwischen Schlafen und Wachen.

Jetzt wollen wir dazu übergehen, einen noch wichtigeren Wechselzustand zu betrachten, denjenigen zwischen Leben und Tod. Wenn vorhin gezeigt wurde, daß, sobald der Schlaf eintritt, der astralische Körper mit dem Ich-Träger den mit dem ätherischen Leibe verbundenen physischen Leib verläßt, so tritt im gewöhnlichen Leben fast niemals, höchstens in gewissen Ausnahmefällen, welche später noch erwähnt werden sollen, eine Trennung des Ätherleibes von dem physischen Leibe ein. Erst im Tode findet normalerweise zum ersten Male eine Trennung des physischen Leibes von dem Ätherleibe statt. Jetzt also, im Tode, geht nicht bloß wie im Schlafe der astralische Leib mit dem Ich aus dem viergliedrigen Menschenwesen heraus, sondern da verlassen die drei Glieder, Ätherleib, Astralleib und

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Ich, den physichen Körper, und wir haben auf der einen Seite den physischen Körper, der als Leichnam zurückbleibt, sofort von den physisch-chemischen Kräften angegriffen wird und der Zerstörung anheimfällt; auf der anderen Seite haben wir eine Verbindung von ätherischem Leib> astralischem Leib und Ich-Träger.

Hier liegt nun die Frage nahe, wie jemand überhaupt wissen könne, wie jene Verhältnisse beim Tode sich entwickeln. Nun, wenn Sie dem gestrigen, öffentlichen Vortrage gefolgt sind, so werden Sie verstehen, daß jene Menschen, welche imstande sind, in höhere Sphären zu schauen, auch in der Lage sind, über die Verhältnisse nach dem Tode zu berichten. Und für einen jeden Menschen stehen MittcI offen und sind Wege geboten, sich solche Fähigkeiten zu erwerbcn, weshalb auch die Möglichkeit vorliegt, zu wissen, was der Mensch erlebt, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet. Wennr irgendwelche Tatsachen berichtet wird, die nicht sogleich von jedermann kontrollierbar sind, so kann über deren Richtigkeit nur ,der entscheiden, welcher wirklich weiß ?. Wenn aber von seiten Unwissender dem Wissenden der Einwurf gemacht würde, daß auch dieser nichts wissen könne, so läge der Vorwurf des Hochmutes ganz auf Seiten derer, die nichts wissen und dabei behaupten, daß man nichts wissen könne. Also nur der Wissende kann entscheiden, was man wissen kann.

Wenn der Mensch durch den Tod geschritten ist, so hat er zunächst ein Gefühl, daß er in eine Welt hineinwächst, in der er immer größer und größer wird, und daß er nicht mehr wie in dieser physischen Welt außerhalb aller Wesenheiten sich befindet, nicht allen anderen Dingen gegenübersteht, sondern gewissermaßen innerhalb derselben, als ob er in alle Dinge hineinkrieche. In dem Zeitpunkte unmittelbar nach dem Tode fühlen Sie kein Hier und Da, sondern ein Überall; es ist, als wenn Sie selbst hineinschlüpften in alle Dinge.

Dann tritt eine Gesamterinnerung an Ihr ganzes vergangenes Leben ein, welches mit allen Einzelheiten wie ein großes Tableau vor Ihnen steht. Dieses Erinnern läßt sich nicht vergleichen mit einem noch so guten Erinnern des früheren Lebens, wie Sie das Erinnern im Erdenleben kennen, sondern dieses Erinnerungstableau steht

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mit einem Male in ganzer Größe da. Auf was beruht das? Es liegt daran, daß der ätherische Leib in Wahrheit der Träger des Gedächtnisses ist. Solange noch im Erdendasein der ätherische Leib im physischen Körper darinnen steckte, mußte er durch das Physische wirken und war an die physischen Gesetze gebunden. Da ist er nicht frei; da vergißt er, denn da tritt beiseite alle Erinnerung, die nicht unmittelbar zum allernächsten gehört, was der Mensch gerade erlebt. Im Tode aber, wie vorhin erläutert wurde, wird der ätherische Leib, der Träger des Gedächtnisses, frei. Er braucht nicht mehr durch das Physische zu wirken, und daher treten die Erinnerungen in ungebundener Weise plötzlich auf.

In Ausnahmefällen kann auch während des Lebens diese Trennung von physischem und ätherischem Leibe auftreten. Zum Beispiel in Fällen von Lebensgefahr, beim Ertrinken, beim Abstürzen, das heißt in solchen Fällen, wo das Bewußtsein durch den Schrekken eine große Erschütterung, einen Schock erhält. Leute, die einem solchen Schock unterworfen gewesen waren, erzählen mitunter, daß während einiger Augenblicke ihr ganzes Leben wie ein Tableau vor ihnen gestanden habe, so daß die entschwundenen Erlebnisse aus frühester Lebenszeit plötzlich mit voller Deutlichkeit aus der Vergessenheit wieder auftauchten. Solche Erzählungen beruhen nicht auf Täuschung, sondern auf Wahrheit; sie sind Tatsächlichkeiten. In jenem Moment des Aufblitzens des Erinnnerungstableaus geschieht etwas ganz Besonderes mit dem Menschen; nur darf bei solchem Schock das Bewußtsein nicht verloren werden. In jenem Moment des Abstürzens oder eines anderen Schreckens, der die Veranlassung zu dem Schock gegeben hat, tritt nämlich etwas ein, was der Hellseher sehen kann. Nicht immer, aber doch manchmal, tritt der Teil des ätherischen Leibes, der die Kopfgegend erfüllt, ganz oder zum Teil aus dem Kopf heraus, und wenn dies auch nur auf einen Moment geschieht, so wird doch dadurch die Erinnerung frei, weil der ätherische Leib in solchem Momente von der physischen Materie, dem Hindernisse der ungehemmten Erinnerung, befreit ist.

Wir können auch noch bei anderen Gelegenheiten einen teilweisen Austritt des ätherischen Leibes beobachten. Wenn Sie sich irgendein

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Körperglied drücken oder stoßen, so tritt mitunter ein eigentümliches, prickelndes Gefühl auf, und wir pflegen dieses Gefühl zu bezeichnen, indem wir sagen, das Glied sei eingeschlafen. Kinder, welche beschreiben wollen, was für ein Gefühl sie dabei haben, hat man schon oft den Ausdruck sagen hören: Ich fühle in meiner Hand wie Selterswasser. Was ist das? Die eigentliche Ursache ist, daß aus diesem Glied der zugehörige Teil des Lebensleibes für eine Weile herausgehoben ist. Der hellsehende Mensch kann dann den heraus- gehobenen Teil des Ätherleibes wie eine Kopie des physischen Menschenleibes in dessen Nähe wahrnehmen. So wird zum Beispiel bei einem Sturz der zugehörige entsprechende Teil des Ätherleibes aus dem Kopfe durch die abstürzende Bewegung herausgedrückt.

Im Tode tritt dieses Erinnerungstableau sofort mit voller Stärke ein, weil der ganze physische Körper verlassen wird. Man weiß auch die Dauer dieses Erinnerungstableaus nach dem Tode. Sie beträgt drei bis vier Tage. Es ist nicht leicht, die Gründe hierfür anzugeben. Diese Zeitdauer ist bei jedem Menschen verschieden und entspricht ungefähr der Fähigkeit des betreffenden Menschen, wie lange er es im Leben hätte aushalten können, wach zu bleiben, ohne einzuschlafen.

Danach tritt etwas anderes ein. Was dann eintritt, das ist, daß sich eine Art zweiten Leichnams herauslöst. Der Mensch läßt nämlich nunmehr auch noch den Ätherleib zurück; doch behält er davon einen gewissen Extrakt, eine Essenz, und das nimmt der Mensch mit und behält es in alle Ewigkeit. Jetzt, nach Ablegung des Ätherleibes, beginnt für den Menschen die Kamalokazeit, der Kamalokazustand. Wollen Sie sich klarmachen, was für ein Zustand das ist, so müssen Sie beachten, daß der Mensch, nachdem er den physischen und ätherischen Leib zurückgelassen hat, von seinen vier Gliedern noch den Astralleib und das Ich behalten hat, und es taucht für uns nun die Frage auf, was für eine Bewandtnis es mit dem Astralleibe hat, mit dem das Ich nun in die Kamalokazeit hineinlebt. Der Astralleib ist der Träger von Lust und Schmerz, von Genüssen und Begierden, daher hören diese nicht auf, wenn der physische Körper abgelegt wird; nur die Möglichkeit, die Begierden zu befriedigen, hört auf, da das

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Instrument zur Befriedigung der Begierden, der physische Leib, nicht mehr zur Verfügung steht. Alles, was der Mensch als empfindendes Wesen war im physischen Leibe, hört nicht auf zu sein. Der Mensch behält das alles in seinem astralischen Leibe. Denken wir uns einmal eine gewöhnliche Begierde, und wählen wir der Einfachheit halber eine solche recht banaler Art, zum Beispiel die Begierde nach einer leckeren Speise. Diese Begierde hat ihren Sitz nicht im physischen, sondern im astralischen Leibe. Daher ist diese Begierde nicht abgelegt mit dem physischen Leibe; sie bleibt. Der physische Leib war nur das Instrument, mit welchem diese Begierde befriedigt werden konnte. Wenn Sie ein Messer haben, um damit zu schneiden, so ist dieses das Instrument, und Sie verlieren nicht die Fähigkeit zum Schneiden, wenn Sie das Messer weglegen. So ist beim Tode nur das Werkzeug zum Genuß abgelegt, und deshalb ist der Mensch zunächst in einem Zustande, in dem alle seine verschiedenen Begierden vertreten sind, welche nunmehr erst abgelegt werden müssen oder vielmehr abzulegen gelernt werden müssen. Die Zeit, in der das geschieht ist die Kamalokazeit. Sie ist eine Prüfungszeit, und sie ist sehr gut und wichtig für die weitere Entfaltung des Menschen. Denken Sie einmal, Sie litten Durst, und Sie wären in einer Gegend, wo es kein Wasser gäbe, natürlich auch kein Bier oder Wein, überhaupt kein Getränk irgendwelcher Art. Da leiden Sie brennenden Durst, der nicht gestillt werden kann. In ähnlicher Weise erleidet der Mensch ein gewisses Durstgefühl, wenn er nicht mehr das Instrument besitzt, mit welchem einzig er seine Begierden zu befriedigen imstande war.

Kamaloka ist eine Abgewöhnungszeit für den Menschen, da er seine Begierden ablegen muß, um sich in die geistige Welt hineinzuleben. Diese Kamalokazeit dauert bei dem Menschen längere oder kürzere Zeit, je nachdem er mit dem Abgewöhnen der Begierden fertig wird. Es kommt hierbei darauf an, wie der Mensch sich schon im Leben angewöhnt hat, seine Begierden zu regeln, und wie er gelernt hat, im Leben zu genießen und zu verzichten. Es gibt aber Genüsse und Begierden niederer und höherer Art. Solche Genüsse und Begierden, zu deren Befriedigung der physische Leib das eigentliche

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Instrument nicht ist, nennen wir höhere Genüsse und Begierden, und solche gehören nicht zu denjenigen, die sich der Mensch nach dem Tode abzugewöhnen hat. Nur solange der Mensch noch etwas hat, was ihn nach dem physischen Dasein hinzieht - niedere Genüsse -, so lange bleibt er im astralischen Leben der Kamalokazeit. Wenn ihn dann nichts mehr hinunterzieht nach jener Abgewöhnezeit, dann ist er fähig geworden, in der geistigen Welt zu leben, dann tritt ein dritter Leichnam aus dem Menschen. Der Aufenthalt des Menschen in dieser Kamalokazeit dauert ungefähr so lange wie ein Drittel der Lebenszeit.

ES kommt daher darauf an, wie alt der Mensch war, als er starb, das heißt, wir lange er im physischen Leibe gelebt hat. Jedoch ist diese Kamalokazeit durchaus nicht immer eine greuliche oder unangenehme. In jedem Falle wird der Mensch dadurch unabhängiger von den physischen Begierden, und je mehr er sich schon im Leben unabhängig gemacht und sich Interessen im Anschauen geistiger Dinge verschafft hat, desto leichter wird diese Kamalokazeit für ihn verlaufen. Er wird durch sie freier, so daß der Mensch dankbar wird für diese Kamalokazeit. Das Gefühl des Entbehrens im physischen Leben wird zur Seligkeit in der Kamalokazeit. Es treten also die entgegengesetzten Gefühle ein, denn alles, was man im Leben gelernt hat, gern zu entbehren, wird in der Kamalokazeit zum Genuß. Wenn dann, wie schon erwähnt wurde, aus dem Menschen der dritte Leichnam austritt, dann entschwebt mit diesem, dem astralischen Leibe alles, was der Mensch fernerhin in der geistigen Welt nicht brauchen kann. Für den Hellseher sind diese astralischen Leichname sichtbar, und es dauert zwanzig, dreißig bis vierzig Jahre, bis sie sich aufgelöst haben. Da solche astralischen Leichname fortwährend da sind, so gehen sie gelegentlich durch die Leiber Lebender, durch unsere eigenen Leiber hindurch, besonders während der Nacht, wenn unsere astralischen Leiber im Schlafe von den physischen Körpern getrennt sind, und daher rühren gewisse schädliche Einflüsse, die der Mensch empfangen kann. Geradeso wie für den eigentlichen Menschen nach dem Austritt des ätherischen Leichnams ein Extrakt, eine gewisse Essenz für alle Ewigkeit zurückbleibt, so bleibt auch für

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ihn nach dem Austritt des astralischen Leichnams für alle Ewigkeit eine gewisse Essenz zurück als Frucht der letzten Verkörperung.

Und jetzt beginnt für den Menschen die Zeit des Devachan, der Eintritt in die geistige Welt, in die Heimat der Götter und aller geistigen Wesenheiten. Wenn der Mensch in diese Welt eintritt, dann erlebt er ein Gefühl, das man vergleichen kann mit der Befreiung einer Pflanze, die in einer engen Felsspalte wuchs und plötzlich ans Licht emporwächst. Denn wenn der Mensch in diese Himmelswelt einzieht, erlebt er in sich die vollkommene geistige Freiheit, und er genießt fortan die absolute Seligkeit. Denn, was ist eigentlich die Zeit des Devachan? Sie können sich davon eine Vorstellung machen, wenn Sie erwägen, daß der Mensch hier die Vorbereitung trifft zu einem neuen Leben, zu einer neuen Wiederverkörperung. In der physischen Welt, in dieser unteren Welt, hat der Mensch so viel erfahren und erlebt, und diese Erfahrungen hat er ja mit hinüber- genommen. Er hat sie wie eine Frucht des Lebens in sich aufgenommen, was er nun frei in sich verarbeiten kann. Er bildet sich nun in der Devachanzeit ein Urbild für ein neues Leben. Das geschieht während einer langen, langen Zeit. Das ist ein Schaffen am eigenen Sein, und jedes Schaffen, jedes Produzieren ist mit Seligkeit verknüpft. Daß jedes Produzieren, jedes Schaffen mit Seligkeit verknüpft ist, davon können Sie sich eine Vorstellung machen, wenn Sie ein Huhn betrachten, das ein Ei ausbrütet. Warum tut es das? Weil es eine Lust empfindet, das zu tun. So ist es auch für den Menschen eine Lust, im Devachan schaffend die Frucht des vergangenen Lebens hineinzuweben in den Plan zu einem neuen Leben.

In der Kette der Wiederverkörperungen hat der Mensch ja schon viele Leben durchgemacht, aber er ist am Ende eines Lebens nie mehr dasselbe, was er am Anfang dieses Lebens gewesen war. In diesem Leben, hineingezwängt in den physischen Körper, da muß er sich ja ganz passiv verhalten. Jetzt aber, wo er befreit ist, befreit von dem physischen Leibe, von dem Ätherleibe und von dem astralischen Leibe, da webt er hinein in seinen ewigen Wesenskern ein Urbild, und dieses Hineinweben> es wird wahrgenommen als Seligkeit, als ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen läßt, was er je in der

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physischen Welt als Seligkeit erleben kann. Sein Leben ist Seligkeit in der geistigen Welt. Glauben Sie aber nun nicht etwa, daß das physische Leben keine Bedeutung hätte in dieser geistigen Welt. Wenn sich im Leben Bande der Liebe und der Freundschaft angeknüpft haben von Seele zu Seele, so fällt mit dem Tode nur das Physische ab, aber das geistige Band bleibt und schlingt dauernde, unzerstörbare Brücken von Seele zu Seele welche sich in den Urbildern zu Wirkungen verdichten. Diese vermögen sich dann in den folgenden Wiederverkörperungen im Physischen auszuleben. Ebenso ist es in dem Verhältnis, das zwischen Mutter und Kind besteht. Die Liebe einer Mutter zum Kinde ist die Antwort auf die vorgeburtliche Liebe des Kindes zur Mutter welches sich gerade zu dieser Mutter in- folge seiner Seelenverwandtschaft mit ihr durch Sehnsucht zur Wiederverkörperung hingezogen fühlte. Was sich dann im Leben, in der gemeinschaftlich durchlebten Verkörperung zwischen Mutter und Kind abspielt, bildet neue, seelische Bande, welche bleiben. Und alles, was Seele an Seele band, ist schon eingewoben in das geistige Leben, das Sie vorfinden, wenn Sie nach dem Tode in die geistige Welt eintreten. Es ist also das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt so beschaffen, daß dasjenige nachwirkt, was im vorangegangenen physischen Leben getan wurde. Ja sogar die Lieblingsbeschäftigungen, denen ein Mensch im Leben anhing, wirken nach. Aber immer freier und freier wird der Mensch nach dem Tode, weil er ein Vorbereiter wird für die Zukunft, für seine eigene Zukunft.

Tut nun der Mensch noch etwas anderes in diesem Jenseits? Oh, er ist in diesem Jenseits sehr tätig. Hier könnte zwar jemand die Frage aufwerfen, wozu der Mensch denn da wiedergeboren wird, und weswegen er denn überhaupt wieder auf diese Erde zurückkommt, wenn er auch im Jenseits tätig sein kann. Nun, das geschieht deshalb, weil die Wiederverkörperungen niemals so eintreten, daß der Mensch in ihrem Verlaufe unnötigerweise wiedergeboren wird. Immer kann er Neues hinzulernen, immer haben sich die Erdenverhältnisse so gewandelt, daß er in gänzlich veränderte Verhältnisse hineinkommt, um Erfahrungen zu seiner weiteren Fortentwickelung zu machen. Das Antlitz der Erde, die Gegenden, das Tierreich,

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die Pflanzendecke, alles dies ändert sich fortwährend in verhältnismäßig kurzer Zeit. Denken Sie einmal hundert Jahre zurück. Welch ein Unterschied gegen heute! Daß wie bei uns heute jeder Mensch im sechsten Lebensjahre lesen und schreiben lernt, ist noch gar nicht so lange her. Im Altertum gab es hochgelehrte Leute, die an der Spitze des Staatswesens standen und weder lesen noch schreiben konnten. Wo sind die Wälder und Tierarten, die vor fünfhundert Jahren das Land erfüllten, das heute von Eisenbahnen durchzogen ist? Wie waren die Örtlichkeiten beschaffen, wo heute unsere großen Städte sich befinden, wie waren sie vor tausend Jahren? Dann nämlich wird erst der Mensch wiedergeboren, dann tritt er erst in eine neue Wiedergeburt ein, wenn sich die Verhältnisse so geändert haben, daß der Mensch etwas Neues lernen kann. Verfolgen Sie die Jahrhunderte, wie das Antlitz der Erde durch die Verstandeskräfte der Menschen verändert, niedergerissen und aufgebaut wird. Aber es ändert sich auch noch vieles, woran die äußeren Verstandeskräfte der Menschen nicht arbeiten können. Die Pflanzendecke und die Tierwelt, sie verändern sich vor unseren Blicken; sie verschwinden, und andere Arten treten an ihre Stelle. Solche Veränderungen werden von der anderen Welt aus bewirkt. Ein Mensch, der über eine Wiese schreitet, kann wohl sehen, wie über den Bach eine Brücke geschlagen wird, aber er kann nicht sehen, wie die Pflanzendecke aufgebaut wird. Das machen die Toten. Diese sind dabei tätig, das Antlitz der Erde umzugestalten und umzuarbeiten, um sich für eine neue Wiederverkörperung den veränderten Schauplatz zu schaffen.

Nachdem der Mensch während einer langen, langen Zeit dergestalt mit den Vorbereitungen zur neuen Wiederverkörperung beschäftigt war, naht der Zeitpunkt, wo sie stattfinden soll. Was geschieht nun? Was tut der Mensch dann, wenn er in seine neue Wiedergeburt schreitet? Zu dieser Zeit befindet sich der Mensch in seinem Devachan, und da fühlt er, daß er sich zunächst einen neuen Astralleib angliedern muß. Dann schießt sozusagen die astralische Substanz von allen Teilen an ihn heran, und je nach seiner Eigenart kristallisiert sie sich sozusagen um ihn herum. Sie müssen sich das so vorstellen, wie die Eisenfeilspäne der Anziehungskraft eines Magneten

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unterliegen und sich um ihn ordnen und gruppieren, so ordnet sich die astralische Substanz an das sich wiederverkörpernde Ich. Dann aber ist es noch nötig, ein geeignetes Elternpaar auszusuchen, und so wird der Mensch hingeleitet zu diesem oder jenem Eltern- paar, aber nicht bloß gehorchend seiner eigenen Anziehungskraft. Denn hierbei greifen ein und sind tätig hocherhabene Wesenheiten, die heute noch, dem gegenwärtigen Entwickelungszustande der Menschen angemessen, die Arbeit übernommen haben, diese Verhältnisse in Richtigkeit und Gerechtigkeit karmisch zu ordnen. Wenn also gelegentlich einmal die Eltern mit den Kindern und zu den Kindern anscheinend nicht stimmen, dann braucht nicht etwa Unrichtiges oder Ungerechtigkeit vorzuliegen. Darin liegt vielleicht manchmal das Gute, daß der Mensch in die kompliziertesten Bedingungen hineinkommt und sich mit den sonderbai:sten Verhältnissen abfinden soll, um dadurch zu lernen.

Die Reihenfolge dieser sich immer wiederholenden Wiederverkörperungen ist jedoch nicht eine endlose. Es ist ein Anfang da und auch ein Ende. Einst, in einer fernen Vergangenheit, stieg der Mensch noch nicht herab zu Verkörperungen. Da kannte er noch nicht Geburt und Tod. Da führte er eine Art engelhaften Daseins> nicht unterbrochen von solch einschneidenden Veränderungen seines Zustandes, wie sie heute als Geburt und Tod vorhanden sind. Aber ebenso sicher wird für den Menschen eine Zeit kommen, wo er eine genügende Summe von Erfahrungen in den unteren Welten gesammelt haben wird, um einen genügend gereiften, abgeklärten Bewußtseinszustand erworben zu haben, um in den erhabenen oberen Welten wirken zu können, ohne gezwungen zu sein, wieder in die unteren Welten unterzutauchen.

Nach dem Anhören der hier vorgetragenen Verhältnisse über wiederholte Erdenleben glauben manche Leute, Angst haben zu müssen, daß das Gefühl der Elternliebe beeinträchtigt werden könnte dadurch, daß eine Mutter vernimmt, daß das Kind nicht durchaus Fleisch ist von ihrem Fleisch, denn es ist ja an diesem Kinde etwas, das nicht von ihr ist, also etwas Fremdes. Doch diese Bande, die Eltern und Kinder umspannen, sind keineswegs dem Zufall unterworfen

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und gesetzlos. Es sind keine neuen Bande. Sie waren schon vorhanden in vorangegangenen Lebensläufen und haben einstmals auch schon in verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Verbindungen bestanden. Diese Bande der Liebe vereinigen sie dauernd auch in den höheren Welten in ewiger Wirklichkeit, und alle Menschen werden einst in ewiger Liebe umschlungen sein, auch wenn sie sich nicht mehr hinabsenken werden in den Kreislauf der Wiederverkörperungen.

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DIE ZEHN GEBOTE Stuttgart, 14. Dezember 1908

#G108-1986-SE063 - Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie

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DIE ZEHN GEBOTE

Stuttgart, 14. Dezeniber 1908

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Es soll uns heute ein wichtiges Menschheitsdokument beschäftigen, das wenn es auch fern abzuliegen scheint außerhalb des Rahmens unserer bisherigen Betrachtungsfolge, dennoch im inneren Zusammenhang mit dieser steht. Es sind dies die Zehn Gebote, die wir ein- mal vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus beleuchten wollen, aus dem Grunde, weil vielleicht auch gerade gegenüber die- sein Dokument der Menschheit die Geisteswissenschaft das richtige Licht zu seinem Verständnis zu bringen vermag.

ES wird von seiten der gelehrten Theologie vielfach behauptet, daß diese Zehn Gebote mit mancherlei Gesetzen und Geboten anderer Völker des Altertums übereinstimmen und eigentlich nichts Besonderes darstellen. Sie seien höchstens nur insofern bemerken& wert, als sie eine Zusammenstellung dessen seien, was als Gebote und Gesetze bei den verschiedenen alten Völkern da und dort zu finden sei, zum Beispiel bei Lykurg von Sparta oder in den Gesetzestafeln des Hammurabi.

Dasjenige, was uns beschäftigt hat, als wir den Entwickelungsgang der Menschheit in der nachatlantischen Zeit betrachtet und auf unsere Seelen haben wirken lassen, das wird uns auch in einer gewissen Beziehung ein Leitfaden sein können, um uns begreiflich erscheinen zu lassen das Große und Gewaltige, was in die Menschheit eingesöchlagen hat, als die Zehn Gebote auf dem Sinai gegeben worden sind. Erinnern wir uns daran, was uns bei der Betrachtung des Entwickelungsganges der Menschheit in der nachatlantischen Zeit entgegengetreten ist. Wir haben gesehen, daß die fünf Kulturepochen - die indische, persische, chaldäisch-ägyptisch-jüdische, die griechisch-römische und die germanische Kulturepoche - ein allmähliches Erobern des physischen Planes durch die Menschheit bedeuten. Nun steht uns am Ende der dritten und am Anfang der vierten Epoche dasjenige gegenüber, was wir die «Sendung des Moses» nennen können. Worin besteht diese Sendung?

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Da wollen wIr uns noch einmal genauer vor die Seele führen, wie die Inspirationen der Eingeweihten eigentlich in den aufeinanderfolgenden Zeiträumen waren. Gestern haben wir von den Rishis gesprochen, die in der altindischen Zeit die Inspiratoren ihres Volkes waren. Es wurde von den Rishis mitgeteilt, daß sie im gewöhnlichen Leben sozusagen schlichte Menschen waren, daß sie aber zu gewissen Zeiten das Instrument, das Mundstück waren für die Inspirationen höherer geistiger Wesenheiten. Diese Tatsache war besonders hervorstechend in den Zeiten des alten Indertums, und es konnten reden diese alten Rishis, diese größten Lehrer der nachatlantischen Kulturepoche, von hohen geistigen Wahrheiten. Fragen wIr uns eIn- mal, in welche Regionen des Geistes hinein haben sich diese alten Rishis versetzt, wenn sie innerlich durchweht und durchzogen sein sollten von den höheren Wesenheiten, die durch sie sprachen? Es erhoben sich diese Rishis, während in ihnen die höheren Mächte lebten, nicht bloß zum Astral- oder unteren Devachanplan, sondern hinauf bis zum oberen Devachan, so daß das, was sie lehrten, ursprünglich vom oberen Devachan ausging. In jenen alten Zeiten, kurz nach der atlantischen Katastrophe, war das noch möglich, weil die alten indischen Leiber noch durchaus den Menschen die Möglichkeit boten, aus ihnen herauszukommen und mit den Wesenheiten höherer Welten in Beziehung zu treten.

Nun schreiten die Kulturstufen fort. In der Kulturepoche des Zarathustra, der uralt-persischen, wissen die höchsten Eingeweihten zwar noch zu erzählen von den höchsten geistigen Wesenheiten, aber ihre Erhebung kann nicht so ohne weiteres bis in die oberen Partien des Devachan gehen. Sie können sich nur bis zu dem unteren Devachan erheben. Trotzdem aber können sie sich über die höheren Plane unterrichten lassen, denn diese hohen Wesenheiten des unteren Devachanplanes wissen ja auch von den höheren Planen.

In der Welt, in der die ägyptischen Eingeweihten hauptsächlich heimisch waren, erhob man sich gewöhnlich bis zum Astralplan, und es war keineswegs nur ein kleiner Kreis, der sich im alten Ägypten noch zu diesem Astralplan erheben konnte. Es war noch eine verhältnismäßig große Anzahl von Menschen, die aus eigener Beobachtung

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wußten, was auf dem Astralplan vorgehen kann. Wenigstens in gewissen Zwischenzuständen des Lebens, zwischen Schlafen und Wachen zum Beispiel, erlebten viele die Gemeinschaft mit je- nen Wesenheiten, die nicht auf den physischen Plan herunterkommen, die aber auf dem astralischen Plan noch heimisch sind. So daß diejenigen, welche auf dem Astralplan aus und ein gingen, die alten ägyptischen Eingeweihten, es noch leicht hatten, die Dinge zu verkünden, die in höheren Welten vorgingen.

Indem wir uns immer mehr den späteren Kulturepochen nähern, zieht sich sozusagen der Vorhang vor den geistigen Welten immer mehr zu. Immer geringer wird die Zahl der Menschen, die imstande sind, selbst noch in den geistigen Welten Beobachtungen zu machen, und dadurch wurde gegen die vierte Kulturepoche hin eine besondere Art der Verkündigung durch die Eingeweihten notwendig. Einer derjenigen Eingeweihten, der in allen okkulten Künsten der ägyptischen Eingeweihten bewandert war, war Moses; er bewegte sich durchaus frei auf dem Astralplan. Gerade sein Volk war dazu aus ersehen, eine gewisse Offenbarung zu erhalten, die imstande war, den Menschen auch dann etwas zu sein, wenn sie nicht mehr in die höheren Welten hinaufblicken konnten. Es gab ja immer Eingeweihte, obwohl ihre Zahl immer geringer geworden war, die direkt oder indirekt von den höheren Welten wußten, weil sie bewußt außerhalb ihres Leibes leben konnten. Der größte Teil des Volkes jedoch mußte sein Leben ganz auf den physischen Plan beschränken. Die Aufgahe, die der Menschheit gegenüber zu erfüllen war in der Zeit, als die Sendung des Moses ihren Anfang nahm, war diese: denjenigen Mensehen, die ganz und gar auf den physischen Plan angewiesen waren, eine Offenbarung aus dem Geistigen zu geben, das hinter dem physisehen Plane steht, wonach sie ihr Leben regeln konnten. Wie mußte nun diese Sendung des Moses zunächst gestaltet werden?

Denken Sie sich, daß den Leuten zunächst einmal klar gemacht werden mußte: Das, was draußen um euch herum ist, was ihr sehen und fühlen könnt, das ist eben der physische Plan; da ist nirgends etwas Geistiges. Das müßt ihr nicht ansehen als das, was euch irgendwie das Geistige darstellen könnte, sondern ihr müßt euch klar

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darüber sein, daß das Geistige eben im Geistigen gesucht werden muß, und daß es nur ein einziges gibt, wo ihr das Geistige suchen könnt.

In den Zeiten des alten Indertums, als die heiligen Rishis von den oberen Partien des Devachan aus sprachen, da konnte man auch Bilder geben, welche das, was vom oberen Devachan aus gesprochen wurde, als äußeres Bild symbolisierten und vergleichsweise andeuteten. Man konnte Bilder und Bildnisse geben, und es war verhältnismäßig leicht, den Menschen begreiflich zu machen: Wir geben euch zwar Bilder, aber da ihr die äußere Welt ja doch als Illusion, als Maja anseht, so werden diese Bilder euch nichts mehr sein als Bilder, Abbilder einer Welt des Übersinnlichen. - Es war keine Gefahr vorhanden, daß Götzendienerei mit diesen Bildern getrieben werden konnte. Wie hätte das auch sein können bei einem Volk, das alles Sinnliche für Maja, für Illusion ansah? Dieses Volk hätte niemals Götzendienerei treiben können. Das ist erst viel später gekommen. Allerdings ist gerade später in der morgenländischen Kultur an Stelle des Symbols das Götzenbild getreten. Aber leicht war es also den heiligen Rishis, dem ganzen indischen Volke klarzumachen: DasjenIge, was wir euch zu verkündigen haben, stammt aus den höheren Partien des Devachan, und das Sichtbare, das Physische, ist ein Sinnbild für das, was so hoch und erhaben ist, daß ihr es nur im Sinnbild aufnehmen könnt.

Während der persischen Kultur konnten aber die Schüler des Zarathustra nicht in derselben Weise verfahren. Diese konnten nur noch eine Art von Zusammenhang ihres Volkes mit den unteren Partien des Devachanplanes herstellen. Daher waren sie nur imstande, in Bildern, aber in geistigen Bildern, von dem Übersinnlichen zu sprechen. Sie haben kein sinnliches Bild genommen. Vor allen Dingen sprachen sie ihrem Volke von dem eigentlichen geistigen> guten Wesen, das sie Ahura Mazdao nannten, demjenigen Wesen, das seine äußere Körperlichkeit in der Sonne hat, und mit dem der Mensch sIch verbündet gegen den finsteren Geist: Ahriman. Das wurde als ein sinnlich-übersinnliches Bild sozusagen vor die Menschen hingestellt. Die Menschen sollten sich im Bilde vorstellen dieses geistige

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Lichtwesen. Aber nicht ein fertiges Bild> kein Bildnis sollten sie machen. Allenfalls konnten sie sich diesen göttlichen Ahura Mazdao in einem Vorgange, zum Beispiel im Feuer vorstellen, aber nicht in einem starren, äußeren, sinnlichen Bild. Alles, was sinnliche Bilder, Götterbilder sind, stammt aus einer späteren Zeit. Die alte persische Kultur hatte bildliche Vorgänge, die das Übersinnliche ausdrücken sollten. Das war der Fortschritt.

Nun kommen wir zu der dritten Kulturstufe, die uns hauptsächlich im Ägyptertum entgegentritt. Da stand, wie wir wissen, gewissermaßen im Mittelpunkt alles religiösen Denkens und Fühlens die Gestalt des Osiris. Sie werden leicht verstehen, was jetzt gesagt werden muß. Was für ein Wesen ist Osiris, hauptsächlich in seiner göttlichen Gestalt? Bedenken Sie, daß die ägyptischen Kulturführer dem Menschen sagten: Wenn du deine Aufgabe hier in der physischen Welt richtig vollziehst, wenn du alles tust, was dich in bezug auf deine Seele zu einem würdigen Menschen macht, dann wirst du nach dem Tode mit Osiris vereinigt sein. - Auf der anderen Seite wurde ihm gesagt: Der Osiris hat nur ein kurzes Leben hier auf Erden gehabt, denn er wurde von seinem Bruder Typhon - Seth - überwunden und lebt seit jener Zeit in den Welten, die die überirdischen sind. Sein unterstes Gebiet ist nicht mehr der physische, sondern der Astralplan, weiter steigt er nicht herab. Es ist nicht mehr möglich, daß Osiris den physischen Plan betritt. Daher kann der Mensch im Leben nicht dem Osiris begegnen. Nach dem Tode aber, wenn er sich dessen würdig gemacht hat, dann wird er mit Osiris vereint sein, weil dann der Mensch die Welt, in der Osiris weilt, betritt. Der '''Mensch muß also dem Osiris entgegenkommen, entweder wenn er 'gestorben ist, oder wenn er als Eingeweihter den astralen Plan betritt. Daher wurde dem Bekenner der Osiris-Religion klargemacht: Das Übersinnliche, mit dem du selbst noch in einer Verbindung stehst, sollst du dir nicht anders als unter dem Bilde deiner eigenen Seele vorstellen, einer Seele, wie wir sie uns vorstellen unter dem Begriff des Astralleibes. Es wurde der Osiris als eine ideale Menschengestalt hingestellt, die alle möglichen Tugenden hat, und da Triebe sowohl als auch Tugenden im Astralleibe sind, so wurde sozusagen

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eine astralische Menschenwesenheit als die Wesenheit des Osiris hingestellt.

Für das Volk der Semiten, das durch die Schule des Ägyptertums gewissermaßen hindurchgegangen war, und welches jenes große Erelgnis vorbereiten sollte, durch welches das Geistige, der Christus, In die physische Welt heruntergestiegen ist - nicht nur wie Osiris bis zum Astralplan, sondern wie Christus, der auf den physischen Plan gekommen ist -, für dieses Volk durfte weder ein Gott im Gleichnis, im Symbol leben, wie bei dem alten Indertum, noch durfte es einen Gott in einem sinnlich-übersinnlichen Bilde verehren, wie in der persischen Kultur, noch im Bilde einer Astralwesenheit, wie in der ägyptischen Kultur, sondern einzig und allein unter der unsinnlichen Vorstellung des Ich. Alle Bilder, die ursprünglich den alten Indern gegeben waren, um sich das Geistige vorzustellen, waren der physischen Welt, dem Mineralreiche entlehnt; es waren Bilder, welche in physisch-mineralischen Formen ausgeprägt waren. Die Gestalt,ö öunter der die Eingeweihten der persischen Kultur ihrem Volke das Ubersinnliche klarmachten, war demjenigen entnommen, was auch in dem menschlichen Ätherleibe lebt, dem Lebendig-Ätherischen> denn auch Ahura Mazdao wurde ihnen sichtbar dadurch, daß er in einer ätherischen Form, der Sonnenaura, sich ihnen kundgab. Osiris war unter einer astralischen Gestalt bei den Agyptern vorgestellt worden. Diejenige Gottheit aber, die sich dem jüdischen Volk ankündigte, sollte keine anderen Eigenschaften haben als die des Ich, des vierten Gliedes der menschlichen Wesenheit. Unter dem Ich erfaßt der Mensch etwas, was allein zu sich selber «Ich» sagen kann.

Damit war aber noch etwa anderes verbunden. Der Mensch sollte nunmehr die Sendung des Moses in sich hineingießen; er sollte sich die Gottheit im Bilde dieses Ich vorstellen. Von nun an mußte den Menschen gesagt werden: So wie ein Ich in jedem Menschen lebt und Herrscher ist über alle Glieder der Menschennatur, so sollst du dir das Wesen vorstellen, das in der Welt als schöpferisches Wesen webt und lebt und herrscht und waltet über alles Geschaffene. Kein sinnliches, kein Äther- und kein Astralbild kann das wiedergeben. Bloß unter der Gestalt des «Ich», einzig unter dem Namen «Ich bin

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der Ich-bin» sollst du dir das höchste Wesen vorstellen. - In dem «Ich-bin» selber sollte jeder Mensch ein Ebenbild der Gottheit empfinden. Das war die Mission, die Sendung des Moses, dem Menschen zu sagen: Siehe hinein in dein Inneres; da allein findest du ein wirkliches Ebenbild der reinen Gottheit. - Daher sollte alle Wirkung unter den Menschen von nun an nur von Ich zu Ich gehen. Das sollte vorbereitet werden durch die Sendung des Moses.

Stellen wir uns noch einmal hinein in die ägyptische Kultur. Da war viel Wirkung, aber sie ging nicht von Ich zu Ich, sondern von Astralleib zu Astralleib. Was heißt das? Denken Sie sich, wie eine solche gigantische Pyramide gebaut worden ist. Ein großes Heer von Menschen war nötig, um solch eine Pyramide zustandezubringen. Die Arbeiter an dem Bau einer solchen Pyramide folgten den Aufträgen derjenigen, die die Baumeister waren, und das waren die Tempelpriester, die geistigen Führer der Kultur. Glauben Sie nicht, daß diese Aufträge so gegeben wurden, wie man heute Aufträge gibt, von Ich zu Ich. Das war nicht der Fall. Sie werden am leichtesten verstehen, was damals vorging, wenn wir das Wort «Suggestion» gebrauchen. Kräfte psychischer Natur wurden angewendet, um die Massen zu leiten. Die ägyptischen Priester beherrschten solche Kräfte in hohem Maße. Sie wirkten nicht auf das Ich, indem sie sagten: Tue dies oder jenes -, sondern sie beherrschten die Menge, wie es derjenige tut, der psychische Kräfte handhaben kann, so daß die Menschen willenlos folgten diesen Priestern, mit Übergehen des Ich. Die Priester standen als Eingeweihte in hohem Dienste. Ihnen war nicht zuzutrauen, daß sie diese Kräfte mißbrauchten; sie stellten sie in den Dienst des Guten. So waren es also Eingebungen, psychische Eingebungen, durch die sie wirkten, und von einer Freiheit des Ich gegenüber dem Tempelpriester war nicht die Rede. Wenn Sie das verstehen, so begreifen Sie auch, daß im alten Indien die heiligen Rishis in noch höherem Maße spirituelle Kräfte anwendeten. Bei ihnen war es so: Wenn sie erschienen und bedeutsame Kundgebungen aus den geistigen Welten gaben, dann war es selbstverständlich, daß das ganze Volk ihnen willenlos folgte. Genauso wie bei uns die Hand dem Kopfe folgt, so folgten die großen Menschenmassen ihren

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Führern, den Eingeweihten. Das wurde immer weniger, je weiter der Mensch hinunterstieg auf den physischen Plan, aber im alten Ägyptertum war noch viel Wirksamkeit dieser psychischen Kräfte. Die Menschen aus dieser Art der Wirksamkeit herauszureißen und die Vorherverkündigung des Dem-Ich-Gegenüberstehens, das war die Sendung des Moses. In jedem Menschen den göttlichen Urquell zu suchen, das große Welten-Ich, das den Raum durchwellende und durchwehende Ich als Urbild anzusehen des eigenen Ich, das war der große Ruf, der mit der Sendung des Moses verknüpft war.

Von diesem Gesichtspunkte aus werden wir verstehen, wie sich dieses große Welten-Ich durch Moses verkündigen mußte. In einer solchen Weise muß man die Ankündigung der Ich-Gebote in die heutige Sprache übersetzen, damit man wirklich das hat, was gefühlt und empfunden und gedacht wurde, wenn man in jener Zeit zum Beispiel das erste Gebot hörte. Alle lexikographischen Übersetzungen geben das denkbar Ungenaueste wieder. Und nun möchte ich Ihnen das erste Gebot darstellen wie man es wirklich übersetzen muß, um dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was man sich damals beim Hören desselben vorgestellt hat.

Erstes Gebot. Ich bin das ewig Göttliche, das du in dir empfindest. Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest. Fortan sollst du andere Götter nicht über Mich stellen. Du sollst nicht als höhere Götter anerkennen, was dir eine Abbildung zeigt von etwas, das oben am Himmel scheint, das aus der Erde heraus oder zwischen Himmel und Erde wirkt. Du sollst nicht anbeten, was von alldem unter dem Göttlichen in dir ist. Denn Ich bin als das Ewige in dir und bin ein fortwirkendes Göttliches. Wenn du Mich nicht in dir erkennst, werde Ich als dein Göttliches verschwinden bei Kindern und Enkeln und Urenkeln, und deren Leib wird veröden. Wenn du Mich in dir er- kennst, werde Ich bis ins tausendste Geschlecht als Du fortleben, und die Leiber deines Volkes werden gedeihen.

Da haben wir den Hinweis darauf, in dem einzelnen Ich das Urbild des «Ich», das Nachbild des göttlichen Ur-Ich zu erkennen, und zugleich den Hinweis darauf, daß derjenige, der so sein Ich als Göttliches

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erkennt, frei wird von der Art, wie die Menschen im alten Ägypterlande ihren Führern gegenüberstanden. «Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest.» Dem Willen der Eingeweihten folgte man da, da war der Mensch nicht frei. Diese Eingeweihten wendeten ihre psychischen Kräfte an, denen man folgte. Die erste Morgenröte jener menschlichen Freiheit, die dann als die Freiheit der Gnade im Christentum heraufgekommen ist, zeigt sich in diesem Hinweis: «Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest.» «Fortan sollst du andere Götter nicht über mich stellen.» Gerade darum, damit das jüdische Volk das große vorbereitende Volk werden konnte für die Kundgebung im Christentum, mußte klargelegt werden, daß alle anderen Darstellungen des Göttlichen, des Urbildes des Ich, wegfallen mußten. Was äußere Gestalt eines Göttlichen ist, seien es selbst die Sternbilder oder irgend etwas anderes, das mußte wegfallen. Durch gar nichts soll das Göttliche abgebildet werden, denn der Mensch soll, damit er frei wird, damit er den Quell von allem, was in ihm ist, findet: er soll alles, was er empfinden kann über das Göttliche, in seinem Ich als dem Nachbilde des großen Welten-Ichs empfinden. «Du sollst nicht als höhere Götter anerkennen, was dir ein Abbild zeigt von etwas, das oben am Himmel scheint, das aus der Erde heraus oder zwischen Himmel und Erde wirkt.» Ein bildloses Göttliches! Der einzige berechtigte Ausdruck dafür ist das menschliche Ich, das Abbild des «Ich bin der Ich-bin». «Du sollst nicht anbeten, was von alldem unter dem Göttlichen in dir ist.»

Wir haben es hervorgehoben: Aus dem physischen Leib wurde das Bild genommen im alten Indien, aus dem Ätherleib in der persisehen Kultur, aus dem Astralleib bei den Ägyptern. Das alles ist unter dem Ich. Von daher soll fortan nichts im Bilde von dem Göttlichen genommen werden. Wir wissen, daß der physische Leib aus der mineralischen Natur, daß der Ätherleib aus der ätherischen Natur und der Astralleib aus demjenigen Reiche entnommen ist, aus dem auch der Astralleib der Tiere entnommen ist. Von all dem, was in den unteren Gliedern der Menschennatur ist, was aus der übrigen

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Natur herausgenommen ist, von all dem, was unter dem Ich ist, soll nichts genommen werden für das, was der Mensch anbetet. «Denn Ich bin das Ewige in dir und bin ein fortwirkendes Göttliches.» Da haben Sie einen wichtigen Satz. Da wurde den Juden als Gesetz gegeben, was vorher eine Tatsache war. Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, wie bei allen Völkern, durch die ein gemeinsames Blut floß, ein gewisses Bewußtsein durch die Generationen durchrann, wie der Sohn sich durch das Blut verbunden fühlte mit dem Vater und mit dem Großvater. Gemeinsames Blut fühlte sich als gemeinsames Ich. Das Ich lebte durch die Generationen hindurch. Der Gott, der sich zuerst als «Ich» ankündigte im jüdischen Volke, mußte sich ankündigen, indem er sagte, daß Er es ist, der als der Gott durch die Generationen hindurchwirkt. «Wenn du Mich rIchtig in dir erfassest, dann erfassest du, was fortwirkt von Generation zu Generation.» Es ist das übersetzt worden mit: «Ich bin ein eifernder Gott», oder sogar mit: «ein zorn1ger Gott», während die wIrkliche Bedeutung ist: «Ich bin ein von Generation zu Generation fortwirkender Gott.»

«Suche nie, eine unrichtige Vorstellung von Mir zu bekommen; bewahre das Richtige in dir, als Vorstellung von Mir, dann pflanzest du in dem Blute Gesundheit von Geschlecht zu Geschlecht fort.» Ei- ne richtige medizinische Vorstellung ist damit verbunden, denn derjenige, der dieses Gebot gab, verband damit die Vorstellung, daß dann, wenn der Mensch eine reine Vorstellung von seinem Zusammenhang mit dem Göttlichen hat, auch eine gesundende Ich-Vorstellung durch das Blut fließt, und das Volk von Generation zu Generation gesund bleibt. Wir bekommen keine richtige Vorstellung von dem lebensvollen Gehalt dessen, was Moses seinem Volk gab, als er die Gesetze verkündete, wenn wir bloß begrifflich denken, was er sagte. Nein, es wird gesagt unter der Voraussetzung, daß der rIchtige Gedanke eine wirkende Realität ist. «Wenn du dir eine falsche Vorstellung von dem Göttlichen machst, dann wird sich das von Geschlecht zu Geschlecht vererben, so daß es sich als Krankheit, als Siechtum äußert.» Richtige Gedanken bewirken Gesundheit, falsche aber Krankheit. Das ist eine im echten Sinn anthroposophisch

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oder okkult gehaltene Vorstellung. Das alles muß man bedenken, sonst bekommt man keinen richtigen Begriff, keine richtige Vorstellung gegenüber diesem ersten Gebot. Es wird dem jüdischen Volke darin aufgetragen: Stelle dir ja nicht deinen Gott vor unter einem falschen Bilde. Wenn ihr vor dem goldenen Kalb hinkniet, dann fließt eine falsche Vorstellung vom Gotte in euch ein, und dies falsche Gottesbild erzeugt, indem es mit dem Blute durch die Generationen hinunterzieht, die fortwirkende Sünde, die dann in Krankheit übergeht. «Wenn du Mich nicht in dir erkennst, werde Ich als dein Göttliches verschwinden bei Kindern und Enkeln und Urenkeln, und deren Leiber werden veröden.» Du erzeugst lebensfähige Kinder, Enkel und Urenkel, wenn du die richtige Vorstellung des Göttlichen aufnimmst; sonst aber stirbt das aus, was vom Blute ab- hängt. Indem du in deinem Ich Mich, den Urquell des Ich, richtig er- kennst, geht eine Kraft über von Geschlecht zu Geschlecht, denn ein fortwirkendes Göttliches bin Ich. Aus den Leibern verschwinde Ich, wenn Ich in falscher Vorstellung in euch lebe. Das ist wiederum eine ganz okkult medizinische Anweisung. «Wenn du Mich in dir erkennst, werde Ich bis ins tausendste Glied fortleben, und die Leiber deines Volkes werden geläutert und deshalb gedeihen.» So wird das Physische gedeihen, im echt okkulten Sinne, wenn der Mensch an die richtige Vorstellung des Geistigen anknüpft. Damit zieht zugleich ein Hauch menschlicher Freiheit ein in die Menschenentwickelung: gerade auf die Spitze sozusagen des fortwirkenden Ich wird die Menschheit gestellt, und dann angeknÜpft dieses Ich an das Göttliche. Das läßt sich mit keiner anderen Gesetzgebung vergleichen, und es ist ein reiner Dilettantismus, wenn man diese Zehn Gebote zusammenstellt mit anderen Gesetzgebungen und einseitig erklärt, weil sie sich äußerlich in Worten ähneln, sie seien dasselbe. Die Gesetzgebung der Zehn Gebote vom Sinai ist einzigartig und läßt sich nur aus der einzigartigen Sendung des Moses erklären. Und wie bei diesem ersten Gebot, so ist es bei allen anderen Geboten, wenn wir sie richtig übersetzen. Es wird uns aus allen der ganze Geist der Sendung des Moses klar, in bezug auf den Ich-Impuls, der jetzt in die Menschheit eingegossen werden soll.

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Zweites Gebot. Du sollst nicht im Irrtum von Mir in dir reden, denn jeder Irrtum über das Ich in dir wird deinen Leib verderben. - Da haben Sie direkt die Notwendigkeit des geistig richtigen Gedankens hingestellt, der der eigentliche Schöpfer des richtigen gesunden Leibes ist. Irrtum über das WMten des höchsten Göttlichen in sich erzeugt Siechtum im Leibe im vollsten Maße. Es ist außerordentlich wichtig, einzusehen, daß in diesem zweiten Gebote gesagt wird: «Der Irrtum über das Ich in dir wird deinen Leib verderben.» Es gibt ein späteres Sprichwort: In einem schönen Körper wohnt eine schöne Seele. - Die moderne materielle Menschheit legt sich das zuweilen so aus: Also pflege deinen Körper wohl, dann ist auch eine schöne Seele darin. - Es ist aber so gemeint, daß eine Seele, die in sich kraftvoll ist, dadurch, daß sie aus früheren Inkarnationen etwas mitbringt, was sie durch eine Durchgeistigung der Seele sich erarbeitet hat, der richtige Schöpfer des Leibes ist und einen gesunden, kraftvollen Körper erzeugt. Nicht, daß der Körper die Seele macht; genau das Gegenteil davon ist gemeint. Da sehen wir, daß es manchmal gar nicht so sehr darauf ankommt, einen genauen Wortlaut an- zuführen. Eine jede Zeit macht sich, nach den Impulsen, die in ihr leben, eine andere Vorstellung über den gleichen Wortlaut. Je nachdem die Zeit empfindet oder gesinnt ist, wird er so oder so ausgelegt. Damit hat man nicht immer das Richtige erwiesen, daß man auf einen gleichen Wortlaut hinweist, sondern erst dadurch, daß man in die Seele der Zeit eindringt und durch sie hindurch dieses oder jenes Wort zu verstehen sucht.

Drittes Gebot. Du sollst Werktag und Feiertag scheiden, auf daß dein Dasein Bild Meines Daseins werde. Denn, was als Ich in dir lebt, hat in sechs Tagen die Welt gebildet und lebte in sich am siebenten Tage. Also soll dein Tun und deines Sohnes Tun und deiner Tochter Tun und deiner Knechte Tun und deines Viehes Tun und dessen, was sonst bei dir ist, nur sechs Tage dem Äußeren zugewandt sein; am siebenten Tage aber soll dein Blick Mich in dir suchen. - Das ist die absolut sinngemäße Übersetzung dieses dritten Gebotes. Nicht in äußerlichen Bildern muß das Göttliche im Menschen Abbild werden des Ur-Ich, sondern in dem, was dieses Ich tut,

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muß es Abbild werden des Ur-Ich, und wie das Ur-Ich geschaffen hat das Werk der Weltenschöpfung in sechs Weltentagen und am siebenten Tage in sich ruhte, so soll auch der Mensch Werktag und Feiertag scheiden, sechs Tage schaffen und am siebenten Tage das Göttliche mit Hilfe des Ich suchen. So sehen wir, in welch wunderbarer Weise in diesem dritten Gebot das Abbild des Ur-Ich in uns als das zu Gott führende hingestellt wird.

In diesen drei ersten Geboten haben wir den Hinweis darauf, wie der Mensch in dieser, mit der Sendung des Moses anbrechenden Zeit zu stehen hat dem Göttlichen gegenüber, daß sich in einer neuen Weise offenbart. In dem vierten Gebot haben wir ein Herausgehen auf den physischen Plan. Die drei ersten Gebote stellen dar, wie sich der Mensch in richtiger Weise zu den höheren Welten verhält durch die Wirksamkeit seines Ich.

Das vierte Gebot heißt: Wirke fort im Sinne deines Vaters und deiner Mutter, damit dir als Besitztum verbleibt das Eigentum, das sie sich durch die Kraft erworben haben, die Ich in ihnen gebildet habe.

Hier haben wir nicht das ganz nichtsagende «Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.» Es handelt sich darum, daß er nun auch wirklich nach außen dasjenigetut, was die Taten des Ich fortpflanzt, nachdem der Mensch in sich geistig und, wie wir es fassen konnten, sozusagen auch medizinisch das Göttliche gegründet hat, das in ihm als Tropfen wirkt. Dies vierte Gebot ist sogar ein praktisches Gebot. Es sagt: Sieh hin als Nach- komme auf deine Vorfahren; wenn du als Nachkomme im Gegensatz zu ihnen stehst, kann niemals eine ruhig gedeihlich fortlaufende Entwickelung stattfinden. Wie sich innerlich das Ich durch das Blut überträgt, so muß auch dasjenige, was äußerlich als Besitztum durch das Ich erarbeitet ist, erhalten bleiben. Das starke Ich, das sich gebildet hat, das fließt auf der einen Seite durch das Blut hinunter durch die Generationen; auf der anderen Seite aber soll dadurch, daß man das Ich stark macht, auch auf die äußere Welt gewirkt werden. Es soll bewahrt werden, was ein starkes Ich begründet hat; es soll nicht fOrtwährend die Entwickelung unterbrochen werden. Wirke fort im Sinne deines Vaters, damit auch äußerlich zusammenbleibt, was

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dein Vater und deine Mutter durch die Arbeit ihres Ich geschaffen haben. - Das ist es, was Ihnen zeigt, wie nun auch die äußeren Verhaltungsmaßregeln gegeben werden, damit nicht von außen zerstört werde, was, eine neue Kultur schaffend, als Innenimpuls gegeben wird.

Und nun kommen die Gebote, welche das Ich selbständig dem Ich des anderen gegenüberstellen, und welche in diesem Sinne die Tatsachenwelt, das soziale Leben regeln sollen. Sie sagen eigentlich dasselbe, was Paulus sagt, und was das Bibelwort umschreibt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Gal. 5, 14). - Sieh in dem anderen Menschen ebenso ein Ich wie in dir. - Als eine besondere Sendung hat dieses althebräische Volk den Impuls erhalten, das Göttliche bis In das in der Menschenseele webende Ich hineIn zu verfolgen. Deshalb mußte dieses Volk die Gebote erhalten, die nicht nur die Bewahrung des eigenen Ich, sondern auch die Achtung und die Bewahrung des Ich des anderen vorschreiben.

Fünftes Gebot: Morde nicht.

Sechstes Gebot: Brich nicht die Ehe.

Siebentes Gebot: Stiehl nicht.

Als drei Gebote auseinandergelegt das eine Gebot: Sieh in deinem Nebenmenschen ebenso ein Ich wie in dir selbst! -

Damit war in der Tat das jüdische Volk geistig aus dem Lande Ägypten geführt, dadurch, daß das Ich auch erkannt werden soll im anderen Menschen durch die Wertschätzung des anderen Ich, denn im Ägypterlande wirkte man nicht, indem man das Ich des anderen respektierte, sondern indem man dieses Ich durch Suggestion unterdrückte. Und weiter heißt:

Das achte Gebot: Setze den Wert deines Mitmenschen nicht herab, indem du Unwahres von ihm sagst. - Nicht allein durch Taten soll man das Ich des anderen nicht in seinem Rechte schädigen und beeinträchtigen, sondern man soll auch nicht einmal mit einem gesprochenen Wort sein Ich in seinem Werte herabsetzen. Man soll nIchts Unwahres über ein anderes Ich sagen. Wer etwas Unwahres über ein anderes Ich sagt, der anerkennt nicht, daß das andere Ich dasselbe ist wie das eigene Ich. So geht es systematisch fort in diesen

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Zehn Geboten. Es wird hingewiesen auf dasjenige, was sich noch schädigend äußern kann im Zusammenleben von Ich und Ich. Die Tat greift unmittelbar schädigend in die Sphäre des anderen Ich ein, das Wort schon mehr geheim. Aber, willst du im Ernste das Ich des anderen anerkennen, dann darfst du auch nicht durch deine Lüste, deine Begierde eingreifen in die Sphäre deines Nächsten. Nicht nur dadurch, daß du ihn bestiehlst, sondern schon dadurch, daß du etwas haben möchtest was er hat, greifst du in die Ich-Sphäre des anderen ein. Du erkennst die volle Gleichschätzung des anderen Ich an dadurch, daß du dich selbst nicht gelüsten läßt nach dem, was deines Nächsten ist. Daher die beiden letzten Gebote:

Neuntes Gebot: Blicke nicht mißgönnend auf das, was dein Mitmensch besitzt als Eigentum.

Zehntes Gebot: Blicke nicht mißgönnend auf das Weib deines Mitmenschen und auch nicht auf die Gehilfen und die anderen Wesen, durch die er sein Fortkommen findet.

Erst dadurch können wir in gesunder Weise das Verhältnis von Mensch zu Mensch finden, daß wir den anderen Menschen nicht mißgönnen, was ihnen zu eigen ist. So wird der Mensch neben den Menschen gestellt, daß er in jedem Ich ein Nachbild des göttlichen Ich achte und ehre. Damit war das Wesen der einzelnen Iche untereinander geregelt. Das war einer der größten geistigen Einschläge, die in die Menschheit hereingekommen sind. Noch war das nicht ausgesprochen, was durch den Christus kommen sollte, dasjenige was in dem Worte liegt, daß jeder in sich den Zusammenhang mit dem Vater finden kann. «Niemand kommt zum Vater denn durch mich.» Es war in dieser Gesetzgebung noch sozusagen der Impuls gegeben für das gemeinsame Ich, das durch die Generationen floß. Aber zugleich war gegeben die Vorherverkündigung, daß das Ich nicht nur ein Nachbild des Göttlichen ist, sondern daß Gott selber lebendige Wesenheit in diesem Ich ist. Das Ich ist der Substanz und Wesenheit nach identisch mit seinem Vater.- «Ich und der Vater sind eins.»

So sehen wir, wie die Impulse, durch die die Weltentwickelung geleitet wird, aufeinander folgen. Es ist leicht zu sagen: In der Weltentwickelung

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hängt alles wie Ursache und Wirkung zusammen, von einer weisheitsvollen Weltenlenkung und Weltenführung aber ist nichts zu erblicken. - Wenn man aber so hineinschaut in die Weltenentwickelung, wie wir es in dieser Betrachtung getan haben, da bekommen wir eine Ahnung davon, wie immer zu der richtigen Zeit das Rechte geschieht, um die Menschheitsentwickelung weiterzuführen, und dann, möchte ich sagen, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als die weisheitsvolle Führung und Lenkung in der Weltentwickelung anzuerkennen. Wenn man durch okkulte Forschung sieht, wie am Ausgange der dritten Kulturepoche in den vierten Zeitraum hinein diese Verkündigung der Zehn Gebote geschehen ist, sodaß den Menschen Zeit gelassen war, sich vorzubereiten auf das, was das größte Ereignis war, das Mysterium von Golgatha, dann sieht man, wie gerade das ein Ausdruck größter Weisheit in der Weltenlenkung ist.

Im ganzen Tone der Zehn Gebote, wenn wIr sie richtig verstehen, sehen wir, wie die Gottheit sich in der urbildlichen Art enthüllt, um auf den Moment vorzubereiten, wo der göttliche Geist sich wirklich in einem Menschen verkörpert. Damit die Menschen dahin geführt werden konnten, den Gott im Fleische, den fleischgewordenen Gott zu begreifen, mußten sie zuerst lernen, den Gott in ihrem tiefsten Inneren der Seele seiner Substanz und Wesenheit nach zu begreifen. Betrachten wir dieses Menschheitsdokument der Zehn Gebote, dann sehen wir aus dem ganzen Tone, daß in ihm die Gottheit zum Menschen spricht, und daß diese Rede durchaus im Einklang ist mit dem immer weiter Hinaustreten des Menschen auf den physischen Plan, und daß das nur richtig geschehen kann, wenn das Göttliche richtig erfaßt wird. Immer wird darauf hingewiesen, daß die Leiber gedeihen, wenn das Göttliche richtig erfaßt wird. Es wird die Anleitung gegeben, das Göttliche so zu verehren, daß auch die äußeren Dinge auf dem physischen Plan gedeihen. In der richtigen Weise wird darauf hingewiesen, daß eine gerade, eine gesunde Entwickelung stattfinden muß, damit die äußeren sozialen Zusammenhänge gedeihen.

Durch die Sendung des Moses wird geregelt, daß das Göttliche im Inneren des Menschenwesens bewahrt bleibt, daß aber das Mensiengeschlecht

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die Eroberung des physischen Planes in der richtiri Weise, im Sinne der nachatlantischen Entwickelung und im Ein- eng mit diesem Göttlichen vollziehen kann.

Verlaufe des Vortrages wurde folgende schematische Übersicht von Rudolf iner an die Tafel geschrieben (von unten beginnend):

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ÜBER DEN ERKENNTNISPFAD Pforzheim, 17. Januar 1909

Nach der Eröffnung des Pforzheimer Zweiges sind wir zum ersten Male hier wieder beisammen und werden die Zeit am besten ausfüllen, wenn wir gleich ein spirituelles Thema in Betracht ziehen, ein solches Thema, welches uns zeigen kann, daß der Mensch durch die Anthroposophie nicht nur Lehren aufnimmt, Gedanken aufnimmt, sondern in seinem Gefühls- und Empfindungsleben bereichert, beruhigt, gesichert wird. Wir dürfen uns nicht vorstellen, daß Lehren, Vorstellungen, Gedanken für unser Empfindungsleben unwichtig seien. Es ist zwar nun einmal so, daß gerade in unserer Zeit der Mensch sich sagen wird: An Gedanken, an Wissenschaft gibt es genug in der Welt und man brauchte nur dieses oder jenes Buch, das uns unterrichten soll über die Sternenwelt oder anderes, in die Hand zu nehmen, um Wissenschaft genug für den Verstand zu erhalten. Theosophie aber soll etwas sein für Gemüt oder Empfindung. - Das ist gewiß richtig, und richtig ist es, daß die Wissenschaft, wie sie uns durch populäre Vorträge und Werke entgegentritt, wenig bieten kann für Gemüt und Herz. Man darf aber daraus nicht den Schluß ziehen, daß Lehren, Anschauungen und Erkenntnisse überhaupt wertlos seien.

Geisteswissenschaftliche Erkenntnisse sind etwas anderes als Lehren der äußeren Wissenschaft. Wenn wir sie richtig in uns wirken lassen, dann verwandeln sie sich in uns in Empfindung, in Gemütsimpulse, in Gesinnungen, und auf keine andere Weise können wir Mut, Sicherheit und Kraft im Leben gewinnen, als indem wir uns in diese Erkenntisse vertiefen. Es ist etwas ganz anderes, nur die äußeren sinnlichen Dinge und Vorgänge zu kennen und zu wissen, wie die Dinge geschehen, als hinter die sinnlichen Dinge zu den geistigen Vorgängen zu dringen. Durch die geistigen Vorgänge, wenn wir sie in der Seele wirken lassen, werden wir warm, gesund und stark. Wir erkennen den Zusammenhang zwischen uns und dem, was als Geist und Seele die ganze Welt durchzieht, woraus alle Erscheinungen fiien.

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Und so wollen wir zunächst uns einmal befassen mit der Verndtschaft der äußeren sinnlichen Welt draußen, den sinnlichen ngen, und unserer Seele. Wenn wir in unsere eigene Seele blicken, nn werden wir sozusagen diejenigen Dinge, die uns am nächstenhen Leiden, Freuden, Schmerzen und Lust -, finden, und es nn die Frage entstehen: Wenn die Geisteswissenschaft uns sagt, ß alles in der Welt durchgeistigt ist, dann könnte sie ja vielleicht von reden, daß Leid und Freude, Lust und Schmerz auch in denje;en Dingen vorhanden sind, die um uns herum sind, auch in denligen Dingen, die sonst den Menschen als gefühllos, schmerzlos, pfindungslos entgegentreten. - Wir müssen uns durch die ithrnposophie aneignen, über die Dinge um uns herum in der htigen Art zu denken.

Wir sehen zum Beispiel um uns herum die verschiedenen Pflan1 der Erde, Tiere und Mineralien. Nicht allein, daß die Tiere ich uns Freude und Leid, Lust und Schmerz erleben; daran zwei- niemand. Bei den Pflanzen und der scheinbar leblosen Welt der 'ine könnten uns schon Zweifel kommen, ob da auch Gefühle, st, Freude und Schmerz enthalten seien. Das ist es eben, was wir was als Empfindung gegenüber der ganzen uns umgebenden Weltignen müssen, daß alle Wesen nicht nur physisch mit uns vernden sind, sondern die Wesen sind mit uns so verbunden, daß sie :h seelische Inhalte haben, wie wir seelischen Inhalt haben. Nur wiessen wir uns in der richtigen Art einmal vertiefen in das, was geistige, Forschung, geistige Erkenntnis darüber zu sagen hat. Es wird bst von einem mehr sinnlichen Denken in unserer Zeit begriffen, auch in der Pflanze etwas Seelisches sei, ja man wird geneigt ~, zuzugeben, daß auch in einem scheinbar leblosen Stein etwas .ölisches sein könne. Wenn man überlegt, wird man aber dennoch :ht zu Irrtümern kommen, wenn man nicht auf die Forschung Geisteswissenschaft Rücksicht nimmt, denn man kann leicht da- kommen, zu sagen: Wenn ich einem Menschen in den physi,en Leib schneide, so tut ihm das weh, ebenso beim Tiere; wenn eine Pflanze schneide, wird es ihr auch weh tun? - Und weiter achte man meinen, wenn man einen Stein zerklopfe, müsse ihm

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das auch weh tun. Gerade dadurch, weil die Menschen, wenn sie über diese Dinge nachdenken, zU sehr meinen, es müsse alles bei anderen Wesen gerade so sein wie beim Menschen selber, gerade darum, weil die Menschen das glauben, können sie sich so schwer in die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft hineindenken. Die Geisteswissenschaft läßt uns etwas ganz anderes über die Seelenwesenheit zum Beispiel von Pflanze und Stein erkennen. Da erscheint es, wenn wir die Pflanze betrachten, so, daß allerdings, wenn die Pflanze beschädigt war an Teilen> die aus der Erde in die Höhe wachsen, daß da für die Pflanze nicht etwa ein Schmerzgefühl eintritt; das tut ihr nicht weh, das Gegenteil ist der Fall. Dasjenige, was die eigentliche Pflanzenseele ist, das fühlt, wenn die über der Oberfläche der Erde befindlichen Teile der Pflanze zerstört werden, Lust, geradezu Freude. Schmerz beginnt erst für die Pflanzenseele, wenn wir die Pflanze aus der Erde herausreißen, wenn wir sie entwurzeln, und es tritt dann für die Pflanzenseele ein ähnlicher Schmerz ein, wie wenn wir zum Beispiel einem Menschen oder einem Tiere Haare ausreißen. Das ist etwas, was erst derjenige nach und nach in seiner Seele erleben kann, der den sogenannten Erkenntnispfad geht.

Diese Dinge lassen sich durch das eigene Selbst nur erleben, wenn wir unsere Seele so umgestalten, daß die in ihr schlummernden echten Erkenntniskräfte erwachen. Dann beginnt für diese Seele die Möglichkeit, mitzufühlen nicht bloß mit den anderen Menschen, sondern mitzufühlen mit der ganzen übrigen Natur, und dann wird diese übrige Natur in einer wunderbaren Weise verständlich.

Man könnte nun sagen: Ja, was haben wir von der geisteswissenschaftlichen Forschung, solange wir selbst solches nicht fühlen können. - Das wäre ein unrichtiger Einwand, wenn wir glaubten, Anthroposophie habe solange keine Bedeutung. Sie hat schon als Erzählung geistig-seelischer Tatsachen einen großen Wert. Und wenn solche Erkenntnisse zum Beispiel über das Verhältnis von Pflanzenleid und Pflanzenlust sprechen, dann sollen wir wohl nachdenken über diese Erkenntnisse und sollen solche Gedanken auf uns wirken lassen. Durch das bloße Nachdenken darüber werden die in uns befindlichen Kräfte herausgelockt und wir werden bald fühlen, daß es

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wirklich so ist, wie die Geisteswissenschaft sagt. Wir lernen aber dadurch, daß wir in die Weisheit der Natur hineinschauen, wissen, wie die Pflanzenseele Lust empfindet, wenn wir die Pflanze pflücken. Wir können eine Ahnung davon bekommen, wenn wir bedenken, was geschehen würde, wenn die Pflanze dabei Schmerzen empfinden könnte. Denken Sie nur daran, wie ein großer Teil der Wesen unserer Erde sich von den Pflanzen ernähren muß, und wie dann durch die Ernährung von Mensch und Tier über die Erde hin Schmerz ausgebreitet würde. Das ist nun nicht der Fall, sondern es geht Lust und Freude über die Erde hin, wenn das Tier auf der Weide grast. Und wer Erkenntnis hierüber hat, der fühlt ganze Ströme von Lust hinwehen über die Erde, wenn im Herbst die Sichel durch die Getreidehalme geht. Wenn das junge Tier die Milch des Muttertieres saugt, so bedeutet dies nicht Schmerz, sondern ein gewisses Lustgefühl. Wir sehen also hinein in die Weisheit der Natur, wenn wir dieses erleben.

Gegen solche Dinge darf man niemals einwenden: Ja, es kann aber unter Umständen zarter erscheinen, wenn man eine Pflanze mit der Wurzel ausgräbt und versetzt, anstatt die Blüte abzureißen. - Gewiß, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß dieses Entwurzeln dem eigentlichen Pflanzen-Seelischen Schmerz bereitet. Mutwilliges Abreißen der Blüten kann natürlich von gewissem Gesichtspunkt getadelt werden. Aber auch das ändert nichts daran, daß es der Pflanzenseele Lust bereitet. Es sieht sich eben alles von verschiedenen Standpunkten verschieden an. Es kann zum Beispiel vom Schönheitsstandpunkt aus ein Mensch denken, daß er sich die ersten grauen Haare ausreißen soll, und das mag ganz gerechtfertigt sein, aber weh tut es ihm doch. Aber auf anderes werden wir noch aufmerksam gemacht, wenn wir den Vergleich ernsthaft nehmen, daß das Ausreißen der Pflanzen so ist wie das Ausreißen der Haare der Menschen. Wir werden dann verstehen, was es heißt, wenn die Geisteswissenschaft hierbei nicht die einzelnen Pflanzen betrachtet, sondern sozusagen das Pflanzenwachstum der ganzen Erde ins Auge faßt. Wie die Haare zum ganzen Menschen gehören, so bilden die Pflanzen mit der Erde eine Einheit, und wir verstehen es auch und

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können es uns denken, daß, was wir in der Geisteswissenschaft beim Menschen das Ich nennen, nicht in der einzelnen Pflanze zu suchen ist, sondern im Mittelpunkt der Erde. Die Pflanze ist dadurch überhaupt kein Einzelwesen, sondern sie wird ein Teil eines großen Lebewesens, das also aus vielen einzelnen Lebewesen besteht, die aber alle im Mittelpunkt der Erde ihr Ich haben.

Es darf hier niemand die Frage aufwerfen: Ja, haben denn alle diese Iche da Platz? - Gewiß, denn sie sind Geist und so können sie sich durchdringen. So wird unsere Erde ein Lebewesen. So wird uns jede einzelne Pflanze etwas, was aus einem großen übersinnlichen Lebewesen herauswächst, und das an der Oberfläche wird, was die Nägel oder Haare am Menschen sind. Und wenn wir eine solche Sache ernsthaft nehmen, dann reden wir nicht mehr bloß in trockenen Verstandesbegriffen von einem physischen Planeten, auf dem wir wohnen, sondern dann fühlen wir, daß nicht nur wir selbst Lebewesen sind, sondern daß wir verbunden sind mit einem großen Lebewesen, das unser Planet selber ist. Wir lernen auf das Geistige dieses Lebewesen achten und wir lernen, daß es mehr ist als ein Vergleich, wenn in dem Safte, der durch die Pflanze fließt, etwas gesehen wird wie das Blut, das durch den Menschenkörper fließt. Wir lernen das in unserem Gefühl verwandeln, indem wir die Dinge geistig auffassen.

Wenn wir eine Pflanze berühren, empfinden wir GeistigSeelisches, fühlen uns geborgen im Geistig-Seelischen. Und dann wird es für uns allmählich möglich werden, etwas dabei zu denken, wenn uns in der Geisteswissenschaft gesagt wird: Diese Erde hat mannigfaltige Verwandlungen durchgemacht. Man findet, wenn man in urferne Vergangenheiten zurückgeht, daß diese Erde ganz anders ausgesehen hat, daß zum Beispiel so festes Gestein wie heute, solche Felsmassen nicht vorhanden waren. Eine Zeit war da, wo die Erde zunächst nur bestanden hat aus Luft und Wasser und einem gewissen Wärmezustand. Erst nach und nach ist eine feste Masse aus Flüssigem und Weichem entstanden. Und wenn wir diese ganze Entwickelung betrachten, dann erscheint es uns so, wie wenn in der Tat die ganze Erdenentwickelung ein Wachsen und Gedeihenäre.

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Einmal war die Erde jung, einmal wird sie alt und greisenLft sein.

Wir dürfen alle diejenigen Vorstellungen, die wir auf uns selbst wenden, auch auf unsere Erde anwenden, dann werden wir verste.n, daß es in unserer Erdenentwickelung gewisse besonders wichtiPunkte gegeben hat. Wir werden uns solche wichtige Punkte unrer Erdentwickelung vor unsere Seele rücken können, wenn wir lgendes bedenken: Schon aus dem Pflanzenwuchs unserer Erde bben wir erkannt, daß die Erde, wenn wir sie ganz betrachten, ein .>bewesen ist. Ebensolche Lebewesen sind die verschiedenen anden Himmelskörper, die zu uns in gewisser Beziehung stehen. Beichten wir zunächst unsere Sonne und unseren Mond. Betrachten die Sonne. Sie alle wissen, was wir der Sonne verdanken. Sie alle ssen, daß, wenn Sie des Nachts geruht haben, wenn Sie in jenem wußtseinszustand waren, welcher für den Menschen dadurch herigeführt wird daß astralischer Leib und Ich den physischen Leib id den Ätherleib verlassen, - Sie wissen, wenn der astralische Leib d das Ich wiederum zurückkehren, daß sie dann sozusagen alles sjenige erwartet, was die Erde der Sonne verdankt. Was wäre die 'de ohne die Sonne? Die Sonne ist es, die um uns herum den nzen Erdenstoff ausstattet mit Wärme und Licht. Aber wir haben einer solchen Wirkung eines Himmelskörpers auf den anderen :ht bloß etwas Stoffliches und Materielles zu denken, wir müs1 uns klar sein, daß diese Sonne nicht nur der physische Körper , der da im Weltenraum schwebt, sondern daß diese Sonne bevölrt ist von geistigen Wesenheiten, und daß uns mit jedem Sonnenahl nicht bloß physisches Licht, sondern geistige Wirkungen strömen.

Ein geistiger Austausch zwischen Sonne und Erde war immer da; hat sich aber im Laufe der Erdenentwickelung wesentlich veränrt,. Während im Physischen durch viele, viele Millionen Jahre kein besonderer Unterschied in der Wechselwirkung zwischen Sonne d Erde eingetreten ist, so ist gerade im Geistigen ein bedeutungs11er Punkt in dieser Wechselwirkung eingetreten. Hohe Wesenlten sind es, die im Licht und in der Wärme der Sonne leben und

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von dort auf die Erde hereinwirken und uns Licht und Wärme zuströmen lassen.

Eine Sonnenwesenheit, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt ihren Schauplatz in der Sonne hatte, die man durch lange, lange Erdenzeiten nur schauen konnte, wenn man die Geister der Sonne hellseherisch schaute, sie hat sich zu einem gewissen Zeitpunkt von der Sonne zu der Erde herunterbegeben. Das ist dasjenige, was uns tief hineinschauen läßt in die geistige Erdenentwickelung: Durch das Ereignis, das wir nennen das Mysterium von Golgatha, oder mit anderen Worten, durch das Wandeln des Christus auf der Erde, hat sich der Geist, der bis dahin auf der Sonne war, mit der Erde vereinigt. Er hat sich verbunden mit der Erde. Und daß die Menschheit die Erdenzeit einteilt in eine vorchristliche und eine nachchristliche, das hat seinen Grund darin, daß jenes Lebewesen, das wir als Erde ansprechen, in der Tat eine wichtige Entwickelung durchgemacht hat durch das Erscheinen des Christus auf Erden. Was vorher bloß in der Sonne zu finden war, seither ist es im astralischen Leibe der Erde zu finden. Der Astralleib der Erde hat sich durch das Mysterium von Golgatha geändert: In demselben Augenblick, in dem das Blut aus den Wunden des Erlösers auf Golgatha geflossen ist, in demselben Augenblick fühlte sich der Christus-Geist mit dem Erdenleib vereinigt.

Das muß man verstehen, um dasjenige, das uns aus der Geschichte des Christentums berichtet wird, im richtigen Sinne aufzufassen. Man kann sich fragen: Was war denn eines der wichtigsten Ereigni& se in bezug auf die Ausbreitung des Christentums? Wenn man die Ausbreitung des Christentums ins Auge faßt, muß man sich sagen: Mehr zunächst als diejenigen, die in Palästina leibliche Genossen des Christus Jesus waren, mehr als diese haben tun können, hat Paulus getan, Paulus, der kein leiblicher Genosse des Christus Jesus war, der sogar die Christen verfolgt hat. Paulus wurde nicht ein Gläubiger dadurch, daß er an dem Leben und Leiden des Christus teilgenommen hat, sondern er wurde ein Kämpfer für Christus durch das Ereignis von Damaskus.

Es wird in der Theologie viel Staub über das Ereignis von Damaskus

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aufgewirbelt. Aber niemand kommt anders zum Verständnis des Ereignisses von Damaskus als durch Geisteswissenschaft. Versuchen Sie das in Einklang zu bringen mit einigen wenigen Worten, die nun gesprochen werden. In dem Augenblick, als des Paulus Verstandesbewußtsein in höheres Bewußtsein verwandelt wurde, in dem Augenblick, was schaute er da? Er schaute in diesem Augenblick jenen Geist in der astralischen Welt, der der Erdengeist geworden war, er schaute den lebendigen Christus, der seit dem Ereignis von Golgatha mit der Erde vereinigt ist. Man frägt auch wohl: Was ist das Licht, das er sah, das man vorher nicht hätte sehen können? - Paulus hat zuerst den Christus kennengelernt, der seit dem Ereignis von Golgatha mit der Erde vereinigt ist. Und so dürfen wir diesen wichtigen Punkt in der Erde so einzeichnen, daß wir sagen: Es hat sich die Erde vorbereitet darauf, ein würdiger Leib zu werden für den ChristusGeist, und als die Erde vorbereitet war, hat sich der Christus-Geist mit der Erde vereint, und seit der Zeit wirkt der Christus-Geist in ihr. Christus hat nach dem Johannes-Evangelium gesagt: «Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.» Der Mensch, der auf der Erde wandelt, der tritt die Erde mit Füßen. «Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen», das ist nur ein Ausdruck für das Geheimnis in diesem wichtigen Punkt unserer Erdenentwickelung.

Und wie unendlich tief wird uns die Einsetzung des Abendmahles unter diesem Gesichtspunkt, daß die Erde von da ab der Leib wurde des Christus! Wie bedeutsam wird durch die Hinweisung darauf das Wort: «Dies ist mein Leib», und das, was als Saft durch die Pflanzen fließt: «Dies ist mein Blut.» Wir lernen wörtlich zu nehmen, was nur richtig wörtlich genommen werden darf. So wird uns, wenn wir die Erde als lebendig betrachten, sie ein Lebewesen, das sozusagen nach und nach heranreift, um im richtigen Zeitpunkt reif zu werden zur Aufnahme der Christus-Seele.

So erscheint uns von allen Seiten her dasjenige, was uns als physischer Planet entgegentritt, geistig; es erscheint uns durchgeistigt. Wir lernen den Zusammenhang verstehen zwischen dem, was uns in der Alltäglichkeit begegnet, und dem Übersinnlichen. Und wenn wir den Blick wenden vom Pflanzenreich zum Steinreich, dann ist es

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nicht so, daß sich dem hellseherischen Bewußtsein Schmerz ergeben würde, wenn ein Stein zu Staub zerklopft wird; im Gegenteil: wenn Steine in Staub zerklopft werden, dann empfindet dasjenige, was wir die Steinseele nennen können, Lust und Freude. Derjenige, der das Schauen hat, der weiß, daß mit dem Zerklopfen der Steinwelt Freude ausströmt aus dem Gestein. Wenn man beispielsweise in einem Glas Wasser Salz auflöst, so verbreitet sich Lust in dem Wasser, weil die Salzteilchen auseinandergehen. Das Umgekehrte ist der Fall, wenn durch Abkühlen der Lösung das Salz wieder herauskristallisiert wird; durch Zusammendrängen der Gesteinsteile entsteht Schmerz. Und wir schauen wiederum tief hinein in die Art und Weise, wie der Eingeweihte zu uns spricht, wenn er so etwas den Menschen sagen will.

Es werden die Dinge nicht so einfach gesagt. Man muß geistig etwas durchmachen, um zum Verständnis der größten religiösen Urkunden zu kommen. Es ist schon gesagt, daß auf der Erde ursprünglich kein festes Gesteinsreich existiert hat, die Erde war flüssig. Ihre Festigkeit ist erst entstanden, indem die Teile sich zusammenzogen, sich verfestigt haben. Was verdanken nun Menschen und Tiere dem, daß die Erde sich so verdichtet hat? Doch das, daß auf ihr Menschen und Tiere in der heutigen Weise leben können. Ohne den festen Grund und Boden hätte die Erde nicht den Grund für Menschen und Tiere abgeben können. Und nun stellen wir uns einmal so recht mit unserer Seele vor, daß es eigentlich ein seelischer Vorgang ist. Das hat man wenig begriffen, wenn man es nur mit dem Verstand des Physikers verfolgt. Erst wenn man mit dem Auge und Herzen des Geistes den Werdegang der Erde verfolgt, dann verspürt man, daß in dem, was dem Steinreich zugrunde liegt, sich ein seelischer Prozeß abspielte, während die Erde sich verfestigte. Es spielte sich Leid und Schmerz ab, und dem verdanken Menschen und Tiere, daß sie auf der Erde wohnen können.

Das ist die Tatsache, die zugrunde liegt, wenn Paulus, der nach seiner Einweihung in diese Dinge hineinschauen konnte, die Worte ausspricht: «Alle Kreatur leidet und seufzet unter dem Schmerz der allmählichen Verfestigung, alle Kreatur seufzt, der Vergeistigung

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harrend.» Er weist uns mit diesen tiefen Worten auf das Innere, auf das Gemüt des Erdenwesens hin. So wird uns alles durchseelt, wenn wir es im Lichte der Geisteswissenschaft betrachten, und nur da- durch, daß wir Seele und Geist in allem erblicken, wird uns nach und nach die Welt und alles um uns herum mehr und mehr verständlich. Uns wird dann verständlich, daß die Welt, wie wir sie um uns herum haben, wie die Physiognomie, wie der äußere Ausdruck des inneren Lebens ist. Dann werden wir begreifen lernen, daß die Welt überhaupt so aussieht, wie sie zunächst für den Menschen aussieht. Und weiter lernen wir begreifen, daß hinter allem Physischen eben das Seelisch-Geistige ist, das auch Ursprung von allem Physischen sein muß, und daß, wenn der Geistesforscher uns zurück- führt, er uns zeigt, wie in ferner, urferner Vergangenheit aus dem Geistigen heraus sich nach und nach alles entwickelt hat. Der Mensch vor allen Dingen ist aus der geistigen Welt in die physische Welt allmählich heruntergestiegen, und man muß sich diesen Herunterstieg in die physische Welt nicht so grob vorstellen, wie eine materialistische Anschauung dies heute tut, sondern wir müssen uns fragen: Woher kommt denn überhaupt diese materielle Welt, die da rings um uns sich ausbreitet?

Es gab für den Menschen eine Zeit, wo er durchaus geistig war, wo er eingebettet war in das Seelisch-Geistige. Der Mensch ist aus diesem Seelisch-Geistigen heraus eben entwickelt, und dies ist nach und nach geschehen. Wenn wir nur verhältnismäßig kurze Zeit zurückblicken - wenn die Zeiträume auch lang sind, für den Geistesforscher sind sie doch kurz zu nennen -,50 finden wir, daß unsere Erde nicht immer so aussah wie heute, sondern ihr Anlitz durchaus verändert hat, vor allen Dingen durch das Ereignis der Sintflut, die in der Geisteswissenschaft unter dem Namen der atlantischen Überflutung genannt wird. Unter dieser atlantischen Überflutung haben wir uns zu denken, daß durch Luft- und Wasserwirkungen das Antlitz der Erde vollständig umgewandelt worden ist. Vorher wohnten die Menschen auf einem Gebiete der Erde, wo heute der Atlantische Ozean ist. Da war Land, da wohnten eigentlich einmal unsere Seelen in den vorhergehenden Verkörperungen in den atlantischen Leibern.

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Wenn wir den Menschen ganz im Anfange dieser atlantischen Zeiten geisteswissenschaftlich betrachten, so erscheint er uns seiner Seele nach ganz anders als heute. Er erscheint uns in den ersten atlantischen Zeiten so, daß er alles ganz anders wahrgenommen hat als später. Heute, wenn der Mensch während seines Tagwachens den Blick um sich wendet, so nimmt er um sich die Gegenstände in Farbe und Licht wahr. Wenn des Abends physischer und Ätherleib vom Ich und Astralleib verlassen werden, verschwindet diese Welt. Man nennt dies Bewußtlosigkeit.

In der ersten atlantischen Zeit war dies nicht so, da breitete sich nicht Bewußtlosigkeit aus um den Menschen herum, wenn er während der Nacht in einen anderen Zustand überging. Da tauchte damals alles das auf, was`-Seele und Geist der physischen Welt ist. Der Mensch hatte zum Beispiel Blumen gesehen, bevor er einschlief. Im Schlafe nahm er wahr, was Geistig-Seelisches in der Blume war in der geistig-seelischen Welt. Dafür war das, was wir heute physisch nennen, die äußeren Gegenstände, nicht so scharf abgetrennt wie heute, sondern der Mensch sah diese wie in Nebel und von Farbrändern umgeben. So sehen wir, wie auch die Seele nach und nach ihr An- schauen verändert hat. Und wenn wir noch weiter zurückgehen, so werden wir finden, daß die Seele ganz nur Geistiges gesehen hat, weil sich das Physische aus dem Geistigen noch nicht verdichtet hatte.

Nun war dem Menschen sozusagen auf unserer Erde ein wichtiger Punkt seiner Entwickelung vorbehalten, und der lag gerade in der Mitte der atlantischen Entwickelung. In der Mitte der atlantischen Entwickelung würden die Menschen, wenn nicht ein gewisses Ereignis schon vorher eingetreten wäre, nicht aufgehört haben, die geistige Welt mit ihrem nächtlichen Bewußtsein zu sehen. Wenn nicht ein bestimmtes Ereignis eingetreten wäre, so würden die Menschen in der Mitte der atlantischen Zeit zum Beispiel nicht irgendeinen Gegenstand, eine Blume, gelb gesehen haben, sondern es wäre ihnen der Geist der Pflanze erschienen. Daß dies anders geschehen ist, das rührt davon her, daß der Mensch schon früher den Einfluß Luzifers und seiner Scharen über sich hatte ergehen lassen. Er würde sozusagen unbewußt gegenüber der äußeren physischen Welt gewesen

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sein; sie wäre ihm durchsichtig erschienen. Er hätte hinter ihr überall die geistige Welt gesehen.

Was trat nun dadurch ein, daß sich die physische Welt nicht wie eine durchsichtige Kristalldecke über die geistige Welt breitete, sondern daß sie undurchsichtig wurde? Dadurch, daß die geistige Welt verdeckt war, kam die Möglichkeit, daß noch ein anderer Einiluß ausgeübt werden konnte, der Einfluß des Ahriman, oder, wie Goethe ihn nennt, des Mephistopheles. Dadurch konnte derjenige Geist, der der ahrimanische genannt wird, eindringen, so daß zu einer gewissen Zeit Irrtum und Illusion eintraten. Dasjenige, was wir Maja nennen, Illusion, konnte sich hineinmischen in die Auffassung der Welt. So steht hinter all demjenigen, was in der physischen Welt ist, dasjenige, was die Bibel den Fürsten dieser Welt nennt. Sein Einiluß ist überall hineingemischt. Ohne diesen Einfluß würde die Materie durchsichtig erscheinen und würde hinter sich das Geistige zeigen. Nun aber ist für den Menschen durch all diese Vorgänge auch innerlich-seelisch eine gewaltige Veränderung eingetreten. Wenn wir den Menschen betrachten, wie er sich auf der Erde entwickelt hat, so sehen wir, wie in einer gewissen Zeit der luziferische, zu einer anderen Zeit der ahrimanische Einfluß sich geltend machte.

Wenn wir zurückblicken in diejenige Zeit, in welcher der Mensch noch geistig war, wo das Feste sich noch nicht herauskristallisiert hatte, dann sehen wir, wie Naturkräfte und Menschheit noch nicht so getrennt waren wie heute. Sie standen sich zu jener Zeit noch viel näher, als die Erde noch mit wässerigem Element durchsetzt war. Als die Erde nOch weicher war und der Mensch noch geistiger, da hatte Menschendenken und Menschenfühlen noch einen Einiluß auf die Naturkräfte. Wenn wir hinter die atlantische Zeit zurückgehen, so finden wir: Da der menschliche Wille böse wurde, hatte er einen ganz bestimmten Einfluß auf das Feuer, und es ging einstmals ein großer Teil der Erde dadurch zugrunde, daß die Menschen durch den luziferischen Einfluß, dem der Mensch in anderer Hinsicht ja seine Freiheit und Selbständigkeit verdankt, böse Instinkte entwickelte. Also das, was wir Naturkräfte nennen, hing in der atlantischen Zeit zusammen mit dem Fühlen des Menschen.

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Es ist nun das eingetreten, daß, nachdem die Menschen sozusagen durch den luziferischen Einfluß selbständig geworden waren, ihnen die Möglichkeit entzogen wurde, auf die Naturkräfte durch ihren Willen Einfluß zu haben. Es wurde dem Menschen allmählich der Einfluß auf die Naturkräfte entzogen. Das ging Hand in Hand mit dem Einfluß des Ahriman, daß dem Menschen die geistige Welt verhüllt wurde. Würde der Mensch noch die geistige Welt sehen können, so hätte er noch den Einiluß auf die Naturkräfte. Dem einzelnen Menschen wurde dieser Einfluß dadurch entzogen, der ganzen Menschheit jedoch nicht. Der einzelne Mensch hat auch heute tatsächlich sehr wenig direkten Einfluß auf die Naturkräfte, dafür aber die ganze Menschheit in ihrer Gesamtheit, und wenn wir uns die ganze Menschheit vor Augen stellen, dann werden wir dementsprechend auch sehen, daß es neben dem Karma des einzelnen ein Karma der ganzen Erde geben muß, der Gesamtmenschheit der Erde.

Das ist eine Folge davon, daß einmal luziferischer und einmal ahrimanischer Einfluß da war. Denn dieses Wesen, das wir mit Ahriman bezeichnen, steht eben in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit den Feuergewalten der Erde, welche sich von dem unmittelbaren Einfluß des einzelnen Menschen zurückgezogen haben. Diese Feuergewalten der Erde sind ein Lebenselement der ahrimanischen Geister und durch Ahrimans Einfluß ist das Gesamtkarma des gesamten Menschengeschlechts mit dem Karma Ahrimans in gewisser Weise verbunden. Wenn gewisse seelische Gesinnungen und Ereignisse in der Menschheitsentwickelung eintreten, dann macht sich auch wiederum der Zusammenhang zwischen den Menschen und dem Ahriman geltend, und das, was der Mensch früher selbst gekonnt hat, auf Naturereignisse Einfluß ausüben, das geschieht heute durch Ahriman und seine geistigen Genossen.

Immer wenn Ahriman sich rührt, dann weist das auf nichts anderes hin, als daß in der Menschheitsgeschichte etwas vorging, was Ahriman angezogen hat, was ihn in Aufruhr und Wüten gebracht hat. In den Seelen der Menschen geht etwas vor, geht zum Beispiel vor, daß ein großer Teil der Menschen in den Materialismus verfällt. Das bewirkt, daß Ahriman sich in seinem Element rühren kann, daß er

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ein Lebenselement hat, denn menschlicher Materialismus ist ihm lieber, als wenn die Menschen sich vergeistigen. Ahriman weckt Stürme, Vulkanausbrücke und Erdbeben. Hier haben wir wieder etwas, wo wir sehen, wie Natur und Geist zusammenhängen. Es geht nichts vor auf der Erde, was nicht mit Geist zusammenhängt. Unsere Seele hängt mit ihren guten und bösen Taten zusammen mit dem, was in der Erde vor sich geht. Wenn richtend in Erdbeben die Erde tobt, dann dürfen wir niemals sagen, das hängt von dem Karma einzelner Menschen ab, sondern das ist Karma der Gesamtmenschheit. Jeder kann an sein eigenes Herz pochen und sagen: Mein Einzelkarma ist es auch, der einzelne mußte hier zugrunde gehen, weil gerade hier das Ventil der Erde sich öffnen mußte. In der Zukunft wird ihm das vergolten. - Eine materialistische Weltanschauung wird sagen, das sei abergläubisch, aber wer so sagt, der weiß nicht, wie kindisch er redet. Wie keine Blume wächst ohne geistigen Grund, ohne daß sie Ausdruck ist von Geist und Seele, so ist kein Erdbeben, kein Vulkanausbruch ohne geistigen Grund ohne geistige Ursache. Wenn wir, wie gesagt, Karma ins Auge fassen, dann macht sich das für das ganze Menschenleben geltend.

Nur dann, wenn wir die geisteswissenschaftlichen Lehre nicht in Bewegung bringen, erscheint sie kühl und nur für den Verstand berechnet. Wenn wir aber unser Gefühl, unsere Gesinnung und unsere Empfindungen ganz von ihr durchdringen lassen, dann werden wir die Erde sehen als belebtes Wesen, durchseelt und durchgeistigt, werden sehen, daß mit diesem Erdenleib verbunden sind geistige Wesenheiten der verschiedensten Art, daß ein wichtiges Ereignis eingetreten ist, das in seiner Wirkung erst im Anfang steht: das Erscheinen des Christus auf Erden. Durch Christus ganz allein werden die Folgen der Macht Ahrimans vertrieben. Dadurch, daß Geisteswissenschaft die Menschenherzen mit jenem Christus-Geiste durchdringen wird, dadurch wird dasjenige, was als Gesamtmenschheitsgeist sich auf der Erde ausbreitet, es selbst können, daß die Erde auch in ihren Naturelementen zum Frieden und zur Eintracht geführt wird.

Wenn alle Menschenherzen in wahrem Sinne den Christus-Geist erleben werden, dann wird die Kraft, die daraus strömen wird, so

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stark sein, daß sie Feuer und Wasser besänftigen wird. Dann wird der Christus-Geist Friede und Eintracht in die Naturelemente hineInschaffen, und die Erde selbst wird Ausdruck des Geistes sein. Der Erdenleib, der ein lebendiges Wesen ist, wird sanft und mild werden, um aufzusteigen mit Menschengeist und Menschenseele zu seiner Vergeistigung. Zu einem hohen geistigen Dasein wird die Erde auf- steigen. Man kann das als ein hohes, fernes Ideal hinstellen, aber wir können uns mit ihm in jedem Augenblick durchdringen. Kein Augenblick ist für die Entwickelung der Menschheit verloren, der so angewendet wird, daß die Menschen sich mit den Erkenntnissen und Willensimpulsen des Geistigen durchdringen.

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FRAGEN DES KARMAGESETZES St. Gallen, 21. November 1909

Aber Wiederverkörperung und Karma soll heute abend im öffentliien Vortrag gesprochen werden, und es dürfte vielleicht gerade als chtig bezeichnet werden, wenn wir hier einmal zum Gegenstand unseres Zweigvortrages jetzt eine Betrachtung wählen, die auf einige ragen des Karmagesetzes näher eingeht und in gewisser Beziehung ne intimere Ergänzung zu dem bildet, was im öffentlichen Vortranur in einer allgemeinen Charakteristik gegeben werden kann. Karma, das große Gesetz des Daseins, das Schicksalsgesetz, man inn es sozusagen besprechen in den allerersten Anfangsgründen ,der Geisteswissenschaft, denn es ist etwas, das zu den elementarsten ingen der Weltauffassung gehört. Die intimeren Fragen aber sind solche, daß, um sie zu verstehen, wiederum ein Vertrautsein mit der eisteswissenschaft dazugehört, wie es nur gefunden werden kann, wenn man eine Weile mitgearbeitet hat in einer Arbeitsgruppe und sich nicht leere Theorien angeeignet hat, sondern das, was ganz unvermerkt aus den spirituellen Lehren in die Menschenseele einfließt: eine gewisse Art von Empfindungen und Gefühlen. Das ist ja etwas, as jeder geistig Strebende bald bemerkt, daß die Geisteswissenhaft etwas anderes ist als eine andere Weltanschauung, da sie uns solche Begriffe und Ideen gibt, die sich umwandeln in unseren Hern in Gefühle und Empfindungen, und daß wir andere Menschen rden durch sie, Menschen mit einer ganz anderen Art und Weise, in Mitmenschen gegenüberzutreten.

Diese Art von Vorbereitung ist gemeint, wenn von einer relativen inneren Reife die Rede ist, die man sich in dieser Weise durch isteswissenschaft aneignet. Wir wissen, daß Karma zunächst beutet die geistige Verursachung eines späteren Ereignisses, einer äteren Eigenschaft oder Fähigkeit des Menschen durch ein Vorhergehendes. Gleichgültig, ob diese geistige Verursachung auftritt in dem Leben zwischen Geburt und Tod, oder ob sie sich als das große Schicksalsgesetz der Menschheit durch die verschiedenen Erdenleben

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hindurchzieht, so daß die Ursachen für etwas in einem Leben Geschehendes in einem vorhergehenden oder einem weit zurückliegenden Leben liegen - dieses Gesetz, dieses umfassende Schicksalsgesetz ist das, was wir Karma nennen. Nun kann man wahrhaftig über Karma, wenn man es in seinen Einzelheiten betrachten will, viele Monate sprechen und noch länger, und erst langsam und allmählich eignet man sich die Dinge an, die damit verknüpft sind. Daher kann man in einem Vortrage nur in erzählender Weise die Tatsachen des Karmagesetzes angeben, und darin zeigt sich dann die Reife des geisteswissenschaftlich Strebenden, daß er diese Dinge nun hinnehmen kann als Tatsachen, als Ergebnisse und dann weiter darüber nachdenkt und sie im Leben aufsucht. Das einzelne Leben zeigt in den verschiedensten Arten die Wirkungen des Karma; nur geht die menschliche Lebensbetrachtung gewöhnlich nicht sehr weit. Die Menschen überschauen gewöhnlich sich selber oder ihren Mitmenschen mit Aufmerksamkeit nur eine kurze Zeit des Lebens, weil ihr Blick nicht durch das geistige Auge geschärft ist.

Wie wenig dies der Fall ist, das möchte ich zuerst erörtern, damit Sie einen Begriff davon bekommen, wie der geistige Blick im gewöhnlichen Leben anzuerziehen ist. Durch eine Art persönlichen Erlebnisses soll dies geschehen. Einige von Ihnen werden es schon wissen, daß ich fünfzehn Jahre meines Lebens damit zugebracht habe, Erzieher zu sein, wobei mir die verschiedensten Fälle erzieherischer Tätigkeit oblagen, auch schwierige vielleicht, wo Probleme vorlagen, die nur durch längeres Beobachten und Studieren gelöst werden konnten. Daß mir bei solcher Lebenstätigkeit Gelegenheit geboten war, Beobachtungen anzustellen nicht nur bei den mir unmittelbar unterstellten Kindern, sondern auch bei deren Verwandten, den Cousins, die ja immer da waren, das leuchtet ein. Man sieht dann, wie sie heranwachsen, und man kann da einen großen Kreis von in die Welt tretenden Menschen beobachten. Nun, wer dann das Leben ein wenig verfolgt, geschärft mit dem geistigen Blicke, der kann schon an solchen Einzelheiten manches wahrnehmen. So zum Beispiel war in der Zeit, als von mir jene Tätigkeit ausgeübt wurde, eine weit verbreitete, damals aber außerordentlich angesehene ärztliche

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Unsitte im Schwung, die darin bestand, daß man die Kinder dadurch «bei Kraft» erhalten wollte, daß man ihnen täglich ein kleines Gläschen Rotwein gab. Es war damals Mode, daß die Ärzte den kleinen Knirpsen zu einer Mahlzeit ein Gläschen Rotwein verabreichen ließen. Von den Eltern wurde diese Vorschrift gewissenhaft ausgeübt. Nun hatte ich Gelegenheit, solche Kinder zu beobachten, bei denen dies geschehen war, und solche, bei denen es nicht geschah. Man kann dann, wenn man im Leben steht, in der verschiedensten Weise wieder Menschen beobachten, die noch Kinder waren, als man sie kennengelernt hat. Die Kinder, die damals mit diesem Wein traktiert worden sind, sie sind jetzt Leute von sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren.

Ich habe da also in der mannigfaltigsten Weise Gelegenheit gehabt, nicht bloß ein paar Jahre zu betrachten, sondern auch größere Zeiträume zu überschauen. Die Menschen, die damals, als ich sie kennenlernte, ein bis drei Jahre waren und jetzt achtundzwanzig Jahre alt sind, kann man genau in zwei Gruppen einteilen: in jene, die damals ihr Gläschen Rotwein mitbekommen hatten zur «Lebensstärkung», und in jene, die dies nicht bekamen. Die ersteren sind Leute geworden, die heute alle, im physischen Sinne geredet, mit ihrem Nervensystem - geisteswissenschaftlich geredet mit ihrem Astralleib - furchtbar zu kämpfen haben. Es sind Leute geworden, denen das fehlt, was man nennt: energisch festhalten an einem Lebensziel, Rückgrat haben; während jene, die in ihrer Jugend ohne Wein ausgekommen sind, Menschen geworden sind, die Rückgrat haben, die fest begründet sind, die wissen, was sie wollen die nicht nötig haben, in der Zeit, in der es ihnen ihre Geschäfte am wenigsten erlauben, da und dort hingehen zu müssen zu ihrer Erholung, und die, weil sie zappelige Menschen geworden sind, diese Erholung doch nicht erhalten. Die anderen dagegen sind festere Individualitäten geworden. Ich will nicht bloß darauf hinweisen, wie es ist, wenn man nach Jahren wieder an einen solchen Menschen herantritt, sondern darauf, daß das Leben sich etwas anders ausnimmt, wenn man es auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung hin betrachtet, nicht bloß so weit betrachtet, als die Nase des Menschen reicht,

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sondern auch die größeren und tieferen Zusammenhänge der Ursachen und Wirkungen.

Auch das ist Lebensbeobachtung im höchsten Grade, wenn wir den Menschen in bezug auf die Eigenschaften, die innerer, karmischer Natur sind, zu beobachten suchen. Es ist leider Tatsache, daß gewöhnlich der Mensch nicht den Anfang des menschlichen Lebens mit seinem Ende in Zusammenhang bringt. Man beobachtet wohl Kinder, aber wer hat die Geduld, dort, wo er die Möglichkeit hat, das zu beobachten, was sich ergibt, je nachdem des Menschen Seelenleben in den ersten Kindesjahren in gewisser Weise gewesen ist> und dann wiederum, wie das Leben ist, wenn der Lebenslauf zur Neige geht? Und dennoch zeigt sich da ein ganz bestimmter karmischer Zusammenhang zwischen Anfang und Ende des Lebens. Es liegen für gewisse Dinge, die am Ende des Lebens oder in der zweiten Hälfte desselben auftreten, ganz bestimmte Ursachen in den ersten Jahren oder der Jugendzeit des Lebens zugrunde.

Nehmen wir einen konkreten Fall, zum Beispiel einen Menschen, der in früher Jugend zornig, jähzornig ist, der leicht geneigt ist, jähzornig zu werden über etwas, was in seiner Umgebung geschieht. Dieser Zorn und hauptsächlich der Jähzorn, der bei Kindern auftritt, kann eine zweifache Gestalt annehmen. Er kann sozusagen bloß das sein, was man eine Unart nennt, was in gewisser Weise bloß ein Ausbruch, ein wutartiger Ausbruch eines übergroßen Egoismus ist. Aber er kann noch etwas anderes sein. Man muß lernen, insbesondere als Erzieher, diese zwei Arten voneinander zu unterscheiden. Der Zornausbruch bei einem Kind kann auch das sein, was uns entgegentritt, wenn ein Kind sieht, daß in seiner Nähe eine Ungerechtigkeit geschieht. Ein Kind hat noch nicht die Urteilskraft, kann noch nicht mit dem Verstand sich sagen, was da geschieht. Würde man versuchen zu erklären, daß das, was da geschieht, kein Unrecht sei, so würde man bald die Überzeugung gewinnen, daß das Kind dies noch nicht verstehen kann. Daher ist es in der Weltordnung, in der geistigen Weltenführung begründet, daß das, was später als Urteilskraft auftritt, in der Kindheit in Form von Affekten, Emotionen zutage tritt. Das Kind kann noch nicht verstehen, was

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da geschieht, aber es wird zornig. Dieser Zorn, dieser Affekt ist eine vorhergehende Seelenverkündigung dessen, was später die Urteilsaft ist. Diese zwei Arten von Zorn und Jähzorn müssen ganz gew voneinander unterschieden werden. Der Zorn im ersten Falle ,uß so behandelt werden, daß also das Kind diesen Zorn womög:h dadurch auslebt, daß man es in einer richtigen Weise die Wiringen dieses Zornes wirklich fühlen läßt und auch das Unrechte des Zornes. Denn wenn man zum Beispiel dem Kinde immer gewisrmaßen aus Liebe das tut, wodurch es die Erfüllung seines Willens .kommt, dann verfehlt der Zorn seine Wirkung. Der Zorn hat imer eine Wirkung in der Seele. Wo Zorn in der Seele auftritt und cht dadurch gelöst wird, daß er das erreicht, was er erstrebt, Filägt er sich in das Innere zurück. Und das ist gut. Deshalb nenntor Volksmund, der oftmals ein feines Gefühl für so etwas hat, an rschiedenen Orten, wo die deutsche Sprache gesprochen wird,den Zorn «Gift». Zornig sein, nennt man: sich giften. Dieses Wort wirklich den Tatsachen des seelischen Lebens entnommen. Der Zorn tritt in die Seele ein, und durch die Wirkung des Zornes im Inren, wenn er sich zurückschlägt, wird der überschüssige Egoismus hinausgedrängt. Also auch der Zorn hat sein Gutes. Er ist ein Erzieher des Menschen, er wirkt wie ein solches Gift, das den überschüsen Egoismus dämpft.

Etwas ganz anderes ist der Zorn, der auftritt, wo ein Kind ein Un:ht sieht. Dieser Zorn ist ein vorausgenommenes Urteil. Es ist ge:htfertigt. In diesem Falle darf man nicht bloß zu strafen versun dadurch, daß man straft, würde man den Zorn ins Innere zu:kschlagen -, sondern man muß versuchen, diesen Affekt beim öde zu benützen, um ihm nach und nach ein Verständnis beizungen, ihm die Urteilskraft beizubringen. Dieser Zorn ist dadurch überwinden, daß man die Urteilskraft entfaltet. Wird ein Kind .r ein Unrecht, das es sieht, zornig, dann würde folgendes geschei: Man würde das Kind einführen in eine Art Verständnis dafür, das Unrecht aus der Natur des Menschen geschieht; man würde ihm je nach seiner Reife eine Erklärung des Geschehenen geben.Dann wird ein solcher Zorn auch seine rechte Wirkung ausüben. Er

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wird das Kind reif machen, die Welt zu beurteilen, denn er ist ein Vorbote für die Urteilskraft. Das sei gesagt, um darauf aufmerksam zu machen, daß der Mensch nicht immer ungerechtfertigt zornig ist. Der Zorn hat seinen Wert für die Entwickelung des Menschen. Der Mensch muß sich läutern, er muß den Zorn überwinden. Der Zorn ist etwas, das dadurch wohltätig wirkt, daß es überwunden wird. Niemals könnte der Mensch zur Vollkommenheit aufsteigen, ohne daß der Zorn überwunden wird.

Nun könnte man fragen: Warum gibt es denn in der Weltregiei`iing den Zorn? Es gibt den Zorn, weil man stark wird durch seine Überwindung; man wird mächtiger über sich selbst dadurch, daß man ihn überwindet. Wenn man jemanden, der jenen edlen Zorn in der Jugend hatte in den Jahren, wo der Idealismus auftritt, wo ihn etwas mit Zorn erfüllte, weil er die tieferen Zusammenhänge noch nicht einzusehen vermochte, dann in seinem späteren Lebensalter beobachtet, so sieht man: im Alter tritt die gute Wirkung davon auf. Wer dagegen in der Jugend nicht in der Lage war, den Zorn zu überwinden, sich zu läutern, über seine Affekte Herr zu werden, der wird nicht leicht in späteren Jahren jene milde Aktivität erlangen, die so wohltuend berührt. Denn Milde ist gerade die Wirkung des überwundenen Zornes. Milde im Alter ist die Wirkung des überwundenen Zornes in der Jugend.

Eine ganz andere Wirkung wiederum hat jene Seeleneigenschaft, welche ebenfalls in der Jugend auftritt: die Andacht. Sie besteht darin, daß der Mensch sich ein Gefühl aneignet für das, was er noch nicht durchschauen kann. Zorn ist ein Ablehnen, Andacht ein Hinaufschauen zu dem, was man noch nicht überschauen kann, ein Hinblicken auf dasjenige, dem man noch nicht gewachsen ist. Niemand kann zur Erkenntnis kommen, der nicht das über ihm Stehende in Andacht verehren kann. Andacht ist der beste Weg zur Erkenntnis. Die Menschen würden niemals zur Erkenntnis kommen, wenn sie nicht vorher aus dunklem Hintergrunde hervor jene geistigen Mächte verehrt hätten, die über ihnen stehen. Andacht ist eine Kraft, die zu dem hinaufführt, was man erringen will. Deshalb ist es im Grunde nötig, daß Andacht entwickelt werde. Der Mensch, der

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im späteren Leben zurückschauen kann auf viele Momente der Andacht, der wird mit Seligkeit auf sie zurückblicken. Wenn es einem vorgekommen ist, daß man in der ersten Kindheit in der Familie hat sprechen hören von einem Familienangehörigen, von dem verbreitet wird, daß er sehr verehrt werde, und wenn man als Kind dies Gefühl auch in sich aufgenommen hat, und der Tag naht, wo man diese Persönlichkeit zum ersten Male sehen kann - wenn man dann eine heilige Scheu hat, die Klinke der Tür zu drücken, hinter der die verehrte Person erscheinen soll, so ist das auch ein sehr andächtiges Gefühl, und wir werden viel im späteren Leben haben, wenn wir mehrere solcher Stimmungen in der Jugend gehabt haben.

Andacht ist der Grund, ist die karmische Ursache von segnender Kraft in späteren Lebensjahren, in der zweiten Hälfte des Lebens. Jene Kraft, die ausfließt und uns fähig macht, den anderen Menschen ein Tröster zu sein, sie ist durch nichts anderes errungen als durch andächtige Stimmung in der Jugend. Seht Euch um, wo ein Mensch vorhanden ist, der zu anderen Menschen, die traurig sind, kommt, der dann nur da zu sein braucht, um durch seine bloße Gegenwart die Traurigen zu trösten, ihr Tröster zu sein, aktive Liebe zu verbreiten - Ihr werdet finden: die karmische Ursache zu dieser aktiven Kraft liegt in diesen Andachtsstimmungen der Jugendzeit. Die Kraft, welche als Andacht in die Seele des heranwachsenden Menschen hineingegossen wird, ist etwas Bleibendes in ihm; sie geht als eine Strömung durch die Seele und kommt als segnende Kraft im späteren Alter zum Vorschein. So könnten wir viele Fälle betrachten, wo das karmische Gesetz schon zwischen Geburt und Tod in ausgesprochener Weise wirkt.

Wir wollen noch genauer im einzelnen Leben das Karmagesetz an einem konkreten Fall betrachten. Angenommen, ein junger Mensch hätte studiert. Im achtzehnten Jahre wäre das eingetreten, daß der Vater bankrott gemacht hätte. Der junge Mensch mußte daher aufhören zu studieren, er wird aus dem Beruf herausgerissen, zu dem er vorbereitet worden war; er muß einen anderen Berufsweg einschlagen. Nun sind ja, nicht wahr, alle Berufe gleichwertig; wir interessieren uns nur für die Tatsachen der Änderung des Berufs. Der junge

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Mann mußte also Kaufmann werden. Nun wird man, wenn man kein Lebensbeobachter ist, sagen: Nun ja, das Ereignis war da, und man wird beobachten, was vorher und was nachher war. Aber einen Zusammenhang zwischen dem, was vorher und was nachher war, wird nur der herausfinden, der wirklich mit geistig geschärftem Auge das Leben beobachtet. Wenn der junge Mensch nun in dem anderen Beruf ist, und alles normal geht - ich werde nicht sagen, daß es immer so geht, aber es kann so gehen -, werden wir in den späteren Lebensjahren etwas anderes sehen können. Zunächst ist der Beruf ihm neu. Er erfaßt, was für ihn in Betracht kommt. Aber schon im einundzwanzigsten Jahre wird sich zeigen, daß bei diesem Manne etwas anders ist als bei einem Manne, der von Anfang an auf den Kaufmannsberuf vorbereitet war: Im einundzwanzigsten Jahr schon zeigt sich, daß er weniger Interesse hat für das, was ihm in seinem Berufe obliegt. Es zeigen sich gewisse Gefühle, die in seiner Seele auftreten und die ihn trennen von dem, was er tun soll, so daß er nicht mit rechter Befriedigung das tun kann, was von ihm verlangt wird. Wenn man nun nachforscht, woher das kommt, so wird man das Folgende wahrnehmen: Wenn ein besonderer Punkt eintritt, wo der Lebenslauf abgebogen wird, ein Lebensknoten, wenn zum Beispiel ein Berufswechsel eintritt, dann ist es nach dem karmischen Gesetz so, daß in den ersten Jahren wenig zu bemerken ist. Dann kommt es aber nach, so daß im einundzwanzigsten Jahre Gefühle, Empfindungen, Stimmungen sich geltend machen, die aus dem zu erklären sind, was im achtzehnten Jahr aus den Vorbereitungen für den anderen Beruf herkommt, Gefühle, die er aufgenommen hat, die er aber nicht zur Realisation geführt hat. Zunächst hat er sie zwar zurückgedrängt; sie machen sich aber doch dann so geltend, daß er sich von seinem neuen Beruf nicht mehr befriedigt fühlt. Das, was drei Jahre vor dem Berufswechsel in ihn gelegt wurde, wird drei Jahre nach diesem Wechsel so zutage treten, daß der Betreffende nicht mehr die rechte Befriedigung haben kann. Und von da aus kann die Sache so kommen, daß im zweiundzwanzigsten Jahr das vierzehnte Lebensjahr sich wiederholt, im dreiundzwanzigsten Jahr das dreizehnte. Es kann, weil im Leben sich alles durchkreuzt, auch anders

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kommen. Er kann im dreiundzwanzigsten Jahr zum Beispiel einen Hausstand gründen; da treten Interessen auf, die die vergangenen kreuzen und sie anders verlaufen machen. Aber das Gesetz ist trotzdem geltend. Auch in dem Falle, wenn ein neues Interesse eintritt, sind die früheren Interessen doch da, die abgebogen worden sind.

An einem sOlchen Beispiel können Sie den Verlauf des LebensProzesses sehen, wie er sich der Geisteswissenschaft darstellt. Das ist das wenigste, daß man durch die Geisteswissenschaft allerlei Begriffe bekommt; aber das wichtigste ist, daß man durch sie in den Lebensprozeß eindringt. Nehmen wir an - ich erzähle nie andere Fälle als solche, die vorgekommen sind; man muß sich die Gewohnheit aneignen, sich nie etwas auszudenken, sondern stets solche Fälle wählen, die wirklich vorgekommen sind -, also eine Mutter kommt zu mir, die ihren einzigen Sohn in einen anderen Lebensberuf hinüber- führen muß, weil ihm der Vater entrissen worden ist. In der Welt von heute wird da kaum das Richtige geschehen, denn wahre Lebensbeobachtung ist mit der heutigen Lebensauffassung kaum zu vereinbaren. Wird solch eine Mutter mit Geisteswissenschaft bekannt, so lernt sie rechnen mit dem Karmagesetz und kann gerade eine gute Freundin werden des jungen Mannes, der über die Jahre eines solchen Berufswechsels hinweggeführt werden soll. So war es vor einiger Zeit der Fall. Eine Mutter kam zu mir und sagte: Was ist meine beste Lebensaufgabe? - Ich sagte, sie möge die paar Jahre dazu benutzen, recht sehr das Vertrauen ihres Sohnes zu erlangen. Dann bilde die Geisteswissenschaft seinen Sinn so aus, daß sie das, was sicher eintritt, ihm tragen helfen kann. Die in seine Seele verpilanzten Gefühle der Frömmigkeit würden in einer starken Weise in allen späteren Lebensjahren sich geltend machen, und sie würde das, was so sicher eintritt, auch richtig sehen können. Kommt dann einst der Sohn nach Hause und sagt: Ich weiß nicht was anfangen, mein Beruf befriedigt mich gar nicht -, dann wird sie das zurückführen können auf dasjenige, was früher vorgekommen ist. Sie wird die Ursache erkennen und wird schon aus innerem Takt herausfinden, wie sie helfend einzugreifen hat, um dem Sohn über die Schwierigkeit wegzuhelfen. Besser wird sie es sicher können, als wenn sie keine Ahnung

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hätte davon, wie Karma wirkt und nur glauben würde, es wachse die Stimmung, die Depression aus irgend etwas Gleichgültigem heraus. Nichts entsteht so ohne Ursache; aber oftmals liegen die Ursachen viel näher als man glaubt. Nur müssen wir solch einen Knotenpunkt beobachten, von da an das Leben zurückverfolgen und sehen, was da anders verläuft. Es ist so: Denken Sie sich, Sie haben eine Violinsaite. Sie haben sie aufgespannt und streichen sie mit einem geeigneten Gegenstand. Die Saite gibt einen gewissen Ton von sich. Wenn Sie sie nun in der Mitte festhalten, dann geht auf beiden Seiten etwas vor: die Saite schwingt auf beiden Seiten. Solche Ereignisse gibt es im Leben, von denen man feststellen kann, wie das, was vorher geschieht, sich nachher widerspiegelt.

Auch die Lebensmitte ist solch ein Knotenpunkt. Was in der Jugend vorbereitet wird, das kommt im Alter heraus. Es ist notwendig, diese Dinge zu beachten, damit man allmählich wirklich ein Gefühl dafür erhält, daß Geisteswissenschaft nichts Unpraktisches ist, sondern daß das ganze Leben vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt aus praktisch gestaltet werden kann. Ein bloßes Leben in Liebe nützt nichts, wenn nicht die Weisheit mit der Liebe verbunden ist. Liebe muß sich mit Weisheit verbinden, mit Erkenntnis des Rechten. Liebe allein ist nicht genug zum Leben.

Wir können noch einen Fall erwähnen, der sich in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zugetragen hat und genau geprüft worden ist. Eine Mutter erzog ihr Töchterchen. Wohl hatte sie gesehen, wie dieses Töchterchen ganz klein anfing Dinge zu entwenden, etwas zu stehlen. Aber sie konnte sich in ihrer Liebe, die ja eine vorzügliche Eigenschaft ist, nicht entschließen zu strafen. Das Töchterchen stahl ein-, zweimal, ein drittes Mal, und tat noch andere Sachen; und wenn man den Lebenslauf verfolgt, so sieht man, daß das Kind eine berühmte Giftmischerin wurde. Hier haben Sie die Liebe, die nicht geeint ist mit Weisheit. Die Liebe muß mit dem Lichte der Weisheit durchdrungen sein. Liebe kann sich erst richtig entfalten, wenn sie von Weisheit durchdrungen ist. Wie anders kann man als Freund einem jungen Menschen, der sich entwickeln soll, über wichtige Momente seines Lebens hinüberhelfen, wenn man

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weiß, daß es ein Gesetz gibt, welches die Ursachen eines Geschehens manchmal ziemlich naheliegend zeigt, die Ursachen, die man ohne Kenntnis des Gesetzes nicht begreifen würde. So wäre es richtig, nicht nur im allgemeinen zu wissen, daß es ein Karmagesetz gibt, sondern durch Erlangung einer richtigen Weltanschauung Karma im einzelnen zu verfolgen. Das muß dem Geisteswissenschafter ernstlich obliegen, daß er sich einlebt in die konkrete Wirksamkeit dieser Gesetze und weiß, wie sie sich im Leben ausnehmen. Das ist das Allerwichtigste: nicht Phrasen über Karma zu dreschen, sondern sich darauf einlassen, die Gesetze im Leben zu verfolgen. Das ist notwendig!

Nun möchte ich Ihnen noch etwas anderes sagen. Man kann auch einige Fälle herausheben, die sich beziehen auf Karma, das von einem Leben ins andere hinübergeht. Natürlich kann man sich auch da nur auf einzelne Fälle beschränken. So können wir uns einmal eine Frage vorlegen bezüglich des inneren Karma eines Menschen, welches dadurch zustande kommt, daß der Mensch im Grunde genommen im Leben immer eine zweigeteilte Wesenheit sein muß.

Wenn Sie das Leben betrachten, werden Sie sich sagen müssen: wenn ein Mensch durch die Geburt ins Dasein tritt, muß man zweierlei unterscheiden. Das eine ist, was er von seinen Voreltern geerbt hat. So hat zum Beispiel Schiller die Form seiner Nase von seinem Großvater geerbt; aber was das spezifisch Schillersche ist, das hat er nicht geerbt, sondern das kommt aus seinen früheren Inkarnationen> seinen früheren Verkörperungen. Auf der einen Seite ist der Strom der Vererbung dessen da, was durch Generationen hindurch sich fortpflanzt; auf der anderen Seite ist das, was der Mensch selbst von einem Leben zum anderen hinübernimmt. Wer den Blick erworben hat für das Geistige, wird sich immer fragen, wieviel ein Mensch von seinen Eltern hat, und wieviel aus seiner vorhergehenden Inkarnation stammt.

Im rationellen Sinne kann man nicht anders unterrichten, als wenn man diese Unterscheidung treffen kann. Die Erziehungskunst wird erst die richtige Gestaltung erhalten, wenn die Menschen gelernt haben, zwischen diesen beiden Strömungen zu unterscheiden.

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Erst am Ende der Erdenentwickelung werden diese beiden Strömungen zusammenfließen, so daß der Mensch den Leib wird finden können, in den er hineinpaßt. In der jetzigen Zeit ist dies noch nicht möglich. Würde ein vollständiges Zusammenpassen von äußerer Leiblichkeit und innerer individueller Organisation in unserer jetzigen Zeit stattfinden, so wäre es unmöglich, daß ein Mensch durch innere Ursachen vor dem normalen Alter stirbt; denn es würde, weil Sterben nicht etwas Zufälliges ist, sondern eine Disharmonie, dann nicht vorzeitiges Sterben eintreten können, da ja Harmonie im Menschen herrschen würde. So aber kann diese Disharmonie zwischen dem Ererbten und dem aus früherer Verkörperung Mitgebrachten so stark werden, daß dadurch der Tod früher herbeigeführt wird.

Der Mensch könnte, wenn er ein klein wenig auf die spirituellen Lehren eingehen wollte, heute schon die Reinkarnation mit Händen greifen - dies ist nicht bildlich, sondern wörtlich zu nehmen -, wenn nur die materialistischen Theorien die entsprechenden Tatsachen nicht unrichtig, sondern richtig deuteten. Dies kann an bestimmten Fällen nachgewiesen werden. Es gibt Menschen, die in ihrer Entwickelung noch so wenig weit vorgeschritten sind, daß sie mit ihren Empfindungen noch ganz in ihrer Empfindungsseele drin stecken. Ihr ganzes Bewußtsein hängt zusammen mit der Empfindungsseele. Und das kann man den äußeren Gesten der Menschen schon ansehen: sie verraten ja gewisse Ursachen, die im Astralleib liegen. Wenn ein Mensch noch ganz in der Empfindungsseele drin steckt, sich innerlich so recht wohl fühlt, kommt es vor, zum Beispiel wenn er eine gute Mahlzeit hatte, daß er sich auf den Leib klopft vor Behagen. Das ist ein Zeichen, daß er noch eine zu starke Empfindungsseele hat. Wenn ein Mensch tief in der Gemütsseele steckt, so kommt dies auch zum Ausdruck. Weil die Wahrheitsempfindung im Gemüt steckt, so wird ein Mensch, der in der Gemüts- oder Verstandesseele steckt, um eine Wahrheit zu beteuern, sich auf die Brust klopfen. Ein Mensch, der tief in der Bewußtseinsseele steckt, greift an die Nase wenn er überwiegend tief über etwas nachdenkt. Am unteren Leib kommt das, was auf die Empfindungsseele Bezug hat,

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zum Ausdruck; was auf die Verstandes- oder Gemütsseele Bezug hat, kommt am Brustleib, und was auf die Bewußtseinsseele sich bezieht, am Kopf zum Ausdruck: man kraut sich auch hinter den Ohren. Ich sage das nur, um zu zeigen, wie das, was im Astralleibe ist, im physischen Leibe zum Ausdruck kommt.

Nun kann folgendes eintreten. Der Mensch kann die höchsten Empfindungen und Ideen und Ideale, die er überhaupt zunächst in diesem Zeitenzyklus haben kann, in sein Bewußtsein aufnehmen; zum Beispiel unsere ethischen Ideale, die ja allein schon für den Menschen ein Beweis vom Dasein einer geistigen Welt sein müßten. Wenn wir uns durch eine innere Stimme für diese ethischen Ideale begeistern, uns diesen hohen Idealen hingeben, so kann die Anregung dazu nicht von außen kommen. Nun kann das so weit gehen, daß der Mensch etwas, was er ohne Ideale empfindet, in diese erhebt, so daß er nicht aus Pflichtgefühl einer bestimmten Idee nach- lebt, sondern weil er eben nicht mehr anders kann. Für den, der sich durchdringen läßt von einer sittlichen Idee, wird eintreten, daß er sich so hineinlebt in diese Idee, daß er sich selbst befiehlt, was in ihrem Sinne recht ist. So müssen die Ideale in der Bewußtseinsseele aufleuchten, dann strömen sie hinunter und werden Instinkte.

Wenn dies geschieht, daß der Mensch so seine Empfindungen mit seinen Idealen durchdrungen hat, dann macht sich etwas Besonderes geltend. Diese Instinkte haben das Bestreben, bis zum physischen Körper sich zum Ausdruck zu bringen. Der Mensch kann aber zwischen Geburt und Tod nicht mehr an seinem physischen Körper arbeiten. So gehen gewisse Strömungen durch den Brustkorb zum Kopfe hin. Wenn jemand für ein Ideal begeistert ist, für dasselbe glüht und voll Feuer ist, so daß er mit Liebe empfindet: das soll geschehen -,so wIrd er sich in diesem Leben ihm hingeben, wird alles dafür tun. Aber dies ist nicht alles. Durch diese Tätigkeit gehen Strömungen in den oberen Teil bis zum Kopfe des Menschen. Das sind Kräfte, die bis zum physischen Körper zu wirken suchen; aber sie können in diesem Leben den Kopf nicht mehr ändern, weil des Menschen physischer Leib auch dann, wenn man sich selbst in solcher Weise veredelt, nicht mehr gestaltungsfähig ist. Diese Kräfte

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strömen aber dennoch nach oben. Diese Strömungen bleiben dem Menschen erhalten in seiner Seele, und wenn der Mensch durch den Tod und eine neue Geburt geht, bringt er sie mit in ein neues Dasein. Hier tritt das auf, was der Phrenologie eine individuelle Berechtigung gibt: in den Höckerbildungen des Schädels kommen diese Kräfte, die so erworben sind, heraus. Man kann nicht sagen, dieser Höcker drückt das allgemein aus, sondern das, was die Individualität während des vorhergehenden Lebens auf diese Weise oft mit sich verbunden hat und was doch den Körper nicht mehr hat umbilden können, das drückt sich da aus.

So gehen diese Anlagen durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt durch, und wir greifen wirklich, was der Mensch im vorhergehenden Leben so oft in sich hinein hat strömen lassen. Da greifen Sie wirklich Reinkarnation und Karma, wenn Sie die verschiedenen Erhabenheiten und Höcker des Kopfes betasten. Wir müssen uns aber dabei bewußt sein, daß jeder Mensch seine eigenen Gesetze hat; nicht allgemein darf man diese Höcker beurteilen, sondern ganz in- dividuell. So greifen wir also zum Beispiel einen Höcker und wissen: es ist die Arbeit, die der Mensch an seiner Seele im vorhergehenden Leben verrichtet hat. Man kann Karma und Reinkarnation also auch greifen, mit den Händen greifen! Da kann man bis auf die Körpergestalt von der Geisteswissenschaft lernen.

So wie die Körpergestalt von einem vorhergehenden in ein späteres Leben hereinlebt, so reichen auch andere Dinge hinüber. Nur muß man alle diese Dinge wirklich nicht kleinlich betrachten. Man darf nicht glauben, daß das Karmagesetz so zugeschnitten ist wie ein bürgerliches Gesetzbuch; es ist nur durch umfassende Studien zu begreifen.

Betrachten wir einmal ein großes Unglück, das einen tiefen Schmerz verursacht. Wir betrachten es vielfach falsch, weil wir immer nur darauf ausgehen, die Wirkung zu sehen. Wir sehen dann, daß ein Ereignis eingetreten ist, das uns unglücklich gemacht hat, uns aus unserer Bahn herausgeworfen hat. Wir sehen eben nur die Wirkung. Wir sollten aber die Ursache suchen. Da würden wir vielleicht folgendes finden: Ja, es gab in einem vorhergehenden Leben

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die Möglichkeit, sich diese oder jene Fähigkeit anzueignen. Wir haben es aber nicht getan, wir haben es versäumt. So sind wir durch die Pforte des Todes geschritten, ohne diese Fähigkeit erworben zu haben. Nun treiben uns jene Kräfte, die schon karmische Kräfte sind, im folgenden Leben zu dem Unglück hin. Hätten wir uns jene Fähigkeit in dem vorhergehenden Leben angeeignet, so hätte uns die Kraft nicht zu dem Unglück hingetrieben. Dadurch, daß dieses Unglück uns geschieht, erlangen wir nun diese Fähigkeit. Nehmen wir nun an, dieses Unglück hat uns im zwanzigsten Jahre erreicht, und im dreißigsten Jahre sehen wir darauf zurück und fragen uns: Was hat uns dazu gemacht, daß wir diese oder jene Fähigkeiten haben? - so erkennen wir den Zweck dieses Unglücks. Unendliches gewinnen wir, wenn wir die Dinge nicht als Wirkung, sondern als Ursache betrachten für das, was sie aus uns machen. Das ist auch ein Erfolg der Lehre vom Karma, die Dinge als Ursache zu betrachten. Alle diese Dinge sind Einzelheiten des Gesetzes vom Karma. So sehen Sie, daß man am anthroposophischen Leben teilnehmen soll, weil man viel lernen kann, was sonst nur Allgemeinbegriff bleibt.

Auf etwas ganz Bedeutsames, das mit dem Karmagesetz zusammenhängt, soll noch aufmerksam gemacht werden. Es könnte einem Menschen, der in die Geisteswissenschaft hineinkommt und hört, daß da die Möglichkeit besteht, sich geistige Fähigkeiten anzueignen, hinaufzuwachsen zur Hellsehergabe, beikommen zu fragen: Warum ist es immer so schwer zu lernen, was die Geisteswissenschaft sagt? - Diese Frage kann ja berechtigt sein, aber sie entspringt doch wirklich zumeist einem Mißverständnis vieler Menschen, welche Geisteswissenschaft nur oberflächlich kennenlernen, einem Mißverständnis, das sie haben über den Zusammenhang des physischen und des geistigen Lebens. Sie wissen, das physische Leben ist durchaus nicht unnötigerweise in das Menschenleben eingefügt. Es hat seine Mission, ebenso wie das Leben zwischen Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Welt.

Stellen wir uns einmal die Frage: Wie steht es denn mit zwei Menschen, von denen der eine durch sein Karma aus dem vorhergehenden Lebenslauf in dieser Inkarnation nicht in der Lage ist, die

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Hellsehergabe zu entwickeln, sondern sich begnügen muß, fleißig anthroposophische Kenntnisse durch das Studium sich anzueignen, so daß er einsieht, wie diese Dinge zu begreifen sind - also er könnte nur durch Studium vorankommen -, und einem anderen, dem die Möglichkeit gegeben sei, seine hellseherischen Gaben zu entwickeln und einzudringen in die geistige Welt? Der letztere könnte folgende Stimmung haben. Er sagt sich: Ich sehe in die geistige Welt hinein, ich kann sehen geistige Wesenheiten warum sollte ich denn jetzt noch Bücher studieren? Ich weiß, daß es eine geistige Welt gibt, warum sollte ich da noch Anthroposophie studieren? Das ist ja unbegründet und langweilig. - Es ist dies eine Sache, die immer wiederum vorkommt, daß Leute, die karmisch das Glück haben, hellseherisch zu sein, sich Sagen: Lernen wollen wir jetzt nichts mehr; warum sollen wir jetzt studieren, was nur in trockenen Begriffen gegeben wird? - Der eine ist imstande, um so fleißiger zu studieren, aber er kann nicht zur Hellsehergabe kommen; der andere verachtet die Studien, aber sein Karma ist so günstig, daß er ein Hellseher werden

kann. Wie steht es nun mit diesen Menschen nach dem Tode, wie ist das Gesamtbild? Der Mensch, der die Hellsehergabe erlangt hat zwischen Geburt und Tod, der in die geistige Welt hineinschauen und der verschiedenes sehen konnte, aber die theoretischen Begriffe nicht lernen wollte, der nicht mit logischem Denken die geisteswissenschaftlichen Angaben begreifen wollte, der das alles verachtet hat, der hat nach dem Tode gar nichts davon. Er kennt sich nicht besser aus als ohne die Hellsehergabe, die er bei Lebzeiten hatte. Je- ner Mensch ist sogar besser daran, der in seinem physischen Leben noch nicht hellsehen konnte, der aber nicht verhindert war, durch Lesen sich einen logischen Begriff von der geistigen Welt zu bilden.

Es soll dieses aber keine Anweisung sein, faul zu sein, nichts zur Entfaltung der geistigen Sinne zu tun. Kein Mensch kann wissen, ob er nicht doch noch vor seinem Tode die Hellsehergabe erlangt. Derjenige, der die geisteswissenschaftliche Weltanschauung studiert hat, dem verwandeln sich jetzt diese Begriffe in wirkliche Anschauungen. Was man sich hier erwirbt durch Begriffe, das geht nicht mehr

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verloren, das bleibt. Es gibt eine Verpflichtung: Wenn man noch so hoch eingeweiht wäre, wenn man noch so hoch schauen könnte, aber das Geschaute nicht mit Begriffen durchdringen könnte, so würde man doch nichts davon haben. Der Mensch soll nicht bloß heim Schauen stehenbleiben, sondern er soll alles umgießen in Begriffe, die dem physischen Leben entnommen sind. Die Menschen sind berufen, das, was sie auf Erden erfahren können, auch wirklich in sich aufzunehmen. Das, was in der geistigen Welt fehlt, muß in der physischen Welt erworben werden und muß da hinaufgetragen werden.

Das soeben Gesagte hängt zusammen mit etwas, was viel bedeutsamer ist. Es gibt eines, was die Menschen in der geistigen Welt niemals hätten kennenlernen können. Niemals hätte ein Ereignis in der geistigen Welt kennengelernt werden können, wenn der Mensch nicht heruntergeführt worden wäre auf die physische Erde und durch die Inkarnationen durchgeführt worden wäre. Alle geistigen Wesenheiten, die sich nicht inkarnieren, können ein Ereignis nicht kennenlernen: das ist der Tod. Den Tod gibt es nicht in der AstralweIt und noch weiter oben; den kann man dort nicht erleben. Daher gibt es den alten Grundsatz in der esoterischen Philosophie: Wenn Götter sterben lernen wollen, müssen sie auf die Erde gehen, um es zu lernen. - Das ist eine sehr tiefe Wahrheit. Und wiederum hängt mit dem Tode etwas anderes zusammen: Der Mensch würde niemals zum Selbstbewußtsein kommen. Nur dadurch, daß der Mensch immer wieder, wenn eine Inkarnation zu Ende geht, durch die Pforte des Todes schreitet und seine Hüllen abstreift, nur da- durch kommt er zum eigentlichen Bewußtsein des Ich. Der Mensch muß lernen, den Tod zu überwinden. Ohne daß der Tod in die Welt getreten wäre, hätte der Mensch nicht das Selbstbewußtsein kennengelernt. So mußte der Tod der große Lehrmeister der physischen Welt werden. Das hängt mit einem großen Ereignis zusammen. Wenn er niemals auf die physische Erde heruntergestiegen wäre, wenn er immer oben in den geistigen Sphären geblieben wäre, hätte der Mensch niemals erfahren können, was das größte Ereignis der Erdenentwickelung ist: das Mysterium von Golgatha.

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Das Christu&Ereignis kann nur zwischen Geburt und Tod erfahren werden. Und gerade darin besteht die Größe dieses Ereignisses, daß ein Gott aus Himmelshöhen heruntergestiegen ist und das Schicksal der Menschen geteilt hat. Nur auf der Erde konnte er dieses Mysterium vollziehen. Niemals hätte irgendwo in der geistigen Welt das Mysterium von Golgatha aufgerichtet werden können. Um die Menschen den Sieg über den Tod zu lehren, mußte ein Gott heruntersteigen aus geistigen Höhen, um auf der Erde zu sterben. Und dieses Ereignis, vom Menschen auf Erden verstanden, das ist das Größte, was einfließen kann in die irdische Inkarnation des Menschen. Das ist das Größte, was der Mensch mitnehmen kann, wenn er die physische Erde durch die Pforte des Todes verläßt. Der Mensch könnte niemals die Größe des Christus begreifen, wenn er nicht auf der Erde lernen würde, was der Christus ist. Wenn er das auf der Erde gelernt hat, kann er es bewahren und mitbringen in die geistige Welt.

Die Menschheit hätte niemals den Christus kennenlernen können, wenn sie nicht heruntergestiegen wäre, den physischen Leib entfaltet hätte, und auf der Erde Gelegenheit gehabt hätte, eines Gottes Sterben zu verstehen. Dieses Ereignis mußte geschehen, das für alle Zukunft Bedeutung hat. Die Menschheit wird sich wiederum zurückentwickeln in die geistige Welt. Vorher wußte sie nichts von dem Christus-Impulse; auf der Erde mußte sie ihn lernen, und nun wird er hinaufgetragen, mitgenommen von all denen, die auf der Erde ein Verständnis für ihn sich erworben haben. Mit diesem Verständnis, das auf Erden nach und nach erworben wird, mit jenem Ereignisse in der Seele lebt der Mensch weiter in den folgenden Inkarnationen und auch in jenen Leben, die zwischen Tod und Geburt abfließen. Immer mehr werden die Menschen verstehen von dem, was Golgatha ist. Immer mehr wird der Christus leben. Und wenn einstmals die Erde physisch zertrümmert ist, wenn nur die Seelen, die Geister der Menschen übriggeblieben sein werden, so werden sie zurückblicken auf die Erdenevolution und sagen: Wir mußten eine Entwickelung durchmachen in einer Welt, wo wir uns vorbereitet haben auf den Christus. Dann kam dieses Mysterium,

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die Entwickelung ging weiter, wir verstanden immer besser das Ereignis von Palästina, wir verarbeiteten es in unseren Leben zwischen Geburt und Tod, und als dieses große Mysterium begriffen war, da war die Erde reif, wieder zu verschwinden, denn da haben wir uns einverleibt, was das Wichtigste war der ganzen Erdenevolution. Auf der Erde mußten wir sein, durchgehen mußten wir, um das zu erleben, was nirgendwo anders erlebt werden kann. Jetzt ist es in die geistige Welt heraufgetragen, aber der Ursprung dessen, was jetzt in der geistigen Welt ist, der war da unten.

So werden Ihre Seelen fühlen, wenn sie durch viele Inkarnationen gegangen sein werden, wenn die Erde als physischer Planet erstorben ist und die Menschen zu einem neuen Dasein aufgestiegen sein werden. Was ist das wichtigste Erbstück der Erdenentwickelung? Was ist das Wichtigste, das wir mitgenommen haben, und das nur einzig und allein auf der Erde erfahren und erlebt werden kann? Das Mysterium von Golgatha. Jetzt haben wir den Christus in uns. Das ist die Bedeutung des Opfers, daß der Christus heruntergestiegen ist und jenes Ereignis mitgemacht hat, welches die Menschen als den Tod erfahren: immer selbstbewußter zu werden, immer mehr Kraft zu erlangen, um so in immer höherem Maße das Karma der Christus- Kraft aufzunehmen.

So sehen wir, wie das Karma in diesem bedeutungsvollen Falle wirkt, und wie das Christus-Verständnis zusammenhängt mit dem gesamten Erdenkarma der Menschheit. Und die Menschheit soll den Christus in sich aufnehmen. Der Mensch kann das Erdenkarma nicht erfüllen, ohne dieses Christus-Verständnis erreicht zu haben. Und die Erreichung des Erdenzieles wird sein eine karmische Wirkung der Aneignung des Christus-Verständnisses. So können wir sagen: Das kleinste wie das größte Ereignis werden wir verstehen, wenn wir das Karmagesetz betrachten.

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II

NOVALIS UND SEINE «HYMNEN AN DIE NACHT» Berlin, Matinee, 26. Oktober 1908

Es wird jetzt eine Dichtung vorgetragen werden, für die eigentlich im tieferen Sinne eine entsprechende Stimmung nur dadurch vorhanden sein kann, daß der größte Teil der anwesenden Freunde sich in den letzten Zeiten mit der Materie der spirituellen Welt im Zusammenhange mit der ganzen geschichtlichen Entwickelung der Menschheit eingehend befaßt hat. Was hier zum Vortrag gebracht wird, bringt uns so recht zum Bewußtsein, wie Geisteswissenschaft oder Theosophie nicht etwa bloß durch die Theosophische Gesellschaft in der Welt verkündet wird> sondern daß Theosophie als Lehre, die sich begründet auf die großen okkulten Wahrheiten und Weistümer, etwas ist, was schon in alten Zeiten durch die besten Geister geflossen ist, die nach einer höheren Welt gesucht haben. Und wir können im Grunde genommen in alter und neuer Zeit so manche Persönlichkeiten finden, die uns tatsächlich zeigen, daß sie in ihren Vorstellungen, Ideen, Gefühlen und Empfindungen und in ihren Lebensgesinnungen ganz durchdrungen waren von einer Weltanschauung und aus ihr heraus wirkten, die wir eine theosophische nennen können, und daß sie im Einklang damit ihre ganze Lebenstätigkeit entfalteten. Eine solche ganz eigenartige Persönlichkeit lebte in Novalis während der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts.

Nicht dreißig Jahre alt geworden ist Novalis, und es ist zu hoffen, daß durch den Vortrag seiner «Hymnen an die Nacht» das Bewußtsein sich entwickeln wird, daß aus diesen Hymnen heraus spricht - so vollkommen, als es in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nur möglich war - im umfassendsten Sinne gerade die Erkenntnis dieser geisteswissenschaftlichen Wahrheiten.

Aus einem der angesehensten adligen Geschlechter ist der mit seinem Profannamen Friedrich von Hardenberg genannte Novalis geboren am 2. Mai 1772. Wer Gelegenheit hat, Weimar zu besuchen, sollte nicht versäumen, die einen tiefen Eindruck machende Novalis-

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Büste sich anzusehen. Sie gehört zu den Dokumenten des klassischen Weimar, aus denen es deutlich spricht, wieviel spirituelle Hochkultur mit dieser Zeit, mit dem Ende des 18. Jahrhunderts verbunden war. Wer sich diese eigenartige Büste ansieht, der wird, wenn er überhaupt dafür eine Empfindung hat, sogar den Eindruck bekommen, daß aus dieser, man möchte sagen, über die Sphäre nie- derer Menschlichkeit hinausgehenden Physiognomie sich eine Seele ausdrückt, die ganz gegründet war im Okkulten, in den spirituellen Welten. Und dabei ist Novalis eine derjenigen Persönlichkeiten, die ein lebendiger Beweis dafür sind, wie diese Spiritualität, dieses SichErheben in die höchsten für den Menschen erreichbaren geistigen Welten, vereinbar ist mit einem festen praktischen Stehen auf dem Boden der physischen Wirklichkeit. Im Grunde genommen ist Novalis niemals in argen Konflikt gekommen mit den doch ganz konservativen Traditionen, in deren Kreisen seine Familie lebte, wobei namentlich zu berücksichtigen ist, daß in dieser Familie immer eine freie Empfänglichkeit für alles Edle und Gute vorhanden war, auch wenn es als ein zunächst Unbekanntes den Leuten entgegentreten mochte.

Wenn wir die Biographie von Novalis studieren - sie ist selbst ein Kunstwerk - und sie auf uns wirken lassen, so erscheint uns der Vater als eine dem Praktischen zugewendete Natur. Novalis wurde eigentlich dem bürgerlichen Leben nach für einen ganz praktischen Beruf ausgebildet, für den notwendig war die Kenntnis der Jurisprudenz und der Mathematik. Er wurde Bergingenieur. Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, wie er gerade in diesem Berufe ein Entzücken war für die, bei denen er praktizierte. Es ist hier auch nicht die Zeit, zu zeigen, wie die mathematisch-physikalischen Wissenschaften, welche die Grundlagen zu diesem Berufe bildeten, nicht nur in aller Theorie und Praxis völlig von ihm beherrscht wurden, sondern wie er vor allem ein tüchtiger Mathematiker war. Vor allem wichtig ist es, was Novalis als spirituelle Wesenheit von der Mathematik an der inneren Gliederung seines Wesens erzielte.

Wenn Mathematik im einzelnen zeigt, wie sie geeignet macht zu einem Erheben in ein reines sinnlichkeitsfreies Denken, so haben

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wir, wenn es sich darum handelt, auf ein Musterbeispiel hinzuweisen, ein solches hier bei Novalis, wo die äußere Beobachtung nicht mitspricht. Ihm wurde das Leben in den Vorstellungen der Mathematik zu einem großen Gedicht, das ihn mit Entzücken erfüllte, so daß seine Seele sich erhöht empfand, wenn er sich vertiefte in die Zahlen und Größen. Sie wurde für ihn der Ausdruck des göttlichen Schaffens, des göttlichen Gedankens, wie er in den Kraftrichtungen und Kraftmaßen in den Raum hineinblitzt und sich da kristallisiert. Mathematik wurde für sein Gemüt der Weg zu dem Wärmsten, der Weg zum spirituellen Leben, während sie für die vielen Menschen, welche sie nur von außen kennen, immer etwas Kaltes bleibt. Das ist um so bedeutsamer, als uns bei Novalis diese Spiritualität in einer Zartheit und Feinheit entgegentritt wie kaum bei irgendeinem anderen der bedeutendsten Geister.

Novalis war ein Zeitgenosse von Goethe. Man darf aber das, was Novalis an Spirituellem in sich hatte, nicht auf gleiche Stufe stellen mit dem, was Goethe davon hatte. Goethe hatte es durch einen regelrechten, aus den höheren Welten geleiteten Gang einer Initiation bis zu einer bestimmten Stufe hin. Novalis dagegen lebte ein Leben, das man am besten bezeichnen kann, indem man sagt: Dieser junge Mann, der mit neunundzwanzig Jahren den physischen Plan verlassen hat und der dem deutschen Geiste mehr gegeben hat als hundert und tausend andere, er hat ein Leben gelebt, das eigentlich die Erinnerung war an ein vorhergehendes. Durch ein ganz bestimmtes Er- eignis wurden die spirituellen Erlebnisse früherer Inkarnationen herausgetrieben, stellten sich vor die Seele hin und flossen in zarten, rhythmisch wogenden Gedichten aus dieser Seele heraus.

So können wir sehen, daß Novalis es verstanden hat, wie der Mensch mit seiner Seele in eine höhere Welt hineingehoben werden kann. Für Novalis gab es die Möglichkeit, zu sehen, wie das wache Tagesleben mit seinem alltäglichen Bewußtsein nur ein Ausschnitt ist im gegenwärtigen Menschheitsleben, und wie jede Seele, die des Abends für die äußere Tageswahrnehmung untertaucht in Unbewußtheit, in Wahrheit untertaucht in die spirituelle Welt. Er war fähig, tief zu empfinden, zu wissen, daß in jenen spirituellen Welten,

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in welche die Seele des Nachts untertaucht, die höhere spirituelle Realität ist, daß der Tag mit allen Eindrücken, selbst mit den Ein- drücken von Sonne und Licht, nur ein Ausschnitt der ganzen spirituellen Wirklichkeit ist. Und die Sterne, die das Licht des Tages wie verstohlen herniedersenden während der Nacht, erschienen ihm nur wie ein schwaches Leuchten, während ihm die Wahrheit gerade des Spirituellen aufging in dem Bewußtsein, das dem Seher aufleuchtet in dem blendenden, hellen astralischen Licht, wenn er in die Nacht hinein sich im Geiste zu versetzen in der Lage ist. So gehen denn die Welten der Nacht, die wahren spirituellen Welten vor Novalis auf, und so wird ihm die Nacht unter diesem Gesichtspunkte wertvoll.

Wodurch kam es daß eine solche Erinnerung an frühere Inkarnationen bei ihm herauskam? Wodurch kam es, daß die Erlebnisse der okkulten Welt, die wir heute in der okkulten Erkenntnis darstellen können, bei ihm so einzigartig auftauchen konnten? Ihm hatte das Leben losgebunden von der Seele die in ihr schlummernden Weistümer früherer Inkarnationen. Man muß das Ereignis, daß diese spirituellen Erlebnisse herausgeholt hatte aus dieser Seele, selbst in das Licht einer spirituellen Betrachtung rücken, wenn man es verstehen will. Nur kindlicher Unverstand könnte dieses Ereignis in eine Linie stellen mit der Begegnung Goethes und Friederikes zu Sesenheim. Recht grobklotzig nimmt sich ein solcher Vergleich aus.

Während seines Aufenthaltes in Grüningen lernte er ein dreizehnjähriges Mädchen kennen. Und Geheimnisse der Seele spielen sich ab, die man niemals, ohne die Zartheit der Seele zu verletzen, ein Liebesverhältnis nennen darf. Im Grunde genommen haben wir in Sophie von Kühn - so hieß dieses Mädchen - etwas wie ein aus dem Leben verscheidendes Wesen. Sie wurde ja sehr bald krank und starb auch bald darauf. Indem sich der Geist losrang in Sophie von Kühn, ringen sich los in Novalis` eigenem Innenleben die inneren spirituellen Fähigkeiten.

Vielleicht könnte Ihnen, wenn man sich überhaupt darauf einläßt, in keinem anderen Falle die Unfähigkeit einer an die äußere Erfahrung gebundenen Denkweise so sehr vor Augen treten als bei dem, was wir erleben mußten an der Beurteilung dieses Verhältnisses,

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das nur erkannt werden kann, wenn man es ganz in seiner Spiritualität zu erkennen vermag, durch unsere heutige materielle Zeit. Leute, die sagen, die Wissenschaft müsse sich auf die Dokumente stützen, sie müsse das positiv auf dem physischen Plan Erfaßbare vor allem ins Feld führen, solche Naturwissenschafter, welche die recht verzerrte Seite, die zur Farce gewordene Seite der Naturwissenschaft darstellen, haben es uns erleben lassen, daß sie glaubten, aus den Dokumenten darlegen zu können, daß im Grunde Novalis in Grüningen einer Illusion anheimgefallen sei. Schön wäre die Poesie - so sagen sie -, aber schauen wir uns die Dokumente an, schauen wir uns an, was der Herr von Rockenthien war, bei dem Sophie von Kühn lebte! - Und schauen wir uns - so sagt einer der «Novaliskenner> - einige Briefchen an, die Sophie von Kühn an Novalis geschrieben hat. Sophie von Kühn machte nicht nur in jeder Zeile, sondern fast in jedem Wort einen orthographischen Fehler! - Und Novalis wäre einer großen Täuschung zum Opfer gefallen.

In Jena, wo sie im letzten Jahre untergebracht war, sah sie auch Goethe - und einen tiefen Eindruck machte sie auf Goethe! Wer nicht begreifen kann, daß diese einzigartigen Worte Goethes darüber mehr wert sind als alle Dokumente, die man aufstöbern kann - da alle Dokumente lügen können -, wer, wenn er mit einem Beweis etwas zeigen will, nicht daran denkt, auch den Gegenbeweis zu erbringen, dem ist nicht zu helfen trotz all seiner Wissenschaft.

Was war dieses Ereignis für Novalis? Sophie von Kühn starb, und Novalis lebte sich etwa in die Stimmung ein: Ich sterbe ihr nach! - Niemals war er von da an in seiner Seele getrennt von ihr. Ausgegossen war aus der Seele der verstorbenen Sophie von Kühn die Kraft, die ihm in der eigenen Seele die Erfahrung der Nacht vermittelte, und auf gingen ihm die großen Erlebnisse, wie er sie in seinen Dichtungen dargestellt hat.

Noch einmal kreuzte ein weibliches Wesen seinen Weg: Julie von Charpentier. Sie aber war ihm nur das irdische Symbolum für die Seele der verstorbenen Sophie von Kühn. Losgelöst waren aus seiner Seele die Weistümer, die er in die «Hymnen an die Nacht» hineingegossen hat, nur durch diesen ersten Seelenbund.

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Hier trug Marie von Sivers (Marie Steiner) die erste und die zweite Hymne vor.

So weit führt uns das Gedicht ein in die Welten, in denen als ein Geist Novalis lebte, wenn er innerhalb seiner Erfahrung der ewigen Weistümer war.

Sie werden schon öfter gehört haben, daß solches Aufsteigen in die höheren Welten verknüpft ist mit einem Eindringen in noch andere Geheimnisse des Daseins. Daher mußte auch sein Blick zurück- schweifen in die Zeiten urferner Vergangenheit, wo das, was jetzt in der Welt lebt, noch im Schoße der Gottheit war und noch nicht heruntergestiegen war in den irdischen Leib. Als die Seelen der Natur- reiche noch in der reinen Geistigkeit lebten, die nur in der astralischen Welt zu erreichen war, da trug sich zu, was sich in gewaltigen Bildern Novalis dem Seher enthüllte, als er den Blick rückwärts wandte. Er sah die Zeit, wo die Seelen der Pflanzen, der Tiere und der Menschen noch Genossen von göttlichen Wesenheiten waren, als jene Unterbrechung des Bewußtseins noch nicht eingetreten war, die für den Menschen auftaucht in dem Wechsel zwischen Nacht und Tag - und als noch nichts vorhanden war von jener Unterbrechung, die sich ausdrückt in den Worten Geburt und Tod. Alles Leben floß im Geistig-Seelischen dahin, und die Worte Geburt und Tod hatten noch keinen Sinn für das Walten in der urfernen Vergangenheit.

Da schlug ein in dieses Leben der Götter und göttlichen Erdenwesen der Gedanke des Todes, und herunter in die irdische Welt ging die geistige. Verborgen wurden die Götterwesen in irdische Leiber, verzaubert wurden die Götterwesen in die Reiche der Mineralien, Pflanzen, Tiere. Aber wer fähig wird, wiederum zur spirituellen Welt zurückzugehen, der findet die Götter in allen Erscheinungen; der lernt erkennen, daß die Götter vorher verbunden waren mit den Menschen, bevor irdisches Leben da war. Und er lernt, was das Leben der Seele ist, er lernt erkennen, daß der Tag mit seinen Ein drücken ein schwacher Ausschnitt ist aus der großen Welt, deren Wesentliches die Dauer, die Ewigkeit ist. Und er lernt entzaubern, was in den Reichen der Natur schwebt.

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Das trat in Novalis` Seele ein, als er in seinem Ewigen mit der Seele seiner Sophie verbunden war - und ihr nachstarb. Und in diesem Nachsterben wurde der Geist lebendig. Da hatte er dieses «Stirb und Werde» erlebt, und da ging ihm auf, was er nennt seinen «magischen Idealismus».

Es folgre die Rezitation der vierten Hymne, ab Zeile 20, und des Anfangs der fünften Hymne.

So konnte Novalis hineinschauen in die Zeiten, in denen die Götter unter den Menschen waren, als alles geistig sich abspielte, als noch nicht die Geister und Seelen heruntergestiegen waren in irdische Leiber. So konnte er sehen den Übergang: wie der Tod einschlug in die Welt, und wie der Mensch in jenen Zeiten den Tod darstellte in seiner irdischen Abschattung und wie er ihn durch Phantasie, durch Kunst zu verschönen suchte. Aber Rätsel blieb der Tod.

Da trat etwas ein von universeller Bedeutung. Und Novalis konnte schauen die universelle Bedeutung dessen, was damals in der Welt geschah. Heruntergestiegen waren die Seelen der Reiche der Natur in die Welt. Vergessen war die Erinnerung an den geistigen Urgrund des Daseins, doch war geblieben eine besondere geistige Wesenheit in diesem universellen Mutterschoß, aus dem alles heruntergestiegen war. Eine Wesenheit war vorläufig zurückgeblieben; sie hatte sich drobengehalten und nur vorläufig ihre Gabe der Gnade heruntergeschickt, um dann, wenn die Menschheit es am meisten brauchen würde, selber herunterzusteigen in die irdische Sphäre. Es war geblieben in der Sphäre der Geistigkeit oben das Wesen des geistigen Lichtes, jenes Wesen, das sich hinter dem physischen Sonnenwesen verbarg. Es hält sich in himmlischen Sphären und steigt herunter, wenn die Menschheit es braucht, auf daß diese wieder hinaufgetragen werden könne in die geistigen Welten. Und es stieg herunter, als mit dem Mysterium von Golgatha der Christus in einem physischen Menschenleib erschien.

Man begreift diesen Christus in seiner universellen Entfaltung, wenn man dasjenige, was in dem Jesus von Nazareth lebte, hinaufverfolgt

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bis zu seinem geistigen Ursprung, bis zu jenem geistigen Lichte. Dann begreift man auch, wie dieses einbezogen war in dasjenige, was das unenträtselbare Rätsel des Todes war. Als ein sinnender Jüngling erschien dem griechischen Geiste der Tod, als ein Rätsel, das nicht gelöst werden konnte. Aber auch der Grieche erahnte, daß das Rätsel, welches sich in der Seele dieses Jünglings birgt, seine Lösung gefunden hat mit dem Ereignis von Golgatha, daß da das Leben den Sieg über den Tod davongetragen hat, und daß dadurch ein neuer Einschlag der Menschheit gegeben war.

Das konnte Novalis schauen; und dadurch erhielt er den Mysterienglauben, das Mysterienwissen über den Stern, der die alten magischen Weisen geführt hat. Da wurde ihm das ganze Wesen dessen klar, was der Christus-Tod bedeutet. Da enthüllte sich ihm in der Nacht des Seelischen das Rätsel des Todes, das Rätsel des Christus. Da war es, daß diese eigenartige Individualität wissen lernte - durch ihre Erinnerung an die früheren Leben -, was der Christus, was das Ereignis von Golgatha für die Welt bedeutete.

Anschließend rezitierte Marie von Sivers (Marie Steiner) den Schluß der fänften und die sechste Hymne.

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NOVALIS DER SEHER DAS WEIHNACHTSMYSTERIUM Berlin, 22. Dezember 1908

Von Zeit zu Zeit stehen immer wieder Menschen auf, welche dasjenige, was nun seit vielen Jahrhunderten von Tausenden und aber Tausenden im Herzen gefühlt, in der Seele empfunden wird, auch schauen. Nur derjenige, welcher mit dem lebt, was wir in unserer neueren Zeit durch die geheimwissenschaftlichen Einsichten uns erringen, der weiß, daß dieses von Tausenden und aber Tausenden Gefühlte von den Sehern jederzeit geschaut werden kann, daß geschaut werden kann, was als Folge eingetreten ist des unsere ganze Entwickelung beleuchtenden Ereignisses von Golgatha.

Durch dasjenige, was auf Golgatha geschehen ist, hat sich die ganze geistige Sphäre unseres Erdkreises verändert. Und der Seher sieht seitdem, wenn nur sein inneres Auge durch jene Gefühle, die uns mit dem Ereignis von Golgatha verbinden können, ein wenig geöffnet ist, die Folge dieses Ereignisses: die immerwährende Anwesenheit der Christus-Macht, die seit jener Zeit dem geistigen Erdenumkreis einverleibt ist. Die anderen fühlen und empfinden, wenn sie sich hindurchringen durch die großen Wahrheiten und die gewaltigen Impulse der Verkündigung des Ereignisses von Golgatha, die Gewalt dieser Tatsache. Sie empfinden, daß seit jener Zeit des Menschen Herz etwas anderes erleben kann als vorher auf der Erde; sie wissen, daß etwas da ist, was vorher nicht in der gleichen Weise gefühlt werden konnte. Und der Seher sieht dieses.

Ein solcher Seher, wie durch die Gnade der geistig-göttlichen Mächte, man möchte fast sagen, wie durch ein Wunder zum Seher berufen, ein solcher Seher war der deutsche Jüngling-Dichter Novalis. Durch ein ihn tief erschütterndes Ereignis, das ihn wie mit einem Zauberschlage gelehrt hat die Beziehung zwischen Leben und Tod, wurde ihm das geistige Auge aufgetan, und ihm war neben dem großen Rückblick in die Vergangenheit der Erden- und Weltenzeiten auch vor dieses geistige Auge gerückt die Christus-Wesenheit. Er

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durfte von sich sagen gegenüber dieser Christus-Wesenheit, daß er zu denjenigen gehöre, die mit ihrem geistigen Auge selbst gesehen haben, was sich enthüllt, wenn sich der «Stein hebt», und sichtbar wird diejenige Wesenheit, die für unser Erdendasein den Beweis geliefert hat, daß das Leben im Geistigen immerdar den Tod besiegt.

Wir dürfen - wie es schon geschehen ist - Novalis nicht eigentlich einen Menschen nennen, der ein Leben hatte, sondern etwas wie eine Erinnerung an ein früheres Leben. Mit seiner wie durch Gnade ihm verliehenen Einweihung ging ihm zu gleicher Zeit alles das auf, was er sich in früheren Inkarnationen errungen hatte; es war eigentlich nur eine große Gabe der Zusammenfassung von Einsichten, die er in einem früheren Leben gehabt hatte. Und weil er den Rückblick hatte in jene Zeiten und mit geistigem Auge schauen konnte, durfte er sagen, daß ihm unvergleichlich im Leben ist das große Ereignis, da er in sich selbst entdeckt hatte, was der Christus ist. Es ist solch ein Erlebnis wie eine Wiederholung des Ereignisses von Damaskus, wo Paulus, der bis dahin die Anhänger des Christus Jesus verfolgt und nicht ihrer Verkündigung gehorcht hatte, durch höheres Schauen den unmittelbaren Beweis erhielt, daß Er da ist und lebt, daß etwas geschehen ist durch das Ereignis von Golgatha, das einzig und allein dasteht in der ganzen Menschheitsentwickelung. So können die, welchen das Auge aufgetan ist, dieses Ereignis wiederholt sehen. Der Christus ist nicht bloß in dem Leibe dagewesen, in dem er gewohnt hat. Er ist mit der Erde verbunden geblieben; die Sonnen- kraft hat sich durch ihn mit der Erde verbunden.

«Einzig» nennt Novalis daher die Offenbarung, die er erhalten hat, und er nennt diejenigen Menschen allein im Grunde wirkliche Menschen, die mit ihrer ganzen Seele an diesem Ereignis teilnehmen wollen. Er sagt mit Recht, daß auch das geistig herrliche alte Indien zum Christus sich bekennen würde, wenn es diesen Christus erst er- kennen würde. Und er sagt aus seiner Erkenntnis heraus, nicht aus seiner Ahnung, nicht aus blindem Glauben, sondern aus seiner Erkenntnis heraus daß der Christus, den er geistig geschaut hat, dasselbe ist, was alle Wesen als eine Kraft durchdringt. Und das Auge kommt dahin, diese Kraft zu erkennen, wenn diese Kraft in ihm

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wirkt. Das Auge, das den Christus schaut, ist von der Christus-Kraft gebildet. Christus-Kraft im Auge schaut den Christus außer dem Auge.

Ein wunderbar großes und gewaltiges Wort! Und auch jenen gewaltigen Zusammenhang erkennt Novalis, daß dasjenige, was wir den Christus nennen, seit dem Ereignis von Golgatha der planetarische Geist der Erde ist, der Erdengeist, der immer mehr und mehr den Erdenleib umgestalten wird. Und ein wunderbarer Ausblick eröffnet sich dem Novalis in die Zukunft: Er sieht die Erde umgestaltet; er sieht die heutige Erde, die noch die Reste alter Zeiten in sich enthält, umgestaltet zum Leibe Christi; er sieht alles, was an Flüssigkeiten in der Erde fließt, durchdrungen von dem Blute des Christus, und er sieht alles, was an Felsen in der Erde ist, als das Fleisch des Christus. Er sieht allmählich übergehen den Leib der Erde in den Leib des Christus. Und in einem wundersamen Zusammenwirken stellt sich ihm dar das Eins-Gewordensein alles dessen, was Erde und Christus ist: die Erde in der Zukunft als ein großer Organismus, in dem der Mensch eingebettet sein wird und dessen Seele der Christus ist.

Von diesem Gesichtspunkte aus nennt Novalis tief aus seiner Empfindung der geheimwissenschaftlichen Erkenntnis heraus den Christus den Menschensohn. So wie die Menschen in gewissem Sinne die Göttersöhne sind, das heißt die Söhne der alten Götter, die uns unseren Planeten zurechtgezimmert haben durch Jahrmillionen und Jahrmillionen, die uns die Häuser gebaut haben, in denen wir wohnen, und den Boden, auf dem wir herumgehen, so wird der Mensch aus sich selber heraus, mit Überwindung des Irdischen, eine Erde aufzubauen haben, die der Leib des neuen Gottes, des zukünftigen Gottes sein wird. Und wenn alte Zeiten zurückgeschaut haben zu den uralt-heiligen Göttern, vereinigt sein wollten im Tode mit ihnen, so erkennt Novalis den Gott, der da einstmals tragen wird zu seinem Leib alles das, was unser Bestes ist, und was wir hinopfern können zu dem Leibe des Christus. Er erkennt in dem Christus dasjenige, dem sich die Menschheit hinopfert, damit es einen Leib habe. Er erkennt darin in dem höheren kosmologischen Sinne den «Menschensohn». Er nennt den Christus den «Gott der Zukunft».

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Das alles sind Empfindungen so bedeutsamer Art, daß sie wohl geeignet sind, unsere Seele in die rechte Weihnachtsstimmung zu bringen. Und so lassen wir denn ihn, der da ein Leben gelebt hat am Ende des 18. Jahrhunderts, ein kurzes Leben, der da mit neunundzwanzig Jahren gestorben ist, lassen wir ihn jetzt seine Empfindungen schildern, wie sie sich in seinem Leben angegliedert haben an das größte Ereignis seines Lebens: an die einmalige große Einschau in die Christus-Wesenheit.

Hier trug Marie von Sivers (Marie Steiner) das Gedicht «Wenn alle untreu werden... aus den Geistlichen Liedern» vor.

Es ist noch nicht lange her, daß der Weihnachtsbaum das Symbolum des Weihnachts-Christfestes ist. Noch nicht wird man ein Gedicht auf den Weihnachtsbaum bei einem Dichter finden, wie es zum Beispiel Schiller ist, der zweifellos die Poesie des Weihnachtsbaumes hätte empfinden müssen, wenn es ihn damals schon gegeben hätte, und dem es nicht schwer gefallen sein würde, ein Gedicht auf den Weihnachtsbaum zu finden. Es gab den Weihnachtsbaum damals noch nicht in unserer Form. Er ist eine junge Schöpfung. In anderer Weise haben vorher die Menschen dieses Fest gefeiert, und so weit wir zurückschauen können in den Lauf der Zeiten, wir werden, solange Menschen in ihrer gegenwärtigen Gestalt oder in der Anlage zu der gegenwärtigen Gestalt in Betracht kommen, so etwas wie das Weihnachtsfest überall finden. Wir werden es finden in den breiten Volksmassen überall, wir werden es finden bis in die Höhen der Mysterien hinauf in immer neuen Formen.

Gerade die Tatsache, daß das Christfest uralt und unser gegenwärtiges Symbolum dafür so neu ist, zeigt uns, daß etwas Ewiges mit diesem Fest verbunden ist, aber ein solches Ewiges, daß immer neue und neue Gestalten aus seinem Schoß hervortreibt. Wahrlich, so alt die Menschheit auf der Erde ist, so alt ist das Christfest, so alt sind Empfindungen, die mit diesem Fest symbolisiert werden. Aber immer wird die Menschheit die Kraft haben, in neuen, verjüngten Symbolen, wie sie den Zeiten angemessen sind, einen äußeren Ausdruck

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für dieses Fest zu haben. Wie sich die Natur alljährlich verjüngt, die ewigen Kräfte derselben in immer neuen und neuen Formen aus ihr hervorsprießen, so verjüngen sich die Symbole für die Weihnachtsandacht immer wieder und zeigen damit gerade das Ewige und das Ständige dieses Festes. Und so stehe denn heute einmal in dieser unserer feierlichen Weihnachtsstunde vor unserer Seele dasjenige, was sich ergeben kann, wenn wir den Weg durchmachen, der uns ein wenig zeigen kann, wie denn eigentlich die Menschen in der Zeit, die wir heute als unsere Weihnachtszeit feiern, empfunden haben.

Weit, weit zurückgehen können wir, wie es uns als Schülern der Geisteswissenschaft angemessen ist, in urferne, vergangene Zeiten. Wir gehen zurück in jene Zeiten zunächst, in denen unsere Seelen verkörpert waren in alten atlantischen Leibern, in Leibern, die wenig noch unseren gegenwärtigen Leibern ähnlich gesehen haben. Große Lehrer der Menschheit gab es dazumal, die zu gleicher Zeit die Führer dieser Menschheit waren. Anders hat der Mensch dazu- mal in die Welt hineingeschaut. Es war nicht die helle Sonne des Tages, die in scharfen Konturen, in ausgeprägten Linien die Gestalten der äußeren Gegenstände, der Naturreiche ihm schon zeigte. Alles, was um den Menschen herum war, war wie in Nebel getaucht, nicht allein deshalb, weil ein großer Teil der atlantischen Welt auch äußerlich mit Nebelmassen bedeckt war und das Sonnenlicht noch nicht wie später durch den Nebel hindurchdringen konnte, sondern auch aus dem Grunde, weil des Menschen Wahrnehmungsvermögen noch nicht dahin gediehen war, äußere Gegenstände in deutlichen Umrissen zu sehen. Wenn der Mensch des Morgens aufwachte und die äußere Welt, die Gottesnatur um sich herum wahrnehmen wollte, sah er nur verschwommen die Dinge, mit farbigen Rändern umgeben, und alles wie in Nebel getaucht. Und wenn er des Abends einschlief, schlief er hinein in eine geistige Welt. Nicht war es so, daß Selbstvergessenheit und Unbewußtheit sich um den Menschen herumlagerte, wie es heute der Fall ist, wenn der Mensch einschläft.

Der Mensch sah in der atlantischen Zeit, wenn er schlief, die geistig-göttlichen Wesen, die seine Genossen waren. Um sich herum sah

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er alle jene Gestalten, die einmal Wirklichkeit waren für den Menschen> die Erlebnisse waren für den Menschen. Er sah auch alle diejenigen Gestalten, welche sich dann in der Erinnerung erhalten haben für die verschiedensten Gegenden der Erde unter den verschiedensten Namen: Wotan, Thor, Baldur und so weiter nannten sie unsere Vorfahren in Mitteleuropa; Zeus, Pallas, Athene, Ares und so weiter nannten die Menschen im alten Griechenland jene göttlich- geistigen Gestalten, die einstmals ihre Seelen geschaut hatten in der alten Atlantis. Aber in der atlantischen Zeit waren die göttlichen Welten nicht mehr die ganz hohen schöpferischen göttlichen Welten, aus deren Schoß der Mensch einstmals hervorgegangen ist in der lemurischen Zeit. Unsere Seelen haben sich einst erhoben aus göttlichen Wesen, deren Herrlichkeit und Größe der Mensch heute nur ahnen kann. Dieselben göttlichen Wesen enthüllten den Menschen aus ihrem Schoß, sie haben hervorgehen lassen Weltenkugeln und alle Kräfte, die um uns herum sind. Der Mensch war im Schoße von göttlichen Wesenheiten, deren äußerer Ausdruck uns von den Weltenkugeln herunterleuchtet, unter denjenigen Wesen, die wir sehen im Blitzezucken, im Donnerrollen, deren Ausdruck die Pflanzen und Tiere und für welche die Kristalle Sinnesorgane sind. Alles, was wie Wärme an uns herandringt, was an Kräften uns umspielt, ist Leib göttlich-geistiger Wesenheiten, und der Mensch ist entsprungen aus dem Schoß dieser göttlich.geistigen Wesenheiten. Je mehr er herabstieg auf unsere Erde, je mehr er sich vereinigte mit den materiellen Substanzen, je mehr er sich eingliederte die Materie unserer Erde, desto geringer wurde sein Sehvermögen für die großen Götter.

Während in Urzeiten, wo in dem Menschen noch kein sinnliches Erkenntnisvermögen war, wo er noch nicht aus Augen sehen und aus Ohren heraus hören konnte, wo auf und ab wogten Bilder in seiner Seele, welche die Bilder nicht von Mineralien, Tieren und Pflanzen waren, sondern von göttlich.geistigen Wesenheiten, die über ihm standen, trat dann in späteren Zeiten der Mensch immer mehr und mehr heraus auf den physischen Plan, lernte durch die äußeren Sinnesorgane den physischen Plan kennen. Es war in der atlantischen

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Zeit wie eine Abwechslung zwischen dem Sehen auf dem physischen Plan und einem alten Hellsehen vorhanden, das wie ein Rest zurückgeblieben war von der alten geistigen Herrlichkeit, in der der Mensch einst gelebt hat. Gegenüber den ganz hohen Göttern waren es niedere Götter, die der Mensch noch wahrnehmen konnte auf dem astralischen Plan, wenn er in der Nacht die Seligkeit genoß, ein geistiges Wesen unter geistigen Wesen zu sein.

Je heller der physische Plan wurde, desto weniger vermochte der Mensch auf den geistigen Planen zu sehen. Aber es hatte der Mensch in der alten atlantischen Zeit Eingeweihte. Diese Eingeweihten der alten Atlantis konnten neben den tieferen Lehren von den alten Göttern, aus deren Schoß der Mensch entsprungen ist, schon einiges vorherverkündigen. Vorherverkündigen konnten sie den Menschen, daß es etwas gibt in der Welt, was so anzusehen ist, daß man es etwa durch folgenden Vergleich klarmachen kann: Sieh dir an einen Pflanzenkeim; sieh dir an, wie dieser Pflanzenkeim zur Pflanze sich entwickelt. Er wächst, er treibt Blätter, Kelchblätter, Blüte und die Frucht. Wer so vor der Pflanze steht, der kann sich sagen: Ich blicke zurück auf den Pflanzenkeim; er ist der Schöpfer der Blätter und der Blüte, die vor mir stehen, und diese Blüte birgt etwas in sich; diese Blüte birgt den Keim zu einer neuen Pflanze in sich, zu einem neuen Keim formt sich die Blüte.

Und so> wie man in die Zukunft der Pflanze sehen kann und zurückblicken in deren Vergangenheit, so konnten die großen atlantischen Eingeweihten sagen zu ihren Schülern, und durch die Stimme der Schüler zum ganzen Volke sprechen: Zurück könnt ihr blicken zu den Götterkeimen in der Welt, aus deren Schoß die Menschen entsprungen sind. Was ihr um euch herum seht, Geistiges und Physisches, das alles sind Blätter, die hervorgesprossen sind aus den alten Götterkeimen. Schaut in ihnen die Kräfte dieser alten Götterkeime, wie man in den Pflanzenblättern schauen kann die Kraft des Keimes, aus dem die Pflanze entsprungen ist. Aber wir vermögen auf noch etwas anderes hinzuweisen: In der Zukunft wird etwas sich ausbreiten um den Menschen herum, was da sein wird wie die Blüte der Pflanze, was allerdings ein Ergebnis ist der alten Götter, aber was in

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sich enthält einen Keim, wie die Blüte einen Keim enthält und reif macht, einen Keim, der in sich entfaltet die neue Gottheit.

Daß die Welt von Göttern geboren ist, das war die alte Lehre; daß die Welt einen Gott gebären wird, den großen Gott der Zukunft, das war die große Prophetie der atlantischen Eingeweihten an ihre Schüler, und damit auch an die Völker. Denn das war das Eigenartige der atlantischen Eingeweihten, daß sie wie alle Eingeweihten die großen Ereignisse der Zukunft sahen. Sie sahen hinüber über die große atlantische Flut, hinüber über das große Ereignis, das die Länder der Erde umgestaltete. Sie sahen hinter der atlantischen Zeit alle die Kulturen, die hervorsprießen werden in der späteren Zeit; sie sahen hin auf das Land der heiligen Rishis, auf das Land Zarathustras, auf die Kultur des alten Ägypten, die durch Hermes begründet wurde, auf die Vorherverkündigung des Moses; hin sahen sie auf das glückliche Griechenland, auf das starke Rom, bis auf unsere Zeit; und weiter in die Zukunft hinein. Und Hoffnung war es, was sie ihren intimen Schülern einprägten.

Sagen konnten sie ihnen dieses: Wohl müßt ihr verlassen alle die Gefilde des geistigen Landes, in denen ihr jetzt seid. Wohl müßt ihr euch hineinverstricken in die Materie, wohl müßt ihr euch ganz und gar umkleiden mit den Kleidern, die aus dem physischen Stoffe genommen sind. Eine Zeit wird kommen, wo ihr arbeiten müßt auf dem physischen Plan, wo euch wie entschwunden erscheinen werden die heiligen alten Götter. Aber hinblicken möget ihr dahin, wo euch aufgehen kann der neue Stern, wo entsprießen kann der neue Keim, der zukünftige Gott, der sich aufbewahrt hat durch die Zeiten hindurch, um zur rechten Zeit zu erscheinen in der Menschheit!

Und wenn die atlantischen Eingeweihten ihren Schülern und da- mit dem ganzen Volke sagen wollten, warum man heruntersteige in das irdische Tal, dann machten sie sie aufmerksam> daß einstmals von allen Seelen erlebt und gesehen werden wird Er, der da kommen wird, den sie jetzt noch nicht schauen konnten, weil er in solcher Region war, daß ihn das Auge nicht sehen konnte, das physische Auge nicht, aber auch das geistige Auge nicht mehr, das ihn einstmals gesehen hat, als der Mensch noch im Schoße der Götter ruhte.

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Und die atlantische Flut kam. Das Antlitz der Erde wurde verändert. Ganz anders schaute es aus nach einiger Zeit. Nach der großen Völkerwanderung von dem Westen nach dem Osten entstanden die großen nachatlantischen Kulturen, als ,erste die Kultur des alten heiligen Indiens. Die Lehrer des alten Indien, die sieben heiligen Rishis, lehrten ihre Schüler, und damit das ganze indische Volk, daß es eine geistige Welt gäbe; denn das indische Volk brauchte die Lehre von der geistigen Welt. Es war herausversetzt ganz auf den physischen Plan, und während des Lebens auf dem physischen Plan konnten die Augen nur sehen die äußere Gestalt der physischen Welt, als den Ausdruck des Geistigen, nicht aber das Geistige selbst. Aber in der Seele eines jeden solchen Inders war etwas vorhanden, was man nennen kann eine dunkle Erinnerung an das, was einst die Seele unter Göttern in der alten Atlantis erlebt hatte. Diese Erinnerung weckte eine Sehnsucht, und diese Sehnsucht war so stark, daß die indischen Seelen kein intimes Verhältnis eingehen konnten mit dem physischen Plan, so daß ihnen der physische Plan erschien als Maja, als Illusion, als ein Unwirkliches, und daß die Sehnsucht immer noch nach dem Verlorenen hin ging. Die Seelen hätten es nicht ausgehalten auf dem physischen Plan, wenn nicht die mit dem Geiste durchsetzten Rishis hätten verkündigen können die Lehre von der Herrlichkeit der alten Welt, die die Menschen verloren haben. So konnten die heiligen Rishis die Lehren von dem Kosmos verkünden, die heute nur nOch wenig verstanden werden, die Lehre einer Weisheit der Vorzeit, weil sie eingeweiht waren in das, was der Mensch erlebt hatte, als er noch im Schoße der Götter war. Der Mensch war ja dabei, als die Götter die Sonne von der Erde abspalteten, als sie den Weltenkugeln ihren Weg anwiesen; er hatte es nur vergessen während seiner späteren Erdenwanderung.

Diese Weisheit wurde von den Rishis gelehrt, aber auch noch etwas anderes. Es wurde gelehrt lür die, welche schon eine Empfindung dafür entwickeln konnten - und das waren gerade die Vorgeschrittensten -, daß aus dieser Welt, in die der Mensch jetzt herausversetzt war, die ihm jetzt als Illusion und Maja erscheint, ersprießen wird derjenige, der jetzt noch nicht geschaut werden kann in

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dieser Welt, weil die Seele des Menschen noch nicht so weit ist, die Kraft zu entwickeln, um dieses Wesen zu erkennen, daß Er aber erscheinen wird, Er, von dem die Rishis sagten, er sei «jenseits ihrer», Es gab keine Zeit, wo Er nicht verkündigt worden ist, solange Menschenkultur und Menschensinn in Betracht kommen. Wenn die Späteren die Verkündigung vergessen haben so ist das nicht die Schuld der großen Lehrer der Menschheit.

Dann kam die uralte persische Kultur, deren Führer der Zarathustra war. Zarathustra konnte schon seinen intimen Schülern und da- mit seinem Volke sagen, daß in all dem, was den Menschen umgibt, in dem, was als Kraft von der Sonne zu uns dringt, was von den an- deren, zu unserem Erdensystem gehörigen Sternen kommt, daß in allem, was den Luftraum erfüllt, eine Wesenheit lebt, die sich aber jetzt nur noch in verhüllter Gestalt dem Menschen zeigt. Seinen Eingeweihten konnte Zarathustra sprechen von der großen Sonnenaura, Ahura Mazdao, von dem guten Gotte. Und er sagte etwas zu ,seinen Schülern was man etwa wieder durch folgenden Vergleich klarmachen könnte: Seht euch einmal die Pflanze an. Aus dem Keim entsteht sie, Blätter entwickelt sie nach allen Seiten, die Blüte entwickelt sie, aber es ist so, wie wenn ein Geheimnisvolles sich durch die ganze Pflanze durchzieht und im Mittelpunkt der Blüte als der neue Keim erscheint. Abfallen wird das, was ringsherum ist;

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aber die innerste Kraft, die ihr im Inneren der Blüte sehen könnt, die ist es, von der ihr schon ahnen könnt, daß eine neue Pflanze aus der alten entstehen könnte. Wenn ihr die Kraft des Sonnenlichtes betrachtet, und wenn ihr dieses Sonnenlicht so empfindet, daß ihr in ihm nur den physischen Ausdruck eines Geistigen erblickt und euch von der geistigen Sonnenkraft inspirieren laßt, dann wird euch aufgehen die Vorherverkündigung der göttlichen Frucht, die aus der Erde geboren werden soll!

Und wenn diese intimen Schüler weiter und weiter vorgerückt waren, dann konnten sie wohl auch in bestimmten Zeiten teilnehmen an geheimeren Lehren, und Zarathustra konnte ihnen in weihevoller Stunde das Bild malen von Einem, der da kommen wird, wenn die Menschen so weit sind, daß sie in ihrer Mitte verständnisvoll empfangen können diesen Einen. Gewaltige Bilder dieses Zukünftigen stellte Zarathustra vor seine Schüler hin. Einem konnte er das Bild zeigen und einem zweiten konnte er eine Art von Abglanz davon zeigen; die anderen konnten nur in einem umfassenden Bilde das, was in der Zukunft geschehen soll, empfangen.

So war es also auch in der alten persischen Kultur, in der Zarathustra-Kultur, daß vorherverkündet wurde derjenige, welcher später der Christus genannt wurde. Und es war auch in der ägyptischen Kultur so. Auch Hermes hat seinen ägyptischen Eingeweihten und damit dem ganzen ägyptischen Volke in einer gewissen Weise den Christus vorherverkündigt. Ein Abglanz dieser Christus-Vorherverkündigung kann uns erscheinen in der Osiris-Sage. Was wurde denn mit der Osiris-Sage den Menschen klargemacht? Die Osiris-Sage er- zählt ja folgendes: Einst, in alten Zeiten, herrschte zum Glück seines Volkes Osiris im Ägypterlande, treu vereint mit seiner Gattin Isis. Da machte sich der böse Bruder Set oder Typhon daran, den Osiris zu verderben. Er formte dazu einen Kasten und warf ihn, mit dem Osiris darin, in das Meer hinaus. Isis fand zwar den Kasten wieder, aber sie konnte es nicht dahin bringen, daß Osiris wieder auf der Erde lebte. Er wurde in höhere Regionen entrückt, und sehen können ihn seitdem die Menschen nur, wenn sie durch das Tor des Todes durchgegangen sind. Jedem Ägypter wurde klargemacht: Du

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kannst nach dem Tode so mit dem Osiris vereint sein, wie deine Hand mit deiner Seele vereint ist. Du kannst einst ein Glied des Osiris sein, ihn dein höheres Ich nennen, aber nur dann, wenn du es dir auf dem physischen Plane verdient hast. Mit dem Gotte, den du deinen höchsten nennst, kannst du nach dem Tode vereinigt sein.

Dem Eingeweihten konnte man noch etwas anderes zeigen: Wenn er durchgemacht hatte alle die Erprobungen und Prüfungen, alle die Lehren, die man durchzumachen hat, um in die höheren Welten hineinzuschauen, dann wurde dem Eingeweihten schon während des physischen Lebens, schon im Leben zwischen Geburt und Tod selber das Bild des Osiris gezeigt. Was dem anderen Menschen entgegentrat, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten war und womit er sich vereinigt fühlen sollte, das trat dem Geheimschüler der ägyptischen Eingeweihten entgegen, wenn er außer dem Leibe war, nachdem sein Ätherleib, sein astralischer Leib und sein Ich aus dem physischen Leibe herausgeholt waren. Dann konnte derjenige, der das geschaut hatte, der den Osiris schon bei Lebzeiten geschaut hatte, den anderen verkündigen, daß der Osiris lebt.

Aber niemals hat man im alten Ägypten verkünden können: Der Osiris lebt unter uns! - Man hat das gerade in der Sage dadurch ausgedrückt, daß man sagte: Osiris ist ein König, der niemals auf der Erde gesehen worden ist. - Denn der «Kasten» ist nichts anderes als der physische Leib. In dem Augenblicke, wo der Osiris in den physischen Leib gelegt wird, machen sich die feindlichen Kräfte der physischen Welt, die noch nicht reif ist, den Gott in sich aufzunehmen, so stark geltend, daß sie den Gott verderben. Die physische Welt ist noch nicht reif, den Gott, mit dem der Mensch eins werden soll, aufzunehmen. Aber wenn wir euch sagen - so sprachen die, welche persönlich Zeugnis ablegen konnten, daß der Osiris lebt, mit dem der Mensch eins werden soll seiner inneren Wesenheit nach -, wenn wir euch sagen, daß der Gott lebt: sehen kann ihn nur der Eingeweihte, wenn er die physische Welt verläßt. Es lebt der Gott, mit dem der Mensch einstens eins werden soll, aber nur in der geistigen Welt. Nur wer die physische Welt verläßt, der kann mit dem Gotte vereinigt sein!

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Dabei war es so, daß die Menschen die physische Welt immer lieber und lieber gewannen; denn es war ihre Aufgabe, in der physischen Welt zu wirken und Kultur auf Kultur in der physischen Welt herbeizuführen. In demselben Maße, in dem die Augen klarer hinausschauten, in dem der Verstand besser einsehen konnte, was in der physischen Welt geschah, in demselben Maße, wie der Mensch in die Lage kam, immer mehr zu wissen und Entdeckungen und Erfindungen machte in der physischen Welt, durch die er sich das physische Leben erleichterte, in demselben Maße wurde es ihm immer schwerer, zwischen Geburt und Tod drüben in der geistigen Welt zu schauen. So konnte er zwar von den Eingeweihten hören, daß der Gott lebt, mit dem er sich vereinigen wird, aber er konnte wenig mitnehmen aus dieser Welt, was ihm das Mitleben des Osiris in der anderen Welt klar und deutlich hätte machen können. Immer mehr und mehr verdunkelte sich das Leben in der höheren Welt, so daß der Mensch nur noch vermuten konnte, daß der Gott lebt, mit dem er eins werden sollte.

Und es kam die griechische Welt, es kam das für den physischen Plan glückliche Griechenland, in dem die Menschen für den physischen Plan jene wunderbare Ehe zwischen dem Geist und der Materie geschlossen haben. Wir schauen uns an die wunderherrlichen Werke des alten Griechenland, und wenn wir diese Werke vor uns auftauchen lassen, so werden wir ein Bild davon haben, wie die Menschen in dieser Zeit, wo sich das Ereignis von Golgatha abspielen sollte, zur geistigen Welt standen. Man kann es sich nicht denken, aber es ist doch wahr, daß dem Höhepunkte in der Architektur, welcher der griechische Tempel ist, in den Beziehungen der Menschen zur geistigen Welt der tiefste Punkt entspricht.

Wir denken uns, ein griechischer Tempel stände vor uns. In seinen Formen, in seiner Geschlossenheit ist er der reinste und edelste Ausdruck des Geistigen, so daß hier einmal gesagt werden konnte, der Gott selber wohne in dem griechischen Tempel. Er war darinnen gegenwärtig. Denn die Linien, die in die Materie hineingeheimnißt waren, waren durchaus dem geistigen Weltenplane angemessen und jenen Linien angemessen, die als Raumesrichtungen den physischen

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Plan durchziehen. Und es gibt keine reinere, schönere, edlere Durchdringung von Menschengeist mit der physischen Materie als es ein griechischer Tempel ist. Und daher gibt es auf dem physischen Plan auch keine andere Möglichkeit, als so zu durchdringen die höhere Götterwelt mit der physischen Materie, wie es beim griechischen Tempel oder beim griechischen Kunstwerk überhaupt der Fall ist. Die Griechen haben es zustande gebracht, durch die Art, wie sie ihre Kunstwerke geschaffen haben, die Götter der alten Zeit zu sich herabsteigen zu machen. Und haben die Griechen es auch nicht gesehen, wenn Zeus Oder Pallas Athene heruntergestiegen sind - es waren doch die Götter hineingebannt in diese Kunstwerke, die Götter, unter denen die Menschen einst in der atlantischen Zeit gelebt haben und die sie gesehen haben. Die Menschen konnten den alten Göttern in den alten Zeiten eine herrliche Wohnstätte gewähren.

Und nun sehen wir einmal, was in einer gewissen anderen Richtung der griechische Tempel darstellt. Denken Sie sich, das hellseherische Bewußtsein stelle sich gegenüber einem griechischen Tempel. ~''Was jetzt gesagt wird, gilt auch gegenüber den spärlichen Überresten, die noch vorhanden sind von der griechischen Tempelwelt. Denken Sie sich, das hellseherische Bewußtsein stände gegenüber einem solchen Überrest, wie Sie ihn in dem Tempel von Paestum haben: Wonne und Seligkeit für das Leben im physischen Leib kann man empfinden durch die Harmonie der Linien, die da die Säulen und die Bedachungen bilden. Alles ist von solcher Vollkommenheit, daß in dem Physischen ein Göttliches vorgestellt und empfunden werden kann. In einem solchen Gefühl kann man leben, wenn man durch die Augen des physischen Leibes schaut diese Harmonie der griechischen Architektur. Und nun denken Sie sich das hellseherische Bewußtsein hineinversetzt in die geistige Welt. Da ist es so, wie wenn sich etwas wie eine schwarze Wand vorziehen würde vor das, was Sie sehen können in der physischen Welt, und wie ausgelöscht ist das, was auf dem physischen Plan zu sehen ist. Nichts kann von diesen Wunderherrlichkeiten des physischen Planes mit hinübergenommen werden in die geistige Welt. Das Herrlichste des physischen Planes, wenn es nur so ist, löscht sich aus in der geistigen

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Welt. Und da begreifen wir, daß es keine Legende ist, wenn einer derjenigen, die in Griechenland zu den Führern gehört haben, von einem Eingeweihten angetroffen wurde in der anderen Welt, gesagt hat: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als ein König im Reiche der Schatten! - Gerade in Griechenland, wo man solche Wonnen erleben konnte in der physischen Welt, zogen die Seelen, wenn sie in die Welt des Todes eingingen in ein düsteres, dunkles Schattenreich ein. Herrlich war der physische Plan geworden, aber in demselben Maße verödete die geistige Welt.

Und nun vergleichen wir mit dem, was man bei dem griechischen Tempel empfinden kann, zwei andere Dinge: Stellen wir uns Raf faels Gemälde «Madonna di San Sisto» oder Leonardo ö!a Vincis «Abendmahl» vor! Stellen wir uns jene Bildwerke vor, die geschaffen worden sind nach dem Ereignis von Golgatha, und in die eingeflossen sind die Geheimnisse von Golgatha. Der Mensch kann Seligkeiten empfinden gegenüber diesen Bildern, kann sich damit Wonnen in seine Seele gießen. Und das ist auch bei dem hellseherischen Bewußtsein der Fall, wenn es auf dem physischen Plan durch seine Augen diese Bilder betrachtet. Wenn es sich jetzt hinausversetzt in die geistige Welt, da sagt es sich, obzwar es das Physische nicht mehr sieht: Was ich hinübernehme von dem, was ich bei diesen Bildern erlebe, das ist nicht nur ein Nachklang des Physischen, das sind nicht nur die Wonnen und Seligkeiten, die ich erlebt habe, als ich das alles gesehen habe, sondern jetzt geht mir erst alle die Herrlichkeit auf; ich habe da nur den Keim gelegt zu dem, was ich jetzt erlebe in größerer Herrlichkeit und größerer Glorie! - Man legt in der physischen Welt, wenn man solche Bilder betrachtet, wo die Geheimnisse von Golgatha hineingeflossen sind, nur den Keim zu einer größeren Erkenntnis in der geistigen Welt. Und wodurch kann das alles geschehen? Dadurch kann es geschehen, daß jene geistige Gewalt, die so lange vorherverkündet worden ist, wirklich auf der Erde erschienen ist, daß die Menschheit so weit gekommen ist, daß sie eine Blüte entfalten konnte, innerhalb welcher der Keim des zukünftigen Gottes reifen konnte. Durch das Ereignis von Golgatha ist dem Erdendasein etwas mitgeteilt worden, das nicht nur mitgenommen

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werden kann in die geistige Welt, sondern das in den geistigen Welten in einer höheren Glorie und höheren Seligkeit aufgeht, und der bedeutsamste Ausdruck ist eben der, der hier schon einmal charakterisiert werden durfte: In demselben Augenblick, als auf Golgatha der physische Leib des Christus Jesus starb, da erschien der Christus bei denen, die dazumal zwischen dem Tode und einer neuen Geburt waren. Er konnte ihnen zuerst verkündigen, was keiner der früheren Eingeweihten, wenn sie hinübergingen in die geistige Welt, verkünden konnte.

Wenn die früheren Eingeweihten - nehmen wir an der eleusinischen Mysterien - von der diesseitigen Welt hinübergingen zu denen, die drüben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt waren, was hätten die eleusinischen Eingeweihten denen da sagen können? Sie hätten ihnen erzählen können von den Ereignissen des physischen Planes; aber nur Sehnsucht und Wehmut hätten sie in ihnen hervorgerufen. Denn die Menschen hatten sich ganz hineingebannt in den physischen Plan. Das Physische konnten sie aber drüben nicht finden, wo alles finster und düster geworden war, und wo sich der, welcher drüben auf dem physischen Plan ein großer Mensch war, so fühlte, daß er sagen mußte: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als ein König im Reiche der Schatten! - Nichts hatten die Eingeweihten, die denen, welche auf dem physischen Plan waren, so viel hatten bringen können, nichts hatten sie denen bringen können, die auf dem anderen Plan dazumal waren. Da geschah das Ereignis von Golgatha - und Christus erschien bei den Toten. Und das erste Mal konnte verkündet werden in der geistigen Welt ein Ereignis aus der physischen Welt, das den Anfang bildet für ein Hinüber- greifen von der physischen Welt in die geistige Welt. Wie ein Lichtstrahl zuckte es auf in den geistigen Welten, als der Christus in der Unterwelt erschien. Denn jetzt war es klar, daß in der physischen Welt der Beweis geliefert worden war, daß das Geistige immer den Tod besiegen kann.

Von diesem Ereignis ging es aus, daß man nun auch in der physischen Welt etwas zu erleben vermag, was man hinüberbringen kann in die geistige Welt. Was man sagen konnte von anderen Dingen, die

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beeinflußt worden sind von dem Ereignis von Golgatha, das finden Sie im Johannes-Evangelium und anderen Verkündigungen, die daran anknüpfen. Wer das Johannes-Evangelium auf dem physischen Plan genießt, der erlebt die Seligkeit des Verständnisses dieser großen Urkunde auf dem physischen Plan. Wer aber dann mit hellseherischem Bewußtsein in die geistige Welt eintritt> der weiß, daß dasjenige, was er beim Johannes-Evangelium empfinden konnte, nur ein Vorgeschmack war von dem, was er jetzt einsaugen kann. Das ist das Bedeutsame dabei, daß man jetzt von dem physischen Plan Schätze mit in die geistige Welt hinübernehmen kann.

Immer heller und heller wurde es seitdem auf dem geistigen Plan. Alles, was in der physischen Welt vorhanden war, war hervorgesprossen aus der geistigen Welt. Ging man von der physischen Welt in die geistige Welt hinüber, so konnte man sagen: Hier liegen die Ursachen von allem; und drüben in der physischen Welt ist nur das, was hervorgesprossen ist aus der geistigen Welt. Da sind nur die Wirkungen, da ist nur der Widerschein aus der geistigen Welt. - Geht man seit dem Ereignis von Golgatha von der physischen Welt in die geistige, dann sagt man sich: Auch in der physischen Welt liegen Ursachen, und herüber wirkt das, was erlebt wird durch das Ereignis von Golgatha auf dem physischen Plan, herüber in die geistige Welt.

So wird es immer mehr sein: alles Alte was die Wirkung der alten Götter ist, wird absterben, und was aufblühen wird, was sich hinein- leben wird in die Zukunft, das sind die Wirkungen des Gottes der Zukunft. Das wird hinüberleben in die geistige Welt. Es ist so, wie wenn man einen neuen Pflanzenkeim anschaut und sich sagt: Freilich ist er hervorgegangen aus einer alten Pflanze. Die alten Blätter und Blüten sind abgefallen und verschwunden, und es ist jetzt der neue Pflanzenkeim da, der sich zur neuen Pflanze und zur neuen Blüte entfalten wird. So leben auch wir in einer Welt, wo Blätter und Blüten abfallen und Götterkeime da sind. - Und immer mehr und mehr entfaltet sich die neue Frucht, die Christus-Frucht, und abfallen wird alles andere. Was hier in der physischen Welt erobert und erarbeitet wird, das wird von Wert sein 'für die Zukunft, inso

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weit es hineingetragen wird in die geistige Welt, und vor unserem geistigen Auge geht in der Zukunft eine Welt auf, die ihre Wurzeln in dem Physischen hat> wie einstmals unsere Welt ihre Wurzeln in der geistigen Welt hatte. Wie die Menschen die Söhne der Götter sind, so wird aus dem, was die Menschen in der physischen Welt durch die Erhebung zum Ereignisse von Golgatha erleben, der Leib gebildet der neuen Zukunftsgötter, deren Führer der Christus ist. So leben sich die alten Welten in die neuen Welten hinüber dadurch, daß das Alte ganz und gar abstirbt und das Neue aus dem Alten sproßt und sprießt. Das aber konnte für die Menschen nur dadurch eintreten, daß die Menschheit so weit reif war, daß sie jener geistigen Wesenheit, die der Gott der Zukunft werden sollte, eine Blüte entfaltete.

Diese Blüte, die da entfaltet werden konnte, die in sich aufnehmen konnte den Keim des zukünftigen Gottes, sie konnte nur eine dreifache Menschenhülle sein aus physischem Leib, Ätherleib und astralischem Leib, die vorher durch alles das, was man auf der Erde erringen konnte, auf der Erde geläutert und gereinigt worden sind. Diese Hülle des Jesus von Nazareth, der sich hingeopfert hat, um den Christus-Keim zu empfangen, wie eine Blüte, und diese Blüte des Menschentums stellt dar das Reinste, den Extrakt von dem, was die Menschheit in ihrem geistigen Entwickelungstrieb hat hervor- bringen können. Und die Menschen können sich sagen: Erst dann konnte der Keim des neuen Gottes erscheinen, als die Erde reif war, die schönste Blüte hervorzubringen. - Und die Geburt dieser Blüte war in Bethlehem; das ist uns in unserem Weihnachtsfest enthalten. In unserem Weihnachtsfest feiern wir die Geburt der Blüte, die dann den Keim des Christus aufnehmen sollte.

So ist denn das Weihnachtsfest tatsächlich ein Fest, wodurch der Mensch zweifach schauen kann: in die Vergangenheit und in die Zukunft. Denn aus der Vergangenheit ist die Blüte hervorgegangen, aus der sich der Keim für die Zukunft entwickelt. Aus der alten Erde heraus ist die dreifache Hülle des Christus geworden. Aus dem Besten, was sich die Menschen haben erringen können, ist diese dreifache Hülle des Christus zusammengeflossen und geboren worden.

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Und es gibt keine äußere Darstellung eines Mysteriums, die eigentlich zunächst einen gewaltigeren Eindruck auf uns machen könnte als die Darstellung gerade dieses Mysteriums: wie die schönste Blüte der Menschheit aus dem reinsten Kelche entspringen konnte.

Daß die Menschheit einstmals geistig hervorgegangen ist aus dem Schoß der Gottheit, göttlich-geistig war, und sich zur Materie verdichtet hat, wie kann man es schöner darstellen als dadurch, daß man zeigt, wie allmählich das Geistige sich verdichtet, wie aus dem unbestimmten Dunkel des Geistigen der Mensch sich herausverdichtet hat! Erahnend und prophetisch stellt es der alte Ägypter dar als die einstmals löwenköpfige Göttin, die noch ganz vergeistigt war, noch aus der Zeit, da der Mensch wenig verdichtet ist, fast noch im Schoße der Gottheit ätherisch-geistig ruht. Als nächste Gestalt, vorausnehmend die spätere «Madonna di San Sisto», erscheint uns in der ägyptischen Abbildung eine andere weibliche Gestalt: die Isis mit dem Horuskinde. Da sehen wir, wie dasjenige, was aus Wolken, das heißt, aus dem Geistigen geboren war, sich verdichtet hat zum Kelche, zu dem, was den in die Zukunft hinein sich entwickelnden Menschen darstellen soll. Aber ins rein Geistige gehend, sehen wir diese Vorstellung, die schon von den Alten gekannt worden ist, in der Christus-Madonna mit dem Jesuskinde.

Wunderbar zart und rein hat Raffael dieses Mysterium hingehaucht, indem er zeigt, wie aus geistigen Engelsköpfen heraus sich verdichtet die Madonna - und wiederum hervorbringt die Blüte, den Jesus von Nazareth, der den Christus-Keim aufnehmen soll. Die ganze Menschheitsevolution ist in wunderbarer Weise gerade in diesem Madonnenbilde enthalten. Nicht zu verwundern ist daher, daß derjenige, der heute bei uns das erste Wort hatte> gerade der Madonna gegenüber die schönste, die herrlichste Erinnerung hatte aus demjenigen Leben heraus, von dem sein diesmaliges Leben die Erinnerung war, aus der er aufkeimen ließ in sich alle die schönen Gefühle, die herrlichen Empfindungen, die sich angliedern können an dieses ins Bild gebrachte Menschheitsmysterium, und daß ihm diese Gefühle von da heraus zu der Christus-Gebärerin selber übergingen, zu derjenigen Gestalt, die den Keim, den Kelch hervorgebracht hat,

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aus dem die Blüte entsprossen ist, die in sich den Keim des neuen Gottes reifen lassen konnte.

Und so sehen wir, wie in diesem wunderbar begabten Novalis Gefühle schwingen, die frei aufgefaßt werden können von allem Hinschillern nach dieser oder jener Parteirichtung - gerade gegen- über diesem heiligen Mysterium, das sich abspielt in der ersten christlichen Weihnacht und das immer wiederholt wird in jeder

christlichen Weihnacht: jenes Mysterium, dem gegenüber die alten Eingeweihten in der Gestalt der alten Magier ihre Opfer darbringen und dahin gehen, wo das neue Mysterium sich einlebte. Und sie opfern, die Weisen der alten Zeiten, geschmückt mit der Weisheit, die aus alten Zeiten kommt, sie opfern vor dem, was in die Zukunft hin- eingehen soll, was in sich bergen soll einstmals die Kraft in einem Menschen, die durch alle Welten zieht, die mit unserer Erde verbunden sind.

Novalis hat empfunden das Christus.Mysterium, das MarienMysterium im Zusammenhang mit dem kosmischen Mysterium. In seiner Seele leuchtete es, wie es einstmals geleuchtet hat in der ersten christlichen Weihnacht, in welcher von denjenigen Wesenheiten, die nicht heruntergestiegen sind bis zum physischen Plan, verkündet worden ist der Zusammenhang zwischen einer kosmischen und einer irdischen Macht und zwischen dem, was im Menschenherzen und im Kosmos vorgehen kann, wenn sich das Menschenherz vereinigt mit der Christus-Wesenheit. Denn heute braucht nicht mehr verkündet zu werden, was die Ägypter sagten: Der Gott, mit dem ihr euch vereinigen sollt, lebt in jener Welt, wo man nur hinkommt, wenn man den Tod durchschreitet. - Jetzt lebt der Gott, mit dem sich der Mensch vereinigen soll, unter uns zwischen Geburt und Tod, und die Menschen können ihn finden, wenn sie ihre Seelen und ihre Herzen hier mit ihm vereinigen. Deshalb erklingt der Weihnachtston in der ersten christlichen Weihnacht:

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Offenbarung durch die Höhen

dem Gotte,

Ruhe und Stille

durch den Erdenfrieden,

Seligkeit

in den Menschen!

Anschließend rezitierte Marie von Sivers (Marie Steiner) die «Marienlieder» von Novalis.

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MÄRCHENDEUTUNGEN Berlin, 26. Dezember 1908

Was heute hier gegeben werden soll, das ist zunächst eine Art Prinzip für die Erklärung von Märchen und Sagen. Im weiteren Sinne läßt sich dann dieses Prinzip auch ausdehnen auf die Mythenwelt, und wir werden dann mit ein paar Worten auch anzudeuten haben, wie das auszudehnen ist. Natürlich ist es mir in einer Stunde nicht möglich, Ihnen im genaueren anzugeben, wie man sich dem heutigen Kinde gegenüber mit der Erzählung beziehungsweise, wenn das Kind älter geworden ist, mit der Erklärung des Märchens dann abzufinden hat. Es wird mir heute mehr darum zu tun sein, Ihnen anschaulich zu machen, was in der Seele dessen leben soll und was der wIssen soll, der Märchen erzählen und erklären will.

Das erste, was wir von vornherein dabei festzustellen haben, wenn wir Märchen, Sagen oder Mythen erzählen, und auch wenn wir sie erklären wollen, das ist, daß wir unbedingt mehr wissen müssen, als wir zu sagen in der Lage sind, und zwar beträchtlich viel mehr. Und als zweites kommt in Frage, daß in uns der Wille da sein muß, aus der anthroposophischen Weisheit heraus die Mittel zur Erklärung zu holen. Das heißt nicht, was einem gerade einfällt, in die Märchen hineinzutragen, sondern wir müssen den Willen haben, anthroposophische Weisheit als solche zu erkennen und dann auf Grund alles dessen, was wir in der anthroposophischen Weltanschauung gelernt haben, zu versuchen, die Märchen damit zu durchdringen. Es ist nicht gesagt, daß das bei jedem gleich richtig gehen müßte. Aber wenn man auch zunächst ganz danebenhaut, wird man später schon von selbst die richtige Deutung herausfinden. Wo auf gutem Grund gebaut wird, da wird es schon richtig werden; wo aber nicht auf gutem Grund gebaut wird, da stellt es sich heraus, daß dann alles mögliche da hineingedeutet wird. Also für die Erzählenden wie auch für die zu Belehrenden soll hier gesprochen werden. Es sollen uns dabei Beispiele möglichst anschaulicher Art vergegenwärtigen, um was es sich dabei handelt.

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Das erste Märchen, das wir zu behandeln haben, wäre vielleicht so zu erzählen:

Es hat sich einmal etwas ereignet, ja, wo war es denn nur? Ja, es kann auch gefragt werden: Wo war es denn nicht? - Es war einmal ein Schneidergeselle. Der hatte nur noch einen Groschen in der Tasche, aber es trieb ihn mit diesem Groschen auf die Wanderschaft. Da hungerte ihn, und er konnte sich für diesen Groschen nur noch eine Milchsuppe kaufen. Als die Milchsuppe So vor ihm stand, da flogen eine ganze Menge Fliegen in die Suppe, und als er ausgegessen hatte, war der ganze Teller mit lauter Fliegen bedeckt. Da schlug er dann mit seiner Hand ein paarmal auf den Teller und zählte dann, wieviel er erschlagen hätte, und zählte hundert. Da nahm er sich von dem Wirt eine Schreibtafel und schrieb darauf: Der hat hundert auf einmal erschlagen! - Und mit dieser Tafel, die er sich umhing, ging er weiter. Da kam er vorbei an einem Königsschloß. Der König schaute gerade hinunter und sah da einen gehen, der hinten etwas aufgeschrieben hatte. Er schickte seinen Diener hinunter, um nach- zusehen, was darauf stände. Der Diener ging, und da stand: Der hat hundert auf einmal erschlagen! - und sagte das dem König. Halt! - sagte sich der König - das ist einer, den ich brauchen kann -, und schickte hinunter und ließ ihn kommen. Dich kann ich brauchen! - sagte ihm der König. Willst du in meinen Dienst treten? - Ja - sagte der -, ich will ganz gerne in Euren Dienst treten, wenn Ihr mir einen gehörigen Lohn gebt, den ich Euch nachher sagen werde. - Ja - sagte der König -, ich werde dich, wenn du das hältst, was du versprichst, sehr gut belohnen. Deshalb sollst du einmal gut essen und trinken, solange es dir beliebt. Dann mußt du mir aber auch einen Dienst leisten, der deiner Stärke entspricht. In mein Land kommt alle Jahre ein ganzer Trupp Bären, und die richten einen schrecklichen Schaden an. Sie sind so stark, daß sie kein Mensch töten kann. Du wirst es gewiß können, wenn du das hältst, was deine Tafel verspricht. - Da sagte der Geselle: Gewiß> ich werde das tun; aber bis die Bären kommen, muß ich um so viel zu essen und zu trinken bitten, als ich will. - Denn der Schneidergeselle sagte sich nämlich: Wenn ich dann die Bären nicht erschlagen kann, wenn sie mich tön,

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so habe ich dann doch wenigstens eine Zeitlang gut gegessen und getrunken. Und das ging so eine Weile. Als dann die Zeit kam, o die Bären wieder erscheinen sollten, da richtete er folgendes her: r ging in die Küche und stellte da eine Tafel au? Das Tor ließ er eit offen; auf die Tafel legte er alle möglichen Dinge, die die Bären .rn haben wollen zu essen und zu trinken, Honig und so weiter. ann versteckte er sich. Die Bären kamen heran, aßen und tranken, s sie nicht mehr konnten und dalagen. Da schlug er einem jeden .r Bären den Kopf ab und hatte die Bären auf diese Weise erlegt. ls der König das sah, fragte er ihn: Ja, wie hast du das gemacht? - nd der Geselle sagte: Ich habe die Bären einfach über die Klinge 'ringen lassen und habe dann jedem den Kopf abgeschlagen! - Der König war da schon sehr gläubig und sagte: Wenn du das getan hast, ~n kannst du mir auch noch einen größeren Dienst erweisen. Inser Land kommen alljährlich große starke Riesen. Niemand kann töten oder vertreiben; vielleicht kannst du es tun? - Der Schneir sagte: Ja, ich will es tun, wenn Ihr mir Eure Tochter nachher zur mahlin gebt. - Dem König lag viel daran, daß die Riesen vertrien würden, und er versprach es, und der Schneider ließ es sich wier gut ergehen.

Als die Zeit kam, wo die Riesen wieder erscheinen sollten, nahm sich alles mögliche mit, was die Riesen gern essen und trinken, d ging zu den Riesen hin. Aber auf dem Wege nahm er sich zu aln übrigen nOch mit ein Stückchen Käse und eine Lerche und kam .n mit seinen vielen Sachen und dem Stück Käse und der Lerche i den Riesen an. Die Riesen sagten: Wir sind wieder da, um mit in Stärksten zu ringen; uns hat noch keiner bezwungen! - Da sag- der Geselle: Nun, dann will ich einmal mit euch ringen! - Das rd dir schlecht ergehen! - meinte ein Riese. Da sagte der Schneir: Zeige doch einmal deine Stärke, und was du kannst! - Da nahm r Riese einen Stein und zerrieb ihn zwischen seinen Fingern.

Dann nahm er einen Bogen und einen Pfeil und schoß den Pfeil in Luft, daß er erst nach langer Zeit wieder hemnterkam. - Da sollt meine Kraft einmal sehen! Wenn ihr mit mir ringen wollt, so ißt ihr mit etwas anderem kommen. - Der Schneider nahm einen

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kleinen Stein und überzog ihn heimlich mit etwas Käse, und als er mit den Fingern drückte, da spritzte der Käse heraus. Nun sagte er zu dem Riesen: Ich kann aus dem Stein Wasser herauspressen, und das kannst du nicht! - Das machte auf den Riesen einen starken Eindruck, daß der noch etwas anderes konnte als er. Dann nahm der Schneider auch einen Pfeil und Bogen, aber während er schoß, ließ er unvermerkt die Lerche hinauffliegen; die kam nicht wieder. Da sagte er zu dem Riesen: Dein Pfeil ist wieder heruntergekommen, aber ich habe so hoch geschossen, daß er gar nicht mehr herunter- kommt! - Da waren die Riesen überrascht, daß sich noch ein Stärkerer finde, und sagten zu ihm: Willst du nicht unser Kamerad werden? - Er willigte ein. Klein war er zwar, aber es war doch ein guter Zuwachs. So nahmen sie ihn in ihre Kameradschaft auf, und er blieb eine Zeitlang bei ihnen. Aber es war ihnen doch ungeheuerlich, daß noch ein Stärkerer da war als sie selbst, und als er einmal wachend im Bette lag, hörte er, wie sie beschlossen, ihn zu töten.

Da traf er nun seine Vorsorge. Er richtete ein großes Mahl her von den Sachen, die er mitgebracht hatte. Die Riesen aßen und tranken, bis sie nicht mehr konnten und bis sie von Sinnen waren. Aber sie hatten sich wohl gemerkt, ihn zu töten. Er aber nahm eine Schweinsblase, die füllte er mit Blut, band sie sich auf den Kopf und legte sich damit ins Bett. Der Riese, der dazu ausersehen war, ihn zu töten, kam und stach hinein - und als das Blut herausfloß, da waren die Riesen sehr befriedigt, denn nun waren sie ihn los. Und sie legten sich hin und schliefen. Da kam der Schneider nun aus dem Bett und tötete die schlafenden Riesen einen nach dem anderen. Dann ging er zum König und erzählte, wie er einen Riesen nach dem anderen erschlagen habe.

Der König hielt sein Wort und gab ihm seine Tochter zur Gemahlin und der Schneider hielt mit der Königstochter Hochzeit. Der König wunderte sich sehr über die Stärke seines Schwiegersohnes. Aber weder der König noch die Tochter wußten, wer der hergereiste Mensch eigentlich sei, ob ein Schneider oder ein entsprungener Königssohn? Damals wußten sie es nicht. Wenn sie es seitdem nicht erfahren haben, dann wissen sie es heute noch nicht.

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Das ist das eine der Märchen, das wir im Prinzip einmal betrachten wollen. Wir wollen aber daneben, bevor wir darauf eingehen, ein anderes stellen. Denn wenn Sie Märchen auilesen, wo Sie wollenöö, bei welchem Volk Sie wollen, und aus welcher Zeit Sie wollen, Marchen, die richtige Märchen sind, da wird es sich immer heraus- stellen, daß ein gewisser Grundstock von Vorstellungen in allen Märchen pulsiert. Ich mache Sie hier schon darauf aufmerksam, daß wir den Riesen begegnet sind, die durch Schlauheit überwunden werden. Und nun machen Sie einen Sprung durch Jahrtausende und denken Sie in der Odysseus-Sage an Odysseus und den Riesen ,Polyphem. Aber wir wollen ein anderes Märchen neben dieses erste hinstellen.

Es hat sich einmal ereignet, wo war es nur? Ja, wo war es denn eigentlich nicht geschehen? Da war ein König, der war bei seinem Volke so beliebt, daß er immerfort den Wunsch um sich herum hörte, er solle doch eine Gemahlin bekommen, die ebenso gut und edel wäre wie er. Schwer war es ihm, jemanden zu finden, von der er glauben konnte, daß sie so geeignet wäre, wie er es für sein Volk wünschte. Aber er hatte einen alten Freund, einen armen Forst- mann, der einfach und zufrieden im Walde lebte, der aber sehr weise war. Leicht hätte er reich werden können, denn der König hätte ihm gern alles gegeben. Aber der Forstmann wollte arm bleiben und seine Weisheit behalten. Da ging nun der König zu seinem Freunde, dem Forstmann, und fragte ihn um Rat. Der gab ihm einen Rosmarinstengel und sagte ihm: Den bewahre auf, und das Mädchen, vor dem er sich neigt - man denke hier an das Wünschelrutenmotiv -, das ist das Mädchen, mit dem du dich verbinden sollst! - Da ließ nun der König gleich am nächsten Tag eine große Anzahl Mädchen kommen. Eine große Menge Perlen ließ er vor den Mädchen ausbreiten und den Namen einer jeden mit Perlen auf den Tisch schreiben. Dann ließ er bekanntmachen, daß dasjenige Mädchen, vor dem dich der Stengel neige, seine Gemahlin werden solle; die anderen sollten nur die Perlen bekommen. Dann ging er mit dem Rosmarinstengel herum - aber der rührte sich nicht, er neigte sich vor keiner. Die Mädchen bekamen ihre Perlen und wurden fortgeschickt. Am

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zweiten Tage wurde dasselbe angestellt, aber es ging wieder so, und am dritten Tage war es auch nicht anders. Da schlief der König in der nächsten Nacht und hörte, daß sich etwas an seinem Fenster meldete. Da stellte es sich heraus, daß es ein Goldvögelchen war. Das sagte zu ihm: Du weißt es zwar nicht, aber du hast mir zweimal einen großen Dienst erwiesen. Ich will dir auch einen Dienst erweisen. Wenn es Morgen geworden ist, dann stehe auf, nimm deinen Rosmarinstengel und folge mir. Ich will dich an einen Ort führen, wo du ein Pferd finden wirst. Das hat in seinem Leibe einen silbernen Pfeil stecken. Den mußt du dem Pferde herausziehen. Dann kann es dich dahin führen, wo du deine Gattin findest! - Am anderen Morgen ging der König hinaus und folgte dem Goldvögelchen. Sie kamen schließlich zu einem Pferd, das war schwächlich und krank und sagte: Es hat mir eine Hexe einen Pfeil in den Leib geschossen. - Der König zog dem Pferde den Pfeil heraus, und in dem Augenblick verwandelte sich das schwächliche Tier in ein wunderbar kühnes Pferd. Das bestieg der König, der Rosmarinstengel bewegte sich vor dem Pferde her, und das Goldvögelchen führte voraniliegend den König auf seinem Zauberpferde dahin. Endlich kamen sie zu einem gläsernen Schloß. Da vernahmen sie schon von ferne ein Gebrumm und Gebrumm und Gebrumm, und als sie ein- traten, der König> der Rosmarinstengel und das Goldvögelchen, da konnte der König sehen, wie ein anderer König dastand, der ganz aus Glas war, und in dem Magen dieses gläsernen Königs war eine große Brummfliege. Die war es eben, die so brummte, und die bearbeitete den Magen des Königs furchtbar stark und wollte sich von innen nach außen durcharbeiten. Der König fragte den gläsernen König, was denn das eigentlich wäre? Ja - sagte dieser -, da sieh nur einmal nach dem Sofa; da sitzt meine Königin in dem rosaseidenen Gewande, und das Geheimnis, um das es sich da handelt, das wirst du gleich sehen können. Denn jetzt ist gerade von dem Dornenhecker das Gespinst, das um die Königin herumgesponnen ist, zerrissen, gleich wird es ganz abgerissen sein. Wenn keines mehr herum ist, wenn es ganz ab ist, dann kommt eine böse Spinne, und die spinnt dann wieder ein neues Gespinst um die Königin herum, und

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während ich hier in einem gläsernen Körper verzaubert bin, wird meine Gemahlin von der Spinne eingesponnen. So sind wir jetzt schon durch viele hundert Jahre hier eingesperrt, bis wir davon erlöst werden.

In der Tat stellte es sich heraus, daß eine böse Spinne erschien und die Königin mit einem Spinnetz umgab. Aber als sich die Spinne betätigte, kam auch das Zauberpferd herbei und wollte die Spinne töten. Es wollte gerade seinen Fuß auf die Spinne setzen, da hatte sich aber auch die Brummbrummfliege nach außen durchgearbeitet und wollte der Spinne zu Hilfe kommen. Da aber tötete das Zauberpferd sie beide. In dem Augenblick verwandelte sich der König, der aus Glas war, in einen ganz menschlichen König, der Dornenhecker verwandelte sich in ein nettes Mädchen, die Königin wurde von dem Spinnetz befreit, und der gläserne König erzählte, wie das alles ge-

kommen wäre.

Er hatte, als er schon König war, unter den Nachstellungen einer bösen Hexe zu leiden, die unten am Rande seines Besitztumes im Walde wohnte. Die Hexe wollte, daß er ihre Tochter heiraten sollte. Da er sich aber seine Gemahlin aus einem benachbarten Zauberschlosse geholt habe, so schwur sie ihm Rache zu. Sie verwandelte ihn in einen gläsernen König, ihre Tochter in eine Brummfliege, die an seinem Magen nagte. Die Königin wurde dadurch gequält, daß die Hexe selbst sich in die böse Spinne verwandelte und die Königin mit einem Spinngewebe umgab. Das Dienstmädchen wurde in den Dornenhecker verwandelt, und das Pferd, das er sich geholt hatte, wurde von der bösen Hexe angeschossen und hatte dann diesen Pfeil in seinem Leibe. Jetzt war das alles dadurch gut geworden, daß das Zauberpferd befreit war und dadurch die anderen befreit wurden.

Nun fragte der König den verwandelten früheren gläsernen König, wo er eine Gattin finden könne, die für ihn gut wäre. Der wies ihm den Weg nach dem benachbarten Zauberschlosse. Das Goldvögelchen flog wieder voraus, und als sie hinkamen, fanden sie da eine Lilie. Da trieb es geradezu den Rosmarinstengel dahin, und er verneigte sich vor der Lilie. In diesem Augenblicke wurde aus der Lilie ein wunderschönes Mädchen, das da auch hineinverzaubert war;

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denn die Königin des benachbarten Schlosses war ja ihre Schwester gewesen. Jetzt war es durch das, was vorgegangen war, auch erlöst worden. Der König nahm es nun mit nach Hause. Sie hielten Hochzeit und lebten in einer außerordentlich glücklichen Weise für sich selbst und für ihr Volk. Sie lebten lange, lange. Man weiß nicht, wenn sie seither nicht verschwunden sind oder gestorben sind, dann mussen sie eigentlich immer noch leben.

Nun haben wir also ein anderes Märchen vor uns hingestellt, das andere Elemente in sich enthält. Das erste, was wir uns abgewöhnen müssen, wenn wir den Inhalt von richtigen Märchen oder Sagen verstehen wollen, das ist, daß wir sie für irgendeine in der Volksphantasie entstandene Dichtung halten. Das sind sie niemals. Der erste Ausgangspunkt zur Märchenentstehung liegt bei allen wirklichen Märchen in uralten Zeiten, in den Zeiten, in denen es für alle noch nicht zur Verstandeskultur herangereiften Menschen ein gewisses mehr oder weniger hochgradiges Hellsehen gab, das als ein Rest eines ursprünglichen Hellsehens geblieben war. Die Menschen, die sich noch ein solches Hellsehen lange bewahrten, hatten Zwischenzustände zwischen dem Schlafen und dem Wachen. Und wenn solche Menschen, die solchen Rest des alten Hellsehens hatten, in solchen Zwischenzuständen waren, dann erlebten sie tatsächlich die geistige Welt, die geistige Welt in der mannigfaltigsten Gestalt. Es war nicht das, was ein heutiger Traum ist. Ein heutiger Traum ist fiir die meisten Menschen, nicht für alle, schon etwas Chaotisches. In diesen alten Zeiten erlebten die Menschen mit diesem alten Hell- sehen etwas ganz Regelmäßiges, und zwar so regelmäßig, daß bei den verschiedenen Menschen die Erlebnisse dieselben oder wenigstens typisch ähnlich waren.

Was ist denn da eigentlich in solchen Zwischenzuständen zwischen Wachen und Schlafen mit den Menschen geschehen? Wenn die Menschen in ihrern physischen Leibe sind, nehmen sie die Welt um sich herum wahr, wie man sie mit physischen WahrnehmungsOrganen sehen kann. Aber dahinter ist die geistige Welt. Es war so in diesen Zwischenzuständen, wie wenn ein Schleier vor den Menschen weggezogen würde, nämlich der Schleier der physischen

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Welt, und sichtbar wurde die geistige Welt. Und alles, was in der geistigen Welt war, stand in einer gewissen Beziehung zu dem, was in dem Inneren der Menschen war. Es ist so, wie es in der physischen Welt ist: man kann nicht mit dem Ohr die Farben sehen und nicht mit den Augen die Töne hören; es entspricht das, was außen ist, dem, was innen ist. Die äußeren Sinne also schweigen in solchen Zwischenzuständen, aber das, was im Inneren war, in dem Seelischen, das wurde rege. Und wie das Auge und das Ohr ihre Beziehungen eingehen zur Umwelt, so gingen jetzt, in diesen Zwischenzuständen> die einzelnen Teile des menschlichen astralischen Leibes ihre Beziehungen ein zur Umwelt. Wenn die äußeren Sinne schweigen, dann lebt die Seele auf.

Wir haben ja zunächst drei Glieder der Seele: die Empfindungsseele> die Verstandesseele und die Bewußtseinsseele. Wie Auge und Ohr ihre verschiedenen Beziehungen zur Umwelt haben, so haben diese drei Glieder der menschlichen Seele ihre ganz bestimmten Beziehungen zur Umwelt. Dadurch wird für den Menschen in solchen Zwischenzuständen wahrnehmbar, je nachdem der eine oder der andere Teil der Seele auf die geistige Umgebung gerichtet ist, der eine

oder der andere Teil der geistigen Umgebung. Nehmen wir an, die Empfindungsseele wird insbesondere auf die geistige Umgebung gerichtet. Dann sieht der Mensch alle diejenigen geistigen Wesenheiten in seiner Umgebung, welche mit den gewöhnlichen Naturkräften in einem innigen Verbande stehen, dasjenige, was sozusagen in den Elementen der Natur lebt. Er sieht nicht selbst das Spiel der Naturkräfte, aber er sieht das, was im Spiel der Naturkräfte lebt, in Wind und Wetter und in den anderen Vorgängen der Natur. Die Wesen, die sich da aussprechen, die sieht der Mensch durch seine Empfindungsseele. Und wenn insbesondere die Empfindungsseele tätig ist, dann ist es gerade so, wie wenn der Mensch in der Zeit noch lebte, als er seine Verstandesseele noch nicht benutzen konnte und auch seine Bewußtseinsseele noch nicht. Der Mensch ist dann zurückversetzt und sieht die Umgebung so, wie er sie in alten Zeiten sah, als er noch nichts mit der Verstandesseele und der Bewußtseinsseele anzufangen wußte.

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Aber in jenen alten Zeiten war er selbst noch in einem innigen Verbande mit den Naturkräften. Er selbst steckte ja noch in all den Naturkräften drinnen. Er war da ein Wesen, bestehend nur aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Empfindungsseele. So bevölkerte er die Welt. Da konnte er dasselbe, was jetzt jene Wesen um ihn herum können, die in den niederen Naturkräften leben. Sie erscheinen ihm als der Ausdruck dessen, was er einst war, als die Menschen so waren, daß sie im dahinsausenden Windsturm Bäume umreißen konnten, daß sie Wetter, Nebel und Regen beherrschen konnten. So erscheinen ihm die Wesen, die um ihn herum sind, wie er selbst einmal in einer Vergangenheit war, wo er riesig mächtig war, weil er sich noch nicht von den Naturkräften so entfernt hatte. Die Gestalten, die ihm da erscheinen - es waren ja die Nachbilder seiner eigenen Gestalt -, die erscheinen ihm als Menschen mit riesiger Stärke. Das sind die «Riesen». Der Mensch sieht in einem solchen Zwischenzustand die Riesen als wirkliche Gestalten, und sie stellen ihm eine ganz bestimmte Art von Wesenheiten dar: Menschen mit einer riesigen Kraft. Aber die Riesen sind dumm, weil sie aus einer Zeit kommen, wo sie noch nicht die Verstandesseele gebrauchen konnten. Sie sind stark und dumm.

Nehmen wir nun einmal das, was die Verstandesseele sehen kann in solchen Zwischenzuständen. Sie kann dasjenige sehen, wo schon nach einer gewissen Weisheit die Dinge gestaltet sind, nicht nur durch bloße Kraft, wie bei den Riesen. Durch das, was die Verstandesseele ist, sieht der Mensch, wenn er in dieser Verstandesseele lebt, Wesenheiten um sich herum, Gestalten, die Weisheit in alles hineinbringen, die alles weise anordnen. Während er die Riesen in der Regel männlich sieht, sieht er die Gebilde der Verstandesseele als die formenden weiblichen Wesenheiten, die Weisheit in die Dinge hineinbringen, in das Gewoge der Welt. Das sind die «weisen Frauen», die hinter den Dingen wesen, die gestaltend sind, die alles gestalten. Er sieht wiederum in dieser Gestalt seine eigene Gestalt, als er zwar noch nicht eine Bewußtseinsseele hatte, aber doch schon eine Verstandesseele. Weise walten diese Wesen hinter den Dingen. Und weil er sich ihnen innig verwandt sieht, so fühlt der Mensch sehr

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häufig, wenn er in einem solchen Zwischenzustand ist: Was ich da als die weisen weiblichen Wesen sehe, das ist etwas, was eigentlich mir verwandt ist. Daher sehen wir, daß hier im Märchen sehr häufig der «Schwester>-Begriff auftritt, wenn diese weiblichen Wesenheiten erscheinen.

Nun gibt es wenn der Mensch in einem solchen Bewußtseinszustande ist, noch etwas, was er in seiner Seele erlebt, was man eigentlich nur ganz intim erfassen kann. Der Mensch ist in einem solchen Seelenzustand der gewöhnlichen physischen Wahrnehmung entrückt. Jetzt sagt er sich: Ja, was ich da sehe, das ist eigentlich in dem enthalten, was ich bei Tag sehe, was bei Tag meiner Verstandesseele klar wird; aber wenn ich das bei Tag sehe, dann ist es gerade umgekehrt. - Wenn sich der Mensch im Zwischenzustande an die Tageseindrücke erinnert, da erscheinen sie ihm umgekehrt dem, was er empfindet, wenn er sich bei Tag an die Zwischenzustände erinnert, an die verschiedenen hinhuschenden Gestalten seines Astralsystems. Jetzt, wenn er sich der Tageseindrücke erinnert, ist es ihm, wie wenn sich ihm das, was eigentlich die feinen, ätherischen Gestalten hinter der gewöhnlichen Wirklichkeit sind, in steifen Gestalten dar- stellt. Daher erscheinen dem Menschen die Tagesgegenstände so, wie wenn sie wie verzaubert in sich das enthalten, was ihre Wesenheit ist. Überall, wo Gestalten auftreten, die verzaubert sind, ob sie nun in Pflanzen verzaubert sind oder in etwas anderes, ist dies auf diese Weise entstanden: Der Mensch sieht den Inhalt eines weisen Wesens, das hinter der physischen Erscheinung ist, und er erinnert sich: Ja, bei Tag ist das nur eine Pflanze, und getrennt ist es von 'meiner Verstandesseele, so daß ich es eigentlich nicht erreichen kann bei Tag. - Wenn der Mensch nun diese Fremdheit fühlt zwi

hen den Tagesgegenständen und dem, was dahinter ist, zum Beiiel dem Tagesgegenstand der Lilie und dem, was dahinter ist, er Gestalt, die mit seiner eigenen Verstandesseele verwandt ist, n fühlt er das Sich-Verbindenwollen seiner Verstandesseele mit dem, was hinter dem Gegenstande ist bei Tag wie eine «VermähJung»>, wie ein Zusammenwachsen der nächtlichen Gestalt mit der Tagesgestalt.

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Was die Bewußtseinsseele ist, das entstand ja im Menschen zu einer Zeit, als er schon sehr weit sich von den Naturkräften entfernt hatte, als er schon sozusagen gar nicht mehr hinter die Geheimnisse des Daseins schauen konnte. Weit, weit weg ist das> was die Bewußtseinsseele vermag, von jenen starken Kräften, die wir vorhin geschildert haben. Schlauheit ist die Fähigkeit der Bewußtseinsseele, aber weit entfernt von Stärke, von einer großen Kraft. Mit der Bewußtse1nsseele sehen wir diejenigen geistigen Wesenheiten an, die auf der Stufe stehengeblieben sind, wo der Mensch erst nur die Hülle des Ich hatte. Diese Wesenheiten sieht da der Mensch leben; sie können nicht viel, ihre Kräfte sind klein. Und da der Mensch in den Bildern die Gestalten ihrer inneren Natur angemessen sieht, so erscheinen sie als «Zwerge». So bevölkert sich dann in solchen Zwischenzeiten dadurch, daß der Mensch frei ist von der Sinneswahrnehmung, das ganze Reich, das hinter der Sinneswahrnehmung ist, mit solchen Gestalten. Wenn der Mensch in seinen gewissermaßen höheren Augenblicken fühlt, daß er diese Beziehung zur geistigen Welt hat, dann erscheinen ihm die äußeren Ereignisse des Lebens, was sie ja auch in Wirklichkeit sind, als ein Ausdruck dieser ganzen Beziehungen zur geistigen Welt. Und wenn der Mensch dann im Leben besonders schlau ist, wenn er nicht nur trocken und prosaisch auf das Leben sieht, sondern sich die Beziehungen des Lebens zur geistigen Wirklichkeit klarlegt, insbesondere in solchen Zuständen, wo die Menschen noch etwas wissen können von der geistigen Wirklichkeit, dann kann ihm folgendes geschehen.

Nehmen wir einmal an, er ist ein etwas sinniger Mensch und beobachtet, daß gewisse Menschen schlau sind und durch allerlei Schlauheit die rohen Kräfte überwinden, die sonst im Menschenleben walten. Da sagt sich der Mensch: Was im Leben da eigentlich geschieht, wo das durch die Schlauheit Angesponnene die rohen Kräfte überwindet, das verdankt man jenen hinter uns stehenden Mächten, mit denen wir verwandt sind, und die geschehen lassen, daß in uns selber eine Kraft bewußt geworden ist, die durch Intelligenz die rohen Kräfte überwindet, die wir selbst noch in uns gehabt haben, als wir auf der Stufe der Riesen waren. - Und die Geschehnisse

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seines Inneren erscheinen dem Menschen als die Spiegelbilder der äußeren Weltereignisse, die sich zurückgezogen haben, aber in der geistigen Welt noch wahrzunehmen sind. In der geistigen Welt spiegeln sich ab die Kämpfe derjenigen Wesenheiten, die schwächer sind an Körperkraft, aber dafür stärker geworden sind an geistiger Kraft. Überall, wo im Märchen die Besiegung der rohen Kräfte oder der Riesen auftritt, da ist zugrundeliegend die Wahrnehmung in einem solchen Zwischenzustand. Der Mensch will sich aufklären über sich selbst. Die geistige Welt ist ihm entschwunden, aber er sagt sich: Ich kann mich aufklären wenn ich in einem solchen Zwischenzustande bin. Da werde ich so weise, daß Klugheit und Schlauheit über die rohen Kräfte den Sieg davontragen! - Und da erschei

nen die Gewalten, die in der Tat in der geistigen Welt da sind und die unseren Klugheitskräften entsprechend sind. Die erscheinen und handeln und klären den Menschen auf über das, was in der geistigen Welt geschieht.

Da erzählt dann der Mensch das, was sich in der geistigen Welt zugetragen hat, und er muß es so erzählen, daß er sagt Was ich gesehen habe und erzähle, das ist einmal geschehen; aber das geschieht eigentlich immer hinter der sinnlichen Welt, in der geistigen Welt, wo andere Lebensverhältnisse sind. - Es kann sein, daß jedesmal, wenn der Betreffende in einem solchen Zustande das geschaut hat, dieses Ereignis schon abgestorben ist, und die Bedingungen, unter denen eine solche Handlung sich abspielen kann, schon vefflossen sind. Aber es kann noch da sein. Das hängt davon ab, ob irgendwo einer in einem Zwischenzustande auftritt, der das beobachtet. ES ist auch nicht da und nicht dort, sondern überall, wo jemand ist, der das beobachten kann. Daher muß jedes Märchen, das stilgemäß ist, damit beginnen: Es hat sich einmal etwas zugetragen - wo war es denn nur? Ja, wo war es denn eigentlich nicht?

Das ist der richtige Anfang eines Märchens. Und jedes Märchen muß damit schließen: Ich habe das einmal gesehen; und wenn das, 'was in der geistigen Welt sich zugetragen hat, nicht dem Tode verfallen, nicht gestorben ist, so lebt es noch heute.

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Ganz in dem Stile ist das, wie jedes Märchen erzählt werden muß. Man ruft die richtige Empfindung hervor von dem, was erzählt wird, wenn man es immer in dieser Weise beginnen und schließen läßt.

Nehmen wir einmal an, es hätte jemand, wie unser König im zweiten Märchen, die Gattin zu suchen. Er sucht ein Wesen, das ihm möglichst genau in der Menschenwelt das ab bildet, was der Mensch als sein Urbild in der geistigen Welt finden kann, was gefunden werden kann im weisen Walten derjenigen Mächte, die durch die Verstandesseele wahrgenommen werden können. Im äußeren Leben ist das nicht zu finden. Darum muß er den äußeren Menschen dem intimeren Menschen unterwerfen. Auf dem physischen Plan ist der Mensch dem Irrtum unterworfen. Darum muß er die tieferen Kräfte walten lassen, wenn er so etwas finden will. Das kann er, wenn er sich, selbst heute noch, in jenen Zwischenzustand versetzt und sich selbst in eine Beziehung bringt zu den Kräften, die da walten. Diese Leute aber, die Träger solcher Kräfte sind, leben in der Verborgenheit, wo sie nicht abgelenkt werden durch die großen Lebensverhältnisse. Daher muß der König zu dem Freund gehen, zu dem Einsiedler, der arm und einsam lebt, der aber das Geheimnis von Kräften kennt, die den Menschen an die geistige Welt binden, und der ihm den Rosmarinstengel geben kann. Und der König kann nicht durch irgendwelche äußeren Veranstaltungen das finden, was nur an seinen Urbildern aus der geistigen Welt heraus entschieden werden kann. Daher träumt er zunächst, es komme das Goldvögelchen, und er bleibt auch weiter in einer Art Traum-Wachzustand. Und da macht er durch jenes klare Tasten, in dem man sich befindet, wenn man in der geistigen Welt ist, alles das durch, was ich Ihnen gezeigt habe. Er kommt allmählich dazu, aus denjenigen Kräften, die der menschlichen Reinheit und menschlichen Hoheit wider- streben, das herauszufinden, was sich bewahrt hat bis in unsere Tage hinein, diese reine Beglückungsmöglichkeit im Menschen. Es kann ihn nicht dahin tragen irgendeine von den Kräften, die heute an die physische Welt gebunden sind, sondern nur eine solche, die ihm erscheint, wenn sich die Verstandesseele oder überhaupt die innere

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Seelenkraft auf die geistige Welt richtet. Das erscheint ihm da im Bilde, hier als das Zauberpferd. Aber dieses Pferd in der physischen Welt ist nur das Schattenbild des Geistigen, das dahintersteht. Die in der physischen Welt befindlichen schädlichen Seelenkräfte, diese Kräfte, die in der physischen Welt verkörpert sind, haben dem Pferde den Pfeil in den Leib getrieben. In dem Augenblick aber, wo diese Kräfte heraus sind, als es davon befreit ist, da wird rege die Kraft, die den König dazu bringt, die Verhältnisse zu beurteilen, so daß er, wenn er nicht nur auf das Äußere schaut, dasjenige finden kann, was für ihn geeignet ist. Mit dem gewöhnlichen Verstande könnte er weit in der Welt herumgehen, würde er Menschen da und dort finden, aber die Gattin, die er sucht, an ihr würde er vorbeigehen; denn die Verhältnisse, die da in Betracht kommen, die dagegen- spielen, die versteht er gar nicht. Da haben sich die früheren Verhältnisse erhalten.

Die Verhältnisse, die er sucht, sind da, aber entstellt durch die äußere physische Welt, wo die Dinge überhaupt verwandelt erscheinen. In der physischen Welt haben wir die Kräfte überhaupt nicht in ihrer Wahrheit. Aber im verwandelten gläsernen König erscheint ihm in seiner wahren Gestalt diejenige Persönlichkeit, die ihn dort hinweisen kann, wo er die Gattin suchen soll. Durch die widerstrebenden Kräfte der äußeren Welt ist er gerade verwandelt worden. Und diese Kräfte machen sich geltend durch das, wodurch der Mensch ganz verstrickt ist in die äußeren Weltverhältnisse. Der gläserne König ist erst ganz verstrickt in die äußeren Weltverhältnisse. Das hat ihn innerlich anders gemacht, als er eigentlich sein könnte. Der Mensch hat Dinge in seinem Karma, die eigentlich wie ein Unrecht sind, die ihn stören, wie eine böse Brummbrummfliege. Das zeigt sich alles im Bilde, was in Wahrheit da zugrunde liegt. Die ganze Situation muß man sich vorstellen: wie durch die im König rege gemachten Kräfte dasjenige gefunden werden könnte, was hinter den physischen Erscheinungen ist. Wenn seine Seelenkräfte in ihm erregt werden und wenn er sie richtig leitet, dann findet der König das, was die äußeren physischen Kräfte ihm verhüllen: die «Gattin».

Eine äußere Erscheinung, die sich zuträgt, irgendein Geschehnis,

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sagen wir eine Brautwerbung, wird dargestellt, die sich aber nicht abspielt unter den gewöhnlichen Verhältnissen, sondern unter den Verhältnissen, wo jemand zusammenkommt mit einem solchen Seelenführer, wie es der Einsiedler für den König ist, der in ihm tiefere Kräfte regsam macht. Dadurch wird der Mensch geführt zu den Kräften, durch die alles, was in der physischen Weh ist, für eine Weile als unwahr erscheint, und die er braucht, wenn es ihm möglich gemacht werden soll, die Wahrheit zu durchschauen. So sehen wir, wie zwar äußere Verhältnisse zugrunde liegen, wie aber andere Bewußtseinszustände, die wirkliches Schauen hervorrufen, vorhanden sind.

So kann im Grunde jedes Märchen gedeutet werden; aber man muß es deuten aus der hinter der ganzen Märchenwelt liegenden geistigen Wirklichkeit, und alles, was uns in einem Märchen, auch als einzelne Züge, auftritt, das können wir nach und nach finden und deuten. Zum Beispiel jene geheimnisvolle Verbindung, die da ist zwischen den lebendig wahrnehmenden Kräften und zwischen den geheimnisvollen Kräften des bloßen Lebens, sie kann sichtbar werden, wenn man innerlich schaut. Sie symbolisiert sich wunderbar in der Berührung des Rosmarinzweiges mit der Lilie. In der Lilie ruhen zwar feinere, höhere geistige Kräfte, aber sie müssen erst berührt werden von dem Rosmarinzweige; dann erst sind sie da.

So liegt der Märchenwelt der begründete Glaube zugrunde, daß alles, was wir um uns herum haben, die verzauberte geistige Wirklichkeit ist, und daß der Mensch zur Wahrheit kommt, wenn er die verzauberte geistige Welt wieder entzaubert. Freilich müssen wir uns darüber klar sein, daß ein Märchen ursprünglich allerdings die Wiedergabe eines astralisch geschehenden Ereignisses ist, daß es aber weitererzählt worden ist. Und da haben die Menschen ja dann ein solches Talent, einzelne - Züge zu verändern! Sobald man die Märchen aus dem Munde des Volkes sammelt, hat man zwar den Überrest eines alten, astralisch gesehenen Bildes, aber es können einzelne Züge verändert sein. Da kann dann der Erklärer sehr leicht den Fehler machen, diese hinzugekommenen Züge besonders geistreich zu deuten, während man bei der richtigen Märchenerklärung nie verennen

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darf und es sich gefallen lassen muß, daß man auf die Urgealt zurückgehen und sie erkennen muß. Alles entspricht solchen tralischen Erlebnissen.

So kann namentlich die Frage vor uns auftreten: War denn der iensch in einer früheren Zeit, die also festgehalten wird in den gei:igen Erlebnissen der Zwischenzustände, von einer solchen Gestalt die heute? Nein, das war er nicht. Der Mensch hat ganz andere Gealten durchgemacht und sich erst zu der heutigen Gestalt hin ent'ickelt. Aber auch das, was der Mensch überwunden hat, was er aus Ich herausgesetzt hat, das erscheint in einer ganz bestimmten äußen Gestalt. Der Mensch mußte um sich seiner Riesengewalt zu entemden, die Riesengestalten aus sich heraussetzen, sie überwinden, .eine Kräfte verfeinern und sie heraufheben zur Verstandesseele und ur Bewußtseinsseele. Es gibt nun auch Wesen, die auf der Stufe der hen Kräfte stehengeblieben sind. Überall, wo dem Menschen et'as als schlecht erscheint, das überwunden werden müßte, das aber :ehengeblieben ist auf dem Astralplan, erscheint dieses als «Draen» und dergleichen, die nichts anderes sind als groteske, seither der geistigen Welt umgewandelte Formen dessen, was der Mensch mwandeln und aus sich heraussetzen mußte. Und auch da müssen uns wieder bewußt sein, daß das einer ganz bestimmten Tatche entspricht.

Nun möchte ich Ihnen zum Schluß, wie zu Ihrer eigenen Verareitung, noch ein Märchen erzählen, welches die mannigfaltigsten Iotive, die wir jetzt haben sich abspielen sehen, wenn der Mensch i eine Beziehung zum Astralischen kommt, in sich vereinigt zeigen 'ird. Und wenn Sie das, was wir gesagt haben, anwenden auf dieses was komplizierte Märchen, dann können Sie den Faden fast von lber darinnen finden. Dieses Märchen ist wie eine Synthese, wie ne Zusammenfassung der allerverschiedensten ineinanderspielenen Kräfte.

Es geschah einmal - wo war es denn nur? Ja, es könnte eigentlich berall geschehen sein, wo war es denn nicht geschehen? -, da lebten alter König. Der hatte drei Söhne und drei Töchter. Als es zum derben ging, sagte der König zu den drei Söhnen: Gebt die drei

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Töchter denen, die als erste um sie anhalten, damit sie nicht unverheiratet bleiben. Das ist die erste Lehre, die ich euch gebe. Die zweite ist diese, daß ihr euch nicht an einen bestimmten Platz begeben sollt, und besonders nicht in der Nacht! Und er wies ihnen diesen Platz unter einem Pappelbaum des Waldes.

Als der König gestorben war, trachteten die Söhne danach, seine Weisungen auch zu befolgen. Am ersten Abend rief etwas zum Fenster hinein, man möchte ihm doch eine Königstochter geben. Die Brüder taten es und warfen die eine Schwester zum Fenster hinaus. Am zweiten Abend rief wieder etwas zum Fenster hinein, man möchte ihm doch eine Königstochter geben. Da warfen die Brüder die zweite Schwester zum Fenster hinaus. Und am dritten Abend rief auch wieder etwas zum Fenster hinein, man möchte ihm doch eine Königstochter geben, und da warfen die Brüder die dritte Schwester zum Fenster hinaus. Jetzt waren sie allein.

Aber nun waren sie neugierig und wollten doch gerne wissen, was es mit dem Pappelbaum für eine Bewandtnis habe. Sie gingen also eines Abends hinaus und setzten sich unter den Pappelbaum, zündeten ein Feuer an und schliefen ein. Der älteste mußte Wache halten. Wie er da so mit dem Säbel auf und ab ging, zeigte sich etwas, das am Feuer fraß, und als er näher zusah, da war es ein dreiköpfiger Drache. Da begann er mit dem dreiköpfigen Drachen zu kämpfen. Er besiegte ihn, begrub ihn, aber sagte seinen Brüdern nichts davon, und am anderen Morgen gingen sie nach Hause. Am nächsten Abend gingen sie wieder hinaus. Sie zündeten wieder ein Feuer an und legten sich hin. Diesmal mußte der zweite Bruder Wache halten. Da sah er bald etwas, das am Feuer fraß; und als er näher hin- sah, war es ein sechsköpfiger Drache. Da fing er an, mit dem sechsköpfigen Drachen zu kämpfen. Er besiegte ihn und begrub ihn, aber sagte weiter nichts, und die Brüder glaubten, es wäre nichts geschehen. Und sie gingen am anderen Morgen nach Hause. Am dritten Abend machten sie es ebenso, zündeten ein Feuer an, und diesmal mußte der jüngste Bruder Wache halten. Kaum daß die anderen eingeschlafen waren und er mit dem Säbel auf und ab ging, da sah er, wie etwas am Feuer fraß. Er sah sich das genauer an und zögerte etwas

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und dadurch verging einige Zeit. Dann fing er an, mit dem DraLen, der jetzt ein neunköpfiger war, zu fechten. Aber als er ihn begt hatte, da war das Feuer ausgegangen. Nun wollte er den Brünn die Überraschung nicht bereiten, und er machte sich auf den reg, um etwas Licht zu finden. Da sah er zwischen den Zweigen etas Licht; das wollte er holen, aber es reichte nicht aus. Da sah er etas kämpfen in den Lüften und fragte, was denn das wäre, und die impfrnden Wesen sagten: Wir sind die Sonne und die Morgenröte; \r kämpfen um den Tag. - Da schnürte er sich das Band los, mit um er seine Beinkleider zusammengebunden hatte, und knüpfte dait die Sonne und die Morgenröte zusammen, so daß der Tag nicht ginnen konnte. Dann ging er weiter, um sich Licht und Feuer zu len. Da kam er dann dahin, wo bei einem mächtigen Feuer drei Sen schliefen. Er nahm sich Feuer, aber wie er dann über den ei~n Riesen hinwegsetzen wollte, fiel etwas Feuer auf den Riesen, ß er erwachte. Der griff mit der Hand nach ihm, zeigte ihn den

deren und sagte: Guckt mal, was ich da für eine Mücke gefangen be! - Der Königssohn war im höchsten Maße unglücklich, denn Riesen wollten ihn töten. Aber vorher wollten sie noch etwas n ihm haben und schlossen daher mit ihm einen Vertrag. Sie woll~ sich nämlich drei Königstöchter holen; aber da waren ein Hund d ein Hühnchen, und die machten solchen Spektakel, daß sie ht hinkommen konnten. Der Königssohn versprach, ihnen zu lfen, und die Riesen wollten ihn dafür freilassen.

Es wurde nun ein Fadenknäuel angebunden, und der Königssohn ig mit dem Fadenknäuel weiter. Es war ausgemacht, daß jedesmal der der Riesen nachkommen sollte, wenn er an dem Faden ziehen würde. Er kam bald an einen Fluß, über den er aber nicht hinüber nnte. Die Brüder schliefen unterdessen ja noch. Er zog an dem Faden kam der eine Riese herbei, warf einen Baumstamm über Fluß, und er konnte weitergehen. Dann kam er an das KönigsiIoß, wo die Schwestern sein sollten. Er ging hinein und kam in eine der Kammern. Da sah er die eine Schwester. Die lag auf eiin kupfernen Bett und hatte ein goldenes Ringlein am Finger. Das er ihr ab, steckte es an seinen eigenen Finger und ging weiter.

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Da kam er in die zweite Kammer, wo die zweite Schwester auf einem silbernen Bett lag, und ein goldenes Ringlein hatte sie am Finger. Das zog er ab und steckte es selbst an. Dann kam er in die dritte Kammer. Da lag auf einem goldenen Bett die dritte Schwester, und ihren goldenen Ring steckte er ebenfalls an. Als er sich weiter um- sah, da entdeckte er, daß an dem Schloß ein Eingang mit einer sehr kleinen Öffnung war. Nun zog er an dem Faden und da kam der erste Riese herbei. Aber in demselben Augenblick, als er durch das Tor wollte und als er mit dem Kopfe schon hindurch, der Körper jedoch noch draußen war, da schlug er schnell dem Riesen den Kopf ab. Und mit dem zweiten und dritten Riesen machte er es ebenso. Jetzt hatte er die drei Riesen getötet. Nun ging er zu seinen Brüdern zurück, nachdem er zunächst losgebunden hatte Sonne und Morgenröte. Die sahen sich an und sagten: Ach, es war doch eine lange Nacht! - Ja - sagte er -, es war eine lange Nacht! - und kam nun zu seinen Brüdern. Aber wie es die anderen gemacht hatten, so sagte auch er ihnen weiter nichts, und sie gingen also nach Hause.

Nach einiger Zeit wollten die drei Brüder heiraten, und der jüngste Bruder sagte den anderen, er wisse, wo drei Königstöchter wären und führte sie hin nach jenem Schlosse. Die drei Brüder heirateten - der jüngste heiratete die schönste, die, welche auf dem goldenen Bette gelegen hatte. Der jüngste war der Erbe seines Schwiegervaters, und er mußte daher in einem fremden Lande leben. Als aber einige Zeit verflossen war, wollte er sein Heimatland besuchen und auch seine Gattin mitnehmen. Da sagte ihm aber der Schwiegervater: Wenn du die Reise antrittst, so wird dir an der Grenze deine Gattin entrissen werden, und vielleicht auf Nimmerwiedersehen! Sie wollten aber doch reisen, reisten auch und nahmen zum Schutz dreißig Reisige mit. Als sie aber an die Grenze kamen, wurde wie von einer unbekannten Macht die Gattin herausgerissen. Er ging nun zurück und fragte seinen Schwiegervater, wie und wo er seine Gattin wiederfinden könne. Der Schwiegervater sagte ihm: Wenn schon, so kannst du sie nur in dem weißen Lande finden. Er also machte sich nun auf die Reise, um seine Gattin wiederzufinden. Er wußte aber gar nicht, wo der Weg zu dem weißen Lande ging.

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Da kam er zunächst an ein Schloß und wollte nun dort vorfragen, wo der Weg zu dem weißen Lande wäre. Als er in das Schloß hineink am, sah er die Schloßfrau sitzen, und da sah er, daß das die eine sei- er Schwestern war, welche die Brüder vorher zum Fenster hinauseworfen hatten, und er fragte nach dem Gatten. Der wurde hineinerufen. Das war ein vierköpfiger Drache - und er wurde gefragt ach dem Weg zum weißen Lande. Der vierköpfige Drache aber ieinte, er wisse nicht, wo das weiße Land läge; die Tiere wüßten es er vielleicht. Die Tiere wurden hineingerufen, aber keines wußte den Weg zum weißen Lande. Der Königssohn ging also weiter und kam nun an ein zweites Schloß. Dort fand er die zweite seiner :hwestern, welche die Brüder weggegeben hatten. Er fragte nach lrem Gatten. Der wurde gerufen - da war es ein achtköpfiger Draie. Aber auch er wußte nichts von einem weißen Lande. Vielleicht er, meinte er, wüßten es die Tiere. Die Tiere wurden wieder zummengerufen, aber keines kannte den Weg zum weißen Lande, id der Königssohn mußte weitergehen. Nach einer Weile kam er einem dritten Schlosse. Als er eintrat, fand er die dritte der 'hwestern dort. Er sagte, was er wollte - sie antwortete ihm sehr urig. Der Gatte wurde gerufen, da war es ein zwölfköpfiger Drae. Er wurde gefragt nach dem weißen Lande, aber er sagte, er wises nicht, es könnte aber sein, daß es vielleicht eines seiner Tiere wüßte. Die Tiere wurden also gerufen, aber auch von ihnen kannte :ines das weiße Land. Ganz zuletzt kam ein lahmer Wolf. Der erhlte: Ja, ich bin einmal eingefallen in ein Land, da hat man mich rwundet, so daß ich jetzt lahm bin. Ich weiß das weiße Land, leir weiß ich es! - Da sagte der Königssohn: Ich will dahingeführt .rden! - Aber der Wolf wollte nicht, und wenn ihm ganze Schafrden versprochen würden. Aber zuletzt ließ er sich doch herbei,den Königssohn so weit zu führen, daß er von einem Berge aus in weiße Land hineinsehen könnte. Sie kamen dann auch an diesen rg, und da verließ ihn der lahme Wolf.

Da traf der Königssohn eine Quelle. Er trank daraus und fühlte und wunderbar erfrischt von dem Wasser. Da kam eine Frau heran, er gleich als seine geraubte Gattin erkannte. Und sie, die ihn

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auch gleich wieder erkannte, sagte ihm: Wiedererringen kannst du mich doch nicht; denn würdest du es tun, dann würde der Zauberer, der mich jetzt hier zur Gattin hat, mich doch gleich wieder holen auf seinem Zauberpferde. Das kann so schnell durch die Luft fliegen wie der Gedanke! - Da sagte der Königssohn: Ja, was sollen wir denn da tun? - Und sie antwortete: Es gibt ein Mittel, und das ist: wir müßten ein schnelleres Pferd haben. Du gehst zu der alten Frau, die an der Grenze des Landes wohnt. Bei der verdingst du dich als Knecht. Sie wird dir zwar schwere Sachen aufgeben, aber du wirst schon sehen, wodurch du bestehen kannst; und du verlangst als Lohn das jüngste Fohlen und einen Sattel und sagst der alten Frau: der oben auf dem Boden liegt und ganz voll Hühnermist ist -, und als drittes verlangst du einen ganz alten Zaum!

Mit diesem Unterricht ging der Königssohn fort und kam an ei- nen Bach. Als er dort rastete, sah er am Rande des Bächleins auf dem Lande einen Fisch liegen. Der bat ihn: Nimm mich, und wirf mich wieder ins Wasser hinein, da tust du mir eine große Wohltat! - Er tat es - aber während er es tun wollte, gab ihm das Fischlein eine Pfeife und sagte zu ihm: Wenn du etwas brauchst, so nimm nur die Pfeife und pfeife, und ich will dir einen Dienst erweisen! - Er nahm auch das Pfeifchen zu sich und ging weiter. Nach einer Weile traf er eine Ameise, die von ihrer Feindin, die eine Spinne war, verfolgt wurde. Er befreite sie, und die Ameise gab ihm dafür ein Pfeifchen und sagte ihm, wenn er einmal in Not wäre und damit pfeifen würde, so wird ihm Hilfe werden. Er steckte es zu sich und ging weiter. Da fand er bald einen Fuchs. Der war verwundet und hatte einen silbernen Pfeil in sich; und der Fuchs sagte zu ihm: Wenn du mir den Pfeil herausziehen wirst und mir für meine Wunde etwas Pfahlkraut gibst, so soll dir in einer schwierigen Lage geholfen werden! - Der Königssohn tat es, und der Fuchs gab ihm auch wieder eine Pfeife. Mit diesen drei Pfeifchen begab sich der Königssohn nun zu der alten Frau an der Grenze des Landes. Er sagte ihr, er wolle sich bei ihr als Knecht anstellen lassen. Das kannst du wohl, meinte sie, aber der Dienst ist bei mit recht schwer; es hat ihn bis jetzt noch keiner bestanden. - Und damit nahm sie ihn hinaus auf das Feld. Da hingen

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neunundneunzig Menschen. Die Alte sagte: Das sind alles diejenigen, welche sich bei mir haben als Diener anstellen lassen, aber es ist keiner, der den Dienst bei mir besteht. Wenn du also Lust hast und

nicht bestehst, so kannst du ja der hundertste werden! - Aber er verdingte sich doch bei ihr auf ein Jahr, aber dort in der Gegend hat das Jahr nur drei Tage.

Am ersten Tage kochte ihm die alte Frau eine Traumsuppe, und dann schickte sie ihn mit drei Pferden fort. Aber er hatte ja die Traumsuppe getrunken, und daher schlief er bald ein, und als er wIeder erwachte - da waren die drei Pferde fort. Er dachte an die Pfeifen, zog das erste Pfeifchen heraus und pfiff. Es war nun da an der Stelle eine Art von Quelle. Da kamen drei Goldfischchen geschwommen, und als er sie berührte, verwandelten sie sich in die drei Pferde. Und er brachte nun die Pferde der alten Frau zurück. Sie hatte ja selbst erst die Pferde in die Goldfische verwandelt. Als sie ihn daher nun mit den Pferden sah, schimpfte sie und warf sich von einer Seite zur anderen.

Am nächsten Tage kochte ihm die alte Frau wieder eine Traumsuppe und schickte ihn dann mit den Pferden fort. Er schlief wieder von der Traumsuppe ein, und als er erwachte, waren die Pferde verschwunden. Da pfiff er auf dem zweiten Pfeifchen, und in diesem Augenblick erschienen drei Goldameisen. Als er sie berührte, da waren es seine drei Pferde wieder, die er nun der alten Frau zurück- brachte. Da wurde die Alte ganz wild, weil sie ja die Pferde selbst verzaubert hatte, und schalt noch mehr auf die Pferde. Aber der Königssohn war gerettet.

Am dritten Tag sagte sich die Alte: Jetzt muß ich die Sache noch viel schlauer anstellen! Sie kochte ihm wieder eine Traumsuppe und schickte ihn mit den Pferden hinaus. Als er von der Traumsuppe einschlief, verwandelte sie die Pferde in drei goldene Eier, und diese Eier dirigierte sie unter ihren eigenen Sitz - und setzte sich also darauf. Der Königssohn erwachte, die Pferde waren fort, und da pfiff er nun auf dem dritten Pfeifchen, und - nun denken Sie, wie schlau die Dinge wirken -, jetzt kam der Fuchs herbei. Der Fuchs sagte: Diesmal ist die Sache doch etwas schwieriger, aber wir wollen es

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schon machen. Ich will nach dem Hühnerhof gehen und dort ein großes Geheul anstellen. Da wird die Alte herausspringen, und in dieser Zeit berührst du dann die drei goldenen Eier unter ihrem Sitz; und wenn du sie berührst, werden sie verwandelt sein. - Und so kam es. Der Fuchs ging zum Hühnerhof, machte dort ein großes Geheul, die Alte sprang auf, lief hinaus, der Königssohn berührte die goldenen Eier, und als die Alte wiederkam, da waren die drei Pferde da. Jetzt konnte die Alte nun nicht anders, als den Königssohn fragen: Was willst du als Lohn haben? - Sie dachte ja, er würde etwas ganz Besonderes haben wollen. Da sagte er: Ich will nur das Fohlen, das heute nacht geboren ist, dazu den Sattel oben auf dem Boden, der von Hühnermist ganz bedeckt ist, und einen alten Zaum. - Das bekam er. Das Pferd war noch klein. Er mußte es auf dem Rücken tragen. Als es Abend war, sagte das Pferdchen: Jetzt kannst du eine Weile schlafen; ich will zu einer Quelle gehen und Wasser trinken. Am Morgen kam es wieder. Am zweiten Tage konnte es schon mit einer Riesengeschwindigkeit laufen. In der zweiten Nacht ging es wie in der ersten. Und am dritten Tage führte es ihn zu dem Bann- Ort seiner Gattin. Da wurde die Gattin auf das Pferdchen gesetzt, und - das ist jetzt ein Zug, der für jeden, der die Sache kennt, so tief beweisend ist für den okkulten Ursprung des Märchens - nun sagte der Königssohn: Mit welcher Geschwindigkeit werden wir jetzt durch die Luft fahren? - Und es antwortete die Gattin: Mit der Geschwindigkeit des Gedankens. - Als nun der unrechtmäßige Besitzer das bemerkte, setzte er sich ebenfalls auf sein Zauberpferd, um ihnen nachzueilen. Da fragte ihn das Pferd: Mit welcher Geschwindigkeit werden wir durch die Luft fahren? - Und er sagte: Mit der Geschwindigkeit des Willens oder des Gedankens! - Es sauste ihnen nach, kam näher und immer näher, und als es schon ganz nahe war, da sagte das Pferd zu dem voraniliegenden, es solle warten. Ich werde erst warten, wenn du ganz nahe bist - war die Antwort. In dem Augenblick erhob sich das andere Pferd und warf den Räuber ab, vereinigte sich mit dem ersten Pferde und die Königin war befreit. Nun konnte der Königssohn wieder mit seiner Gattin zurückkehren, und sie lebten in ihrem Lande weiter.

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Und wenn das Ereignis nicht verblichen ist, so leben sie noch heute.

Das ist jetzt ein anderes, etwas komplizierteres Märchen, das die annigfaltigsten Züge enthält. Bis wir in der Lage sein werden, hier reiteres zur Deutung gerade dieses Märchens zu sagen, wollen wir uns durch die Seele ziehen lassen, um die verschiedenen Züge, die gerade in diesem Märchen wunderbar zusammenklingen, selber zu ltiätseln. Natürlich wird das was durch falsche Tradition hinzugemmen ist, ausgesondert werden müssen. Aber Sie werden, wenn e es nach dem Prinzip betrachten, das heute geschildert worden :, für alles, was hier auftritt, den Faden finden können: das Dralenmotiv, das Motiv der drei Schwestern, die herausgeworfen werden, das Überwindungsmotiv der Drachen am Feuer, das Klugheitsotiv, das Vermählungsmotiv der Verstandesseele mit der äußeren 'elt; jetzt wieder in einzigartiger Weise das Klugheitsmotiv der fei'ren Zauberkräfte. Dann tritt auf in einer merkwürdigen Weise emesis, Karma, indem der Königssohn seinen Schwestern wieder tgegentritt: Ihre höhere schwesterliche Natur haben die drei üder hinausgeworfen, daher das Drachentöten am Feuer und so weiter.

Solche Märchenerzählungen sind Erfahrungen von Leuten aus m Volk, die in solchen Zwischenzuständen sind. So sind ebenfalls . großen Göttermythen der Völker die Darstellung dessen, was . Eingeweihten auf dem astralischen Plan und den höheren Planen eben. Die Märchen verhalten sich zu den großen Völkermythen gendermaßen: Die großen Völkermythen können wir enthüllen, .dann wir die großen, umfassenden Verhältnisse des Kosmos zuande legen, und die Märchen enthüllen wir, wenn wir die Geimnisse des Volkes zugrundelegen. Alles im Märchen tritt so auf, ß die verschiedenen Vorgänge und Bilder nichts anderes sind als iedererzählungen astralischer Erlebnisse. Solche astralische Erleb,se hatten in einer gewissen Urzeit alle Menschen. Dann wurden immer seltener und seltener. Die einen Menschen erzählten sie n anderen, die anderen nahmen sie auf, und so wanderten die Mären von Gegend zu Gegend. In den verschiedensten Sprachen traten

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sie auf, und wir merkten die Ähnlichkeit des Märchenschatzes über die ganze Welt, wenn wir die ihnen zugrundeliegenden astralischen Erlebnisse herausschälen können.

Wer heute als sinniger Mensch durch die Welt wandert, der kann die letzten Reste des atavistischen Hellsehens wohl noch finden. Da oder dort tritt ihm jemand entgegen, und der erzählt, was er als eigene Erlebnisse in der astralischen Welt geschaut hat. Ein solcher Mensch, der so durch die Länder wandert, kann dann hören von solchen, die noch eine Ahnung haben von der wahren Wirklichkeit, die Märchengeschichten. So werden sie in unseren Büchern aufgezeichnet. So haben die Brüder Grimm die Märchen gesammelt. So haben sie andere gesammelt, die meist selbst nicht Hellseher waren, sondern die Märchen aus dritter, vierter, fünfter Hand bekamen, ja manchmal auch erst aus zehnter Hand, so daß sie ihnen in einer mannigfaltig entstellten Gestalt entgegentraten. Aber es neigte sich die Zeit der Abenddämmerung, wo die Menschen noch ihren intimen Zusammenhang mit der geistigen Welt hatten, der jetzt eben charakterisiert worden ist. Immer mehr und mehr treten die Menschen von dieser geistigen Welt zurück. Das atavistische Hellsehen wird immer seltener und seltener werden, wenigstens das als gesund zu bezeichnende, und wahres Hellsehen wird immer mehr und mehr das bloß durch Schulung dem Menschen zuteil gewordene sein

können. Und von dem, was die Menschen in alten Zeiten gesehen haben, werden die meisten Menschen, die noch etwas wissen von den Dingen, in einer gewissen Zukunft sagen können: Es war einmal, daß alte Leute aus ihren astralischen Erlebnissen heraus dieses oder jenes erzählten. Wo war es doch? Es kann eigentlich überall gewesen sein. - Aber heute findet man nur noch sehr selten irgend jemanden, der das aus einer wirklichen Quelle heraus erzählen wird. Und man wird von den Märchenerlebnissen sagen können: Sie ereigneten sich einmal - und wenn sie nicht gestorben sind, diese Märchenerlebnisse, so leben sie heute noch. Aber für die meisten Menschen, die innerlich sich mit dem physischen Plan verstricken, sind sie eben längst gestorben.

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III

DIE STELLUNG DER ANTHROPOSOPHIE ZUR PHILOSOPHIE Berlin, 14. März 1908

Immer wieder hört man mit Recht sagen, daß die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft erst dann das Ohr berufener Leute finden wird, wenn sie imstande ist, sich mit philosophischen Dingen auseinanderzusetzen. Solange sie das nicht tut, wird sie auf die Philosophen einen dilettantenhaften Eindruck machen, und so- lange wird man auch sagen, daß die Anhänger dieser Geisteswissenschaft nur deshalb Anhänger derselben seien, weil ihnen eben die gründliche philosophische Bildung fehle.

Nun würde es ganz aussichtslos sein, wenn man etwa warten wollte, bis eine genügend große Anzahl von Menschen, die philosophisch geschult sind, einsehen würden, daß die Geisteswissenschaft selbst für den allerphilosophischsten Menschen sehr wohl etwas ist, was ihn weit über die bloße Philosophie hinaushebt. Da man aber mit der geisteswissenschaftlichen Bewegung nicht warten kann und die Geisteswissenschaft der Öffentlichkeit so geben muß, wie diese Öffentlichkeit imstande ist, sie aufzunehmen und zu begreifen, auch ohne daß die einzelnen Glieder dieser Öffentlichkeit eine besondere philosophische Schulung erhalten haben, wenn man also im allgemeinen genötigt ist, dies zu tun, so muß doch streng betont werden, daß es auf anthroposophischem Felde nichts gibt, das nicht im strengsten Sinne sich auseinandersetzen könnte mit dem, was auf dem Gebiete der Philosophie nötig und richtig ist. Und wenn ich auch durch die allgemeine Richtung in der theosophischen Bewegung nicht in der Lage bin, philosophische Betrachtungen zu geben, so möchte ich doch diese kurze Stunde benutzen, um diejenigen, die sich mit philosophischen Dingen beschäftigt haben, auf einige philosophische Gesichtspunkte aufmerksam zu machen. Und ich bitte, dies als etwas zu nehmen, was ganz und gar aus dem Rahmen der übrigen anthroposophischen Betrachtungen herausfällt, als etwas, was rein eine einzelne philosophische Betrachtung sein soll.

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Sie werden vielleicht zum Teil die Dinge, die dabei nötig sind zu besprechen, schwierig finden. Aber machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie einmal eine kurze Stunde schwierige und nicht so zu Herzen gehende Betrachtungen hier anzuhören haben. Jedenfalls können Sie sicher sein, daß Ihnen das außerordentlich nützlich sein wird zur Fundamentierung der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Sie werden es immer wieder finden, wenn Sie wirkliche philosophische Denkungsart in sich aufnehmen, daß Ihnen diese philosophische Denkungsart nicht nur das Verständnis für die Geisteswissenschaft im allgemeinen, sondern auch fiir das, was man «esoterische Entwickelung» nennt, wesentlich erleichtern wird. Also ganz aus dem Rahmen der sonstigen Betrachtungen herausfallend soll diese heutige, rein philosophische Betrachtung sein.

Philosophie müssen Sie überhaupt nicht als etwas ansehen, was Sie absolut nehmen dürfen. Philosophie ist etwas, was im Laufe der Menschheitsentwickelung erst entstanden ist, und wir können sozusagen sehr leicht die Geburtsstunde der Philosophie angeben, denn diese Geburtsstunde der Philosophie ist im Grunde genommen eigentlich in jeder Geschichte der Philosophie mehr oder weniger richtig angegeben. Man hat in neuerer Zeit manches eingewendet gegen die Tatsache, daß jede Philosophiegeschichte mit ~ales beginnt, also mit dem ersten Aufleuchten der Philosophie in Griechenland; und man hat gemeint, daß man auch die Philosophie über diese Zeit hinaus nach rückwärts verfolgen könne. Das ist nicht richtig. Was man mit Fug und Recht «Philosophie» nennt, beginnt in Wirklichkeit mit der griechischen Philosophie. Morgenländische Weisheit und morgenländisches Wissen sind nicht das, was man im eigentlichen Sinne mit «Philosophie» bezeichnen sollte. Wenn wir von den großen philosophischen Intuitionen, wie sie bei Heraklit, bei Thales, später bei Sokrates in einer anderen Weise auftreten, absehen und gleich gehen auf die Philosophie, soweit sie uns in einem geschlossenen Weltgebäude, in einem geschlossenen Gedankengebäude entgegentritt, so ist nicht etwa Pythagoras der erste Philosoph. Denn Pythagoras ist in einer gewissen Beziehung noch ein intuitiver Seher, der zwar vielfach in philosophischen Formen ausdrückt, was er zu

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sagen hat; aber im eigentlichen Sinne ein philosophisches System ist das pythagoräische System nicht, ebensowenig wie das platonische. Ein philosophisches System im wahren Sinne des Wortes ist erst das große System - als philosophisches System -, welches Aristoteles im 4. Jahrhundert vor Christus aufgebaut hat. Man muß sich über diese Dinge erst einmal orientieren.

Wenn Aristoteles als der erste Philosoph bezeichnet wird und Plato noch als halber Seher angesehen wird, so geschieht das deshalb, weil Aristoteles der erste ist, der bloß aus der Quelle der Philosophie heraus schöpfen muß, nämlich aus der Quelle des Denkens in Begriffen. Das war natürlich alles lange Zeit vorbereitet; es war nicht so, daß er nun alle Begriffe erst selber hätte schaffen müssen; seine Vorläufer haben ihm in dieser Beziehung nicht unerheblich vorgearbeitet. Aber in Wahrheit gibt Aristoteles in einer gewissen Beziehung gerade das, was zum Beispiel Gegenstand der Mysterien war, zum ersten Male nicht in der alten seherischen Form, sondern er gibt alles, was er gibt, in der begrifflichen Form. Und so wird auch der, der in der Philosophie sich orientieren will, zurückgehen müssen bis zu Aristoteles. Er wird bei ihm alle die Begriffe finden, die aus anderen Erkenntnisquellen der früheren Zeiten gewonnen worden sind, aber sie verarbeitet und aufgearbeitet finden zu einem begrifflichen System. Vor allen Dingen ist bei Aristoteles der Ausgangspunkt zu suchen einer - nennen wir es «Wissenschaft» -, einer Wissenschaft, welche in dieser Gestalt innerhalb der Menschheitsentwickelung früher nicht existiert hat und auch nicht hätte entstehen können. Wer die Menschheitsentwickelung in dieser Weise verfolgen kann mit den Mitteln der Geisteswissenschaft, der weiß, daß vor Aristoteles - natürlich ist das alles mit dem berühmten Gran Salz zu verstehen eine aristotelische Logik so nicht denkbar war, weil erst Aristoteles eine entsprechende Denktechnik, eine Logik, geschaffen hat. Solange in den Mysterien die höhere Weisheit direkt mitgeteilt wurde, bedurfte man keiner Logik. Aristoteles ist nun in einer gewissen Weise auch der unerreichte Meister der Logik. Im Grunde hat trotz aller Anstrengungen des 19. Jahrhunderts die Logik in allen wesentlichen Punkten nicht

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viele Fortschritte gemacht über das hinaus, was Aristoteles bereits gegeben hat.

Es würde heute zu weit führen, wollte ich Sie auf die Gründe hinweisen, warum Philosophie erst in dieser Zeit, in der Zeit des Aristoteles, in die Menschheit eintreten konnte. Durch die Anthroposophie wird es für viele allmählich begreiflich werden, warum ein ganz bestimmtes Zeitalter für die Begründung der Philosophie notwendig war.

Wir sehen sodann, wie Aristoteles für lange Zeiten der tonangebende Philosoph ist und mit kurzen Unterbrechungen - die für den heutigen Menschen mehr als Unterbrechungen erscheinen, als daß sie es wirklich waren - es bis zum heutigen Tage bleibt. Alle, die auf anderen Gebieten tätig sind, sagen wir im Gnostizismus, Platonismus, oder in den Kirchenlehren des ersten Christentums, sie verarbeiteten die aristotelischen Gedankenkünste. Und in wunderbarer Weise breitet sich das, was Aristoteles der Menschheit gegeben hat als das formale Element des Denkens, auch im Abendlande aus, wo das, was die Kirche zu sagen hat, mehr oder weniger in die Formen gekleidet wird, die Aristoteles in seiner Denktechnik gegeben hat. Wenn auch in den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des Christentums die Philosophie des Aristoteles noch in sehr mangelhafter Form im Abendlande verbreitet war, so liegt das im wesentlichen daran, daß man die Schriften des Aristoteles nicht in der Ursprache hatte. Aber man dachte im Sinne der von Aristoteles ausgearbeiteten Denktechnik.

In anderer Art hat Aristoteles im Morgenlande Verbreitung gefunden, um dann, auf dem Umwege über die Araber, wiederum in das Abendland zu kommen. So ist Aristoteles auf zwei Arten im Abendlande heimisch geworden: erstens durch die christliche Strömung und zweitens durch die Strömung, die nach und nach durch die Araber in die Kultur des Abendlandes eingeflossen ist.

In diese Zeit hinein fällt jene große Pflege des aristotelischen Denkens, welche den eigentlichen Höhepunkt in der Philosophie des Mittelalters darstellt, nämlich die erste Form dessen, was man «Scholastik» nennt, speziell «Frühscholastik». Die Scholastik ist im

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wesentlichen dazu dagewesen, eine Philosophie des Christentums zu sein. Sie war aus zwei Gründen genötigt, den Aristoteles in sich aufzunehmen: Erstens aus den alten Traditionen heraus, weil man überhaupt gewohnt war, Aristoteles zu kennen; auch die Platoniker und Neuplatoniker waren mehr dem Inhalt nach Platoniker; in ihrer Gedankentechnik waren sie vielfach Aristoteliker. Aber auch aus einem anderen Grunde war es notwendig, daß sich die Scholastik auf Aristoteles stützte, nämlich weil die Scholastik in die Notwendigkeit versetzt war, gegen die Einflüsse des Arabismus und damit gegen die morgenländische Mystik aufzutreten, so daß wir also im elften, zwölften, dreizehnten Jahrhundert innerhalb der Scholastik die Aufgabe finden, das Christentum gegenüber der arabischen Gedankenwelt philosophisch zu rechtfertigen. Es kamen die arabischen Gelehrten mit dem wunderbar ausziselierten aristotelischen Wissen und versuchten von den verschiedensten Positionen aus, das Christentum anzugreifen. Wollte man das Christentum verteidigen, so mußte man zeigen, daß sich die Araber der Instrumente, deren sie sich bedienten, in einer unrichtigen Weise bedienten. Es handelte sich dabei darum, daß die Araber sich den Anschein gaben, daß nur sie allein die richtige Denkweise des Aristoteles hätten und deshalb von dieser richtigen Denkweise des Aritoteles aus ihre Angriffe gegen das Christentum richteten. In der Auslegung der Araber er- schien es so, als ob der, der auf dem Boden des Aristoteles stehe, notwendig ein Gegner des Christentums sein müsse.

Diesem Bestreben gegenüber erhob sich die Philosophie des Tbomas von Aquino. Diesem handelte es sich darum, zu zeigen, daß, wenn man den Aristoteles richtig versteht, man gerade mit Hilfe des aristotelischen Denkens das Christentum rechtfertigen kann. So war es nach der einen Seite die Tradition, in aristotelischer Denktechnik zu verfahren, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, gegen das anstürmende Arabertum gerade diese Denktechnik des Aristoteles in der richtigen Weise zu handhaben, was sich in der Philosophie des Thomas von Aquino ausdrückte.

So finden wir eine eigentümliche Synthese des aristotelischen Denkens in dem, was in der ersten Zeit das Wesen der scholastischen

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Philosophie ausmacht, einer Philosophie, die viel verlästert heute aber wenig mehr verstanden wird. Sehr bald kam dann die Zeit, in der man die scholastische Philosophie nicht mehr verstand. Und dann kamen alle möglichen Ausartungen der Scholastik, zum Beispiel diejenige Ausartung, die man gewöhnlich bezeichnet als die Geistesströmung des «Nominalismus», während die frühe Scholastik «Realismus» war. Diesem Nominalismus ist es zuzuschreiben, daß die Scholastik sich bald überlebte und in Mißkredit und Vergessenheit geriet. Der Nominalismus ist in einem gewissen Sinne der Vater alles modernen Skeptizismus.

Es ist ein merkwürdiges Gewirr von philosophischen Strömungen, die wir heraufkommen sehen gegen unsere neuere Zeit hin, die alle im Grunde gegen die Scholastik strömen. Wir sehen noch einige Geister, die fest und tüchtig in der aristotelischen Gedankentechnik stehen, die aber gegen das anstürmende Neuzeitliche nicht mehr ganz geschützt sind. Zu diesen gehört Nikolaus Cusanus.

Wir sehen dann aber, wie das letzte, was sich retten läßt von dieser philosophisch-methodischen Grundlage, Cartesius rettet. Und wir sehen auf der anderen Seite, wie alle die guten Elemente des Arabismus - jener Art von Philosophieen, welche mehr west-orientalisches Sehen verknüpft haben mit dem Aristotelismus -, sich verschränkt haben mit jener Denktechnik, die wir die «kabbalistische» nennen. Zu den Vertretern dieser Richtung zählt Spinoza, der nicht anders zu verstehen ist, als wenn man ihn angliedert einerseits an den Westorientalismus und andererseits an den Kabbalismus. Alles andere Reden über Spinoza ist ein Reden, bei dem man keinen Boden unter den Füßen hat.

Dann aber machte sich der «Empirismus» mit Macht breit, besonders unter der Ägide Lockcs und Humes. Und dann sehen wir, wie die Philosophie sich immer mehr gegenübergestellt findet den rein äußeren materiellen Forschungen - der Naturwissenschaft -, und wie sie stückweise vor dieser Art des Forschens zurückweicht. Wir sehen dann, wie sich die Philosophie verfängt in einem Netz, aus dem sie sich fast nicht mehr herauszuwinden vermag. Das ist ein wichtiger Punkt, an dem sich die Philosophie der neueren Zeit verfängt,

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nämlich bei Kant! Und wir sehen in der nachkantischen Zeit, wie große Philosophen auftreten, wie Fichte, Szhelling Hegel wie eine Art Meteore auftreten, wobei sie aber von ihrem eigenen Volke am schlechtesten verstanden werden. Und wir sehen, wie ein kurzes seltsames Herumbalgen in den Gedanken stattfindet, um her- auszukommen aus dem Netz, in das der Kantianismus die Philosophen hineinverfangen hat wie unmöglich es für die Philosophie ist, da herauszukommen, und wie gerade das deutsche Denken an einem in den verschiedensten Varianten auftretenden Kantianismus krankt, wie sogar auch alle schönen und großen Ansätze, die gemacht wer den, an dem Kantianismus kranken. So sehen wir in der ganzen neueren Philosophie einen Mangel auftreten, der zwei Quellen hat: Die eine zeigt sich darin, daß bei unseren philosophischen Lehrstühlen, die glauben, sich mehr oder weniger von dem Kantianismus freigemacht zu haben, die Leute doch immer noch in den Schlingen Kants zappeln; die andere zeigt sich darin, daß die Philosophie an einer gewissen Unmöglichkeit leidet, ihre Position, die sie als Philosophie verteidigen müßte, gegen die sehr kurzsichtige Naturwissenschaft zu behaupten.

Nicht früher, als bis sich unsere Philosophie befreit haben wird von den Netzen des Kantianismus und von all dem, wodurch die Philosophie Halt macht vor der anstürmenden Naturwissenschaft, nicht früher, als bis unsere besser gesinnten Elemente erkennen, wie sie über diese beiden Klippen, die sich ihnen in den Weg stellen, hinwegkommen können, ist irgendein Heil auf philosophischem Felde zu erwarten. Daher bietet auch das philosophische Feld insbesondere innerhalb Deutschlands ein wirklich trauriges Bild, und es ist im höchsten Grade jammervoll zu sehen, wie zum Beispiel die Psychcö logie Stück für Stück zurückweicht, wie zum Beispiel heute Menschen, die eigentlich nicht imstande sind, anderes zu tun, als elementare Dinge ein wenig in philosophischer Weise zu verarbeiten, aber dabei nicht über gewisse Trivialitäten hinauskommen, ein riesiges Ansehen haben, wie zum Beispiel Wundt. Auf der anderen Seite wieder muß man sehen, daß Geister wie zum Beispiel Fechner - der anregend sein könnte, wenn die Menschen ein Urteil dafür hätten -,

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daß ein solcher von denen, die die reinen Dilettanten sind, angesehen wird wie ein neuer Messias. Das mußte notwendig so kommen und soll keine Kritik sein.

Ausgehen möchte ich nun von einem Begriff, der so recht zusammenhängt mit dem Netz, worin sich die Philosophie seit Kant verfangen hat, der das Grundübel des philosophischen Geistes ist, ein Übel, das mit den Worten gekennzeichnet werden kann: Die Philosophie ist ganz und gar dem Subjektivismus verfallen!

Wenn wir Kant verstehen wollen, müssen wir ihn zuerst historisch verstehen. Die Kantsche Anschauung ist eigentlich ganz und gar herausgeboren aus der Entwickelungsgeschichte des menschlichen Vorstellens. Wer Kant genauer kennt, der weiß, daß der Kant der fünfziger und auch noch der sechziger Jahre ganz und gar aufging in dem, was damals die gebräuchlichste Philosophie in Deutschland war, was man nannte die Aufklärungsphilosophie von Wolff Sie war in ihrer äußeren Form vielfach ein Gestrüpp von Gedankenhülsen, aber ihr Geist war zum Teil noch entlehnt dem alten Leibnizianismus. Wir wollen uns hier aber mehr auf eine kurze Charakterisierung des Wolffianismus einlassen. Da können wir sagen: Für den Wolffianismus zerfällt die Weltauffassung in zweierlei Wahrheiten: erstens die des äußeren Anschauens und dessen, was der Mensch daraus gewinnen kann; zweitens diejenige, die der Mensch durch reines Denken gewinnen kann: «a priori». So gab es ja auch eine Physik - eine Astronomie, eine Kosmologie -, die aus der Betrachtung der Tatsachen gewonnen wurde, und eine rationale Physik - eine rationale Astronomie -, die durch reines Denken gewonnen wurde. Wolff war sich klar, daß das menschliche Denken, ohne irgendwie auf Erfahrung Rücksicht zu nehmen, rein rational, aus sich heraus, ein Wissen konstruieren könnte über das Wesen der Welt. Es war das ein Wissen aus der reinen Vernunft, «a priori», - während «a posteriori» das Wissen war, das aus dem Sinnlichen, aus dem bloßen Verstande, aus der Erfahrung gewonnen wurde. Ebenso gab es für Wolff zwei Psychologien, eine, in der sich die Seele selbst beobachtete, und dagegen die andere, die rationale Psychologie. Und ebenso unterschied Wolff zwischen einer Natur-Theologie, die

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auf der Offenbarung beruht, auf dem, was als die geoffenbarte Wahrheit uns überkommen und als das Übersinnliche in den Religionsbekenntnissen vorhanden ist -; davon unterschied er die rationale Theologie, die aus der reinen Vernunft priori - gewonnen werden konnte, welche zum Beispiel die Beweise über das Dasein Gottes aus der reinen Vernunft schöpft.

SO trennte sich das ganze Wissen der damaligen Zeit in ein solches aus der reinen Vernunft und ein solches aus der reinen Erfahrung. Diejenigen, die auf diesem Boden standen, studierten damals an allen Universitäten. Kant gehörte auch zu ihnen, wenn er auch schon darüber hinausging, wie es eine Schrift von ihm zeigt, die den Titel hattc: Über den Begriff, die negative Größe in die Welt einzuführen». Dann wurde er bekannt mit dem englischen Skeptiker Hume und lernte damit jene Form des Skeptizismus kennen, die erschütternd wirkt auf jedes rationale Erkennen, besonders auf die Anschauung der durchgängigen Apriorität das Kausalgesetz. Hume sagt: Es gibt nichts, was man durch irgendwelche apriorische Form des Denkens gewinnen könne. Es sei eben eine Gewohnheit des Menschen, zu denken, daß jede Tatsache als Wirkung einer Ursache zu verstehen sei, Und so sei der ganze rationale Ausbau etwas, an was man gewöhnt worden sei. Dadurch wurde für Kant, der etwas Einleuchtendcsbei Hume fand, dem Wolffschen Rationalismus der Boden entzogen, so daß er sich sagte, es sei überhaupt nur ein Erkennen aus Erfahrung möglich.

Da kam Kant in eine sehr merkwürdige Lage. Sein ganzes Fühlen uod Empfinden wehrte sich gegen die Annahme, es gäbe eigentlich nichts absolut Gewisses. Wenn man sich ganz auf den Boden von Hume stellte, müßte man sagen: Gewiß, wir haben gesehen, daß die Sonne des morgens aufgeht und die Steine erwärmt und wir haben aus all den Fällen, daß die Sonne des morgens aufging und die Steine erwärmte, geschlossen, daß darin ein gewisser ursächlicher Zusammenhang besteht; aber es zeigt sich gar keine Notwendigkeit, daß dieser Schluß eine absolute Wahrheit ist. - Das ist die Humesche Anschauung. Kant wollte nun die absolute Wahrheit nicht fallen lassen. Es war ihm auch klar, daß ohne die Erfahrung keine apriorische

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Aussage möglich ist. Er drehte deshalb diesen letzten Satz um und sagte: Gewiß, richtig ist es, daß der Mensch ohne Erfahrung zu nichts kommen kann; aber stammt denn die Erkenntnis auch wirklich aus der Erfahrung? - Nein, sagte Kant, es gibt mathematische Urteile, die ganz unabhängig sind von der Erfahrung. Wenn mathematische Urteile aus der Erfahrung gewonnen würden, so könnten wir nur sagen: sie haben sich bisher bewährt, aber ob sie richtig sind, das wissen wir nicht. - Da kam Kant dazu zu sagen: Daß wir solche Urteile fällen können wie die mathematischen, hängt ab von der Organisation des Subjektes in dem Moment, in welchem wir diese Urteile abgeben; wir können nicht anders denken, als die Gesetze der Mathematik sind, deshalb muß sich alle Erfahrung nach dem Bereiche der mathematischen Gesetzmäßigkeit richten. Wir haben also eine Welt um uns, die wir schaffen nach den Kategorien unseres Denkens und unserer Erfahrungen. Wir fangen mit der Erfahrung an, aber alles das hat nur mit unserer Organisation zu tun. Wir breiten das Netz unserer Organisation aus, fangen den Stoff der Erfahrung ein nach den Anschauungs- und Verstandeskategorien unserer subjektiven Organisation und sehen im Grunde ein Weltbild, das wir seiner Form nach selbst gesponnen haben. [Lücke in der Nachschrift.]

In diesen Subjektivismus hat sich die Philosophie seit Kant eingesponnen - außer in gewissem Maße bei Fichte, Schelling und Hegel -, in diesen Subjektivismus, der besagt, daß der Mensch mit den Dingen nur insofern etwas zu tun habe, als sie einen Eindruck auf ihn machen. Man hat immer mehr in den Kantianismus hineingelegt. Schon Schopenhauer, der in seiner «Welt als Wille und Vorstellung» wirklich über Kant etwas hinausgeht, aber auch andere in noch viel größerem Maße, haben diesen Kantianismus nur noch so aufgefaßt, daß das «Ding an sich» dem menschlichen Erkennen völlig unzugänglich sei, während dagegen alles dasjenige, was beim Menschen auftritt - von dem ersten Sinneseindruck bis zur Verarbeitung der Eindrücke als Erkenntnis - bloß eine Wirkung auf das Subjekt sei.

Sie sehen, daß der Mensch dann im Grunde genommen von allem Objektiven abgeschlossen ist, nur in seine Subjektivität eingesponen

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ist. «Unsere Welt ist nicht eine Welt der Dinge, nur eine Welt er Vorstellungen», sagt Schopenhauer. Das Ding ist etwas, was jenits vom Subjekt liegt. In dem Augenblick, wo wir etwas wissen, ist as, was wir vor uns haben, schon unsere Vorstellung. Das Ding egt jenseits vom Subjekt, im Transsubjektiven. Die Welt ist meine orstellung, und ich bewege mich nur in meinen Vorstellungen. - Das ist das Netz, in dem sich die Philosophie gefangen hat, und as finden Sie ausgebreitet über das ganze Denken des neunzehnten Jarhunderts. Und dieses Denken hat auch auf dem Gebiete der Psychologie zu gar nichts anderem führen können als dazu, dasjenige, Das uns gegeben ist, als etwas Subjektives aufzufassen. Selbst bei den inzelwissenschaften macht sich dies bemerkbar. Man achte auf die [elmholtzschen Lehren. Helmholtz sagt: Das, was uns gegeben ist, L nicht mehr nur ein Bild, sondern nur ein Zeichen des wirklichen iides; der Mensch darf nie behaupten, daß das, was er wahrnimmt, ne Ähnlichkeit habe mit der Wirklichkeit.

Der ganze Entwickelungsweg des Subjektivismus im neunzehnn Jahrhundert ist ein Beispiel dafür, wie die Menschen die Unbengenheit verlieren können, wenn sie einmal in einen Gedanken ngesponnen sind. Der «Transcendentale Realismus» Eduard von a`rtmanns ist ein Beispiel dafür. Es war unmöglich, mit Eduard von [artmann darüber zu reden, daß vielleicht die Welt doch nicht bloß ueine Vorstellung» sein könnte. Er hatte sich so sehr in diese 6eorie eingesponnen> daß man kaum mehr objektiv über eine ernntnistheoretische Frage mit ihm diskutieren konnte. Er konnte ~ nicht über diese Definition «die Welt ist meine Vorstellung» hin'skommen.

Wer nun gerecht ist, darf nicht in Abrede stellen, daß dieser Subkti`vismus, der in dem Satz liegt «Die Welt ist meine Vorstellung», was ungeheuer Bestechendes hat. Nehmen Sie die Sache vom Subkt aus, so werden Sie sagen, daß, wenn wir erkennen wollen, wir imer tätig sein müssen. Von der ersten Empfindung an bis zur ~ten Erzeugung des Punktes in unserem Blickfelde, der das «Rot» .deutet, müssen wir tätig sein. Hätten wir nicht die Organisation iseres Auges, das «Rot» könnte nie in unserem Auge auftreten. So

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daß, wenn Sie das Erfahrungsfeld überblicken, Sie in den Erfahrungen die Tätigkeit des Subjekts haben, und daß daher alles, was innerhalb Ihrer Erkenntnis ist, vom Subjekt aus betrachtet, von Ihnen selbst hervorgebracht ist. Das ist in einer gewissen Weise sehr bedeutsam, daß der Mensch tätig sein muß, bis ins letzte Pünktchen hinein, wenn er erkennen will. [Lücke in der Nachschrift.] Die Subjektivität des Menschen berührt sich da mit dem «Ding an sich»; überall, wo sie anstößt, erfährt sie eine Affektion; Sie erleben immer nur eine Modifikation Ihrer eigenen Kräfte. So spinnen Sie sich ein; Sie kommen gar nicht über die Oberfläche des «Dinges an sich» hinaus. Alles, was Sie erreichen könnten, ist dies, daß Sie sagen: Es stößt sich meine eigene Tätigkeit immer an der Oberfläche des «Dinges an sich», und ich empfinde überall nur meine eigene Tätigkeit.

Ich möchte Ihnen ein Bild geben. Dieses Bild ist ein solches, das noch keiner der subjektivistisch eingestellten Philosophen wirklich durchdacht hat. Denn würde er es tun, so würde er in diesem Bilde die Möglichkeit finden, aus der Subjektivität herauszukommen.

Sie haben einen Bogen Papier, träufeln flüssigen Siegellack darauf und drücken nun in den Siegellack ein Petschaft ab. Jetzt frage ich Sie: Was ist da geschehen? Auf dem Petschaft soll ein Name stehen, sagen wir «Müller». Wenn Sie es abgedrückt haben, ist dasjenige, was im Petschaft steht, absolut identisch mit dem, was im Siegellack steht. Wenn Sie den ganzen Siegellack durchforschen, werden Sie nicht das geringste Atom finden, das vom Petschaft in den Siegellack hineingekommen wäre. Beide berühren sich, und da tritt der Name «Müller» auf. Denken Sie sich, der Siegellack wäre ein erkennendes Wesen und würde sagen: «Ich bin durch und durch Siegellack; das ist meine Eigenschaft, Siegellack zu sein. Da draußen, das Petschaft, ist ein ; von diesem kann nicht das geringste in mich hineinkommen». Die Substanz des Messings bleibt ganz draußen; und dennoch, wenn Sie das Petschaft wegnehmen, der Name «Müller», auf den es ankommt, ist absolut richtig beim Siegellack. Sie können aber nicht sagen, daß der Siegellack den Namen «Müller» hervorgebracht hat. Nie, wenn nicht eine Berührung zustandegekommen wäre, würde der Name «Müller» zustandegekommen sein.

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Wenn nun der Siegellack reden könnte und sagte: «Dieser Abdruck ist nur subjektiv!» ? - So schließen im Grunde genommen alle Kantianer; nur tun sie das in Gedankenwindungen, bei welchen der einfache Mensch nicht mehr erkennen kann, daß der Gedankenfeh1er in etwas so Einfachem besteht.

Nun stimmt aber der Siegelabdruck vollständig mit dem im Petschaft eingravierten Namen überein, also mit dem, worauf es hier izü wesentlichen ankommt, abgesehen vor der Spiegelbildlichkeit, die aber hier außer Betracht fällt. Daher können Eindruck und Abdruck als identisch angesehen werden, wenigstens in bezug auf das Wesentliche, auf den Namen «Müller». Genauso ist es auch mit den Eindrücken, die wir von der Außenwelt empfangen, sie sind identisch mit der Art und Weise, wie die Dinge draußen existieren, das heißt in bezug auf das Wesentliche an beiden.

Nun handelt es sich darum, daß der Siegellack noch immer sagen könnte: «Messing lerne ich doch nicht kennen». Das hieße aber, daß das, was den Namen «Müller» in sich enthält, auch seiner materiellen Beschaffenheit nach erkannt würde. Darauf kommt es aber nicht an. Sie müssen unterscheiden zwischen der Widerlegung des Kantianismus - der Kantianismus ist, wenn dieses Beispiel zu Ende gedacht wird, absol,ut widerlegt - und ein anderes ist es, überhaupt über den Subjektivismus gänzlich hinauszukommen. Und da fragt es sich:

Können wir nun auch das Andere finden, das weder in der Natur dcsSiegellacks, noch in der des Messings ist, das über beiden darüber ist, und eine Synthesis sein wird zwischen Objektivismus und Subjektivismus? Denn mit der bloßen Widerlegung des Kantianismus ist es nicht getan.

Will man diese Frage beantworten, dann muß man etwas tiefer auf die Probleme eingehen. Daß auf diesem Gebiete die neuere Philosophie auf keinen grünen Zweig hat kommen können, rührt davon her, daß sie die Verbindung mit einer wirklichen Denktechnik verloren hat. Unsere Frage ist nun diese: Gibt es im Menschen etwas, was die Erfahrung machen kann, daß es nicht etwas Subjektives ist? Oder lebt im Menschen nur das, was über die Subjektivität nicht hinauskommen kann?

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Wäre die Menschheit imstande gewesen, von Aristoteles herauf den geraden Weg zu gehen, so würde sie nie in das Netz des Kantianismus verstrickt worden sein. Der gerade Weg - ohne den Bruch im Mittelalter - würde dazu geführt haben zu erkennen, daß es über dem Subjektiven ein Übersubjektives gibt. Die Menschheit ist eben nicht geraden Weges von Aristoteles weitergeschritten, sondern sie ist auf eine Seitenlinie gekommen, und zwar begann diese Abschwenkung schon in der späteren Scholastik infolge des Aufkommens des Nominalismus. Sie hat sich dann immer weiter fortgewälzt auf diesem Abwege, bis sie sich zuletzt bei Kant in einem förmlichen Netz verstrickt fand. Um uns aus dieser Sackgasse herauszuwinden, müssen wir wieder zurückgehen auf Aristoteles und uns fragen: Gibt es denn nichts, das über das bloß Subjektive hinausgeht, was gleichsam subjektiv-objektiv ist?

Betrachten wir einmal, wie Aristoteles das Erkennen behandelt. Er unterscheidet das Erkennen durch den «Sinn» und das Erkennen durch den «Verstand». Das Erkennen durch den Sinn ist gerichtet auf das einzelne sinnliche Ding, das Erkennen durch den Verstand ist darauf gerichtet, eine Unterscheidung zu treffen zwischen «Materie» und «Form». Und unter der «Form» versteht Aristoteles sehr, sehr viel. Der Formbegriff des Aristoteles müßte in richtiger Weise der Menschheit erst wieder einmal zum Bewußtsein gebracht wer- den. Ein alter Freund von mir in Wien machte seinen Studenten das immer an einem Beispiel klar. Die Materie ist im Grunde gar nicht das Wesentliche einer Sache, sondern das Wesentliche einer Sache für unseren Verstand macht die «Form» aus.

«Nehmen wir einen Wolf», so sagte Vincenz Knauer - so hieß er - «einen Wolf, der immer Lämmer frißt. Dieser Wolf besteht im Grunde aus derselben Materie wie die Lämmer. Aber wenn er noch so viele Lämmer fressen würde, er wird doch nie ein Lamm. Was den Wolf zum Wolf macht, das ist die

. Der Form kann er sich nicht entziehen, auch wenn seine materielle Leiblichkeit sich aus Lammileisch aufbaut.» - Die Form ist in gewisser Beziehung identisch mit der Gattung, - nicht aber mit dem bloßen Gattungsbegriff. Der moderne Mensch unterscheidet zwischen diesen beiden

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Dingen nicht mehr; aber Aristoteles unterschied noch zwischen ihnen. Nehmen wir alle Wölfe, so liegt diesen allen die Gattung Wolf zugrunde. Das ist das, was hinter allem, was der Sinn wahrnimmt, als etwas Wirkliches, Wirkendes, Reales besteht. Die, man möchte sagen transzendentale Gattung Wolf macht eigentlich aus der Materie erst existierende Wölfe. Nun nehmen wir an, der Sinn nimmt wahr einen Wolf. Hinter dem, was materiell existiert, ist die Welt der Formen, darunter auch die Form «Wolf», und die bewirkt die Gestaltung der Gattung Wol? Das menschliche Erkennen nimmt die Gattung wahr und bildet sie zu dem Gattungsbegriff um. Der Gattungsbegriff ist für Aristoteles etwas, was seiner Art nach nur als Abstraktion, als subjektives Gebilde in der Seele existiert. Aber diesem Gattungsbegriff liegt eine Realität zugrunde, und das ist die Gattung.

Wollen wir im Sinne des Aristoteles diese Unterscheidung richtig machen, dann müssen wir sagen: Allen Wölfen liegt die Gattung zugrunde, aus der sie «hervorgespritzt» sind, die die Materie zu Wölfen gemacht hat. Und die Menschenseele repräsentiert sich die Wölfe im Begriff, so daß der Gattungsbegriff in der Menschenseele für Aristoteles das ist, was auf seelische Art repräsentiert, was die Gattung ist. Wie der Mensch die Gattung im Gattungsbegrtff erkennt, das hängt durchaus von ihm ab, nicht aber die Realität der Gattung.

So haben wir einen Zusammenschluß zwischen dem, was nur in der Seele ist, dem Begriff, und dem, was im Reiche des Transsubjektiven oder der Gattung ist. Das ist absoluter Realismus, ohne daß wir dabei in den Fehler verfallen, den Plato begeht, der die Gattungen versubjektiviert und sie als eine Art transsubjektiver Mächte ansieht. Er faßt den Gattungsbegrzff wieder als die an sich seiende Wesenheit auf, während dieser nur der seelische Ausdruck für die transzendentale Realität «Gattung» ist.

Von hier aus kommen wir dann zur Aufgabe der Frühscholastik, welche ja die ganz besondere Aufgabe hatte, das Christentum zu rechtfertigen. Wir wollen hier aber nur mit einigen Worten auf den erkenntnistheoretischen Grund der Frühscholastik eingehen. Sie steht zunächst vollständig auf dem Boden, daß der Mensch nichts

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anderes kennt, als bloß seine Vorstellungen. Zwar erkennen wir durch Vorstellungen, aber was wir vorstellen, ist nicht «die Vorstellung», sondern das Objekt der Vorstellung. Die «Vorstellung» ist ein Siegelabdruck im Subjekte, und braucht nicht mehr zu sein. Nun handelt es sich darum, daß Sie die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im frühscholastischen Sinne richtig verstehen. Alles, was erkannt wird, hängt durchaus von der Form des menschlichen Geistes ab. Nichts kann in die Seele hinein und aus der Seele heraus, was nicht aus der Organisation dieser Seele selbst kommt. Aber das, was ursprünglich der Arbeit der Seele zugrundeliegt, entsteht durch die Berührung der Seele mit dem Objekt. Und durch die Berührung des Subjektes mit dem Objekt wird das Zustandekommen der Vorstellung ermöglicht. Daher sagte die Frühscholastik, daß der Mensch nicht seine Vorstellungen vorstellt, sondern daß seine Vorstellungen ihm repräsentieren das Ding. Wollen Sie auf den Inhalt der Vorstellung kommen, so müssen Sie den Inhalt der Vorstellung im Ding suchen.

Allerdings sehen Sie an diesem Beispiel: Um die scholastischen Begriffe in sich aufzunehmen, dazu gehört Scharfsinn, feine Distinktion, die eben denen, welche die Scholastik schlechtweg verurteilen, meistens fehlt. Man muß sich durchaus auf solche Sätze einlassen: «Ich stelle vor» oder «Meine Vorstellungen repräsentieren einen Inhalt, und der rührt von Objekt her». Der moderne Mensch will gleich dreinhauen mit allen Begriffen, so wie sie sich ihm aus dem trivialen Leben her ergeben. Daher erscheinen ihm die Scholastiker alle als Schulfüchse. In gewisser Weise sind sie das auch, denn sie haben eben darauf gesehen, daß der Mensch erst etwas lernte: eine Disziplin der Denktechnik. Die Denktechnik der Scholastiker ist eine der strengsten, die jemals in der Menschheit aufgetreten ist.

So haben wir in alle dem, was der Mensch erkennt, ein Gewebe von Begriffen, die die Seele gewinnt an den Objekten. Es gibt da eine feine scholastische Definition: In allem, was der Mensch auf diese Weise an Vorstellungen und Begriffen in seiner Seele hat, existiert das durch dasselbe repräsentierte Objekt nach Art der Seele. «In dem Erkannten existiert das Objektive nach Art der Seele.» Bis auf das

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letzte Pünktchen ist alles Arbeit der Seele. Die Seele hat zwar alles nach ihrer Art repräsentiert in sich, zu gleicher Zeit ist aber das Objekt damit [verbunden].

Nun ist die Frage diese: Wie kommen wir heute aus dem Subjektivismus heraus? Durch den geraden Weg von Aristoteles her würden wir über den Subjektivismus hinausgekommen sein. Dieser gerade Weg konnte aber eben aus tieferen Gründen nicht gegangen werden. Die ersten Zeiten des Christentums konnten nicht gleich die höchste Form des Erkennens durch das Denken hervorbringen.

Es lebte in den ersten Jahrhunderten etwas anderes in den Seelen, wodurch gerade die Scholastik nicht in der Lage war [Lücke in der Nachschrift], über das Subjektive hinauszukommen.

Wir können uns leicht klarmachen, wie wir über den SubjektivismuS hinauskommen, wenn wir nach Art der Scholastiker uns den Unterschied zwischen Begriff und Vorstellung klarmachen. Welches ist dieser Unterschied? An einem Kreis können wir uns das am leichtesten klarmachen. Die Vorstellung eines Kreises können wir gewinnen, wenn wir mit einem Boot auf das Meer hinausfahren bis zu einem Punkte, wo wir das Himmelsgewölbe ringsum am Horizont aufsitzen sehen. Da haben wir die Vorstellung des Kreises gewonnen. Wir können die Vorstellung des Kreises auch gewinnen, wenn wir einen Stein an einen Faden anbinden und herumschwingen. Oder noch gröber bekommen wir diese Vorstellung an einem Wagenrad. Da haben Sie den Kreis überall aus dem Vorstellungsleben gewonnen. Nun gibt es einen anderen Weg, zum Kreis zu kommen, den Weg, auf welchem Sie den Kreis durch rein innere Konstruktion gewinnen, indem Sie sagen: Der Kreis ist eine gebogene Linie, bei welcher jeder Punkt von einem Mittelpunkt gleich weit entf`ernt ist. - Diesen Begriff haben Sie sich selbst konstruiert, wobei Sie aber nicht sich selbet` beschrieben haben.

Die Vorstellung können Sie gewinnen durch Erfahrung, zu dem Begriff kommen Sie durch innere Konstruktion. Die Vorstellung hat noch zu tun mit Subjekt und Objekt. In dem Augenblick, wo der Mensch innerlich konstruiert, ist diesem innerlich von ihm Konstruierten gegenüber Subjekt und Objekt irrelevant. Ob Sie einen

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Kreis wirklich konstruieren, ist für die Natur des Kreises absolut gleichgültig. Die Natur des Kreises, insofern wir durch inneres Konstruieren zu ihr kommen, ist erhaben über Subjekt und Objekt.

Nun hat jedoch der moderne Mensch nicht viel, was er so konstruieren kann. Goethe versuchte solche [innerliche Konstruktionen auch für höhere Gebiete des Naturdaseins zu bilden. Er kam dabei zu seinen «Urbildern», zu seinen «Urphänomenen»].

Bei solchem innerlichen Konstruieren erhebt sich das Subjekt über sich selbst, es gelangt über die Subjektivität hinaus. Es dringt - um auf jenes Bild zurückzukommen - der Siegellack gleichsam in die Materie des Petschaft hinein.

Erst in einem solchen reinen, sinnlichkeits-befreiten Denken verschmilzt das Subjekt mit seinem Objekt. Diese hohe Stufe konnte nicht gleich errungen werden. Es mußte der Mensch erst ein Zwischenstadium durchmachen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt arbeitete der Mensch unmittelbar aus der geistigen Welt heraus; er dachte nicht selber, sondern empfing alles aus den Mysterien. Der Gedanke tritt erst in einer bestimmten Zeit auf. Daher wird auch die Logik erst in einer bestimmten Zeit ausgebildet. Die Möglichkeit, ein reines, sinnlichkeitsfreies Denken auszubilden, wurde erst errungen auf einer gewissen Entwickelungsstufe. Diese Art wurde - der Möglichkeit nach - bereits erlangt im neunzehnten Jahrhundert bei Geistern wie Fichte, Schelling, Hegel. Und wir haben sie weiter auszubilden in den intimeren Gebieten durch die Geisteswissenschaft. Die geistige Forschung ist wieder zu fundieren auf dem reinen, sinnlichkeitsbefreiten Denken, wie es zum Beispiel in den Rosenkreuzerschulen gelebt und seinen Ausdruck gefunden hat. In früheren Zeiten der Menschheitsentwickelung sind die Menschen durch Eingeweihte mit den tieferen Geheimnissen des Daseins vertraut gemacht worden. Jetzt müssen sie sich dazu ausbilden, sich diese Dinge all- mähli ch selbst zu erarbeiten. In der Zwischenzeit handelte es sich darum, den Zusammenhang mit der göttlichen Welt zu erhalten. Damit das Christentum ruhig reifen konnte, mußte die Erkenntnis des Übersinnlichen eine gewisse Zeit der menschlichen Forschung entzogen werden. Die Menschen sollten einmal glauben lernen,

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auch ohne zu wissen. Daher stützte sich das Christentum eine Zeitlang auf den bloßen Glauben. Die Menschen sollten den Gedanken ruhig reifen lassen. Daher haben Sie das Zusammengehen von Glauben und Wissen in der Scholastik. In der Scholastik will der Begriff nur eine feste Stütze abgeben für das, was in bezug auf die übersinnlichen Gegenstände sich für eine gewisse Zeit dem überlassen sollte, was ihm durch die Offenbarung zuteil geworden ist. Das ist der Standpunkt der Scholastik: Dinge der Offenbarung der Kritik zu entrücken, bis des Menschen Denken herangereift ist. Der Nährvater, der dem Denken die Technik gegeben hat, war ja Aristoteles. Aber dieses Denken sollte zunächst geschult werden an festen Stützpunkten der äußeren Realität.

Heute handelt es sich darum, daß man den Geist der Scholastik versteht im Gegensatz zu dem, was das Dogma ist. Dieser Geist kann nur darin erkannt werden, daß das, was der Urteilskraft entzogen war, Gegenstand der übersinnlichen Offenbarung blieb, während die Folge der Vernunfterkenntnis die war, daß der Mensch selbst [an der sinnlichen Erfahrungswelt] zu produktiven Begriffen kommen sollte, zu dem, was darin unvergänglich ist. Diese Methode des Konstruierens der Begriffe sollte bleiben - und gerade diese Methode hat die neuere Philosophie vollständig verloren. Der Nominalismus hat die neuere Philosophie erobert, indem er sagte: Die Begriffe die nach der Art der Seele gebildet sind, sind bloße Namen. -

Man hatte den Zusammenhang mit dem Realen vollständig verloren, weil das Instrument derjenigen, die die Scholastik nicht mehr richtig verstanden haben, stumpf geworden war. Die frühe Scholastik wollte das Denken an dem Faden der Erfahrung schärfen [für das Übersinnlich-Reale]. Doch dann kamen andere, die haften blieben an den Erfahrungsdokumenten, während doch die Vernunft nur an ihnen geschult werden sollte. Und dann kam die Strömung, welche sagte: Für immer muß das Übersinnliche aller menschlichen Vernunfterkenntnis entzogen sein! - Und nach Luthers Ausspruch ist die Vernunft «die stockblinde, die taube, die tolle Närrin».

Hier sehen wir nun den Ausgangspunkt jenes großen Zwiespaltes zwischen dem, was man erkennen und dem, was man glauben konnte;

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und der Kantianismus ist nur auf eine geheimnisvolle Weise aus dieser ganz einseitigen, nominalistischen Geistesrichtung heraus er- wachsen. Denn im Grunde genommen war das, was Kant wollte, nichts anderes, als daß er zeigen wollte: Die Vernunft, wenn sie sich selbst überlassen ist, ist eben «die stockblinde, die taube, die tolle Närrin». Wenn diese Vernunft sich vermißt, die Grenzen zu überschreiten, die sie selbst erst hineingelegt hat in .... Lücke in der Nachschrift], dann ist sie die «blinde Närrin». In der einseitigen Ausbildung des [nominalistischen] Denkens sehen wir heranreifen das Netz, in das sich der Kantianismus hineingesponnen hat. Das Wissen wird an die äußere Erfahrung gebunden, der nun sogar selbst die Grenzen vorgeschrieben werden. Und der Glaube [Lücke in der Nachschrift].

Die Philosophie wieder in die richtige Bahn zu bringen, das ist eine Aufgabe, die nur die anthroposophisch orientierte Geistes- wissenschaft wird durchführen können.

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ÜBER PHILOSOPHIE München, 20. März 1908

Was wir jetzt betrachten, das soll ganz aus dem Rahmen der anthroposophischen Betrachtungen herausfallen. Es hängt nur indirekt damit zusammen, es soll eine rein philosophische Betrachtung sein. Der unmittelbare Zusammenhang ist der, daß häufig behauptet wird, daß vor dem Forum der Wissenschaft die anthroposophische Geisteswissenschaft keineswegs bestehen könne, daß sie sich ausnehnie wie purer Dilettantismus, auf den sich ein ernster Philosoph nicht einlassen dürfe. Es soll nun gezeigt werden, daß der Dilettantismus nicht auf seiten der Anthroposophie, sondern auf seiten der Philosophie liegt.

Die Philosophie ist gegenwärtig ein ganz ungeeignetes Instrument, sich zur Anthroposophie emporzuheben. Wir wollen uns zunächst orientieren über Philosophie. Wir wollen sehen, wie sich die Philosophie geschichtlich gestaltet hat. Dann wollen wir das Erbübel einer gewissen Betrachtung unterziehen. Wir wollen zeigen, wie die Philosophie heute daran krankt, daß sich zu einer gewissen Zeit das ganze philosophische Denken in einem Spinnennetz gefangen hat, wie es dadurch unfähig ist, sich einen weiteren Gesichtskreis in bezug auf das Wirkliche zu erringen.

Wir müssen uns die Tatsache vor Augen führen, daß alle Geschichte der Philosophie anfängt mit Thales. In der neueren Zeit hat man versucht, die Philosophie nach rückwärts zu verlängern, also über das griechische Philosophentum hinauszugehen. Man spricht von einer indischen, einer ägyptischen Philosophie. Wer nicht einen willkürlichen Begriff von Philosophie aufstellt, der sagt sich, daß in der Tat mit Thales ein wichtiger Zeitabschnitt angefangen hat. Wenn wir fragen, was da eingreift in die menschliche Entwickelung, was vorher nicht da war, so müssen wir sagen: das ist das begriffliche Denken. Es war vorher nicht vorhanden. Das unterscheidet sich charakteristisch von allem, was früher da war. Früher wurde nur gesagt, was der Seher gesehen hatte. Bei PLato ist die Sehergabe noch

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überwiegend. Der erste begriffliche Denker, dessen System nicht mehr die alte Sehergabe zugrunde liegt, ist Aristoteles. In ihm haben wir das rein denkerische System vor uns. Alles andere war Vorbereitung. Es beginnt jene Gabe, in reinen Begriffen zu leben, zu denken, ihren ausgezeichneten Ausdruck zu finden in Aristoteles. Es ist nicht bloß Zufall, daß Aristoteles der «Vater der Logik» genannt wird. Dem Seher wird die Logik zugleich mit dem Sehen geoffenbart. Zum Begriffebilden brauchte man aber nicht nur in seiner Logik, sondern darin, daß in der Folgezeit die Offenbarungen des Christentums umgeprägt wurden zu Gedankenbildungen mit aristotelischer Logik.

Dieses aristotelische Denken breitete sich aus sowohl in den arabischen Kulturraum hinüber nach Asien, nach Spanien und in den Westen Europas, wie auch in den Süden Europas, wo das Christentum beeinflußt wurde vom aristotelischen Denken. Wer das 7. bis 9. Jahrhundert beobachtet, kann die Wahrnehmung machen, daß christliche Lehrer ebenso wie antichristliche Elemente ihre Lehren in aristotelischer Form zum Ausdruck brachten, und das blieb so bis zum 13. Jahrhundert.

Wir werden gleich sehen, worin der Schwerpunkt des aristotelischen Denkens liegt. In der Mitte des Mittelalters wird durch 1homas von Aquino die sogenannte thomistische Philosophie verbreitet; sie steht auf christlicher Offenbarung und aristotelischer Logik. Das christliche Lehrgut lehrte man nicht in strenggehaltener Denkform, aber man wollte zeigen, daß dieses christliche Lehrgut auch verteidigt werden konnte in aristotelischen Denkformen, gegen die Araber und ihre Schüler, wie Averroes, die auch in diesen Denkformen dachten. Man wollte zeigen, wie man den richtig verstandenen Aristoteles nicht gebrauchen kann zu arabischen Lehren, sondern für das Christentum. Man wolhe die Einwände der arabischen Denker entkräften; daher das eifrige Studium des Thomas von Aquino. Aristoteles beherrschte damals alle Wissenschaft, auch zum Beispiel die Medizin.

Nun muß man einmal charakterisieren, was die frühere Scholastik von Aristoteles hatte. Das damalige Denken unterschied sich

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ganz wesentlich von dem heutigen. Wenn man damit vergleicht, was damals getrieben worden ist, muß man sagen: an Inhalten war das Leben damals arm. Die ungeheuren Erfindungen sind erst später gemacht worden. Das Wesentliche der damaligen Zeit ist das streng geschulte Denken. Man macht sich heute lustig über die strengen Definitionen der Scholastik. Wenn man aber damit vergleicht das heutige willkürliche Verstehen aller Begriffe, dann empfindet man erst die Wohltat jener Anschauung, daß eine Verständigung über die Begriffe herrschen muß. Es dauert lange, bis man einmal die Begriffe festgelegt hat; aber dann arbeitet man auf einem festen Boden.

Um uns weiter orientieren zu können, müssen wir auf ein paar Begriffe des Aristoteles eingehen. Er war ein guter Interpret für das Christentum, sogar vom Gesichtspunkte der Anthroposophie. Ein paar Begriffe sollen zeigen, wie scharf Aristoteles gedacht hat. Aristoteles unterscheidet die Erkenntnis nach Sinn und Intellekt. Die Sinne nehmen wahr diese Rose, diesen Menschen, diesen Stein. Dann tritt der Intellekt ein. Der zerfällt in eine Erkenntnis der Materie und der Form. In allen Dingen ist Materie und Form enthalten. Mit diesen beiden Begriffen kommen wir sehr weit. Aristoteles sieht in jedem einzelnen Naturding, dessen sich der Sinn bemächtigt, Materie und Form: Betrachtet einen Wolf. Der frißt lauter Lämmer; dann besteht er aus derselben Materie wie die Lämmer, aber der Wolf wird nie ein Lamm. - Das, wodurch sich die beiden unter- scheiden, ist die Form. Wir haben die Form des Lammes und des Wolfes. Er identifiziert das was als Form zugrunde liegt, mit Gattung Lamm und Gattung Wol? Aristoteles unterscheidet scharf zwischen Gattung und Gattungsbegriff. Wenn wir einer Schar von Lämmern gegenüberstehen, so bilden wir uns den Gattungsbegriff. Das, was unser Begriff in seiner Form feststellt, ist ein Objektives außer uns> wie wenn wir uns in der Welt unsichtbar ausgebreitet denken würden die Urbilder der Formen, die aus sich herausspritzen die einzelnen Gattungen, in die hineingeschüttet wird die gleichgültige Materie. Allem um uns herum liegt das Gattungsmäßige zugrunde; das Materielle ist Aristoteles etwas Gleichgültiges.*)

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*) Siehe hierzu Hinweis.

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Bei den Scholastikern, Albertus Magnus, finden wir, was zugrunde liegt den äußeren Wesenheiten. Der frühere Scholastiker unterscheidet Universalien vor den Dingen, in den Dingen und nach den Dingen. Albertus Magnus sagt darüber: Die Universalien vor dem Dinge sind die Gedanken der göttlichen Wesenheiten. Da hat man die

Gattung. In die Dinge sind diese Gedanken eingeflossen. Tritt der Mensch den Dingen gegenüber, so bildet er sich die Universalien nach dem Dinge, was die Begriffsform ist. In dieser ganzen Beschreibung der denkerischen Entwickelung ist nur von Sinnendingen die Rede. Er identifiziert mit dem «Sinn» den äußeren Sinn. Alles andere, was noch da ist, ist ihm Begriff. Der Gattungsbegriff ist ihm nicht identisch mit Gattung. Das Ganze kommt daher, daß die Menschen die alte Sehergabe verloren hatten, damit eine Philosophie heraufkommen konnte.

Ein alter Weiser würde gar nicht verstanden haben, in dieser Weise Unterschiede zu machen, weil er gesagt hätte: Mit der Sehergabe kann man die Gattung wahrnehmen. - Erst als die Sehergabe versiegt, kommt die eigentliche Wissenschaft heraus. Erst als der Mensch sich selbst überlassen war, entstand die Notwendigkeit, eine denkerische Kunst auszubilden. Unter dem Eindruck dieses wichtigen Prinzips entstand die Scholastik. In alten Zeiten waren dem Menschen die geistigen Welten noch zugänglich. Nun konnten sich die Scholastiker erst recht auf Aristoteles berufen, denn dieser sprach von der Sehergabe: Alte Berichte sagen uns, daß die Gestirne Götter seien, aber der menschliche Intellekt kann darüber nichts mehr ausmachen. Aber wir haben keinen Grund, das zu bezweifeln.

Die Scholastik setzte an die Stelle des Geschauten die Offenbarung. Was Lehrgut sein sollte, setzte sie in das einmal inspirierte Wort. Zunächst muß sich die Menschheit daran gewöhnen, die Gedankenlehre an den äußeren Dingen auszubilden. Wo würde sie hin- kommen, wenn sie in alle möglichen übersinnlichen Dinge hinein- schweifen wollte? Das wollen wir uns versagen; wir wollen uns heranbilden an den Dingen, die um uns herum sind. So sagt Thomas von Aquino. Wenn uns die Gegenstände entgegentreten, sind sie

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uns gegeben für die Sinne. Dann sind wir genötigt, uns Begriffe davon zu bilden. Hinter den Dingen ruhen die göttlichen Mächte, an die wir uns nicht heranwagen. Wir wollen uns von Ding zu Ding schulen. Dann kommen wir, indem wir uns streng an das Sinnliche halten, endlich zu höchsten Begriffen. Man hielt sich also an zweier

lei: an das geoffenbarte Lehrgut, das gegeben ist in den Schriften, an die das Denken nicht herantritt. Es ist von den Sehern übernommen worden. Man hielt sich ferner an das, was erarbeitet wird an der sinnlichen Wirklichkeit. Damit reichen wir nur gerade heran an Bibei und Offenbarung. Eine Zeitlang wird die höhere Welt dem menschlichen Denken entzogen. Aber es wird kein endgültiger Verzicht geleistet auf die übersinnlichen Welten. Wenn sich der Mensch die sinnliche Welt erobert hat, kann er eine Vorahnung der über- sinnlichen Welten bekommen. Der Mensch kann frei werden vom physischen Leib und unmittelbar Offenbarung haben. Aber erst soll sich der Intellekt schulen. Wenn der Mensch an den Außendingen Begriffe bildet, sind sie der Form nach abhängig von der menschlichen Organisation, aber nicht dem Inhalte nach. In der scholastischen Erkenntnistheorie wird niemals daran gedacht, daß etwas Unerkanntes zurückbleiben kann. Das Objektive geht ein in die Erkenntnis; nur die Form, wie Begriffe gebildet werden, hängt von der Organisation des menschlichen Geistes ab.

Diese frühere Scholastik nennt man Realismus. Sie glaubte an die Wirklichkeit des Inhaltes. Die Scholastik wurde dann nominalistisch. Die Menschen haben den Zusammenhang mit der objektiven äußeren Welt verloren. Sie sagten: Der Geist bildet sich Begriffe; sie sind nichts Wirkliches. - Die Begriffe wurden bloße Namen; sie waren nur Abstraktionen. Was mit dem Begriff erreicht werden soll, entmelt. Deshalb mußten sich die Nominalisten sagen: Vor uns breitet sich die sinnliche Wirklichkeit. Wir fassen sie zusammen, wie unser Verstand will. Unseren Begriffen entspricht nichts Wirkliches. Man muß die eigentliche Offenbarung behüten vor dem menschlichen Denken und auf jedes Verständnis verzichten. - Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Anschauung in dem Ausspruch Luthers, daß die menschliche Vernunft ohnmächtig sei, die stocktaube, blinde,

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törichte Närrin, die sich nicht anmaßen sollte, an das Lehrgut heran- zukommen.

Das ist ein wichtiger Scheidepunkt. Luther verurteilt Aristoteles. Von diesem Punkt aus geht die Suggestion, welche den Kantianismus hervorgebracht hat. Kant war bis Ende der sechziger Jahre Wolffianer, wie damals fast alle Philosophen. Wo!fflehrte: Die Vernunft vermag etwas auszumachen über die übersinnlichen Welten. Er unterscheidet eine rationale und eine empirische Wissenschaft. Es ist möglich, eine gewisse Summe menschlicher Erkenntnis zu gewinnen. Die aposteriorische Erkenntnis hat nur relative Gültigkeit.

[Lücken und Mängel in der Nachschrift. Zur Philosophie Wolffs vergleiche die Darstellung im Vortrag vom 14. März 1908 in diesem Band.]

In den Bahnen Wolffs wandelte zunächst auch Kant. Hume stört ihn. Dieser bildet den Skeptizismus aus. Er sagt, es darf keine Scheidewand gezogen werden zwischen apriorischen und aposteriorischen Erkenntnissen. Alle Erkenntnisse sind Gewohnheitserkenntnisse; es gibt keine rationalen. Kant erwachte aus seinem dogmatischen Schlummer. Aber ganz konnte er nicht mit. Er sagte: Hume hat Recht; alles gewinnen wir aus der Erfahrung. Nur die Mathematik bildet eine Ausnahme; was diese sagt, hat absolute Gültigkeit. - Er vertritt also zweierlei. Erstens: Es gibt absolut sichere Urteile a priori. Zweitens: Alle Erkenntnis muß aus der Erfahrung gewonnen werden. Die Erfahrung aber richtet sich nach unseren Urteilen. Wir selbst geben der Erfahrung Gesetze. Der Mensch tritt dem Dinge gegenüber mit seiner Denkorganisation. Alle Erfahrung richtet sich nach unserer Erkenntnisform. So verband Kant Hume mit Wolff.

Jetzt ist der Mensch eingesponnen in dieses philosophische Netz. Fichte, Schelling und Hegel bilden Ausnahmen. Auch einzelne Naturwissenschafter gehen diesen Weg. Helmholtz sagt: Was der Mensch vor sich hat, ist aus seiner Organisation herausgesponnen. Was wir von dem Ding wahrnehmen, ist nicht einmal ein Bild, sondern nur ein Zeichen. Das Auge macht nur Wahrnehmungen an der Oberfläche. Der Mensch ist ganz in seine Subjektivität eingesponnen. Das Ding an sich bleibt unbekannt. - So mußte es werden. Der Nominalismus

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hat das Geistige hinter der Oberfläche verloren. Das menschliche Innere ist entkräftet worden. Das innere Arbeiten wird rein formal. Wenn der Mensch hinter die Wirklichkeit dringen will, so gibt ihm sein Inneres keine Antwort. Das ganze philosophische Denken des 19. Jahrhunderts findet sich da nicht heraus. Hartmann zum Beispiel kommt über die Vorstellung nicht hinaus. Ein einfacher Vergleich kann darüber aufklären. Ein Petschaft enthält den Namen Müller. Es kann nichts, auch nicht das kleinste Stoffliche vom Messing des Petschafts in den Siegellack kommen. Folglich kann nichts Objektives aus dem Petschaft hinüberkommen; der Na- nie Müller muß sich aus dem Siegellack bilden. Der Denker ist der Sicgellack. Nichts geht über vom Objekt auf den Denker. Und doch ist der Name Müller im Siegellack. So nehmen wir den Inhalt aus objektiven Welt heraus, dennoch ist es der wahre Inhalt, den wir rausnehmen. Wenn man bloß das Materielle nimmt, ist es richtig: kommt nichts vom Siegellack ins Petschaft und umgekehrt. Sod man aber den Geist sieht, das höhere Prinzip, der das Objektive d Subjektive umfassen kann, da geht der Geist ein und aus der Objektive und Objektive. Der Geist trägt herüber alles aus der Objektivität in die Subjektivität. Das Ich ist objektiv und subjektiv in $Ich selbst. Das hat Fichte gezeigt. *)

Die ganze Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts nimmt sich aus wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz fängt. Man kommt dazu: Ich habe alles geschaffen. Die Welt ist meine Vorstellung. Alles ist Lcrausgespritzt aus meinem Inneren. Ich habe auch das Recht, alles zu töten.

Kant gibt durchaus verschnörkelte Begriffe. Kant sagt: Ich habe das Wissen vernichtet, um für den Glauben Platz zu machen. - Er hat das Wissen eingeschränkt und begründet einen praktischen Glauben, weil alles aus dem Subjektiven herausgesponnen ist.

Der Kantianismus ist das letzte Ergebnis des Nominalismus. Heute ist die Zeit dafür abgelaufen. Der Mensch muß sein Denken wieder an der Wirklichkeit schulen, um reale Begriffe sich zu bilden;

- - -

*) Der Res: des Vortrages isr von dem Nachschreibenden nur in fragmentarischen Notizen festgehalten worden, wie die folgenden Sätze zeigen.

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dann können wir die übersinnlichen Wahrheiten wieder erkennen. Die scholastische Einstellung ist zeitbedingt, das Geistige mußte eine Zeitlang dem Denken entzogen werden. Jetzt muß das geoffenbarte Lehrgut wieder ein zu prüfendes Lehrgut werden. Wir müssen wieder alles mit der Vernunft ansehen. Sie ist ein Licht, mit dem man überall hineinleuchtet. Man kann alles erforschen, verstehen, begreifen. Vernunft ist die niedrigste Seherkraft, aber eine sehende, hörende> gescheite Kraft. So winden wir uns heraus aus dem Netz. Die Philosophie muß sich befreien aus diesem Netz und sich befruchten lassen von der Logik zu wahrem Denken.

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FORMALE LOGIK I Berlin, 20. Oktober 1908

Es ist gleichsam als Episode schon über die Beziehung zwischen Anthroposophie und Philosophie gesprochen worden; heute wollen wir sprechen über ziemlich elementare Dinge der sogenannten formalen Logik. Es wird trotz alles Elementaren unserer heutigen Betz`achtung vielleicht nicht unnütz sein, wenn wir zwischen unsere Ausblicke in höhere Welten uns auch einmal in ein philosophisches Kapitel einlassen. Es ist nicht gemeint, daß ein solcher Vortrag direkt etwas bieten könnte für das Eindringen in die höheren Welten. Das kann eine logische Betrachtung ebensowenig, wie die formale Logik die Erfahrung auf sinnlichen Gebieten bereichern kann. Jemand, der zum Beispiel noch nie einen Walfisch gesehen hat, kann sich nicht beweisen lassen, daß es einen solchen gibt. Er muß die Beobachtung selber machen. Aber gerade die Erkenntnis der Grenzgebiete wird der Anthroposophie nützlich sein, wie die Logik etwa beispielsweise nützlich war den Scholastikern. Die Philosophen des Mittelalters, die man heute etwas verächtlich unter dem Namen der Scholastiker zusammenfaßt, betrachteten die Logik auch nicht als Selbstzweck, sie diente nicht dazu, etwas Inhaltliches zu erlernen. Lehrgut, Lehrinhalt war vielmehr entweder die Sinnesbeobachtung oder die Offenbarung, welche durch göttliche Gnade gewonnen wird. Aber obgleich nach Meinung der Scholastiker die Logik ganz ohnmächtig war, die Erfahrung zu bereichern, so wurde sie doch von ihnen angesehen als ein wichtiges Instrument zur Verteidigung. sO soll sie auch für uns ein solches Instrument sein.

Man unterscheidet zwischen materieller und formaler Logik. Etwas Materielles, Inhaltvolles kann die Logik als solche gar nicht als ihren Gegenstand begreifen. Begriffe wie zum Beispiel Zeit, Zahl, Gott geben einen Inhalt, der nicht durch logische Schlüsse entsteht. Dagegen ist die Form des Denkens Aufgabe der Logik, sie bringt Ordnung in die Gedanken, sie lehrt, wie wir Begriffe verbinden müssen, die zu richtigen Schlüssen führen. Man darf wohl sagen,

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daß die Logik in früheren Zeiten mehr geschätzt worden ist als heute. In den Gymnasien wurde früher philosophische Propädeutik, Logik und Psychologie getrieben. Der Unterricht zielte darauf hin, die Jünglinge zu einem disziplinierten, geordneten Denken zu führen; Propädeutik heißt Vorbereitung. Heute strebt man danach, diese ganze Art der Vorbereitung auszumerzen und sie an die Stillehre anzugliedern, weil man die Logik nicht mehr genügend respektiert. Das Denken, sagt man, sei dem Menschen angeboren; warum also in einem besonderen Unterrichtszweig erst noch das Denken lehren? Aber gerade in unserer Zeit ist es sehr nötig, hier Selbstbesinnung zu üben und sich wieder mehr mit formaler Logik zu beschäftigen.

Der Begründer der formalen Logik ist Aristoteles. Und was Aristoteles für die Logik getan hat, ist immer anerkannt worden, auch von Kant, der sagt, daß die formale Logik seit Aristoteles nicht viel weiter gekommen sei. Neuere Denker haben etwas hinzuzufügen gesucht. Wir wollen heute nicht prüfen, ob solche Hinzufügungen notwendig und berechtigt waren oder nicht. Wir müssen hier nur die Tragweite der Logik erkennen.

Es wird den Anthroposophen oft der Vorwurf gemacht, daß sie nicht logisch seien. Das kommt sehr oft daher, daß der Betreffende, der den Vorwurf macht, gar nicht weiß, was logisches Denken ist und welches die Gesetze logischen Denkens sind. Logik ist die Lehre von der richtigen, harmonischen Verbindung unserer Begriffe. Sie umfaßt die Gesetze, nach denen wir unsere Gedanken regeln müssen, damit wir im Inneren einen Spiegel der richtigen Verhältnisse des Wirklichen haben.

Da müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was ein Begriff ist. Daß die Menschen sich so wenig darüber klar sind, was ein Begriff ist, daran ist wieder schuld der Mangel an Vertiefung in die Logik auf seiten der Gelehrsamkeit. Wenn wir einem Gegenstand gegenübertreten, so ist das, was sich zuerst abspielt, die Empfindung. Wir bemerken eine Farbe, einen Geschmack oder Geruch, und diesen Tatbestand, der sich da zwischen Mensch und Gegenstand abspielt, müssen wir zunächst als durch die Empfindung charakterisiert betrachten. Was in der Aussage liegt: Etwas ist warm, kalt und so weiter

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ist eine Empfindung. Diese reine Empfindung haben wir aber eigentlich im gewöhnlichen Leben gar nicht. Wir empfinden an einer roten Rose nicht nur die rote Farbe, sondern wenn wir in Wechsel wirkung treten mit den Gegenständen, so haben wir immer gleich eine Gruppe von Empfindungen. Die Verbindung der Empfindungen Rot, Duft, Ausdehnung, Form» nennen wir «Rose». Einzelne Empfindungen haben wir eigentlich nicht, sondern nur Gruppen von Empfindungen. Eine solche Gruppe kann man eine «Wahrnehmung» nennen.

In der formalen Logik muß man scharf unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Empfindung. Wahrnehmung und Empfindung sind etwas durchaus Verschiedenes. Die Wahrnehmung ist das erste, was uns entgegentritt, sie muß erst zergliedert werden, um eine Empfindung zu haben. Das, was uns einen Seeleninhalt gibt, ist aber nicht das einzige. Die Rose zum Beispiel übt einen Eindruck auf uns aus: Rot, Duft, Form, Ausdehnung. Wenden wir uns ab von der Rose, so behalten wir in der Seele etwas zurück wie einen abgeblaßten Rest des Roten, des Duftes, der Ausdehnung, und so weiter. Dieser abgeblaßte Rest ist die Vorstellung. Man sollte nicht verwechseln Wahrnehmung und Vorstellung. Die Vorstellung eines Dinges ist das, wo das Ding nicht mehr dabei ist. Die Vorstellung ist schon ein Erinnerungsbild der Wahrnehmung.

Wir sind aber immer noch nicht zum Begriff gekommen. Die Vorstellung erhalten wir, indem wir uns den Eindrücken der Außenwelt aussetzen. Wir behalten dann als Bild die Vorstellung zurück. Die meisten Menschen kommen Zeit ihres Lebens nicht über die Vorstellung hinaus, sie dringen nicht vor zum eigentlichen Begriff. Was ein Begriff ist und wie er sich verhält zur Vorstellung, wird am besten gezeigt an einem Beispiel aus der Mathematik. Nehmen wir den Kreis. Wenn wir mit einem Kahn auf das Meer hinausfahr`en, bis dort, wo wir schließlich nichts weiter sehen als die Meeresfläche und den Himmel, so können wir, wenn es ganz ruhig ist, den Horizont wahrnehmen als einen Kreis. Schließen wir dann die Augen, so behalten wir von dieser Wahrnehmung als Erinnerungsbild die Vorstellung des Kreises zurück. Um zum Begrzff des Kreises

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zu kommen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir dürfen keinen äußeren Anlaß für die Vorstellung suchen, sondern wir konstruieren im Geiste alle Punkte einer Fläche, welche von einem bestimmten festen Punkte gleich weit entfernt sind; wiederholen wir dies unzählige Male und verbinden im Geiste diese Punkte durch eine Linie, so baut sich vor unserem Geiste das Bild eines Kreises auf. Wir können auch mit Kreide an der Tafel eine Illustration dieses geistigen Bildes geben. Wenn wir uns nun dieses nicht durch äußere Eindrücke, sondern durch inneres Konstruieren entstandene Bild des Kreises vor Augen stellen und es vergleichen mit dem Bild der Meeresfläche und des Horizontes, das sich der äußeren Wahrnehmung darbot, so können wir finden, daß der innerlich konstruierte Kreis dem Bild der äußeren Wahrnehmung durchaus entspricht.

Wenn nun die Menschen wirklich logisch denken, im strengen logischen Sinne denken, so tun sie etwas anderes als äußerlich wahrnehmen und das Wahrgenommene sich wieder vergegenwärtigen; dies ist nur eine Vorstellung. Beim logischen Denken aber muß jeder Gedanke innerlich konstruiert sein, er muß ähnlich geschaffen sein, wie ich es eben am Beispiele des Kreises erklärt habe. Mit diesem inneren Gedankenbilde geht der Mensch dann erst an die äußere Wirklichkeit heran und findet Harmonie zwischen dem inneren Bilde und der äußeren Wirklichkeit. Die Vorstellung steht mit der äußeren Wahrnehmung in Verbindung, der Begriff ist entstanden durch inneres Konstruieren. Immer haben die Menschen so innerlich konstruiert, die wirklich logisch dachten. So hat Kepler, als er seine Gesetze aufstellte, diese innerlich konstruiert, und er fand sie dann in Harmonie mit der äußeren Wirklichkeit.

Der Begriff ist also nichts anderes als ein Gedankenbild, er hat seine Genesis, seinen Ursprung im Gedanken. Eine äußere Illustration ist nur eine Krücke, ein Hilfsmittel, um den Begriff anschaulich zu machen. Nicht durch äußere Wahrnehmung wird der Begriff gewonnen, er lebt zunächst nur in der reinen Innerlichkeit.

Unsere heutige Geisteskultur ist in ihrem Denken eigentlich - außer in der Mathematik - noch nicht über das bloße Vorstellen

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hinausgekommen. Für den Geistesforscher ist es manchmal grotesk zu sehen, wie wenig die Menschen hinausgekommen sind über das bloße Vorstellen. Die Menschen glauben meistens, der Begriff stamme aus der Vorstellung und sei nur blasser, weniger inhaltsvoll als diese. Sie glauben zum Beispiel zum Begriff des Pferdes zu gelangen, indem sie nacheinander große, kleine, braune, weiße und schwarze Pferde in ihrer Wahrnehmung auftauchen sehen; und nun nehme ich mir - so urteilen die Menschen weiter - aus der Wahrnehmung dieser verschiedenen Pferde das allen Pferden Gemeinsame heraus und lasse das Trennende weg, und so gewinne ich den Begriff des Pferdes. - Man bekOmmt so aber nur eine abstrakte Vorstellung, niemals aber gelangt man so im strengen Sinne des Wortes zu dem Begriff des Pferdes. Ebensowenig kommt man zu einem Begriff des Dreiecks, wenn mann alle Arten von Dreiecken nimmt, das Gemeinsame nimmt und das Trennende wegläßt. Zu einem Begriff des Dreiecks kommt man nur, wenn man sich innerlich konstruiert die Figur dreier sich schneidender Linien. Mit diesem innerlich konstruierten Begriff treten wir an das äußere Dreieck heran und finden es dann mit dem innerlich konstruierten Bilde harmonierend.

Nur in bezug auf mathematische Dinge können die Menschen unserer heutigen Kultur sich aufschwingen zum Begriff. Zum Beispiel beweist man durch innerliche Konstruktion, daß die Winkelsumme im Dreieck gleich hundertachtzig Grad ist. Wenn aber ein mal jemand anfängt, Begriffe auch anderer Dinge innerlich zu konstniieren, so erkennt ein großer Teil unserer Philosophen das gar nicht an. Goethe hat die Begriffe «Urpflanze», «Urtier» durch inneres Konstruieren geschaffen; nicht das Verschiedene wurde nur weg- gelassen, das Gleiche festgehalten, - wie vorhin am Beispiel des Pferdes gesagt. Die Urpflanze und das Urtier sind solche innerliche Geisteskonstruktionen. Aber wie wenige erkennen das heute an. Erst wenn man durch innerliche Konstruktion sich den Begriff des Pferdes, der Pflanze, des Dreiecks und so weiter aufbauen kann, und wenn dies sich mit der äußeren Wahrnehmung deckt, erst dann kommt man zum Begriff einer Sache. Die meisten Menschen wissen

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heute kaum mehr, worum es sich handelt, wenn man von begrifflichem Denken spricht.

Nehmen wir einmal nicht mathematische Begriffe, und nehmen wir auch nicht Goethes Organik, wo er in wahrhaft grandioser Weise Begriffe geschaffen hat, sondern nehmen wir einmal den Begriff der Tugend. Man kann ja eine blasse allgemeine Vorstellung von der Tugend haben. Will man aber zu einem Begriffe der Tugend kommen, so muß man innerlich konstruieren, und man muß zu Hilfe nehmen den Begriff der Individualität. Man muß den Begriff der Tugend so konstruieren, wie man den Begriff des Kreises konstruiert. Es ist einige Mühe dazu notwendig, und es müssen verschiedene Elemente zusammengetragen werden, aber es ist ebenso möglich, wie das Konstruieren von mathematischen Begriffen. Die Moralphilosophen haben stets versucht, einen sinnlichkeitsfreien Begriff der Tugend zu geben. Es hat vor einiger Zeit einen Philosophen gegeben, der sich einen sinnlichkeitsfreien Begriff der Tugend nicht vorstellen konnte, und der diejenigen für Phantasten hielt, die derartiges behaupteten. Er erklärte, wenn er an die Tugend denke, so stelle er sich die Tugend vor als eine schöne Frau. Er trug also noch Sinnliches in den un-sinnlichen Begriff hinein. Und weil er sich keinen sinnlichkeitsfreien Begriff der Tugend vorstellen konnte, sprach er dies auch anderen ab.

Vertiefen Sie sich in die Ethik von Herbart, so finden Sie, daß bei ihm «Wohlwollen» und «Freiheit», diese ethischen Begriffe, nicht dadurch gebildet sind, daß man das Gemeinsame nimmt und das Trennende wegläßt, sondern er sagt zum Beispiel, das Wohlwollen umfasse das Verhältnis zwischen den eigenen Willensimpulsen und den vorgestellten Willensimpulsen einer anderen Person. - Er gibt also eine reine Begriffsbestimmung. So könnte man die ganze Moral durch reine Begriffe aufbauen wie die Mathematik, und wie es Goethe mit seiner Organik versuchte. Die allgemeine Vorstellung von der Tugend darf also nicht verwechselt werden mit dem Begriff der Tugend. Zu dem Begriff kommen die Menschen nach und nach auf dem Wege innerlicher Konstruktion.

Indem wir den Begriff des Begriffs vor uns hinstellen, bringen wir uns fort von allem Willkürlichen des Vorstellens. Dazu müssen wir

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einmal ins Auge fassen den reinen Vorstellungsverlauf und den reinen Begriffsverlauf. Ich brauche nicht zu sagen, daß der Mensch bei einer Vorstellung von einem Dreieck immer nur dieses oder jenes Dreieck sich vorzustellen vermag. Wir müssen jetzt Rücksicht nehmen auf die Art der Verbindung bloßer Vorstellungen und die Art der Verbindung reiner Begriffe. Was regelt denn unser Vorstellungsleben? Wenn wir die Vorstellung einer Rose haben, so kann ganz von selbst die Vorstellung einer Person auftreten, die uns eine Rose geschenkt hat. Daran schließt sich vielleicht die Vorstellung von einem blauen Kleide, das die betreffende Person trug und so weiter.

Solche Zusammenhänge nennt man: Assoziation der Vorstellungen. Dies ist aber nur die eine Art, wie die Menschen Vorstellungen mit- einander verknüpfen. Sie tritt am reinsten da auf, wo der Mensch sich dem Vorstellungsleben ganz und gar überläßt. Aber auch noch nach anderen Gesetzen ist ein Aneinanderreihen von Vorstellungen möglich. Das sei an einem Beispiel gezeigt: Ein Junge Sitzt im Walde unter hohen Bäumen. Ein Mensch kommt des Weges und bewundert das gute Bauholz. Guten Morgen, Zimmermann -, sagt der aufgeweckte Knabe. Ein anderer kommt und bewundert die Borke. Guten Morgen, Lohgerber -, sagt der aufgeweckte Knabe. Noch ein dritter kommt vorüber und bewundert den herrlichen Wuchs der Bäume. Guten Morgen, Maler -, sagt der Knabe. - Hier sehen also drei Menschen dasselbe - die Bäume -, und bei jedem dieser drei Menschen treten Vorstellungen auf, die aber verschieden sind beim Zimmermann, beim Lohgerber und beim Maler. Es sind verschiedene Aneinandergliederungen der Vorstellungen, nicht bloße Assoziationen. Das kommt daher, daß der Mensch nach seinem inneren Elemente, seinem Seelengefu.ge, diese oder jene äußere Vorstellung mit einer anderen verbinden, nicht sich nur äußerlich den Vorstellungen überläßt. Der Mensch läßt hier die Kraft wirken, die aus seinem Inneren aufsteigt. Man nennt das: es arbeitet in ihm die Apperzeption. - Apperzeption und Assoziation sind die Kräfte, die die bloßen Vorstellungen aneinandergliedern durch äußerliche oder durch subjektive innere Beweggründe. Beide, Apperzeption und Assoziation wirken im bloßen Vorstellungsleben.

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Ganz anders ist es im Begriffsleben. Wohin würden die Menschen kommen, wenn sie sich im Begriffsleben nur nach der Apperzeption des Subjekts und der zufälligen Assoziation richteten? Hier müssen sich die Menschen nach ganz bestimmten Gesetzen richten, die unabhängig sind von der Assoziation der Vorstellungen und von der Apperzeption des Subjektes. Wenn wir auf den bloßen äußerlichen Zusammenhang eingehen, finden wir nicht das innere Zusammengehören der Begriffe. Es gibt ein inneres Zusammengehören der Begriffe, und wir finden die Gesetzmäßigkeit hierfür in der formalen Logik.

Zunächst müssen wir jetzt hinschauen auf die Verbindung von zwei Begriffen. Wir verbinden den Begriff des Pferdes und den des Laufens, wenn wir sagen: Das Pferd läuft. - Solche Begriffsverbindung nennen wir ein «Urteil». Es handelt sich nun darum, daß die Begriffsverbindung so vorgenommen wird, daß nur richtige Urteile entstehen können. Hier haben wir zunächst nur eine Verbindung von zwei Begriffen, ganz unabhängig von der Assoziation und der Apperzeption. Wenn wir durch ihren Inhalt zwei Begriffe aneinanderfügen, so bilden wir ein Urteil. Eine Assoziation ist kein Urteil, denn man könnte zum Beispiel auch Stier und Pferd aus einer solchen heraus miteinander verbinden. Die Verbindung von Begriffen kann aber auch noch auf kompliziertere Weise geschehen. Wir können Urteil an Urteil fügen und kommen so zu einem «Schluß». Ein berühmtes altes Beispiel hierfür ist folgendes: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Also ist Cajus sterblich. - Zwei Urteile sind in diesen Sätzen richtig, also ist das aus ihnen gefolgerte dritte «Cajus ist sterblich» ebenfalls richtig. Ein Urteil ist die Zusammenfügung zweier Begriffe, eines Subjektes mit dem Prädikat. Wenn zwei Urteile zusammengefügt werden und daraus ein drittes folgt, so ist das ein Schluß. Man kann nun ein allgemeines Schema hierfür bilden: Ist «Cajus» das Subjekt (S) und «sterblich» das Prädikat (P), so haben wir in dem Urteil «Cajus ist sterblich» die Verbindung des Subjektes (S) mit dem Prädikat (P): S = P. Nach diesem Schema können wir Tausende von Urteilen bilden. Um aber zu einem Schluß zu kommen, müssen wir noch einen Mittelbegriff (M)

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haben, in unserem Beispiele «Mensch», «Alle Menschen». So können wir für einen Schluß das Schema aufstellen:

M = P Alle Menschen sind sterblich

S = M Cajus ist ein Mensch

S = P Also ist Cajus sterblich

Wenn dieser Schluß richtig sein soll, müssen die Begriffe genau so miteinander in Verbindung stehen, es darf niemals etwas vertauscht werden. Bilden wir zum Beispiel die Folge von Urteilen: Das Por

trät ist einem Menschen ähnlich - Das Porträt ist ein Kunstwerk -, so dürfen wir nun nicht schließen: Also ist das Kunstwerk einem Menschen ähnlich. Dieser letztere Schluß wäre falsch. Worauf beruht nun hier der Fehler? Wir hätten hier das Schema:

M = P Das Porträt ist einem Menschen ähnlich

M = S Das Porträt ist ein Kunstwerk Aber S ist nicht gleich P:

Das Kunstwerk ist nicht einem Menschen ähnlich

Wir haben hier das allgemeingültige Schema verkehrt. Es kommt also auf die Form des Schemas an, auf die Art und Weise der Verknüpfung, um zu wissen: Die erste Schlußfigur ist richtig, die zweite ist falsch. ES ist gleichgültig, wie die Verknüpfung der Begriffe sonst in unseren Gedanken vor sich geht; sie muß sein wie die erste Formel, um richtig zu sein.

Wir werden nun sehen, wie man einen gewissen gesetzmäßigen Zusammenhang kennenlernt, um eine Anzahl von solchen Figuren herausfinden zu können. Ein richtiges Denken verläuft nach ganz bestimmten solchen Schlußfiguren; sonst ist es eben ein falsches Denken. So leicht wie in diesem Beispiele liegen die Dinge aber nicht immer. Rein aus der Tatsache heraus, daß die Schlußfiguren falsch sind, könnte man heute oft aus den gelehrtesten Büchern herausfinden, daß das Gesagte nicht stimmen kann.,

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So gibt es innere Gesetze des Denkens wie die Gesetze der Mathematik; man könnte sagen eine Arithmetik des Denkens. Jetzt können Sie sich das Idealbild des richtigen Denkens vorstellen: alle Begriffe müssen nach den Gesetzen der formalen Logik gebildet werden. Die formale Logik hat aber gewisse Grenzen. Diese Grenzen müssen angewendet werden auf das menschliche Geistesleben. Dadurch würde man zu richtigen Einsichten gelangen und erkennen das Wesen der Trugschlüsse. Nach allen Regeln der Logik würde es den Gesetzen der Logik entsprechen, wenn wir sagten:

Alle Kretenser sind Lügner M = P

Dieser ist ein Kretenser S = M

Also ist er ein Lügner, also S = P

Nun haben schon die alten Logiker bemerkt, daß das für alle Fälle stimmt, nur nicht für den Fall, daß es ein Kretenser selber sagt. In diesem Falle ist der Schluß ganz gewiß falsch. Denn wenn ein Kreter sagt «Alle Kreter lügen, also bin ich ein Lügner» -, so wäre das ja nicht wahr, daß die Kreter Lügner sind, und also sagte er die Wahrheit; und so weiter.

Etwas Ähnliches ist es mit allen Trugschlüssen, zum Beispiel mit dem sogenannten Krokodilschluß: Eine Ägypterin sah, wie ihr am Nil spielendes Kind von einem Krokodil ergriffen wurde. Auf die Bitten der Mutter verspricht das Krokodil, das Kind zurückzugeben, wenn die Mutter errät, was es jetzt tun werde. Die Mutter tut nun den Ausspruch: Du wirst mir mein Kind nicht wiedergeben. - Darauf das Krokodil: Du magst wahr oder falsch gesprochen haben, so habe ich das Kind nicht zurückzugeben. Denn ist deine Rede wahr, so erhältst du es nicht wieder nach deinem eigenen Ausspruch. Ist sie aber falsch, so gebe .ich es nicht zurück laut unserer Übereinkunft. - Die Mutter: Ich mag wahr oder falsch gesprochen haben, so mußt du mir mein Kind wiedergeben. Denn ist meine Rede wahr, so mußt du mir es geben laut unserer Übereinkunft; ist sie aber falsch, so muß das Gegenteil wahr sein. Du wirst mir mein Kind zurück geben.

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Ebenso ist es mit dem Schluß, der einen Lehrer und einen Schüler betroffen hat. Der Lehrer hat den Schüler die Rechtswissenschaft gelehrt. Der Schüler soll die letzte Hälfte des Honorars erst zahlen, wenn er seinen ersten Prozeß gewonnen hat. Nach vollendetem Unterricht zögert der Schüler mit dem Beginn der Rechtspraxis und d;arum auch mit der Bezahlung. Endlich verklagt ihn der Lehrer und sagt dabei zu ihm: Törichter Jüngling! Auf jeden Fall mußt du jetzt zahIen. Denn gewinne ich den Prozeß, so mußt du zahlen laut richterlicher Erkenntnis; gewinnst du, so mußt du zahlen laut Vertrag, denn du hast deinen ersten Rechtsstreit gewonnen. - Der Schüler aber: Weiser Lehrer! Auf keinen Fall brauche ich zu bezahlen. Denn sprechen die Richter für mich, so habe ich nichts zu zahlen gemäß richterlicher Erkenntnis; entscheiden sie aber gegen mich, so bezahle ich nichts laut unserem Vertrag.

So gibt es unzählige solcher Trugschlüsse, die formal ganz richtig sind. Die Sache liegt darin, daß die Logik auf alles anwendbar ist, nur nicht auf sich selber. In dem Augenblicke, wo auf das Subjekt selber zurückgegriffen wird, löst sich die formale Logik auf. Es ist das ein Spiegelbild für etwas anderes: Wenn wir übergehen von den drei Leibern des Menschen zum Ich, werden alle Dinge anders. Das Ich ist der Schauplatz der Logik, die aber nur auf anderes angewendet werden darf> nicht auf sich selbst. Es kann nie irgendeine Erfahrung durch die Logik gemacht, sondern durch die Logik kann nur Ordnung in die Erfahrungen gebracht werden.

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FORMALE LOGIK II Berlin, 28. Oktober 1908

Es ist natürlich nicht möglich, dieses Thema über Logik so weit auszuführen innerhalb dieser Tage, als es wünschenswert wäre. Wenn man erschöpfend hierüber sprechen wollte, so müßte man eine Art von Kursus halten. Deshalb nehmen Sie das hier Gesagte nur als einige skizzenhafte Andeutungen. Es soll auch gar nicht systematisch vorgegangen werden, sondern nur einige der elementaren logischen Wahrheiten möchte ich vor Sie hinstellen, damit Sie etwas haben, was Sie vielleicht gerade brauchen können.

Wir haben uns einen Begriff gebildet von dem Begriff selber, haben gehört, was ein Urteil ist und wie ein Schluß entsteht, nämlich durch die Verbindung von Urteilen. Es ist gesagt worden, daß es gewisse innere Gesetze der Denktechnik gibt, die bestimmen, wie man die Urteile zu verbinden hat, wenn man richtige Schlüsse gewinnen will. Die Urform des Schlusses haben wir in der ersten Schlußform gegeben an dem Beispiel: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Also ist Cajus sterblich. - Wir haben in dem Obersatz - Alle Menschen sind sterblich - das erste Urteil; und wir haben in dem Untersatz - Cajus ist ein Mensch - ein zweites Urteil. Es handelt sich nun darum, durch innere Gesetzmaßigkeit aus der Verbindung dieser zwei Urteile ein neues folgen zu lassen: Also ist Cajus sterblich. - Diesen letzten Satz nennen wir den Schlußsatz. Wir sehen, worauf dieser Schlußsatz beruht: Wir haben zwei Sätze, die gegeben sind, die vorliegen müssen; wir wissen, was sie aussagen. Es handelt sich nun darum, daß wir bei diesen beiden gegebenen Sätzen den Mittelbegriff fortlassen. Der Subjektsbegriff des Obersatzes war: «Alle Menschen», der Prädikatsbegriff «sterblich». Im Untersatz hatten wir den Subjekts- begriff «Cajus» und den Prädikatsbegriff «Mensch». Im Schlußsatz bleiben die beiden Begriffe, die in beiden Sätzen vorhanden waren, weg, nämlich der Begriff «Mensch». Daß wir den Schlußsatz bilden können, hängt davon ab, wie dieser Mittelbegriff «Mensch» in

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Ober- und Untersatz drinnen steht. Unser Schema war: M = P; S = M; S = P.

Daß wir den Schlußsatz so bilden dürfen, kommt her von der Verteilung der Begriffe in den Obersätzen. Wäre sie anders, so dürfte nicht so geschlossen werden wie in dem neulich angegebenen Beispiel: Die Photographie ist dem Menschen ähnlich (Obersatz); die Photographie ist ein mechanisches Erzeugnis (Untersatz). Würden wir, den Mittelbegriff, der in beiden Sätzen enthalten ist, fortlassen, so könnte hier kein gültiger Schlußsatz gebildet werden. Das liegt daran, daß in beiden Sätzen der Mittelbegriff in der gleichen Weise als Subjekt mit dem Prädikat verbunden ist. Der Mittelbegriff muß einmal vorne stehen, einmal hinten; nur dann dürfen wir einen gültigen Schlußsatz bilden. Die Logik ist eine formale Kunst des Begriffbildens. Es zeigt sich schon in der Anordnung der Begriffe, wie zu gültigen Schlüssen kommen kann. Wie die Zusammenfügunng der Begriffe sein muß, das müssen wir uns als Gesetze aneigDen. Wir könnten auch sagen, diese formale Logik umfaßt die Lehre von den Begriffen, Urteilen und Schlüssen.

Nun werden wir uns in einigen Bemerkungen mit den Urteilen befassen. Man kann über die Urteile gewisse Gesetze aufstellen. Die Gesetze des Schlusses werden erst verständlich, wenn die Lehrsätze iIber die Begriffe und Urteile schon gewonnen sind. Heute wollen wir uns also zunächst befassen mit den Gesetzen der Urteile und Begriffe.

Wenn wir beginnen mit dem Gesetze der Begriffe selber, so könDen wir einen solchen Begriff wie den Begriff «Löwe» vergleichen mit dem Begriff «Säugetier». Beides sind Begriffe, die wir uns bilden ''innen. Sie unterscheiden sich durch folgendes. Denken Sie einmal [&uö~ber nach, was alles unter den Begriff «Säugetier» fällt. Es ist ein großer Umkreis einzelner Objekte, zum Beispiel Affen, Löwen, Beuteltiere und so weiter; das ist viel mehr, als wir unter dem Begriff zusammenfassen, welcher uns nur einen kleinen Ausschnitt von dem «Säugetier»-Begriff gibt. So unterscheiden sich alle Begriffe dadurch voneinander, daß man Begriffe hat, die über vieles sich erstrecken, und solche, die sich nur über ein kleines Gebiet erstrecken. Man sagt hier: Die Begriffe unterscheiden sich nach ihrem Umfang;

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sie unterscheiden sich aber auch noch in anderer Hinsicht. Um den Begriff «Löwe» zu bestimmen, sind viele Eigenschaften nötig, viele Merkmale wie zum Beispiel Haupt, Farbe, Tatzen, Zähne und so weiter. Alles dies, was da angeführt wird, um zu dem Begriffe «Löwe» zu kommen, nennt man den Inhalt des Begriffes. Der Begriff «Säugetier» hat wesentlich weniger Merkmale als der Begriff «Löwe». Wenn Sie Tiere mit bestimmter Haarfarbe unter den Begriff subsummieren würden, so würde das schon nicht mehr richtig sein. Wenn Sie den Begriff «Säugetier» bilden, so müssen Sie eine möglichst geringe Anzahl von Merkmalen haben, einen geringen In- halt, etwa nur das Merkmal, daß es lebendige Junge zur Welt bringt und daß es sie säugt. So haben wir in «Säugetier» einen Begriff mit geringem Inhalt und großem Umfang, und im «Löwen» umgekehrt. Es gibt also Begriffe mit großem Umfang und geringem Inhalt, und Begriffe mit geringem Umfang und großem Inhalt. Je größer der Umfang eines Begriffes ist, desto kleiner der Inhalt; je größer der Inhalt, desto kleiner der Umfang. So unterscheiden sich die Begriffe nach Inhalt und Umfang.

Betrachten wir jetzt in ähnlicher Weise die Urteile. Wenn Sie aussprechen das Urteil: Alle Menschen sind sterblich, so haben Sie ein anderes Urteil als: Das Krokodil ist kein Säugetier. - Der Unterschied zwischen beiden ist der: In dem einen Falle wird etwas bejaht, die Begriffe sind so zusammengebracht, daß sie sich vertragen. Im zweiten Falle vertragen sich die Begriffe nicht, sie schließen sich aus; hier haben wir ein verneinendes Urteil. So unterscheiden wir also bejahendes und verneinendes Urteil oder affirmatives und negatives Urteil. Es gibt noch andere Unterschiede in bezug auf das Urteil. Alle Menschen sind sterblich -, das Urteil ist so, daß etwas ganz anderes damit gegeben wird als mit: Einige Blumen sind rot. - Im ersten Falle gilt die Eigenschaftsaussage für den ganzen Umfang des Subjektbegriffes, im zweiten Falle können noch andere Merkmale hinzugetan werden. Das letztere Urteil bezeichnet man im Gegensatz zum ersten als besonderes, als partikulares Urteil gegenüber einem allgemeinen, einem universellen Urteil. Wir haben also affirmative und negative, universelle und partikulare Urteile.

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Man kann noch andere Unterscheidungsmerkmale bei den Urtein finden zum Beispiel kann das Urteil so gefällt werden, daß es dem Muster ist: Alle Menschen sind sterblich -, oder aber das rteil kann so ausgesprochen werden: Wenn die Sonne scheint, so t es hell. - Das erste Urteil stellt Subjekts- und Prädikatsbegriffe ri~bedingt zusammen, das zweite vereinigt Subjekts- und Prädikats'griff nicht unbedingt, sondern ist nur bedingt. Es sagt nur aus, daß .er Prädikatsbegriff da ist, wenn der Subjektsbegriff auch da ist, Ast nichts. Das erste - Alle Menschen sind sterblich - ist ein absoteS oder unbedingtes Urteil, das zweite - Wenn die Sonne scheint, es hell - ist ein hypothetisches Urteil. Es gibt also absolute oder ibedingte Urteile und hypothetische oder bedingte Urteile. Noch eIe solche Eigenschaften der Urteile könnten angeführt werden; Der es soll ja nur einmal gezeigt werden, daß etwas von dem Wissen er diese Unterschiede abhängt. Man muß die Begriffstechnik . herrschen, um richtige Schlüsse ziehen zu können.

Wenn Sie zum Beispiel unseren Schluß nach der ersten Schlußfi\r nehmen: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Also ist Cajus sterblich -, so haben wir im Obersatz ein allgemeines rteil, im Untersatz ein einzelnes oder singuläres Urteil, weil es nur f einen einzelnen, auf Cajus angewandt ist. Dies ist eine Unterrm des partikularen Urteils. Diese Anordnung der Urteile darf `; sie gibt einen richtigen Schluß. Versuchen wir aber einmal eine dere Anordnung. Nehmen wir zum Beispiel den Obersatz: Einige auen haben rote Kleider -,so ist das ein partikulares Urteil. Und zt sagen wir: Frau NN ist eine Frau. - Nun darf ich nicht schlien: Also hat Frau NN ein rotes Kleid. - Das darf ich nicht, denn es unstatthaft, nach dieser Schlußfigur dann zu schließen, wenn der >ersatz ein partikulares Urteil enthält. Nur dann, wenn der Oberz ein universelles Urteil ist, ist diese Schlußfigur richtig. So könn hier wieder bestimmte Gesetze aufgestellt werden. - Wir könnnun auch andere Eigenschaften der Urteile anführen. Wir haben ;agt, es kann ein Urteil affirmativ oder negativ sein. Nehmen wir negatives Urteil: Das Krokodil ist kein Säugetier. Dieses Tier ist Krokodil. - Hier darf geschlossen werden: Also ist dieses Tier

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kein Säugetier - Der Obersatz darf also sowohl affirmativ als auch negativ sein.

Es gibt also eine bestimmte Denktechnik, eine Gesetzmäßigkeit des Denkens, die formal ist, das heißt ganz unabhängig vom Inhalt. Wenn wir diese formale Technik beachten, so denken wir richtig, im anderen Falle aber denken wir falsch. Nach dieser Denktechnik, dieser Gesetzmäßigkeit des Denkens, müssen wir uns richten, um zu richtigen Schlüssen zu kommen.

Wir haben nun noch eine berühmte, von Kant stammende Einteilung in analytische und synthetische Urteile. Es kann ja heute gerade den Menschen, die etwas Philosophie treiben, sehr häufig diese Einteilung entgegentreten. Welches ist nun der Unterschied im Kantischen Sinne? Ein analytisches Urteil ist dasjenige, welches in dem Subjektbegriff schon den Prädikatbegriff mit enthält. Dagegen beim synthetischen Urteil enthält der Subjektbegriff nicht notwendigerweise den Prädikatbegriff. Zum Beispiel der Satz: Der Körper ist ausgedehnt - ist ein analytisches Urteil, denn man kann sich keinen Körper denken, ohne zugleich seine Ausdehnung mitzudenken. «Ausgedehnt» ist nur ein Merkmal des Begriffes «Körper». Ein synthetisches Urteil aber ist so, daß im Subjektbegriff noch nicht der Prädikatbegriff enthalten ist. Subjekt und Prädikat werden durch einen äußeren Grund zusammengeführt. Zum Beispiel: Der Körper ist schwer -, ist nach Kant ein synthetisches Urteil. Denn er meint, der Begriff der Schwere sei erst durch äußere Gründe, durch das Gesetz der Anziehung mit dem Begriff des Körpers verbunden. Beim synthetischen Urteil liegt also eine losere Verbindung der Begriffe vor.

Es ist viel Unfug getrieben worden mit den Begriffen von analytischen und synthetischen Urteilen in der neueren Philosophie. Mir schien immer das Lichtbringendste die Geschichte zu sein, die einmal einem Examinanden an einer deutschen Universität Passiert sein soll. Er kam am Vorabend des Examens zu einem Freunde und bat diesen, ihm schnell noch einige Begriffe der Logik beizubringen. Der Freund sah aber die Nutzlosigkeit eines solchen Beginnens ein und riet ihm, lieber so zu gehen und es auf Glück ankommen zu lassen

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. Am anderen Tage bekam der Examinand die Frage vorgelegt: Wissen Sie, was das ist: ein analytisches Urteil? - Die traurige Antwort war: Nein. - Darauf der Professor: Das ist sehr gut geantwortet ich kann es nämlich auch nicht sagen. Und was ist ein synthetisches Urteil? - Der Student, kühner geworden, antwortete wieder: Ich weiß es nicht. - Da sagt der Professor sehr zufrieden: Sie haben den Geist der Sache erfaßt. Ich gratuliere Ihnen, Sie bekommen eine gute Zensur! - In einer gewissen Beziehung scheint mir in der Tat

die Sache lichtbringend zu sein. Denn der Unterschied zwischen beiden Urteilsarten ist in der Tat ein schwebender: es kommt darauf an, was man bei dem Begriff gedacht hat. Einer lügt zum Beispiel dem Körper den Begriff der Ausdehnung hinzu; wer dagegen den Begriff der Schwere hinzufägt, bringt von Anfang an mehr in den Begriff hinein als der andere. Es handelt sich jetzt darum, daß wir erkennen, was fär ein wirklich Reales dem Zusammenfügen der Begriffe zu Urteilen zugrundeliegt, respektive was das geheime Ziel alles Urteilens ist. Das Urteilen ist in der Tat zuna"chst rein formal.

Es ist aber etwas mit dem Urteilen verknüpft, was Ihnen am klarsten dadurch werden wird, daß Sie sich folgende zwei Urteile nebeneinanderstellen. Nehmen wir einmal an - nicht wahr, wir bleiben

auf dem physischen Plane -, wir haben das Urteil: Der Löwe ist gelb. - Wenn Sie dieses Urteil bilden, so kann es richtig sein. Nehmen wir aber an, irgend jemand phantasiere sich irgendeinen Begriff aus, ein Tier, halb Löwe, ein Viertel Walfisch und ein Viertel Kamel. Er könnte es sich ganz gut zusammenphantasieren; er nennt es, sagen wir, «Taxu». Er könnte nun das Urteil bilden: Dieses Tier ist schön. - Dieses Urteil gilt in formaler Beziehung ganz so wie das Urteil: Der Löwe ist gelb. - Wie unterscheide ich denn jetzt das gültige vom ungültigen Urteilen? - Da kommen wir jetzt zu einem Kapitel, wo wir das Kriterium finden müssen für die Fähigkeit, ein Urteil überhaupt zu bilden. Sie können das Urteil: Der Löwe ist gelb - jederzeit umändern, nämlich so, daß Sie sagen: Ein gelber Löwe -, oder: Der gelbe Löwe ist. - Aber wir können nicht sagen: Ein schönes Taxu ist. - Dies führt zu einem Kriterium für die Gültigkeit eines Urteils: Man muß den Prädikatsbegriff in den Subjektsbegriff

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hineinnehmen können und ein Existentialurteil daraus machen können. Die Umwandlung eines formalen Urteils in ein existentiales Urteil durch Beigabe des Prädikates zum Subjekt bildet also das Kriterium für die Gültigkeit. Im ersten Falle vereint die [empirische] Notwendigkeit den Begriff «gelb» mit «Löwe», im zweiten Falle setzt man bei der Bildung des Begriffs voraus, daß das Subjekt einem existentialen Urteil entnommen sei, während es tatsächlich nur einem formalen Urteil entsprang.

Das ist ein Kriterium für die Gültigkeit eines jeden Urteils. Die formale Richtigkeit eines Urteils ist nur von der richtigen Verbindung der Begriffe abhängig, aber die Gültigkeit eines Urteils hängt ab von dem Existentialurteil. Ein formales Urteil wird dadurch umgewandelt in ein Existentialurteil, daß man dem Subjekte das Prädikat beigibt; man bereichert das Subjekt. Und das ist ja gerade das Ziel des Urteilens und auch des Schließens: die Bildung von solchen Begriffen, die Gültigkeit haben. Bilden Sie das Urteil: Ein gelber Löwe ist -, so haben Sie nicht nur auf formale Richtigkeit, sondern auch auf Gültigkeit hin gedacht. Jetzt sehen Sie, daß allerdings die formale Logik die Möglichkeit bietet, uns sozusagen auszufüllen mit richtigen Begriffen, daß aber die Bildung gültiger Urteile das ist, was wir ins Auge fassen müssen; und gültige Urteile sind nicht aus der bloßen formalen Logik zu gewinnen. Das Existentialurteil in unserem Beispiel - Der gelbe Löwe ist - war aus der äußeren Sinnesbeobachtung gewonnen. Die formale Logik gibt uns die Möglichkeit, zu richtigen Begriffen zu kommen; wir können uns mit ihrer Hilfe recht fruchtbare Begriffe machen. Für die Gültigkeit von Urteilen aber wird die Logik sich doch von inhaltlichen Gesichtspunkten befruchten lassen müssen. Die Menschen machen sich gewöhnlich nicht recht klar, was Logik überhaupt ist. Wenn man aber gelernt hat, den Begriff richtig zu fassen, unabhängig vom Inhaltlichen, so ist das äußerst wichtig.

Gültigkeit und Formalität des Urteils sind zweierlei Dinge. Es werden nun dadurch, daß die Menschen sich keine rechte Rechenschaft darüber geben, wie eigentlich diese Dinge zusammenhängen, ganz große Theorien ausgesponnen, die von manchen Leuten für

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unumstößlich angesehen werden, die aber in sich selbst zusammen- fallen würden, wenn die Leute sich einmal den Unterschied zwischen «formaler Richtigkeit» und «Gültigkeit» klarmachen würden. Sie wissen, daß es eine moderne psychologische Schule gibt, welche die Willensfreiheit des Menschen strikte leugnet. Jede Handlung des Menschen, sagt sie, ist durch vorhergehende Ereignisse strikte bestimmt. Es gibt bestimmte Methoden, dieses zu belegen, und diese spielen ja heute in der Statistik zum Beispiel eine verhängnisvolle Rolle. Da untersucht zum Beispiel jemand, wie viele Menschen in Frankreich durch Selbstmord sterben. Das ist ja leicht, man braucht dabei gar nicht zu denken; man notiert die Zahlen während eines Zeitraumes von etwa fünf Jahren, dann untersucht man es für weitere fuöönf Jahre und so fort. Dann findet der Betreffende, daß zwischen diesen Zahlen ein gewisser Unterschied besteht. Nun nimmt er größere Zahlen, vergleicht von zwanzig zu zwanzig Jahren und findet, daß hier die Selbstmordzahlen fast gleich sind; ganz gleich natürlich nicht, weil sich die Verhältnisse ändern, - sagen wir, sie nehmen in einer gewissen Proportion zu. Man findet so ein Zahlengesetz, nach welchem man voraussagen kann, wieviele Selbstmorde innerhalb einer gewissen Periode vorkommen werden, wieviele Personen in einem gewissen Zeitraum durch Selbstmord sterben müssen. Nun gibt es Leute die sagen: wenn man vorausberechnen kann, wieviele Menschen Selbstmord begehen würden, wie könne da noch von Freiheit des Menschen gesprochen werden? Ebenso ist es mit dem Abschätzen von zukünftigen Verbrechen. Nach einer unabänderlicIien Kausalität - so sagt man - müßten soundso viele Menschen zu Verbrechern werden. - Es soll hier nicht gesagt werden, daß das Gesetz nicht gültig sei. In gewisser Weise ist es durchaus praktisch anwendbar für gewisse Fälle. Aber in dem Augenblick wird das ärgste Mißverständnis die Folge sein, wo das Gesetz angewandt wird, das Wesen der Dinge oder die menschliche Wesenheit zu erforschen und zu ergründen.

Denken wir an Versicherungsgesellschaften, die mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung arbeiten. Man kommt zu ganz bestimmten Formeln dadurch, daß man durch die Erfahrung herausgebracht

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hat: Eine bestimmte Anzahl von je hundert verheirateten zwanzigjährigen Menschen werden im Verlaufe von dreißig Jahren den anderen Ehegatten durch den Tod verlieren. Man prüft den Prozentsatz innerhalb einer bestimmten Zeitspanne und richtet sich bei der Festsetzung der Versicherungsprämien danach. Es ist durchaus praktisch, solche Gesetze im Versicherungswesen anzuwenden; sie treffen zu, diese Gesetze; aber sie gehen nicht auf etwas Tieferes ein. Die Sache wird komisch, wenn wir die Gesetze tiefer nehmen! Denken wir uns, jemandem würde das Material einer solchen Versicherungsanstalt vorgelegt, und er findet: Da lebt noch ein Ehegatte, der eigentlich unbedingt schon hätte sterben müssen; dieser ist aber gesund, und nach seiner inneren Wesenheit fällt es ihm gar nicht ein, schon zu sterben. - Trotzdem kommt die Versicherungsgesellschaft doch zu ihrem Recht, denn die formalen Gesetzmäßigkeiten gelten sehr wohl in der Welt, aber man kann durch solche Gesetze nicht in das Innere einer Wesenheit hineinschauen. Und so verhält es sich auch mit all den Naturgesetzen, die nur durch das Sammeln äußerer Beobachtungen gewonnen werden. Man erlangt nur einen Begriff über den äußeren Verlauf der Tatsachen, kann aber nicht auf das in- nere Wesen einer Sache oder eines Menschen schließen, zum Beispiel darauf, ob diser gesund oder krank ist. So können Sie auch niemals aus Beobachtung der Erscheinungen des Lichtes zu einem Begriff über das Wesen des Lichtes kommen. Das muß man im Auge behalten, sonst kommt man zu Resultaten wie zum Beispiel Exner in seiner letzten Rektoratsrede in Wien.

Die äußeren Tatsachen sind unmaßgebend für das innere Wesen einer Sache. Es herrscht hierüber noch sehr viel unklares Denken in der Menschheit. Es soll nicht behauptet werden, daß man durch die Logik denken lernen könne; das ist ebensowenig möglich, wie man durch die Harmonielehre ein Musiker werden kann. Aber die Logik ist nötig zum richtigen Denken, wie die Harmonielehre nötig ist zum Komponieren für den richtigen Musiker. Man muß wissen, wie Urteile und Schlüsse gebildet werden. Wir müssen aber stets in derselben Region bleiben, wenn wir formal richtige Urteile fällen wollen. So ist zum Beispiel der Schluß: Alle Menschen sind sterblich.

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Ich bin ein Mensch. Also bin ich sterblich - scheinbar kein Trugschluß, weil hier auf das Subjekt zurückgegriffen wird. Die Gesetze der Logik gelten jedoch nur, wenn man auf derselben Ebene bleibt. Der Schluß «Also bin ich sterblich» bezieht sich nur auf den Körper.

Unser Ich gehört jedoch einer anderen Ebene an, es ist nicht sterblich. Der Schluß: «Also ist das Ich sterblich» ist deshalb falsch. Solche formalen Irrtümer findet man vielfach bei heutigen Gelehrten.

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ÜBER PHILOSOPHIE UND FORMALE LOGIK München, 8. November 1908

Wir werden heute ein kleines Intermezzo In unseren Vorträgen haben. Es soll nämlich heute nicht über ein anthroposophisches Thema, sondern über einen rein philosophischen Gegenstand gesprochen werden. Dadurch wird der heutige Abend den wesentlichen Charakter der Langweiligkeit tragen müssen. Aber es ist vielleicht gut, daß sich die Anthroposophen ab und zu in solch langweilige Themen vertiefen, daß sie sIe an sich herankommen lassen - aus dem Grunde, weil sie ja immer und immer wieder hören müssen, die Wissenschaften, insbesondere auch die philosophische Wissenschaft, könnten sich nicht mit der Anthroposophie befassen, da sich damit nur dilettantische Menschen beschäftigten, die keine Lust hätten, sich der ernsten, strengen Forschung, dem ernsten, strengen Denken hinzugeben. Dilettantismus, Laientum, das ist es, was von seiten der gelehrten Philosophen der Anthroposophie immer wiederum zum Vorwurfe gemacht wird. Nun wird Ihnen der Vortrag, den ich in Stuttgart gehalten habe und der am nächsten Mittwoch hier gedruckt ausgegeben wird, von einer gewissen Seite her beleuchten können, wie gerade der Philosophie es erst möglich gemacht werden wIrd den Weg, die Brücke zur Anthroposophie herüberzufinden, wenn sie erst selber ihre Vertiefung in sich finden wird. In diesem Vortrag wird Ihnen gezeigt werden, daß die Philosophen, die von dem Dilettantismus der Anthroposophen sprechen, einfach aus dem Grunde keine Brücke schlagen können von ihrer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit zu der von ihnen so verachteten Anthroposophie, weil sie die Philosophie selber nicht haben, weil sie sozusagen auf ihrem eigenen Gebiete sich dem ärgsten Dilettantismus hingeben.

Es ist in der Tat eine gewisse Misere auf dem Gebiet der Philosophie vorhanden. Wir haben in unserem heutigen Geistesleben eine fruchtbare, außerordentlich bedeutsame Naturwissenschaft. Wir haben auch auf anderen Gebieten des Geisteslebens rein wissenschaftliche

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Fortschritte aufzuweisen, dadurch, daß es der positiven Wissenchaft gelungen ist, exakte, in verschiedene Gebiete hineinführende nstrumente zu konstruieren, welche die Räume durchmessen und iie kleinsten Teilchen bloßlegen können. Hierdurch und durch verchiedene andere Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, ist es dahin ;ekommen, die äußere Forschung zu etwas zu bringen, was in Zu:unft durch die eintretende Erweiterung der Methoden noch ungequer vermehrt werden wird. Aber es liegt auch die Tatsache vor, daß dieser äußeren Forschung gegenübersteht eine philosophische Jnbildung gerade derjenigen, die da Forscher sind, so daß es zwar fit Hilfe der heutigen Werkzeuge möglich ist, auf dem äußeren Tatachengebiet große, gewaltige Errungenschaften zu erzielen, daß es ber denjenigen> denen gerade die Mission zukommt, diese Errun',enschaften zu machen, nicht möglich ist, Schlüsse zu ziehen aus diesen äußeren Ergebnissen für die Erkenntnis des Geistes, eben einfach aus dem Grunde, weil die mit der äußeren Mission der Wissenhaften Betrauten auf gar keiner bedeutenden Bildungshöhe in beug auf philosophisches Denken stehen. Es ist etwas ganz anderes, der Forschung mit dem Werkzeuge und der äußeren Methode im .aboratorium, im Kabinett zu arbeiten, und etwas anderes, sein denken so gebildet, so geschult zu haben, daß man aus dem, was man also erforschen kann, gültige Schlüsse zu ziehen vermag, die ann ein Licht zu verbreiten in der Lage sind über die Urgründe des Daseins.

Es gab Zeiten philosophischer Vertiefung, in denen die Menhen die dazu berufen waren, ihr Denken ganz besonders geschult atten, in denen die äußere Forschung nicht so weit war wie heute. feute ist das Gegenteil der Fall. Da steht bewunderungswürdig eine ußere Tatsachenforschung einem Unvermögen des Denkens und er philosophischen Begriffsdurcharbeitung im weitesten Sinne gegenüber. Ja, wir haben es eigentlich nicht nur zu tun mit einem solken Unvermögen derer, die da arbeiten sollen in der Forschung, andern mit einer gewissen Verachtung des philosophischen Denens. Der Botaniker, der Physiker, der Chemiker findet es heute gar icht nötig, sich irgendwie über die elementarsten Grundlagen der

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Gedankentechnik den Kopf zu zerbrechen. Wenn er an seine Arbeit im Laboratorium, im Kabinette herangeht, dann ist es so, daß man sagen kann: Ja, da arbeitet die Methode eigentlich von selber. - Wer eIn wenig vertraut ist mit diesen Dingen, der weiß, wie die Methode von selber arbeitet, der weiß, daß es im Grunde genommen gar nIchts so Welterschütterndes ist, wenn eIner eine vielleicht tief einschneidende Tatsachenentdeckung macht; denn seit langer Zeit arbeitet die Methode vor. Stößt der empirische Forscher auf das, worauf es ankommt, kommt solch ein Physiker oder Chemiker und will nunmehr über die eigentlichen Gründe, die dem zugrunde liegen, was er erforscht, irgend etwas berichten, dann fängt er es an mit seinem Denken, und die Folge davon ist, daß etwas «Schönes» herauskommt, weil er eben im Denken gar nicht geschult ist. Und durch dieses ungeschulte, durch dieses innerlich verwahrloste Denken, das den heutigen Gelehrten ebenso anhaftet wie Laien, haben wir es dahin gebracht, daß gewisse Lehrsätze autoritativ die Welt durchschwirren, die die Laien dann gläubig hinnehmen und für etwas halten, das unbedingt sichergestellt ist, während eigentlich der Urgrund, daß diese Lehrsätze überhaupt entstanden sind, nur in dem verwahrlost genannten Denken liegt. Gewisse Schlüsse werden in unglaublicher Art gezogen.

Wir wollen als Beispiel einen solchen Schluß, der eine gewisse historische Bedeutung hat, uns vor die Seele führen. Wenn eine Glocke läutet, dann sagen sich die Leute: Ich höre einen Ton; ich gehe ihm nach, um zu sehen, welches der äußere objektive Grund desselben ist. - Und nun finden sie, und zwar in diesem Fall durch exaktes Experiment, durch etwas, was äußerlich durch Tatsachen konstatierbar ist, daß, wenn von einem Gegenstand ein Ton ausgeht, dann der Gegenstand in gewisser Weise innerlich erschüttert ist, daß, wenn eine Glocke ertönt, ihr Metall in Schwingungen ist. Es kann durch das exakte Experiment nachgewiesen werden, daß, wenn die Glocke schwingt, sie auch die Luft in gewisse Schwingungen versetzt, die sich fortpflanzen und auf mein Trommelfell treffen. Und als Folge dieser Schwingungen - so ist zunächst der Schluß, recht plausibel! - entstehen die Töne. Ich weiß, wenn ich eine Saite

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habe, daß diese schwingt; ich kann das nachweisen in der Tatsachenwelt, indem ich der Saite kleine Papierreiterchen aufsetze, die beim Anstreichen abspringen. Ebenso kann natürlich nachgewiesen werden, daß die Saite wiederum die Luft in Schwingungen versetzt, die Luft, die dann an mein Ohr schlägt und den Ton hervorruft. Für den Schall ist das etwas, was der Tatsachenwelt angehört, und es ist nicht schwierig, das zu verfolgen, wenn es einem auseinandergesetzt wird. Man braucht nur die Tatsachen zusammenzustellen und Denkschlüsse daraus zu ziehen, dann wird sich ergeben, was gesagt worden ist. Aber nun geht die Sache weiter, und da hapert es gewaltig. Die Leute sagen: Ja, mit dem Ohr nehmen wir Schall wahr, mit dem Auge Licht und Farben. - Nun scheint es ihnen so, daß, weil der Schall sozusagen als eine Wirkung von etwas Äußerem er- scheint, auch die Farbe als solche die Wirkung von etwas Außerem sei. Schön! Das Äußere der Farbe könne man sich ähnlich vorstellen, als etwas Schwingendes, wie beim Ton die Luft. Und so wie, sagen wir, einer gewissen Tonhöhe eine gewisse Anzahl von Schwingungen entspricht, so könnte man sagen, also wird auch etwas in einer bestimmten Schwingungszahl sich bewegen, was diese oder jene Farbe hervorruft. Warum sollte es nicht gleich der Luft, die an mein Trommelfell pumpert, draußen etwas geben, was schwingt, und nicht etwas geben, was diese Schwingungen fortpflanzt bis an mein Auge und hier den Lichteindruck hervorruft? Sehen, wahrnehmen durch irgendein Instrument kann man natürlich das nicht, was in diesem Fall schwingt. Beim Tone schon. Da kann festgestellt werden, daß etwas schwingt; bei der Farbe nicht, da kann es nicht wahrgenommen werden. Aber die Sache scheint so einleuchtend, daß es keinem Menschen einfällt, daran zu zweifeln, daß auch dann etwas schwingen muß, wenn wir einen Lichteindruck haben, wie etwas schwingt, wenn wir Toneindrücke haben. Und da man das, was da schwingt, nicht wahrnehmen kann, so erfindet man es eben. Man sagt: Die Luft ist ein dichter Stoff, der in Schwingungen kommt beim Tone; die Schwingungen des Lichts sind im «Äther». Dieser füllte den ganzen Weltenraum aus. Wenn nun die Sonne uns Licht zukommen läßt, so beruhe das darauf, daß die Sonnenmaterie in

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Schwingungen komme, daß diese im Äther sich fortpflanzten, am Auge anpumperten und den Eindruck des Lichtes hervorriefen.

Es wird auch sehr bald vergessen, daß man in rein phantastischer Weise diesen Äther erfunden hat, daß man ihn erspekuliert hat. Das hat sich historisch abgespielt. Man trägt das mit großer Sicherheit vor. Man spricht ganz sicher davon, daß ein solcher Äther sich ausdehne und in Schwingung sei, so sicher, daß sich das Urteil in der Öffentlichkeit bildet: Ja, das ist von der Wissenschaft festgestellt!

Wie häufig werden Sie heute dieses Urteil finden: Die Wissenschaft hat festgestellt, daß es einen solchen Äther gibt, dessen Schwingungen die Lichtempfindungen in unserem Auge hervorrufen. Sie können sogar in sehr netten Büchern lesen, daß auf solchen Schwingungen alles beruhe. Das geht so weit, daß man in solchen Schwingungen des Äthers die Urgründe des menschlichen Denkens sucht: Ein Gedanke ist die Wirkung des Äthers auf die Seele. Was ihm zugrunde liegt, sind Schwingungen im Gehirn, ist schwingender Äther und so weIter. - Und so stellt sich für sehr viele das, was sie so ausgedacht erspekuliert haben, als das eigentlich Reale der Welt vor, an dem man gar nicht zweifeln könne, und dennoch liegt nichts anderes zugrunde als der charakterisierte Denkfehler. Sie dürfen nicht das, was hier Äther genannt wird, mit dem verwechseln, was wir Äther heißen. Da sprechen wir von etwas Ubersinnlichem; die Physik spricht aber von dem Äther als von etwas, was wie ein anderer Körper im Raum ist, dem Eigenschaften zugesprochen werden wie den sinnlichen Körpern. Man hat nur ein Recht, von etwas als realer Tatsache zu sprechen, wenn man diese konstatiert hat, wenn sIe draußen wirklich ist, wenn man sie erfahren kann. Tatsachen darf man nicht ausdenken. Der Äther des modernen Wissenschafters ist ausgedacht, das ist es, worauf es ankommt.

Es ist daher in der Grundlage unserer Physik eine ungeheure Phantastik, eine willkürliche Erdichtung von geheimnisvollen Ätherschwingungen, Atom- und Molekülschwingungen, die alle unmöglich angenommen werden dürfen, weil nichts anderes als tatsächlich angesehen werden darf als das, was auch tatsächlich wahrzunehmen ist. Kann irgendeine solche Ätherschwingung wahrgenom

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den werden, wie sie die Physik annimmt? Eine erkenntnistheoretiche Berechtigung hätten wir nur, sie anzunehmen, wenn wir sie fit den Mitteln konstatieren könnten, mit denen man andere Dinge rahrnimmt. Wir haben keine anderen Mittel, Dinge zu konstatieren, als die sinnliche Wahrnehmung. Kann das Licht oder Farbe in, was im Äther schwingt? Unmöglich, denn es soll erst die Farbe ervorbringen und das Licht. Kann es durch andere Sinne wahrgeommen werden? Unmöglich; es ist etwas, was alle Wahrnehmungen hervorbringen soll, das aber gleichzeitig unmöglich wahrgeommen werden kann durch den Begriff, den man hineingelegt hat. Es ist etwas, was sehr ähnlich sieht dem Messer, das keinen Griff nd keine Klinge hat, etwas, wo sozusagen der vordere Teil des Beriffs den hinteren Teil von selber aufzehrt. Nun wird aber da ganz Lerkwürdiges geleistet, und Sie können darin einen Beleg sehen, 'ie sehr berechtigt - so frech der Ausdruck auch klingt - der Ausruck «verwahrlost» in bezug auf das philosophische Denken ist. die Menschen vergessen dabei vollständig, auf die einfachsten Denk~wendigkeiten Rücksicht zu nehmen.

So also kommen gewisse Leute durch Ausspinnen solcher Theoen dazu, daß sie sagen: Alles, was uns erscheint, was ist das anderes s etwas, dem zugrunde liegt schwingende Materie, schwingender ther, Bewegung? Würdest du alles in der Welt untersuchen, so ürdest du finden, daß wo Farbe und so weiter ist, nichts ist als :hwingende Materie. Wenn zum Beispiel eine Lichtwirkung sich rtpflanzt, so geht nicht irgend etwas über von einem Raumteil im anderen, es strömt nichts von der` Sonne zu uns. - Man stellt h in d.en betreffenden Kreisen vor: Zwischen uns und der Sonne

der Ather, die Moleküle der Sonne tanzen; weil sie tanzen, so -ingen sie die nächsten Ätherteile ins Tanzen; jetzt tanzen die anenzenden auch; weil sie tanzen, so tanzen wiederum die nächsten, idso setzt es sich fort bis herunter zu unserem Auge, und wenn es lgetanzt kommt, so nimmt unser Auge Licht und Farbe wahr. Al, sagt man, strömt nic,hts herunter; was tanzt, bleibt droben, es gt nur wieder zum Tanzen an. Nur der Tanz pflanzt sich fort. Es nicht im Lichte irgend etwas vorhanden, was herunterströmen

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würde. - Das ist, wie wenn eine lange Reihe von Menschen dastünde, von denen einer dem anderen, dem nächsten, einen Schlag gibt, den dieser wieder weiterschickt zum dritten und dieser zum vierten. Der erste geht nicht fort, der zweite auch nicht; der Schlag pflanzt sich fort. So pflanzt sich, sagt man, der Tanz der Atome fort. In einer fleißig und gelehrt geschriebenen Broschüre, die man insofern anerkennen muß, als sie auf der völligen Höhe der Wissenschaft steht, hat einer etwas zuwege gebracht, was nett war. Er hat geschrieben: Es ist die Grundlage aller Erscheinungen, daß sich nichts in einen anderen Raumteil begibt; nur die Bewegungen pflanzen sich fort. - Wenn also ein Mensch vorwärtsgeht, so ist es eine falsche Vorstellung, zu meinen, daß er seine Materialität hinübertrage in einen anderen Raumteil. Er macht einen Schritt, bewegt sich; die Bewegung erzeugt sich wieder, beim nächsten Schritt wieder und so weiter. Das ist ganz konsequent gedacht. Nun ist aber solch einem Gelehrten zu raten, wenn er ein paar Schritte macht und sich im nächsten Raumteile wieder erzeugen muß, weil nichts von seinem Körper mit hinüberkommt, daß er nur ja nicht vergißt, sich wieder zu erzeugen, sonst könnte er ins Nichts hinein verschwinden. Hier haben Sie ein Beispiel, wie die Dinge zu` Konsequenzen führen! Diese ziehen die Leute nur nicht. Was in der Öffentlichkeit vorgeht, ist, daß die Leute sich sagen: Nun ja, da ist ein Buch erschienen, da hat jemand diese Theorien auseinandergesetzt, der hat vieles gelernt, und da hat er diese Dinge ausgeheckt, und das steht fest! - Daß da irgend etwas noch ganz anderes in der Sache drinnen sein könne, darauf kommen die Menschen nicht.

Also es handelt sich darum, daß die Sache wirklich nicht so schlimm liegt mit dem Dilettantismus der Anthroposophie. Es ist wahr, daß diejenigen, die auf solchem Boden stehen, auf dem die denkerische Gelehrsamkeit steht, die Anthroposophie nur als Dilettantismus ansehen können; aber worum es sich handelt, ist, daß die Leute auf ihrem eigenen Boden sich eingesponnen haben in Begriffe, die ihnen Denkgewohnheiten sind. Man kann ja Nachsicht üben, wenn jemand durch seine Denkgewohnheiten dazu geführt wird, daß er sich immer und immer wieder erzeugen muß; aber trotzdem

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muß betont werden, daß auf dieser Seite keine Berechtigung besteht, von ihrem theoretischen Standpunkt herab vom Dilettantismus der Anthroposophie zu sprechen, die sich gewiß, wenn sie ihr Ideal er- füllt, nicht solche Fehler zuschulden kommen ließe, daß sie nicht versuchen würde, die Konsequenzen aus den Voraussetzungen zu ziehen und zu prüfen, ob sie absurd sind. Aus der Anthroposophie können Sie überall die Konsequenzen ziehen. Die Schlüsse sind anwendbar auf das Leben, während sie es dort nicht sind, nicht auf das Leben angewendet werden können, nur gelten für die Gelehrtenstuben!

Das sind solche Dinge, die Sie auf die Denkfehler aufmerksam machen sollen, die ja für denjenigen, der sich nicht damit befaßt, nicht so leicht sichtbar werden. Es wirkt heute das autoritative Gefühl im Verkehr zwischen Gelehrten und Publikum in allen Kreisen viel zu stark; aber das autoritative Gefühl hat heute wenig gute Grundlagen. Man sollte sich darauf verlassen können. Nicht jeder ist in der Lage, die Geschichte der Wissenschaft zu verfolgen, um von da aus sich die Dinge holen zu können, die ihn unterrichten über die Tragweite der rein äußeren Forschung und der denkerischen Forschung. So ist es durchaus berechtigt, sagen wir, Helmholtz bloß wegen der Erfindung des Augenspiegels eine große Bedeutung zuzuschreiben. Wenn Sie aber diese Entdeckung historisch verfolgen, wenn Sie verfolgen können, was schon dagewesen ist und wie man nur noch hat draufgestoßen zu werden brauchen, so werden Sie sehen, daß hier die Methoden gearbeitet haben. Man kann eigentlich im Grunde heute ein sehr kleiner Denker sein und große, gewaltige Errungenschaften zuwege bringen, wenn einem die betreffenden Mittel mit ihren Methoden zur Verfügung stehen. Damit ist nicht alle Arbeit auf diesem Gebiete kritisiert, aber was gesagt worden ist, gilt.

Nun möchte ich Ihnen von einer gewissen Seite her auch die Gründe angeben, warum dies alles hat geschehen können. Dieser Gründe sind ungeheuer viele; aber es wird genügen, wenn wir den einen oder anderen uns vor Augen halten. Wenn wir in der Geschichte des Geisteslebens zurückblicken, dann finden wir, daß das, was wir Denktechnik, Begriffstechnik nennen, seinen Ursprung genommen

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hat im griechischen Geistesleben, seinen ersten klassischen Vertreter gehabt hat in Aristoteles. Er hat eines für die Menschheit geleistet, für die gelehrte Menschheit, was dieser gelehrten Menschheit zweifellos ungeheuer notwendig wäre, was aber in Mißkredit gekommen ist: die rein formale Logik. Viel Diskussion in der Öffentlichkeit wird darüber geführt, ob man nicht aus dem Gymnasium die philosophische Propädeutik herauswerfen solle. Man hält sie für überflüssig, man könne sie nebenher im Deutschen betreiben, aber als besondere Disziplin brauche man das nicht. Selbst bis zu dieser Konsequenz hat das hochnäsige Herabschauen auf so etwas wie die Denktechnik schon geführt. Diese Denktechnik ist so fest begründet worden von Aristoteles, daß sie wenig Fortschritte hat machen können. Sie braucht es nicht. Was in neuerer Zeit beigebracht worden ist, ist nur beigebracht worden, weil man den eigentlichen Begriff der Logik sogar verloren hat.

Nun möchte ich Ihnen, damit Sie sehen können, was damit gemeint ist, einen Begriff vom Formallogischen geben. Die Logik ist die Lehre von Begriff, Urteil` und Schluß. Zuerst müssen wir darauf ein wenig kommen, wie sich Begriff zu Urteil und zu Schluß verhält. Der Mensch kommt zunächst auf dem physischen Plan zu seinen Erkenntnissen durch die Wahrnehmung. Das erste ist die Empfindung, aber die Empfindung als solche würde zum Beispiel ein Eindruck sein, ein einzelner Farbeneindruck. Es erscheinen uns aber die Gegenstände nicht als solche einzelne, sondern als kombinierte Eindrücke, so daß wir immer nicht bloß einzelne Empfindungen vor uns haben, sondern kombinierte, und das sind die Wahrnehmungen. Wenn Sie einen Gegenstand vor sich haben, den Sie wahrnehmen, so können Sie von dem Gegenstande Ihre Wahrnehmungsorgane abwenden und es bleibt ein Bild in Ihnen. Wenn dieses bleibt, so werden Sie das sehr gut unterscheiden können vom Gegenstand selber. Sie können diesen Hammer anschauen, er ist Ihnen so wahrnehmbar. Drehen Sie sich um, so bleibt Ihnen ein Nachbild. Das nennen wir die Vorstellung.

Es ist ungeheuer wichtig, daß man unterscheidet zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Die Sache ginge sehr gut, wenn nicht dadurch,

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daß so wenig Denktechnik vorhanden ist, von vornherein [iese Sachen ungeheuer verwickelt würden. So beruht zum Beispiel schon der Satz, der heute in vielen Erkenntnistheorien vertreten ~ird: daß wir nichts anderes gegeben haben als unsere Vorstellung -, uf Irrtum. Denn man sagt: Das Ding an sich nimmst du nicht fahr. - Die meisten Leute glauben, hinter dem, was sie wahrnehien, sind die tanzenden Moleküle. Was sie wahrnehmen, ist nur der .iiidruck auf ihre eigene Seele. Freilich, weil ja sonst die Seele geugnet wird, so ist es sonderbar, daß sie erst sprechen von den Ein- rücken auf die Seele und dann die Seele erklären als etwas, was wieerum nur in tanzenden Atomen besteht.

Wenn man so den Dingen zu Leibe geht, dann hat man das Bild or sich von dem wackeren Münchhausen, der sich am eigenen hopf in der Luft hält. Es wird nicht unterschieden zwischen der Wahrnehmung und der Vorstellung. Würde man unterscheiden, so würde man gar nicht mehr versucht werden können, diese erkenntistheoretische Gedankenlosigkeit zu begehen, die darin liegt, daß Lan sagt Die Welt ist meine Vorstellung -, abgesehen davon, daß es schon eine erkenntnistheoretische Gedankenlosigkeit ist, wenn man n Versuch macht, die Wahrnehmung mit der Vorstellung zu vereichen und dann die Wahrnehmung als Vorstellung anspricht. Ich möchte jemand ein Stück glühendes Eisen berühren und ihn dann konstatieren lassen, daß er sich brennt. Nun soll er die Vorstellung .>rgleichen mit der Wahrnehmung und dann sagen, ob sie ebenso öennt wie diese. Also die Dinge sind so, daß man sie nur logisch anssen muß; dann zeigt sich, worum es sich handelt. Wir müssen also iterscheiden zwischen Wahrnehmung, bei der wir ein Objekt vor is haben, und der Vorstellung, bei der dies nicht der Fall ist.

In der Vorstellungswelt unterscheiden wir wieder zwischen Vorjung im engeren Sinn und Begriff. Den Begriff des Begriffes kön.~ Sie sich machen am mathematischen Begrif? Denken Sie sich, e zeichnen sich einen Kreis auf. Das ist kein Kreis im mathematihen Sinn. Sie können sich, wenn Sie das Aufgezeichnete anschau, die Vorstellung von einem Kreis bilden, den Begriff aber nicht. a müssen Sie sich eine`n Punkt denken und darum herum viele

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Punkte, die alle gleich weit von dem einen, dem Mittelpunkt, entfernt sind. Dann haben Sie den Begriff Kreis. Mit dieser Gedankenkonstruktion stimmt das;` was aufgezeichnet ist, was da besteht aus vielen kleinen Kreidebergen, durchaus nicht überein. Der eine Kreideberg ist weiter weg vom Mittelpunkt als der andere.

Sie haben also, wenn Sie von Begriff und Vorstellung reden, den Unterschied zu machen, daß die Vorstellung gewonnen wird an äußeren Gegenständen, daß der Begriff aber durch innerliche Geisteskonstruktion entsteht. Sie können aber in unzähligen Psychologiebüchern heute lesen, daß der Begriff nur dadurch entstehe, daß wir abstrahieren von diesem oder jenem, was in der Außenwelt uns entgegentritt. Man glaubt, in der Außenwelt treten uns nur weiße, schwarze, braune, gelbe Pferde entgegen und daraus soll man den Begriff des Pferdes bilden. Wie, das schildert die Logik so: Man läßt, was verschieden ist, weg; zunächst die weiße, schwarze und so weiter Farbe, dann, was sonst verschieden ist und wiederum verschieden ist und schließlich bleibt etwas Verschwommenes; das nennt man den Begriff «Pferd». Man hat abstrahiert. So, meint man, bilden sich Begriffe.

Diejenigen, welche die Sache so schildern, vergessen, daß die eigentliche Natur des Begriffes für die heutige Menschheit nur am mathematischen Begriff wirklich erfaßt werden kann, weil dieser zunächst das zeigt, was innerlich konstruiert ist und dann in der Außenwelt wiederum gefunden wird. Der Begriff des Kreises kann nicht so gebildet werden, daß man verschiedene Kreise, grüne, blaue, große und kleine, durchläuft und dann alles das wegläßt, was nicht gemeinsam ist, und sich dann ein Abstraktum bildet. Der Begriff wird von innen heraus gebildet. Man muß sich die Gedankenkonstruktion bilden. Die Menschen sind nur heute nicht so weit, daß sie sich so den Begriff auch des Pferdes bilden können. Goethe hat sich bemüht, solche innerliche Konstruktionen auch für höhere Gebiete des Naturdaseins zu bilden. Das ist bedeutungsvoll, daß er aufzusteigen sucht von der Vorstellung zum Begrif? Wer etwas versteht von der Sache, weiß, daß man auch zum Begriff des Pferdes nicht dadurch kommt, daß man die Verschiedenheiten wegläßt und

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das Übrigbleibende behält. So wird der Begriff nicht gebildet, sondern durch innerliche Konstruktion, wie der Begriff des Kreises, nur nicht so einfach. Da tritt eben das ein, was ich im gestrigen Vortrag erwähnt habe von dem Wolfe, der sein ganzes Leben lang Lämmer frißt und doch kein Lamm wird. Wenn man den Begriff des Wolfes so hat, so hat man, was Aristoteles die Form des Wolfes nennt. Auf die Materie des Wolfes kommt es nicht an. Wenn er auch lauter Lämmer frißt, wird er doch kein Lamm. Wenn man bloß auf die Materie sieht, müßte man wohl sagen, daß, wenn er lauter Lämmer verzehrt, er eigentlich ein Lamm werden müßte. Er wird kein Lamm, weil es auf das ankommt, wie er die Materie organisiert, und das ist dasjenige, was in ihm als die «Form» lebt und was man im reinen Begriff konstruieren kann.

Wenn man nun Begriffe oder Vorstellungen verbindet, dann entstehen Urteile. Verbindet man die Vorstellung «Pferd» mit der Vorstellung «schwarz» zu «das Pferd ist schwarz», so hat man ein Urteil. Die Verbindung von Begriffen bildet also Urteile. Nun handelt es sich darum, daß dieses Urteilebilden durchaus zusammenhängt mit der formalen Begriffstechnik, die man lernen kann, und die lehrt, wie man gültige Begriffe miteinander verbinden, also Urteile bilden kann. Die Lehre davon ist ein Kapitel der formalen Logik. Wir werden sehen, wie das, was ich auseinandergesetzt habe, etwas ist, das zur formalen Logik gehört. Nun ist also die formale Logik das, was auseinandersetzt die innere Denktätigkeit nach ihren Gesetzen, gleichsam die Naturgeschichte des Denkens, was uns liefert die Möglichkeit, gültige Urteile, gültige Schlüsse zu ziehen.

Wenn wir hier zu der Urteilsbildung kommen, dann müssen wir wiederum finden, daß die neuere denkerische Arbeit in eine Art von Mausefalle geraten ist. Denn es steht an der Pforte der neueren denkerischen Arbeit Kant, und er bildet eine der größten Autoritäten. Gleich im Beginne der Kantschen Werke finden wir die Urteile im Gegensatz zu Aristoteles. Heute wollen wir darauf hinweisen, wie Gedankenfehler gemacht werden. Gleich im Beginne der Kantschen «Kritik der reinen Vernunft» finden wir die Rede von analytischen und synthetischen Urteilen. Was sollen die analytischen Urteile

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sein? Sie sollen das sein, wo ein Begriff an den anderen gereiht wird so, daß in dem Subjektbegriff schon der Prädikatbegriff drinnenliegt und man ihn nur herausschält. Kant sagt: Denke ich den Begriff des Körpers und sage, der Körper ist ausgedehnt, so ist das ein analytisches Urteil; denn kein Mensch kann den Begriff des Körpers denken, ohne sich den Körper ausgedehnt zu denken. - Er löst aus dem Subjekt den Begriff des Prädikats nur heraus. So ist ein analytisches Urteil ein solches, das gebildet wird, indem man den Prädikatbegriff aus dem Subjektbegriff herausholt. Ein synthetisches Urteil dagegen ist ein Urteil, in dem der Prädikatbegriff noch nicht so eingewickelt im Subjektbegriff liegt, daß man ihn bloß auswickeln dürfte. Wenn jemand den Begriff des Körpers denkt, so denkt er nicht dazu den Begriff der Schwere. Wenn also der Begriff der Schwere zu dem des Körpers gefügt wird, so hat man ein synthetisches Urteil. Das ist ein Urteil, welches nicht nur Erläuterungen bringt, sondern unsere Gedankenwelt bereichern würde.

Nun werden Sie aber einsehen können, daß dieser Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen überhaupt kein logischer ist. Denn ob jemand bei einem Subjektbegriff den Prädikatbegriff schon denkt, hängt davon ab, wie weit er es gebracht hat. Wer sich den Körper so vorstellt, daß er nicht schwer ist, für den ist der Begriff «schwer» in bezug auf den Körper fremd; wer aber schon durch seine denkerische und sonstige Arbeit es dahin gebracht hat, die Schwere sich mit dem Körper verbunden zu denken, der braucht auch aus seinem Begriff «Körper» nur diesen hineingewickelten Begriff wieder herauszuwickeln. Das ist also ein rein subjektiver Unterschied.

Bei all diesen Dingen muß man gründlich zu Werke gehen. Man muß die Fehlerquellen genau aufsuchen. Mir scheint tatsächlich, daß derjenige, der also doch dasjenige als rein subjektiv in Wirklichkeit erfaßt, was man herausschälen kann aus einem Begriff, daß der eigentlich eine Grenze zwischen analytischen und synthetischen Urteilen gar nicht finden wird und daß er in Verlegenheit kommen könnte, eine Definition davon zu geben. Es kommt auf etwas ganz anderes an. Worauf kommt es an? Das nachher! Mir erscheint in der

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Tat recht bezeichnend, was sich zugetragen hat, als bei einem Examen die Rede war von den beiden Urteilen. Da gab es einen Doktor, der sollte im Nebenfach über Logik geprüft werden. Er war in seinem Fache tüchtig gesattelt, doch in der Logik wußte er gar nichts. Er sagte vor der Prüfung zu einem Freunde, dieser sollte ihm noch einiges aus der Logik sagen. Aber der Freund, der dies etwas ernster nahm, sprach: Wenn du jetzt noch nichts weißt, so ist es schon gescheiter, du verläßt dich auf dein Glück. - Nun kam er zum Examen. Da ging, wie gesagt, alles sehr gut in den Hauptfächern; da war er sattelfest. Aber in der Logik wußte er nichts. Der Professor fragte ihn: Also sagen Sie mir, was ist ein synthetisches Urteil? - Er wußte keine Antwort und war nun sehr verlegen. Ja, Herr Kandidat, wissen Sie gar nicht, was das ist? - fragte der Professor. Nein! - lautete die Antwort. Eine vortreffliche Antwort! - rief der Examinator -, sehen Sie, man forscht schon so lange nach dem, was das ist, Und kann nicht dahinterkommen, was eigentlich ein synthetisches Urteil ist. Sie hätten eine bessere Antwort gar nicht geben können. Und können Sie mir noch sagen, Herr Kandidat, was ein analytisches Urteil ist? - Der Kandidat war nun schon frecher geworden und antwortete zuversichtlich: Nein! - O ich sehe, Sie sind - fuhr der Professor fort -, in den Geist der Sache eingedrungen. Man hat so lange geforscht nach dem, was ein analytisches Urteil ist und ist nicht dahintergekommen. Das weiß man nicht. Eine vortreffliche Antwort! - Die Tatsache hat sich wirklich zugetragen; sie erschien mir immer, wenn sie auch nicht unbedingt als solche genommen werden darf, als recht gute Charakteristik dafür, was beide Urteile unterscheidet. Es unterscheidet sie in der Tat nichts, es fließt das eine in das andere über.

Nun müssen wir uns noch klarmachen, wie denn überhaupt von gültigen Urteilen gesprochen werden kann, was ein solches ist. Das ist eine sehr wichtige Sache.

Ein Urteil ist zunächst nichts anderes als die Verbindung von Vorstellungen oder Begriffen. «Die Rose ist rot», ist ein Urteil. Ob nun dadurch, daß ein solches Urteil richtig ist, es auch schon gültig ist> darauf kommt es an. Da müssen wir uns klarmachen: wenn ein

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Urteil richtig ist, so braucht es noch lange kein gültiges Urteil zu sein. Bei diesem kommt es nicht nur darauf an, daß man einen Subjektbegriff mit einem Prädikatbegriff verbindet. Lassen Sie uns ein Beispiel nehmen! «Diese Rose ist rot», ist ein richtiges Urteil. Ob es nun auch gültig ist, ist nicht ausgemacht; denn wir können auch an- dere richtige Urteile bilden, welche deshalb noch lange nicht gültig sind. Nach der formalen Logik brauchte gegen die Richtigkeit eines Urteils nichts eingewendet werden zu müssen; es könnte ganz richtig sein, aber mit der Gültigkeit könnte es doch hapern. Es könnte zum Beispiel jemand die Vorstellung eines Wesens ausdenken, das halb Pferd, zu einem Viertel Walfisch und zum letzten Viertel Kamel ist. Dieses Tier wollen wir nun - «Taxu» nennen. Jetzt ist es zweifellos richtig, daß dieses Tier häßlich wäre. Das Urteil: «Das Taxu ist häßlich», ist also richtig und kann durchaus nach allen Regeln der Richtigkeit so gefällt werden; denn das Taxu, halb Pferd, viertels Walfisch und viertels Kamel ist häßlich, das ist zweifellos, und wie das Urteil «Diese Rose ist rot» richtig ist, so auch dieses. Nun darf man niemals ein richtiges Urteil auch als gültig ansprechen. Dazu ist etwas anderes notwendig: Sie müssen das richtige Urteil umwandeln können. Sie müssen erst dann das richtige Urteil als gültig ansehen, wenn Sie sagen können: «Diese rote Rose ist», wenn Sie das Prädikat wiederum in das Subjekt hineinnehmen können, wenn Sie umwandeln können das richtige Urteil in ein Existentialurteil. In diesem Fall also haben Sie ein gültiges Urteil. «Diese rote Rose ist». Anders geht es nicht, als daß man den Prädikatbegriff hin- einzunehmen vermag in den Subjektbegriff. Dann ist das Urteil gültig. «Das Taxu ist häßlich», kann man nicht zu einem gültigen Urteil machen. Sie können nicht sagen: «Ein häßliches Taxu ist». Das zeigt Ihnen die Probe, durch die man erfahren kann, ob ein Urteil überhaupt gefällt werden kann; das zeigt Ihnen, wie die Probe gemacht werden muß. Die Probe muß dadurch gemacht werden, daß man sieht, ob man das Urteil in ein Existentialurteil umzuwandeln in der Lage ist.

Hier sehen Sie schon etwas sehr Wichtiges, was man wissen muß: daß also die bloße Zusammenfügung der Begriffe zu einem logisch

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richtigen Urteil noch nicht etwas ist, was nunmehr auch als maßgebend für die reale Welt angesehen werden darf. Es muß etwas anderes dazukommen. Man darf nicht übersehen, daß für die Gültigkeit des Begriffes und Urteils noch etwas anderes in Frage kommt. Auch für die Gültigkeit unserer Schlüsse kommt noch etwas anderes in Betracht.

Ein Schluß ist die Verbindung von Urteilen. Der einfachste sChluß lautet: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch -, also: Cajus ist sterblich. - Der Obersatz heißt: Alle Menschen sind sterblich -, der Untersatz: Cajus ist ein Mensch -, der Schlußsatz: Cajus ist sterblich. - Dieser Schluß ist gebildet nach der ersten Schlußfigur, nach der man den Subjektbegriff und Prädikatbegriff durch einen Mittelbegriff verbindet. Der Mittelbegriff heißt hier: So sehen Sie, daß wir sozusagen ein wirkliches formales Bewegen der Begriffe, der Urteile haben, daß dem Denken ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. Aber niemals kommt man durch diese reine Bewegung der Begriffe an die Realität heran. Beim Urteil haben wir gesehen, wie man das richtige in das gültige erst umwandeln muß. Beim Schluß wollen wir uns in einer anderen Form überzeugen, daß es unmöglich ist, durch den formalen Schluß

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an die Realität heranzukommen. Denn es kann ein Schluß nach allen formalen Gesetzen richtig und doch wiederum nicht gültig sein, das heißt, er kann nicht an die Realität herankommen. Das ganz Einfache des Trugschlusses wird Ihnen das Folgende klarmachen: Alle Kretenser sind Lügner -, sagt ein Kretenser. Nehmen Sie an, dieser sagt es. Da werden Sie nach ganz logischen Schlußfiguren vorgehen können und doch zu einer Unmöglichkeit kommen. Wenn der Kretenser das sagt, so muß, wenn man den Obersatz auf ihn anwendet, er gelogen haben, dann darf das nicht wahr sein. Warum kommen Sie da in eine Unmöglichkeit hinein? Weil Sie die Schlußfolgerung auf sich selbst anwenden, weil Sie den Gegenstand zusammenfallen lassen mit rein formalen Schlußfolgerungen, und das darf man nicht. Wo man das Formale des Denkens auf sich selbst anwendet, da vernichtet sich die reine Formalität des Denkens. Das geht nicht.

Daß die Richtigkeit des Denkens streikt, wenn man das Denken auf sich selbst anwendet, das heißt, wenn man das, was man ausgedacht hat, auf sich selbst anwendet, das können Sie an einem anderen Beispiel sehen: Ein alter Rechtslehrer nahm sich einen Schüler. Es wurde ausgemacht, daß ihm dieser ein bestimmtes Honorar zahlen soll, undözwar einen Teil davon sogleich und den Rest erst, wenn er seinen ersten Prozeß gewonnen habe. So wurde es ausgemacht. Der Schüler bezahlt den zweiten Teil nicht. Nun sagt der Rechtslehrer zu ihm: Du wirst mir unter allen Umständen das Honorar bezahlen. - Der Schüler aber behauptet: Ich werde es unter keinen Umständen bezahlen. - Und er will das so machen, daß er einen Prozeß gegen den Lehrer anstrengt, einen Prozeß um das Honorar. Da sagt der Lehrer: Dann wirst du mir erst recht bezahlen; denn entweder verurteilen dich die Richter zum Zahlen - nun, dann hast du zu zahlen -, oder aber die Richter urteilen so, daß du nicht zu zahlen brauchst, dann hast du den Prozeß gewonnen und zahlst deshalb wiederum. - Der Schüler antwortet: Ich werde unter keinen Umständen zahlen; denn gewinne ich den Prozeß, dann sprechen mir die Richter das Recht zu, daß ich nicht bezahle, und verliere ich, dann habe ich meinen ersten Prozeß verloren und wir haben doch

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ausgemacht, wenn dies der Fall sei, hätte ich nicht zu bezahlen. - Es ;t nichts herausgekommen aus einer ganz richtigen formalen Verindung, weil diese auf das Subjekt selbst zurückgeht. Da streikt die >rmale Logik immer. Die Richtigkeit hat nichts mit der Gültigkeit u tun.

Den Fehler, sich nicht klargemacht zu haben, daß man unter:heiden muß zwischen Richtigkeit und Gültigkeit, den hat der groe Kant gemacht, und zwar indem er den sogenannten ontologi:hen Gottesbeweis widerlegen wollte. Dieser Beweis ging ungefähr so: Wenn man sich das allervollkommenste Wesen vorstellt, würde iöescm zu seiner Vollkommenheit eine Eigenschaft fehlen, wenn man ihm nicht das Sein zuschriebe. Also kann man sich das aller: llkommenste Wesen nicht ohne das Sein vorstellen. Folglich ist ;. Kant sagt: Das gilt nicht, denn es kommt dadurch, daß das Sein zu einem Dinge hinzukommt, keine Eigenschaft mehr hinzu. - Und inn sagt er: Hundert mögliche Taler, in Gedanken erfaßte Taler, den keinen Pfennig mehr oder weniger als hundert wirkliche. ber die wirklichen unterscheiden sich beträchtlich von den gedachten, nämlich durch das Sein! - So schließt er: Man kann nieals aus dem bloß in Gedanken erfaßten Begriffe das Sein folgern. denn - so meint er -, man kann noch so viele gedachte Taler in die rieftasche tun, sie werden niemals seiend. Also darf man auch beim ottesbegriff nicht so verfahren, daß man den Seinsbegriff aus dem ~nken herausschälen will. - Da ist aber vergessen, wenn man das in Logisch-Formale von dem einen zum anderen überträgt, daß an unterscheiden müßte, daß Taler etwas sind, was nur äußerlich ahrgenommen werden kann, und daß Gott etwas ist, was inner:h wahrgenommen werden kann, und daß wir gerade im Gottesbeiff von dieser Eigenschaft des Äußerlich-Wahrgenommenseins abhen müssen. Wenn die Menschen übereinkommen würden, sich it gedachten Talern zu bezahlen, so würden sie nicht darauf angeiesen sein, einen Unterschied zu machen zwischen den wirklichen id den gedachten Talern. Wenn also im Denken einem Sinnesding in Sein zugeschrieben werden könnte, dann würde das Urteil auch r dieses Sinnesding gelten. Aber man muß sich klarmachen, daß

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ein richtiges Urteil noch kein gültiges zu sein braucht, daß da noch etwas hinzukommen muß.

Also wir haben einiges von dem Gebiete der Philosophie heute an uns vorüberziehen lassen, was nichts schadet. Es gab uns eine Ahnung, daß die Autorität der heutigen Wissenschafter etwas Unbegründetes ist und man sich nicht zu fürchten braucht, wenn die Anthroposophie als Dilettantismus hingestellt wird. Denn, was diese Autoritäten selber zu sagen verstehen, wenn sie anfangen von den Tatsachen überzugehen zu dem, was durch eine Schlußfolgerung führen könnte zu einem Hinweis auf die geistige Welt, das ist wirklich recht fadenscheinig. Und so wollte ich Ihnen heute erst zeigen, wie angreifbar dieses Denken ist, und dann eine Vorstellung hervorrufen davon, daß es wirklich eine Wissenschaft des Denkens gibt. Freilich konnte das nur skizzenhaft geschehen. Wir können später einmal tiefer darauf eingehen, aber Sie müssen sich gefaßt machen, daß dabei wirklich etwas von Langweiligkeit mit unterlaufen wird.

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DAS BILDEN VON BEGRIFFEN UND DIE KATEGORIENLEHRE HEGELS Berlin, 13. November 1908

Diese Vorträge über Philosophie, von denen der heutige einer ist, betrachten Sie durchaus nur als Episode, als Einschiebsel. Sie sind da, um sozusagen eine Verbindungsbrücke zu bauen zwischen der anthroposophischen Weltbetrachtung und der rein philosophischen. Ich möchte gerade den heutigen Vortrag so gestalten, daß Sie durch einzelne an die Ausführungen angefügte Bemerkungen werden sehen können, wie die Brücke zu schlagen ist zwischen Philosophie und Anthroposophie, und wie gewisse philosophische Erkenntnisse und Begriffe dem Anthroposophen eigentlich dann, venn er in die Praxis hineintritt, wichtig werden können. Gleich vorausgeschickt sei etwas, was uns nützlich sein wird, um überhaupt das, ganze philosophische Begriffsgebäude in einer richtigen Weise in ein Verhältnis zu bringen zu dem, was uns durch übersinnliche Erfahrung als Mitteilung auf dem Wege der Anthroposophie zukommt.

Sie haben, gewissermaßen als Vorbereitung zu den heutigen Ausführungöen, die Vorträge über elementare Logik hören können, die von mir während der Generalversammlungszeit gehalten worden sind, und, und viele von Ihnen haben ja eine gute Vorbereitung durch den Kurs, den unser lieber Herr Walther über Erkenntnistheorie und philosophisches Denken abgehalten hat. Das Denken haben wir da erkannt als das Vermögen, mit einer Begriffstechnik sich der Welt gegenüberzustellen, wir haben es in gewisser Beziehung da charakterisiert, wo wir versuchten, eine Idee zu bekommen von der rein formalen Logik. Wir haben da gesehen, wie wir erst dann vom wirklichen Denken sprechen, wenn dieses in Begriffen abläuft, und wir ha6en damals streng unterschieden zwischen der Wahrnehmung, der Vorstellung und dem Begriff. Wenn solche Unterscheidung denen, die sonst sehr gern und mit Hingebung an anthroposophischen Auseinandersetzungen teilnehmen, schwierig vorkommen sollte, so soll doch zunächst bedacht werden, daß auf dem Boden der Anthroposophie

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das erwachsen muß, was wir als Verpflichtung zu einem strengen seelischen Arbeiten erkennen müssen, das sich nicht mit zufällig aufgelesenen Begriffen zufriedenstellt, sondern aufsteigen will zu scharfen und energischen Begriffskonturen.

Wir haben den Begriff selber als etwas kennengelernt, was rein innerhalb unseres Geistes selbst konstruiert wird, und wir haben uns klar gemacht, daß diese Begriffskonstruktion eine Realität, eine Wahrheit ist, daß alle philosophischen Erörterungen auf halbem, vielleicht auf einem viertel Wege stehenbleiben, die in dem Begriff nur eine durch Abstraktion entstehende Abschattierung dessen sehen, was wir als Vorstellung gewinnen. Der Begriff ist etwas, was nIcht aus der Vorstellung durch Abstraktion gewonnen wird, sondern der Begriff ist etwas - und das wurde an mathematischen Figuren, am Begriff des Kreises und dem des Dreiecks klargemacht -, das in innerlicher Konstruktion gewonnen wIrd.

Um nun ein Bild zu bekommen von der Natur des Begriffes und des Begriffssystems, des Organismus unserer Begriffe, stellen wir uns eInmal vor, welches Verhältnis diese Begriffswelt einnimmt auf der eInen Seite zu der um uns ausgebreiteten Welt des sinnlich Wahrgenommenen, und auf der anderen Seite zu der Wirklichkeit, die durch übersinnliche Beobachtung uns in der Anthroposophie zukommt. Sie können sich das Gefüge, das Netz von Begriffen, das der Mensch hat - von den mathematischen Größen und Zahlenbegriffen angefangen bis zu den komplizierten Begriffen, mit denen Goethe in seiner «Metamorphose» einen Anfang gemacht hat, die aber in unserer abendländischen Kultur noch ganz in den Anfängen ruhen -, Sie können sich dieses ganze Begriffsnetz wie eine Tafel vorstellen, die die Grenze bildet zwischen der sinnlichen Welt auf der einen und der geistigen Welt auf der anderen Seite. So also können wIr uns gerade durch das Begriffsnetz begrenzt denken: auf der eInen Seite die Sphäre der übersinnlichen und auf der anderen Seite die Sphäre der sinnlichen Wirklichkeit.

Wenn der Mensch als sinnlicher Beobachter der Dinge sein Auge oder seine anderen Wahrnehmungsorgane bloß richten würde auf die äußere Umwelt, so würde er bloß Vorstellungen erleben. Es war

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das gezeigt worden an dem Beispiel: Wenn ein Mensch so weit hinausfahren würde auf ein Meer, daß er um sich nichts anderes sieht als die Meeresobeffläche und eine scheinbare Himmelshalbkugel, gestützt auf diese Meeresobeffläche, dann würde er den Kreis, den er als Horizontlinie um sich hat, durch äußere Wahrnehmung gewonnen haben; er würde die Vorstellung des Kreises sich durch äußere Wahrnehmung gebildet haben. Wenn er dagegen keine solche äußere Wahrnehmung hat, sich bloß im Geiste jenes Bild konstruiert, das entsteht, wenn alle Punkte einer Linie, von einem festen Punkte, dem Mittelpunkte, gleich weit entfernt sind, dann hat er - im Gegensatz zur Vorstellung - den &gr~ff des Kreises. So könnten wir auch andere mathematische Begriffe, zum Beispiel den Begriff des Quadrats, des Dreiecks, des Vierkants, der Ellipse, der Hyperbel und so weiter innerlich konstruieren. Wir könnten noch weiter gehen, und wir könnten uns endlich erheben zu einer wirklichen Erkenntnis der Goetheschen Morphologie, zu den Begriffen der Organik, zum Urtier, zur Urpflanze, deren Begriffe ebenso entstanden sind wie der Begriff des Kreises, und die - wie Goethe sagt - ebenso angewendet werden können, wie die mathematischen Formeln.

Wenn der Mensch so an die sinnliche Wirklichkeit herantritt, wird er finden, daß diese sinnliche Wirklichkeit übereinstimmt mit dem, was er sich als Begriff konstruiert hat. Er kann zum Beispiel Ilnden, daß sein innerlich konstruierter Begriff des Kreises zusammienfällt mit dem Kreis, der sich der sinnlichen Beobachtung ergibt durch das Hinausfahren aufs Meer. Er fängt dann an zu verstehen, was sich ihm in der Wahrnehmung darbietet im Vergleich zu dem, was er sich selbst als Begriff gebildet hat. Begriffe werden also nicht Iurch Wahrnehmung gewonnen. Das ist ein Vorurteil, das heute ,eöhr verbreitet ist. Begriffe werden gewonnen durch innerliche Kon~ruktion. Der Begriff ist sozusagen dasjenige, wozu der Mensch kommt, gerade wenn er absieht von aller äußeren, sinnlichen Wirkichkeit. Und nun kann er zusammenwirken lassen, was er innerlich Lonstruiert hat, mit dem, was sich ihm äußerlich als sinnliche Wirkichkeit darstellt.

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Damit hätten wir fixiert die Stellung des Begriffsnetzes zu der äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Jetzt aber müssen wir uns auch fragen: Wie ist die Stellung unseres Begriffsnetzes zu der übersinnlichen Wirklichkeit? - Zunächst ist es nicht anders als bei der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn jemand - durch die öfters hier besprochenen Methoden des Hellsehens - sich die übersinnliche Wirklichkeit eröffnet und nun mit seinen Begriffen an diese Wirklichkeit herantritt, so wird er ebenso dieses Begriffsnetz zusammenfallend finden mit der übersinnlichen Wirklichkeit. Genau ebenso werden die übersinnlichen Tatsachen und Wesen, nur von der anderen Seite her, auf sein Begriffsnetz wirken, und er wird es damit zusammenfallend finden. So daß wir sagen können: Es werfen gewissermaßen die übersinnlichen Wirklichkeiten ihre Strahlen auf das Begriffsnetz, wie auf der anderen Seite die sinnliche Wirklichkeit dies tut. Am Begriffsnetz treffen sich sinnliche und übersinnliche Wirklichkeit.

Damit haben wir noch nicht die Frage beantwortet, woher in unserer Seele das Begriffsnetz selber kommt. Diese Frage wollen wir heute sozusagen als Tatsache hinstellen, denn die Antwort auf diese Frage kann sich eigentlich nur durch geduldiges Verfolgen des logisch-metaphysischen Weges ergeben, den wir, wenn wir diese Vor- träge fortsetzen können, vielleicht noch zusammen gehen können. Wir werden dann immer mehr und mehr in die übersinnliche Realität hineinkommen. Heute wollen wir uns durch ein Bild klarmachen, woher dieses Begriffsnetz, von dem der Mensch weiß, daß er es gewissermaßen im Geiste innerlich spinnt - gestatten Sie den Ausdruck -, woher dieses Begriffsnetz eigentlich stammt. Wir können es uns am besten dadurch klarmachen, wenn wIr uns das Bild eines Schattens, der an die Wand geworfen wird, vorstellen. Wenn Sie sehen, daß die Hand ein Schattenbild an die Wand wirft, so werden Sie sagen: Wenn die Hand nicht da wäre, So würde auch das Schattenbild nicht entstehen. Das Schattenbild ist seinem Urbilde ähnlich, aber es hat eine besondere Eigentümlichkeit, es ist eigentlich - nIchts! Denn gerade weil die Hand das Licht abhält, dadurch, daß an die Stelle des Lichtes das Nicht-Licht tritt, dadurch entsteht das Schattenbild. Also durch Auslöschung das Lichtes durch die Hand

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entsteht das Schattenbild. Genau ebenso entstehen unsere Begriffe in Wirklichkeit. Wir meinen nur, daß wir sie aus uns herausspinnen. Sie entstehen dadurch, daß hinter unserer denkenden Seele die über- sinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft. Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele.

Und weil unsere Begriffe den Urbildern der übersinnlichen Welt ähnlich sind - wie das Schattenbild der Hand seinem Urbilde ähnlich ist -, darum sind die Begriffe etwas, was im Menschen eine Ahnung hervorrufen kann von den übersinnlichen Wirklichkeiten. Daß der Mensch meint, das Begriffsnetz aus sich herauszuspinnen> kommt daher, weil er zunächst keine Anschauung hat von dieser übersinnlichen Welt. Aber sie ist da und wirkt, sie wirft ihre Schattenbilder. Wo sie auftrifft auf die Wahrnehmung des Sinnlichen, da entstehen diese Schattenbilder, und die Begriffe sind nichts anderes als diese Schattenbilder. Wir haben also in den Begriffen keine über- sinnliche Wirklichkeit, ebensowenig, wie wir im Schattenbilde der Hand die Hand selbst haben, aber wir haben sozusagen Schattenbilder davon. Damit haben wir das Begriffsnetz sozusagen als die Grenze zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit definiert, dabei aber erkannt, daß die Begriffe nicht aus der sinnlichen, sondern aus der übersinnlichen Welt in die Seele einströmen. So ist die Tatsache.

Nun müssen wir uns fragen: Wie kann der Mensch denn eigentlich zu wirklichen Begriffen kommen, auch wenn er keine Anschauung hat von der übersinnlichen Wirklichkeit? Wenn er bloß die äu&re sinnliche Wirklichkeit hätte und sie anschauen würde, würde er bloß zu Vorstellungen kommen, niemals zu Begriffen. Begriffe müssen in der Seele konstruiert werden und hinzukommen zu den Vors;tellungen, die die äußere, sinnliche Wirklichkeit gibt. Man kann durchaus in Begriffen leben und doch nicht in die übersinnliche Wirklichkeit hinaufsteigen. Der Seher, der in die übersinnliche Wirklichkeit hinaufsteigen kann, kann aber in der Tat leichter zu einer vollständigen Begriffswelt kommen, weil er die Kräfte kennenlernt, die hereinströmen und die Begriffe hervorrufen. Den geistes

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wissenschaftlichen Anhaltspunkt zu dem, was ich jetzt einmal philosophisch sage, haben Sie in meinem Buche «Theosophie», wo von dem Devachan gesprochen wird, wo über das devachanische Leben der Schattenbilder genau abgehandelt wird. Der Mensch kommt zu dem Begriffsnetz dadurch, daß er die Begriffe förmlich auf sich herunterströmen läßt. Für den Seher ist es so, daß er zu den Urbildern hinaufschauen kann, da wo die Realität ist. Wie ist es nun für den Menschen möglich, sich ein Begriffsnetz zu schaffen, der [nicht selbst zu der übersinnlichen Wirklichkeit aufschauen kann]? Der größte Teil der Menschen ist ja nur in der Mathematik zu reinen Begriffen gekommen. Die meisten Menschen meinen, daß man nur zu Begriffen kommen könne, wenn man Wahrnehmungen hat, aus diesen Vorstellungsbilder [gewinnt], von der Vorstellung die Wahrnehmung abzieht und dann das Allgemeine, den Begriff, findet, also durch Abstraktion. Das ist natürlich nicht die Entstehung des Begriffs. Selbst denkende Leute sind sich über dieses Bilden des Begriffes im Unklaren.

Als ich in meiner «Philosophie der Freiheit» versuchte, die Notwendigkeit des Konstruierens der Begriffe klarzumachen, konnte ich etwas sehr Eigentümliches erleben. Sie finden in meiner «Philosophie der Freiheit» in gegensätzlicher Anlehnung an Spencer ausgeführt, wie es eine ganz ungenügende philosophische Betrachtungsweise ist, wenn man versucht, den Begriff des Begriffes nur von der äußeren, sinnlichen Tatsachenwelt ausgehend zu bilden.

«Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, daß der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt.

Ein vielgelesener Philosoph der Gegenwart, Herbert Spencer, schildert den geistigen Prozeß, den wir gegenüber der Beobachtung vollziehen, folgendermaßen:

Wenn wir an einem Septembertag durch die Felder wandelnd, wenige Schritte vor uns ein Geräusch hören und an der Seite des Grabens, von dem es herzukommen schien, das Gras in Bewegung

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sehen, so werden wir wahrscheinlich auf die Stelle losgehen, um zu rfahren, was das Geräusch und die Bewegung hervorbrachte. Bei nserer Annäherung flattert ein Rebhuhn in den Graben, und damit t unsere Neugierde befriedigt: wir haben, was wir eine Erklärung der Erscheinungen nennen. Diese Erklärung läuft, wohlgemerkt, jf folgendes hinaus: weil wir im Leben unendlich oft erfahren haben, daß eine Störung der ruhigen Lage kleiner Körper die Bewegung iderer zwischen ihnen befindlicher Körper begleitet, und weil wir -halb die Beziehungen zwischen solchen Störungen und solchen ewegungen verallgemeinert haben, so halten wir diese besondere :örung für erklärt, sobald wir finden, daß sie ein Beispiel eben dieser .ziehung darbietet.> Genauer besehen stellt sich die Sache ganz an.rs dar, als sie hier beschrieben ist. Wenn ich ein Geräusch höre, so che ich zunächst den Begriff für diese Beobachtung. Dieser Begriff st weist mich über das Geräusch hinaus. Wer nicht weiter nach.>nkt, der hört eben das Geräusch und gibt sich damit zufrieden. urch mein Nachdenken aber ist mir klar, daß ich ein Geräusch als 'irkung aufzufassen habe. Also erst wenn ich den Begriff der wir.'ng mit der Wahrnehmung des Geräusches verbinde, werde ich ranlaßt, über die Einzelbeobachtung hinauszugehen und nach der mache zu suchen. Der Begriff der Wirkung ruft den der Ursache rvor, und ich suche dann nach dem verursachenden Gegenstande, n ich in der Gestalt des Rebhuhns finde. Diese Begriffe, Ursache d Wirkung, kann ich aber niemals durch bloße Beobachtung, und ;trecke sie sich auf noch so viele Fälle, gewinnen. Die Beobach~g fordert das Denken heraus, und erst dieses ist es, das mir den ~g weist, das einzelne Erlebnis an ein anderes anzuschließen.

Wenn man von elner fordert,daß sie ihren Inhalt nur der Beobachtung entnehme, so muß man reich fordern, daß sie auf alles Denken verzichte. Denn dieses lt seiner Natur nach über das Beobachtete hinaus.» [«Philosophie - Freiheit» Seite 58/59 der 14. Auflg. 1978]

Wenn man den Spencerschen Gedankengang verfolgen würde, so rde man dahin kommen, daß Begriffe nur durch Herauskristalliren des Allgemeinen aus dem Besonderen der Beobachtungen entstehen.

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So lange ich mich dem Geräusch gegenüber nur so verhalte, wIe Spencer es beschreibt, kann ich gar nicht zu einer Erkennntnis kommen. Es muß noch etwas hinzukommen.

Von diesem Buche habe ich damals unter anderem auch ein Autorenexemplar einem sehr bedeutenden Philosophen der Gegenwart verehrt, der mir dann schrieb, er hätte so viel zu sagen über den Inhalt des Buches, daß er dies nicht in einem Brief schreiben wolle, er hätte vielmehr alle seine Bemerkungen an den Rand geschrieben. Bei diesem betreffenden Satz, wo es sich um den Begriff des Geräusches handelt, hat er an den Rand geschrieben: «Das tut der Hase sicher nicht!» - und sandte mir das Buch zurück. Nun handelt es sich aber bei einer solchen Untersuchung ja nicht um die Philosophie des Hasen, sondern um die des Menschen. [Lücke in der Nachschrift.]

Wir müssen uns darüber klar werden, daß unsere Seele imstande sein muß, auch dann das Begriffsnetz zu gewinnen, wenn sie nicht In der Lage ist, es aus der unmittelbaren Anschauung der Welt vor sich zu haben. So kann sie es nicht gewinnen, daß sie an äußere Wahrnehmungen und daraus gebildete Vorstellungen sich anlehnt. Niemals würde die Seele zu Begriffen kommen, wenn sie bloß in die äußere Wahrnehmung hinaus den Blick richten und daraus Vorstellungen bilden würde. Die Methoden, auch wenn sie die wissenschaftlichsten Methoden sind, die man anwendet, um durch äußere Erfahrung sich Vorstellungen zu bilden über die Welt, diese Methoden alle können nicht dazu dienen, um in der Menschenseele das Begriffsnetz innerlich selber zu konstruieren.

Es muß also eine Methode geben, die auf der einen Seite unabhängig ist von der äußeren Beobachtung und auf der anderen Seite auch unabhängig ist von der hellseherischen Beobachtung. Denn die Menschenseele soll ja, wie wir voraussetzen, schon Begriffe sich bilden können, bevor sie zum Hellsehen aufsteigt. [Lücke in der Nachschrift.]

Er bewegt sich also von einem Begriff zum anderen, er bleibt im Felde der Begriffe und kann sich nun vom einen Begriff zum anderen bewegen innerhalb des Begriffsnetzes. Daß das stattfinden kann, daß sich die Seele von einem Begriff zum anderen bewegt, macht notwendig, daß wir eine Methode voraussetzen, die nichts zu tun

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hat mit der äußeren sinnlichen Beobachtung und nichts mit der helle`herischen Beobachtung, die nur zur Verifizierung dienen soll.

Dieses Bewegen in reinen Begriffen nennt man nun im Sinne des ;roßen Philosophen Hegel die «dialektische Methode», wobei der i4ensch nur in Begriffen lebt und sich fähig macht, einen Begriff aus lem anderen hervorgehen, gleichsam hervorwachsen zu lassen. So übt der Mensch in einer Sphäre, in der er absieht von der äußeren, innlichen Welt, und wo er absieht von dem, was hinter ihr steht,von der übersinnlichen Welt. Es bewegt sich die Seele von Begriff zu !egriff, und die Kraft, die ihn forttreibt von Begriff zu Begriff, läßt Ien einen Begriff aus dem anderen hervorgehen. Diese Methode lennt man die dialektische Methode, die Methode des sich selbst bewegenden Begriffes.

Damit haben wir hingewiesen auf das, was die Seele tut, indem sie ich in ihrem Begriffsnetz weiterbewegt. Sie spinnt Begriff an Begriff n - wir werden gleich Genaueres uns darunter vorstellen können - im Sinne der dialektischen Methode. Diese dialektische Methode äöhrt die Seele von Begriff zu Begriff. Wir werden sehen, daß wir irendwo ansetzen müssen bei diesen sich selbst fortbewegenden Beriffen, dann aber werden wir weiter von Begriff zu Begriff geführt. Vas müßte denn dabei herauskommen? Wenn so die Seele irgend~o anfängt, einen Begriff herauszusetzen, und dann Begriff aus Beröiff hervorwachsen läßt, dann würde sie die Summe aller Begriffe konstruieren, sie würde die Summe aller im Weltall sowohl nach unn an die sinnliche Welt als auch nach oben an die übersinnliche Velt angepaßten Begriffe auf diese Weise sich bilden.

Mle solche Begriffe, die durch Sich-selbst-Bewegen, durch Selbstervorgehen eines Begriffes aus einem anderen gebildet werden und ns darstellen dabei, was sowohl der sinnlichen Welt angepaßt ist die auch der übersinnlichen Welt, alle solche Begriffe nennt man im reitesten Umfange des Wortes «Kategorien». Kategorien sind also iejenigen Begriffe, welche durch die dialektische Methode, also urch Hervorwachsen eines Begriffes aus dem anderen, gewonnen rerden. So ist also im Grunde genommen das ganze Begriffsnetz zuLmmmengesetzt aus Kategorien. Man könnte ebensogut sagen, alle

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Begriffe sind Kategorien, wie man sagen könnte, alle Kategorien sind Begriffe. Man ist freilich gewöhnt worden, den Begriff «Kategorien» für die Hauptbegriffe anzuwenden, für die Knotenpunkte, für die wichtigsten, die Stammbegriffe, namentlich weil die formale Logik immer angeknüpft hat an Aristoteles, der [als erster von Kategorien gesprochen und zehn solcher «Knotenpunkte» angegeben hat]. Im strengen Sinne kann man aber die Worte «Begriff» und «Kategorie» wechselweise gebrauchen, so daß wir die Summe aller unserer Begriffe - wenn wir richtige Begriffskonstruktionen vor uns haben, das heißt, wenn die Begriffe innerlich konstruiert und fortgebildet sind durch Selbstbewegung, wenn die Begriffe aus sich selbst heraus- gewachsen sind - die «Kategorienlehre» nennen können. Und das, was Hegel im ersten Teil seiner Philosophie die «Wissenschaft der Logik» nennt - Logik, von Logos herkommend, was ja auch Begriff heißt -, ist eigentlich eine Kategorienlehre. Wenn wir nur einzelne Begriffe bilden, so haben wir nicht alle Kategorien, wenn wir aber innerlich das Begriffsnetz spinnen, jeden Begriff an die richtige Stelle setzen im Gesamtorganismus der Begriffe, dann haben wir alle Kategorien. Nun hat ja Hegel selber schon gesagt: Wenn man so den ganzen Umfang des Begriffsnetzes feststelle, so habe man darin den Inhalt der Welt, wie er im Gedanken der göttlichen Wesenheit vor der Erschaffung der Welt ist. - Da wir die Begriffe in der Welt darinnen finden, müssen sie ursprünglich hineingelegt worden sein. Wenn wir den Begriffen nachgehen, so finden wir darin die Gedanken der Gottheit. Wenn wir richtig denken in innerlichem [Konstruieren] nach dialektischer Methode, so finden wir im Begriffsinhalt, im Kategorien-Inhalt die Welt.

Ich kann heute nicht auf die geschichtliche Entwickelung der Kategorienlehre eingehen, wie Aristoteles sie ausgebildet hat und wie Kant sie weiter ausgebildet hat, ich will aber zu dem, wie der große Meister der Kategorienlehre, Hegel, die Begriffslehre ausgebildet hat, etwas sagen. Hegel ist heute vielleicht der am wenigsten verstandene Philosoph. Man erkennt das in der akademischen Literatur; was da über Hegel geschrieben wird, ist geradezu furchtbar. So sagt man heute immer noch, was man schon zu seinen Lebzeiten gesagt

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hat: er wolle aus den Begriffen heraus die ganze Welt entwickeln. Ein besonders gescheiter Herr war der Leipziger Philosoph Wilhelm Traugott Krug, der eine ganze Bibliothek von philosophischen Schriften geschrieben hat. Er verstand Hegel so, als ob er die Welt aus den Begriffen herausspinnen wolle, zum Beispiel aus dem Begriff die Rose deduzieren, ableiten wolle, aus einer Idee. Da sagte Krug einmal spitz gegen Hegel, er möge doch einmal aus dem Begriff seine Schreibfeder deduzieren. Hegel antwortete: «Herr Krug hat in diesem und zugleich nach anderer Seite hin ganz naiven Sinne einst die Naturphilosophie aufgefordert, das Kunststück zu machen, nur seine Schreibfeder zu deducieren. Man hätte ihm etwa zu dieser Leistung und respectiven Verherrlichung seiner Schreibfeder Hoffnung machen können, wenn dereinst die Wissenschaft so weit vorgeschritten und mit allem Wichtigern im Himmel und auf Erden in der Gegen- wart und Vergangenheit im Reinen sey, daß es nichts Wichtigeres mehr zu begreifen gebe.»

Es ist für den Anthroposophen außerordentlich wichtig, sich in diese reinen Begriffe hineinzuarbeiten, durch die man von Stufe zu Stufe [das gesamte Begriffsnetz gewinnt]. Es ist außerordentlich nützlich und stellt eine außerordentlich fruchtbare Meditation dar, in den kristallklaren Begriffen Hegels zu leben, es ist ein wichtiges Erziehungsmittel für die Seele. Zugleich ist es ein Erziehungsmittel gegen alle Lässigkeit und Lottrigkeit der Begriffe, die werden gründlich ausgetrieben durch die Hegelsche Dialektik. Wenn man den Geist an der Hegelschen Dialektik trainiert hat, so hat man bei der Lektüre von Büchern moderner Schriftsteller häufig den Eindruck Iottriger Begriffe.

Einen Ausgangspunkt muß man freilich haben, man muß bei irgendetwas anfangen. Das muß natürlich nur der einfachste Begriff sein, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat. Aus der formalen Logik ergibt sich, warum der Inhalt des Begriffs im Gegensatz zum Umfang ist. Der Begriff, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat, ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wenn wir

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vom Sein schlechtweg sprechen, ist nichts ausgesagt von der Art des Seins. Von dem Begriff des Seins geht Hegel aus. Nun frägt es sich: Wie kommt man hinaus über diesen Begriff des Seins? Wir können nicht stehenbleiben bei diesem Begriff, sonst bekommen wir kein Begriffssystem. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen Anhaltspunkt finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint. Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel enthält eigentlich die ganze Pflanze, die noch nicht herausgewachsen, sondern noch in ihr drinnen ist. Wenn wir die Wurzel anschauen, haben wir noch nicht alles, was da ist. Die Pflanze selber, die drin ist in der Wurzel, sehen wir nicht. Wenn wir nur mit äußeren Augen die Wurzel anschauen, sehen wir gerade nicht, was die Pflanze aus der Wurzel heraustreibt. So steckt auch in jedem Begriff etwas drin, was aus ihm herauswachsen kann, ebenso wie in der Wurzel etwas steckt, was aus ihr herauswachsen kann, und zwar steckt im Begriff des Seins das Gegenteil, das Nichts drin. Wenn wir den Begriff des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er alles umfaßt, umfaßt er zugleich das «Nichts». Das «Nichts» steckt dar`innen im «Sein>, es sproßt heraus aus dem «Sein». Wenn wir das «Sein> innerlich betrachten, so sehen wir hier schon den Begriff des «Nichts» aus dem Begriff des «Seins» herauswachsen. Wenn wir uns eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen, werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine Vorstellung zu machen. Das ist aber etwas, was innerhalb der Begriffswelt für den Anthroposophen ungeheuer wichtig ist, und es wird eine Zeit kommen, wenn die Anthroposophie mehr eingehen wird auf die Begriffe, da wird viel davon abhängen, daß gerade der Begriff des «Nichts» in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die Theosophie daran, daß der Begriff des «Nichts» unklar gefaßt wird.

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Deshalb ist ja die Theosophie zu einer Art «Emanationslehre» geworden, [Lücke in der Nachschrift] so als ob das Spätere aus dem Früheren hervorgegangen sei.

Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenüber- gestellt, zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten wären. Es ist ganz gleich, was Sie sich da über diese bei- den Menschen denken, aber der Begriff wäre nicht gefaßt worden, wenn sie Ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind, ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt. Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltengeschehen, und Sie können dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff des «Nirwana» besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff

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vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist.

Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch, daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man «Sein» und «Nichtsein» miteinander verbindet, entsteht das «Werden». Das «Werden» ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen schon in sich enthält. «Werden» ist ein fortwährender Übergang von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende entsteht. So haben Sie in dem Begriff «Werden» das Spiel der beiden Begriffe «Sein» und «Nichts». Von dem Begriff des Werdens ausgehend kommen Sie dann zu dem Begriff «Dasein». Es ist das, was als das Nächste an das Werden sich anschließt: das Stariwerden des Werdens ist das «Dasein», ein abgeschlossenes Werden. Dem «Dasein» muß ein Werden vorangehen. Was haben wir nun davon, wenn wir solche vier Begriffe innerlich uns ausgestaltet und sie so gewonnen haben? Wir haben sehr viel davon. Wir denken nun bei dem Begriff des Werdens nichts anderes, als was wir hier als Inhalt das Begriffs kennengelernt haben. Wir müssen alles ausschließen, was nicht zu dem Begriff gehört. Wer richtig dialektisch geschult ist, der hat, wenn von «Werden» gesprochen wird, in diesem Begriff nichts anderes als das Ineinanderspielen von «Sein» und «Nichts». Wenn der dialektisch geschulte Denker vom «Werden» spricht, so ist das ein ebenso bestimmter Begriff, wie wenn er von dem Begriff «Dreieck» spricht. So ist die Dialektik gerade die wunderbarste Zucht des Denkens.

Wir haben hier schon vier aufeinanderfolgende Kategorien ausgebildet, die Kategorien «Sein», «Nichts», «Werden» und «Dasein». Nun könnten wir weitergehen und könnten aus dem Begriff «Dasein» alle möglichen Begriffe heraussprießen lassen, und wir würden ein reichgegliedertes Begriffssystem aus dem Begriff «Dasein» nach der einen Linie erhalten.

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Sein

Nichts

Werden

Dasein

Wir können aber auch in anderer Weise vorgehen. Das «Sein» läßt Begriffe nach zwei Seiten aus sich herauswachsen. Es ist etwas sehr Fruchtbares. Es ist etwas da, was vor dem Hineinschießen des Seins in die Realität schon da ist. Es ist der reine Gedanke des Seins schon gegeben, bevor das Sein aus dem Gedanken hinausgeschossen ist in die Realität. In dem Augenblick, wo das Sein in sich selbst wird, in sich selbst Inhalt wird, in dem Augenblick müssen wir das, was wir dann erfassen, als das «Wesen» bezeichnen, so daß wir auf diese Weise aus dem Begriff «Sein» den Begriff «Wesen» gebildet haben. Wir haben also auf der einen Seite aus dem Begriff «Sein» die Begriffe «Nichts», «Werden», «Dasein» gebildet, und auf der anderen Seite aus dem Begriff «Sein» den Begriff «Wesen».

Sein - Wesen

Das Wesen ist das in sich aufgehaltene Sein, das sich selber durch- dringende Sein. Sie bekommen am leichtesten einen Begriff vom Aus dem Begriff «Wesen» gewinnen Sie [organisch als nächsten] den Begriff der «Erscheinung», das Sich-nach-außen-hin-Manifestieren, das Gegenteil des «Wesens», das Gegenteil dessen, was das Wesen

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in sich hat. «Wesen» und «Erscheinung» sind zwei kontradiktorische Begriffe, die sich ähnlich zueinander verhalten wie die Begriffe «Sein» und «Nichts». Wenn wir nun die beiden Begriffe «Wesen» und «Erscheinung» miteinander verbinden, so bekommen wir die Erscheinung, die das Wesen wiederum selbst in sich enthält. [Lücke in der Nachschrift.] Es ist in gewisser Beziehung ein Widerspruch zwischen innerem Wesen und äußerer Erscheinung. Wenn aber inneres Wesen übeffließt in Erscheinung, so daß die Erscheinung selbst das Wesen enthält, so sprechen wir von «Wirklichkeit».

Wesen

Erscheinung

Wirklichkeit

Kein dialektisch geschulter Mensch wird vom Begriff der «Wirklichkeit» anders sprechen, als daß er sagt: In dem Begriff der Wirklichkeit lebt Erscheinung, die durchdrungen ist vom Wesen. - Das Zusammenfließen von «Wesen» und «Erscheinung» ergibt den Begriff «Wirklichkeit». So muß also alles Sprechen über die Wirklichkeit durchdrungen sein von jenen Begriffen.*

Wir können nun noch weitergehen und zu noch reicheren Begriffen aufsteigen. Da kommen wir dazu, zu Sagen: «Wesen» ist das «Sein», das in sich selber ist, das in sich selber zu sich gekommen ist, das sich manifestiert hat. - Wenn nun dieses Sein nicht nur sich selber manifestiert, sondern dieses Sein außerdem noch seine Linien hinzieht zu der Umgebung, sozusagen im Innern nicht nur sich selber ausdrückt, sondern noch etwas anderes auszudrücken versucht, dann bekommen wir auf dialektischem Wege den Begriff des «Begriffs» selber. So daß wir aufsteigen vom «Sein» durch das «Wesen» zum «Begriff».

Sein Wesen Begriff

- - -

*) Lückenhafter Text in den Nachschriften, siehe Hinweis.

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Erinnern Sie sich jetzt, was ich gesagt habe von dem Begriff aus dem rein Formal-Logischen heraus. Wenn wir unser eigenes «Wesen> betrachten, so gilt das für uns, es waltet in uns. Wenn wir aber den «Begriff» in uns walten lassen, so haben wir etwas in ihm, was nach außen weist und das andere, die Außenwelt, umspannt. So haben wir also durch innere Konstruktion vom «Sein» durch das «Wesen> zum «Begriff» vorschreiten können.

Wenn wir nun ebenso, wie wir aus

Sein

Nichts

Werden

Dasein

und aus Wesen


Erscheinung


Wirklichkeit

haben hervorgehen lassen, weiteres aus dem «Begriff» hervorgehen lassen, so bekommen wir folgendes: Wir haben jetzt gesehen, wie formal-logisch in der Schlußfigur der «Begriff» waltet. Da bleibt der Begriff in sich selber. Jetzt aber kann er aus sich herausgehen, und wir sprechen dann von einem Begriff, der uns die Natur der Dinge wiedergibt. Wir kommen zur «Objektivität». Im Gegensatz zu den subjektiven Begriffen, die der Denktechnik unterliegen, haben wir nun objektive Begriffe. Wie «Erscheinung» zu «Wesen», so verhält sich «Objektivität» zu «Begriff». Nur dann hat man den Begriff #SE108-254

Und nun, wenn wir «Begrif?> mit «Objektivität» verbinden, kommen wir zu dem, was ein uns innerlicher Begriff ist, was aber zu- gleich seine eigene Realität in sich enthält, was zugleich subjektiver Begriff ist und als solcher objektiv ist. Das ist die «Idee». So wie sich die «Wirklichkeit» zur «Erscheinung» verhält, so verhält sich die «Idee» zur «Objektivität».

Begriff

Objektivität

Idee

Da haben Sie ein kleines Beispiel, wie wir in der Dialektik Begriffe aus dem Urstammbegriff «Sein» herauswachsen lassen können. Wir hätten so noch viele andere Begriffe aus dem «Sein» heraus bilden können.

So sehen wir, wie sich durch die Bewegung der Begriffe diese durchsichtige, diamantklare, kristallene, geistige Begriffswelt ergibt, und daß der Mensch mit dieser an genauen Begriffen geschulten Erkenntnisfähigkeit ausgerüstet erst wieder an die sinnliche Welt herantreten soll. Dann zeigt es sich, wie die in der Dialektik gewonnenen Begriffe sich decken auf der einen Seite mit der sinnlichen und auf der anderen Seite mit der übersinnlichen Wirklichkeit, und wie der Mensch kommt zu der Konkordanz zwischen Begriff und Wirklichkeit, in welcher das wahre Erkennen erst besteht.

Manche Menschen sagen: Da kommen wir in eine Welt, die kalt und frostig ist. Ich möchte deshalb zum Schluß ein kleines Erlebnis erzählen. Ich hatte vor vielen Jahren auch graphische Statik zu studieren, eine sehr abstrakte Wissenschaft ... Es werden da nur in Linien die möglichen Bewegungen und Gleichgewichte verfolgt. Aber ich kannte einen Menschen, der sie mit einer unendlichen Begeisterung vortrug, wenn er an der Tafel eine Linie zog, während die anderen Studenten schliefen und meistens auch der Lehrer schlief. Ich habe schon Leute lyrische Gedichte vortragen hören, die nicht diese

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Begeisterung hatten. Das sind eben Menschen, die nicht so fühlen können wie Novalis, der die Mathematik ein großes Gedicht nennt. Die Mathematik ist eine Möglichkeit, uns eine Ahnung davon zu geben, wie man die Begriffswelt in schöner Klarheit und hellem Licht fühlen kann.

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PRAKTISCHE AUSBILDUNG DES DENKENS Karlsruhe, 18. Januar 1909

Es könnte sonderbar erscheinen, wenn gerade Anthroposophie sich berufen fühlt, über praktische Ausbildung des Denkens zu sprechen, denn von den Außenstehenden wird sehr häufig die Meinung vertreten, Anthroposophie sei etwas im eminentesten Sinne Unpraktisches, sie habe mit dem Leben nichts zu tun. Solche Anschauung kann nur bestehen, wenn man die Dinge äußerlich, oberflächlich betrachtet. In Wahrheit aber soll das in Betracht Kommende ein Leitfaden sein fürs alleralltäglichste Leben; es soll sich in jedem Augenblick umwandeln können in Empfindung und Gefühl und es uns möglich machen, dem Leben sicher gegenüberzutreten und darin fest zu stehen.

Es bilden sich die Leute, die sich praktisch nennen, ein, nach den allerpraktischsten Grundsätzen zu handeln. Geht man der Sache aber näher, so wird man finden, daß das sogenannte «praktische Denken» oft überhaupt kein Denken ist, sondern ein Fortwursteln in anerzogenen Urteilen und Denkgewohnheiten. Wenn Sie absolut objektiv das Denken der Praktiker beobachten und das, was man gewöhnlich Denkpraxis nennt, prüfen, so werden Sie finden, daß da zum Teil sehr wenig wirkliche Praxis dahintersteckt, sondern was man Praxis nennt, besteht darin, daß man gelernt hat: Wie hat der Lehrmeister gedacht, wie hat derjenige gedacht, der dieses oder jenes vorher fabriziert hat, und wie richtet man sich nach dem? - Und wer anders denkt, den hält man für einen unpraktischen Menschen; denn das Denken stimmt ja nicht überein mit dem, was einem nun einmal anerzogen ist.

Wenn aber wirklich einmal etwas Praktisches erfunden wurde, so wurde das zunächst keineswegs von einem Praktiker gemacht. Betrachten wir zum Beispiel unsere heutige Briefmarke. Es wäre doch das Allernächstliegende, zu meinen, daß diese von einem Praktiker des Postwesens erfunden worden wäre. Dem ist aber nicht so. Anfang des letzten Jahrhunderts, da war es noch eine sehr umständliche

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Sache, einen Brief aufzugeben. Wollte jemand einen Brief fort- schicken, so mußte er an die betreffende Stelle gehen, wo die Briefe aufgegeben werden konnten, und es mußten hier verschiedene Bücher nachgeschlagen werden, und allerlei Umständlichkeiten waren damit verknüpft. Daß man ein solches einheitliches Porto haben kann, wie man es heute gewohnt ist, das ist kaum etwas über sechzig Jahre her. Und unsere heutige Briefmarke, die das ermöglicht, ist nicht erfunden worden von einem praktischen Postmenschen, sondern von einem Menschen, der der Post ferne stand, von dem Engländer Hill.

Und als die Briefmarke erfunden war, da sagte der betreffende Minister im englischen Parlament, der für das Postwesen damals in Betracht kam: Ja, erstens kann man nicht annehmen, daß wirklich durch diese Vereinfachung der Verkehr sich so ungeheuer vermehrt, wie dies dieser unpraktische Hill sich ausmalt, und zweitens, angenommen selbst, es wäre so, dann würde das Postgebäude in London ja nicht ausreichen für diesen Verkehr. - Diesem großen Praktiker ist es aber nicht im entferntesten eingefallen, daß das Postgebäude sich nach dem Verkehr und nicht der Verkehr sich nach dem Postgebäude richten müsse. Nun hat sich in verhältnismäßig denkbar kürzester Zeit das durchgesetzt, was damals von einem «Unpraktiker» gegenüber einem «Praktiker» erkämpft werden mußte: ganz selbstverständlich ist es heute, daß der Brief mit der Briefmarke befördert wird.

Ähnlich verhält es sich bei der Eisenbahn. Als im Jahre 1835 die erste Eisenbahn in Deutschland von Nürnberg nach Fürth gebaut werden sollte, wurde von dem bayrischen Medizinalkollegium, das darüber gehört wurde, ein Sachverständigen-Gutachten dahin abgegeben, daß es nicht ratsam sei, Eisenbahnen zu bauen; sollte es aber doch beabsichtigt werden, so müsse wenigstens rechts und links der Eisenbahn eine hohe Bretterwand hergestellt werden, damit vorübergehende Menschen nicht etwa Nerven- und Gehirnerschütterungen erlitten.

Als die Bahnlinie Potsdam-Berlin gebaut werden sollte, sagte Generalpostmeister Nagler: Ich lasse täglich zwei Postwagen nach

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Potsdam fahren, und die sind nicht besetzt; wenn die Leute ihr Geld absolut zum Fenster hinauswerfen wollen, dann sollen sie es doch gleich unmittelbar tun. - Die realen Tatsachen des Lebens gehen eben über die «Praktiker» hinweg, über diejenigen, die da glauben, sie seien Praktiker. Man muß unterscheiden, was wahres Denken ist, von der sogenannten Denkpraxis, die nur ein Urteilen nach anerzogenen Denkgewohnheiten ist.

Eine kleine Erfahrung, die ich selbst einmal gemacht habe, will ich Ihnen erzählen und sie an die Spitze unserer heutigen Betrachtung stellen: Während meiner Studienzeit kam einmal ein junger Kollege zu mir voll Freude, wie man sie gerade bei Leuten, die eine recht pfiffige Idee gehabt haben, bemerkt, und sagte: Ich muß jetzt gerade zum Professor Radinger gehen - der damals an der Hochschule den Maschinenbau vertrat -, denn ich habe eine großartige Erfindung gemacht: Ich habe erfunden, wie man mit Aufwendung von ganz wenig Dampfkraft, die man einmal aufwendet, durch Umsetzen eine ungeheure Arbeitsmenge leisten kann mittels einer Maschine. - Mehr konnte er mir nicht sagen, er hatte es sehr eilig, zu dem Professor zu gehen. Nun traf er aber den betreffenden Professor nicht, und er kam zurück und setzte mir die ganze Sache auseinander. Die Geschichte hatte mir gleich etwas nach Perpetuum mobile gerochen - aber, nicht wahr, warum sollte auch so etwas nicht schließlich einmal möglich sein? - Doch nachdem er mir alles erklärt hatte, mußte ich ihm sagen: Ja, sieh einmal, die Sache ist zwar recht scharfsinnig ausgedacht, aber im Praktischen ist das ein Verhältnis, das sich genau vergleichen läßt damit, daß sich jemand in einen Eisenbahnwagen hineinstellt, furchtbar stark anschiebt und meint, der Wagen führe dann fort. So ist das Prinzip des Denkens bei deiner Erfindung. - Er hat es dann auch eingesehen und ist nicht wieder zu dem Professor gegangen.

So kann man sich gewissermaßen einkapseln mit seinem Denken. An ganz besonderen seltenen Fällen zeigt sich dieses Einkapseln auch deutlich; aber im Leben kapseln sich viele Menschen so ein, und es zeigt sich nicht immer so auffällig wie in unserem Beispiel. Derjenige aber, der die Sache etwas intimer beobachten kann, weiß,

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daß so eine große Anzahl menschlicher Denkprozesse verläuft: er sieht oft, wie sozusagen die Menschen im Wagen stehen und von in- nen schieben und nun meinen, daß sie es sind, die den Wagen vorwärtsbringen. Vieles von dem, was im Leben vor sich geht, würde ganz anders vor sich gehen, wenn die Menschen nicht solche im Wagen stehende Schieber wären.

Wirkliche Praxis des Denkens setzt voraus, daß man die richtige Gesinnung, das richtige GefÜhl zum Denken gewinnt. Wie kann man eine richtige Stellung zum Denken gewinnen? Niemand kann das richtige Gefühl zum Denken haben, der glaubt, daß das Denken etwas sei, das sich nur innerhalb des Menschen, in seinem Kopf oder in seiner Seele abspiele. Wer diesen Gedanken hat, der wird fortwährend von einem falschen Gefühl davon abgelenkt werden, eine richtige Denkpraxis zu suchen, die nötigen Anforderungen an sein Denken zu stellen. Wer das richtige Gefühl erlangen will gegenüber dem Denken, der muß sich sagen: Wenn ich mir Gedanken machen kann über die Dinge, wenn ich durch Gedanken etwas ergründen kann über die Dinge, so müssen die Gedanken erst darinnen sein in den Dingen. Die Dinge müssen nach den Gedanken aufgebaut sein, nur dann kann ich die Gedanken auch herausholen aus den Dingen.

Der Mensch muß sich vorstellen, daß es mit den Dingen draußen in der Welt so ist wie mit einer Uhr. Der Vergleich des menschlichen Organismus mit einer Uhr wird sehr häufig gebraucht; aber die Leute vergessen dabei meist das Wichtigste, daß auch ein Uhrmacher vorhanden ist. Man muß sich klar darüber sein, daß nicht von selber zusammengelaufen sind die Räder und sich zusammengefügt haben und machen, daß die Uhr geht, sondern daß es einmal einen Uhrmacher zuvor gegeben hat, der diese Uhr zusammmengefügt hat. Den Uhrmacher darf man nicht vergessen. Durch Gedanken ist die Uhr zustande gekommen, die Gedanken sind gleichsam ausgeflossen in die Uhr, in das Ding. Auch alles, was Naturwerke, Naturgeschehnisse sind, muß man sich so vorstellen. Bei dem, was Menschenwerk ist, da läßt sich das schnell veranschaulichen, bei Naturwerken dagegen, da kann das der Mensch nicht so leicht bemerken, und doch sind auch sie geistige Wirksamkeiten, und dahinter stehen

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spirituelle Wesenheiten. Und wenn der Mensch denkt über die Dinge, so denkt er nur über das nach, was zuerst in sie hineingelegt worden ist. Der Glaube, daß die Welt durch Denken hervorgebracht worden ist und sich noch fortwährend so hervorbringt, der erst macht die eigentliche innere Denkpraxis fruchtbar.

Es ist immer der Unglaube gegenüber dem Geistigen in der Welt, der selbst auf wissenschaftlichem Boden die schlimmste Unpraxis des Denkens hervorbringt. Zum Beispiel, wenn jemand sagt: Unser Planetensystem ist so entstanden, daß zuerst ein Urnebel da war, der fing an zu rotieren, ballte sich zusammen zu einem Zentralkörper, von ihm spalteten sich ab Ringe und Kugeln, und so entstand mechanisch das ganze Planetensystem -, so macht der, der das sagt, einen großen Denkfehler. Schön niedlich bringt man das heute den Menschen bei. In einem niedlichen Experiment zeigt man es heute in jeder Schule: In ein Glas Wasser bringt man einen Tropfen Fett, schiebt eine Nadel durch diesen Fettropfen und bringt das Ganze in Rotation. Da sondern sich dann vom großen Tropfen kleine Tröpfchen ab, und man hat da ein Planetensystem im kleinen, und dem Schüler - so meint man - anschaulich gezeigt, wie rein mechanisch sich das bilden kann. Unpraktisches Denken nur kann an diesen niedlichen Versuch solche Folgerungen anknüpfen, denn der Betreffende, der das überträgt auf das große Weltensystem, der vergißt nur meist etwas, was sonst vielleicht ganz gut ist zu vergessen, er vergißt sich selbst, er vergißt, daß er selbst ja die Sache in Rotation gebracht hat. Wäre er nicht dagewesen und hätte das Ganze gemacht, so wäre niemals die Teilung des Fettropfens in die Tröpfchen entstanden. Wenn der Mensch das auch beobachtete und auf das Planetensystem übertrüge, dann erst wäre vollständiges Denken aufgewendet. Solche Denkfehler spielen heute, besonders auch in dem, was man heute Wissenschaft nennt, eine ungeheuer große Rolle. Diese Dinge sind viel wichtiger, als man gewöhnlich denkt.

Wenn man von wirklicher Denkpraxis reden will, muß man wissen, daß Gedanken nur aus einer Welt herauszuholen sind, in der auch wirklich schon Gedanken darinnen sind. Wie man Wasser nur aus einem Glase schöpfen kann, in dem Wasser wirklich darinnen

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so kann man Gedanken nur aus Dingen schöpfen, in denen sie rinnen sind. Die Welt ist nach Gedanken aufgebaut; nur deshalb kann man Gedanken auch herausholen aus ihr. Wenn das nicht wäre dann könnte überhaupt keine Denkpraxis zustande kommen. ann aber, wenn der Mensch zu Ende empfindet, was hier ausgerochen worden ist, dann wird er über alles abstrakte Denken iöcht hinwegzubringen sein. Wenn der Mensch das volle Vertrauen, daß hinter den Dingen Gedanken stehen, daß die realen Tatsalen des Lebens nach Gedanken verlaufen, dann, wenn er dieseEmpfindung hat, dann wird er leicht sich bekehren zu einer Denkaxis, die auf Wirklichkeit, Realität gebaut ist.

Wir wollen nun etwas von jener Denkpraxis hinstellen, die insbeandere für diejenigen, die auf anthroposophischem Boden stehen, ichtig ist. Wer davon durchdrungen ist, daß die Welt der Tatsaden in Gedanken verläuft, der wird die Wichtigkeit der Ausbildung richtigen Denkens einsehen. Nehmen wir nun an, es sagt sich jeand: Ich will mein Denken so befruchten, daß es wirklich im Leben sich immer zurechtfindet -, so muß er sich an das halten, was Ezt gesagt werden soll. Und was nun angegeben wird, das ist so aufIfassen, daß es tatsächlich praktische Grundsätze sind, und daß es, enn man immer wieder und wieder danach trachtet, sein Denken -nach einzurichten, gewisse Wirkungen hat, daß das Denken dann praktisch wird, wenn es vielleicht auch anfangs nicht so ausschaut. Ja,es stellen sich für das Denken noch ganz andere Erfahrungen ein, enn man solche Grundsätze durchführt.

Nehmen wir an, jemand versucht folgendes: Er beobachtet heute rgfältig einen Vorgang in der Welt, der ihm zugänglich ist, den er möglichst genau beobachten kann, sagen wir zum Beispiel die WitteLng. Er beobachtet die Wolkenkonfiguration am Abend, die Art, 'je die Sonne untergegangen ist und so weiter, und er bildet sich an genau das Bild ein von dem, was er beobachtet hat. Er versucht .e Vorstellung, dieses Bild eine Zeitlang festzuhalten in allen Ein.4heiten; er hält sOviel wie möglich von dieser Vorstellung fest und acht sie sich zu bewahren bis morgen. Morgen beobachtet er unge.hr um dieselbe Zeit, oder aber auch zu einer anderen Zeit, wieder um

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die Witterungsverhältnisse, und er versucht, sich wiederum ein genaues Bild von den Verhältnissen zu machen.

Wenn er auf diese Weise sich genaue Bilder von aufeinanderfolgenden Zuständen macht, so wird es für ihn außerordentlich deutlich werden, wie er sein Denken allmählich innerlich bereichert und intensiv macht, denn dasjenige, was das Denken unpraktisch macht, das ist, daß der Mensch gewöhnlich zu sehr geneigt ist, in den aufeinanderfolgenden Vorgängen in der Welt das, was die Einzelheiten sind, wegzulassen und nur ganz allgemeine, verschwommene Vorstellungen zu behalten. Das Wertvolle, das Wesentliche, was das Denken befruchtet, ist, gerade in aufeinanderfolgenden Vorgängen sich genaue Bilder zu formen und sich dann zu sagen: Gestern war die Sache so, heute ist sie so-, und dabei die beiden Bilder, die in der wirklichen Welt auseinanderliegen, sich möglichst bildlich auch vor die Seele zu rücken.

Es ist dies zunächst nichts anderes als ein spezieller Ausdruck für das Vertrauen in die Gedanken der Realität. Der Mensch soll nicht etwa sofort irgendwelche Schlüsse ziehen und aus dem, was er heute beobachtete, schließen, was nun morgen für Witterung sein wird. Das würde sein Denken korrumpieren. Er soll vielmehr das Vertrauen haben, daß draußen in der Realität die Dinge ihren Zusammenhang haben, daß das Morgige mit dem Heutigen irgendwie zusammenhängt. Er soll nicht spekulieren darüber, sondern das, was zeitlich aufeinanderfolgt, nur zuerst in möglichst genauen Vorstellungsbildern in sich selbst nachdenken und dann diese Bilder zunächst nebeneinanderstehen und sie ineinander übergehen lassen. Dies ist ein ganz bestimmter Denkgrundsatz, den man ausführen muß, wenn man wirklich sachgemäßes Denken entwickeln will. Es ist gut, diesen Grundsatz gerade an solchen Dingen durchzuführen, die man noch nicht versteht, bei denen man noch nicht eingedrungen ist in den inneren Zusammenhang. Deshalb soll man gerade bei solchen Vorgängen, von denen man noch nichts versteht, wie zum Beispiel die Witterung, das Vertrauen haben, daß sie, die draußen zusammenhängen, auch in uns Zusammenhänge bewirken; und das soll mit Enthaltung vom Denken geschehen, nur in Bildern. Man

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muß sich Sagen: Ich weiß noch nicht den Zusammenhang, aber ich werde diese Dinge in mir leben lassen, und sie werden in mir etwas bewirken, wenn ich gerade die Enthaltung vom Spekulieren übe. -

Sie werden leicht glauben können, daß, wenn der Mensch so, mit Enthaltung vom Denken, sich möglichst genaue Bildvorstellungen macht von aufeinanderfolgenden Vorgängen, daß da etwas vorgehen kann in den unsichtbaren Gliedern des Menschen.

Der Mensch hat den astralischen Leib als Träger des Vorstellungslebens. Dieser astralische Leib ist, solange der Mensch spekuliert, der Sklave des Ich. Aber er geht nicht in dieser bewußten Tätigkeit auf, er steht auch in einer gewissen Beziehung zum ganzen Kosmos.

In demselben Maße nun, in dem wir uns enthalten, unsere Denkwillkür wirken zu lassen, in dem wir ganz enthaltsam bloß Bildvorstellungen von aufeinanderfolgenden Ereignissen uns machen, in demselben Maße wirken die inneren Gedanken der Welt in uns und prägen sich unserem Astralleib ein, ohne daß wir es wissen. Wie wir uns fügen in den Gang der Welt durch Beobachtung der Vorgänge in der Welt und die Bilder möglichst ungetrübt in unsere Gedanken aufnehmen und in uns wirken lassen, in demselben Maße werden wir in den Gliedern, die unserem Bewußtsein entzogen sind, immer gescheiter. Wenn wir es dann einmal können, bei solchen Vorgängen, die in einem inneren Zusammenhang stehen, das neue Bild in das andere übergehen zu lassen, so wie sich dieser Übergang in der Natur vollzogen hat, dann werden wir nach einiger Zeit sehen, daß unser Denken so etwas bekommen hat wie eine gewisse Geschmeidigkeit.

So sollen wir vorgehen bei Dingen, die wir noch nicht verstehen; aber Dingen gegenüber, die wir verstehen, sollen wir uns etwas anders verhalten, zum Beispiel Vorgängen unseres alltäglichen Lebens gegenüber, die sich um uns abspielen. Es habe zum Beispiel irgend jemand, vielleicht der Nachbar, dieses oder jenes getan. Wir denken nach: Warum hat er das getan? - Wir denken uns, er habe es vielleicht heute getan als Vorbereitung für etwas, das er morgen tun wolle. Nun sagen wir nichts weiter, sondern wir stellen uns genau vor, was er getan hat und versuchen nun, uns ein Bild auszumalen

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von dem, was er morgen tun werde. Wir stellen uns vor: Das wird er morgen tun - und warten ab, was er wirklich tun werde. Es kann sein, daß wir morgen bemerken, er tut wirklich das, was wir uns ausgemalt haben. Es kann auch sein, daß er etwas anderes tut. Wir werden sehen, was geschieht, und suchen unsere Gedanken danach zu verbessern.

So suchen wir uns in der Gegenwart Ereignisse, die wir in Gedanken in die Zukunft hinein verfolgen, und warten ab, was sich ereignet. Wir können das machen mit dem, was Menschen tun, und mit anderen Dingen. Wo wir eben etwas verstehen, da versuchen wir uns ein Bild zu machen von dem, was nach unserer Meinung geschehen wird. Tritt das Erwartete ein, so war unser Denken richtig; und es ist gut. Geschieht etwas anderes als was wir erwartet haben, dann versuchen wir darüber nachzudenken, worin wir den Fehler gemacht haben, und versuchen so, unsere falschen Gedanken zu korrigieren durch ruhiges Beobachten und Prüfen, woran der Fehler lag, woraus es entspringt, daß es so gekommen ist. Haben wir das Richtige getroffen, dann wollen wir uns aber ganz besonders sorgfältig davor hüten, zu prunken mit unserer Prophetie: Ja, das habe ich gestern schon gewußt, daß das so kommt!

Das war wiederum ein Grundsatz, aus dem Vertrauen entspringend, daß eine innere Notwendigkeit in den Dingen und Ereignissen selbst liegt, daß in den Tatsachen selbst etwas liegt, das die Dinge vorwärtstreibt. Und was da drinnen arbeitet von heute auf morgen, das sind Gedankenkräfte. Vertiefen wir uns in die Dinge, dann werden wir dieser Gedankenkräfte uns bewußt. Diese Gedankenkräfte machen wir in unserem Bewußtsein gegenwärtig durch solche Übungen, und wir stimmen dann überein mit ihnen, wenn sich das erfüllt, was wir vorausgesehen haben; dann stehen wir durch unsere Denktätigkeit mit der realen Sache in einem inneren Zusammenhang. So gewöhnen wir uns daran, nicht willkürlich, sondern aus der inneren Notwendigkeit, der Natur der Dinge heraus, zu denken.

Aber auch nach anderer Richtung können wir unsere Denkpraxis schulen. Irgendein Ereignis, das heute geschieht, steht auch in Beziehung zu dem, was gestern geschehen ist, zum Beispiel irgendein

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Junge ist ungezogen gewesen; welches können die Ursachen sein? Dir verfolgen die Ereignisse zurück von heute auf gestern, wir konstriiieren uns die Ursachen, die wir nicht wissen. Wir sagen uns:Ich glaube, weil heute dies geschieht, so hat sich das gestern oder )rgestern durch dieses oder jenes vorbereitet.

Man unterrichtet sich dann darüber, was wirklich geschehen ist, id erkennt dadurch, ob man richtig gedacht hat. Hat man die richtige Ursache gefunden, so ist es gut; hat man sich eine falsche Vorstellung gemacht, so versuche man, sich die Fehler klarzumachen zu finden, wie der Gedankenprozeß sich entwickelt hat und wie die Sache in der Wirklichkeit abgelaufen ist.

Diese Grundsätze auszuführen, ist das Bedeutsame: daß wir wirk:h Zeit finden, die Dinge so zu betrachten, als ob wir in den Dinn drin wären mit unserem Denken, daß wir uns hineinversenken die Dinge, in die innere Gedankentätigkeit der Dinge. Wenn wir s tun, dann merken wir nach und nach, wie wir förmlich zusamanwachsen mit den Dingen, wie wir gar nicht mehr das Gefühl han, daß die Dinge draußen sind und wir drinnen und über sie nachnken, sondern ein Gefühl bekommen, wie wenn unser Denken sich in den Dingen drinnen bewegte. Wenn der Mensch das in ehem Grade erreicht hat, so kann ihm manches klarwerden.

Ein Mensch, der in hohem Grade erreicht hatte, was so zu erreien ist, ein solcher Denker, der immer in den Dingen drinnenstand lt seinen Gedanken, das war Goethe. Der Psychologe Heinroth hat 22 in seinem «Lehrbuch der Anthropologie» gesagt, daß Goethes nken ein gegenständliches Denken sei. Goethe selbst hat sich er diese Bemerkung gefreut. Sie sollte besagen, solches Denken

ndere sich nicht ab von den Dingen; es bleibe in den Dingen drinn, es bewege sich innerhalb der Notwendigkeit der Dinge. Goethes Denken war zugleich ein Anschauen, sein Anschauen zugleich Denken.

Goethe hat es sehr weit gebracht in solchem entwickelten Denri. So ist es mehr als einmal vorgekommen: Goethe hatte irgend vas vor, ging zum Fenster und sagte zu dem, der gerade da war: In drei Stunden wird es regnen -, und es geschah so. Er konnte aus dem

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kleinen Ausschnitt des Himmels, den er durchs Fenster sah, sagen, was in den nächsten Stunden vorgehen werde in den Witterungsverhältnissen. Sein treues, in den Dingen bleibendes Denken hatte es ihm möglich gemacht, zu spüren, was sich da vorbereitete aus dem vorhergehenden als das spätere Ereignis.

Wirklich viel mehr kann man erreichen durch ein praktisches Denken, als man gewöhnlich meint. - Wenn man das hat, was nun geschildert wurde, an Grundsätzen für das Denken, dann wird man bemerken, daß nun wirklich das Denken praktisch wird, daß der Blick sich erweitert und man die Dinge der Welt ganz anders ergreift als ohne dies. Der Mensch wird nach und nach sich ganz anders stellen zu den Dingen und auch zu den Menschen. Es ist ein wirklicher Prozeß, der in ihm vorgeht, der sein ganzes Verhalten verändert. Es kann von ungeheurer Wichtigkeit sein, daß der Mensch tatsächlich versucht, so mit den Dingen durch sein Denken zusammenzuwachsen; denn es ist ein im eminentesten Sinne praktischer Grundsatz für das Denken, solche Übungen zu machen.

Eine andere Sache ist eine Übung, die insbesondere diejenigen Leute machen sollten, denen gewöhnlich im rechten Moment nicht das Rechte einfällt. Dasjenige, was solche Menschen machen sollten, das besteht darin, daß sie vor allen Dingen versuchen sollen, nicht bloß so zu denken, daß sie sich in jedem Augenblick dem hingeben, was der Weltenlauf so mit sich bringt, was die Dinge so mit sich bringen. Es ist ja das Allerhäufigste, daß, wenn der Mensch einmal eine halbe Stunde sich hinlegen kann, um sich auszuruhen, daß er dann seine Gedanken spielen läßt. Dann spinnt sich das so aus ins Hundertste und Tausendste. Oder es beschäftigt ihn vielleicht diese oder jene Sorge im Leben - flugs ist sie in sein Bewußtsein geschlichen und er ist ganz in Anspruch genommen von ihr. Macht der Mensch dieses, so wird er niemals dazu kommen, im richtigen Moment den richtigen Einfall zu haben. Will er das erreichen, so muß er sich folgendermaßen verhalten. Hat er eine halbe Stunde Zeit sich auszuruhen, so muß er sich sagen: Ich will, so oft ich Zeit habe, über etwas nachdenken, was ich mir selbst auswähle, was ich nur durch meine Willkür in mein Bewußtsein hereinbringe. Ich will jetzt zum

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Beispiel über irgend etwas, was ich vielleicht früher erlebt habe, vielleicht bei einem Spaziergang vor zwei Jahren, nachdenken, ich will die damaligen Erlebnisse ganz willkürlich in mein Denken herein- bringen und will darüber - sei es vielleicht nur fÜnf Minuten - nach denken. Alles übrige, fort damit für diese fünf Minuten! Selbst wähle ich mir das, worüber ich nachdenken will. Die Wahl braucht nicht einmal so schwierig zu sein, wie ich gerade gesagt habe. Darauf kommt es zunächst gar nicht an, daß man durch schwierige Übungen in seinen Denkprozeß hineinwirkt, sondern daß man sich herausreißt aus dem, in was man hineingezogen wird durch das Leben. Es muß nur etwas sein, was herausfällt aus dem, wohinein man gesponnen wird durch den gewöhnlichen Tagesverlauf. Und wenn man an Einfallslosigkeit leidet, wenn einem gerade nichts anderes einfällt, so kann man sich zu Hilfe kommen, indem man ein Buch aufschlägt und über das nachdenkt, was man gerade liest auf den ersten Blick. Oder auch, man sagt sich: Ich werde heute einmal über das nachdenken, was ich sah, als ich zu bestimmter Zeit vormittags ins Geschäft gegangen bin und das ich sonst würde unberücksichtigt gelassen haben. Es muß eben etwas sein, was aus dem gewöhnlichen Tageslauf herausfällt, worüber man sonst nicht nachgedacht hätte.

Macht man solche Übungen systematisch immer und immer wieder, dann tritt das ein, daß man Einfälle kriegt zur rechten Zeit, daß einem zur richtigen Zeit das einfällt, was einem einfallen soll. Das Denken wird dadurch in Beweglichkeit kommen, und das ist ungeheuer bedeutungsvoll für den Menschen im praktischen Leben.

Eine andere Übung ist besonders geeignet, auf das Gedächtnis zu wirken. Man versucht zunächst, sich in der groben Art, wie man sich gewöhnlich an Dinge erinnert, an irgendein Ereignis, sagen wir von gestern, zu erinnern. Gewöhnlich sind die Erinnerungen der Menschen ja grau in grau; in der Regel ist man ja zufrieden, wenn ei- nem nur der Name des Menschen einfällt, dem man gestern begegnet ist. Aber damit dürfen wir nicht zufrieden sein, wenn wir unser Gedächtnis ausbilden wollen. Das müssen wir uns klarmachen. Wir müssen systematisch folgendes treiben, wir müssen uns sagen: Ich will mich ganz genau erinnern an den Menschen, den ich gestern gesehen

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habe, auch an welcher Hausecke ich ihn gesehen habe; was noch um ihn herum war. Das Bild will ich mir genau ausmalen, auch seinen Rock, seine Weste will ich mir bildlich genau vorstellen. - Da werden die meisten Menschen bemerken, daß sie das gar nicht können, daß ihnen das gar nicht möglich ist. Sie werden bemerken, wieviel ihnen fehlt, um eine wirkliche bildhafte Vorstellung zu bekommen von dem, was ihnen gestern begegnet ist und was sie gestern erlebt haben.

Wir müssen nun zunächst ausgehen von den weitaus meisten Fällen, in denen der Mensch nicht in der Lage ist, sich das wieder in Er- innerung zu rufen, was er gestern erlebt hat. Die Beobachtung der Menschen ist eine wirklich im höchsten Maße ungenaue. - Ein Versuch eines Universitätsprofessors mit seinen Hörern hat gezeigt, daß von dreißig Anwesenden nur zwei den Vorgang richtig, die anderen achtundzwanzig dagegen falsch beobachtet hatten. - Ein gutes Gedächtnis ist nun aber das Kind einer treuen Beobachtung. Zur Entwickelung des Gedächtnisses kommt es also gerade darauf an, daß man genau beobachte. Ein gutes Gedächtnis erringt man durch treue Beobachtung, auf einem gewissen seelischen Umwege wird das treue Gedächtnis als Kind einer guten Beobachtung geboren.

Wenn man nun aber das nicht kann, zunächst sich genau erinnern an das, was man gestern erlebt hat, was tut man da? Zunächst versuche man, sich möglichst genau zu erinnern, und wo man sich nicht erinnert, da versuche man nun tatsächlich sich etwas Falsches vorzustellen, nur etwas Ganzes soll es sein. Nehmen wir an, Sie hätten ganz vergessen, ob jemand, der Ihnen begegnet ist, einen braunen oder einen schwarzen Rock angehabt hat, so stellen Sie sich vielleicht vor, er habe einen braunen Rock und braune Beinkleider an- gehabt; er habe solche und solche Knöpfe an der Weste gehabt, die Halsbinde war gelb - und da war jene Situation, die Wand war gelb, links ist ein großer, rechts ein kleiner Mensch vorbeigegangen und so weiter.

Das, woran man sich erinnert, das stellt man sich hinein in das Bild; nur das, woran man sich nicht erinnern kann, das ergänzt man, um nur im Geiste ein vollständiges Bild zu gewinnen. Das Bild ist ja

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dann zunächst falsch, aber dadurch, daß Sie sich bemühen, ein voll- ständiges Bild zu bekommen, dadurch werden Sie angeleitet, von jetzt ab genauer zu beobachten. Und das setzen Sie fort, solche Übungen zu machen. Und wenn Sie das fünfzigmal gemacht haben, so werden Sie das einundfünfzigste Mal ganz genau wissen, wie derjenige, der Ihnen begegnet ist, ausgesehen hat, was er angehabt hat; Sie werden sich genau an alles erinnern, bis auf die Westenknöpfe. Sie werden dann nichts mehr übersehen, und es prägt sich Ihnen jede Einzelheit ein. Sie haben so zuerst Ihren Beobachtungssinn geschärft durch die Übungen und dann eine Aufbesserung in der Treue Ihres Gedächtnisses als das Kind des Beobachtungssinnes hinzubekommen.

Besonders gut ist, darauf zu sehen, nicht bloß Namen und einzelne Hauptzüge dessen zu behalten, an was man sich erinnern will, sondern möglichst bildhafte Vorstellungen zu erhalten suchen, die sich auf alle Einzelheiten erstrecken; und wenn man sich an etwas nicht erinnern kann, so sucht man das Bild zunächst zu ergänzen, es zu einem Ganzen zu konstruieren. - Dann werden wir bald sehen - wie auf Umwegen scheint es -, daß unser Gedächtnis nach und nach treu wird.

So sehen wir, wie man tatsächlich - wie Handgriffe - angeben kann dasjenige, wodurch der Mensch sein Denken immer praktischer und praktischer machen kann. Besonders wichtig ist noch das Folgende: Der Mensch hat eine gewisse Sehnsucht, wenn er sich etwas überlegt, zu einem Resultat zu kommen. Er überlegt sich, wie er dieses oder jenes machen soll, und er kommt zu diesem oder jenem Resultat. Das ist ein sehr begreiflicher Trieb. Das ist aber nicht dasjenige, was einen zum praktischen Denken führt. Jedes Überhasten im Denken bringt nicht vorwärts, sondern bringt zurück. Man muß Geduld haben in diesen Dingen.

Du sollst zum Beispiel dieses oder jenes ausführen: Du kannst das nun so oder so machen, es liegen verschiedene Möglichkeiten vor.

Nun habe man die Geduld und versuche sich vorzustellen, was da werden würde, wenn man es so ausführte, und versuche sich auch vorzustellen, wie es anders aussehen würde. Nun wird es ja immer

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Gründe geben, warum man das eine oder das andere vorziehen möchte, aber nun enthalte man sich, sofort einen Entschluß zu fassen, sondern bemühe sich, zwei Möglichkeiten auszumalen und sich dann zu sagen: So, jetzt Schluß, jetzt höre ich auf, über die Sache nachzudenken.

Es wird Menschen geben, die werden zapplig werden dabei; und es ist dann schwierig, die Zappligkeit zu überwinden, aber es ist ungeheuer nützlich, sie zu überwinden und sich zu Sagen: Es geht so und es geht so, und nun denke ich eine Weile nicht daran. Wenn man kann, so hebe man die Sache, das Handeln bis zum nächsten Tage auf und halte sich dann die zwei Möglichkeiten wieder vor, und man wird finden, daß die Dinge sich mittlerweile verändert haben, daß wir am nächsten Tage anders, gründlicher wenigstens uns entscheiden, als wir am Vortage uns entschieden hätten. Die Dinge haben eine innere Notwendigkeit in sich, und wenn wir nicht ungeduldig willkürlich handeln, sondern diese innere Notwendigkeit arbeiten lassen in uns - und sie wird in uns arbeiten -, so wird sie unser Denken bereichert erscheinen lassen am nächsten Tage und uns eine richtigere Entscheidung ermöglichen. Das ist ungeheuer nützlich!

Man wird zum Beispiel um Rat gefragt über dieses oder jenes, man hat irgend etwas zu entscheiden. Da habe man die Geduld, nicht gleich hineinzuplatzen mit seinen Entscheidungen, sondern sich zunächst verschiedene Möglichkeiten vorzulegen und bei sich selbst keine Entscheidung darüber zu treffen, sondern ruhig die Möglichkeiten walten zu lassen. Man sagt ja auch im Volksmunde, man müsse eine Sache beschlafen, ehe man sie entscheide. Das Beschlafen allein tut es aber nicht. Es ist notwendig, zwei oder besser mehrere Möglichkeiten zu bedenken, die dann In einem fortarbeiten, wenn man sozusagen nicht mit seinem bewußten Ich dabei ist, und dann später wieder auf die Sache zurückzukommen. Man wird sehen, daß man auf diese Weise innere Denkkräfte rege macht und das Denken dadurch immer sachgemäßer und praktischer wird.

Und was der Mensch auch immer ist in der Welt, ob er am Schraubstock oder hinter dem Pflug steht oder ob er einer der sogenannten bevorzugten Berufsklassen angehört -, über die alleralltäglichsten

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Dinge wird er ein praktischer Denker werden, wenn er diese Dinge übt. So übend greift und sieht er die Dinge in der Welt nz anders an. Und so innerlich sich diese Übungen zuerst auch ansehen, sie taugen gerade für die Außenwelt, sie tragen gerader die Außenwelt die denkbar größte Bedeutung in sich; sie haben .chtige Folgen.

Ich will Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie notwendig es ist, rklich praktisch über die Dinge zu denken: Irgend jemand ist auf ier Leiter hinaufgestiegen auf einen Baum und hat da irgend etwas macht; er fällt herunter, schlägt auf und ist tot. Nun, nicht wahr, ist ein naheliegender Gedanke, daß der sich da durch den Fall totgeschlagen hat. Man wird Sagen, daß der Fall die Ursache, der Tod Wirkung war. Da scheinen Ursache und Wirkung zusammenzungen. Darinnen können nun greuliche Verwechslungen vorlien. - Es kann den da oben ein Herzschlag getroffen haben, so daß infolge des Herzschlages heruntergefallen ist. Es ist genau dasselbe igetroffen, wie wenn er lebendig heruntergefallen wäre, er hat dieben Dinge durchgemacht, die wirklich seine Todesursache hätten n können. - So kann man Ursache und Wirkung vollständig ver.chseln. Hier in diesem Beispiel ist es auffällig; oft aber ist es nicht auffällig, was man verfehlt hat. Solche Denkfehler kommen ungeuer häufig vor, ja es muß gesagt werden, daß in der Wissenschaft ,ite tagtäglich solche Urteile gefällt werden, wo wirklich in einer .chen Art Ursache und Wirkung verwechselt werden. Das begrei die Menschen nur nicht, weil sie sich nicht die Denkmöglichlten vorhalten.

Ein Beispiel soll noch gegeben werden, das Ihnen ganz anschauFi machen kann, wie solche Denkfehler zustande kommen, und Ihnen zeigt, daß sie einem Menschen, der solche Übungen ge~ht hat, wie sie heute angegeben wurden, nicht mehr passieren rden. Nehmen Sie folgendes an: Ein Gelehrter sagt sich, daß der Mensch, wie er heute ist, vom Affen abstammt; also: das, was ich in i Affen kennenlerne, die Kräfte im Affen, die vervollkommnen, und daraus wird dann der Mensch. - Nun, um jetzt die Gedanibedeutung der Sache darzutun, wollen wir einmal folgende Vor- aussetzung

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machen: Denken wir einmal, der Mensch, der diesen Schluß anstellen soll, der wäre durch irgendeinen Umstand ganz allein auf die Erde versetzt. Außer ihm wären nur diejenigen Affen da, von denen seine Theorie sagt, daß Menschen aus ihnen entstehen können. Er studiert nun diese Affen ganz genau, er bildet sich bis in die Einzelheiten einen Begriff von dem, was da ist in den Affen. Nun soll er versuchen, aus dem Begriff des Affen den Begriff des Menschen entstehen zu lassen, wenn er noch nie einen Menschen gesehen hat. Er wird sehen, daß er das nie zustande bringt: Sein Begriff «Affe» verwandelt sich nie in den Begriff des Menschen.

Wenn er richtige Denkgewohnheiten hätte, so müßte er sich sagen: Also, mein Begriff, der wandelt sich in mir nicht so um, daß aus dem Affenbegriff der Menschenbegriff wird, also kann dasjenige, was ich sehe im Affen, nicht zum Menschen werden, denn sonst müßte mein Begriff auch übergehen. Es muß also noch etwas hinzukommen, was ich nicht sehen kann. - Dieser Mensch also müßte hinter dem sinnlichen Affen etwas Übersinnliches sehen, was er nicht wahrnehmen kann, was dann erst zum Menschen übergehen könnte.

Wir wollen auf die Unmöglichkeit der Sache nicht eingehen, sondern nur den Denkfehler zeigen, der hinter jener Theorie liegt. Wenn der Mensch richtig denken würde, so würde er darauf geführt werden, daß er nicht so denken darf, wenn er nicht etwas Übersinnliches voraussetzen will. Wenn Sie über die Sache nachdenken, so werden Sie schon sehen, daß hier von einer ganzen Reihe von Menschen ein überwältigender Denkfehler gemacht worden ist. Solche Fehler werden nicht mehr gemacht werden von dem, der in der angegebenen Weise sein Denken schult.

Ein großer Teil unserer ganzen heutigen Literatur, besonders auch der naturwIssenschaftlichen, wird für den, der wirklich richtig zu denken vermag, durch solche krummen, verkehrten Gedanken eine Quelle von Wirkungen bis zu physischen Schmerzen, wenn er sich durch sie hindurchlesen muß. - Es soll dadurch absolut nichts gesagt werden gegen die ungeheure Summe von Beobachtungen, die durch diese Naturwissenschaft und ihre objektiven Methoden gewonnen worden ist.

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Nun kommen wir auf ein Kapitel, das zusammenhängt mit der urzsichtigkeit des Denkens. Es ist wirklich so, daß der Mensch geähnlich nicht weiß, daß sein Denken gar nicht sehr sachgemäß, andern zum größten Teil nur eine Folge von Denkgewohnheiten ;t. So werden denn auch die Urteile für den, der die Welt und das eben durchschaut, sich ganz anders gestalten als für den, der diese icht oder nur wenig durchschaut, zum Beispiel für einen materiali:ischen Denker. - Durch Gründe so jemanden zu überzeugen,wenn sIe auch noch so gediegen und noch so gut sind, das geht nicht .leicht. Denjenigen, der das Leben wenig kennt, durch Gründe zu berzeugen suchen, ist oft vergebliche Mühe, weil er ja gar nicht die Gründe einsieht, aus denen dieses oder jenes behauptet werden ann. Wenn er sich angewöhnt hat, in allem zum Beispiel nur Materie zu sehen, so haftet er eben an dieser Denkgewohnheit.

Es sind heute im allgemeinen nicht die Gründe, die jemanden zu ehauptungen führen, sondern hinter den Gründen sind es die enkgewohnheiten, die er sich angeeignet hat und die sein ganzes ühlen und Empfinden beeinflussen. Wenn er Gründe vorbringt, da stellt sich nur vor seIn Fühlen und Empfinden die Maske des wohnten Denkens. So ist oft nicht nur der Wunsch der Vater es Gedankens, sondern es sind alle Gefühle und Denkgewohnhei.n die Eltern der Gedanken. Derjenige, der das Leben kennt, weiß, 'ie wenig durch logische Gründe jemand zu überzeugen ist im eben. Da entscheidet viel Tieferes in der Seele als die logischen Gründe.

Wenn wir zum Beispiel unsere anthroposophische Bewegung han, so hat es gewiß seine guten Gründe, daß wir sie haben und daß e arbeitet in ihren Zweigen. Jeder merkt dadurch, daß er eine Zeitlang mitarbeitet an der Bewegung, daß er sich ein anderes Denken, uööMen und Empfinden angeeignet hat. Denn durch das Arbeiten in den Zweigen beschäftigt man sich nicht bloß damit, die logischen ründe zu finden für etwas, sondern ein umfassenderes Fühlen und mpfinden eignet man sich an.

Wie spottete unter Umständen vor ein paar Jahren ein Mensch, .der zum ersten Male einen geisteswissenschaftlichen Vortrag hörte -

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und heute, wieviel Dinge sind ihm nun durchaus klar und durchsIchtig, die er vielleicht vor einiger Zeit noch für etwas höchst Absurdes gehalten hätte! Wir wandeln, indem wir an der anthroposophischen Bewegung mitarbeiten, nicht bloß unsere Gedanken um, sondern wir lernen, unsere ganze Seele in eine weitere Perspektive hineinzubringen. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Färbung unserer Gedanken aus viel tieferen Untergründen herauskommt, als man gewöhnlich meint. Es sind gewisse Empfindungen, gewisse Gefühle, die dem Menschen eine Meinung aufdrängen. Die logischen Gründe sind oft nur eine Verbrämung, sind nur die Masken für Gefühle, Empfindungen und Denkgewohnheiten.

Sich dahin zu bringen, daß einem die logischen Gründe etwas bedeuten, dazu gehört, daß man die Logik selbst lieben lernt. Erst wenn man die Objektivität, das Sachgemäße lieben lernt, werden die logischen Gründe entscheidend werden. Man lernt allmählich, sozusagen unabhängig von der Vorliebe für diesen oder jenen Gedanken, objektiv denken, und dann erweitert sich der Blick, und man wird praktisch; nicht so praktisch, daß man nur in ausgefahrenen Bahnen weiter urteilen kann, sondern so, daß man aus den Dingen heraus denken lernt.

Wirkliche Praxis ist ein Kind des sachgemäßen Denkens, des aus den Dingen herausfließenden Denkens. Wir lernen erst, uns von den Dingen anregen zu lassen> wenn wir solche Übungen machen; und zwar an gesunden Dingen müssen solche Übungen gemacht werden. Das sind solche Dinge, an denen die menschliche Kultur möglichst wenig Anteil hat, die am wenigsten verkehrt sind: an Naturobjekten. Und an Naturobjekten so üben, wie wir das heute beschrieben haben, das macht uns zu praktischen Denkern. Das ist wIrklich praktisch. Die alleralltäglichste Beschäftigung wird praktisch angegriffen werden, wenn wir das Grundelement schulen: das Denken. Indem wir die menschliche Seele so üben, wie das ausgeführt worden ist, bildet sich praktische Denkorientierung.

Es muß die Frucht der geisteswissenschaftlichen Bewegung sein, daß sie wirklich Praktiker ins Leben stellt. Es ist nicht so wichtig, daß der Mensch dieses oder jenes für wahr halten kann, sondern daß

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er es dahin bringe, die Dinge richtig zu überschauen. Viel wichtiger ist die Art und Weise, wie Anthroposophie eindringt in unsere Seele und uns anleitet zur Tätigkeit unserer Seele und unseren Blick erweitert, als daß wir bloß über die sinnlichen Dinge hinaus- und ins Geistige hineintheoretisieren. Darin ist die Anthroposophie etwas wahrhaft Praktisches.

Das ist eine wichtige Mission der anthroposophischen Bewegung, daß durch sie des Menschen Denken in Bewegung gebracht wird, so geschult wird, daß er denkt, daß der Geist hinter den Dingen steht. Wenn die anthroposophische Bewegung diese Gesinnung entfacht, dann wird sie eine Kultur begründen, aus der nie ein solches Denken hervorgehen wird, daß die Leute von innen den Wagen anschieben wollen. Das fließt ganz von selbst in die Seele hinein. Wenn die Seele gelernt hat, über die großen Tatsachen des Lebens zu denken, dann denkt sie auch über den Suppenlöffel richtig. Und nicht nur in bezug auf das, was den Suppenlöffel betrifft, werden die Menschen praktischer werden, sie werden auch lernen, einen Nagel praktischer eInzuschlagen, ein Bild praktischer aufzuhängen, als sie das sonst getan hätten. Das ist von großer Bedeutung, daß wir das seelisch-geistige Leben als ein Ganzes betrachten lernen und daß wir durch solche Anschauung alles praktischer und praktischer gestalten lernen.

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ANHANG

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FRIEDRICH NIETZSCHE IM LICHTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Düsseldorf, 10. Juni 1908

Heute darf ich beginnen mit einem eigenen Erlebnis. Es war mir ein- mal die Gelegenheit gegeben, nachmittags, etwa um zwei Uhr, einen Mann zu besuchen. Dieser liegt auf einem Ruhebett und er scheint zunächst so in die eigenen Gedanken versunken, daß er nicht bemerkt, daß ich und ein anderer eingetreten sind. Er sinnt weiter und scheint nicht die Umstehenden zu beachten. Man kann - und ich bitte, jedes Wort auf die Waagschale zu legen - den Eindruck empfangen, man stehe vor einem Menschen, welcher den ganzen Vormittag intensiv mit schweren Fragen und Problemen beschäftigt war, dann zu Mittag gegessen hat und jetzt diese Zeit benutzt, daß er durch die Seele noch einmal hindurchziehen läßt, was er gearbeitet hat. Man kann den Eindruck empfangen von dieser Persönlichkeit, die bis zur Brust durch eine Decke verhüllt ist, von einem ungemein frischen Menschen, dessen Geistesfrische sich ausdrückt auch in der frischen Gesichtsfarbe. Man kann den Eindruck empfangen einer ganz seltenen Menschenstirne, die eigentlich eine Kombination ist von einer schönen Künstlerstirne und einer Denkerstirne, den Eindruck von einer Persönlichkeit, die vollständig frisch über die großen Menschheitsprobleme nachsinnt. Diese Persönlichkeit, die in dieser Weise den Menschen, der sie sah, hätte beeindrucken können, war` in der Zeit, als sie dieses Bild bot, bereits mehr als drei Jalire wahnsinnig. Solche Augenblicke, wie der beschriebene, wechselten mit furchtbaren, aber wir wollen diesen Augenblick festhalten.

Die Persönlichkeit war Friedrich Nietzsche, den ich vorher nicht sah und nachher nicht mehr sehen konnte. Sie können ermessen, daß ein solcher Anblick vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus an sich etwas tief Bedeutsames ist. Weil eigentlich die Beschreibung dem wahren Tatbestand widerspricht, sagte ich: Man hätte diesen Eindruck empfangen können.

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Man muß sich ein eigentümliches Phänomen vor Augen halten: daß zwischen dem Inneren und Äußeren ein Widerspruch entsteht. Nietzsche wußte damals nichts mehr von seinem Schaffen. Er wußte nicht, daß er seine Schriften geschrieben, kannte seine Umgebung nicht und was dergleichen mehr ist. Und dennoch lag er so frisch, wie von einem tiefen Gedanken durchdrungen auf dem Ruhebett, und man hätte in sich eine merkwürdige Empfindung davontragen können, die da diejenigen besser verstehen werden, die sich schon längere Zeit mit geistigen Problemen beschäftigt haben, die Empfindung nämlich: Wie kommt es, daß diese Seele immer noch diesen Leib umschwebt?

Ein tiefes Eingehen auf Nietzsches Persönlichkeit und seine Geistesarbeit kann in gewisser Weise Antwort auf diese Frage geben. In der Tat haben wir in Nietzsche eine ganz eigenartige Persönlichkeit vor uns. Es wird kaum irgendeinem gelingen, in sein Wesen einzudringen, der irgendwie auf dem Standpunkt steht: Entweder nehme ich an oder ich lehne ab -, der nicht selbstlos sich einlassen kann auf das, was diese Persönlichkeit an sich war. Es kann sein, daß gerade Anthroposophen meine Schrift «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit» übelnehmen. Denn es liegt in der Natur unserer Zeit, daß sie sagt: Nun ja, wer so über Nietzsche spricht, der muß auch Nietzscheaner sein. - Ich kann aber sagen: Wäre es mir nicht gelungen, das zur Tatsache zu machen: mich zu vertiefen in eine Persönlichkeit, ohne meine eigenen Erlebnisse zu bedenken, so würde ich heute nicht so davon sprechen, wie ich davon sprechen kann und darf.

Es gibt einen Standpunkt der unabhängigen Objektivität. Das ist, als ob man das Sprachrohr des anderen Wesens wäre. Bei Friedrich Nietzsche ist diese Art der Betrachtung auch um seiner selbst willen nötig. Es würde wahrscheinlich auf die Persönlichkeit Nietzsches, wenn er heute innerhalb des Gehirnes wahrnehmen könnte, das einen merkwürdigen Eindruck machen, was Nietzsches Anhänger und Gegner schreiben. Beides würde ihn dann höchst merkwürdig berühren. Er würde einen Abscheu haben vor allen seinen Taten. Sein Wort würde ihm vor der Seele stehen: «Was liegt an allen

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Gläubigen ...; erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.» Und nunmehr, nachdem wir die Empfindung hingestellt haben, die wir an Nietzsches Krankenlager hätten empfangen können, wollen wir versuchen, uns ein Bild von Nietzsche zu machen, wie es durch sich selbst und durch das neuzeitliche Geistes- leben erscheint.

Ganz anders als mancher andere Geist, stand Nietzsche in dieser Zeit da. Wir erfassen die Eigenart seiner Seele vielleicht am besten dadurch, daß wir sagen, daß vieles, was für andere Menschen Begriff, Vorstellung, Idee, Überzeugung war, für ihn Empfindung, Gefühl, innerstes Erlebnis wurde. Lassen wir vor unsere Seele treten wie im Fluge die Bilder des neuzeitlichen Geisteslebens der letzten fünfzig bis sechzig Jahre, die auch an ihm vorüberzogen. Der Materialismus der fiinfziger Jahre, der in fast allen Kulturländern seine Bekenner hatte, sagte: Nichts ist real als die Materie und ihre Bewegung. Daß der Stoff sich so gestaltet, wie wir ihn sehen, bewirkt die Bewegung. Im Gehirn bewirkt die Bewegung den Gedanken. - Wir gedenken der Zeit, da man sagte, daß die Sprache eine Ausbildung der tierischen Laute sei. Wir denken auch daran, daß das Erlebnis und die Empfindung als höhere Instinkte gedacht wurden. Wir denken daran, daß es nicht die schlechtesten Geister waren, die solche Gedanken ausprägten. Die würdigsten, konsequentesten fanden darin so- gar eine gewisse Befriedigung. Es war nicht einer, die also gedacht hätte: Ich sehe nicht mit Befriedigung das Herrschen der Materie. - Die meisten sagten: Ich finde die höchste Seligkeit in dem Gedanken, daß alles sich auflösen soll. - Daran konnten sich viele berauschen. Wir gedenken der Tatsache, daß darin auch eine Systematik in diese Weltanschauung gekommen ist> und diese dadurch ihre höchste Blüte erreichte.

Und dann malen wir uns ein anderes Bild, das Bild der Seelenauffassung eines solchen Menschen, der den Blick auf die großen Ideale der Menschheit richtet, der seinen Blick zurück richtet zu Buddha, Hermes, Pythagoras, Plato, der sich erbauen konnte an der Gestalt des Christus Jesus, des Trägers der menschlichen Geistestaten, des Trägers alles dessen, was das menschliche Herz erhöht. Wir malen

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uns das Bild eines Menschen, der alles das nachempfinden konnte. Dabei bedenken wir, daß dieser Mensch sich sagte: Ach, alle die Buddhas, Hermes`, Pythagoras`, Platos, sie alle haben doch nur geträumt von hohen geistigen Idealen, von irgend etwas, das sie erheben kann.

Ich schildere Ihnen nichts Erfundenes. Ich schildere Ihnen die Seele vieler Menschen der sechziger Jahre. Bei Menschen, die vom Materialismus wie überwältigt waren, welche die Ideale für Schaumgebilde hielten, da waren diese Gedanken vorhanden. Und tiefe Tragik lud sich auf die Seelen solcher Menschen. In solch einer Zeit lebte Friedrich Nietzsche als Student, als junger Professor. In solch einer Zeit bildete er sich aus. Keinem der anderen Geister war er verwandt. Ganz anders war sein Typus als der der Zeitgenossen. Geisteswissenschftlich kann man ihn verstehen. Wenn man darauf Rücksicht nimmt, daß der Mensch aus mehreren Leibern besteht, dann kann man wissen, daß schon der junge Nietzsche in bezug auf die Zusammenfügung seines Ätherleibes und physischen Leibes eine Ausnahme machte. Bei Nietzsche war eine viel schwächere Verbindung des Ätherleibes mit dem physischen Leib vorhanden, so daß das, was diese Persönlichkeit innerlich seelisch erlebte, auf eine viel geistigere Art erlebt wurde, viel unabhängiger vom physischen Leibe, als das bei anderen Menschen der Fall ist.

Nun war es zunächst der Student Nietzsche, der in die Welt der Griechen hineingeführt wurde. Für ihn gab es jetzt zwei Strömungen in seinem Seelenleben. Die eine nennen wir etwas Angeborenes, in seinem Karma Liegendes. Diese war ein tief religiöser Zug, das war ein Stimmmungszug seines Wesens, ein Zug, der etwas verehren, zu etwas hinaufschauen muß. Religiöses Fühlen war da; und durch die eigentümliche Art, wie dieser Ätherleib mit dem physischen Leib verbunden war, war das, was dafür Bedingung ist> bei ihm vorhanden: eine ungeheure Empfänglichkeit für das, was zwischen den Zeilen der Bücher und zwischen den Worten der Lehrer zu lesen und zu hören war, was da zu fühlen und zu ahnen war. So bildete sich bei ihm ein Bild der alten Griechenwelt, das seine Seele ganz erfüllte, ein eigenartiges Bild, das mehr im Empfinden lebte als

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im klaren Vorstellen. Wollen wir es so recht vor unsere Seele stellen, wie es erlebt wurde von dem jungen Nietzsche, so müssen wir ihn und seine Zeit betrachten.

Nietzsche stand in einem losen Zusammenhang mit dem Materialismus seiner Zeit. Er konnte ihn verstehen, aber dieser Materialismus war etwas, was ihn kaum berührte. Da sein Ätherleib nur leicht verbunden war mit dem physischen Leibe, so berührte ihn die materialistische Zeit nur etwa so, wie wenn eine schwebende Gestalt mit dem Saume des Kleides kaum die Erde berührt. Nur eines war als dunkles Gefühl bei ihm vorhanden, das Gefühl von der tiefen Unbefriedigung einer solchen Weltanschauung. Das Gefühl, daß ein Mensch, der eine solche Weltanschauung hat, der Öde, der Leere des Lebens gegenübersteht; das war es> was wie ein leiser Anflug seine Seele berührte. Darüber erhob sich das, was als Anschauung über das Griechentum in seiner Seele lebte. Wir verstehen das, wenn wir lernen das zu begreifen, was in seiner Seele gelebt hat. Dieses Bild war nicht so, daß man scharfe Worte wählen darf. Wir wollen versuchen, es so darzustellen, wie es sich uns durch die Geistes- wissenschaft zeigen kann.

Der Geisteswissenschafter blickt ja in eine uralte Menschenentwickelung, von der die Geschichte nichts mehr weiß. Allein das Hellsehen kann in diese Zeiten hineinleuchten, wo die Weisheit ganz anders lebte als später, in die Zeit der Mysterien, wo die Menschen, die dazu reif waren, in die Mysterien eingeweiht wurden und durch die Eingeweihten zu einer Anschauung der Menschheitsentwickelung gebracht worden sind. Wenn wir uns ein Bild von den niederen Mysterien machen wollen, so müssen wir uns einen besonderen Vorgang vor die Seele führen. Nicht so, wie es heute geschieht, geschah diese Einführung oder Belehrung. In etwas ganz anderem bestand das Lernen. Nehmen wir an, daß der Gedanke, den der Mensch heute so trocken faßt, daß geistige Wesen es waren, die ins Materielle herunterstiegen, daß das Materielle aber hinaufstieg und sich entwickelte bis zum gegenwärtigen Menschen, daß dieser Gedanke, der so nüchtern ist, damals in einem bedeutenden Bilde vorgeführt wurde. Man sah förmlich das Herabsteigen des Geistes

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und das Hinaufsteigen des Materiellen. Das spielte sich buchstäblich ab; und was der Schüler da sah, das war für ihn Weisheit; das war für ihn Wissenschaft, die aber nicht in Begriffe gefaßt, sondern in Anschauung erfühlbar war für ihn. Noch etwas anderes war dabei. Das Bild, das der Schüler sah, war so, daß er davor saß mit großen, frommen Gefühlen. Er erhielt da Weisheit und Religion in einem. Außerdem war das ganze Bild schön. Es war wahrhafte, echte Kunst. Von Kunst, Weisheit, Religion, in eins verbunden, war der Schüler umströmt.

Es ist im Gang der Menschheitsentwickelung begründet, daß das, was vereinigt war, getrennt wurde: Kunst, Wissenschaft und Religion. Denn es hätte keinen Fortschritt in der Menschheitsentwickelung geben können, wenn die Menschen alles dies vereinigt behalten hätten. Damit jedes im einzelnen vervollkommnet wurde, mußte getrennt werden, was früher vereinigt war: Wissenschaft, Kunst und Religion, um später zusammenströmen zu können auf einer höheren Stufe in Vollkommenheit. Das, was sich jetzt in scharfen Konturen zeigt, darüber denken Sie sich einen Schleier gebreitet, so daß eines ins andere übergeht. Und denken Sie, daß sich in dem griechischen Kulturleben ein Nachklang der alten Menschheitsentwickelung auslebt und nur eine dunkle Ahnung, ein Gefühl davon im griechischen Kulturleben zurückgeblieben ist.

Damit haben Sie das Gefühl, das lebte im jungen Nietzsche; das war der Grundklang seiner Seele. Die Öde des sinnlichen Daseins ist Leid; es zu ertragen, dazu sind uns Kunst, Wissenschaft und Religion gegeben. Über dieses Leid die Erlösung zu breiten, das ist die Grundstimmung seiner Seele. Immer mehr rückte in seinen Gesichtskreis das Bild der griechischen Kunst. Die Kunst wurde ihm zum großen Mittel, das Leben im Sinnlichen zu ertragen. So wuchs er heran. In dieser Stimmung war er als Abiturient. Es ging ihm, wie es bei solchen Naturen der Fall ist: Mit großer Leichtigkeit eignete er sich alles das an, was andere nur mit Schwierigkeiten sich aneignen können. So wurde es für Nietzsche leicht, das äußere Rüstzeug des Philologen sich anzueignen und so Ordnung in seine Grundstimmung hineinzubringen.

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Dann kam die Zeit, in der er sich immer mehr und mehr vervollkommnete. Jetzt sehen wir, wie ihm allmählich eine Ahnung von dem alten Geisteszusammenhang der verschiedenen Menschheitsströmungen dämmert. Wie ein unbestimmtes Dunkel ahnte er diesen Zusammenhang. Er ahnte ein Höheres, das waltet in den einzelnen Persönlichkeiten. Wenn er sich vertiefte in das wirkliche Griechentum, in dasjenige, was Thales, Anaxagoras, Heraklit gedacht haben, so bildete sich ein merkwürdiger Gedanke bei ihm aus, der ihn so sehr von anderen unterscheidet. Er sagt selber einmal: Wenn ich mich vertiefe in die griechischen Philosophen, dann kann ich das nicht so wie andere machen, wie andere das machen, das ist mir nur ein Mittel. - Jetzt bildet sich bei ihm das heraus, was ihn so von anderen Denkern unterscheidet. Wir können uns das am besten durch ein Beispiel klarmachen. Nehmen wir Tbales. Ein gewöhnlicher Gelehrter nimmt die Lehren des Thales auf, aber ihm ist Thales mehr oder weniger ein historisches Beispiel. Er studiert in ihm den Geist der Zeit. Für Nietzsche sind alle die Gedanken dieses Philosophen nur ein Zugang, nur ein Weg zur Seele des Thales selber; leibhaftig, plastisch steht Thales vor ihm. Mit ihm schließt er Freundschaft, er kann mit ihm verkehren, er hat mit ihm ein rein persönliches Freundschaftsverhältnis. Jede Gestalt wird für Nietzsche wirklich, steht mit ihm in wirklichem Bezug. Sehen Sie das an, was er geschrieben, sehen Sie jene Abhandlung an: «Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen», 1872/73, da werden Sie das finden. Er ist dazu da, durch die Philosophie Freundschaft zu schließen mit denen, die er schildert. Wenn man aber solche intimen Verhältnisse eingeht, dann bedeutet das für Herz und Seele etwas ganz anderes als unsere trockene Wissenschaft. Denken Sie doch, wie öde das ist, was eine gelehrte Geschichte schreibt! Das kann ja nur gelehrte Hypothese sein.

Liebe, Leid und Schmerz, die ganze Emotion der Seele, kann sich bei gewöhnlichen Menschen nur ausleben gegenüber den Menschen, die uns umgeben im Alltagsleben. Alles, vom tiefsten Schmerz bis zur höchsten Seligkeit, die ganze Skala der Gefühle konnte bei Nietzsche sich abspielen gegenüber den Seelen, die ihm erstehen aus

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den grauen Geistestiefen. Auf ganz anderen Gebieten als in der täglichen Umwelt leben die Wesenheiten, zu denen er sich hingezogen fühlt. Das, was gewöhnliche Menschen im Alltagsleben empfinden, das spielt sich bei Nietzsche gegenüber den Freunden ab, die für ihn erstanden sind aus der geistigen Welt. So war für ihn eine geistige Welt verhanden, in der er Leid, Freude und Liebe empfand. Er war immer so etwa wie ein wenig schwebend über der Wirklichkeit, der Sinneswelt. Das ist der große Unterschied, der ihn auszeichnet vor den anderen Menschen seiner Zeit.

Und nun sehen wir einmal, wie dieses Leben sich gestaltete! Wir sehen vor allem seine große Leichtigkeit des Erfassens. Er hat noch nicht seinen Doktor gemacht, da ergeht an die Adresse seines Lehrers Ritschl, des großen Philologen, die Anfrage der Basler Universität, ob er nicht einen Schüler für eine Professur empfehlen könne? Er empfiehlt Nietzsche, und als man in Anbetracht der Jugend Nietzsches fragte, ob er denn wirklich geeignet sei, da schrieb Ritschl: «Nietzsche wird alles können, was er will.» Da wird der junge Gelehrte Professor in Basel. Er wurde zum Doktor ernannt, als er schon Professor war, und zwar ohne Examen, da die Herren, vor denen er das Examen ablegen sollte, sagten: Aber Herr Kollege, wir können Sie doch nicht prüfen. - Diese Dinge gehen ganz verständlich ihren leichten, über der Wirklichkeit schwebenden Gang.

Da geschieht für ihn ein zweifaches Ereignis. Er lernt kennen den Seeleninhalt eines bereits gestorbenen und eines lebenden Menschen. Er lernt in Schopenhauer eine Seele kennen, die er betrachten kann nicht wie einen Menschen, dessen philosophisches System er anschaut und bewundert, und auf dessen Lehren er schwören möchte, sondern er hat ihm gegenüber eine Empfindung, als ob er zu ihm sagen möchte: «Vater!» Und er lernt kennen Richard Wagner, der merkwürdige Seelenerlebnisse hatte, die sich mit dem, was Nietzsche bei der Betrachtung des Griechentums empfand, berührten. Richard Wagner brauchen wir nur mit ein paar Strichen zu zeichnen. Wir brauchen nur daran zu erinnern, daß Richard Wagner sagte: Es muß einen Urgrund der Kultur geben, wo die Künste alle vereint waren. - Er selbst hat das große Menschheitsideal empfunden, als

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Künstler die Künste wiederum zusammenzubringen, zu vereinigen, über sie eine religiöse Weihestimmung zu gießen. - Jetzt denken wir daran, wie in Nietzsche etwas lebendig lebte, das in seine Seele jenen Urzustand der Menschheit zauberte, da die Künste noch vereint waren. Wir denken an seine Worte: Willst du den wahren Menschen schildern, so mußt du darauf Rücksicht nehmen, daß ein Höheres in jedem Menschen lebt. Willst du die wahre Menschheit schildern, so mußt du zu den Gestalten gehen, die über die Sinnlichkeit hinausreichen. - Er war immer so ein wenig schwebend über der Wirklichkeit der Sinneswelt. Dadurch, daß er suchte nach jenem Höheren, dadurch, daß er suchte nach den Gestalten, die über die Sinnlichkeit hinausreichen, wurde er zum «Übermenschen» geführt, zu dem geisterfüllten Übermenschen. So schuf er seine reinen, abgeklärten, mythischen Gestalten.

In diesem Empfinden wurde er zu der höheren Sprache, zur Musik geleitet, zu der Sprache des Orchesters, das der Ausdruck der Seele werden konnte. Erinnern wir uns an das, was in Richard Wagners Seele lebte: Vor ihm standen die Gestalten Shakespeares und Bethovens. Bei Shakespeare sah er handelnde Gestalten. Er sah Gestalten, deren Handlungen vor sich gehen, wenn sie Seele gefühlt hat, wenn sie Gefühle von Schmerz und Leid und Gefühle von höchster Seligkeit gehabt hat. In Shakespeares Dramen erscheint nach Richard Wagner das Resultat der Seelenerlebnisse der handelnden Personen. Das ist eine Dramatik, die einzig und allein das Innere veräußerlicht veranschaulichen will. Und man kann bei Shakespeare die Erlebnisse der Seele der handelnden Personen ahnen. Daneben erschien ihm das Bild des Symphonikers Beethoven. In der Symphonie erschaute Wagner die Wiedergabe dessen, was in der Seele, in der ganzen Empfindungsskala zwischen Leid und Seligkeit lebt. In der Symphonie lebt sich das Seelenempfinden aus, wird aber nicht Handlung, tritt nicht in den Raum. Einmal schien ihm dieses innere Erleben in der Musik Beethovens sich mit aller Macht veräußerlichen zu wollen, im Schluß der neunten Symphonie. Da will Wagner einsetzen. Er will Beethoven in gewissem Sinne fortsetzen. Er will eine Synthesis, eine Einigung zwischen Shakespeares und Beethovens

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Kunst herbeiführen. Es war etwas von jener Urmenschheitskultur in Wagner lebendig. Das, was da in ihm als Impuls lebte, das mußte für Nietzsche erscheinen wie die Re`alisierung seiner bedeutsamsten Träume.

Ein anderes Verhältnis verknüpfte Nietzsche mit Schopenhauer. Er las Schopenhauer mit Inbrunst. Wie bei jeder Schule machte er auch bei Schopenhauer seine Vorbehalte. Um so mehr war das Gefühl in ihm rege, zu ihm «Vater» zu sagen. Er hatte zu ihm ein tiefes Verhältnis. Schopenhauer hatte für ihn nicht die Schwere wie Richard Wagner. Er fühlt den läuternden, veredelnden Einfluß Schopenhauers. So sehen wir die Entstehung seines Werkes «Schopenhauer als Erzieher». Das alles entsprang dem Gefühl, zu ihm «Vater» zu sagen. So kann man sich kein Bild denken, das ein lebendigeres Band knüpfen konnte zwischen den Lebenden und den Toten.

Aber etwas war bei Nietzsche als Frage vorhanden, was ihm Schopenhauer nicht aufklärte. Immer drängte sich ihm die Frage über die Kulturzusammenhänge auf. Er hatte intuitiv den Urzustand der Menschheit erfaßt, in dem große einzelne Geister, die Eingeweihten, die Menschen in den Mysterien belehrten und führten. So gelangte er zu dem Begriff des «Übermenschen», der, wie er glaubte, notwendig aus der Geschichte der natürlichen Entwickelung erstehen muß. Das ist sein Begriff des Übermenschen, wie schon der Satz zeigt: «Indem die Natur sich selbst heraushebt zum großen Menschen, erfüllt sie ihr höchstes Ziel, die große Persönlichkeit.» So gliedert sich für ihn Natur und Mensch zusammen. Und jetzt wird alles das, was er erlebt, alles andere als Theorie. Es wird alles ureigenes seelisches Erlebnis. Es wird etwas, wo sein Schmerz, seine Freude, seine Tatenlust emporglüht. Was er sagt, darauf kommt es weniger an, als daß für uns das Gesagte hindeutet auf das, was in seinem Herzen glühte. Und aus dem Ausklingen dessen, was er so in seiner Seele erlebt, geht sein erstes, bedeutsames Werk hervor: «Die Geburt der Tragödie.» Da fällt er geradezu darauf, wie sich aus dem alten Griechentum, aus dem Zustand der vereinten Künste, die griechische Kultur entwickelt hat. Und man darf sagen: Hier klingt etwas an von der tiefen Wahrheit. Er weiß nichts von jener

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Urkultur, die man durch die Geisteswissenschaft kennenlernt. r ahnt sie nur. Er glaubt, daß in grotesken, in paradoxen Formen ch die ersten Anfänge der Kunst ausgelebt hätten; in wilden, grosken Figuren hätten sich die Menschen ergangen. Und er malt das aus, als ob es sich in einem instinktiven Zustand abgespielt hätte, Während diese Kunst der Mysterien doch der höchste Ausdruck des eistigen war. Wie der Mensch in den Mysterien darinstand, kam ietzsche so vor, als ob der Mensch sich selbst zum Kunstwerk gelacht hätte, als ob er den Rhythmus der Sterne, das Weltgeschehen , Tanze nachgeahmt hätte, als ob er das Weltgesetz hätte ausbücken wollen. Aber Nietzsche hielt das alles für instinktives Gehl. Er wußte nicht, daß die Weltgesetze in den reinsten und edelen symbolischen Formen von Eingeweihten in den Mysterien den :enschen gegeben wurden. Daher hat alles dies bei Nietzsche jenen ilden Ausdruck. Aber es ist eine Ahnung des Tatsächlichen.

Wie aber sieht nun Nietzsche die spätere Tragödie an? Er sagte,das sei alles Ausdruck und Frucht einer späteren Zeit; da sei der ensch schon herausgefallen aus dem Zusammenhang mit der ottheit; da habe er in seinem Tanz nicht mehr die Gesetzmäßigkein der Welt nachgeahmt; er habe das nur im Bilde nachgeahmt. sah darin ein abgeklärtes Bild des Ursprünglichen, nicht aber dies Ursprüngliche selbst. So haben wir schon bei Sophokles eine ollinische Kunst vor uns, die im ruhenden Bilde das Ursprüngliche Im Ausdruck brachte. [Lücken in der Nachschrift.] Und durch chard Wagner wurde Nietzsche zurückgeführt in das alte diony;che Element. Sie sehen, wie der Ausklang seiner Schrift «Die eburt der Tragödie» ein Gemisch von Sehnsucht, Ahnung und Wirrnis ist.

Jetzt trat ihm jedoch mehr und mehr die äußere Wirklichkeit genüber. Er lernte das, was die moderne Kultur an die Stelle der ;en setzte, kennen. Was er in der ersten Periode seines Lebens

cht erkennen konnte, was der moderne Materialismus hervorgeacht hatte, das lernte er jetzt kennen. Und von der Stimmung, die ~ beschrieb, daß viele der edelsten Geister geradezu eine Beselieng im Materialismus fanden, das lernte er jetzt in seiner Art etwas

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kennen. Jetzt vergingen für seinen Blick alle Ideale. Wie «auf E`is gelegt», so sagte er einmal, wurden ihm all diese alten Ideale. Jetzt erschienen sie ihm als ein gesetzmäßiges Übel, entstanden aus der menschlichen Schwäche. Es entstand die Schrift: «Menschliches, Allzu menschliches.»

Jetzt kommt die zweite Periode seines Lebens. Er durchlebte die materialistische Weltanschauung so, daß er, nach seiner Art, sein Herz in sie hineinversenken mußte. Das war sein Schicksal, daß er alles, was er denken wollte, in seine Seele schließen mußte. Und gerade aus dieser Weltanschauung, aus dem Darwinismus, ging ihm etwas wie eine Erlösung auf, das ihn wiederum herausführte aus dem Materialismus. Er sah in darwinistischer Weise auf die Entwickelung der Menschheit. Er sagte sich: Der Mensch hat sich herausentwickelt aus der Tierheit. Doch zog er auch die Konsequenzen dieser Anschauung. Er mußte sie ziehen, weil er klar sehen wollte in bezug auf den Materialismus. Denn er mußte mit ihm leben. So kam er zu dem Schluß: Schaue ich auf die Tiergestalten, so sehe ich in ihnen den Rest einer früheren Kultur. Schaue ich auf den Menschen, so muß ich sagen, er enthält als Möglichkeit den Vollkommenheitszustand der Zukunft. Ich darf den Affen eine Brücke nennen zwischen Mensch und Tier. Was ist also der Mensch? Eine Brücke zwischen dem Tier und dem Übermenschen. So schlummert der Übermensch im Menschen, - Nietzsche fühlte, mußte fühlen, was es heißt, so zu leben, daß das, was werden kann, erscheint. Das war die lyrische Stimmung seines «Zarathustra», in dem Liede vom Übermenschen, dem Liede, das die Zukunft schildert. Gefühl knüpfte ihn an diesen Gedanken, Gefühl war das, was ihn erfüllte.

Und nun sehen wir, wie sich mit diesem ein anderer Gedanke verknüpft. Alle lyrischen Stimmungen klingen im «Zarathustra» an. Aber Nietzsche hatte keine solchen Anhaltspunkte, wie wir sie in der Theosophie haben. Das gab es für ihn nicht. In seinen Gesichtskreis trat nicht der Reinkarnationsgedanke, der Gedanke, daß der «Ubermensch» im Menschen lebt als höheres göttliches Selbst im Menschenleibe. Wir sehen den «Übermenschen» wiederkehren, so daß wir trostvoll die aufsteigende Linie der Entwickelung sehen,

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nicht die Wiederholung des Gleichen. Nietzsche wußte davon nichts. Doch ist ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem, was er sagte und unserer geisteswissenschaftlichen Anschauung. Mit dem Übermenschen-Gedanken verknüpfte sich jetzt für Nietzsche ein anderer, der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der Gedanke zeigte sich merkwürdig und ergab sich für ihn so, daß alle Dinge schon unzählige Male da waren. Der Gedanke war der wahre, ureigene Gedanke Nietzsches. Wie Sie alle denken und empfinden, so haben Sie schon unzählige Male gedacht und empfunden, und so werden Sie unzählige Male denken und empfinden. Dieser Gedanke stellte sich nun mit dem des Übermenschen zusammen. In beide Gedanken mußte er sich hineinfühlen.

Nun denken Sie sich den Organismus von Nietzsche, denken Sie an die Lockerung des Ätherleibes, der jederzeit bereit war, sich vom physischen Leibe zu trennen. Denken Sie sich einen Menschen, der das, was er an Gedanken ausbildet, furchtbar ernst nimmt, und denken Sie sich die Stimmung: Wie ich bin, wie ich fühle, so werde ich ewig sein und fühlen. - Und nun bedenken Sie, wie er die Lockerung seines Ätherleibes empfand. Er empfand sie so, daß er hundert Tage im Jahre die furchtbarsten Kopfschmerzen hatte. Dann können Sie verstehen, wie das sich in seiner Seele belebte: unzählige Male war dies da, unzählige Male wird es wiederkehren. - Da empfinden wir auf der einen Seite den Trost bei dem Gedanken an den Übermenschen, auf der anderen Seite das Trostlose bei dem Gedanken an die ewige Wiederkehr des Gleichen. Und wir verstehen St immungsgehalte wie solche: «Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!» Wir fühlen vieles von dem, was mit dem Heimatgefühl verbunden ist. Wir fühlen an der Eigenart Friedrich Nietzsches etwas, was mit dem Schicksal der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts zusammenhängt. Er mußte das Gefühl der Heimatlosigkeit empfinden. Es ist ein Zeugnis, wie in einer tiefempfindenden Seele die Weltanschauungen ihrer Zeit leben, und wie in ihr die Sehnsucht aufersteht nach einer geistigen Heimat.

So sehen wir, wie erst durch die Theosophie es möglich wird, zu einer Synthesis von Weisheit, Kunst und Religion zu kommen, die

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sich zu einer großen Kultur wieder zusammenfügen sollen durch die Geisteswissenschaft. Denken Sie sich den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen weiterentwickelt, so daß er Reinkarnation bedeutet, wodurch dieser Gedanke erst seinen wahren Gehalt erhält, und Sie erfüllen sich mit der Hoffnung, daß jene Vereinigung von Weisheit, Kunst und Religion neu erstehen wird. Es ist nicht die Wiederkunft des Gleichen, sondern ein stetes Vervollkommnen.

Wir dürfen sagen, eine große Frage erscheint uns in Nietzsches Leben, die Frage: Wie ist es einer wirklich tiefen Seele möglich, in der materialistischen Weltanschauung zu leben? In Nietzsches Seele haben wir eine Seele vor uns, die unfähig war, die Antworten auf die bangen Fragen unserer Kultur zu finden. Es fehlte ihr dasjenige, was wir durch die anthroposophische Weltanschauung finden. Und denken wir uns eine andere Seele, die die Möglichkeit hat, diese Antworten zu finden durch die Anthroposophie, die uns Antworten gibt auf die Fragen, die die tiefsten Seelen empfinden müssen. Die Fragen hat Nietzsche gestellt, beantworten konnte er sie nicht. Sehnsucht hat ihn erfüllt, die Sehnsucht hat ihn zerstört. Er ist der Beweis, daß die großen Probleme, die der Geist aufstellen muß, durch die Anthroposophie beantwortet werden müssen. Nach einem Heilmittel der Sehnsucht geht der Schrei Nietzsches. Und das Heilmittel liegt in der Anthroposophie. Sehnsucht war die Kraft der Seele Nietzsches, die so lebendig blieb, daß sie das Äußere dieser Persönlichkeit so aufrecht erhielt als ein Abdruck innerer Lebendigkeit. Es war, als ob über den Geisttod hinaus die Seele bei dem Leibe bleiben wollte, um noch etwas zu erhaschen von den Antworten, die Nietzsche nicht erreichen konnte, nach denen er lechzte und die ihn schließlich zersprengten. Aus Nietzsches Seele können wir die Notwendigkeit der Anthroposophie fühlen. Stellen wir ihn uns als den großen Fragesteller vor, als den Fragesteller der Menschheitsfragen, deren Beantwortung die Notwendigkeit einer anthroposophischen Geisteswissenschaft bedingt.

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ÜBER DIE MISSION DES SAVONAROLA Berlin, 27. Oktober 1908

Es ist vielleicht das Wort «Mission» des Savonarola nicht recht passend gewählt für dasjenige, was der Inhalt der Betrachtung dieser eigenartigen Erscheinung vom Ende des 15. Jahrhunderts ist. Und es ist vielleicht sogar mit der Persönlichkeit des Savonarola etwas anderes verbunden, was uns nahelegt zu sagen, daß es viel wichtiger wäre, als die Mission des Savonarola zu definieren. Dieses andere wäre, daß gerade die Angehörigen unserer anthroposophischen Weltanschauung und Weltbewegung sich bekanntmachen mit dem Wesen des Savonarola, weil an seiner Tätigkeit und anöseiner Eigenart mancherlei gelernt werden kann. An einer solchen Gestalt wie Savonarola können wir in der Morgendämmerung der neueren Zeit sehen, bis zu welchem Punkte die Entwickelung des Christentums bis zum Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts gekommen ist. Und wir können gerade sehen, welche Art von Tätigkeit nicht wirksam ist. Wir können sehen, welche Art von Tätigkeit es ist, die der menschlichen Entwickelung einzufügen ist.

Es könnte ja auch nötig sein zu zeigen, wie gewisse einseitige Strömungen zur Kräftigung und Einführung des Christentums gerade ungeeignet sind. Zwar nicht lange, aber mit einigen eingehenden Strichen wollen wir uns die Wirksamkeit des Savonarola vor Augen führen. Es wird sich neben die Figur des Savonarola eine andere hin- stellen, die Figur jenes anderen, ganz andersgearteten Dominikanermönchs, jenes Mönchs, der das Kloster, aus dem die ernsten Reden Savonarolas hinausgeklungen haben, ausgemalt hat mit den wunderbaren, zarten Gemälden: Fra Angelico da Fiesole. Er ist da in der Morgendämmerung dieser neuen Zeit, wie um zu zeigen, daß das Christentum damals wie in zwei Gestalten sich äußerte. Man konnte in sich tragen die ganze wunderbare Anschauung der christlichen Gestalten und Geschehnisse, wie sie leben in den Herzen der Menschen. Man konnte in anspruchsloser Weise, sich nicht bekümmernd um das, was äußerlich vorgeht, sich nicht bekümmernd um

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das, was die Kirche treibt, was die Päpste treiben, doch hinmalen, was man als Christentum in sich selber erlebte. Und das ist dann ein Beweis dafür, was das Christentum in einer Seele damals werden konnte. Das ist die eine Art, aber die andere Art ist - und es ist dies die Art des Savonarola -, das Christentum in der damaligen Zeit zu leben. Man konnte, wenn man ein Mensch war wie Savonarola, mit einer gewissen Sicherheit, mit einem starken Willen, mit einer gewissen verstandesn~~iß,igen Klarheit dasjenige tun, was er tat: In einer verhältnismäßigen Jugend den Glauben haben, daß innerhalb eines solchen Ordens, wo die wahren Ordensregeln erfüllt werden sollten, wirkliches Leben im Christentum zu leben sei. Wenn man noch hatte, was Savonarola hatte, den tiefsten moralischen Überzeugungsmut, so richtete man den Blick auch hinaus auf das, was in der Welt vorging. Man konnte das Christentum vergleichen mit dem, was sich in Rom abspielte, mit dem wirklich weltlichen Leben des Papstes, der Kardinäle, oder wie es sich auslebte in den herrlichen Schöpfungen des Michelangelo! Man konnte beobachten, wie in allen katholischen Kirchen im strengsten Kultus die Messen gelesen wurden, wie die Menschen das Gefühl hatten, daß sie nicht leben konnten ohne diesen Kultus. Man konnte aber auch sehen, daß diejenigen, welche unter Talar und Stola und Meßgewand waren, in ihrem bürgerlichen Leben einer Liberalität huldigten, daß dasjenige, was heute als Liberalität angestrebt wird, ein Kinderspiel dagegen ist. Man konnte dasjenige, was heute von gewisser Seite her gewollt wird und was als Tendenz angestrebt wird, verwirklicht sehen bis zu den höchsten Stufen des Altares hinauf.

Und man konnte damals mit einem glühenden Glauben an die höheren Welten einen absolut demokratischen Sinn verbinden: Die Herrschaft dem Gotte und keinem menschlichen Herrscher! - Das war ein Herzenszug des Savonarola. Man konnte die Mediceer bewundern mit dem allem, was sie in Italien getan hatten, mit dem allem, was sie Italien gebracht hatten, aber man konnte auch, wie es Savonarola tat, den großen Mediceer, den Lorenzo di Medici, betrachten als Tyrannen.

Man konnte Lorenzo di Medici sein und konnte daran denken,

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einen solchen zänkischen Dominikaner predigen zu lassen, wie er wollte. Lorenzo di Medici war ein vornehm denkender Mensch. Er konnte verschiedenes begreifen; denn man muß die Dinge von zwei Seiten ansehen. Er hatte Savonarola nach Florenz gezogen, und es ging Savonarola von Anfang an gegen den Strich, den Lorenzo als seinen Mäzen anzusehen. Und als Savonarola Prior des Klosters geworden war, fügte er sich nicht einmal darein, dem Lorenzo die übliche Dankvisite zu machen. Als ihm dies bedeutet wurde und auch, daß Lorenzo ihn doch nach Florenz gerufen hatte, sagte er: Glaubet ihr denn, daß Lorenzo Medici es war, der Savonarola nach Florenz gerufen hatte? Nein, es war Gott, der Savonarola nach Florenz in dieses Kloster rief!

Lorenzo wandte aber als vornehmer Mann dem Kloster manches zu, und man konnte glauben, daß man den Savonarola doch etwas zahm machen könnte durch das, was man dem Kloster gab. Aber dieser verschenkte alle diese Gaben und erklärte, die Dominikaner seien dazu da, das Gelübde der Armut zu halten und keine Reichtümer zu sammeln.

Wer waren eigentlich die Feinde des Savonarola? Alle diejenigen, welche die Konfiguration, die Herrschaft auf dem physischen Plan gegeben hatten. Nichts beirrte den Savonarola. Er ging geradewegs vor. Er sagte: Es gibt ein Christentum. In seiner eigentlichen Gestalt ist es den Menschen unbekannt. Die Kirche hat es entstellt. Sie muß verschwinden, und neue Gestaltungen müssen an ihre Stelle treten, in welchen sich zeigt, wie der wahre christliche Geist die äußere Wirklichkeit wird gestalten können. - Er predigte diese Sätze immer wieder. Er predigte zuerst mit großen Schwierigkeiten, da er anfangs die Worte nur mit Mühe aus der Kehle bringen konnte. Aber er wurde ein Redner, dessen Anhang immer größer und größer wurde, dessen oratorische Talente sich immer mehr erhöhten.

Die herrschenden Mächte waren anfangs liberal; sie wollten nichts gegen ihn tun. Es wurde ein Augustinermönch veranlaßt, eine Rede zu halten, durch welche die Macht Savonarolas hinweggefegt werden sollte. Und es sprach eines Tages ein Augustinermönch über das Thema: «Es geziemt uns nicht zu wissen Tag und Stunde,

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wann der göttliche Schöpfer in die Welt eingreift !» Mit flammenden Worten sprach das der Augustinermönch, und man möchte sagen, wenn man so die Strömungen kennt, die durch das christliche Leben geflutet haben: Es stand das ganze Bekenntnis des Dominikanertums gegen das Augustinertum. - Und Savonarola rüstete sich zum Kampf und er sprach über dasselbe Thema: «Es geziemt uns wohl zu wissen, daß die Dinge nicht so sind, wie sie sind. Es geziemt uns, sie zu ändern und dann zu wissen, wann Tag und Stunde kommt!» Die Florentiner Bevölkerung jubelte ihm zu, wie sie dem Augustinermönch zugejubelt hatte. Man fand ihn nicht nur gefährlich in Florenz, sondern auch in Rom und in ganz Italien. Nach ungeheuren Folterqualen und gefälschtem Aktenmaterial verurteilte man ihn zum Feuertod.

Das war Savonarola, der in derselben Zeit lebte, wo der andere Dominikanermönch ein Christentum hinmalte, von dem allerdings nur wenig in der physischen Welt existierte. Und wenn wir uns ein Wort, das ein merkwürdiger Mann sprach, ins Gedächtnis rufen, was es für eine Bewandtnis hat mit Savonarola: Jacob Burckhardt, der berühmte Geschichtsschreiber der Renaissance, bildete sich die Meinung, daß damals die Entwickelung des Lebens in Italien so weit war, daß man unmittelbar davor stand, die Kirche zu säkularisieren, das heißt, die Kirche zu einer weltlichen Organisation zu machen, so sehen wir, daß Savonarola das ewige Gewissen des Christentums darstellte.

Woran lag es, daß Savonarola, der mit solchem Feuer für das Christentum eintrat, doch wirkungslos blieb? Denn er ist eine historische Gestalt. Dieses war der Grund: Daß in dieser Morgendämmerung der Neuen Zeit und in dieser Abenddämmerung der Kirche, wo Savonarola das Gewissen des Christentums darstellte, etwas ins Feld zu führen war gegen die äußeren Einrichtungen des Christentums. Es ist die Probe darauf geliefert, daß selbst nicht von einer solchen Gestalt wie Savonarola das Christentum wieder herzustellen war. Die geisteswissenschaftlich Strebenden sollten daraus lernen, daß noch etwas anderes notwendig ist dazu, etwas Objektives, etwas, was es möglich macht, die tiefen Quellen des esoterischen Chritentums

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auszuschöpfen. Ein solches Instrument kann nur die Anthroposophie sein. Die Gestalt des Savonarola ist wie ein fernes, n die Zukunft leuchtendes Zeichen, was die Anthroposophen lehen soll, nicht mit den Mitteln, mit welchen man damals glauben :onnte, das Christentum wiederzufinden, sondern mit den Mitteln der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Man kann als Anthroosoph viel an dieser Gestalt lernen.

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AUS EINEM KAPITEL OKKULTER GESCHICHTE - DIE RISHIS Stuttgart, 13. Dezember 1908

Die Menschen machen in ihren verschiedenen Verkörperungen immer andere Verhältnisse durch. Sie finden bei jeder Inkarnation andere Verhältnisse vor, und auch ihre eigenen Verhältnisse gestalten sich jedesmal entsprechend zwischen Geburt und Tod. Nun kann sich die Frage erheben: Sind die Erlebnisse zwischen Tod und neuer Geburt immer dieselben, da doch die Erlebnisse im Physischen so verschiedene sind? Mit anderen Worten: Ist das Leben im Devachan zu allen Zeiten physischer Entwickelung immer dasselbe gewesen? Daß es auch eine Geschichte für das Leben im Jenseitigen gibt, sollen folgende Erläuterungen zeigen.

Erinnern wir uns des Bewußtseinszustandes des alten Atlantiers, der noch in einem hellsichtigen Zustand bei Tage die physischen Gegenstände in schwachen, nebelhaften Konturen sah - Gleichnis von der Laterne im Nebel -, und der bei Nacht ein Genosse der Götter war; doch waren Tag und Nacht nicht strenge geschieden wie heute.

Der fortgeschrittenste Teil der Atlantier, also diejenigen, die ihr hellsichtiges Bewußtsein schon zum größten Teil verloren hatten und die Dinge um sich schon physisch in schärferen Konturen sehen konnten, sie wohnten in der Gegend des heutigen Irland unter einer hohen geistigen Wesenheit: Manu. Sie zogen in einzelnen Trupps, einer von diesen unter der Führung Manus, von Westen nach Osten. Dann kam die Sintflut. Nach dieser wurden von dem Zentrum in Mittelasien aus Kolonien gegründet. Die erste war die Begründung der indischen Kultur.

Für den alten Inder, der noch die Erinnerung an die Zeit der Atlantis in sich trug, wo er noch Genosse der Götter war, war das, was ihm im Irdischen gegenübertrat, Illusion, Maja, die ganze Umwelt, auch die Sterne. Die Verbindung mit der geistigen Welt, nach welcher der Inder sich sehnte, hielten die heiligen Rishis aufrecht. Sie

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verkündeten die Existenz der geistigen Welten. Man zählt sieben Rishis; sie waren die Schüler des Manu. Sie konnten nur zu gewissen Zeiten lehren, wenn sie sich in einem besonderen Zustand befanden.

Dann waren sie hohen geistigen Wesenheiten ganz hingegeben. Sie waren der ganze Trost, die ganze Kraft der damaligen indischen Welt; sie erzählten von den Wundern und Gesetzen der geistigen Welten. Wenn die Menschen dann starben, so erlebten sie das, was die Rishis beschrieben hatten, zwar nur bis zu einer gewissen Höhe des Devachan, denn nur der Eingeweihte, der Rishi, erlebt das Devachan ganz. Aber geschickt waren die Menschen damals zur Arbeit im jenseitigen Leben.

Der Eingeweihte lebte abwechselnd im Irdischen und im Geistigen. Bald lehrte er den Lebenden, bald den Toten die ewige Wahrheit. Die Menschen aber hatten den physischen Plan noch nicht liebgewonnen: Sie betrachteten die geistige Welt als ihre eigentliche Heimat und die heiligen Rishis hatten ihnen im Jenseits nicht viel zu erzählen vom Diesseits. Die Menschen im Jenseitigen hatten kein Interesse am Irdischen.

In der zweiten nachatlantischen Kultur, der persischen, wo zuerst der Ackerbau auftritt, hatten die Menschen den physischen Plan schon lieber gewonnen. Im selben Maße jedoch verdunkelte sich das Bewußtsein im Jenseitigen. Das Devachan wurde dunkler. Die Menschen mußten ja das Irdische immer lieber gewinnen. Daher mußten die Zarathustra-Schüler mit stärkerer Sprache hinweisen auf die geistige Welt; aber in der jenseitigen Welt konnten sie nichts erzählen vom Diesseits.

Die dritte Kultur, die ägyptische, zeigt noch größere Liebe zum physischen Plane. In den Sternen studierte man die Gesetze des Geistigen. Immer mehr versuchten die Mensche)i, den Dingen ihren Geist aufzuprägen. Je geschickter aber die Menschen im Irdischen geworden waren, um so ungeschickter wurden sie im Jenseitigen zur geistigen Mitarbeit.

Ein Höhepunkt in der Beherrschung des irdischen Plans ist die griechisch.lateinische Kultur. Da hatte sich die Ehe des Geistigen mit dem Physischen vollzogen. Der griechische Tempel ist der Ausdruck

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der geistigen Gesetze. Die Griechen liebten das Leben. Das bedeutet die griechische Kultur; aber sie bedeutet noch etwas anderes. Wenn heute ein Hellseher auf einen griechischen Tempel blickt, zum Beispiel den von Paestum, so erlebt er bei der Betrachtung etwas Besonderes an diesem Tempel: man fühlt die herrlichen HarmonIen, in denen sich das geistige Leben ausprägt. Versetzt sich nun der Hellsehende von diesem physischen Betrachten, in dem Moment der herrlichen Empfindung der Harmonien dieses Kunstwerks, in die geistige Welt, so bleibt nichts übrig, nichts, eben weil der griechische Tempel ein so vollkommener Ausdruck der geistigen Welt ist. Dieses erlebte die griechische Seele im Tod; sie sehnte sich nach den reinen harmonischen Ausdrücken und Gebilden des physischen Planes. Der Römer, der sich auf dem Gipfel seines Ich-Bewußtseins stark fühlte im Leben, war wie gelähmt, wenn er ins Jenseits kam. «Lieber ein Bettler im Diesseits, als ein König im Reiche der Schatten.» - Also schattenhaft war damals das Bewußtsein der jenseitigen Welt. Wenn die herrlichen Dinge dieser Welt im Reich der Schatten erzählt worden wären, es hätte diese Wesen nur noch unglücklicher gemacht. Im diesseitigen Leben konnten die Menschen mehr erfahren vom Geistigen als im Jenseits, im Schattenreich.

Diese vierte Kultur war die Zeit, da der Impuls nach oben gegeben wurde durch das Erscheinen des Christus. Die Bedeutung des Ereignisses von Golgatha haben wir im August geschildert; für das Jenseits wollen wir es heute tun. - In dem Moment nämlich, wo der physische Tod am Kreuze eintritt, da geschieht etwas in der Welt der Schatten: Der Christus erschien bei ihnen. Zum ersten Male konnte drüben etwas berichtet werden, was von Bedeutung war für das Jenseits, nämlich, daß das Leben im Geiste den Tod besiegen kann. Blitzartig leuchtete das schattenhaft gewordene Leben der jenseitigen Welt au? Das gewaltigste Ereignis fürs Jenseits war geschehen: drüben im Diesseits gibt es etwas, was auch fürs Jenseits eine Bedeutung hat.

Was jetzt - im Gegensatz zu den ersten vier Kulturen - der Mensch erlebt, zum Beispiel am Johannes-Evangelium, das ist nicht ausgelöscht, wenn er ins Geistige kommt. Von jetzt an nimmt der

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Mensch alles mit hinüber, was er im physichen Plane geistig empfunden und erworben hat. Je mehr man sich in die tiefen okkUlten Wahrheiten der Bibel vertiefen wird, um so mehr wird man hin- übernehmen ins Jenseits. Vor der vierten Kultur leuchtete langsam abnehmend das Jenseits ins Diesseits hinein. Jetzt ist es umgekehrt:

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Im Jenseits ist jetzt eine aufsteigende Entwickelung, es wird immer heller.

Die geistigen Kräfte, die heute zu Erfindungen und Entdeckungen verbraucht werden, dienen nur dazu, äußerliche Kulturmittel zu erzeugen. Anders früher: da dienten diese Kräfte zur Erforschung der geistigen Welt und ihrer Gesetze. Heute dient der Geist als Sklave den materiellen Bedürfnissen. All die Intelligenz, die in die Dampfmaschinen und andere Erfindungen geflossen ist, bildet einen Hemmschuh für die geistige Welt - eine Unterbilanz! Das Gegenteil ist der Fall bei der anthroposophischen Arbeit. Das, was da im Irdischen gewonnen wird, dient zur Erleuchtung der jenseitigen Welt.

Der Christus erschien in der vierten Kulturepoche, deshalb der griechische Name Christus. Damit jedoch die Erscheinung des Christus die Menschen nicht unvorbereitet treffe, erschienen Moses und die Propheten. Die Verkündigung des Ich-Gottes, des Jahve, ist nötig gewesen, damit er etwas habe als Ziel, an dem er festhalten kann. Das Ereignis von Golgatha konnte nur verstanden werden durch die Verkündigung des bilderlosen Gottes. Davon morgen.

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OKKULTE GESCHICHTE I Nürnberg, 16. Dezember 1908

Wir werden heute ein Kapitel aus dem Gebiete der Theosophie behandeln, das sich auf der einen Seite etwas anschließen wird an allerlei, welches wir bei unserem letzten Kursus hier besprechen konnten, das aber in einer gewissen Beziehung doch wieder ganz selbständig ist. Wir werden in dem Sinn, der schon einmal hier charakterisiert worden ist, heute wiederum etwas besprechen, das für Vorgeschrittenere gilt, nicht in dem Sinne, daß man vorgeschritten sein braucht nach Verstand und Wissen, als vorgeschritten in bezug auf jene Gefühle, die man braucht, um höhere Wahrheiten, die dem materialistischen Sinn sehr häufig als paradox, als sonderbar, als phantastisch erscheinen, in dem Sinn aufzunehmen, nicht wie man alltägliche Ereignisse aufnimmt, sondern als etwas nicht nur Mögliches, sondern eben als Wirkliches.

Ein Kapitel aus der okkulten Geschichte wollen wir uns heute vor die Seele führen. Was Geschichte im äußeren Sinne, im physischen Sinne ist, weiß ja jeder von uns. Jeder weiß, daß die Geschichte die aufeinanderfolgenden Tatsachen der äußeren physischen Welt darstellt, so weit sie der Mensch zurückverfolgen kann, entweder an der Hand der Dokumente, Urkunden, Überlieferungen oder auch - wir auf geisteswissenschaftlichem Felde gehen ja in dieser äußeren Geschichte noch weiter zurück - nach den geistigen Urkunden, die uns zur Verfügung stehen, zurück bis zur großen atlantischen Flut. Wir beobachten die aufeinanderfolgenden Kulturepochen nach derselben, gehen zurück auch noch hinter diese große Flut, die in den Sintflutsagen der verschiedenen Völker sich erhalten hat als Überlieferung, gehen zurück sogar sehr, sehr weit in der Zeit. Das alles aber ist zwar Geschichte, mit okkulten Mitteln erforscht, aber in gewisser Weise doch äußere, physische oder mehr oder weniger physische Tatsachengeschichte. Aber es gibt auch eine okkulte Geschichte, und inwiefern es eine solche geben kann, das wird Ihnen aufgehen, wenn Sie sich einmal die folgende Frage vorlegen: Ihre Seelen alle

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haben gelebt, bevor sie in diese Leiber unserer jetzigen Kulturen eingezogen sind, abgesehen von allem Früheren, in altindischen, altpersischen, ägyptisch-chaldäischen, griechisch-römischen Leibern und so weiter. Wenn diese Seelen durch die Geburten eingezogen sind auf den äußeren physischen Plan, dann sahen sie das, was man eben auf dem physischen Plan erleben kann. Es schauten diese Seelen hinaus auf die Werke der altindischen Kultur, sie schauten die gigantischen Pyramiden der Ägypter, die griechischen Tempel und so weiter. Daraus können wir uns alle ein Bild machen, wie fortschreitend die Ereignisse sind, die der Mensch durchmacht eben im Laufe der Geschichte auf dem äußeren physischen Plan im Leben zwischen Geburt und Tod. Nun kann man jedoch die Frage aufwerfen: Wie ist es denn dann, wenn die Seele durchschreitet durch die Pforte des Todes und das Leben durchläuft zwischen Tod und einer neuen Geburt? - Diese Seelen, die jetzt verkörpert sind, sind durch den Tod getreten im alten Indien, alten Persien und so weiter. Hat sich nun da zwischen Tod und einer neuen Geburt immer dasselbe abgespielt? Gibt es vielleicht auf der jenseitigen Seite des Lebens, die wir durchmachen zwischen Tod und einer neuen Geburt, auch so etwas wie eine Geschichte? Erlebten die Seelen etwas anderes, wenn sie durch die Pforte des Todes gingen im alten Indien oder alten Per- sien und so weiter, und erleben sie etwas anderes heute in unserem gegenwärtigen Zyklus? Spielt sich da drüben etwas ab wie ein aufeinanderfolgender Hergang?

Wir besprechen heute das, was geschieht zwischen Tod und einer neuen Geburt, als Erlebnis der Kamalokazeit, der Zeit des Devachan bis zu einer neuen Verkörperung, mit Recht so, wie wir es besprechen. Mancher Anthroposoph wird dabei das Bewußtsein haben, daß das für alle Zeiten gleich sei. Falsch wäre es, das zu glauben. Denn geradeso wie die Seele dann, wenn sie durch die Pforte der Geburt schreitet, in den aufeinanderfolgenden Zeiten verschiedenes erlebt, so sind auch die Ereignisse zwischen Tod und einer neuen Geburt einer Geschichte unterworfen. Wir besprechen heute mit Recht diese Ereignisse, so wie wir sie besprechen, weil sie sich so abspielen. Aber auch da gibt es eine Geschichte, auch da sind die Tatsachen

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nicht in allen Zeiten dieselben, und wir wollen heute einiges von dem, was die andere Seite des Daseins an Geschichte durch- macht, im wesentlichen in der nachatlantischen Zeit durchmacht, ein wenig betrachten. Dazu ist es gut, wenn wir den Blick werfen auf einiges Bekannte, auf die alte atlantische Zeit.

Ihr wißt, daß in dieser atlantischen Zeit das Leben ein anderes war als später. Wenn die Seele des alten Atlant`iers in der Nacht her- ausgegangen war aus dem physischen und Ätherleib, sich hinauflebte in die geistigen Welten, dann breiteten sich nicht Dunkel und Finsternis aus wie heute, sondern die Seele war dann in dem nächtlichen Bewußtsein bis zu einem hohen Grade in göttlich-geistigen Welten; göttlich-geistige Wesen waren ihre Genossen. Dieser Wechsel zwischen Tag und Nacht war ja noch ganz anders in der alten atlantischen Zeit. Wenn der Atlantier früh aufwachte, das heißt, wieder hineinstieg mit seinem Astralleib und Ich in den physischen und Ätherleib, dann sah er auch da, in den alten Zeiten der Atlantis, die äußeren Gegenstände nicht mit scharfen Umrissen wie heute, sondern verschwommen, so, wie wenn wir hinausgehen abends, wo ein dichter Novembernebel ist, und wir die Laternen nicht so sehen, daß sie klar und scharf umrissen das Licht zei~en, sondern mit einer Aura umgeben. So undeutlich sah der atlantische Urmensch alles auf dem physischen Plan. Nach und nach bekamen die Gegenstände ihre scharfen Konturen im Tagesbewußtsein. Wenn er des Abends herausstieg mit seinem Astralleib und Ich aus dem physischen und Ätherleib, dann war er nicht in einer Welt der Bewußtlosigkeit; er hatte verschwommene, aber durchaus erlebte Vorstellungen von den göttlich-geistigen Welten. Und das, was sich erhalten hat als die Götternamen und -vorstellungen, sagen wir von Wotan, Tor, Baldur, Zeus, Apollo, das sind nicht bloße Phantsiegebilde, das sind Wesen, die der Mensch selbst erlebt hat in der alten atlantischen Zeit.

Nun kam die große Flut. Der vorgeschrittenste Teil der Atlantier ging vom Westen nach Osten, besiedelte die europäischen Lande; er zog nach Asien und gründete in Mittelasien die große Kulturkolonie des Manu, der der Führer war dieses damals so hochentwickelten, vorgeschrittensten Häufleins der Atlantier, das von Mittelasien aus

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dann die verschiedenen Kulturepochen ins Leben rief. Wir müssen uns dabei vorstellen, daß in Asien und Afrika durch frühere und spätere Wanderungen und durch andere Menschen> Nachkommen früherer Epochen, die Länder besiedelt waren, und eben diese Kolonien sich nach verschiedenen Richtungen bewegten, um neue Kulturströmungen zu verbreiten. Die erste ging von Mittelasien nach Indien. Der Manu, der sich aus bestimmten Gründen in der Zurückgezogenheit befand, schickte seine ersten Schüler nach Indien. Die ersten Schüler des Manu wurden die Lehrer und Führer des ersten nachatlantischen Kulturvolkes, des alten indischen Volkes. Da entstand die erste Kultur unter dem Einfluß der ersten nachatlantischen Lehrer, der alten, heiligen Rishis.

Welche Grundstimmung diese Kultur hatte, wissen wir schon. Die Schüler der Rishis hatten eine Art von Gedächtnis an alte Zeiten, wie sie drüben in der Atlantis waren, wie sie selbst noch die Genossen und Mitlebenden der Götter waren. Da war die eigentliche Heimat, in der geistigen Welt. Jetzt sind wir in die physische Welt versetzt. Daher finden wir in Indien jene große Sehnsucht nach der geistigen Urheimat der Menschheit. Fremd fühlten sich die Menschen in der physischen Welt. Illusion, Maja, bloßer äußerer Ausdruck des eigentlichen Geistigen war ihnen diese. Daher das Sehnen nach dem Geistigen, daher das Ansehen der physischen Welt als Illusion, Täuschung, Maja. Sie liebten noch nicht die physische Welt, sie sehnten sich noch nach der geistigen Welt. Sie sahen die Sterne, die Flüsse, die Berge, aber das interessierte sie noch nicht. Was sich abspielte zwischen Geburt und Tod, war Illusion, Maja. Sie wußten, daß sie zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Heimat lebten. Das war die Grundstimmung der Altinder. Aber sie erlangten fortwährend Kunde und Mitteilung von den geistigen Welten durch die heiligen Rishis, die Schüler des großen Manu. Und es ist gut, wenn wir uns bestimmte Vorstellungen machen von der Natur dieser großen indischen Lehrer. Denjenigen, der eine Ahnung bekommen kann von dem, was geistig vorging damals in dem nördlichen Teil Indiens zwischen den Rishis und ihren Schülern, durchdringt sozusagen ein Gefühl tiefster, heiligster Ehrfurcht, wenn er

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diesen ersten Ausgangspunkt der nachatlantischen Menschheit beschaut. Es ist kaum möglich, daß sich heute in unserer Zeit, nachdem die Menschen so weit herausgegangen sind auf den physischen Plan und zu einer so materialistischen Denkweise übergegangen sind, daß sich jemand eine gute Vorstellung macht - wenn er nicht immer mehr sich diese Vorstellung durch die Geheimwissenschaft zu erwerben sucht - von der Art des Wissens, wie es der Manu aus der alten atlantischen Zeit von dem Westen nach dem Osten hinüber mitbrachte. Denn wenn es auch vor die Menschen hingelegt würde, das Buch mit den zwölf Kapiteln, in dem der Manu die Urtradition der Erde bewahrt hatte, in dem aufgeschrieben war das, was von Gesetzen verkündet werden konnte in den alten Zeiten, wo die Menschen im Schoß der Götter waren, wenn die Menschen es auch vorgelegt erhalten könnten heute, sie würden nichts verstehen von diesem Buch. Dennoch enthielt es die Anweisungen, die der Manu seinen intimsten Schülern gab, und durch das die sieben heiligen Rishis sich für ihren Beruf vorbereiten konnten.

Wenn wir uns eine Vorstellung von den heiligen Rishis machen wollen, so kann dies auf folgende Weise geschehen: Wer sie im Leben gesehen hätte, der würde in ihnen schlichte Leute gesehen haben. Eine große Zeit ihres Lebens waren sie solche schlichten Leute.

Dann kamen aber über diese Rishis Zeiten, in denen sie etwas ganz anderes waren als gewöhnliche Menschen. Sie waren auch nicht etwa Gelehrte im heutigen Sinne; sie waren in dieser Zeit ein Mundstück und Instrument höherer geistiger Wesenheiten. Höhere geistige Wesenheiten beseelten die Rishis in jenen alten Zeiten und wenn die Rishis damals sprachen, so sprachen sie nicht, was sie wußten, sondern was der Geist sprach, der in sie gefahren war. Bis in ihren physischen Leib hinein durchsetzte die heiligen Rishis das Wesen eines höheren Geistes, und es waren die sieben planetarischen Geister, die damals selbst mit der ersten nachatlantischen Menschheitskultur verbunden waren, die sieben Geister unserer Planeten- weIt. Sie sprachen, indem sie sich des Mundes der Rishis bedienten, die nur das Werkzeug waren für die sieben planetarischen Regenten unseres Weltalls, und da sprachen sie große, bedeutsame Zauberworte,

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die Zauberwirkungen hatten, die nicht bloß Worte der Lehre waren, die Befehle waren für das, was die Menschen damals zu tun hatten, Mitteilungen waren aus dem Kosmos heraus; die sprachen die sieben heiligen Rishis.

Was später in der Vedenliteratur enthalten ist, ist nur ein schwacher Nachklang des Großen und Gewaltigen, was durch das Instrument der heiligen Rishis aus dem Kosmos selbst damals als die erste Manifestation des nachatlantischen Göttlichen der Menschheit zu- strömte. Aber nur zu bestimmten Zeiten waren die Rishis von den planetarischen Geistern inspiriert. Großes und Gewaltiges konnten sie daher den Menschen mitteilen. Viel Größeres und Gewaltigeres wurde durch sie gesprochen zu den Menschen, wenn sie zwischen Geburt und Tod waren in dieser ersten nachatlantischen Zeit, als in der jenseitigen Welt; denn alle die Geheimnisse, zu denen die Menschen nicht mehr hinaufblicken konnten von der physischen Welt aus, konnten die Rishis verkündigen.

Es ist bei Eingeweihten so, daß sie nicht nur in dieser diesseitigen Welt verkehren können, nicht nur die Lehrer sein können hier, sondern daß sie auch in abwechselnden Bewußtseinszuständen hinüber- gehen - wenn sie auch im physischen Leibe sind - in die geistige Welt und die Lehrer werden zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die großen Lehrer lehren hier und dort; sie lehren auch weiter zwischen Tod und neuer Geburt. Die Rishis waren auch die Lehrer von den Menschen im Jenseits. Da konnten sie nun zwar verkünden dieselben großen geistigen Wahrheiten, von denen sie sprechen konnten hier in der physischen Welt, aber sie konnten den Toten nichts besonders Wertvolles sagen über die andere Seite des Daseins, über die physische Welt. In dieser ging nichts vor, was Wert haben konnte für das Leben nach dem Tode. Dieses Leben zwischen Tod und neuer Geburt ersehnte der alte Inder. Er war froh, in diesem Leben drinnen zu sein und hatte keine Neigung zum physischen Leben. Und so stellte sich dieses Leben des alten Inders, wenn er durchging durch das Jenseits, so dar, daß er da nicht nur wissend bis zu einem gewissen Grade war, nicht nur sah die Ereignisse, die vorgingen, bis zu einer gewissen Höhe hinauf. Er konnte auch - weil

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der Mensch in der anderen Welt etwas tun muß - geschickt dort arbeiten. Die Seelen der alten Inder waren viel geschickter, um drüben zu arbeiten, als hier herüben. Einfach und primitiv waren die Werkzeuge der physischen Welt damals. Die Menschen waren noch ungeschickt auf dem physischen Plan, aber drüben besaßen sie große Geschicklichkeit. Sie war ihnen geblieben aus einer früheren Zeit. Die Menschen entwickelten ein lebendigeres Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, als hier in der physischen Welt. Die Menschen waren drüben tätiger, lebhafter. Tief befriedigte sie die geistige Welt; alles war licht und hell nach dem Tode.

Dann ging die Weltgeschichte weiter. Die vorpersische Kultur ging an. Auf dem physischen Plan ist der Mensch insofern ein Stück weitergekommen, als er jetzt den physischen Plan zu lieben begann. Er will schon die Arbeit auf dem physischen Plan verrichten und fühlt, daß er seine geistigen Kräfte verwenden soll, um die Erde zu bearbeiten. Um ein Stück lieber gewonnen haben die Perser die von Manu inspirierte Kultur. Zarathustra wurde jetzt der große Lehrer. Was an Lehren zusammengeflossen war aus den Eingebungen der Rishis, ging jetzt in der zweiten Kulturstufe durch den Zarathustra. Ein großer Lehrer war er, und er mußte sich zur Aufgabe stellen, ein Gegengewicht zu bilden gegen das, was sich von selbst ergab. Die Menschen sollten den physischen Plan, die physische Erde ja immer lieber gewinnen, sollten mehr bewußt werden derselben, sollten die Kulturmittel entdecken, sich einleben in den physischen Plan, ihn nicht nur als Illusion, als Maja empfinden, sondern als Offenbarung der göttlichen Kräfte. Aber Zarathustra sagte ihnen: In dem Materiellen lebt ein dem rein Geistigen Gegenteiliges; es ist dem Materiellen beigemischt die Kraft des Bösen. Aber wenn ihr euch mit den Dienern des guten Geistes verbindet, dann werdet ihr im Verein mit ihnen das überwinden, was dem Materiellen beigemischt ist als das Böse. - Es konnte nicht anders sein, als daß da schon die Gefahr war, das erste Aufleuchten derselben, überhaupt den Zusammenhang mit dem Geistigen zu verlieren. Daher hatten die Lehrer die besondere Aufgabe, neben den Erzählungen über die geistige Welt, die sie gaben> die Leute darauf aufmerksam zu machen, daß in dem Materiellen

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sich das Geistige offenbare, und diejenigen, die einem übertriebenen Glauben an das Materielle verfallen waren, mußten sie zurück- bringen zum Glauben an den Geist, zum Glauben daran, daß sich der Gott im Materiellen offenbart.

Das war es, was Zarathustra verkündigen mußte. Gewaltige Worte sprach er. Es ist in den heutigen Sprachen nicht mehr möglich, eine Ahnung von den Feuerworten hervorzurufen, mit denen er verkündigte, was er noch schauen konnte, da er der Nachfolger der Schüler des Manu war. Er schaute noch zum Beispiel in der Sonne nicht bloß die äußere physische Sonne, sondern die geistigen Wesen, welche in der Sonne leben, von denen die physische Sonne nur die Körperlichkeit ist, und er nannte diese geistigen Wesen Ahura Mazda, die große Sonnenaura, die der Ahura Mazda oder Ormuzd geworden ist. Daraus ging die Inspiration aller Lehren hervor, die er der zweiten Kulturepoche einprägen sollte, die schon den Anfechtungen von Ahriman verfallen sollte. Es waren gewaltige Worte, die der Zarathustra der Menschheit verkündete. So sprach er etwa: Ich will reden, nun horcht und hört mir zu, ihr, die ihr von nah und fern danach Verlangen tragt. Merket alles genau. Denn Er ist offenbar; nicht mehr soll der Irrlehrer verderben die Welt, er, der Böse, der schlechten Glauben mit seinem Munde bekannt hat. Ich will reden von dem, was in der Welt das Größte ist, was Er mir offenbart hat, Er, der Mächtige. Wer nicht folgt meinen Worten, wie ich sie meine, der wird Elendes erleben an der Welten Ziel. - Daß Er, der große Geist, der die Welt durchwebt, in dem Äußeren offenbar ist, und daß der, welcher schon glaubte die Menschen verführen zu können, er, der da sagen will: Das Materielle ist das einzige -, daß er nicht siegen soll, wurde in so gewaltigen Worten verkündet, und Zarathustra wies schon hin, daß einer kommen wird, wenn die Zeiten erfüllt sind, der in Menschengestalt sein wird die Verkörperung all der Mächte, die die Welt durchwallen und durchweben, die jetzt nur vorverkündet werden; Saoshyant nennt er ihn, der da sein wird die Macht, die in der Sonne lebt, die man nur durch die äußere Hülle jetzt sehen kann, der da kommen wird in Menschengestalt. Der Zarathustra verkündet den Christus vorher.

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Zwei Schüler hatte Zarathustra, die er nicht dazu unterrichtete, daß sie hinausgehen sollten, um die Perser zu lehren. Sie gehörten zu denjenigen Schülern, die sich immer bei den großen Eingeweihten finden, die in der Stille sich vorbereiten für ihren künftigen Beruf, die zunächst verzichten darauf, hinauszutreten und zu lehren. Hermes, der große ägyptische Lehrer, und Moses waren in einer früheren Inkarnation diese beiden Schüler.

So war es, was da ausstrahlte in der zweiten nachatlantischen Kultur; so mußte es sein, weil ja die Menschheit um eine Stufe vorgeschritten war und die Menschen etwas lieber gewonnen hatten den physischen Plan. Aber durch dieses verdunkelte sich in gewisser Weise dasjenige, was zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erlebt werden konnte. Zwar waren die Menschen noch immer sehend in der geistigen Welt, aber nicht mehr in jener Klarheit wie in der altindischen Kulturepoche. Abgeblaßter und dunkler war es, wenn die Seelen aus den persischen Leibern ins Devachan eintraten, und ungeschickter wurden im Devachan die Menschen zu den Handlungen dort in demselben Maße, als sie geschickter wurden in der Bearbeitung des Äußeren. Haben wir eine aufsteigende Linie außen, so haben wir eine absteigende in der Welt nach dem Tode. Und wenn die Eingeweihten hinüberwanderten - das ist eine geistige Wanderung, die Eingeweihten bleiben dabei mit dem physischen Leib verbunden - in die jenseitige Welt, um die Menschen zu besuchen, die sich zwischen dem Tod und einer neuen Geburt befanden, dann konnten sie vieles sagen über das Wichtige, was früher die Menschen gesehen hatten, und was sich jetzt, im physischen Leben, verdunkelt hatte. Sie konnten Lehrer sein der höheren geistigen Tatsachen und Weisheiten, die allmählich für den Menschen verblaßten zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, aber noch nichts konnten sie mitteilen über das, was in der physischen Welt vorging. Das hatte noch nicht die große Bedeutung für das Jenseits. Hätten sie erzählt, was da die Menschen trieben, so würde das nichts Erhebendes gewesen sein für die Menschen im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Es ging drüben nur vor sich, was die Folge der geistigen Welt war. Kein Ereignis ging vor sich auf dem

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physischen Plan, das der Mitteilung wert gewesen wäre für die jenseitige Welt.

Es kam die ägyptische Zeit. Noch lieber hatten die Menschen den physischen Plan gewonnen, noch geschickter und einflußreicher waren sie darauf geworden. Nicht mehr Maja, Illusion war er ihnen. Hinauf schauten die Menschen zu den Sternen und in den Sternbildern und den Bewegungen der Sterne sahen sie eine Schrift der Götter. Offenbarungen der göttlich.geistigen Wesenheiten sahen sie im Physischen. Und unten bearbeiteten sie die Erde mit dem Wissen, das sie gewinnen konnten mit ihren menschlichen Kräften. Wir brauchen nur an die Bearbeitung des Bodens zu denken. Immer fester schloß sich der Bund zwischen den menschlichen Geisteskräften, die der Mensch mitgebracht hat von der geistigen Welt herein in die physische, und dieser physischen Welt. Jetzt wurde Hermes in seiner neuen Verkörperung der erste wichtige Lehrer Ägyptens. Was er lehren konnte, davon wollen wir uns eine Vorstellung machen. Vor allen Dingen wird uns klar vor die Seele treten, was Hermes seine Ägypter lehren konnte, wenn wir uns die Osiris-Gestalt gerade von der Seite vor Augen führen, in der sie uns heute von Interesse sein kann.

Osiris ist gewissermaßen der Mittelpunkt Ägyptens, der unter allen Göttern vorzugsweise verehrt wurde. Unter mancherlei Namen wurden die ägyptischen Götter verehrt von Laien, Eingeweihten und Priestern. Ihr kennt die Osiris-Sage. Es wird erzählt, daß Osiris die Menschen beherrscht hat, daß sein böser Bruder Typhon gekommen ist, ihn auf listige Weise in einen Kasten gelegt hat, daß er ihn in diesem in das Meer hinausgeworfen hat, daß zurückgeblieben ist die trauernde Gattin Isis, die den Leichnam gesucht und gefunden hat, den Osiris aber nicht mehr hat hereinholen können in diese Welt, daß vom Jenseits ein Strahl des Osiris hereinfiel auf Isis und sie den Nachfolger des Osiris für diese Erde, den Horus geboren hat. Osiris blieb in der jenseitigen Welt. Und was wurde dem Ägypter gesagt? Es wurde ihm gesagt: Siehe, Osiris ist eine Wesenheit, die nahe steht den Menschen. Er ist eine der letzten Wesenheiten, mit denen die Menschen zusammen waren, als sie oben in der geistigen

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Welt bewußt lebten. Die Menschen sind heruntergestiegen in die physische Welt, um sich weiter zu entwickeln hier, damit sie wieder hinaufgehen können, bereichert mit den Erfahrungen der physischen Welt. Osiris ist eine von den Gestalten, die es nicht mehr nötig hatten, bis zur physischen Welt herunterzusteigen, weil sie schon früher so hoch gekommen waren, daß sie das nicht brauchten. Sie bewegten sich um eine Stufe höher; sie waren nicht geschaffen, in einem physischen Körper, der der Kasten ist, zu verweilen. Mit ihm konnten sie nur in eine flüchtige Berührung kommen. Osiris kann nur gefunden werden, wenn der Mensch in das andere Leben hin- überschreitet. Er ist die letzte Gestalt, die ihr noch erleben könnt - sprach der Eingeweihte zum Ägypter -, wenn ihr euch würdig macht, wenn ihr allen Vorschriften folgt. Da werdet ihr nach dem Tode, wenn ihr gerichtet werdet, zusammensein mit Osiris. Er wird eure Wesenheit sozusagen bilden; ihr werdet euch wie Glieder des Osiris fühlen. - Also hinter den Tod mußten die verwiesen werden, die mit Osiris zusammenkommen wollten. Aber da noch mehr verblaßt war, was die Menschen nach dem Tode erleben konnten, so war es so, daß sie da, wenn sie auch vereint waren mit Osiris, nur matt und schwach dasjenige, was ihre höchste Seligkeit bildete - die Vereinigung mit Osiris -> erleben konnten. Aber sie wußten fest im Diesseits, durch den Glauben, den ihnen die Priester einprägen konnten, sie wußten und hofften es, daß sie vereint sein würden mit Osiris, und in Feieraugenblicken fühlten sie sich drüben auch als Glieder, die zur Osiris-Seele gehörten. Nach und nach mattete sich dieses Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ab. Wie die Kultur auf dem physischen Plan höherstieg, so wurde die Kultur in der geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt immer geringer. Immer schwächer sahen die Menschen in der devachanischen Welt. Und wenn dann die Eingeweihten hinüberkamen in die jenseitige Welt, konnten sie noch immer nichts erzählen, daß etwas vorgegangen wäre in der physischen Welt, das eine besondere Bedeutung hätte für die jenseitige Welt. Was da geschah, war nur die Folge der geistigen Welt. Es konnte die Seelen der Toten nicht viel interessieren, was in der physischen Welt geschah. Was man tun

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konnte, war die Vorbereitung für die Osiris-Miterlebung, aber das war nur Vorbereitung für das, was sie drüben bekommen in den geistigen Urgründen.

Dann kam die griechisch.römische Zeit, die vierte nachatlantische Kulturepoche. Da wurde die Ehe zwischen dem Menschengeist und der äußeren Materie noch inniger geschlossen, und auf dieser Ehe zwischen den geistigen Fähigkeiten des Menschen und dem äußeren physischen Leben beruht das Herrliche der griechischen Kultur.

Wenn wir den griechischen Tempel in seinen wunderbaren Formen vor uns haben - auch noch in seinen Nachklängen, etwa im Tempel von Paestum -, dann sehen wir, was dieser menschliche Geist in der Besiegung der äußeren Materie erlangt hat. In den Linien und Kräfteverteilungen des griechischen Tempels ist das Höchste in bezug auf Architektur erreicht. Der griechische Tempel stellt dar solch ein Wunderwerk der Architektur und Kunst, weil alles, was da ist, Ausdruck ist des Geistigen. Deshalb ist es so beseligend, in die Harmonie des griechischen Tempels hineinzuschauen. Und ein Eigenartiges muß gesagt werden, was für das hellseherische Bewußtsein gegenüber dem Betrachten eines griechischen Tempels auftritt. Nehmen wir an, das hellseherische Bewußtsein stünde vor den letzten Nachklängen eines griechischen Tempels, wie dem in dorischem Stile erbauten von Paestum in Süditalien, und es könnte noch die Nachwirkungen fühlen, die der Grieche auf dem physischen Plan gefühlt hat, nehmen wir an, es könne an einem solchen Werke das hellseherische Bewußtsein, wenn es im Leibe die physische Form schaut, erleben alle Wonne, die man wirklich erleben kann da, dann ginge es dem hellseherischen Bewußtsein so: Wenn es herausgeht, sich nicht bedient der physischen Organe und geistig schaut, dann ist der griechische Tempel mit all seinen Herrlichkeiten in der geistigen Welt verschwunden. Was so vollkommen, groß, gewaltig, herrlich in der physischen Welt ist, es kann nicht hinübergenommen werden - auch nicht für ein heutiges hellseherisches Bewußtsein - in die geistige Welt. An der Stelle im Raum, wo der herrliche Tempel gesehen worden ist, ist in der geistigen Welt entsprechend nichts! Und so war es mit allen großen Kulturwerken in jener bewunde

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rungswürdigen Zeit, der griechisch-lateinischen. Ja, es war noch in anderer Beziehung so. Es war ja dieser selbe Zeitraum, wo in Rom das Persönlichkeitsbewußtsein des Menschen sich am stärksten hier in der physischen Welt auslebte. Der Römer fühlte sich zuerst als persönlicher Erdenbürger, sich zuerst fest auf dieser Erde stehen. In demselben Maße, in dem der Mensch sich so fest auf der Erde fühlte, fühlte er sich schwach zwischen Tod und einer neuen Geburt, schwach und matt und ungeschickt für das Jenseitige. Noch mehr als früher war das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt abgeblaßt. Von allem, was so herrlich im Diesseits erlebt wurde, konnte nichts hinübergenommen werden in das Jenseits.

Es ist keine Legende, was aus dieser griechischen Zeit überliefert wird, daß einer der herrlichsten Helden> der von einem Eingeweihten in der Unterwelt besucht wurde, im Reiche der Schatten, sagte: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als König im Reiche der Schatten -, weil der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt sich wie schattenhaft und verblaßt fühlte und sich mit allem sehnte nach dem Leben zwischen der Geburt und dem Tode, das von solchen Schönheiten und solch Großem angefüllt war. Sozusagen bis zur vollkommensten Ehe zwischen dem menschlichen Geist und der äußeren Form war das Leben herabgestiegen; dafür war hinuntergegangen das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

In diese Zeit hinein fiel das Ereignis, das vorbereitet wurde durch den anderen Eingeweihten, der schon ein Zarathustra-Schüler war, durch Moses. Moses war ausersehen, zuerst in der Form, wie es damals geschehen konnte, einen Gott zu verkünden, der sich in der physischen Welt auch offenbaren kann, der in der physischen Welt auch da ist. Allerdings geschah diese Offenbarung so, daß dasjenige, was mit den Sinnen noch nicht erfaßt werden kann, daß das werden sollte das einzige Abbild des Gottes, der durch die Welt webt. Und als sich Moses ankündigte bei dem Ausgangspunkt seiner Mission das «Ehjeh ascher ehjeh» - Ich bin der Ich-bin -, da war dies die erste Ankündigung des Gottes, der nunmehr nicht bloß in der jenseitigen Welt gefunden wird, der herübergegangen ist in die diesseitige Welt

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und da erlebt werden soll. Die Jahve-Gestalt kündigte sich an durch diesen zweiten der Zarathustra-Schüler, und vorbereitet wurde durch sie die große Erscheinung des Christus, das Mysterium von Golgatha. Was dieses Mysterium von Golgatha für den physischen Plan bedeutet, das wißt Ihr zum Teil: einen tatsächlichen Beweis, daß das Leben im Geiste den Tod besiegt. Das ist dadurch erreicht worden, daß dasjenige, was die Propheten verkündigt haben, was da war selbst bei der Schöpfung aller Naturreiche, daß das auf der Erde wandelte. Mit Recht benennt man gerade mit einem griechischen Namen dieses Urwesen der Welt, das der Sonne Geist ist; denn es konnte und mußte in der griechischen Zeit erscheinen, als die Menschheit den Impuls nach aufwärts brauchte. Zum ewigen Gedenken daran, daß es in dieser Zeit geschehen mußte, wird das Wesen, das im Jesus von Nazareth sich verkörpert hat, mit dem Christus-Namen benannt. Dieser Name ist dem Zeitalter entnommen, wo Christus erscheinen mußte.

In demselben Augenblick, wo die Jesus-von-Nazareth-Hülle auf Golgatha starb, da geschah etwas, was nicht etwa bloß eine Legende ist, sondern was heute noch von jedem, der dazu die nötige Vorbereitung hat auf dem Wege der Geisteswissenschaft, nachgeprüft werden kann. In demselben Augenblick, wo der Tod am Kreuze eintrat, da erschien der Christus in der anderen Welt bei den Toten, bei denen, die waren zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, und es war wie ein blitzartiger Einschlag in dem Moment auf jener anderen Seite der Welt. Es wirkte wie ein Blitz, wie erhellend das bis zum Schattendasein abgemattete Leben im Jenseits, dieses Erscheinen des Christus. Denn zum ersten Male konnte jetzt etwas verkündet wer- den in der Welt nach dem Tode, was anders war als dasjenige, was die früheren Eingeweihten verkünden konnten, wenn sie hinübergingen in die jenseitige Welt. Noch ein Eingeweihter der Eleusinischen Mysterien hätte höchstens verkünden können von den Schönheiten der physischen Welt, die der Tote nicht mehr sehen konnte - und erst recht hätte er die Sehnsucht erweckt nach dem Physischen. Er würde den Toten nichts besonderes gebracht haben, wenn er ihnen verkündet hätte dasjenige, was in der fleischlichen Welt sich ab -spielte.

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Das aber war die erste Verkündigung, die der Christus bei den Toten tun konnte davon, daß in der Welt des Diesseits, zwischen Geburt und Tod, sich etwas abgespielt hat, was nicht nur Bedeutung für das Diesseits hat, sondern hinein sich fortsetzt in das jenseitige Leben. Was drüben in der physischen Welt geschehen war, war ein Ereignis, das hinüberlebte in die geistige Welt. Und das können wir im einzelnen erleben, wie es hinüberwirkt. Wenn wir den schönsten Tempel, das schönste Kulturwerk der alten griechischen Zeit in der diesseitigen Welt betrachten und Seligkeit dadurch erleben - es verblaßt und ist nicht mehr da in der jenseitigen. Wenn wir uns aber in das Johannes-Evangelium vertiefen oder in die Apokalypse, die da verkündigen die Ereignisse, die anknüpfen an das Mysterium von Golgatha, dann erleben wir hier Großes in der diesseitigen Welt. Wir können da wunderbare Erlebnisse haben, wenn wir sie auf uns wirken lassen, wenn das hellseherische Bewußtsein sie auf sich wirken läßt, und wenn wir dann hinüberleben in die geistige Welt, dann blassen die Empfindungen nicht ab, sondern setzen sich fort und werden erst herrlich und verständlich in der geistigen Welt. Dort haben wir es noch herrlicher, was anknüpft an das Ereignis von Golgatha.

So ist es nicht mit allem, was sich daran anknüpft. Mögt Ihr noch so sehr bewundern die Pyramiden, nur ein schwacher Nachklang kann drüben in der jenseitigen Welt empfunden werden; möge man aufgehen in Wonne beim Anblick eines griechischen Tempels oder einer griechischen Tragödie, nichts pflanzt sich hinüber in die jenseitige Welt, weder für einen Eingeweihten noch für den Nichteingeweihten. Steht Ihr aber vor einem Bild des Raffael, in dem die christlichen Wahrheiten verarbeitet sind: Ihr nehmt des Bildes schönsten Teil mit hinüber in die geistige Welt, und drüben gehen Euch auf die Dinge, die Ihr hier noch gar nicht sehen könnt. Drüben werden sie zu einem Licht, das die geistige Welt neu aufhellt, und so war durch das Ereignis von Golgatha das erste Aufleuchten mit der Erscheinung des Christus in der Welt der Schatten. Und immer mehr und mehr, durch alles, was durch das Christentum in die Welt gekommen ist, wird es aufleuchten in der geistigen Welt.

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In dieser Weise steigt die Kultur herunter von den Höhen der atlantischen Welt bis zur griechisch.lateinischen Zeit, wo die Menschen in bezug auf das Erleben in der geistigen Welt am meisten in der Dekadenz waren, und wo sie am tiefsten in die materielle Welt sanken. Am ödesten empfanden die Menschen der damaligen Zeit das Dasein zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt. Jetzt fiel mit dem Erscheinen des Christus in der «Unterwelt» der große Lichtimpuls hinein; immer heller und heller wird das Dasein zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Nun geht es hinauf; es beginnt die aufsteigende Richtung in der Geschichte des jenseitigen Lebens. Das Christentum ist heute erst im Anfang. Immer mehr und mehr wird es sich zeigen, daß durch dasjenige, was der Mensch hier erleben kann, er immer geistiger und geistiger wird, daß er mitnimmt, was er in Anknüpfung an dieses Ereignis von Golgatha hier erlebt, in die jenseitige Welt, daß es in der geistigen Welt eine aufsteigende Richtung gibt.

So geht drüben in der Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt auch eine Geschichte vor, und wenn wir diese Geschichte der verborgenen Seite der Welt betrachten, dann sehen wir, welch unbegrenzt große Bedeutung das Mysterium von Golgatha hat. Denn es hat ja nicht nur Bedeutung in der physischen Welt; es hat Bedeutung für die sogenannten drei Welten, in denen der Mensch lebt. Ja, die Wesenheit, die mit unserer Evolution verbunden ist, die alles, was um uns herum ist, mitgeschaffen hat, die im Jesus von Nazareth lebte, die damals sagte: Wie werdet ihr mir glauben, wenn ihr nicht Moses und den Propheten glaubt, denn die haben von mir gesprochen in alten Zeiten -, deutlich hinweisend darauf, daß Moses gesprochen hat von ihm da, wo er gesprochen hat davon, daß sich ihm angekündigt hat die göttliche Wesenheit in dem «Ich bin der Ich-bin». - Die Wesenheit im Jesus von Nazareth hat etwas vollbracht in unserer Welt, das nicht nur Bedeutung hat für den physischen Plan, sondern das als das erschütterndste Ereignis durchwirkte durch die drei Welten, von der physischen bis in die geistige Welt. So gewaltig steht durch die okkulte Geschichte dieses Ereignis von Golgatha vor unserer Seele.

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OKKULTE GESCHICHTE II Nürnberg, 14. Februar 1909

Es gibt gewisse Gründe, durch welche mir in dieser Zeit gerade die Aufgabe zugewachsen ist, in den Zweigen unserer Theosophischen Gesellschaft über ein ganz bestimmtes Thema zu sprechen, über ein Thema, das unsere lieben Mitglieder unterrichten soll über gewisse Tatsachen, welche hinter der Menschheitsentwickelung liegen, über gewisse, nur innerhalb der spirituellen Welt eigentlich erkennbare Tatsachen, die sich beziehen auf komplizierte Fragen von Reinkarnation und Weltenkarma. Es ist ganz richtig, daß wir innerhalb unserer Zweige die Lehren der Theosophie zuerst gewissermaßen mehr im allgemeinen verkünden. Wir haben das schon bei dem letzten Vortrage hier gesehen, daß sozusagen im Beginn unserer Arbeit mehr im allgemeinen von den Vorgängen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt gesprochen werden muß, und daß wir dann in gewisser Weise das modifizieren müssen, was noch als geheimnisvollere Dinge dahinterliegt. So müssen wir überhaupt arbeiten. Denn das theosophische Leben ist so, daß es uns nur allmählich erlaubt, hinaufzusteigen in die verhangenen Heiligtümer des Welt- und Menschheitswerdens.

Heute wird es sich darum handeln, daß wir auch über diese Fragen etwas Genaueres hören, die wir ja gewöhnlich nur so beantworten können, daß wir sagen: es gibt eine Reinkarnation, es gibt wiederholte Erdenleben; des Menschen innerster Wesenskern geht von Leben zu Leben. - Das ist im allgemeinen richtig, aber nur ungenau, es ist sozusagen im Groben gesprochen. Die feineren Wahrheiten lernen wir allmählich kennen, denn wir wachsen erst allmählich über das ABC der geisteswissenschaftlichen Weistümer hinaus; wir stehen noch immer beim ABC. Wir dürfen nicht die Meinung hegen, daß wir mit dem, was wir bewältigen konnten, schon sehr weit über das ABC hinausgelangt wären. Aber es wird weitergehen, wenn Geduld und Energie vorhanden sind.

Wir lenken heute zuerst den Blick etwas weiter zurück in den

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Verlauf unserer Menschheitsentwickelung. Nochmals blicken wir zurück in die alte Zeit der atlantischen Entwickelung, dahin, wo unsere Seelen in atlantischen Leibern verkörpert waren. Alle die Seelen, die jetzt hier in unseren Leibern verkörpert sind, waren einmal in atlantischen Leibern verkörpert. Wir haben über die Art und Weise gesprochen, wie unsere Seelen damals wahrgenommen haben, erkannt haben; heute wollen wir über etwas anderes sprechen, dar- über, daß es schon in der Atlantis Eingeweihte oder Initiierte gegeben hat, welche entsprechend vorausgeeilt waren in bezug auf das, was unsere Vorfahren in der Atlantis um sich in der Welt hatten, die auf höherer Stufe des Hellsehertums standen und durch eine selbständige Pflege ihrer seelischen Eigenschaften hinaufsteigen konnten zu hohen Graden der Erkenntnis und des Wirkens. Diese Initiierten wirkten in gewissen Weihestätten. Wir können diese Weihestätten mit einem Namen benennen, der aber erst später aufkommen konnte. Weil er bei den Nachzüglern der alten Atlantis gebraucht worden ist, so gibt er am allerbesten wieder jene eigentümlichen Stätten, die zwischen Kultusstätten oder Kirchen und Schulen wie in der Mitte standen. «Orakel» können wir diese Weihestätten nennen. Was wurde in solchen Orakeln zunächst getrieben? Da waren die hohen fortgeschrittenen Individualitäten der atlantischen Menschheit. Sie suchten sich überall herum in der atlantischen Bevölkerung ihre Schüler, die reif waren, ausgebildet zu werden. Diese wurden aufgenommen in die Orakelstätten und wurden eingeweiht in die Geheimnisse der Welten- und Menschheitsentwickelung. Sie lernten die Wahrheiten kennen, die sich bezogen auf die geistigen Hintergründe der Welt, namentlich auf die geistigen Hintergründe unseres Sonnensystems. Da war ein Orakel des Mars. Alle die Weltkörper unseres Sonnensystems wirken aufeinander. Derjenige, der den Mars nur als physischen Körper ansieht, weiß wenig über die wirklichen Hergänge der Welt. Erst derjenige, der das Geistige des Mars, die geistigen Wesenheiten des Mars erkennt, weiß, was für Kräfte herunterwirken vom Mars; er kann ein wenig hineinschauen in jene Orte, die hinter den Kulissen des gewöhnlichen Daseins liegen. Und man kann schon sehr viel wissen über das, was als geheimnisvolle

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Kräfte unsere Erde dirigiert, wenn man zum Beispiel die Geheimnisse des Mars kennengelernt hat. Es ist so, daß durchaus innerhalb der atlantischen Entwickelung gewisse Eingeweihte alle Kräfte, die sie hatten, darauf verwenden mußten, gerade die Geheimnisse des Mars zu erforschen. Sie hätten nicht gleichzeitig die Geheimnisse des Saturn, des Jupiter, der Venus erforschen können; dafür gab es wieder andere Orakel. Es gab ein Venus-, ein Saturn-, ein Jupiter- ein Mars-, ein Merkur-, ein Vulkan-Orakel. Und ein großes Orakel - es war dies das bedeutsamste Orakel der alten Atlantis -, welches die Geheimnisse der Sonne erforschte und das, was als geistiges Wesen von der Sonne auf die Erde wirkt. Ausgerüstet mit den Kräften, die sie so erforschten, konnten die Eingeweihten die Führer sein der Volksmassen in Atlantis. Und der einheitliche Führer über alle war der tiefste Eingeweihte, der große Führer des Sonnenorakels, der das verkündete, was als die geistige Wesenheit in der Sonne ist, jene, die man mit dem Namen «Christus» nennen könnte. Sie wurde schon in der alten Atlantis durchaus verkündet.

Dieser Eingeweihte des Sonnenorakels hatte nun eine ganz bestimmte Aufgabe in einer ganz bestimmten Zeit übertragen erhalten. Er hatte die Aufgabe, auszuwählen aus der Masse der atlantischen Bevölkerung die Menschen, welche sich durch ihre Seelen besonders dafür eigneten, die Grundlagen abzugeben für die nachatlantische Kultur. Wir müssen uns vorstellen, wie das in der alten atlantischen Zeit war: Rechnen, Zählen, Kombinieren, Urteilen und so weiter waren keine Fähigkeiten, welche die Seelen damals hatten; das waren Fähigkeiten, die die Menschheit erst nachher ausbilden sollte. Damals hatten die Seelen die Fähigkeit, ein gewisses dämmerhaftes Hellsehen und gewisse magische Kräfte zu entwickeln. Sie wissen, wie die Menschen der alten Atlantis die Samenkräfte der Pflanzen ähnlich verwendet haben, wie wir heute die Kräfte der Steinkohle. So wie heute auf unseren Bahnhöfen Remisen für Kohlen sind und in diesen die Kohlen aufgespeichert werden, mit denen wir Maschinen heizen, die unsere Züge vorwärts schieben, so hatten die Atlantier Remisen für große Sammlungen von allerlei Samen.

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etrachten wir ein Samenkorn. Es hat die Kraft, den Halm nach aufärts zu treiben. Diese Kräfte konnten die Atlantier hervorlocken, die wir aus der Steinkohle die Kraft hervorlocken können, die innen steckt. Und wie wir heute unsere Lokomotiven vorwärts wegen mit der Kraft der Steinkohle, so bewegten die Atlantier ihFahrzeuge, die nahe am Boden über die Erde hinschwebten, die ne Art Aufwärtssteuerung und Abwärtssteuerung hatten, mit den ~menkräften. Die Atlantier waren in jeder Beziehung anders geart als die heutigen Menschen. Diejenigen waren große Erfinder, elche in bezug auf die Verwendung dieser Samenkräfte viel verochten. Sie waren vergleichbar unseren großen Gelehrten und Technikern - sie, die damals in dämmerhaftem Hellsehen besondere lnsicht bekamen in die Natur der Samen.

Diese großen Träger der atlantischen Kultur waren nun am wegsten geeignet, ausgewählt zu werden und herüberzutragen das, as notwendig war, um für die nachatlantische Kultur begründend werden. Es waren vielmehr gerade die schlichtesten Leute, die die nfänge des Rechnens, Zählens, Kombinierens und so weiter entwickelten, diejenigen, bei denen die Eigenschaften, die den Glanz 's Atlantiers ausmachten, am wenigsten ausgebildet waren. Mit eser Tatsache wollen wir uns trösten, wenn heute die Gelehrten .f uns herunterschauen. Wie dazumal der große Führer auswählen mußte diejenigen, die schlichte Leute waren, so müssen heute diejenigen ausgewählt werden, die einen Sinn haben für die Auswirkung des Christus-Prinzips in der Zukunft, gleichgültig, ob sie an der sitze der äußeren Kultur dahinmarschieren oder nicht. Wie damals der Ruf des großen Eingeweihten Manu erging an diejenigen, die die künftigen Eigenschaften in erster Form hatten, so ergeht heute durch die anthroposophische Bewegung der Ruf von spiritueller Seite vorzubereiten die Seelen für die nächste Kulturepoche. Nicht unter denjenigen, die die glänzenden Eigenschaften der heutigen Geirsamkeit haben, sind die Seelen, die die Kultur hinübertragen innen.

Diese großen Eingeweihten des Sonnenorakels versammelten um sich in einer Gegend westwärts vom heutigen Irland diese schlichten

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Leute, während die anderen Züge vom Westen nach dem Osten lange her schon gegangen waren.

[Hier bricht die Nachschrift ab.]

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HINWEISE

In diesem Band sind - thematisch gegliedert - Vorträge zusammengefaßt, die Rudolf Steiner 1908 und 1909 in zehn verschiedenen Städten vor Mitgliedern der damaligen Theosophischen Gesellschaft gehalten hat.

Einzelausgaben und frühere Veröffentlichungen:

Berlin 26. Okt. 1908 in «Das Weihnachtsmysterium. Novalis der Seher und Christuskünder», Dornach 1964; 1980

Stuttgart 14. Dez. 1908 in «Über Krankheitsformen und Krankheitsursachen>, Schriftenreihe der medizinischen Sektion am Goetheanum, 6. Heft, Dornach 1948

Berlin 22. Dez 1908 «Das Weihnachtsmysterium. Novalis als Seher>, Dornach 1930; in «Das Weihnachtsmysterium. Novalis der Seher und Christuskünder>, Dornach 1954; 1964; 1980

Berlin 26. Dez 1908 in «Märchendeutungen», Berlin 1911; in «Märchendichtungen im Lichte der Geistesforschung. Märchendeutungen», Basel 1942; Dornach 1960; 1969; 1979

Karlsruhe 18. Jan. 1909 in «Praktische Ausbildung des Denkens>, Stuttgart 1921, 1922, Dornach 1927, 1930, Dresden 1939, Dornach 1943, Stgt./Wien/Freiburg 1948, 1958, Dorn- ach 1970, 1973, 1979, 1984.

Textunterlagen: Die Vorträge wurden von verschiedenen Teilnehmern mitgeschrieben, deren stenografische Fähigkeiten sehr unterschiedlich waren. Die Nachschriften können deshalb nicht durchweg als wörtliche Wiedergabe des gesprochenen Wortes angesehen werden. Insbesondere die im Anhang gedruckten Vorträge stellen eher referatartige Zusammenfassungen der Vortragsinhalte dar.

Von den meisten Vorträgen liegen mehrere Mitschriften vor, die sich vor allem dadurch unter`scheiden, daß Auslassung oder Textübertragungsfehler nicht an den gleichen Stellen auftreten. Dadurch wurde es möglich, durch Zusammenarbeiten der verschiedenen Textun~rlagen einige zunächst unklare Stellen aufzuklären und gegenüber dem früher gedruckten Tcxt zu berichtigen oder zu ergänzen. Für die Neuauflage 1986 wurden alle dem Archiv der Rudolf 5teiner-Nachlaßverwaltung zur Verfügung stehenden Textunterlagen geprüft und entsprechende Berichtigungen vorgenommen.

Der Abschnitt ffl mit den Vorträgen über Philosophie hat eine Neubearbeitung erfahren. Neu aufgenommen wurde hier der bisher ungedruckte Berliner Vortrag vom 14. März 1908 umher die Stellung der Anthroposophie zur Philosophie in der relativ ausführlichen Nach'chrift des Berliner Stenografen Walter Vegelahn. Die Berliner Vorträge vom 20. und 28. Oktober sowie vom 13. November 1908, die in der Auflage 1970 nach jeweils einer der vorliegenden Mitschriften gedruckt waren, konnten nunmehr durch Heranziehen der Mitschriften und Notizen anderer Teilnehmer eine textliche Verbesserung erfahren; vom Vortrag vom 13. November 1908 (Kategorienlebre Hegels) wurde das Stenogramm von Franz Seiler erstmals übertragen. Die bei den Vorträgen dieses Abschnittes noch verbleibenden Lücken der Nachschiiften wurden im Text durch eckige Klammern [ ] gekennzeichnet, ebenso die von den Herausgebern hinzugefügten Ergänzungen. An der Herausgabe der Vorträge über Philos~

Phie haben mitgearbeitet: Hen&ik Knobel (Vortrag vom 14. März 1908) sowie Caroline Wispler und Karl Martin Dietz.

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Von den Nachschreibern sind nur wenige namentlich bekannt; es sind dies: Walter Vegelahn (14. März, 26. Oktober, 22. und 26. Dezember 1908); Franz Seiler (13. November und 22. Dezember 1908), ferner Clara Michels, Frau Aldinger und Frau Weiland sowie Jakob Mühlethaler.

Die in der Auflage 1970 abgedruckten Fragenbeantwortungen, die nicht in direktem inhaltlichen Zusammenhang mit den Vorträgen stehen, wurden in die Neuauflage nicht wieder aufgenommen.

Zu der Zeit, als Rudolf Steiner diese Vorträge hielt, stand er mit seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft noch innerhalb der damaligen Theosophischen Gesellschaft. Die von ihm damals gebrauchten Worte «Theosophie» und «theosophisch« wurden - zufolge einer von ihm später gegebenen Anweisung - an den inhaltlich in Betracht kommenden Stellen durch «Anthroposophie» und «anthroposophisch» ersetzt.

Der Titel des Bandes wurde vom Herausgeber der 1. Auflage, Ernst Weidmann, gewählt.

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angeführt. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

30 «Erkenne dich selbst!>: Inschrift am Apollotempel in Delphi.

31 gestern im öffentlichen Vortrag: Wien, 22. November 1908 «Wo und wie findet man den Geist?». Von diesem Vortrag gibt es keine Nachschrift. Ein im Berliner Architektenhaus am 15. Oktober 1908 gehaltener Vortrag mit dem gleichen Titel ist abgedruckt im Band «Wo und wie findet man den Geist?«, GA Bibl.-Nr. 57.

32 Goethe sagte einmal: Sprüche in Prosa: «Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: erkenne dich selbst .. .«, in «Naturwissenschaftliche Schriften«, herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur» 1884 - l897, 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl.-Nr. 1a-e, Band V, S. 461; siehe auch Goethe «Mazimen und Reflexionen» 657.

34 Alles, was du in bezug aufEntwickelung der &ele unternimmst: Vgl. Rudolf Steiner «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», Bedingungen. GA Bibl.-Nr. 10, Seite 28.

35 des Dichtespruches: «Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz». Friedrich Schiller, «Tabulae votivae», 23.

42 im ersten Grundiatz der 1heosophischen Gesellschaft. Er lautet: Den Kern eines allgemeinen Bruderbundes der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied des Glaubens, der Nation, des Standes, des Geschlechtes.

44 Johann Gottlieb Fichte, 1782 - 1814. Wörtlich heißt es in «Grundlage der allgemeinen Wissenschaftslehre», Anm. zu ~ 4: «Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten«.

45 in den Aufsätzen «Aus der Akasha-Chronik>: Erstmals erschienen in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» 1904 - 1908. Buchausgabe GA Bibl.-Nr. 11.

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48 Wir haben gestern... einiges besprechen können: Im öffentlichen Vortrag «Wo und wie findet man den Geist?», Breslau 1. Dezember 1908, ungedruckt; über Parallelvortrag siehe Hinweis zu Seite 31.

63 die )'iinf Kulturepochen: Siehe Rudolf Steiner «Die Geheimwissenschaft im Umriß», GA Bibl.-Nr. 13.

64 Gestern haben wir von den Rishis gesprochen: Im Vortrag vom 13. Dezember 1908 in diesem Band.

74 Es gahr ein spateies Sprichiivon: «Mens sana in corpore sano>, Juvenal Satiren X, 356.

77 : Joh. 14,6.

: Joh. 10,30.

80 Nah der Eröffnung des l;hrzheimer Zweiges: Am 18. August 1908.

86 Ereignis von Damaskus: Apostelgesch. 9.

87 «Dr mein Brot isset...>: Joh. 13,18.

: Matth. 26,26; Mark. 14,22 u. a.

88 denn ....... die Worte ausspricht: Röm. 8,19 f.

95 soll heute abend im öffentlichen Vortrag gesprochen werden: Der Titel dieses Vortrages war «Die Wiederverkörperung des Menschen und das Schicksal». Eine Nachschrift davon ist nicht vorhanden.

96 daß i:hJi«önfeehn Jahre meines Lebens damit zugehracht habe, Erzieher zu sein: Siehe «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, Kap. VI.

98 über den Zorn: Vergleiche hierzu Rudolf Steiners Vorträge über «Die Mission des Zornes> Berlin, 21. Oktober 1909 in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr. 81, Michaeli i983, und München, 5. Dezember 1909 in «Metamorphosen des Seelenlebens», GA Bibl.-Nr. 58.

111 esorer,scbe Philosophie: Es ist zweifelhaft, ob Rudolf Steiner sich hier wirklich so ausgedrückt hat, wie es von der Nachschreiberin festgehalten wurde. Zur inhaltlichen Aus- sage siehe Vortrag vom 7. Mai 1922 in «Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit der Welt- und Erdentwickelung», GA Bibl.-Nr. 212.

114 ff. Zu den Vorträgen über Nooa/is siehe auch: Hella Wiesberger, «Marie Steiner und die Novalisforschung Rudolf Steiners> in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Nr. 43/44.

114 Es iiiird)etzt eine Dichtung voigetragen: Durch Marie Steiner-von Sivers.

Novalis: Friedrich von Hardenberg. Als er 1798 als Autor hervortrat, nannte er sich Novalis, «welcher Name ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht ganz unpassend».

114/115 Novalis-Büste in Weimar: Von Fritz Schaper, 1841 - 1919. Ein Abguß der Büste ist im Besitz der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung.

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118 diese einzigartigen Worte Goethes: Im September 1796 besuchte Goethe Sophie in der Klinik des Dr. Stark in Jena. Eine schriftliche Äußerung konnte nicht ermittelt werden, doch schreibt Novalis am 14. April 1797 an seinen Freund Prof. Woltmann: «(Goethes) Anhänglickkeit an das erhabene Bild Sophiens hat mir ihn lieber gemacht, als alle seine trefflichen Werke .. .». Vgl. Novalis Schriften hg. von Paul Kluckhohn, Bd. IV, S. 199.

l23 Ereignis von Damaskus: Apostelgesch. 9.

125 Es gab den Weihnachtsbaum damals noch nicht: Vgl. dazu Rudolf Steiner «Der Weihnachtsbaum - ein Symbolum», Vortrag vom 21. Dezember 1909 in Berlin, enthalten in

130 die die Menschen ,'erloren haben (Zeile 14 v. u.): In einer anderen Nachschrift heißt es hier «die die Menschen rerlit5sen haben».

136 «Lieber ein Bettler...>: Homer «Odyssee», xJ. Gesang, Vers 488 f. in der Übertragung von J. H. Voss. Die Seele des Achilles sPricht zu Odysseus, als er durch ein Totenopfer aus dem Hades heraufbeschworen worden war: «Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus. Lieber möcht` ich fürwahr dem unbegüterten Meier, der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen».

141 Weinachtston: Vermutlich gebrauchte Dr. Steiner hier das Wort «Weihnachts-Anti- Phon» = Wechselgesang.

143 ff. Die in diesem Vortrag von Rudolf Steiner wiedergegebenen Märchen sind: «Hundert auf einen Streich», «Das Lilienmädchen» und «Die sechs Drachen», alle enthalten in der Sammlung «Ungarische Volksmärchen», nach der aus Gg. Gaals Nachläß herausgegebenen Urschrift, übersetzt von G. Stier, Pesth 1857.

170 Man hat... manches ein gewendet : Zum BeisPiel Paul Deußen in seiner «Allgemeine Geschichte der Philosophie>; vgl. hierzu Rudolf Steiners Vortrag vom 8. Jan. 1914 im Band «Geisteswissenschaft als Lebensgut>, GA Bibl.-Nr. 63, S. 208.

180 Ich möchte Ihnen ein Bild geben... Siegellack... Petschaft...: Vgl. hierzu Rudolf Steiners Vortrag auf dem IV. Internationalen Kongreß in Bologna am 8. April 1911 «Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie» im Band «Philosophie und AnthroposoPhie», GA Bibl.-Nr. 35.

182 V?ncenz Knauer: Siehe «Die Hauptprobleme der Philosophie», Wien/Leipzig 1892, 21. Vorlesung, 1. Die Erkenntnisquellen, S. 136 f.

l87 Luters Ausspruch: Martin Luther «Kirchenpostille», 1521, EA VII, S. 335 f. und «Brief an Eck», November 1519.

191 Zu dieser vom Nachschreiber nur mangelhaft festgehaltenen Textstelle vergleiche Rudolf Steiners Autoreferat seines Stuttgarter Vortrages vom 17. August 1908 «Philosc> phie und Anthroposophie», enthalten im Band der Gesamtausgabe mit dem gleichen Titel, Bibl.-Nr. 35, ferner die Ausführungen von Vincenz Knauer in «Die Hauptprobleme der Philosophie».

194 Wolff lehrte: Christian Wolff «Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes>, 1712.

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195 Kant sagt: Wörtlich: «Ich mußte also das Wissen aufbeben, um zum Glauben Platz zu

bekommen», in Vorrede zur 2. Ausgabe von «Kritik der reinen Vernunft», 1781.

202 die Ethik von Herbart: Johann Friedrich Herbart, Philosoph und Pädagoge, siehe die Schrift «Allgemeine Praktische Philosophie», Leipzig 1871, 1. Buch, Ideenlehre.

212 eine berhhmte, von Kant stammende Einteilung: Siehe «Kritik der reinen Vernunft», Einleitung IV.

216 Franz Exner, «Über Gesetze in Naturwissenschaft und Humanistik», Inaugurationsrede, gehalten an der K. K. Universität Wien, Aug. 1908.

2l8 der Vortrag den ich in Stuttgart gehalten habe: Am 17. August 1908. Der Vortrag er- schien noch 1908, gedruckt nach der Nachschrift eines Teilnehmers, mit dem Titel «Philosophie und Theosophie». Rudolf Steiner hat später den Text umgearbeitet und der Neuauflage 1918 den Titel «Philosophie und AnthroPosophie» gegeben. (In der Geseentausgabe im Band mit dem gleichen Titel, Bibl.-Nr. 35).

224 In einer ftaisig und gelehrt geschriebenen Broschüre: Diese Äußerung könnte sich beziehen auf die Auffassung Wilhelm Ostwalds in seiner Schrift «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus», in welcher er u. a. sagt: «Materie ist nichts» und «das Prädicat der Realität kann nur der Energie zugesprochen werden».

225 Hermann von Helmholtz: «Beschreibung eines Augenspiegels», Berlin 1851.

235 Den Fehler,....... hat der grofle Kant gemacht> inde,n er den ontologischen Gottesbeweis wider- legen wollte: «Kritik der reinen Vernunft», 3. Hauptsrück, 4. Abschn.: Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes.

237 VortrIge über elementare Logik: Vom 20. und 28. Oktober 1908, in diesem Band.

unser lieber Herr Walther: Kurt Walther hatte im Jahr 1908 in Berlin einen Kurs abgehalten über «Rudolf Steiners Erkenntnistheorie und Philosophie der Freiheit». Weitere Vorträge über philosophische Themen waren in dieser Zeit u. a. gehalten worden von Carl Unger und von Jakob Mühlethaler.

244 ein sehr bedeutender Philosoph der Gegenwart: Eduard von Hartmann. Siehe hierzu die Kommentare und Randbemerkungen Eduard von Hartmanns zu Rudolf Steiners «Philosophie der Freiheit» in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr. 85/86, Michaeli 1984.

246 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: «Wissenschaft der Logik» 1812 - 1816. In der Einleitung (Allgemeiner Begriff der Logik) heißt es wörtlich: «Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit> wie sie ohne H»ille an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen aus- drücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist>.

252 Lückenhafter Te,:t: An dieser Stelle haben beide Nachschreiber nur einen Teil des gesprochenen Wortes festhalten können.

Nschschrift A (gedruckt in der I. Auflage 1970): «Alles Sprechen über die Welt muß durchdrungen sein von jenen Begriffen, die ihre Konturen erhalten durch das innere Gefüge, den organischen Bau der ganzen Begriffswelt.»

328

252 Nachschrsft B: «So muß also alles Sprechen über die Wirklichkeit durchdrungen sein von jenen Begriffen, und jeder Begriff wird seinen Inhalt erhalten, ... durch das innere Gefüge in dem organischen Bau der ganzen Begriffswelt.«

256 Über «Praktische Ausbildung &s Denkens> hielt Rudolf Steiner im Winterhalbjahr 1908/09 vier Vorträge, die ersten beiden vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft sowie zwei öffentliche Vorträge am 11. Februar 1909 in Berlin (gedruckt in «Wo und wie findet man den Geist?>, GA Bibl.-Nr. 57) und am I3. Februar 1909 in Nürnberg (gedruckt in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe>, Nr. 78). Vom ersten Mitgliedervortrag, gehalten in Klagenfurt am 27. November 1908, liegen keine Nachschriften vor.

257 unsere heutige Brießnarke... erfunden... von dem Englander Hill: Sir Rowland Hill. Seine 1837 in London erschienene Schrift «Post office reform, its importance and practicability» erregte Aufsehen, da er u. a. zur Vereinheitlichung des Portos die Verwendung von Briefmarken vorschiug. 1840 wurden die ersten Wertzeichen ausgegeben.

Hill wurde 1846 zum Sel,tretär und später zum Leiter des Postwesens ernannt.

wurde von dem bayrischen Medizinalkollegium... ein Sachkrsta;ndigen-Gutachten d»thin abgegeben: Dieses wird erwähnt in «Die erste deutsche Eisenbahn» von R. Hagen, 1885, s. 45.

Generalpostmeister Nagler: Karl Ferdinand Friedrich von Nagler.

260 In einem niedlichen Experiment~~ment zeigt man es heute in jeder &hule: Der sog. Plateausche Versuch, entwickelt von dem Physiker J. A. F. Plateau, 1801 - 1883.

265 Johann Christian August Heinroth. Siehe «Lehrbuch der AnthroPologie», Gotha 1822, S. 387f. (2. Ausg. Leipzig 1831, S. 453f.).

Goethe selbst hat sich über diese Bemerkung gefreut: Siehe den Aufsatz «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort»; in «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur> 1884 - 1897, 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl.Nr. 1a~, Band fl, S. 31ff.

279 daif ich beginnen mit einem eigenen Erlebnis: Siehe «Mein Lebensgang», Kap. XVffl, GA Bibl.-Nr. 28.

280/81 i4iedrich Nietzscbe. : Aus «Also sprach Zarathustra», Von der schenkenden Tugend (3).

285 , Fragment Anfang 1873, das von Nietzsche selber nie in Druck gegeben wurde. Erschien erstmalig im X. Bande der Gesamtausgabe Leipzig 1896.

286 schrieb Ritschl: Friedrich Wilhelm Ritschl am i 1. Jan. 1869 an Erziehungsrat Wilhelm Vischer in Basel, wiedergegeben in «Der junge Nietzsche» von Elisabeth FörsterNietzsche, Leipzig 1912, S. 225.

286/87 Richard Wagner: Siehe seine Schriften über Musik «Das Kunstwerk der Zukunft» 1850, «Oper und Drama» 1851, «Beethoven» 1870 u. a.

288 ... die Ent,tehung des Werkes «&hopenhauer ~ Erzieher>: Als drittes Hauptstück der «Unzeitgemäßen Betrachtungen» 1874.

329

288

«Die Gehurt der Tragödie>: «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik»,

1. Aufl. 1872. Die dritte Ausgabe mit vorgedrricktem «Versuch einer Selbstkritik» er- schien 1886 unter dem Titel «Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessmusm~.

290 Wie auf Eis gelegt>: Wörtlich: «Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis geleget, das Ideal wird nicht widerlegt - es erfriert». Aus «Ecce homo / Menschliches A11zumenschhches» (1), 1888.

Es entstand die Schrift: : Erste Ausgabe 1878.

in dem Liede vom Übermenschen: Siehe «Also sprach Zarathustra», Zarathustras Vor»ede 3 und 4.

291 der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen: Siehe u. a. «Also sprach Zarathustra»

IIL Teil: Der Genesende (2).

«Wohl dem, derjetzt noch - Heimat hat!>: Zitiert aus dem Gedicht «Mitleid hin und her», I. Vereinsamt (1884).

296 Jacob Burckhard4 «Die Kultur der Renaissance in Italien», 1860.

300 : Siehe Hinweis zu S. 136.

Die Bedeeutung des Ereignisses von Golgatha hahen wir im August geschildert: Siehe «Welt, Erde und Mensch», ein Zyklus von elf Vorträgen, gehalten in Stuttgart vom 4. bis 16. August 1908, GA Bibl.-Nr. 105.

30l Dann morgen: Siehe den Vortrag vom 14. Dezember 1908 in diesem Band.

302 bei unserem letzten Kursus hier: «Die APokalyPse des Johannes», ein Zyklus von zwölf Vorträgen, gehalten in Nürnberg vom 17. bis 30. Juni 1908, GA Bibl.-Nr. 104.

309 Saoshyant: Das altpersische Wort bedeutet auf deutsch «Heiland».

317 Wie`werdet ihr mir glauben:Luk. 16,31.

330

PERSONENREGISTER

(H = Hinweis)

Albertus Magnus (1193 - 1280) 192 Kant, Immanuel (1724 - 1804) 175, 176, 177,

Anaxagoras (um 499-427 v. Chr.) 285 178, 188, 194, 195 H, 198, 212 H, 229,

Angelico, Fra (1387-1455) 293 235 H, 246

Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) 171, 172, 173, Kepler, Johannes (1571 - 1630) 200

182, 183, 185, 187, 190, 191, 192,198, 226, Knauer, Vincenz (1828 - 1894) 182 H

229, 246 Krug, Wilhelm Traugott (1770- 1842)

247 H

Averroes(1126-1198) 190 Kühn, Sophie von (1782-1797) 117, 118

Beethoven, Ludwig van (1770- 1827) 287 Leonardo da Vinci (1452- 1519) 136

Brion, Friederike (1752-1813) 117 Locke, John (1632-1704) 174

Burckhardt, Jacob (1818 - 1897) 296 H Luther, Martin (1483 - 1546) 187 H, 193

Lykurg von Sparta (ca. 9. Jh. v. Chr.) 63

Cartesius (Rene` Descartes) (1596 - 1650) Medici, Lorenzo di (1449 - 1492) 294, 295

174 Michelangelo (1475 - 1564) 294

Charpentier, Julie (1776-1811) 118 MühlethaIer, Jakob (1883-1972) H

Exner, Franz (1849 - 1926) 216 H NagIer, Karl Ferdinand Friedrich von

(1770-1846) 257H

Fechner, Gustav Theodor (1801 - 1887) 175 Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900)

Fichte, Johann Gottlieb (1762 - 1814) 44 H, 279-292 HH

175, 178, 186, 194, 195 Nikolaus Cusanus (1401 - 1464) 174

Novalis (Friedrich von Hardenberg) (1772 -

Goethe, Johann Wolfgang (1749- 1832) i801) 114 H- 125, 141, 142, 255

32 H, 91, 1i6, 117, 118 H, 186, 201, 228,

238,265H PIato (427-347 v. Chr.) 171, 189,281,282

Pythagoras (um 580-497 v. Chr.) 170,281,

Grimm, Jacob (1785 - 1863) und Wilhelm 282

(1786-1859) 168

Raffael (1483 - 1520) 136, 140, 316

Hartmann, Eduard von (1842-1906) 179, Ritschl, Friedrich Wilhelm (1806-1876)

195, 244 (o. N.) H 286 H

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 - Rockenthien, Johann RudoIf von (1755 -

1831) 175,178,186,194,237,245,246H, 1820) 118

247, 248

Heinroth, Johann Christian August (1773 - Savonarola, Girolamo(1452- 1498) 293-297

1843) 265 H SchelIing, Friedrich WilheIm Joseph von

HelmhoItz, Hermann von (1821 - 1894) (1775 - 1854) 175, i78, 186, 194

179, 194, 225 H Schiller, Friedrich (1759-1805) 35 H

Heraklit (um 500 v. Chr.) 170, 285 Schopenhauer, Arthur (1788 - 1860) 178,

Herbart, Johann Friedrich (i776- 1841) 179, 286

202 H Shakespeare, William (1564-1616) 287

Hill, RowIand (1795 - 1879) 257 H Sokrates (470 - 399 v. Chr.) 170

Hume, David (1711 - 1776) 174, 177, 194 Sophokles (496 - 406 v. Chr.) 289

331

Spencer, Herbert (1820-1903) 242, 243, 170, 189, 285

244 Thomas von Aquino (1225-1274) 173,190,

Spinoza, Baruch (1632 - 1677) 174 192

Steiner, RudoIf: Unger, Carl (1878 - 1929) H

TheosoPhie 242 Wagner, Richard (1813-1883) 286 H, 287,

Philosophie der Freiheit 242 ff. 288, 289

Friedrich Nietzsche, ein KämPfer 280 Walther, Kurt (1874-1940) 237 H

Wolff, Christian (1679 - 1754) i76, 194 H

Thales von Milet (um 625-545 v. Chr.) Wundt, Wilhelm (1832-1920) 175

333

ÜBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse vor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und verkäuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später Anthroposophischen)

Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung «Nur für Mitglieder» nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja fallen gelassen.

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wie sich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke in das einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in «geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - wurde.

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist- Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedüifnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte.

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und den Schrift-Inhalt der Bibel überhaupt in dem Lichte dargestellt zu hören, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen über diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen hören.

334

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderungen gehalten wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein konnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, die ich für die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an bestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen.

So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt. Die ganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.

Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Von irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zu drängend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.

Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings nur demjenigen zugestanden werden können, der kennt, was als UrteilsVoraussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als «anthroposophische Geschichte» in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.