GA 159

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Das Geheimnis des Todes

Wesen und Bedeutung Mitteleuropas
und die europäischen Volksgeister

Fünfzehn Vorträge,
gehalten 1915
in verschiedenen Städten

GA 159

1967

Inhaltsverzeichnis


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DIE VIER PLATONISCHEN TUGENDEN UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DEN MENSCHLICHEN WESENSGLIEDERN - DAS HEREINWIRKEN GEISTIGER MÄCHTE IN DIE PHYSISCHE WELT Zürich, 31. Januar 1915

Unsere Geisteswissenschaft hat die Aufgabe, hinwegzuräumen für unser Bewußtsein, ja für unser ganzes Seelenleben, jene Kluft, die sich aufrichtet für das äußere menschliche Bewußtsein zwischen der phy­sischen Welt, in welcher der Mensch die Zeit verbringt zwischen der Geburt und dem Tode, und der geistigen Welt, in welcher der Mensch die andere Zeit seines Gesamtlebens verbringt, die Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Solch ein Satz ist ja demjenigen, der in der Geisteswissenschaft mit allen Fasern seiner Seele darinnen lebt, so geläufig, so selbstverständ­lich. Er wird nur in einem Augenblick, wie es derjenige ist, in dem ich gerade heute zu Ihnen spreche, zu einem, man darf wohl sagen, besonders geheiligten. Haben wir doch vor ganz kurzer Zeit eine Reihe unserer lieben Freunde und Mitglieder durch die schweren Kriegs-ereignisse vom physischen Plane verloren und sind gewissermaßen im Begriff, zwei Freunde auf dem letzten irdischen Wege zu begleiten. Morgen um elf Uhr werden wir hier in Zürich die Kremation eines lieben Mitgliedes, der Frau Dr. Golazza haben, die in dieser Woche den physischen Plan verlassen hat, und gerade eben haben wir die Nachricht bekommen, daß unser lieber Freund Fritz Mitscher in der Nähe von Davos heute nachmittag um fünf Uhr den physischen Plan verlassen hat. In beiden Mitgliedern gehen uns hier vom physischen Plan liebe Seelen fort. Die Geisteswissenschaft aber weist uns den Weg, zu verstehen, wie wir in einem viel höheren Sinne, als wir das sonst verstehen konnten, solche Seelen nicht verlieren, sondern wie wir mit ihnen verbunden bleiben.

Es ist ja schon eine größere Anzahl von Seelen, die zu uns gehören, seitdem wir in unserer Bewegung arbeiten, durch die Pforte des Todes gegangen. Vor allem darf aus denjenigen Quellen heraus, aus denen

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uns die geistigen Erkenntnisse überhaupt ffießen, gesagt werden, daß sie uns, je nach ihren Kräften, treue Mitarbeiter in der geistigen Welt geworden sind. Und unter voller Verantwortung, unter der man etwas sagt, was auf dem Boden der Geisteswissenschaft fest fundiert sein soll, darf von mir gesagt werden: Wir haben in ihnen Stützen und Säulen für unsere geistige Bewegung gewonnen. Viele sind durch-gegangen durch die Pforte des Todes, arbeitend innerhalb unserer geistigen Bewegung, hinunterschauend auf das, dem sie in ihrer Liebe zugetan sind. In der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode haben sie die Art des Strebens, das in unserem Kreise vertreten wird, lieb-gewonnen. Hier in unserer Gesellschaft haben sie selber etwas ge­lassen, was auf dem Wege zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt ist.

Wie uns die Natur ringsumher eine Welt ist, auf die wir zurück­schauen, so können wir zurückschauen auf unser physisches Leben von demjenigen Moment ab, den man vergleichen kann mit der Ge­burt des Menschen. Unmittelbar nach dem Tode macht der Mensch eine Art von Zustand durch, der sich vergleichen läßt mit dem Em­bryonalleben, mit dem Leben im Leibe der Mutter, nur daß jenes Leben nach dem Tode nur nach Tagen zählt, also viel kürzer ist als das Embryonalleben irn Verhältnis zum physischen Leben. Dann folgt dasjenige, was sich vergleichen läßt mit dem Betreten der physischen Welt, mit dem Tun des ersten Atemzuges, dasjenige, was man das Aufwachen in der geistigen Welt nennen kann, wovon man sagen kann, es ist wie ein Gewahrwerden, daß der Wille der Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen ist, aufgenornrnen wird von den We­senheiten der höheren Hierarchien. Geradeso, wie hier der Mensch, wenn er aus dem Leibe der Mutter heraus die physische Welt physisch betritt, sich zuerst geeignet findet, die äußere Luft aufzunehmen, wie dann seine Sinne nach und nach erwachen, so kornrnt nach dem Tode jener Augenblick, wo die Seele fühlt: Der Wille, der während des physischen Lebens eingespannt war durch die Grenzen des physischen Leibes, fließt jetzt aus mir in das Universum hinaus. Und es empfindet dann diese Seele, wie dieser Wille wirklich aufgenommen wird durch die Tätigkeit der Wesenheiten der zunächst höheren Hierarchie, der

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Wesen der Hierarchie der Angeloi. Das ist wie das Holen des ersten Atemzuges in der geistigen Welt und das allmähliche Hineinwachsen in die geistige Umgebung, denn das zeigt uns die geistige Erfah­rung.

Ich möchte sprechen über das Schicksal derjenigen, die vom physi­schen Plane im Laufe der Jahre von uns gegangen sind. Ich möchte den Blick hinlenken auf diejenigen, welche hier unsere geistige Be­wegung liebgewonnen haben und auf sie hinunterblicken als auf etwas, wovon sie wissen, daß es dasjenige, in dem sie leben, mitteilt den Menschenseelen auch innerhalb des physischen Leibes. In dieser Weise in der Erinnerung an das irdische Leben anknüpfen können, ist etwas, was hier in der physischen Welt schon zur geistigen Welt gehört. Das bedeutet für die Betreffenden, die durch die Pforte des Todes gegan­gen sind, ein unendlich Wertvolles, ein unendlich Bedeutungsvolles. Und wenn sie dann in den Strom, der zu ihnen hinaufströmt aus der physischen Welt, der seine Quelle nimmt aus dem, was sie miterlebt haben in unserer Bewegung, ganz einflleßen wie ein Nebenfluß in einen Fluß, wenn einströmen die Gedanken derjenigen, die ihnen in Liebe oder aus Naturbanden heraus zugetan waren, dann ist die Ge­meinschaft, weil sie auf den geistigen Banden begründet ist, eine viel innigere, als sie in unserer materialistischen Zeit sonst sein könnte.

Und wir dürfen wiederum sagen: Bei manchem, der frühzeitig hin-gegangen ist durch die Pforte des Todes in die geistige Welt, erscheint es uns, wie wenn er dieses getan hätte aus inniger Liebe zu unserer geistigen Bewegung, um helfen zu können mit stärkeren Kräften von der geistigen Welt herab. Bei einer großen Anzahl von denen, die von uns gegangen sind, leben in ihren Seelen die wunderbar klarsten Empfindungen von der Notwendigkeit unserer geistigen Bewegung. Und für denjenigen, der in die geistige Welt hineinzuschauen vermag, sind alle diejenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind und jetzt herunterblicken auf die Bewegung, mit der sie verbunden waren, gleichsam die geistigen Herolde unserer Bewegung, diejenigen, die uns die geistigen Devisen vorantragen, indem sie uns unaufhörlich zurufen: Wir waren überzeugt, während wir mit euch vereinigt waren, von der Notwendigkeit dieser Bewegung. Jetzt aber, wo wir die geistige

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Welt betreten haben, wissen wir, daß wir helfen können und wie wir helfen müssen in der Zeit, in der diese Bewegung notwendig ist. Das ist etwas, was immer mehr und mehr diejenigen spüren wer­den, die hier auf dem physischen Plan zurückbleiben, die teure An­gehörige und Freunde auf dem physischen Plan verloren haben und denen gerade das Ausgesprochene der tiefste Trost sein kann, hier alles zu haben, was noch ein tieferes Band zwischen den Seelen knüpft, auch wenn wir nicht mehr in der Lage sind, in der äußeren Offen­barung, durch physische Augen und physische Worte, mit jenen See­len verbunden zu sein.

Vieles, vieles wird diese spirituelle Bewegung, derer wir teilhaftig werden sollen, bringen müssen. Aus dem mancherlei, das sie uns brin­gen soll, möchte ich heute ein besonderes Kapitel auswählen. Eine Zeit wie die unsrige, wo die äußere Kultur sich, trotz der letzten Nachklänge der alten Religionen, ganz und gar auf dem materialisti­schen Bewußtsein aufbaut, eine solche Zeit kann auch die Impulse des sittlichen Lebens im Grunde genommen nur so aufbauen, daß dabei nur das Leben zwischen Geburt und Tod berücksichtigt wird. Unter den mancherlei Dingen, die durch unsere spirituelle Bewegung kommen werden, wird sein ein neuer Aufbau des gesamten sittlichen, des gesamten Tugendlebens der Menschheit. Denn die Menschen werden lernen, das sittliche Leben, das Leben der Tugend aus einem Gesichtskreise zu betrachten, der über Geburt und Tod hinausgeht, der damit rechnet, daß die menschliche Seele durch wiederholte Er­denleben geht, der damit rechnet, daß die menschliche Seele, so wie man sie trägt in dem Leben zwischen physischer Geburt und Tod, durchgegangen ist durch viele Leben und vorwärts zu hoffen hat auf andere Leben, die sie weiterhin zu durchlaufen hat. Wenn wir den Gesichtskreis von einem Leben auf die aufeinanderfolgenden Erden-leben erweitert haben, dann wird eine umfassendere, richtigere Auf­fassung von dem Leben, auch eine richtigere und umfassendere Auf fassung von der Tugend und dem sittlichen Leben folgen.

Wenn wir von den Tugenden des Menschen sprechen, so können wir im wesentlichen zunächst vier solcher Tugenden unterscheiden, von denen man gewissermaßen im gewöhnlichen Sprachstil unter

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Menschen sprechen kann. Die eine Tugend, wie wir nachher andeuten werden, ist eine solche, welche in den Tiefen der menschlichen Seele lebt, von der man aber, wie wir sehen werden, aus heiligen Gründen so wenig wie möglich zu sprechen hat. Alle andern Tugenden, die im Leben vorhanden sind, die das sittliche Leben ausmachen, können als Spezialfälle der vier Tugenden, die wir betrachten wollen, aufgefaßt werden, jener vier Tugenden, von denen insbesondere das Altertum viel gesprochen hat.

Plato, der große Philosoph des alten Griechenlands, hat diese vier Tugenden deshalb unterschieden, weil er seine Weisheit noch aus den Nachklängen des alten Mysterienwesens hat schöpfen können. Unter den Nachklängen des alten Mysterienwesens hat Plato die Klassifizie­rung der Tugend besser treffen können als die späteren Philosophen oder gar als die unserer Zeiten, wo das Wissen von der Mysterien-weisheit so weit entfernt steht und etwas so chaotisches gewor­den ist.

Die erste Tugend, derer wir gedenken müssen, wenn wir in dem Sinne, wie er sich aus einer umfassenden Erkenntnis der Menschen-natur ergibt, von einem sittlichen Leben sprechen, das ist die Tugend der Weisheit. Aber man muß diese Weisheit in einem etwas tieferen Sinne und sich mehr auf das Ethische, auf die Sitteniehre beziehend auffassen, als man dies gewöhnlich tut. Wir können nicht sagen, daß Weisheit etwas ist, was gewissermaßen den Menschen einfach an-fliegen kann. Noch weniger ist Weisheit etwas, was der Mensch im gewöhnlichen Sinne erlernen kann. Es ist sogar nicht einmal leicht, dasjenige, was Weisheit uns bedeuten soll, mit eirügen Worten zu charakterisieren. Wenn wir unser Leben so durchleben, daß wir das­jenige, was in diesem Leben an uns herantritt, auf uns wirken lassen, wenn wir, von den verschiedenen Vorgängen des Lebens veranlaßt, von dem einen Vorgange lernen, wie wir dieses oder jenes richtiger hätten anfassen können, wie wir in bezug auf eine oder andere unsere Kräfte geschickter, stärker hätten machen sollen, wenn wir auf alles achten, was uns im Leben begegnet, in dem Sinne achten darauf, daß, wenn uns ein Ähnliches ein zweites Mal begegnet, wir uns das zweite Mal nicht mehr so anfassen lassen, wie das erste Mal, sondern uns

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belehrt fühlen. Und wenn wir das Leben hindurch die Stimmung be­wahren, vom Leben lernen zu können, und alles, was die Natur und das Leben uns entgegenbringt, so zu betrachten, daß wir etwas ler­nen, aber nicht nur so lernen, daß wir etwas wissen, sondern so, daß wir immer besser, innerlich wertvoller werden, dann nehmen wir an Weisheit zu, dann wird es so mit unserem Seelenieben, daß das, was wir erlebt haben, nicht wertlos an uns vorübergegangen ist.

In Wertlosigkeit geht das Leben an uns vorüber, wenn wir Jahr­zehnte verlebt haben und irgend etwas, das wir erlebt haben, in einem späteren Zeitpunkt ebenso beurteilen, wie es von uns in einem frühe­ren Lebensalter beurteilt worden ist. Wenn wir unser Leben so zu­bringen, dann stehen wir der Weisheit am allerfernsten. Das Karma mag es mit sich gebracht haben, daß wir in der Jugend zornig gewor­den sind, daß wir dieses oder jenes bei den Menschen schlecht be­urteilt haben. Wenn wir das so beibehalten, so haben wir unser Leben schlecht angewendet. Gut haben wir es angewendet, wenn wir, falls wir in der Jugend abfällig geurteilt haben, in einem bestimmten Alter nicht abfällig, sondern verständnisvoll, verzeihend urteilen, wenn wir uns bemühen, begreifen zu wollen. Wenn wir so geboren sind, daß uns gewisse Dinge in Jährorn gebracht haben und wir im Alter nicht immer noch in Jähzorn kommen wie in der Jugend, wenn uns unser Jähzorn durch das, was uns das Leben gelehrt hat, verlassen hat und wir milder geworden sind, dann haben wir das Leben im Sinne der Weisheit angewendet. Wenn wir in der Jugend Materialisten gewesen sind, dann aber haben einwirken lassen dasjenige, was uns die Zeit an Offenbarungen aus der geistigen Welt hat sagen wollen, dann haben wir unser Leben im Sinne der Weisheit angewendet. Wenn wir uns den Offenbarungen der geistigen Welt verschließen, dann haben wir unser Leben nicht im Sinne der Weisheit angewendet.

In dieser Weise bereichert werden, mehr Horizont gewinnen, das können wir die Anwendung des Lebens im Sinne der Weisheit nen­nen. Und das, was uns die Geisteswissenschaft geben will, ist geeignet, daß wir uns dem Leben gegenüber aufschließen, daß wir im Leben weiser werden. Weisheit ist etwas, was im eminentesten Sinne dem menschlichen Egoismus entgegentritt. Weisheit ist etwas, was immer

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rechnet mit dem Gange der Weltereignisse. Wir lassen uns deshalb durch den Gang der Weltereignisse belehren, weil wir dadurch von dem engen Urteil, das unser Ich faßt, abkommen. Ein weiser Mensch kann im Grunde genommen nicht egoistisch urteilen, denn wenn man von der Welt lernt, lernt man die Welt verstehen, lernt man, aus der Welt heraus sich sein Urteil korrigieren zu lassen, so daß uns die Weis­heit gleichsam herausreißt aus dem engen, beschränkten Gesichtskreis und mit sich in Einklang bringt. So könnte noch vieles angeführt werden, was uns allmählich eine Beschreibung der Weisheit liefern könnte. Nicht nach einer Definition solcher Begriffe sollen wir trach­ten, sondern wir sollen uns offen lassen das Gemüt, so daß wir, auch über die Weisheit, immer weiser werden können.

Hier in der physischen Welt muß nun alles, was der Mensch im Wachleben zu durchleben hat, sich der Werkzeuge der äußeren phy­sischen und ätherischen Natur bedienen. Wir sind als Menschen zwi­schen der Geburt und dem Tode nur, wenn wir schlafen, mit unserem seelischen Wesen, insofern es Ich und astralischer Leib ist, außerhalb unseres physischen und Ätherleibes. Wenn wir im bewußten Wach-zustande sind, dann bedienen wir uns der Werkzeuge unseres physi­schen und unseres Ätherleibes. Insofern wir uns mit Weisheit erfüllen, insofern wir trachten, in unserem Handeln und Denken, unserem Füh­len ünd Empfinden im Sinne der Weisheit zu leben, bedienen wir uns derjenigen Organe unseres physischen und Ätherleibes, welche ge­wissermaßen die aliervolikommensten innerhalb unseres Erdeniebens sind, derjenigen Organe, die zu ihrem Fertigwerden am längsten ge­braucht haben, die von Saturn, Sonne und Mond schon vorbereitet und als Erbschaft herübergekommen sind in unser Leben und einen gewissen Abschluß erfahren haben.

Ich möchte Ihnen von einer andern Seite her noch einen Begriff geben von dem, was man unter mehr oder weniger vollkommenen Organen verstehen kann. Nehmen Sie einmal auf der einen Seite unser Gehirn. Das Gehirn ist noch nicht das vollkommenste Organ, aber wir können es immerhin vollkommener nennen als andere Organe, denn es hat zu seiner Entwickelung länger gebraucht als diese andern Organe. Vergleichen wir das Gehirn mit unserem mittleren Körper,

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an dem wir die Hände haben. Wenn wir uns vornehmen, mit den Hän­den etwas zu tun, so haben wir den Gedanken: Ich strecke die Hand aus, ich nehme die Vase, ich ziehe die Hand zurück. Was habe ich da getan? Ich habe nicht nur die physische Hand, sondern auch die äthe­rische und die astralische Hand und ein Glied meines Ich ausgestreckt, aber die physische Hand ist mitgegangen.

Wenn ich bloß denke, nur Gedanken hege, dann kann das hell­sichtige Bewußtsein sehen, wie auch etwas wie geistige Arme sich herausstreckt aus dem Kopfe, aber das physische Gehirn bleibt in der Schale darinnen. Geradeso wie meine ätherische und astralische Hand zu meiner physischen gehört, so gehört auch etwas Ätherisches und Astralisches zu dem Gehirn. Das Gehirn kann nicht folgen, die Hände können aber folgen. In einer späteren Zeit werden die Hände aber auch einmal fest sein, und wir werden später einmal nur deren astra­lischen Teil bewegen können. Die Hände sind auf dem Wege, das zu werden, was das Gehirn heute schon ist. In früheren Zeiten, während der alten Sonnen- und Mondenzeit, war dasjenige, was sich heute vom Gehirn aus ausstreckt und nur geistig ist, auch noch begleitet von dem physischen Organ. Es hat jetzt sich nur die Schädelhülle darübergespannt, so daß das physische Gehirn darin festgebannt ist während der Erdenentwickelung. Das Gehirn ist ein Organ, das mehr Stadien der Entwickelung durchgemacht hat. Die Hände sind auf dem Wege, ähnlich zu werden wie das Gehirn, denn der ganze Mensch ist auf dem Wege, ein Gehirn zu werden. Es gibt also Organe, die voll­kommener sind, die sich mehr von der Entwickelung abgeschlossen haben, und solche, die weniger vollkommen sind. Die vollkommen­sten Organe werden gebraucht von dem, was wir vollbringen in Weis­heit. Unser gewöhnliches Gehirn wird eigentlich nur als Werkzeug für die niederste Form der Weisheit gebraucht, für die irdische Klug­heit. Aber je mehr wir Weisheit erwerben, desto weniger sind wir an­gewiesen auf unser großes Gehirn, desto mehr ziehen sich, was die äußere Anatomie nicht weiß, die Tätigkeiten zurück auf unser kleines Gehirn, auf das, was in unserem Schädel eingeschlossen ist als kleines Gehirn, das wie ein Baum aussieht. Wir Menschen befinden uns dann, wenn wir weise geworden sind, wenn wir Weisheit geworden sind,

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tatsächlich unter einem « Baume», der unser kleines Gehirn ist und der dann insbesondere anfängt, seine Tätigkeit zu entfalten.

Stellen Sie sich einmal vor, ein besonders weise gewordener Mensch streckt die Organe seiner Weisheit wie die Äste eines Baumes mächtig hinaus. Sie haben ihre Quelle im kleinen Gehirn, das sitzt in der Schädelhülle darin, aber die geistigen Organe erstrecken sich hinaus, und er ist unter dem Baume, dem Buddhibaume, in Realität, in geisti­ger Realität.

Da sehen wir aber auch, daß dasjenige, was wir in Weisheit tun, das Geistigste an uns ist, oder wenigstens zum Geistigsten gehört, denn die Organe ruhen schon. Wenn wir mit der Hand etwas tun, so müssen wir noch einen Teil der Kräfte auf die Bewegung der Hand verwenden. Wenn wir in Weisheit etwas beurteilen, in Weisheit etwas entscheiden, da bleiben die Organe ruhig, da wird auf das physische Organ keine Kraft mehr verwendet, da sind wir geistiger, und die­jenigen Organe, die wir auf dem physischen Plan anwenden, um in Weisheit zu leben, sind diejenigen, auf die wir die wenigste Kraft anzu­wenden brauchen, die gewissermaßen schon die vollkommensten sind.

Daher ist die Weisheit etwas im sittlichen Menschenleben, was den Menschen sich erleben läßt auf geistige Art. Damit hängt zusammen, daß das, was der Mensch an Weisheit erwirbt, ihn fähig macht, aus seinen früheren Inkarnationen die möglichst größten Früchte zu zie­hen. Weil wir im Geistigen ohne Anstrengung physischer Organe in Weisheit leben, sind wir durch das Weisheitsleben auch am meisten fähig, das, was wir uns in früheren Inkarnationen erworben haben, für dieses Leben fruchtbar zu machen, herüberzubekommen aus frü-heren Inkarnationen diese Weisheit.

Für einen Menschen, der nicht weise werden will, haben wir im Deutschen einen guten Ausdruck. Wir nennen ihn einen Philister. Ein Philister ist ein solcher Mensch, der sich gegen das Weisewerden sträubt, der sein ganzes Leben lang so bleiben will, wie er ist, der nicht zu einem andern Urteil kommen will. Ein Mensch aber, der weise werden will, bestrebt sich, dasjenige, was er an Arbeit in früheren Inkarnationen geleistet und aufgespeichert hat, aus den früheren In­karnationen herüberzubringen. Je weiser wir werden, desto mehr bringen

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wir aus früheren Inkarnationen in die gegenwärtige herüber, und wenn wir nicht weise werden wollen, so daß wir das Weisewerden von früheren Inkarnationen brach liegen lassen, dann kommt einer, der es absägt: Ahriman.

Niemand will es lieber als Ahriman, daß wir nicht weiser werden. Die Kraft haben wir. Wir haben viel, viel mehr in den früheren In­karnationen erworben, als wir glauben, viel mehr erworben in den Zeiten, in denen wir durch die alten Hellseherzustände durchgegangen sind. Ein jeder könnte viel weiser werden, als er wird. Es darf sich niemand damit ausreden, daß er nicht viel herüberbringen konnte. Weisewerden heißt, das, was man in früheren Inkarnationen erworben hat, herausbringen, so daß es uns erfüllt in dieser Inkarnation.

Eine andere Tugend ist diejenige, welche wir mit einem Worte, das eigentlich schwer zu bilden ist, die mutartige Tugend nennen können. Sie ist von derartiger Gemütsverfassung, daß sie dem Leben gegen­über nicht passiv bleibt, sondern geneigt ist, die Kräfte anzuwenden. Die mutartige Tugend kommt, wie man sagen könnte, aus dem Her­zen. Von einem solchen, der diese Tugend im gewöhnlichen Leben hat, kann man sagen: Er hat das Herz auf dem rechten Fleck. - Und das ist auch ein guter Ausdruck dafür, wenn wir imstande sind, nicht feige uns zurückzuziehen von den Dingen, die das Leben von uns verlangt, sondern wenn wir fähig sind, uns in die Hand zu nehmen, einzugreifen verstehen, wo es notwendig ist. Wenn wir in solcher Weise unsere Aktivität in Bewegung zu setzen geneigt sind, kurz, wenn wir wacker sind - der Ausdruck «wacker» ist auch ein guter für diese Tugend -, dann haben wir diese Tugend des wackeren Le­bens. Man könnte auch sagen, diese Tugend, die mit einem gesunden Gemütsleben zusammenhängt, das im richtigen Momente die Tapfer­keit erzeugt, deren Fehlen die Feigheit im Leben mit sich bringt, diese Tugend kann natürlich im physischen Verlaufe des Lebens nur durch gewisse Organe geübt werden. Diese Organe, zu denen das physische und das Ätherherz gehört, sind solche, welche nicht so vollendet sind wie diejenigen, die der Weisheit dienen. Diese Organe sind noch auf dem Wege, anders zu werden, und werden auch in Zukunft anders werden.

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Zwischen dem Gehirn und dem Herzen ist ein großer Unterschied in bezug auf das kosmische Werden. Nehmen Sie einmal an, ein Mensch geht durch die Pforte des Todes, geht durch das Leben zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt. Sein Gehirn ist überhaupt ein Götterprodukt. Das Gehirn ist von Kräften durchzogen, die, wenn man durch die Pforte des Todes geht, eigentlich ganz fortgehen und beim nächsten Leben wird dann das Gehirn vollständig neu aufgebaut, auch die inneren Kräfte dazu, nicht nur das Materielle. Also auch die Kräfte dazu werden neu aufgebaut. Das ist beim Herzen nicht der Fall. Beim Herzen liegt die Sache so, daß nicht das physische Herz, wohl aber die Kräfte, die im physischen Herzen tätig sind, bestehen bleiben. Diese Kräfte gehen zurück in das Astralische und in das Ich und bleiben auch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Die­selben Kräfte, die in unserem Herzen darinnen klopfen, klopfen auch das nächste Mal bei unserer neuen Inkarnation. Das, was im Gehirn funktioniert, ist fort, das kommt nicht in einer nächsten Inkarnation heraus. Aber die Kräfte, die das Herz durchaucken, sind auch in der nächsten Inkarnation wieder da. Wenn wir in ein Haupt hinein­schauen, können wir sagen: Darin funktionieren unsichtbare Kräfte, die das Gehirn zusammensetzen. Aber wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, werden diese Kräfte dem Kosmos übergeben. Wenn wir aber den Herzschlag eines Menschen verneh­men, vernehmen wir geistige Kräfte, die nicht nur in dieser Inkarna­tion vorhanden sind, sondern auch in einer nächsten Inkarnation leben werden, die hindurchgehen durch den Tod und durch die neue Geburt.

Solche Dinge ahnte das Volksgemüt in wunderbarer Weise. Daher legt es so viel Wert auf das Fühlen des Herzschlages, nicht weil man den physischen Herzschlag so sehr wertschätzt, sondern weil wir auf ein viel Ewigeres blicken, wenn wir den Herzschlag eines Menschen in Betracht ziehen. Wenn wir die Tugend des Mutartigen, des Wak­keren haben, so können wir nur einen Teil von gewissen Kräften für dieses Mutartige verwenden. Den andern Teil müssen wir verwenden für die Organe, die als Werkzeug für das Mutartige dienen. Das sind Organe, für die wir immer noch ein Stück der Kräfte verwenden müs­sen. Sind wir nicht mutartig begabt, entwickeln wir die Tugend der

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Wackerheit nicht, lassen wir uns gehen, treten wir feige vom Leben zurück, überlassen wir uns der Schwere unseres Wesens, dann kön­nen wir nicht diejenigen Kräfte beleben, die mitleben müssen mit der Auslebung der Tugend der Wackerheit, des Mutartigen.

Während wir feige im Leben dastehen, bleiben auch die Kräfte un­tätig, die unser Herz durchzucken sollen. Sie sind eine Saat für Luzi­fer. Der bemächtigt sich ihrer, und wir haben sie dann im nächsten Leben nicht. Feige sein dem Leben gegenüber bedeutet, Luzifer eine Anzahl Kräfte auszuliefern, die uns fehlen, wenn wir in unserer näch­sten Inkarnation unsere Herzen aufbauen wollen, die eigentlich die Organe, die Werkzeuge des Mutartigen sind. Wir kommen mit defek­ten, unausgebildeten Organen zur Welt.

Die dritte Tugend, die mit den unvollkommensten Organen rechnet, denjenigen, die erst in der Zukunft eine Gestalt bekommen werden, zu der sie jetzt nur den Keim enthalten, ist diejenige, die man nennen kann: die Besonnenheit. Man kann sie auch, in einer gewissen Schat­tierung, das maßvolle Leben nennen. Dann haben wir also drei Tugen­den: Weisheit, Tapferkeit oder Wackerheit, Besonnenheit. Auch die Mäßigkeit könnte man Besonnenheit nennen.

Unbesonnen kann man nun in der verschiedensten Weise sein. Un­besonnen kann man dadurch sein, daß man sich überißt und über trinkt. Das ist die niedrigste Art der Unbesonnenheit. Da geht das Seelische ganz unter in der leiblichen Begierde, und wir leben uns ganz in unserem Leibe aus. Wenn wir aber unsere Begierde in die Hand nehmen, wenn wir geradezu befehlen dem Leibe, was er tun darf und nicht tun darf, dann sind wir besonnen, man kann auch sagen: mäßig. Und dann behalten wir durch solche Mäßigkeit auch diejenigen Kräfte in der richtigen Ordnung, die mitwirken sollen, daß wir in der nächsten Inkarnation die betreffenden Organe nicht dem Luzifer ausliefern. Denn wir liefern die Kräfte dem Luzifer aus, die wir ausgeben durch Hingabe an ein leidenschaftliches Leben. Am schlimmsten dann, wenn uns die Leidenschaften in einen Rausch-zustand versetzen, wenn wir uns wohl fühlen bei dem Dahinträumen und dem Dahinduseln.

Da, wo wir unsere Besonnenheit verlieren, geben wir immer Kräfte

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dem Luzifer hin. Diese Kräfte nimmt er, aber damit nimmt er uns auch die Kräfte, welche wir für die Atmungs- und Verdauungsorgane brauchen, und wir kommen dann mit schlechten Atmungs- und schlechten Verdauungsorganen wieder, wenn wir nicht die Tugend der Mäßigkeit üben. Diejenigen, welche es lleben, sich hinreißen zu lassen von ihrem Begierdeleben, die sich ihrem Leidenschaftsleben hingeben, sind die Kandidaten für die dekadenten Menschen der Zu­kunft, für diejenigen Menschen der Zukunft, die unter allen mög­lichen Fehlern ihres physischen Leibes leiden werden.

Man kann sagen, diese Tugend der Besonnenheit ist angewiesen auf die unvollkommensten Organe der Menschen, auf die Organe, die im Anfangsstadium des Werdens sind, die sich noch ganz wesentlich umformen müssen. Wenn wir auf unsere Verdauungsorgane und auf das, was damit zusammenhängt, sehen, müssen wir, um diese in Be­wegung zu setzen, das Ich, den astralischen Leib, den Ätherleib und den physischen Leib anwenden. Wenn wir zu den Organen, die die Werkzeuge für das Mutartige sind, übergehen, dann ist die Sache schon anders. Da bleiben wir mit unserem Ich mehr oder weniger draußen, in dem bewegen wir uns frei, und nur unser Astralisches und unser Ätherisches geht in das Physische hinein. Wenn wir gar zu den Tugenden kommen, die die Weisheit umfaßt, da behalten wir das Ich und den astralischen Leib frei draußen. Denn indem wir weiser und weiser werden, organisieren wir den astralischen Leib, bekom­men wir den astralischen Leib in die Hand. Das ist das Wesentliche, daß wir beim Weiserwerden das Astralische in das Geistselbst um­bilden, und es geht nur das Ätherische mit dem Physischen zusammen. Im Gehirn ist das Ätherische nur mit dem Physischen zusammen. Und während wir beim Wachen in bezug auf den übrigen Leib sehr stark zusammenhängen wenigstens mit dem astralischen, mit dem physi­schen Organ, behalten wir für das Gehirn den Zustand, in dem wir im Schlafe sind, am meisten bei. Daher brauchen wir für das Gehirn den physischen Schlaf am meisten. Denn wenn wir wach sind, sind wir mit unserem Ich und unserem astralischen Leibe auch außerhalb des Gehirns, und die müssen sich dann am meisten anstrengen in sich selber, ohne daß sie eine Stütze haben an dem äußeren Organ.

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So finden wir einen Zusammenhang zwischen unserem mensch­lichen Wesen und den Tugenden. Wir können die Weisheit eine Tu­gend nennen, die dem Menschen als geistiges Wesen zukommt, wo er mit seinem Ich und seinem astralischen Leibe frei tatig ist und in dem physischen und ätherischen Organe nur eine Art Rückhalt hat. Wir können das Mutartige als Tugend nennen, da, wo der Mensch nur mit seinem Ich frei ist und in seinem astralischen, seinem ätheri­schen und seinem physischen Leibe seine Stütze hat. Wir können end­lich von der Besonnenheit sprechen, wo wir mit unserem Ich-Keim frei werden, wo wir gebunden sind mit unserem Ich an den astrali­schen, ätherischen und physischen Leib und uns mit unserem Ich aus dieser Gebundenheit herausarbeiten.

Dann aber gibt es eine Tugend, welche am allergeistigsten ist. Diese geistigste Tugend steht gewissermaßen mit dem Gesamtmenschen in gewisser Beziehung. Es gibt eine Handhabe des menschlichen We­sens, die wir im Grunde frühzeitig verlieren, die wir nur in den ersten Kinderjahren haben. Ich habe das schon öfter erwähnt, was hier vor­liegt. Es ist ja so, daß wir, wenn wir den physischen Plan betreten, nicht dieselbe Lage haben, die wir zu unserer Menschenwürde brau­chen: Wir kriechen auf alien vieren. Ich habe aufmerksam darauf ge­macht, daß wir uns erst durch unsere eigene Kraft in die richtige Lage bringen und aufrichten. Ebenso entwickeln wir uns durch die Kräfte, die in die Sprache hineingehen. Kurz, in den ersten Jahren unseres Lebens entwickeln wir Kräfte, welche uns im wesentlichen -geben Sie acht auf den Ausdruck - hinrichten in die Lage, die wir als wahre Menschen in der Welt haben. Wir kommen nicht so zur Welt, daß wir «richtig» in die Welt hineingerichtet sind. Wir kriechen. Aber wir sind richtig hineingesetzt, wenn wir das Haupt hinausrichten zu den Sternen. Das entspricht inneren Kräften.

Diese Kräfte verlieren wir im späteren Leben. Sie treten nicht mehr auf. Es tritt nichts mehr auf, was in ähnlicher Weise so energisch in das Menschenleben eingreift wie das Gehenlernen und das Aufrecht-stehen. Wir ermüden immer mehr und mehr in bezug auf das Uns-Aufrechterhalten. Wenn wir frühmorgens anfangen, mit unserem Gehirn zu leben, so werden wir, wenn wir den Tag vollbracht haben,

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müde, wir haben das Bedürfnis des Schlafes. Dasjenige, was uns in der Kindheit aufrichtet, wenn wir müde sind, bleibt das ganze Leben lang ziemlich müde und geht in eine Schlaffheit hinein, und so etwas Ähnliches wie das Aufrichten in der Kindheit wenden wir im späte­ren Leben nicht mehr an.

Und wie richten wir uns hinein in das Leben, wenn wir die Sprache lernen? Auch wenn wir sprechen lernen, wirken Richtekräfte mit. Dieselben Kräfte, die wir in frühester Kindheit anwenden, gehen uns aber während des späteren Lebens nicht etwa verloren. Sie bleiben uns, nur hängen sie mit einer Tugend zusammen, mit der Tugend, die mit dem Richtigen, dem Rechten zusammenhängt, mit der Tugend der allumfassenden Gerechtigkeit, der vierten Tugend. Dieselbe Kraft, die wir gebrauchen als Kind, wenn wir uns vom kriechenden Wesen aufrichten, lebt in uns, wenn wir die Tugend der Gerechtigkeit, die vierte der von Plato angeführten, haben.

Wer wirklich die Tugend der Gerechtigkeit übt, stellt ein jedes Ding, ein jedes Wesen an den richtigen Platz hin, geht aus sich heraus und in die andern hinein. Das heißt, in der allumfassenden Gerechtig­keit leben. In der Weisheit leben, heißt, die besten Früchte ziehen aus den Kräften, die wir in früheren Inkarnationen aufgespeichert haben. Und wenn wir da schon hinweisen mußten auf dasjenige, was uns in den früheren Inkarnationen zuteil war, wo noch göttliche Kräfte uns durchzogen, müssen wir bei der Gerechtigkeit noch mehr darauf hin-weisen: Wir stammen aus dem Kosmos. Gerechtigkeit üben wir, wenn wir die Kräfte entfalten, durch die wir mit dem ganzen Kosmos, aber in geistiger Beziehung, zusammenhängen. Die Gerechtigkeit stellt das Maß dazu dar, wie ein Mensch mit dem Göttlichen zusam­menhängt. Die Ungerechtigkeit ist, praktisch, gleich dem Gottlosen, gleich dem, der seinen göttlichen Ursprung verloren hat, und wir lästern Gott, den Gott, von dem wir abstammen, wenn wir irgend­einem Menschen Unrecht tun.

So haben wir zwei Tugenden, die Gerechtigkeit und die Weisheit, die uns zurückweisen auf das, was wir in früheren Zeiten, in andern Inkarnationen waren, in den Zeiten, als wir selbst noch im Götter-schoße gewesen sind. Und zwei andere Tugenden haben wir, das

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mutartige und das besonnene Leben, die uns hinweisen auf spätere Inkarnationen. Diesen führen wir um so mehr Kräfte zu, je weniger wir Luzifer geben. Wir haben gesehen, wie das Mutartige und das Besonnene in die Organe hineingehen und wie dadurch die Organe für die nächste Inkarnation zubereitet werden. Ebenso dehnt sich sitt­liches Leben über das zukünftige Leben aus, wenn wir uns mit Gei­stigkeit erfüllen. Zwei Tugenden leuchten hin über die verflossenen Inkarnationen: Weisheit und Gerechtigkeit. Tapferkeit und Beson­nenheit aber leuchten hin über die zukünftigen Inkarnationen.

Die Zeit wird kommen, wo der Mensch sich klar sein wird, daß er sich dem Ahriman in den Rachen wirft, wenn er sich gegenüber der Gerechtigkeit und der Weisheit verschließt. Das, was in früheren In­karnationen sein war, was der göttlichen Welt angehört hat, würde er dem Luzifer hinwerfen durch das, was er in Unbesonnenheit oder Feigheit des Lebens vollbringt. Was Luzifer erhascht, wird uns an Kräften für den Aufbau unseres Leibes im nächsten Leben entzogen.

Weisheit und Gerechtigkeit können wir nicht üben, ohne daß wir, wie schon angedeutet, selbstlos werden. Derjenige kann nur ungerecht sein, der selbstsüchtig ist. Derjenige kann nur unweise bleiben wollen, der selbstsüchtig ist. Weisheit und Gerechtigkeit führen uns über unser Selbst hinaus und machen uns zu Gliedern des gesamten Mensch­heitsorganismus. Die Tapferkeit oder Wackerheit oder das Mutartige und die Besonnenheit machen uns in gewisser Weise zu Gliedern des gesamten Menschheitsorganismus. Nur dadurch, daß wir Mut und Besonnenheit erleben, daß wir mit ihnen unser Leben verbringen, sorgen wir dafür, daß wir uns in der Zukunft in die Menschheit mit einer stärkeren Organisation hineinstellen. Entzogen wird uns dann nicht dasjenige, was wir sonst dem Luzifer hinwerfen. Der Egoismus verwandelt sich von selber in Selbstlosigkeit, wenn er im richtigen Sinne ausgedehnt wird über den gesamten Horizont des Lebens und der Mensch sich in das Licht der vierten Tugend stellt. Das ist dasjenige, was die spirituelle Weisheit der menschlichen Zukunft bringen wird, was sich ausdehnen wird auf die Ethik und auf das sittliche Leben. Das wird dann auch einfließen in die Pädagogik. Dadurch, daß die Weisheit und die Gerechtigkeit so aufgefaßt werden, wie ich

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es angedeutet habe, wird man das ganze Leben hindurch lernen wol­len. Man wird sehen, daß man erst dann richtig lernen muß, wenn man die Jugend hinter sich hat, während jetzt die Menschen so den­ken, daß sie, nachdem sie die Jugend hinter sich haben, nichts mehr zu lernen brauchen. Es gehen so selbst die größten und edelsten Früchte der Kunst, der großen Dichter der Menschheit verloren. Sie würden am besten in uns aufgehen, wenn wir als alte Leute wieder deren Werke hernähmen. Wenn die Leute die «Iphigenie» von Coeihe oder Schillers «Tell» lesen, so meinen sie gewöhnlich: Das haben wir ja schon in der Schule gelesen. - Das ist aber nicht richtig, denn man darf nicht vergessen, daß diese Werke am besten wirken, wenn man sie im Alter liest, denn dann dienen sie der Gerechtigkeit und der Weisheit.

Und wiederum wird auch die Kindheitspädagogik besondere Früchte tragen, wenn man die Tugend des Mutartigen und die Tugend der Besonnenheit im richtigen Lichte sehen wird. Diese Tugenden müssen da, wo man Kinder zu erziehen hat, individuell berücksichtigt werden, dadurch, daß man die Kinder immer wieder darauf hinweist, daß sie das Leben wacker ergreifen, daß sie nicht vor allem mög­lichen sich scheuen, allem möglichen gegenüber sich zurückziehen, und daß sie das Leben in Besonnenheit und Mäßigkeit auffassen, da-mit sie allmählich von ihren Leidenschaften hinwegkommen. Das ist dasjenige, womit man ungeheuer viel für die Kindererziehung tun kann. Diese Dinge werden wir im späteren Verlaufe unserer geistes-wissenschaftlichen Betrachtungen immer mehr auszuführen haben.

So sehen wir, wie dasjenige, was im sittlichen Leben der Mensch­heit sonst nur für den äußeren, physischen Plan, für das Leben zwi­schen der Geburt und dem Tode Gesetze hat, durch die geisteswissen­schaftlichen Betrachtungen über einen unendlich weiten Horizont aus­gedehnt wird. Es ist auch da so, wie es mit den übrigen Dingen in der Geisteswissenschaft ist. Hat doch auch die Menschheit in bezug auf die Naturwissenschaft es durchmachen müssen, daß ihr Horizont erweitert worden ist. Giordano Bruno weist die Menschen darauf hin, daß nicht nur die Erde da ist, sondern daß noch viele andere Welten draußen im Weltenraume da sind. Die Geisteswissenschaft weist die

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Menschen darauf hin, daß nicht nur ein Erdenleben da ist, sondern daß viele Erdenleben da sind. Die Menschen vor Giordano Bruno haben geglaubt, daß da oben eine Grenze sei. Giordano Bruno hat darauf aufmerksam gemacht, daß da keine Grenze ist, daß das Blaue des Himmels keine Grenze darstellt. Die Geisteswissenschaft zeigt, daß Geburt und Tod gar nicht da sind, sondern daß wir sie hinein­setzen in das Leben durch die Eingeschränktheit unseres Begreifens.

So wird die Kiuft zwischen dem Physischen und dem Geistigen überbrückt. Und so sind die Dinge, die auf geisteswissenschaftlichem Boden stehen, für diejenigen, die einen wirklichen, einen wahrhaftigen Monismus begründen. Diejenigen, die sich heute oftmals Monisten nennen, machen es mit ihrem Monismus sehr einfach. Sie nehmen den einen Teil der Welt und machen ihn zu einer Einheit, indem sie die andere Hälfte der Welt wegwerfen. Wahrer Monismus entsteht da­durch, daß man die beiden Hälften sinngemäß ineinanderfließen läßt. Dies geschieht durch die Geisteswissenschaft. Aber nicht nur, daß dies sinngemäß im Bewußtsein entsteht, sondern es muß entstehen für unser ganzes Leben. Immer mehr müssen wir dazukommen, wirk­lich zu wissen, wenn wir hinausschauen in die Welt: Da ist um uns herum, in alledem, was lebt und wirkt, etwas Übersinnliches, nicht nur in dem, was unser Auge sieht, sondern auch in dem, was der Ver­stand wahrnehmen kann, der an das Gehirn gebunden ist. Überall sind geistige Kräfte, hinter jeder Erscheinung, hinter der Erscheinung des Regenbogens, hinter der Bewegung der Hand und so weiter.

Wenn Sie nachlesen den Zyklus von Vorträgen, den ich um die Jahreswende vorigen Jahres in Leipzig gehalten habe, werden Sie fin-den, wie der Christus4mpuls durchgewirkt hat durch das Mysterium von Golgatha, wie der Christus in den wichtigsten Menschheitsangele­genheiten lebt, nicht nur in dem, was die Menschen gewußt haben. Da haben sie sich zum Beispiel über Dogmen gezankt. Während sie sich aber zankten, lebte der Christus-Impuls sich durch und bewirkte das, was geschehen sollte.

Nehmen wir die Gestalt der Jungfrau von Orleans. In der Entwicke­lung Europas tritt das einfache Hirtenmädchen auf Merkwürdig tritt sie auf, so daß in ihrer Seele nicht nur diejenigen Kräfte leben, die

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man sonst eigentlich im Menschen hat, sondern daß in dieser Persön­lichkeit der Christus-Impuls wirkt und sie durch seinen mächtigen Impuls belebt und trägt. Sie wurde gleichsam eine Darstellung des Christus-Impulses selber für ihre Zeit. Das konnte sie nur, indem der Christus-Impuls in ihr Platz griff.

Sie wissen, daß wir das Weihnachtsfest feiern in der Zeit, wo die Sonnenkraft am geringsten ist, im tiefsten Dunkel der Winterszeit, weil wir da überzeugt sein können, daß das innere Licht, das geistige Licht die größte Intensität hat.

Alte Sagen erzählen uns, daß über Weihnachten bis zum 6. Januar Leute etwas ganz Besonderes durchgemacht haben, weil da das Erden-leben und die inneren Kräfte der Erde am konzentriertesten sind. Die, welche dazu veranlagt sind, erleben da in der Tat die geistigen Kräfte in den Erdenkräften. Zahllose Sagen bekunden uns das. Die beste Zeit dafür sind die dreizehn Tage vor dem 6. Januar.

Die Jungfrau von Orleans hat in einem besonderen Zustande diese dreizehn Tage verbracht, in einem Zustande, wo ihr Gemüt noch nicht empfänglich war für die äußere Welt. Sonderbarerweise fällt die Zeit, in der die Jungfrau von Orleans im Leibe der Mutter getragen wurde, so, daß sie ablief in der Weihnachtszeit im Jahre 1411. Sie wurde geboren, nachdem sie die letzten dreizehn Tage im Leibe der Mutter zugebracht, am 6. Januar. Bevor sie den ersten Atemzug ge­tan hat, bevor sie mit dem physischen Auge das physische Licht ge­sehen hat, erlebte sie das Irdische in den dreizehn Tagen in dem Schlafe, den der Mensch durchmacht, bevor er die physische Welt betritt.

Ich deute hier auf eine ungeheuer bedeutsame Sache hin, die zeigt, wie die Welt von dem Spirituellen aus regiert wird, wie das, was äußer­lich in der physischen Welt geschieht, in der Richtkraft der geistigen Welt dirigiert wird, wie unter dem Physischen die geistige Welt fließt.

So müssen wir in der jetzigen Zeit immer bewußter durch die Gei­steswissenschaft die Kluft zwischen dem Physischen und dem Geisti­gen hinwegräumen. Auf einem Gebiete tun wir das für das Leben, wenn wir uns bewußt werden, daß gerade innerhalb unserer Bewegung die Kräfte derjenigen sind, die Seele und Leib während ihres irdischen

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Lebens vereint haben mit unserer Bewegung und durch die Pforte des Todes gegangen sind. Wenn wir hinblicken auf das andere Ufer des Stromes, wo sie tätig sind und uns mit ihnen vereint fühlen und unsere Gedanken auf sie richten, dann tun wir das aus vollem Be­wußtsein heraus, dem Bewußtsein, das wir uns durch die Geistes­wissenschaft aneignen. Wir wissen uns im lebendigsten Zusammen-hange mit denjenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, und wir wissen sie als die besten Kräfte unter uns. Wenn wir dies tun oder denken können, so betrachten wir das Leben als ein Saatfeld. Zwischen dem, was wir selber pflanzen, sehen wir überall darinnen diejenigen Pflanzen, die heraufsprießen, ohne daß wir selber sie auf­sprießen lassen konnten. Und dann können wir wissen: Diese Pflan­zen setzen diejenigen, welchen es vergönnt ist, in der Welt des Geistes zu sein, diejenigen, mit denen wir uns verbunden fühlen, mit denen wir eins werden.

Eine Menschenbruderschaft auch mit denjenigen, die nicht mehr den physischen Leib tragen, das wird das charakteristische Zeichen dieser Bewegung sein und derjenigen, die sich als Glieder dieser Be­wegung fühlen und in Zukunft sich zu ihr rechnen. Andere, nur auf das Irdische gebaute Gesellschaften werden manche Schranke zwi­schen Mensch und Mensch hinwegräumen. Die Schranken zwischen den Lebenden und den Toten werden immer mehr und mehr durch die Bewegung hinweggeräumt werden, welche die Menschen ver-einigen wird, die sich im Zeichen der Geisteswissenschaft vereinigen wollen. Das wollen wir alle in unseren Seelen tragen und als bleibende Empfindung aufnehmen gerade das Charakteristische, das uns ver­bindet mit dieser uns teuer gewordenen geistigen Bewegung.

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Während der Kriegsjahre wurden von Rudolf Steiner vor jedem von ihm innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag in den vom Kriege betroffenen Ländern die folgenden Gedenkworte gesprochen:

Die ersten Gedanken, die wir jetzt bei unserem Zusammensein in unseren Zweigen hegen, sollen gerichtet sein nach den Geistern, die jene beschützen, welche draußen stehen auf den Feldern, wo sie jetzt den großen Pflichten der Zeit mit Blut und Seele zu dienen haben. Wir wollen unsere Bitten richten an die schützenden Geister dieser Seelen, damit dasjenige, was wir aufbringen an bittender Liebe, hin-ausstrahlen und sich vereinigen kann mit der Kraft der diese Seelen auf den Feldern der Ereignisse schützenden Geister.

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,

Eure Schwingen mögen bringen

Unserer Seelen bittende Liebe

Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,

Daß, mit Eurer Macht geeint,

Unsere Bitte helfend strahie

Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und für diejenigen, welche schon durch die Pforte des Todes gegan­gen sind:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,

Eure Schwingen mögen bringen

Unserer Seelen bittende Liebe

Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen,

Daß, mit Eurer Macht geeint,

Unsere Bitte helfend straltle

Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und der Geist, den wir durch die Jahre unseres Strebens gesucht haben, er möge die Kraft, die er getragen hat durch das Mysterium von Golgatha, Euch erstrahlen lassen, damit Ihr Stärke habet zum Vollbringen desjenigen, was die großen Pflichten der Menschheit von Euch fordern. Der Geist, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, der Geist des Christus sei mit Euch!

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DER DURCHGANG DES MENSCHEN DURCH DIE TODES­PFORTE - EINE LEBENSWANDLUNG Hannover, 19. Februar 1915

Es ist eine Zeit, wo in schneller Aufeinanderfolge durch die fast täg­lichen vielen Tode uns nahetritt des Menschen Zusammenhang mit der geistigen Welt, mit jener Welt, welche der Mensch betritt, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Und unter ganz besonderen Verhältnissen treten uns diese schnell aufeinanderfolgenden, fast gleichzeitigen Tode entgegen. Diese besonderen Verhältnisse sind dadurch gegeben, daß durch die Pforte des Todes zahireiche Erdenmenschen gehen, welche unter den Verhältnissen, unter denen man im Grunde genommen sonst den Erdenmenschen stehend glaubt, noch jahrzehntelang auf dieser Erde hätten leben können. Und immer, wenn der Mensch gewissermaßen vorzeitig durch die Pforte des Todes schreitet, treten ja auch außerordentliche Verhältnisse ein.

Wir wissen, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, zurückläßt, gleichsam dem Erdenelement übergibt dasjenige, was als sein physischer Leib von ihm abfällt. Wir wissen, daß dann als zweites der sogenannte Ätherleib in Betracht kommt, daß aber auch dieser sich von der in die geistigen Gebiete zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchgehenden, aus dem Astralleib und dem Ich sich zusammensetzenden Individualität trennt; daß dieser Ätherleib gleichsam fortwirkt, abgetrennt von Ich und Astralleib. Dieser Ätherleib, der nun in die uns zunächststehende geistige Welt eintritt, die wir oftmals ätherische Welt genannt haben, dieser Ätherleib, von ihm können Sie sich denken, daß er anders aussieht bei einem solchen, der frühzeitig durch die Pforte des Todes geht, und anders bei jemand, der sein Leben bis ins hohe Alter hinein gelebt hat. Denn dieser Ätherleib, der bei einem frühzeitig Verstorbenen durch die Pforte des Todes zu gehen hat, er hätte unter normalen Verhältnissen noch viele Jahre, ja Jahrzehnte die Kraft gehabt, den physischen Leib mit Leben zu versorgen. Nun geht in der geistigen Welt ebensowenig eine Kraft verloren wie in der physischen Welt. Diese Kraft, die sonst den physischen

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Leib mit Leben versorgt, bleibt bestehen. So daß wir sagen können: Wenn jetzt Tausende doch fast jeden Tag durch die Pforte des Todes gehen, dann treten in die elementarische Welt Äther]eiber ein, die noch lebensfähig sind, die andere Kräfte in sich haben, als älter gewordene Ätherleiber. Was geschieht nun mit diesen noch lebensfähigen Ätherleibern?

Ich habe gestern im öffentlichen Vortrag von der realen Volksseele gesprochen. Diese Volksseele ist eine wirkliche Wesenheit. Sie braucht gerade in unserer Zeit ganz besondere Kräfte. Sie braucht solche Kräfte auch zu andern Zeiten, selbstverständlich, aber ganz besonders in unserer Zeit. Diese Volksseele nimmt diese noch lebensfähigen Ätherleiber auf Der Mensch selbst mit seinem Ich und Astralleib geht andere Wege - diejenigen Wege, welche ihn dann vorbereiten zu sei­nem nächsten Erdenleben. Aber diese Ätherleiber trennen sich von den menschlichen Individualitäten, sie gehen in das Wesen, in die Substanz der Volksseelen über. So daß wir nach einer solchen schick­saitragenden Zeit, wie wir sie jetzt durchieben, einer Zeit entgegen­gehen, wo die Volksseele in sich enthält - wie in ihr befindliche leben­dige Kräfte - die Ätherleiber, welche ihr von denjenigen übergeben worden sind, die in den Schlachten durch die Pforte des Todes ge­gangen sind. Eine Zeit rückt also heran, wo der Geisteswissenschafter wissen kann, daß unverloren ist dasjenige, was auf dem Altar der großen Zeitereignisse an Ätherleibern hingeopfert worden ist. Eine Zeit rückt heran, wo von der Volksseele eine wirksame Kraft aus-strahlt in die einzelnen Seelen hinein, von denen zugleich ausgeht das­jenige, was in den ersten, zweiten, dritten Jugendjahrzehnten zahlreiche Menschen hier auf der Erde aufgenommen haben, was sie durch viele Jahrzehnte noch hätten behalten können, was sie aber der Volks­seele übergeben haben. Das wird in der Zukunft in den Kräften darin sein, welche die Volksseele in die einzelnen Seelen hineinträufelt, das ist unverloren.

Führen wir uns das so recht zu Gemüt. Bedenken wir einmal, wie sich in unserem Gemüt beleben kann unser Bewußtsein von dem Zu­sammenhange mit der geistigen Welt, wenn wir dieses festhalten, daß man zukünftig wird sprechen können von der Volksseele so, daß in

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ihr die Früchte der Opfertode als wirksame Kräfte sind. Und ganz besonders wichtig wird das in der nächsten Zeit sein. Zu andern Zei­ten wäre dies anders, für die nächste Zeit aber wird es aus einem ganz besonderen Grunde bedeutsam sein.

Wir lebten in einer argen Zeit des Materialismus. Gleichsam waren die Seelen, die nicht an die Geisteswissenschaft herankommen konn­ten, eingetaucht in eine starke Aura des Materialismus. Diese Aura zu bekämpfen, wird die Aufgabe der Volksseele in der nächsten Zeit sein. Kräfte werden dieser Volksseele zur Bekämpfung des Materia­lismus dadurch zufließen, daß die Ä therleiber der Frühverstorbenen in dieser Volksseele weiterleben, eben als Kräfte weiterleben. Die stärksten Kämpfer gegen den Materialismus werden diese auf dem Altar der Menschheitsentwickelung hingeopferten Ätherleiber sein.

So müssen wir unterscheiden zwischen dem, was als einzelner Mensch durch die Gefilde der geistigen Welt zieht und mit der menschlichen Individualität vereinigt bleibt, von dem, was auf dem Umweg durch den Ätherleib an die Allgemeinheit abgegeben wird; was in der geistigen Allgemeinheit in dem hier angeführten Sinne in der Substanz der Volksgeister weiterwirkt.

Besonders tief kann sich dies in unser Gemüt einprägen, wenn wir zwei Menschentypen in bezug auf diesen geistigen Unterschied vor unsere Seelen hinstellen: den auf dem Schlachtfeld gefallenen Krie­ger, der ganz hingegeben der Aufgabe seines Volkes durch die Pforte des Todes schreitet - der gewissermaßen in dem Augenblick, wo er das Schlachtfeld betritt, wo er sich nur entschließt, das Schlachtfeld zu betreten, sich auch entschließen muß, dem Tode ins Auge zu schauen -, und diesen Menschentypus vergleichen mit dem Asketen. Gerade wenn man ins Auge faßt, was im Menschenleben die Kräfte des Ätherleibes bedeuten, bekommt man eine Vorstellung von dem Unterschied des auf dem Schlachtfeld gefallenen Kriegers und des Asketen. Der Asket arbeitet an sich selbst. Er versucht, so an sich selbst zu arbeiten, daß er das Physische an sich völlig überwindet, daß er noch während der Zeit des Lebens von diesem Physischen frei wird. Dadurch, daß der Asket so arbeitet, vollzieht sich auch eine bedeutende Verwandlung an seinem Ätherleib. Er verbraucht sozusagen

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in der stärksten Weise die Kräfte dieses Ätherleibes, um sie sich einzuverleiben in sein Ich und seinen Astralleib. Was den Asketen frei macht vom Physischen, das kommt ganz der Individualität zu­gute, das dient der Umwandiung der Individualität. So daß ein solcher Mensch, der Asket wird, der Menschheit nur auf dem Umwege des­jenigen dienen kann, was er aus sich macht. Derjenige aber, der sich vom physischen Leibe in früherer Jugendzeit dadurch frei macht, daß er den kriegerischen Forderungen sich zu ergeben hat, übergibt die Kräfte seines Ätherleibes der Allgemeinheit, er verleibt sie dem all­gemeinen Wirken ein. Man muß diesen Unterschied fühlen, es ist ein bedeutsamer Unterschied. Er weist uns wiederum ein bißchen auf das hin, was als Realität im Menschenleben waltet. Und bedeutsam ist es auch, gerade hinzuschauen mit Rücksicht auf dasjenige, was der Ätherleib ist, auf das Durchgehen durch die Todespforte.

In dem Augenblick, wo der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, ist er noch mit seinem Ätherleibe vereint. Was mit diesem ge­schieht, haben wir öfter geschildert. Diese Vereinigung mit dem Ätherleib gibt dem Menschen die Möglichkeit, so recht in allen Vor­stellungen zu leben, welche das letzte Leben in ihm angefacht hat, ganz aufzugehen wie in einem mächtigen Tablean in all demjenigen, was ihm das letzte Leben gegeben hat. Aber es ist dieses ein An­schauen, das verhältnismäßig kurze Zeit dauert, das mit der Loslösung des Ätherleibes von Ich und Astralleib abglimmt. Ja man kann sagen, es beginnt gleich nach dem Moment des Todes ein Abglimmen, ein Immer-Schwächerwerden der Eindrücke, die noch von dem Besitz des Ätherleibes herrühren, und es macht sich dann dasjenige geltend, was nach dem physischen Tode maßgebend ist. Was da maßgebend ist, wird nur in geringerem Maße richtig vorgestellt von den Men­schen, die sich Vorstellungen über das Leben nach dem Tode machen wollen. Es ist sogar schwierig, Worte zu prägen für jene ganz anders­artigen Verhältnisse, gegenüber den Verhältnissen, die im physischen Leibe durchiebt werden. Man glaubt leicht, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, ein Bewußtsein sich erst wiederum erwerben müsse. So ist es eigentlich nicht. Was der Mensch durchmacht, wenn er durch die Pforte des Todes durchgeht, ist nicht

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ein Mangel an Bewußtsein. Mit dem Tode tritt nicht ein Mangel des Bewußtseins ein, das Gegenteil tritt ein. Ein Zuviel, eine Überfülle des Bewußtseins ist da, wenn der Tod eingetreten ist. Man lebt und webt ganz im Bewußtsein darin, und so wie das starke Sonnenlicht die Augen betäubt, so ist man zunächst vom Bewußtsein betäubt, man hat zuviel Bewußtsein. Es muß dieses Bewußtsein erst herab­gedämmert werden, damit man sich orientieren kann in dem Leben, in das man nach dem Tode eingetreten ist. Das dauert längere Zeit, es geschieht nach und nach in der Weise, daß nach dem Tode immer mehr Momente eintreten, in denen das Bewußtsein eine solche Orien­tierung möglich macht; daß die Seele für eine mehr oder weniger kurze Zeit zu sich kommt und dann wiederum in eine Art schlaf ähnlichen Zustand eintritt, wie man es bezeichnen könnte. Dann wer­den nach und nach solche Momente immer länger, die Seele kommt immer mehr in solche Verhältnisse hinein, bis ein vollständiges Orien­tieren in der geistigen Welt da ist.

Schwierigkeiten macht auch dieses, sich klare, deutliche Vorstellun­gen zu machen von der Art, wie der durch die Pforte des Todes Ge­gangene die Umwelt wahrnimmt. Wir haben in den letzten Wochen eine liebe antliroposophische Freundin durch Feuer bestattet, und nach dem Wunsch der Toten war mir die Aufgabe zugefallen, den an dem Orte des eingetretenen Todes sich versammelnden Freunden eine Bestattungsfeier zu machen. In der Zeit, in welcher ich gesprochen habe und meine Worte an die Tote gerichtet hatte, war die Tote ge­wissermaßen wie schlafend. Dann wirkte die Wärme, es ergriffen ge­wissermaßen die Flammen den Leib, und in diesem Augenblick kam wie ein Moment des Bewußtseins über die Seele, wie ein Moment der Orientierung, und da hatte die Tote das ganze Bild desjenigen, was die Bestattungsfeier und die Bestattungsrede war, vor sich, wie man etwas Räumliches gleichzeitig vor sich hat. Die Zeit wird da wirklich zum Raum. Man sieht das Vergangene nicht so, wie man im Leben das Vergangene in der Zeit verlaufend sieht, sondern man sieht wie ein Räumliches das, was vergangen ist, vor sich. So daß dasjenige, Was schon abgelaufen war, was geschehen war, sagen wir eine Viertel­stunde zuvor, dann vor der Seele der Toten stand wie ein erster Aufleuchtemoment

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des Bewußtseins. Dann kam wiederum ein Zustand des Betäubtseins in dem überflutenden Bewußtseinslicht, um in die­sem Zustand entgegenzugehen jenen andern Zuständen, in denen dann die Seele allmählich lernt, sich zu orientieren in der geistigen Welt.

Es ist wichtig, wenn wir uns wirklich gute Vorstellungen über das Leben nach dem Tode machen wollen, daß wir diese ganz andern Zeitbegriffe ins Auge fassen; daß wir einsehen, wie da die Zeit nicht etwas ist, von dem man sagen kann, es ist verflossen, und man erinnert sich an die Dinge, die in der Zeit geschehen sind, sondern das Ver­flossene steht da. Wie der Tisch dasteht und dieser Tisch nicht mit-geht, wenn ich dorthin gehe, wie ich auf ihn zurückschaue, so bleibt nach dem Tode dasjenige, was geschehen ist, was eben nur erinnert werden kann, da stehen, und der Tote schaut darauf zurück, wie man im Leibe auf die räumlichen Gegenstände zurückschaut. Das ist sehr wichtig, ins Auge zu fassen. Was weiter von ganz besonderer Wich­tigkeit ins Auge zu fassen ist, das ist, daß wir wirklich in Verbindung bleiben, daß unser Erdenleben in Verbindung bleibt mit dem, was wir nachher zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erleben; wenigstens in enger Verbindung bleibt bis zu dem Zeitpunkt, der im letzten Mysteriendrama als Mitternachtsstunde des geistigen Daseins bezeichnet worden ist.

Ich möchte doch nicht versäumen, von diesen schwierig zu schil­dernden Verhältnissen nach und nach unseren Freunden Vorstellun­gen zu geben. Auf das, was wir als Erdenmenschen zwischen Geburt und Tod durchlebt haben, sieht die Seele, die in den Tod gegangen ist, zurück - aber nicht so, als ob das, was man da durchgemacht hat, bloß da wäre, sondern es wirkt mit in einer eigentümlichen Weise man­cher Lebenszustand des Toten. Der Lebenszustand des Toten ist ja nicht so wie der Lebenszustand des zwischen Geburt und Tod Leben­den. Der Lebenszustand des zwischen Geburt und Tod Lebenden ist so, daß er sich in seine Haut eingeschlossen fühlt und durch seine Sinne hinausschaut in die Welt. Sobald man als Toter eintritt in die geistige Welt, ist man in die ganze geistige Welt ausgeflossen. Man fühlt sich wie die ganze geistige Welt erfüllend nach und nach. Und das, was man durchlebt hat während des physischen Erdendaseins,

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empfindet man wie etwas, was einem bleibt - nicht als physischer Leib natürlich, sondern als das, was die Form, die Kräfte des physischen Leibes ausmacht. Das bleibt einem wohl nach dem Tode, aber man hat es so, wie man jetzt im physischen Leibe das menschliche Auge hat. Wie man das Auge zum Sehen hat, so hat man dann sich selbst, das Erdenleben, das man durchlebt hat, wie ein kosmisches Sinnes­organ, um die Welt damit wahrzunehmen. Was unser Auge jetzt für unseren Leib ist, das ist unser Erdenleben für unser geistiges Leben nach dem Tode.

Es wird uns unser Erdenleben gleichsam eingesetzt als ein Auge, als ein Sinnesorgan. Sie werden erst nach und nach bei längerem Meditieren darauf kommen, welch Bedeutsames eigentlich damit aus­gesprochen ist, daß unser Erdenleben Sinnesorgan wird für unser Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Wenn der Mensch beim Einschlafen mit seinem Ich und Astralleib aus seinem physi­schen Leibe und Ätherleibe heraustritt, so ist es nämlich auch schon ähnlich. Wenn die Initiation eintritt und der Mensch sehend wird in der geistigen Welt außerhalb seines physischen und ätherischen Lei­bes, dann weiß er: In der geistigen Welt nimmst du wahr wie durch ein Sinnesorgan mit dem geistigen Teil deines physischen Leibes, und du denkst in der geistigen Welt mit deinem Ätherleib. Dein Ätherleib ist eigentlich wie dein Gehirn in der geistigen Welt und dein früherer physischer Leib ist ein Sinnesorgan. Du selbst aber bist mit all deinen Lebenskräften ausgegossen über die geistigen Weiten. Du hast dich verbreitet, du fühlst dich nicht durch deine Haut zusammengedrängt an einen Ort, du fühlst dich ausgegossen, ausgebreitet über die gei­stige Welt.

Es ist das ein ganz anderes Dasein. Und damit hängt zusammen, daß derjenige, der selbst in die geistige Welt eintritt, sei es durch den Tod, sei es durch Initiation, mit den andern Wesenheiten der geistigen Welt, mit Wesenheiten höherer Hierarchien oder mit Menschenseelen, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt leben, so vereinigt lebt, daß er sie nicht so erlebt, wie man Erdenmenschen außen trifft, wo man räumlich von ihnen getrennt ist. Sondern er erlebt sie als mit ihm befindlich in einem gemeinsamen Geistraum, sich gegenseitig

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durchdringend. Das, was eine andere Seele erlebt, erfährt man nicht dadurch, daß sie einem etwas sagt, wie bei den Erdenmenschen, son­dern so, daß man in die andere Seele sich hineinlebt und in ihrer Wesen­heit ihre Gedanken miterlebt. Daher ist es auch, daß man nur dann sicher sein kann, in sich wirklich das zu erleben, was zum Beispiel ein Toter erlebt, wenn man weiß: Man ist gewissermaßen in dem Toten darinnen, man gibt nicht nur etwas wieder, was man nach dem Muster­bild von irgend etwas vernimmt, das man auf der Erde erlebt, sondern man vernimmt: Der Tote selbst spricht durch deine Wesenheit.

Auch das möchte ich Ihnen durch ein Beispiel erläutern. Eines unse­rer Mitglieder ist vor kurzem gestorben. Noch vor der Feuerbestat­tung war es, daß gewissermaßen die Notwendigkeit gefühlt wurde, zu vernehmen, was diese Persönlichkeit nach dem Tode zu sagen habe. Zu sagen habe dadurch, daß sie gewissermaßen mit ihrem Äther-leib noch zusammensteckte und sich durch ihren Ätherleib gewisser­maßen auf irdische Art ausdrücken konnte, dennoch aber alles zu­sammenfaßte, was durch ein intensives Miterleben der anthroposo­phischen Weltanschauung in ihre Seele verweht worden war. Also wir haben es mit einer Persönlichkeit zu tun, die zu ziemlich hohen Jahren gekommen war, die in der letzten Zeit ihres Lebens wirklich intensiv und mit allen Kräften ihres Herzens sich eingelebt hat in unsere gei­steswissenschaftliche Weltanschauung. Dann ging sie durch die Pforte des Todes. Nun hatte sie also noch ihren Ätherleib. Es war noch vor der Feuerbestattung, und der Ätherleib war noch da als ein Mittel, sich auszudrücken. Das gab die Möglichkeit, sich noch durch irdische Worte auszudrücken, weil der Ätherleib diese nacherleben konnte. Und die Befreiung vom Leibe, vom Erdendasein, gab zugleich die Möglichkeit, das ganze Wesen zusammenzufassen, das sich durch das Herz eingegraben hatte in die Seele. Und indem sich mir zeigte, wie diese Persönlichkeit, die also durch die Pforte des Todes gegangen ist, ihr Wesen aussprechen wollte - etwa am zweiten Tage, nachdem der Tod eingetreten war -, bildeten sich die Worte, die ich Ihnen mit­teilen kann, Worte, die also anzusehen sind als Worte, von der Toten erlebt. So daß man sich vorzustellen hat, daß hier, am zweiten Tage nach dem Tode, dieses Wesen der Seele, die durch die Pforte des

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Todes gegangen war, erfüllt war von der Kraft dieser Worte, sich in der Kraft dieser Worte aussprach. Und wenn man sich in diese Seele versetzte, so sprach durch einen in diesen Worten sich dieses Wesen der Seele, dieses Wesen der Toten aus. Deshalb konnte ich nichts bes­seres tun, als dann bei der Bestattung gerade diese Worte an die Tote zu richten, denn es waren die Worte, die sie gleichsam selbst zu den Freunden sprach, die um die irdischen Reste umherstanden. Ich kann Ihnen die Versicherung geben: Ich habe nichts, nichts zu diesen Wor­ten hinzugetan, sondern ich habe versucht, sie aufzufassen aus dem Wesen der Toten. Gewiß, später tritt dann das ein, was ich die Betäubung des Bewußtseins genannt habe, was man eine Art Schlafzustand nennen könnte. Nun würde die Tote nicht dieses ihr Wesen ebenso zum Ausdruck haben bringen können, weil ihr jetzt das Mittel des Ätherleibes fehlt. Sie wird es nach einiger Zeit wiederum können, aber unmittelbar nach dem Tode wäre das unmöglich. Die Worte heißen:

In Weltenweiten will ich tragen

Mein fühlend Herz, daß warm es werde

Im Feuer heil'gen Kräftewirkens;

In Weltgedanken will ich weben

Das eigne Denken, daß klar es werde

Im Licht des ew'gen Werde-Lebens;

In Seelengründe will ich tauchen

Ergeb'nes Sinnen, daß stark es werde

Für Menschenwirkens wahre Ziele;

In Gottes Ruhe streb' ich so Mit

Lebenskämpfen und mit Sorgen,

Mein Selbst zum höhern Selbst bereitend;

Nach arbeitfreud'gem Frieden trachtend,

Erahnend Welten-Sein im Eigensein,

Möcht' ich die Menschenpflicht erfüllen ,

Erwartend leben darf ich dann

Entgegen meinem Schicksalsterne,

Der mir im Geistgebiet den Ort erteilt.

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Das ist gewissermaßen das Lebensergehnis des jahrelangen Auf-gehens in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Dieses jahre-lange Aufgehen in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung ist zum Wesen der Seele selbst geworden und hat sich so ausgesprochen.

Es ist dieses ein konkretes, ein anschauliches Beispiel, wie die Kräfte der Seele erfaßt werden, wenn man nicht bloß in der Theorie die geisteswissenschaftliche Weltanschauung aufnimmt, sondern wenn man sie zu Lebenskräften in der Seele macht. Da tritt die Empfindung, da treten die Gefühle, die aus der geisteswissenschaftlichen Welt­anschauung kommen, hinaus über das Theoretische und werden selbst Kräfte in der Seele. Denn ganz gewiß ist es: Niemand, der nicht durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung gegangen ist, würde sein eigenes Wesen nach dem Tode in solche Worte zusammenfassen:

In Weltenweiten will ich tragen

Mein fühlend Herz, daß warm es werde

Im Feuer heil'gen Kräftewirkens;

In Weltgedanken will ich weben

Das eigne Denken, daß klar es werde

Im Licht des ew'gen Werde-Lebens...

Ich möchte dieses als ein anschauliches Beispiel vor Ihre Seele hin-stellen für den geheimnisvollen Gang, den die menschliche Seele nimmt gerade durch den Zeitpunkt hindurch, der das Leben zwischen Geburt und Tod trennt von dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, wo gewissermaßen alles das, was uns im Erdenleben noch äußere Erfahrung war, innerer Reichtum der Seele wird und so in uns lebt. Hier nimmt man Geisteswissenschaft noch als etwas Äuße­res an. Gleich nach dem Tode aber zeigt es sich, wie sie so in der Seele lebt, ja, sagen wir, so wie Muskelkraft jetzt in unserem physischen Leibe lebt. Das muß man einmal erfühlen, wenn man so richtig den inneren Sinn, die innere Bedeutung dessen erfassen will, was die Gei­steswissenschaft der menschlichen Seele sein kann. Man wird dann nach und nach - dazu muß man Geduld haben - sich einen Begriff aneignen von den doch ganz andersartigen Verhältnissen, die in der

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geistigen Welt bestehen. Wenn wir uns von den Verhältnissen, die in der Sinneswelt sind, Worte und Begriffe prägen, so können wir höch­stens Sinnbilder dessen geben, was in der geistigen Welt ist. Man muß sich in Geduld hinarbeiten zu Begriffen und Empfindungen und Ge­fühien, die einigermaßen richtig und wahr dasjenige ausdrücken, was die Verhältnisse der geistigen Welt sind. Die Logik des Erdenlebens -ja, es ist wirklich nur eine Logik des Erdenlebens -, sie ist für das Erdenleben schon manchmal recht brüchig. Ich habe auch hier schon angeführt, wie man mit der Logik des Erdenlebens an den wirklichen Tatsachen vorbeigehen kann. Ich habe öfter das Beispiel angeführt:

Nehmen wir an, ein Mensch geht an einem Bach spazieren. Wir sehen, daß er in den Bach hineinfällt. Wir eilen herbei und entdecken, daß er schon tot ist. Wir sehen einen Stein an der Stelle, wo der Mensch in den Bach gefallen ist, und können uns jetzt ein ganz logisches, aber doch oberflächliches Urteil bilden. Wir können sagen: Der Mensch ist über den Stein gestolpert, in den Bach gefallen und ertrunken. Er ist den Tod des Ertrinkens gestorben. - Aber das kann ganz falsch sein. Wenn man vielleicht rein äußerlich anatomisch die Sache unter­sucht, so kann es sich herausstellen, daß der Mensch vom Herzschlag getroffen worden ist; dadurch fiel er ins Wasser. Der Herzschlag ist die Ursache seines Todes. Mit der gewöhnlichen richtigen Logik schließen wir das Verkehrte. Solche Schlüsse - das sei nur nebenbei bemerkt - werden im menschlichen Leben und namentlich in der Wissenschaft fortwährend gemacht. Die Wissenschaft ist voll von sol­chen Schlüssen, wo Ursache und Wirkung verwechselt werden.

Aber wichtig wird die Sache, wenn menschliche Schicksalsfragen in Betracht kommen. Wir haben in Dornach im Herbst einen solchen Schicksalsschlag erlebt, der im bedeutungsvollsten Sinne lehrreich ist. Der kleine, siebenjährige Sohn unseres Mitgliedes, Theo Faiß, der ein außerordentlich liebes, aufgewecktes Kind war, wurde eines Abends vermißt. Es war gerade an einem Vortragsabend. Die Mutter suchte das Kind, es war nicht zu finden. Und als der Vortrag vorbei war, da hörte man eigentlich erst, daß die Mutter den Knaben vermisse, und man konnte sich nichts anderes denken, als daß der Tod des Knaben in Zusammenhang stände mit dem Umfallen eines Möbelwagens. Ein

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Mitglied unserer Gesellschaft hatte ihre Möbel in einem Möbeiwagen schicken lassen, und dieser Möbelwagen war an dem Abend an der Stelle, wo er stand, umgefallen. Es war zehn ein Viertel Uhr des Abends und wir wendeten alles mögliche an, um den Wagen zu heben. Das mobillsierte Militär kam uns entgegen, um uns zu helfen, diesen Möbeiwagen aufzuheben. Der Möbeiwagen wurde gehoben, und man fand den Knaben erdrückt unter dem Wagen. Nun bedenken Sie, in dieser Gegend ist überhaupt vorher niemals ein Möbeiwagen gefah­ren; nachher auch nicht. Der Knabe ist, man konnte das später kon­statieren durch alles Mögliche, was man so Zwischenfälle und Zufälle nennt, gerade in der Zeit - es hat sich ja nur um Minuten, ja um einen Augenblick gehandelt - dort an der Stelle gewesen, wo der Möbelwagen umfiel. Merkwürdig war es allerdings, daß zunächst diejenigen, die an der Stelle waren, wo der Wagen umgefallen ist, nur daran ge­dacht haben, die Pferde in Sicherheit zu bringen. Man hatte keine Ahnung, daß der Möbelwagen auf den kleinen Knaben gefallen war.

Das Kind war also tot. Die äußere materialistische Anschauung kann sagen: Nun ja, zufällig ist dort zu dieser Stunde der Möbelwagen umgefallen, das Kind kam darunter und wurde zerquetscht. So wird natürlich die materialistische Anschauung sagen. Vor der spiri­tuellen Anschauung ist das ein vollständiger Unsinn. Denn das, was da vorliegt, ist das Karma des Kindes, und dieses Karma des Kindes lenkte all die einzelnen Verhältnisse. Es hat auch den Möbelwagen dorthin gelenkt gerade zu der Stunde, wo das Kind den Tod brauchte, weil das Karma des Kindes es so wollte. Das Karma des Kindes war abgelaufen. Wir haben es hier zu tun mit der Notwendigkeit, Ursache und Wirkung wirklich umzukehren.

Durch solche Verhältnisse und ihre Anschauung kann man sich all­mählich hinaufranken zu der wirklichen Auffassung des Lebens, die uns dazu bringt, das, was der äußere Sinnenschein darbietet, gerade umzukehren. Wir müssen das vielfach umkehren. Aber so ganz be­deutsam wird die Sache dann, wenn nachher erlebt wird, was aus einer solchen Tatsache wird. Die Seele eines Menschenwesens geht durch die Pforte des Todes. Diese Seele war sieben Jahre in einem physi­schen Leibe verkörpert. Warum hätte denn der kleine Theo nicht auch

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siebzig, achtzig, neunzig Jahre werden können, äußerlich angesehen, wenn das Karma es nicht unmöglich gemacht hätte? Ein Ätherleib ist da, der das Leben noch Jahrzehnte hindurch hätte versorgen können; ein Ätherleib, der wirklich angefüllt war von Kräften des Ewigen, Guten. Es war ein ausgezeichneter Knabe. Von der eigentlichen Individualität, dem Ich und Astralleib, wissen Sie ja, daß sie dann ihren Weg weitergehen. Aber der Ätherleib löst sich los, dieser Ätherleib, in den hineinverwoben sind alle die zarten, schönen Kräfte, die sich im Kindheitsalter entwickelt haben, in dem aber auch leben alle die Kräfte, die aus den früheren Inkarnationen kommen. Nun bedenken Sie, was man mit einem solchen Ätherleib vor sich hat. Die Individua­lität kommt aus den früheren Inkarnationen. Sie verleiht sich neu ein in dieser Inkarnation; sie bringt mit, was aus früheren Inkarnationen kommt. Das Leben in dieser Inkarnation ist gewissermaßen die Frucht, das Ausleben dessen, was Ursache in einem Leben war in früheren Inkarnationen. Durch das ganze Leben hindurch hätten sich diese Früchte ausleben können. Dann wäre in diesen Ätherleib alles das­jenige hineingegangen, was aus den Früchten der früheren Inkarna­tionen kommt. Das ist nicht geschehen. Dafür steckt in diesem Äther-leib alles das darin, was noch Ursachen in den früheren Inkarnationen hat. Und das Merkwürdigste ist nun: Derjenige, der versucht, die Aura unseres Dornacher Baus zu durchforschen, der findet diesen Ätherleib des kleinen Theo in der Aura des Dornacher Baus. Da ist er, da umschwebt er, umlebt er den Dornacher Bau. Derjenige, der zu tun hat mit dem Dornacher Bau oder noch zu tun haben wird nach jenem Spätherbstnachmittag, an dem der kleine Theo durch die Pforte des Todes gegangen ist, der weiß, was verändert worden ist an der geistigen Aura des Dornacher Baues dadurch, daß dieser Aura ein­verleibt worden ist jener Ätherleib, der die Kräfte enthält, die sonst noch jahrzehntelang für die Versorgung eines physischen Menschen-leibes verwendet worden wären, und dieser Ätherleib ist eben aus­gegossen in diese Aura des Baues.

So geheimnisvoll sind die Wege, welche die durch die Welt flutende Weisheit mit ihren Geschöpfen durchzumachen hat. Es gibt erst rich­tige Vorstellungen von der Art, wie das gesamte Menscherileben verläuft

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- zu dem ja im eminentesten Sinne das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt gehört -, wenn man auf Einzelheiten dieser Dinge eingeht. Und da unsere anthroposophische Bewegung wirk­lich nicht etwas Abstraktes sein soll, sondern etwas, worin wir sind mit unserem ganzen Wesen, worinnen auch diejenigen sind, die eben zu uns gehören, so darf auch über solche Dinge gesprochen werden. Wir vereInigen uns ja nicht nur wie andere Gesellschaften mit einem bestimmten Programm, sondern wir wollen mit unserer ganzen Seele in unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung darin sein. Wir wollen diese geisteswissenschaftliche Bewegung als einen konkreten Strom denken, zu dem jeder gehört, der sich wirklich empfindungsgemäß zu ihr bekennt. Und so können wir sagen: Da sprechen wir, wie man eben in einer erweiterten Familie über die Angehörigen da oder dort spricht. Denn dasjenige, was uns sozusagen familiär vertraut berührt, das gibt uns zugleich über die geistige Welt die höchsten, die bedeut­samsten, die für uns wichtigsten Aufschlüsse.

Aus solcher Gesinnung heraus möchte ich noch einen der uns gerade in der letzten Zeit öfter betroffenen Tode unserer Freunde erwähnen. Der uns allen so unendlich liebe Freund Fritz Milscher ist vor kurzem durch die Pforte des Todes gegangen. Und da war es so, daß sich mir die Notwendigkeit ergab, zusammenzufassen in Worte, was die eigene Seele fühlte, indem sie sich hinneigte zu der Seele, die eben durch die Pforte des Todes gegangen war. Merken Sie den Unterschied zwischen den vorhergehenden Worten, die ich Ihnen vorgelesen habe, und den Worten, die ich jetzt Ihnen vorlesen will. Die soeben hier vorgelese­nen Worte sind aus der Seele der Toten heraus. Die Worte, die ich Ihnen jetzt vorlesen werde, sind angeregt in der eigenen Seele beim Anblick des seelisch mit seinem Ätherleib noch vereinten Toten, Fritz Mitscher. Es ist also der Eindruck, den der Tote machte, der jetzt in diesen Worten wiedergegeben ist. Sie wissen vielleicht, Fritz Mitscher war schon als junger Lehrer an den verschiedensten Orten, besonders in Berlin, tätig für unsere Anthroposophische Gesellschaft. Und viele von uns wissen ja auch, wie gerade er gewillt war in so schöner Weise, alles das, was er an Erdenwissenschaft und Erdengelehrsamkeit sich hat aneignen können, zu verbinden mit dem edelsten, schönsten anthroposophischen

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Bewußtsein. Das drückt sich auch nach dem Tode aus, wo vereinigt war in seinem gesamten Wesen das, was er war, und was jetzt wiederstrahlt nach dem Tode aus der leibbefreiten Seele, die noch ihren Ätherleib hatte. Und es scheint mir, daß das so ausgedrückt werden mußte, was Fritz Mitscher nach dem Tode war, mit den Wor­ten, die ich ihm nachsenden mußte bei der Feuerbestattung.

Eine Hoffnung, uns beglückend:

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten,

Durch die Kraft des Seelenseins,

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Lautrer Wahrheitsliebe Wesen

War Dein Sehnen urverwandt;

Aus dem Geisteslicht zu schaffen,

War das ernste Lebensziel,

Dem Du rastlos nachgestrebt.

Deine schönen Gaben pflegtest Du,

Um der Geist-Erkenntnis hellen Weg,

Unbeirrt vom Welten-Widerspruch

Als der Wahrheit treuer Diener

Sichern Schrittes hinzuwandeln

Deine Geistorgane übtest Du,

Daß sie tapfer und beharrlich

An des Weges beide Ränder

Dir den Irrtum drängten

Und Dir Raum für Wahrheit schufen.

Dir Dein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Dir im Innern machtvoll strahle,

War Dir Lebenssorg' und Freude.

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Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten Deine Seele kaum,

Weil Erkenntnis Dir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

Eine Hoffnung, uns beglückend:

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Ein Verlust, der tief uns schmerzt ,

So entschwindest Du dem Feld,

Wo des Geistes Erdenkeime

In dem Schoß des Seelenseins

Deinem Sphärensinne reiften.

Fühle, wie wir liebend blicken

In die Höhen, die Dich jetzt

Hin zu andrem Schaffen rufen.

Reiche den verlaß'nen Freunden

Deine Kraft aus Geistgebieten.

Höre unsrer Seelen Bitte ,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen ,

Die wir toten Freunden danken.

Eine Hoffnung, uns beglückend,

Ein Verlust, der tief uns schmerzt:

Laß uns hoffen, daß Du ferne-nah ,

Unverloren unsrem Leben, leuchtest

Als ein Seelenstern im Geistbereich.

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Das sind die Worte, die aus der Wesenheit des Toten heraus dem Toten nachgesandt wurden. Und dann verging, nachdem diese Worte bei der Feuerbestattung gesprochen waren, emige Zeit. Und aus der Wesenheit des Toten heraus, noch nicht aus dem wohlgeordneten Be­wußtsein, sondern wie aus der Wesenheit heraus ertönend, erklangen die folgenden Worte; Worte, die also jetzt von dem Toten herüber-klangen in der auf die Feuerbestattung folgenden Nacht.

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Mir im Innern machtvoll strahle,

War mir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten meine Seele kaum,

Weil Erkenntnis mir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

So klangen die Worte zurück. Ich hatte selbst erst nachher entdeckt, daß die zwei Strophen, die mitten darinnen sind, sich unmittelbar aus dem Du ins Ich und aus dem Dir ins Mir umwandeln lassen. Ich hatte es vorher nicht gewußt. Denn ich hatte die Strophen so vernommen, wie ich sie Ihnen zuerst gelesen habe. Und nun kamen sie zurück aus dem Wesen des Toten, von ihm gesprochen:

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Mir im Innern machtvoll strahle,

War mir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten meine Seele kaum,

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Weil Erkenntnis mir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

Das zeigt, wie auch in der Zeit, in der das Bewußtsein noch nicht die Form hat, die es dann nach dieser Zeit wieder aus der Seele heraus hat durch das ganze Gebiet zwischen Tod und neuer Geburt, es zeigt, wie sogar in lebendiger Umgestaltung, ja in sinnvoller Umgestaltung die Worte kommen, die heraufgetönt sind zu dem Toten. Man muß nur fühlen, wie die geisteswissenschaftliche Weltanschauung wirklich lebendig wird in dem Zusammenhangschaffen zwischen der physi­schen und der geistigen Welt. Denn es kann wirklich etwas wie ein Schauer durch unsere Seele gehen, wenn wir gerade an einem solchen Beispiel erfühlen, wie dem Toten die Worte zugerufen werden - und er sie uns verändert wiedergibt. Wie auf der einen Seite wir fühlen, daß sie zu dem Toten hingegangen sind, weil sie von ihm wieder klingen, aber nicht nur wie ein Echo wiederklingen, sondern sinnvoll verändert, für ihn angepaßt.

Das sind Dinge, die uns auch für unsere Gegenwart die Gewißheit, die Zuversicht geben, daß die Seelen, die hier in Erdenleibern leben, in Zusammenhang, in Verbindung stehen mit den durch die Welt waltenden und webenden geistigen Mächten, und daß wiederum in diesem Strom von waltenden und webenden geistigen Mächten die durch den Tod gegangenen Menschenerdenseelen hineinverwoben sind, darin sind, da darin ihre weiteren, ihre Post mortem Schicksale erleben.

Wenn wir den Zusammenhang der physischen Welt mit der geisti­gen Welt so recht auf unser Gemüt wirken lassen, so können wir ja Verschiedenes ins Auge fassen. Ich habe schon einmal auch hier dar­auf hingewiesen, daß uns bei diesem Zusammenwirken, bei diesem im konkreten Sinne verlaufenden Zusammenwirken von physischer Welt und geistiger Welt auch besonders nahetritt dasjenige, was der Impuls des Mysteriums von Golgatha ist. Wir wissen ja, daß wir eigentlich erst jetzt anfangen, durch Geisteswissenschaft Sinn und Bedeutung des My­steriums von Golgatha und der Christus-Wesenheit völlig ins Auge zu fassen. Bisher haben die Menschen das mit dem Verstand getan, richtig

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mit dem Verstand getan. Und was ist herausgekommen mit diesem Ver­stand? Nun, wenn die Wirksamkeit des Christus im Menschenerden­leben auf das angewiesen gewesen wäre, was die Menschen davon ver­standen haben, so hätte die Wirksamkeit des Christus-Impulses auf Erden keine sehr große sein können. Theologisches Gezänk, allerlei Streitigkeiten, das haben die Menschen in ihrem Verstand vom Christen­tum begriffen. Aber der Christus hat aus lebendiger Kraft gewirkt.

Ich habe wohl auch schon hier das Beispiel von der Schlacht an-geführt, die Konstantin gegen Maxentins geführt hat, durch die das Schicksal des damaligen Europa entschieden worden ist. Damit ist das Christentum eigentlich erst anerkannt und dann zur herrschenden Macht in Europa geworden. Diese Schlacht ist nicht gewonnen wor­den durch Feldherrenkunst noch durch die Heere des Konstantin. Maxentius hatte Rom zu verteidigen. Durch das Nachschlagen der sibyllinischen Bücher und durch einen Traum, den er gehabt hat, wurde ihm eingegeben, daß sein Heer, das fünfmal stärker war als das des Konstantin, der gegen Rom heranmarschierte, von ihm aus Rom heraus geführt werden solle; dann würde er die Feinde Roms ver-nichten. Nun führte er wirklich sein Heer aus Rom heraus, strategisch das Allerungeschickteste, was er hat machen können, denn nach der Strategie sprach alles dafür, sein Heer in Rom zu lassen und die feind­lichen Heere herankommen zu lassen; aber er führte sein Heer aus Rom heraus. Und auch auf der Seite Konstantins, der seine Heere gegen Rom führte, waren es nicht kriegerisch-wissenschaftliche Gründe, die ihm die Kraft gaben, sondern auch er hatte einen Traum. Der Traum sagte ihm: Wenn du das Monogramm Christi deinen Hee­ren vorantragen lässest, wirst du Rom besiegen. - Durch den Sieg Konstantins mit seinem schwächeren Heer wurde damals und für spä­ter noch die ganze Landkarte Europas verwandelt. Auch das geistige Leben Europas ist dadurch ein anderes geworden. Dasjenige, was die Menschen dazumal haben begreifen können, hätte nicht ausgereicht, um die Leistungen zu vollbringen. Der Christus4mpuls wirkte in das Unterbewußtsein der Menschen herein, in das, was in den Tiefen der Seelen lebte, wovon die Menschen nur haben träumen können, was ihnen höchstens in Traumbildern aufschoß.

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Ein späteres, ganz bedeutungsvolles Beispiel für das Hereinwirken des Christus-Impulses haben wir bei der fungfzau t>on Orleans. Wer die Geschichte wirklich studiert, also nicht so, wie man heute oftmals Geschichte studiert, sondern so, daß man versucht, die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen, der kann wissen, daß durch das, was die Jungfrau von Orleans getan hat, wiederum das Schicksal Europas für die nächsten Jahrhunderte absolut bestimmt wurde. Nicht Feld­herrenkunst, nicht die Weisheit der Politiker, sondern das, was das Hirtenmädchen von Orleans getan hat, war entscheidend für das Schicksal Europas, besonders auch für das Schicksal Frankreichs. Nun aber wirkte in der Jungfrau von Orleans, durch seinen michzelischen Vertreter, der Christus-Impuls. Er wirkte in die Seele der Jungfrau von Orleans hinein. Ihre Seele war völlig durchdrungen, durchinspi­riert von dem Christus-Impuls. Geradeso wie dazumal, als die Schlacht zwischen Konstantin und Maxentius entschieden worden ist, der Chri­stus-Impuls wirkte, ohne daß die Menschen im Oberbewußtsein etwas davon wußten, so wirkte der Christus-Impuls auch da, als die Jung­frau von Orleans die französischen Heere den englischen Heeren ent­gegenschickte. Das ganze Festland wäre ja anders geworden, auch England, wenn Frankreich damals nicht gesiegt hätte. Auch England wäre nicht das, was es geworden ist, wenn es nicht besiegt worden wäre. Aber wie gesagt, dasjenige, was den Sieg herbeigeführt hat, es waren die unterbewußten Kräfte, die in Visionen heraufkamen; durch sie wurden die Fähigkeiten der Jungfrau von Orleans inspiriert. So daß man sagen kann: Dasjenige, was die Jungfrau von Orleans getan hat, steht unter dem Einfluß einer mehr oder weniger unbewußten Initiation. Es ist ja natürlich eine unbewußte, man kann auch sagen, eine atavistische Initiation. Es mußte eben unbewußt ergriffen wer­den ein reines seelisches Gefäß, wie es die Jungfrau von Orleans war, durch das der Christus-Impuls durch seinen michaelischen Vertreter wirken konnte - ein reines Gefäß.

Sehen wir uns nun einmal die Sache genauer an. Wenn jemand heute bewußt eine Initiation durchmacht - nun, dazu gibt es Regeln. Die Anfangsgründe stehen ja in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?». Es gibt Regeln, durch die man sich

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allmählich hinaufarbeiten kann. Von solch einer bewußten Initiation konnte natürlich bei der Jungfrau von Otleans nicht die Rede sein. Aber es mußte ein Geist, der sonst nicht mit der menschlichen Seele vereint ist, in dieser menschlichen Seele Platz greifen, diese mensch­liche Seele durchsetzen. Dazu mußten besonders günstige Umstände eintreten. Es kann ja nicht immer ein Geist höherer Sphären in Seelen eingreifen, die dazu befähigt sind. Es müssen besonders günstige Um-stände eintreten, damit eine menschliche Einzelseele ohne Initiation, ohne bewußtes Arbeiten an sich selbst, in Zusammenhang mit höhe­ren Welten kommt. Besonders günstige Umstände liegen vor in der Zeit, wenn gewissermaßen der Erdgeist besonders aufwacht: in der Zeit vom 25. Dezember bis 6. Januar. Wenn im Sommer die Sonne am höchsten steht, wenn die physische Wärme der Erde am meisten zustrahlt, dann sind die Bedingungen für die Initiation am schlechte­sten, weil da der Geist der Erde schläft. Der Geist der Erde ist am wachsten in der Winterfinsternis, bei der Wintersonnenwende.

Daher ist es keine bloße Legende, sondern entspricht einer Wahr­heit, wenn in alten Legenden erzählt wird, daß in den dreizehn Näch­ten, die dem 6. Januar vorangehen, gewisse besonders geeignete Seelen initiiert wurden, so daß sie hineingehen konnten in die geistige Welt, daß sie dort erleben konnten dasjenige, was wir Kamaloka und De­vachan nennen. Wir erinnern uns wohl, hier in Hannover ist einmal die Legende von Olaf Asteson vorgetragen worden, der in den drei-zehn Nächten schlafend durchgemacht hat den ganzen Weg, der der Weg sein kann durch Kamaloka und Devachan. Olaf Asteson erzählt dann, was er erlebt hat in diesen dreizehn Tagen.

Wenn also die äußere physische Erdenfinsternis am stärksten ist, sind die Verhältnisse am günstigsten, um eine Seele in die geistige Welt hineinzuführen. Für Seelen, die nicht durch unmittelbar bewuß­tes Erarbeiten, sondern durch besonders günstige Umstände initilert werden für die ganze Menschheit zu einer solchen Tat, wie sie die Jungfrau von Orleans vollbracht hat, wäre es also wohl das günstigste gewesen, wenn sie etwa hätte sclllafen können in den dreizehn Näch­ten, und sie hätte schlafend in Zusammenhang mit der geistigen Welt gebracht werden können; wenn sie das alles also in einer Art von

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Schlafzustand hätte durchmachen können. Nun, es ist wirklich so, daß die Jungfrau von Orleans einen solchen Schlafzustand durch­gemacht hat. Und das ist so gekommen, daß die Jungfrau von Orleans diese dreizehn Tage bis zum 6. Januar hin im Leibe der Mutter zu­gebracht hat in einem Zustand, wo der Mensch noch schläft. Denn der Mensch wacht ja für das physische Leben erst auf, wenn er geboren ist und den ersten Atemzug tut. Bei der Jungfrau von Orleans fallen die letzten Schlafnächte des Embryonalzustandes in die Zeit der drei-zehn Nächte, denn sie wurde geboren am 6. Januar. Da haben Sie einen tief bedeutsamen innerlich historischen Zusammenhang. Da haben Sie die Grundlage der Mission der Jungfrau von Orleans, die dazu ausersehen war, als diese reine Seele vor ihrem ersten Atemzug in den letzten dreizehn Nächten der Schwangerschaft ihrer Mutter, in diesem Schlafzustand die Initiation zu empfangen, eben in den beson­ders günstigen Umständen des Erdenlebens. Hier zeigt es Ihnen em­fach der Kalender. Denn schlagen Sie es im Kalender auf: Am 6. Januar werden Sie den Geburtstag der Jungfrau von Orleans finden. Da zeigt Ihnen der Kalender, wie hier ein tief innerlicher Zusammenhang zwi­schen der physischen Welt und den Vorgängen in der geistigen Welt besteht. Natürlich war notwendig die durch die vorhergehenden In­karnationen zubereitete Seele der Jungfrau von Orleans. Aber da zu­sammentrafen in den dreizehn Nächten diese Seele und das, was durch diese Seele kommen konnte, so geschah dasjenige, was eben geschicht­lich erfolgte, um möglich zu machen gerade an dieser Stelle der Menschheitsentwickelung das Hereinwirken der geistigen Welt in die physische Welt.

Die geistige Welt ist also mit ihren Ingredienzien immer da. Die geistige Welt ist immer unter uns. Und vielfach und mannigfaltig sind die Wege, die sich die geistige Welt aussucht, um in der physischen Welt zu wirken. Und unser Bewußtsein des Zusammenhanges mit der geistigen Welt wird immer stärker, je mehr wir in solchen Einzelheiten besonders tief die Zusammenhänge zwischen physischer und geistiger Welt ausdrücken, indem solche Zusammenhänge lebendig in unserer Seele stehen.

Auf der andern Seite muß man sagen: Auch dasjenige, was hier in

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der physischen Welt geschieht, kann vorbereitend sein für die Art des Zusammenhanges der geistigen Welt und unserer physischen Welt. Und wenn jemand, der so intensiv wie Fritz Mitscher dasjenige auf­genommen hat, was durch unsere Geisteswissenschaft fließt, und im dreißigsten Jahr seines Lebens in die geistige Welt hinübergeht - am 26. Februar würde sein dreißigster Geburtstag sein - und seine Seele imprägniert hat mit dem, was als Kraft in die Seele eindringen kann durch unsere Geisteswissenschaft, dann haben wir eine mächtige In­dividullität, die weiter mit uns zusammenbleiben wird in der geistigen Welt, die ein Helfer ungeheuerster Art ist. Und wenn man bedenkt, wie schwierig gerade in unserer Zeit, in dieser Zeit, die doch ganz durchprägt ist mit Materialismus, das Streben nach spiritueller Wis­senschaft ist, dann darf vielleicht auch gesagt werden, daß der, welcher mit allen Fasern seines Lebens mit der geistigen Welt zusammenhängt, die größten Hoffnungen auf diejenigen setzt, die geistige Helfer wer­den können, die nach Ablegung ihres physischen Leibes geistige Hel­fer werden. Es braucht selbstverständlich nicht gesagt zu werden, daß dieses durch die Pforte des Todes Gehen niemals ein persönlicher Entschluß sein darf, sondern daß es nur durch Karma herbeigeführt werden darf. Diese geistigen Helfer, es sind diejenigen, die uns Trost und Hofihung geben, wenn wir sehen, wie schwierig es wird, gerade in der Gegenwart, unsere geisteswissenschaftliche Bewegung durch die mannigfaltigen Hemmungen hindurchzubringen. Aber wir wis­sen, wie höhere geistige Kräfte hereinwirken in die Erde, damit der Strom der geistigen Welten in die physischen Erdenziele hineingeht. So kommen die unverbrauchten Kräfte der Menschenseelen hinauf in die geistigen Welten, um da eben zu wirken mit ihren Kräften, ver­eint mit andern Kräften. Daher war es, daß ich wirklich aus innerstem Herzen heraus die Worte unserem Fritz Mitscher nachrief:

Höre unserer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

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Dann, wenn wir in ehrlicher Weise unsere geistige Bewegung fort-zubringen versuchen zu ihrem Ziele, dann sind wir uns bewußt, daß hereinwirken in die Kräfte, die wir hier auf der Erde anwenden, auch diejenigen, welche unsere Freunde schon hinaufgetragen haben durch die Pforte des Todes in die geistige Welt hinein.

Das alles können wir nun auch zusammennehmen zum Verständnis der allgemeinen Weltenlage. Die Menschenseelen, die jetzt durch die schicksaltragenden Zeitereignisse durch die Pforte des Todes gehen, sie tragen auf der einen Seite den Volksgeistern zu ihre Ätherleiber. Sie tragen hinein auf der andern Seite alles das, was sie aufgebracht haben an opferwilliger Hingabe, indem sie gerade durch diese Zeit-ereignisse durch die Pforte des Todes gegangen sind mit ihrer Indivi­dualität. Und das alles wird ausgegossen sein als Wirksamkeit in das kommende Zeitalter. Und an den Menschen, die dann den Frieden durchieben, wird es liegen, von sich aus die Verbindung herzustellen mit dem, was da oben sein wird. Diejenigen, die heute als Mütter und Väter, als Brüder und Schwestern oder sonstige Verwandte den Hin-gang eines ihnen teuren Menschen auf dem Schlachtfelde erleben, kön­nen in ihr Bewußtsein aufnehmen die Tatsache, daß mit dem Äther-leib übergeht in die allgemeine Erdenmenschen-Wirksamkeit etwas für die Zukunft ungemein Bedeutsames. Nicht nur, daß sie wissen können, daß die Individualitäten gestärkt und gekräftigt durch das Todesopfer einem späteren kräftigeren Erdenleben entgegengehen, sondern sie können auch wissen: Dasjenige, was der durch die Pforte des Todes gegangene Krieger der Volksseele übergeben hat, webt und west lebendig. Doppelt, muß man sagen, in der allgemeinen Volks­seele darin und als Individualität haben nun Väter und Mütter, Schwe­stern und Brüder selber diejenigen, die jung durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und großen Wert wird diese Idee erst dann haben, wenn sie ganz Gefühl geworden sein wird, so daß man nicht nur reden wird von der Unsterblichkeit, sondern daß man im Gefühl wissen wird: die Toten sind da, sind mitten unter uns -, wenn dieses Band ein so starkes sein wird, daß auch für unser Gefühl der Tod eigentlich eine Unwahrheit sein wird. Denn sogar wahrer als oftmals in der physischen Verkörperung kann sich der Tote zeigen, wenn er

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alles von seiner Wesenheit zusammennehmen kann und wenn er nicht mehr ein Hindernis an seinem physischen Leibe hat. Ungeheure Ströme von Trost, Ströme von innerer Kraft der Selbsttröstung gehen aus von dem, was in lebendigem Bewußtsein und lebendigen Empfin­dungen Geisteswissenschaft den Seelen geben kann. Dann, wenn dies so empfunden wird, dann können insbesondere diejenigen, die sich zur Geisteswissenschaft bekennen, trostvoll in die Zukunft schauen. Sie können in diesen gegenwärtigen schicksaischweren, schicksaltra­genden Ereignissen etwas empfinden wie eine Dämmerung in der Zei­tenwende, auf die ebenso folgen wird eine Friedenssonnenzeit. Aber ein Wichtiges in der geistigen Wirksamkeit dieser Friedenssonnenzeit wird dasjenige sein, was errungen ist durch den Opfertod so vieler.

Fruchtbar gemacht hier auf Erden wird es besonders dadurch wer­den, daß eine Brücke, eine Verbindung geschaffen wird zwischen den Lebendigen, den im physischen Leibe verkörperten Seelen hier auf der Erde und den Seelen, die oben sind und herunterstrahlen wollen das­jenige, was sie mit hinaufgenommen haben. Und hier ist es, wo so recht das wirkliche Verständnis der Geisteswissenschaft an unser Herz schlägt und uns auffordert, dasjenige zu tun, was wir aus dem Bewußt­sein heraus, das wir uns durch Geisteswissenschaft angeeignet haben, tun können , was wir empfindend tun können, damit die großen, schicksalerregenden, schmerzausgießenden Ereignisse der gegenwär­tigen Zeit, soweit es an uns liegt, zur Fruchtbarkeit und zum Heile der Menschheit ausschlagen. Diejenigen, die etwas wissen von der Geistes­wissenschaft, können fühiend wissen und wissend fühlen, wodurch die Brücke geschaffen wird hinauf in die geistige Welt: dadurch daß von den Seelen, die unten geblieben sind, die Gedanken und die Emp­findungen hinaufgeschickt werden, die durch Geisteswissenschaft ent­zündet werden können. Der Horizont dazu wird sein ein Friedens-horizont. Oben werden die Seelen sein, die geistige Lichtstrahlen wer­den heruntersenden wollen. Unten müssen Menschen sein, die gelernt haben, aus ihren Seelen solche Gedanken und Empfindungen hinauf­zusenden, welche durch Geisteswissenschaft angeregt werden. Dann, wenn es wirklich Seelen geben wird, die geistbewußt den Sinn ins Geisterreich lenken, dann wird die Brücke geschlagen sein, dann wird

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die Zeit gekommen sein, wo gerade durch solche schmerzausgießen-den, schicksaitragenden Ereignisse, wie sie sich in unserer Zeit ab­spielen, ein inniges Band gewoben werden muß zwischen der physi­schen Welt und der geistigen Welt, zu der wir hinstreben durch unsere Geisteswissenschaft.

So fassen wir zusammen dasjenige, was unsere Erkenntnis und unsere Aufgabe sein soll und was Zuversicht erwecken soll, in die

Worte:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DIE GEISTESWISSENSCHAFT UND DIE RÄTSEL DES TODES - TIEFERE ZUSAMMENHÄNGE DER EUROPÄISCHEN GESCHICHTE Bremen, 21. Februar 1915

Was man in der Geisteswissenschaft die Todesrätsel nennt, das tritt uns in unseren Zeiten so ganz besonders bedeutungsvoll entgegen. Alles ist mit ihnen in nahem oder fernerem Zusammenhang. Vor allen Dingen empfangen wir durch die Geisteswissenschaft nicht nur die Grundüberzeugung, sondern die Grunderkenntnis über die Welt im physischen Leib und über die Welt, in die wir durch die Pforte des Todes eintreten. Aber diese Welt ist im Grunde genommen auch im sinnlichen Leben immer lebendig und umgibt uns, nur ist sie für den durch das Sinnenleben gebundenen Menschen nicht erkennbar, weil er nicht die nötige Aufmerksamkeit iür sie hat. Wenn solche einschneidenden Ereignisse durch die Zeit wallen, die so mannigfaltige Opfer von den Menschen erfordern, wie sie uns jetzt umgeben, so müssen wir mit unserer ganzen Seele darin einverwoben sein. Da ist es naheliegend, manche Dinge aufklärend aus der Geisteswissenschaft vorzuführen.

Wir wollen den Blick auf Gebiete des Lebens lenken, auf denen sich zeigt, wie die Menschheit durch die materialistische Denkweise zu einer verhängnisvollen Unlogik hinsichtlich dessen, was sie umgibt, gekommen ist. Wir hören zum Beispiel in der heute gewohnten Weise die einzelnen Völker einander vorwerfen: Ich habe den Ktieg nicht gewollt, du bist es, der ihn angestiftet hat. - Die Frage ist an sich berechtigt und läßt sich jetzt schon beantworten - denn die Tatsachen sprechen klar -, wo die äußeren Ursachen liegen. Aber für den geistes-wissenschaftlichen Betrachter ist es anders. In dieser Frage muß er sich klar sein darüber, daß der Ktieg im Grunde genommen eine letzte Phase im Laufe der Ereignisse ist, oder wenigstens eine spätere Phase von Dingen, die schon vorher da waren. Man begeht einen FeHer im Urteilen auch bei Ktankheitsprozessen, wo man oft noch von solchen spricht, während es schon Gesundheitsprozesse sind, die vorgehen

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müssen, um zu gesunden. Die äußerlichen Prozesse, die erfolgen, um die Krankheit zu parallelisieren, um zu gesunden, haben sich vorher abgespielt, sind nicht zu bemerken. Der Krieg stellt auch einen schein­baren Krankheitsprozeß dar. Er ist eine Anstrengung der Menschheit, über gewisse Vorgänge hinauszukommen, die vorher da waren. Die Erkrankung liegt schon vorher in den wirklich ungesunden Bezie­hungen der Völker untereinander. Wenn man mit dem Verstand die äußeren Ursachen erforscht, so übersieht man die inneren. Auf dem Gebiet, wo wir wie in einer Festung zusammengedrängt und mit einem Iling umschlossen sind, muß es naheliegen, besonders die Frage aufzuwerfen, welches die inneren Gründe sind, oder welcher Art der einzelne Grund ist, wodurch diese Einkreisung hervorgerufen wurde. Man spricht von einer solchen Einkreisung für die letzten Jahre, für die letzten Jahrzehnte, aber wenn man die großen Zusammenhänge betrachtet, beginnt sie viel, viel früher. Es klingt sonderbar, aber man kann das Jahr 860 angeben - nicht 1860, sondern 860. So lange spielt der Prozeß, der jetzt in einer Weise zum Ausdruck kommt, die man als den furchtbarsten Krieg der Menschheit bezeichnen kann, seit sie die Erde bewohnt.

Im tieferen Zusammenhang der europäischen Geschichte findet man das höchst Merkwürdige, daß in Mitteleuropa etwas von geistiger Substanz zusammengedrängt wurde. Wenn man diesen tieferen Zu­sammenhang untersucht, so sieht man, daß es da zu einem besonderen Ziel zusammengedrängt worden ist. Es handelt sich nicht um die äußeren Bestimmungen des Blutes, der Rasse, sondern darum, daß etwas die Welt wie eine geistige Substanz durchzieht. Wie in einem schlangenförmigen Ring, vom äußersten Norden herunterkommend, zieht sich etwas in Mitteleuropa zusammen. Ringförmig gehen zwei Strömungen von Ost und West nach Süden und treffen wieder ringförmig zusammen. Aus einem Zentrum rücken im 9. Jahrhundert die normannischen Stämme herunter, die dem Blut nach mit so vielem verwandt sind, was später in Mitteleuropa ist. Aber sie drängen sich in das romanische Element hinein, das von Südeuropa her kommt; mit dem fließen sie zusammen. 860 stehen sie vor Paris, da werden die Normannen von den Romanen überwältigt. Daraus entsteht das westliche

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Frankreich. Mehr als die Angeln und Sachsen nach den britischen Inseln bringen konnten, brachten die Normannen aus Frankreich nach England zurück. Im Osten rücken die normannischen Menschen hin­unter, sie dringen vom Norden her gegen die Wolga und das Schwarze Meer in das Slawenturn hinein. Später geht der tartarische Strom hinein. Das Slawentum überwältigt die Normannen rassenmäßig und bringt ihnen die christliche Religion in ihrer östlichen Form. Sie werden slawisiert als «Ros» - so werden sie in Finnland genannt -, es ist nichts davon geblieben außer dem Namen Rußland. Dieser Name ist germanischen Ursprungs. Den gleichen Ursprung hat der Name Rurik.

Über diese Zusammenhänge hat man recht bedenkliche Ansichten. Im Westen Europas sprechen viele davon, die Franzosen seien dazu berufen, das alte Keltentum in einer Art Renaissance wieder aufleben zu lassen. Man hat die Vorstellung, in Mitteleuropa seien vorzugs­weise Germanen, im Westen wiege das Keltentum vor. Aber es ist umgekehrt, in den Franzosen ist viel mehr Germanenblut, in Mittel­europa ist mehr Keltenblut, das ist die Wahrheit. So steht die Maja gegen die Wahrheit. Nur sind die Bewohner des Westens ganz über­wältigt von dem Romanentum. Im Osten ist das Normannentum und damit das Germanentum überwältigt durch das fremde Rassenelement. Dort herrscht noch heute eine der russischen Volksseele völlig fremde Religion. So sind die Menschen in Mitteleuropa wie in einem Kessel eingekreist. Die Romanen reichen bis Konstantinopel, und auf der andern Seite die slawisierten Norrnannen ebenfalls bis Konstantinopel. Da haben wir die Schlange, den Ring.

Wenn wir das, was da geistig zusammengedrängt wurde, ins Auge fassen, so bekommen wir die Anschauung, daß es eine besonders wichtige Aufgabe hat. Ich habe es gestern nur angedeutet, aber ich habe doch davon gesprochen, daß hier ein gewisser vertrauter Um­gang der Volksseele mit der einzelnen Seele stattfinden soll und gerade dadurch die schönsten Blüten bei den besten Angehörigen hervor­gebracht werden. Unmittelbar das Ich sollte ergriffen werden, nicht die einzelnen Seelenglieder wie im Westen, unmittelbar lebendig sollte es im Ich sein. Daraus geht hervor - das müßte schon der exoterischen

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Betrachtung klar sein -, daß in Mitteleuropa im Grunde niemals völlige Feindschaft gegen den Idealismus herrschen konnte, daß immer eine gewisse Hinneigung zur geistigen Welt in intensivstem Maße stattfand. Als wir unsere geistige Bewegung begannen, hat es das Karma gefügt, daß wir das zunächst im Verein mit der britischen Bewegung tun mußten. Aber äußerlich war alles weitere nur ein Symptom von dem, was sich innerlich mit einer gewissen Notwendig­keit abspielen mußte. Wenn wir ins Auge fassen, was die theoso­phische Bewegung ist, von der wir uns trennen mußten, so wird auf­fallen, daß dort das Kulturleben in zwei Teile gefallen ist. Das äußere Leben nimmt einen rein materialistischen Gang, und daran ist das spirituelle Element gekoppelt. Sie fallen immer auseinander. Ver­gleichen wir damit, was unser spirituelles Leben uns sein muß. Wie im Organismus der Kopf nicht ohne Leib gedacht werden kann, so wächst unser spirituelles Leben aus dem allgemeinen Kulturleben heraus. Man braucht nur anzufangen bei Tauler, Eckart, Angelus Silesius, dann bei Herder, Lessing, überall müssen wir heraus-entwickeln, was höhere geistige Kultur werden soll. Wir können nicht unsere spirituelle Anschauung ankoppeln, wir müssen sie als Organismus haben, müssen sie dazu erheben. Wir müssen innerlich die Entdeckung machen, daß die Wiederkunft des Christus eine geistige Angelegenheit ist. Daher können wir nicht die geringste Kon­zession machen. Wir können dem Christus als Gestalt nur mit dem geistigen Auge, mit dem inneren Erleben nahetreten. Im Westen mußte materialisiert, dogmatisiert werden. Die Leute konnten es sich nicht anders vorstellen, als daß er im physischen Leibe kommen würde. Daher die groteske Idee, den Christus im Leib auf dem Präsentierteller herumzureichen. Das geschah im Zusammenhang mit dem, was da eingekreist wurde.

Daher muß uns objektiv die Frage berühren: Wie muß sich das mitteleuropäische Kulturwesen zu der Kultur der Zukunft ver­halten? - Die Wahrheit ist eine allgemeine, aber wie sie entspringt, ist etwas anderes. In der mitteleuropäischen Kultur liegen die Quellen für die ganze spirituelle Kultur der Zukunft. Wir müssen den Weg. finden aus dem deutschen Idealismus in die spirituelle Kultur hinein.

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Dazu ist nötig, daß hier in der Mitte eine Ich-Kultur begründet werde. Auf okkultem Felde kann das leicht gesehen werden. Das Ich des Menschen muß sich an der Außenwelt entzünden, da erst wacht es auf und wird sich innerlich bewußt. So wird die Ich-Kultur Mitteleuropas von außen angefacht. Man braucht nur die letzten Ereignisse zu be­trachten, die Vereinheitlichung des deutschen Wesens. Es ist charakte­ristisch, daß das Deutsche Reich im Jahre 1871 auf fremden Boden gegründet wurde. So viele Dinge könnten angeführt werden, die auch in den äußeren Ereignissen zeigen, daß in Mitteleuropa Ich-Kultur herrscht.

Es liegt nahe, zu fragen: Welche Bedeutung haben die Todesopfer für die spirituelle Welt? - Unzählige Menschen gehen in der Blüte ihrer Jugend durch die Pforte des Todes. Zunächst trennt sich der Zusammenhang zwischen Ich, Astralleib, Ätherleib vom physischen Leib ab. Der physische Leib wird scheinbar der Erde übergeben, der Ätherleib der ätherischen Welt, Astralleib und Ich gehen weiter. Aber das muß uns auffallen: Verhält es sich bei Menschen normalen Alters mit dem ätherischen Leib, der durch die Pforte des Todes geht, nicht anders als bei den jetzt hinübergehenden Jugendlichen? Für den physischen Leib begreift man das, für den ätherischen wird man es jetzt begreifen. Der hätte noch jahrzehntelang den physischen Leib versorgen, an ihm arbeiten können. Er geht mit diesen unverbrauch­ten Kräften durch die Pforte des Todes, vereinigt sich da mit der Volksseele, und die Arbeit der Volksseele wird in Zukunft durch-imprägniert sein mit den unverbrauchten Kräften dieser ätherischen Leiber. An uns wird es sein, Verständnis dafür zu haben. Menschen werden da sein, die wissen werden: Die Volksseele ist ein aktives Element. Erst wenn man weiß, daß die unverbrauchten Ätherleiber wirken werden als spirituelle Kraft in konkreter Weise in der geistigen Welt, dann kann man verstehen, was real vorgeht. Wichtig wird das Bewußtsein dieses konkreten Zusammenhanges mit der geistigen Welt sein. Dadurch, nämlich durch Erzeugung eines solchen Bewußt­seins von der geistigen Welt, wird die Geisteswissenschaft immer mehr etwas Lebendiges werden in den Gemütern und nicht nur Lehre bleiben. Der Mensch weiß, daß er in einer geistigen Aura ist, wie er

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hier weiß, daß die Luft in seiner Umgebung ist. Wie er hier frische und verbrauchte Luft unterscheidet, so wird er gute und böse Geister empfinden, erlebend empfinden die geistige Aura.

Das ist erst die rechte Frucht der Geisteswissenschaft. Wir sehen es, wenn wir uns naheliegende Ereignisse betrachten, die uns belehren können. Eines davon geschah gerade an der Stätte unseres Baues. In diesem Falle war es ein Kind, dessen Ätherleib unverbraucht war. Die Kräfte sind da, wer sie sieht, wer sie zu sehen weiß, der sieht, daß sie in die Aura unseres Dornacher Baues übergegangen sind und darin leben. Das ist ein Beispiel, für das ich eintrete. Der Ätherleib, der mit seinen Kräften mehr der Allgemeinheit gehört, wirkt richtig weiter. Seither versucht er, durch Inspirationen in der Nähe des Baues etwas zu tun. Das sind helfende Kräfte.

Solche Dinge liegen uns nahe, wir können uns von ihnen belehren lassen, wie geheimnisvoll die Zusammenhänge sind in der geistigen Welt. Gerade in der letzten Zeit haben wir es in unserem Gesell­schaftskarma gehabt, daß uns liebe Freunde vom physischen Plan weggestorben sind. Was ich im Wiener Zyklus über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt gesagt habe, wurde gerade an man­chen von diesen Seelen ganz klar. Eine dieser Seelen hat so recht den Weg in unsere Bewegung gefunden, als der physische Leib schon mürbe geworden war. Es war ein Wesen, bei dem mir, seit es über­haupt in unserer Bewegung war, das Seelische schon entgegengetreten ist wie durch den glashell gewordenen Leib. Nach dem Tod wob sich das Bild der Seele, das vorher schon da war, zusammen mit dem, wie es nachher sich darstellte. Ich konnte nicht anders, als den Nachruf geben, der zeigt, daß ich so recht mit dieser Seele zusammen war. Die folgenden Worte machten sich hörbar etwa drei Tage, nachdem der Tod eingetreten war:

Du tratest unter uns.

Deines Wesens bewegte Sanftmut

Sprach aus Deiner Augen stiller Kraft -

Ruhe, die seelenvoll belebt,

Floß in den Wellen,

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Mit denen Deine Blicke

Zu Dingen und zu Menschen

Deines Innern Weben trugen; -

Und es durchseelte dieses Wesen

Deine Stimme, die beredt

Durch des Wortes Art mehr

Als in dem Worte selbst

Offenbarte, was verborgen

In Deiner schönen Seele weset;

Doch das hingebender Liebe

Teilnahmsvoller Menschen

Sich wortlos voll enthüllte - -

Dies Wesen, das von edler, stiller Schönheit

Der Welten-Seelen-Schöpfung

Empfänglichen Empfinden kündete.

Nach dem Tode tritt ein Abdämpfen des Bewußtseins ein, gerade weil ein überflutendes Bewußtsein da ist. Das geschieht durch den Rückblick, den man zuerst auf den Tod hat - nicht bei Selbstmord -, gleichsam ein Sonnenpunkt. Es gehört zu dem Schönsten, Höchsten. Man knüpft da an, man sagt sich: Da hast du gelebt -, und so orien­tiert man sich in der geistigen Welt.

Unsere Freundin war aus dem Stadium des ätherischen Rückblicks heraus, so daß man zu dem zwar anwesenden, aber nicht bewußten Wesen sprach. Dann kam durch die Wärme ein Moment des Bewußt­seins und sie sah die Feuerbestattung. Die Zeit wird da zum Raum.

Es gibt ein Korrespondieren zwischen dem, was in der physischen und in der geistigen Welt stattfindet. In einem solchen Fall kommt ein Anruf nicht wie ein Echo aus der geistigen Welt zurück, sondern wandelt sich zur sinngemäßen Antwort aus der noch nicht bewußten Seele um. Durch solche Beispiele des in uns erkennenden Gefühis, in unserem gefühlsmäßigen Erkennen der geistigen Welt, muß das Er­gebnis sein, die Realität der geistigen Welt zu erfahren. Es ist be­sonders wichtig, dieses konkrete Gefühl in unserer Zeit zu erwerben, damit aus der Schwere der Gegenwart für die ganze Menschheit im

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Physischen und Seelischen Heil erwachse, denn immer sind die großen, bedeutsamen Ereignisse des Weitgeschehens auch für eine oberfläch­liche geistige Erkenntnis der klare Ausdruck dafür gewesen, daß wir in der sinnlichen Welt nicht nur sinnliche Wesen haben, sondern daß die geistigen Wesen hereinwirken.

Es ist schwer, den Schleier zu durchbrechen, der die physische von der geistigen Welt trennt. Das macht die Selbsterkenntnis schwer im weitesten Umfang, man stellt sich darunter oft zu Leichtes vor. Schon im äußerlich physischen Sinn ist sie manchmal schwer. Ein groteskes Beispiel dafür gab der bedeutende Philosoph Professor Ernst Mach -nicht Ferdinand Maack, ich hätte sonst nicht von einem bedeutenden Philosophen gesprochen. Mach schildert in einem seiner Werke, als junger Mensch sei ihm einmal in einem Schaufensterspiegel ein un­angenehmes, widerwärtiges Gesicht aufgefallen, das er zu seiner Be­stürzung gleich darauf als sein eigenes erkennen mußte. Etwas ähn­liches erlebte er später nochmals. Beim Einsteigen in einen Omnibus erblickte er einen Mann mit einem häßlichen Gesicht, der ihm von der andern Seite entgegenkam, und erkannte erst nachträglich, daß er sich selbst im Spiegel gesehen hatte. Darüber, was das Wesen, die Gestalt der Seele ist, ist sich der Mensch noch viel mehr im Unklaren. Durch was man alles hindurch muß, um zur Selbsterkenntnis zu kommen, davon läßt sich der Mensch nichts träumen. In den Untergründen der Seele ist die Maja oft in großem Ausmaß vorhanden. Ein Mensch hat den Trieb zur Grausamkeit, er lebt mit Menschen zusammen, die er von Zeit zu Zeit quält und so weiter. Er sucht nach einem äußeren Grund dafür, wendet oft eine geniale Erfindungsgabe auf, um das Gefüge der Seele zu verschleiern. Ich selbst kannte jemanden, der immer wieder davon sprach, unter wie großen Opfern sich seine Tätigkeit vollzogen habe. Aber ich mußte sagen, daß es nur seelische Wollust war, die er befriedigte. Wenn er so von Opfern sprach, so stand hinter alidem nur Egoismus. Wirkliche Selbsterkenntnis ist nur erreichbar, wenn man nach und nach in der Geisteswissenschaft vor-schreitet, insofern man durch sich erlebt, was in der Welt ist.

Es gibt schwatzende Leute in der Welt, die Schwatzstündchen ver-anstalten. Das soll es sogar unter Männern geben, die zum Dämmer­schoppen

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gehen. Wenn sie gefragt werden, warum sie schwatzen, so haben die Leute allerlei wichtige Gründe dafür. Aber wenn wir mit unserer Hand über Samt oder Seide streichen, so haben wir ein Gefühl des Wohlgefallens. Wenn man schwatzt, stößt sich der Ätherleib fort­während an der in Bewegung gesetzten Luft, er wird dadurch ge­streichelt. Das ist nichts Böses. Man versteht das, was beim Schwat­zen vorgeht, nur, wenn man weiß, daß der Mensch einen Ätherleib hat.

Die Menschheit geht einer Zeit entgegen, wo sie solchen Dingen mehr und mehr ins' Antlitz schauen muß. Die Geisteswissenschaft muß immer mehr und mehr das Bewußtsein dafür erwecken. Es wird dann eintreten, daß die Menschen, die heute in ihrem materialistischen Sinn behaupten, alles Geistige sei Träumerei, sich so ausnehmen werden, wie wenn jemand sagen wollte, wo die Luft ist, sei überhaupt nichts. Wie man entdeckt, daß die Luft real ist, so wird die Menschheit ent­decken, daß der Geist etwas Reales ist. Wenn man das größte Myste­rium, das Mysterium von Golgatha ins Auge faßt, so kann man glau­ben, daß der Christus, nachdem er durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, auf die Menschheit vornehmlich durch eine Lehre ge­wirkt hätte. Aber was die Menschen über den Christus gewußt haben, das ist das Allergeringste. Die Theologen haben sich gezankt, aber die wenigsten haben etwas Richtiges verstanden. Nur ein Teil dessen, was in der Geschichte geschieht, spielt sich im Bewußtsein ab. Ein Bei­spiel dafür ist die Schlacht zwischen Maxentius und Konstantin an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312, die nicht durch irgendwelche äußeren Umstände, sondern durch Einwirkungen nichtphysischer Art entschieden wurde. Mit einem Heer, das weit stärker war als das seines Gegners Konstantin, hatte Maxentius Rom zu verteidigen. Bei Be­fragung der Sibylinischen Bücher wurde ihm bedeutet, er solle seine Truppen aus Rom herausführen; auf diese Weise werde er die Feinde Roms vernichten. Hierin wurde er noch durch einen Traum bestärkt. Auch Konstantin hatte einen Traum: ihm wurde aufgegeben, seinen Soldaten statt der alten Feldzeichen Banner mit dem Monogramm Christi vorantragen zu lassen. So geschah es, und das Heer des Maxentius, das allen Vernunftgründen zum Trotz aus Rom herausgeführt

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worden war, wurde durch die schwächeren Streitkräfte des Konstantin geschlagen, und Maxentius selbst fand auf der Flucht den Tod. Der Christus-Impuls hatte hier in das Unterbewußtsein der Men­schen hineingewirkt.

Der Impuls lebt im Unterbewußtsein so, wie wenn auf dem Meere Schiffe fahren, aber das Wichtige sich in Unterseebooten abspielen würde. Im 15. Jahrhundert ist wieder ein wichtiger Zeitpunkt. Damals griff die Jungfrau von Orleans so in den Gang der Geschichte ein, daß alles, was später geschehen ist, davon bestimmt wurde. Die ganze Karte von Europa wäre anders, auch das geistige Leben, wenn die Engländer gesiegt hätten. Die Jungfrau war ein Michaels-Diener. Schiller war tief berührt von der Gestalt der Jungfrau von Orleans:

«Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen.» Während Voltaire Gift und Galle gegen sie spie, selbst Shakespeare sie nicht verstehen konnte, Anatole France sie ins materialistische Fahrwasser herab-gedrückt hat, alle westlichen Geister sie nicht verstanden haben, hat Schiller diese hehre Gestalt in seinem Drama verkörpert.

Damit die Jungfrau von Orleans ihre historische Mission erfüllen konnte, war notwendig, daß sie eine Art unbewußter Initiation durch-machte. Es handelte sich dabei um eine Einweihung, wie sie uns in der Legende von Olaf Asteson geschildert wird. Solche Einweihungen, für die bestimmte karmische Voraussetzungen vorliegen mußten, konnten in der Zeit der dreizehn Nächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar erfolgen. Wenn das äußere Licht die geringste Stärke hat, ist eine innere Erleuchtung am ehesten möglich. So hatte Olaf Ästeson im Schiafzustand während der dreizehn Nächte reale geistige Erlebnisse, über die er dann, wie es in dem «Traumlied» dargestellt ist, vor der Kirchentüre berichtet. Auch die Jungfrau von Orleans hat die dreizehn Nächte gewissermaßen im Schlafzustand zu­gebracht, nämlich im Leibe der Mutter. In der letzten Zeit vor der Geburt ist der Mensch unbewußten Einflüssen aus der geistigen Welt besonders zugänglich. Am 6. Januar wurde die Jungfrau von Orleans geboren. An diesem Tage lief die ganze Einwohnerschaft ihres Ge­burtsortes zusammen, weil etwas ganz Außergewöhnliches in der Aura des Dorfes zu spüren war. Es war die Geburt der Jungfrau von

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Orleans, der unmittelbar, bevor sie das physische Sonnenlicht er­blickte, der Christus-Impuls eingepflanzt worden war.

Das Lebendige des Zusammenhanges zwischen physischer und geistiger Welt sich zu erringen, ist das eigentliche Ziel aller unserer Bestrebungen und das, worauf es uns ankommt. Man wird erkennen, daß die Dämmerungszeit dieses Krieges eine Zeitenwende bezeichnet. Die Menschen sollen wissen, daß die Seelen derer, die sich geopfert haben, weiter wirken und daß dieser Krieg die Aufgabe hat, das materialistische Zeitalter abzuschließen.

Es ist notwendig, daß Seelen da sind, die wie sich entgegen­streckende Arme Gedanken in die geistige Welt hinaufsenden und das Bewußtsein von der geistigen Welt herabbringen, geistbewußte See­len. Je mehr solche geistbewußte Seelen ihre Gedanken hinauf-senden - es ist viel davon abhängig, daß unsere geistige Atmosphäre von solchen Gedanken durchzogen wird -, desto mehr können die Früchte reifen, die aus den Todesopfern kommen. So fassen wir unsere Betrachtung in die Worte zusammen :

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DAS INTIME ELEMENT DER MITTELEUROPÄISCHEN KULTUR UND DAS MITTELEUROPÄISCHE STREBEN Leipzig, 7. März 1915

In schweren, schicksaltragenden Tagen leben wir. Und was diese schicksaltragenden Tage uns Erdenmenschen bringen werden, dem sehen noch recht wenig Seelen mit voller Zuversicht entgegen, und vor allen Dingen ist die Bedeutung dessen, was sich durch die Ge­schehnisse dieser Tage ausspricht, nicht mit voller Kraft in den Seelen sprechend. Gerade diejenigen aber, welche versuchen, sich als Men­schenseelen immer mehr und mehr hineinzuleben in das, was als Im­pulse einverleibt werden soll der Menschenkulturentwickelung, der geistigen Kulturentwickelung durch die Forderungen der Geistes­wissenschaft, sollten mit ihrem tiefsten Empfinden, mit ihrem tiefsten Fühlen sich verbunden wissen dem, was sich auf der einen Seite so groß und gewaltig und auf der andern Seite so schmerzvoll, so traurig um unsere Seelen herum abspielt. Was sich vollzieht, ist ja etwas, was nicht nur der Art, sondern auch dem Grad nach im Grunde beispiellos ist innerhalb der bewußten Geschichte der Menschheitsentwickelung, was tief eingreifend und tief einschneidend ist in alles Leben der Erdenentwickelung. Und man braucht sich nur einmal vor die Seele zu führen, was es heißt - und das ist ja heute bei jedem Menschen der europäischen und auch vieler Teile der andern Erdenbevölkerung der Fall -, mitten darinzustehen in dem Gang der so bedeutsamen Ereig­nisse, um zu fühlen, daß dies gerade eine Zeit ist, nicht nur im eminen­testen Sinne geeignet, sondern auch im eminenten Sinne fordernd, daß die Seele sich frei macht und immer freier mache von dem bloßen Leben innerhalb des eigenen Seibstes, innerhalb des eigenen Ich, und mitzuleben versuchen sollte, was als ein gemeinsames Geschick durch die Menschheit geht. Vieles wird die Seele in unserer Gegenwart lernen können, wenn sie sich in der rechten Weise zu verbinden weiß mit dem Strom der Ereignisse. Und von vielem Engherzigen und Egoistischen wird sie frei kommen können, wenn sie dies zu tun weiß. Gehen doch so große, so gewaltige Dinge vor, daß fast jedes

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Denken an sich selbst in dieser unserer Zeit als ein Raub erscheinen muß, den unsere Seele begeht an dem Leben mit den allgemeinen Geschicken.

Insbesondere die Bevölkerung Mitteleuropas - welche ungeheuren Fragen muß sie sich stellen über Dinge, die sie im Grunde erst jetzt lernen kann! Gewahr werden kann der Mensch Mitteleuropas, wie er eigentllch mißverstanden, ja wie er gehaßt wird. Und diese Miß­verständnisse, dieser Haß, sie sind ja nicht etwa erst ausgebrochen seit dem Kriegsbeginn, nur bemerkbar sind sie geworden seit dem Kriegsbeginn. Daher kann der Kriegsbeginn und der Verlauf des Krieges auch nur gleichsam dasjenige sein, was die mitteleuropäischen Seelen darauf aufmerksam macht, wie sie sich in einer gewissen Be­ziehung mehr oder weniger vereinsamt fühlen müssen gegenüber dem Fühlen und Empfinden derjenigen Menschen, die ringsherum um diese mitteleuropäische Bevölkerung wirklich nicht mit verständnisvollen Empfindungen und Gefühlen stehen. Könnte man doch - das wäre so wünschenswert, besonders jetzt - in den Seelen, die sich der Geisteswissenschaft widmen, vertieftere Interessen für die großen Ereignisse des Lebens anfachen, welche die Seele hinausführen aus dem Horizont ihres Ich auf den großen Horizont der Menschheits­und Erdenereignisse! Könnte man doch den Blick, die ganze Gesin­nung der Seelen gerade deshalb, weil sie Geisteswissenschaft in sich aufgenommen haben, zur Vertiefung bringen in der Erkenntnis der umfassenden Kräfte und sie herausbringen aus dem Interesse an den engeren, bloß mit dem einzelnen Menschen sich beschäftigenden Kräften! Denn wirklich, wenn man heute die Welt, namentlich die Welt, die um uns Mitteleuropäer herum ist, reden hört, wenn man liest, was da an Sonderbarem über die Impulse gesprochen wird, die zu diesem Kriege geführt haben sollen, dann hat man das Gefühl, daß die Verpflichtung, nach größeren Gesichtspunkten zu urteilen, der Menschheit eigentlich recht, recht sehr in unserer materialistischen Zeit abhanden gekommen ist, so sehr abhanden gekommen ist, daß es manchmal den Eindruck hat, als ob die Leute überhaupt nichts ge­lernt hätten, sondern für sie die Geschichte im Grunde genommen am 25. Juli 1914 erst begänne. Es ist, als ob die Leute nichts wüßten von

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dem, was sich im Kräftespiel der Erdenbevölkerung zugetragen hat und was aus diesem Kräftespiel heraus zu den schweren Verwick­lungen geführt hat, welche in der Kriegsflamme endlich sich ent­zündet haben und aufgelodert sind. Kaum daß man von dem redet, was man die Einkreisung durch den vorigen englischen König nennt, der die europäischen Mächte rings um Mitteleuropa herum vereinigt hat, so daß durch diese Vereinigung der ringsherum befindlichen Menschenkräfte endlich nichts anderes entstehen konnte als dasjenige, was entstanden ist. Kaum daß man einige Jahre, höchstens Jahrzehnte zurückgeht und sich daraus Vorstellungen machen will, wie das ge­kommen ist, was jetzt so schlcksaltragend und schmerzlich um uns herum ist.

Aber die Dinge liegen ja noch viel, viel tiefer. Wenn man von Ein­kreisung spricht, muß man sagen: Was sich in der Einkreisung der mitteleuropäischen Mächte in der letzten Zeit vollzogen hat, das ist die letzte Etappe, der letzte Schritt einer Einkreisung Mitteleuropas gewesen, die begonnen hat vor langer, langer Zeit, die schon im Jahre 860 begonnen hat. Damals, als vom Norden Europas diejenigen Men­schen heruntergezogen sind, welche im Jahre 860 als Normannen­bevölkerung vor Paris standen, zog ein Teil der Kraft, welche sich in Europa ausleben sollte, im Westen Europas in die romanische Strömung hinein, die den Westen Europas vom Süden herauf über­flutet hatte. Wir haben einen Strom von Menschenkräften, der so verläuft, daß er sich von Rom über Italien und Sizilien über das heutige Spanien und durch das heutige Frankreich ergießt. Und die Normannenbevölkerung, die von Norden herunterzieht und 860 vor Paris steht, wird überflutet von dem, was von alten Zeiten her als romanische Strömung gekommen ist, und geht in dieser romanischen Strömung unter. Dasjenige, was an Kraftvol1em in dieser Strömung ist, rührt davon her, daß die normannische Bevölkerung darin unter­gegangen ist. Was aber an Fremdem gegenüber der mitteleuropä­schen Kultur im Westen aufgegangen ist, rührt von dem eingeflosse­nen romanischen Strome her. Dieser romanische Strom hat ja nicht etwa im heutigen Frankreich haltgemacht, sondern er erwies sich durch die dogmatisch rationalistische Art, durch seine Hinneigung zu

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materialistischer Denkungsweise mächtig, nicht nur Frankreich zu überschwemmen, sondern als dann die Normannen wiederum nach den heute angelsächsischen Ländern hinüber die Hand ausstreckten, war es das Maßgebende, daß dort zu dem Angeltum, dem Sachsentum das hinzukam, was nicht die Normannen gebracht haben von Norden nach Süden, sondern das, was sie vom Süden her aufgenommen haben. Auch im britischen Element ist es das romanische Element, das dadurch dem mitteleuropäischen Wesen eigentlich ohne Verständnis gegenübersteht. Und dieses vom romanischen Element durchsetzte normannische Element hat dann seinen Zug weiter fortgesetzt über die griechischen Küsten herunter bis nach Konstantinopel. So daß wir einen Fluß normannisch-romanischer Kultur sich herunterziehen sehen vom europaischen Norden nach dem Westen hin, schlangen­förmig Mitteleuropa umkreisend, bis nach Konstantinopel herüber die Fangarme ausstreckend. Den andern Zug, der von Norden herunter-ging, sehen wir nach dem Osten ffießen und in das slawische Element eindringen. Die ersten Normannenzüge wurden von der damals in weiter Ausbreitung im heutigen Rußland lebenden finnischen Bevöl­kerung «Ros» genannt, wovon der Name Russen gekommen ist, der also anklingt an die Benennung, welche die Finnen der normannischen Bevölkerung gegeben haben. Wir sehen diese nordischen Völker sich hineinerstrecken in das slawische Element, immer weiter in das slawische Element vordringend, und gleichzeitig mit dem Zeitpunkt, an welchem die Normannen 860 vor Paris standen und da ihreRomaul­sierung begann, sehen wir das normannische Element hineintauchen in den slawischen Strom und auf der andern Seite bis über Kiew und bis nach Konstantinopel herunterziehen. Und der Kreis ist geschlos­sen! Es ziehen von Norden herunter die normannischen Kräfte auf der einen Seite nach Westen, sich romanisierend, auf der andern Seite nach dem Osten, sich slawisierend, und sie stoßen zusammen vom Osten und vom Westen aus in Konstantinopel. Und in Mitteleuropa ist wie in ein Kulturbecken eingeschlossen dasjenige, was zurück­geblieben ist in dem von dem alten Keltentum befruchteten, ursprüng­lichen Germanentum, das dann in der verschiedensten Nuancierung in der Bevölkerung, die sich als deutsche, als holländische, als skandinavische

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Bevölkerung geltend macht, als Element ausgesprochen vor­handen ist. So sehen wir, wie alt diese Einkreisung ist.

In diesem Mitteleuropa bereitet sich nun vor, was wir nennen können eine intime Kultur, eine Kultur, welche niemals imstande war, so zu verlaufen, wie die Kultur im Westen oder die Kultur im Osten, sondern welche ganz anders verlaufen mußte. Wenn wir vergleichen, was sich in Mitteleuropa an Kultur entwickelt hatte, mit demjenigen, was im Westen sich entwickelt hat, so müssen wir sagen, im Westen entwickelte sich - und das kann aus dem kleinsten und aus dem größten Zuge dieser Kultur ersehen werden - eine Kultur, deren Grundcharakter von den britischen Inseln über Frankreich, Spanien, bis nach Sizilien, Italien hinein und bis nach Konstantinopel hinüber zu verfolgen ist. Da entwickelte sich als Grundzug der Kultur ein gewisser Dogmatismus, ein Rationalismus, eine Sehnsucht, all das­jenige, was man an Erkenntnissen bekommt, in einfache rationall­stische Formeln zu kleiden. Es entwickelte sich ein Trieb, die Dinge so zu sehen, wie Verstand und Sinnlichkeit sie sehen müssen. Es ent­wickelte sich der Trieb, alles zu vereinfachen. Nehmen wir einen Fa]l, der uns als Bekenner der Geisteswissenschaft naheliegen kann, die Gliederung unserer Menschenseele in drei Glieder : Empfindungs-seele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele. Die Men­schenseele kann in Wirklichkeit nur begriffen werden, wenn man weiß, daß sie aus diesen drei Gliedern besteht. Ebensowenig wie das Licht begriffen werden kann, ohne die Farbennuancen in ihrem Ursprung aus dem Licht zu erkennen, und ohne daß man weiß, es gliedert sich in die verschiedenen Farbennuancen, die wir im Regen­bogen sehen, auf der einen Seite die roten, die gelben Strahlen, auf der andern Seite blau, grün, violett, und wenn man das nicht weiß, kann man nicht als Physiker das Licht studieren, ebensowenig kann man die menschliche Seele studieren, was unendlich wichtiger ist; denn jeder soll ein Mensch sein und jeder soll von der Seele Bescheid wissen. Wer in seiner Seele selbst nicht fühlt, daß diese See]e sich auslebt in den drei Gliedern : Empfindungsseele, Verstandes- oder Ge­mütsseele, Bewußtseinsseele, der wirft alles in der Seele durchein­ander. Wir sehen es an den modernen Universitätspsychologen, wie

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sie alles in der Seele durcheinanderwerfen, so wie man die Farben­nuancen des Lichtes einfach durcheinanderwirft; und sie dünken sich in ihrem ungeheuren Hochmut, ihrem wissenschaftlichen Übermut ganz besonders gelehrt, wenn sie alles im Seelenieben durcheinander-werfen, während man die Seele wirklich nur erkennen kann, wenn man imstande ist, diese Dreigliederung der Seele wirklich zu wissen.

Wenn die Empfindungsseele auch zunächst dasjenige ist, was ge­wissermaßen die Triebe, die mehr empfindungsgemäßen Impulse darlebt, mehr dasjenige im jetzigen Erdendasein, was wir nennen können das mehr Sinnliche des Menschen, so enthält doch diese Empfindungsseele zugleich in ihren tieferen Teilen die ewigen Triebkräfte der Menschennatur, diejenigen Kräfte, die durch Geburt und Tod gehen. Die Verstandes- oder Gemütsseele enthält zur Hälfte das Zeitliche, zur Hälfte das Ewige. Die Bewußtseinsseele, wie sie jetzt ist, enthält vorzugsweise die Hinlenkung des Menschen zum Zeitlichen. Daher ist es verständlich, daß das Volk, welches seine Volksseele durch die Bewußtseinsseele ausbildet, das britische Volk, nach einem sehr schönen Ausspruch Goethes, nichts hat von alledem, was tiefsinnige Reflexion ist, sondern daß es auf das Praktische, den äußerlichen Konkurrenzkampf gerichtet ist. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, sich einmal an solche Dinge zu erinnern, denn diejenigen, die am deutschen Geistesleben teilgenommen haben, waren nicht blind für diese Dinge, sondern sie haben sich immer sehr deutlich darüber aus­gesprochen. So hat Goethe Eckermann gegenüber - es ist lange her, aber man kann daraus sehen, daß große Deutsche die Dinge immer im wahren Lichte gesehen haben -, als einmal die Rede war von den Philosophen Hegel, Fichte, Kant und auch noch von einigen andern, ausgesprochen : Ja, ja, während sich die Deutschen abquälen damit, die tiefsten philosophischen Probleme zu lösen, sind die Engländer vorzugsweise auf das Praktische gerichtet und nur darauf. Ihnen fehlt jeder Sinn für die Reflexion. Und selbst wenn sie - so sagte Goethe -Deklamationen machen über die Moral, die darin liegt, die Sklaven zu befreien, so muß man fragen : Welches ist « das reale Objekt» dabei? - Und bei einer andern Gelegenheit schrieb Goethe, was sehr bezeichnend ist, es sei mehr als Bände sprechend, daß sogar Walter

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Scott einmal zugestanden habe, daß es, wenn auch die Engländer teilgenommen hätten an den Kämpfen gegen Napoleon, doch wich­tiger für sie sei als alles Befreien der Völker, wovon dazumal ge­sprochen worden sei, «ein britisches Objekt vor sich zu sehen». Es ist einem deutschen Philologen gelungen - und was gelingt nicht alles dem Fleiße der deutschen Philologen -, in den neun dicken Bänden der Napoleon-Biographie von Walter Scott die Stelle auf­zufinden, auf die Goethe damals angespielt hat, und da findet sich in der Tat, von Walter Scott selbst eingestanden, daß zwar die Briten teilgenommen haben an den Kämpfen gegen Napoleon, daß aber dahinter der Wunsch steht, einen britischen Vorteil zu erlangen, das heißt, wie er sich ausdrückt «to secure the British object», «das britische Objekt zu sichern». - Es ist durchaus ein Ausspruch des Engländers selbst, man mußte ihn nur suchen. Diese Dinge sind inter­essant, um sich heute den Gesichtskreis etwas zu erweitern.

Man muß also wissen, sagte ich, daß die menschliche Seele aus diesen drei Gliedern besteht, besser gesagt, daß das menschliche Selbst durch diese drei Seelennuancen wirkt, wie das Licht durch die ver­schiedenen Farbennuancen, vorzugsweise in den drei Reichen : Mine­ral-, Pflanzen-, Tierreich. Dann wird man darauf kommen, daß der Mensch, indem er diese drei Seelennuancen hat, jeder dieser Seelen-nuancen ein großes Ideal zuerteilen kann und im menschlichen Fort­schritt zuerteilen muß, daß das Ideal dieser Seelennuancen ein großes Ideal ist, aber jedes dieser Ideale ist eben da für eine der Seelen-nuancen, nicht für die ganze Seele. Und nur dann, wenn sich die Men­schen durch die Geisteswissenschaft dahin bringen lassen, daß sie den einzelnen Seelengliedern ihre entsprechenden Ideale zuerkennen, wird das eintreten, was das eigentliche Ideal des Menschenheiles und des harmonischen Zusammeniebens der Menschen auf der Erde sein kann. Denn der Mensch muß anstreben, für dasjenige, was vorzugsweise mit seiner Empfindungsseele zusammenhängt, für dasjenige, was er ge­wissermaßen auslebt im Umfang des physischen Planes, ein anderes Seelenideal zu haben als das, was er auslebt durch die Verstandes-oder Gemütsseele, und wiederum ein anderes Ideal für dasjenige, was er auslebt durch die Bewußtseinsseele. Durch das eine dieser Ideale

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wird das eine Seelenglied veredelt, durch das andere wird das andere Seelenglied veredelt. Wenn man das eine Seelenglied insbesondere durch die Brüderlichkeit der Menschen untereinander auf der Erde ausbildet, muß man das andere ausbilden durch die Freiheit, das dritte durch die Gleichheit. Diese drei Ideale beziehen sich jedes auf ein Seelenglied. Im Westen Europas wurde das alles durcheinander-gebuttert, und es wurde durch die Rationalisten vereinfacht, durch diesen Rationalismus, der alles in glatten Formeln, in glatten Dogmen haben will, der alles verstandesklar haben will. Durch diesen Dogma­tismus wurde die ganze Menschenseele einfach als eine genommen und von Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit gesprochen. Da sehen wir, wie im Westen ein Grundnerv der Rationalisierung der Kultur darin-steckt. Und so könnten wir es bis in die Einzelheiten hinein nach­weisen. Es können zum Beispiel gerade feingebildete Franzosen sich darüber aufhalten, wenn, sagen wir, in meinen Mysteriendramen die Sprache so gewählt ist, daß sogar fünffüßige Jamben, aber keine Reime verwendet sind. Der französische Geist kann das nicht be­greifen, daß die innere Triebkraft der Sprache auf dieser Stufe den Reim nicht brauchen kann. Er strebt nach Systematisierung, nach dem, was äußerlich eine Umrahmung bildet, und er sagt : Verse kann man doch ohne Reim nicht machen!

So ist es aber auch mit dem äußerlichen Leben, so ist es mit allem. Man muß im Westen gliedern, systematisieren, man muß alles hübsch einschachteln. Bedenken Sie doch nur einmal, was für eine furchtbare Sache es war, wie im Beginn unseres geisteswissenschaftlichen Stre­bens dadurch, daß viele unserer Freunde noch beeinflußt waren von der englischen theosophischen Richtung, man in jedem Zweig, in den man kam, immer wieder alle möglichen Systeme auf Karten, Tafeln und so weiter aufgeschrieben finden konnte, oben, hübsch an-geordnet : Atma, Buddhi, Manas, dann alle möglichen Dinge der Quere und der Länge nach, die man so systematisiert und eingeschachtelt hat. Bedenken Sie, wie man sich unter das Joch dieses Dogmatismus ge­beugt hat und wie schwierig es war, die inneren Entwickelungs­methoden an seine Stelle zu setzen, wie wir sie in Mitteleuropa haben müssen : daß das eine aus dem andern hervorgeht, daß Begriffe im

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inneren Erleben vorwärtsschreiten! Das Systematisieren, diese Esels­brücken des Geistes, die alles in ganz bestimmte Formeln bringen, kann man nicht brauchen. Was hat es für Mühe gekostet, zu zeigen, daß man es zu tun hat mit einem Übergehen des einen in das andere, mit einem folgemäßigen Gliedern und Vorwärtsschreiten, mit einem lebendigen organischen Gestalten! Ich könnte diese Schilderung auf alle Zweige des Lebens ausdehnen, doch da würden wir tagelang zusammenbleiben müssen.

Das also finden wir im Westen als den einen Teil des Stromes, der Mitteleuropa einkreiste. Und wenn wir nach dem Osten herübergehen, so müssen wir sagen : Da haben wir es zu tun mit einer Sehnsucht, die gerade das Entgegengesetzte darbietet, mit der Sehnsucht, heute alles noch in einem Nebel von Unklarheiten verschwinden zu lassen, in einer primitiven, elementaren Mystik, in etwas, was nicht verträgt das unmittelbar wirkliche Aussprechen in klaren Ideen und klaren Worten. Wir haben tatsächlich zwei Schlangen - das Symbolum ist absolut zutreffend -, die sich, die eine von Norden nach Südosten, die andere von Norden nach Südwesten erstrecken und die sich gegen Konstanti­nopel hin ineinander verfangen. Und inmitten haben wir eingeschlos-sen, was wir die intime mitteleuropäische Geistesströmung nennen können, diese mitteleuropäische Geistesströmung, bei der niemals, wo sie in ihrer Ureigentümlichkeit auftritt, getrennt sein kann der Kopf von dem Herzen, getrennt sein kann das Denken von dem Fühlen.

An unserer Geisteswissenschaft bemerkt man das heute noch nicht vö]lig, weil gestrebt werden muß, wenn auch nicht nach begrifflicher Systematik, so doch nach Begriffen der Entwickelung. Man merkt noch nicht, daß alles, was da angestrebt wird, nicht nur Kopfschauen ist, sondern daß überall mit allem das Herz und die ganze Seele ver­bunden sind, daß immer das Herz durchströmt ist, indem der Kopf zum Beispiel die Übergänge schildert von Saturn zur Sonne, von der Sonne zum Mond, vom Mond zur Erde und so weiter, daß da überall das Herz mit dabei ist in der Schilderung, und man da im Tiefsten ergriffen sein kann, daß man mit allem herzmäßigen Fühlen in die höchsten Höhen hinaufsteigt und in die tiefsten Tiefen untertaucht und wieder aufsteigen kann. Das merkt man heute noch nicht, daß

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dasjenige, was nur scheinbar in Begriffen beschrieben ist, zugleich mit Herzblut geschrieben sein muß, wenn es mitteieuropäischem Geistes-leben entsprechen will. Dieses intime Element der mitteleuropäischen Kultur vermag das Spirituelle nicht ohne das Ideelle, das Ideelle nicht mehr ohne das Spirituelle zu denken. Den Geist zu erkennen, um mit dem Geist in einer intimen Weise zu gleicher Zeit eine Art Vermählung der Seele einzugehen, dieses Moment ist es, das am intensivsten das mitteleuropäische Wesen charakterisiert. Daher kann dieses mittel-europäische Wesen das, was bis in die tiefsten Tiefen der sinnlichen Anschauung und der sinnlichen Empfindung heruntersteigt, ver­wenden, um zum Symbol zu werden für das Allerhöchste. Und es ist tief bezeichnend, wenn Goethe, nachdem er sein ganzes Leben hin-durch das Leben nicht nur des typischen Deutschen, sondern des typischen Menschen, das Leben des Faust vor seiner Seele hat vorbei-rollen lassen, seine Dichtung schließt mit den Worten :

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis,

und als letzte Worte hat :

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.

Da wird ein kosmisches Geheimnis durch ein sinnliches Bild aus­gedrückt, und gerade in diesem sinnlichen Bild spricht sich der intime Charakter der mitteleuropäischen Kultur aus, dieser wunderbar intime Charakter, den wir zum Beispiel so schön ausgedrückt finden, zart und zu gleicher Zeit geistig sich zum Höchsten erhebend gerade bei Novalis. Suchen Sie sich einmal die Übersetzungen, die man da und dort ge­macht hat von diesem letzten Satz : «Das Ewig -Weibliche / Zieht uns hinan», namentlich die französischen Übersetzungen, dann werden Sie sehen, was aus diesem Satz geworden ist! Er ist ja allerdings oftmals gerade nicht schön von Franzosen erklärt worden, aber die zählen ja nicht, wenn es sich um Faust -Verständnis handelt.

Intimität des spirituellen Lebens, das ist es, worauf das mittel­europäische Wesen im eminentesten Sinne hinzielt, und das ist dasjenige,

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was von der Midgardschlange im Osten und Westen ein-geschlossen ist. Und so weit müssen wir gehen, um uns in unserem Empfinden ganz zu verbinden mit dem, was eigentlich geschieht! Dann werden wir gerade aus diesem mitteleuropäischen Wesen uns Objektivität aneignen, um nicht aus denselben Impulsen heraus, aus denen im Osten und Westen die Dinge beurteilt werden, sondern aus den wahrhaft übernationalen menschlichen Impulsen heraus stehen zu können zu unseren großen Ereignissen der Gegenwart. Dann wer­den wir einiges davon begreifen, warum die mitteleuropäische Bevöl­kerung so mißverstanden, ja gehaßt wird von denen, die sie umgeben. Selbstverständlich müssen wir das, was in Mitteleuropa für die ge­samte Menschheit an Sendung vorhanden ist, mit aller Demut betrach­ten können. Wir müssen zu der Stimmung kommen können, die nicht sich überhebt, aber wir mussen auch den freien Blick uns sichern für das, was in Mitteleuropa zu verrichten ist.

Die mitteleuropäische Bevölkerung ist durchgegangen durch eine Volksseelenkraft, die immer eine verjüngende war. Sie hat eine Höhe erreicht in den Idealen der Lessing, Schelling, Hegel, Fichte, Goethe, Grimm. Aber all das, was da schon lebte, lebte mehr in einem Streben nach Idealismus. Das muß nun weiteres Leben gewinnen, konkreteres Leben gewinnen. Die tiefen Ideen des deutschen Idealismus müssen Inhalt bekommen durch das, was aus dem Spirituellen kommen kann, und wodurch sie erst aus bloßen Ideen zu lebendigen Wesen der geisti­gen Welt erhoben werden, durch die wir dann uns selbst in diese geistige Welt hineinfinden können. Die Größe der mitteleuropäischen Aufgabe ist es, die jetzt deutsche Herzen beseelen muß, und das Be­wußtsein davon, was zu verteidigen ist nach allen Seiten hin, nach den Seiten hin, wo die Midgardschlange den Kreis fest umschlossen hält. Es ziemt insbesondere uns, die wir auf dem Boden der Geistes­wissenschaft stehen, in einem solch höheren Sinne das zu betrachten, was heute sich wirklich vollzieht. Und wir können auch den innersten Impuls unserer Geisteswissenschaft nicht ernst genug nehmen, wenn wir uns nicht hineinfinden in eine solch unpersönliche Auffassung des geisteswissenschaftlichen Strebens, wenn wir nicht fühlen, wie dieses geisteswissenschaftliche Streben in jedem einzelnen verbunden ist mit

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dem gesamten mitteleuropäischen Streben, wie es verbunden sein muß mit der ganzen Substantialität dieses mitteleuropäischen Strebens. Wir müssen uns klar sein darüber, daß manches von dem, was uns vor-schweben muß, erst noch im Keim vorhanden ist, daß aber gerade die mitteleuropäische Kultur dazu berufen ist, die Keime zu Blüten und zu Früchten sich entfalten zu lassen.

Dafür sei nur ein Beispiel angeführt. Wenn der Mensch versucht, nach und nach durch seine Meditation und Konzentration, durch das intime Arbeiten an der Entwickelung seiner Seele sich vorwärts-zubringen, dann nehmen alle Seelenkräfte eine andere Form an, als sie im gewöhnlichen Leben haben. Dann werden gewissermaßen die Seelenkräfte zu etwas anderem. Wenn der Mensch wirklich emsig an seiner Entwickelung arbeitet, durch Gedankenkonzentration und anderes, wie es in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt ist, so kommt der Mensch dazu, zu be­greifen, lebendig zu begreifen, ich möchte sagen, lebendig zu ergreifen, daß er dann in dem Augenblick, in welchem er der wirklichen geisti­gen Welt sich nähert, nicht mehr so denkt, wie man im gewöhnlichen Leben denken muß. Im gewöhnlichen Leben denkt man so, daß die Gedanken anfangen in einem zu leben. Wenn man der Sinnenwelt gegenübersteht, da weiß man : Das bin ich, und das Ich hat die Ge­danken. Man verbindet einen Gedanken mit dem andern und bildet sich dadurch ein Urteil, man bringt die Gedanken zusammen und läßt sie auseinandergehen. Ich habe in meiner Schrift, die betitelt ist «Die Schwelle der geistigen Welt», das Entwickeln der Gedanken verglichen mit einem Hineinstecken des Kopfes in eine Welt von lebendigen Wesenheiten. Die Gedanken fangen an, innerlich zu krib­beln und zu krabbeln, sie werden, wenn ich so sagen darf, lebendige Wesenheiten, und wir sind es nicht mehr, die einen Gedanken zum andern bringen, sie gehen, der eine zum andern, der eine faßt den andern und löst sich vom andern los, das Gedankenleben fängt an, lebendig zu werden. Erst dann, wenn die Gedanken gleichsam an­fangen, Hülsen und Behälter zu werden, die sich im kleinen Raum zusammenziehen und dann wiederum groß, sackartig sich ausdehnen, dann können die Wesen der höheren Hierarchien hineinschlüpfen in

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unsere Gedanken, dann erst ! Also unser Eigenieben, das ganze Den­ken ändert sich, wenn wir in die geistige Welt uns einleben. Dann beginnt man wahrzunehmen, wie auf den andern Planeten nicht Menschen wie auf der Erde, sondern andere Wesenheiten leben, wie die andern Planeten von andern Wesenheiten bevölkert sind. Diese andern Wesenheiten der andern Planeten, die dringen gleichsam in unser lebendig gewordenes Denken ein, und wir denken nicht mehr über die Wesenheiten der andern Welten und Weltensphären, sondern die leben in uns, sie leben mit unserem Selbst vereint. Das Denken ist also eine ganz andere Seelenkraft geworden; es hat sich von dem Punkt, auf dem es stand, entwickelt zu einer andern Seelenkraft, zu jener Kraft, die über uns selbst hinauswirkt und hinauswächst und mit der Welt identisch wird, welche die geistige Welt ist.

Da haben wir ein Beispiel von dem, was der Menschheit aufgehen muß, wenn sie den Zustand, in dem sie jetzt lebt, für die Erdenzukunft zu einem höheren entwickeln soll. Das muß wirklich Gemeingut wer­den, daß solches Denken möglich ist, und daß nur durch solches Den­ken der Mensch mit der geistigen Welt Bekanntschaft machen kann. Dazu braucht nicht jeder Mensch ein Geistesforscher zu werden, eben­sowenig wie jeder ein Chemiker zu werden braucht, der die Errungen­schaften der Chemie verstehen will. Doch wenn es auch nur wenig Geistesforscher geben kann, jeder kann durch unbefangenes Denken die Wahrheit dessen einsehen und begreifen, was der Geistesforscher sagt. Aber das muß klarwerden, daß im Menschen während des Lebens unbemerkte Seelenkräfte liegen, die, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, von selbst auch zu dem werden, was sie bei einem Initiierten werden. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, wird das Denken eine ganz andere Seelenkraft : sie greift ein in die Wesenheit. Es ist ein fortwährendes Ausstrecken von Fühl­hörnern, und die höheren Welten sind in diesen Fühihörnern darinnen, und man erlebt sie selbst.

Nun gab es einen tonangebenden Geist des 19. Jahrhunderts, der so recht durch seine Geistreichlgkeit - denn geistreich war er - bei­getragen hat zur Begründung der materialistischen Weltanschauung :

Ludwig Feuerbach. Er hat ein Buch geschrieben « Gedanken über Tod

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und Unsterblichkeit», und es ist interessant, an einer Stelle dieses Buches folgendes zu lesen. Da sagt Feuerbach etwa : Das Höchste, was der Mensch entwickeln kann bei sich, das sind seine Gedanken. Höhere Seelenkräfte kann er nicht entwickeln als die Gedanken. Könnte er höhere Seelenkräfte als die Gedanken entwickeln, so würde ja in seinen Kopf hineindringen können dasjenige, was von den Be­wohnern der Sternenwelten lebt, und er würde statt der Gedanken die Wirkungen und Taten der Wesenheiten, die auf den Planeten sind, im Kopfe haben. - Das kommt diesem Ludwig Feuerbach so absurd vor, daß er natürlich jeden für seelenkrank hält, der überhaupt von so etwas spricht. Denken Sie, wie interessant das ist, daß ein Mensch, der gerade deshalb Materialist wird, weil er höhere Seelenkräfte ablehnt, darauf kommt, wie die Seelenkraft ist, die die Höherentwickelung des Den­kens darstellt. Er beschreibt sie sogar, aber er hat eine so heillose Furcht, eine so heillose Angst vor dieser Entwickelung, daß gerade, weil sie so sein müßte, wie er ahnt, er diese Seelenkraft für eine Un­möglichkeit, für Phantasterei erklärt.

So nahe ist die Geistesentwickelung im 19. Jahrhundert dem, was angestrebt werden muß, aber so ferne zugleich ist sie, weil sie zwar gleichsam hingestoßen wird aus dem Inneren zu dem, was angestrebt werden soll, aber nicht in das Tiefere hinein kann, da sie es als absurd ansehen muß, da sie sich davor wirklich fürchtet, ganz kolossal fürchtet. Sobald es ihr nur aufstößt, was da kommen soll, fürchtet sie sich. Zu sich kommen muß das mitteleuropäische Geistesleben, dann werden wir es erlangen, daß aus diesem mitteleuropäischen Geistes­leben heraus gerade das sich entwickelt, was die Furcht überwindet. Zu stark ist dasjenige geworden, was dieses mitteleuropäische Geistes-licht unterdrücken will.

Dafür seien auch eituge Beispiele genannt. Hege4 der deutsche Philosoph, hat vergebens seine Stimme erhoben gegen die Über­schätzung Newtons. Wenn Sie heute irgendeinen Physiker sprechen hören - Sie können das, was ich sage, in vielen populären Werken nachlesen -, dann werden Sie hören : Newton ist der große Tonangeber der Gravitationslehre, einer Lehre, durch die der Kosmos erst erklärlich geworden sei. - Hegel hat gesagt : Was hat denn eigentlich

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Newton getan? - Er hat das, was Kepler> der deutsche Astronom, aus­gesprochen hat, in mathematische Formeln gekleidet Denn es ist nichts in Newtons Werken enthalten, was Kepler nicht schon gesagt hat. Kepler hat aus jener Anschauung heraus geschaffen, bei der ge­wissermaßen die ganze Seele wirkt, nicht nur der Kopf allein. Newton aber hat das Ganze hineingebracht in ein System und dadurch allerlei Mißgriffe gemacht, zum Beispiel die Lehre von einer Wirkung der Sonne in die Ferne, die für die Beurteilung der Planetenbewegung nicht brauchbar ist. Bei Newton ist es wirklich so, wie wenn die Sonne physische Arme hätte, und diese Arme ausstreckte und die Planeten anziehe. - Aber vergeblich hat der deutsche Philosoph davor gewarnt, daß die mitteleuropäische Kultur von der britischen Kultur auf diesem Gebiet überschwemmt werde.

Um ein anderes Beispiel zu erwähnen : Goethe hat eine Farben-lehre begründet, die ganz aus dem mitteleuropäischen Denken heraus entstanden ist und die man erst begreifen wird, wenn man ein wenig die Zusammenhänge erkennen wird des Physischen mit dem Geistigen. Die Welt hat nicht die Goethesche Farbeniehre angenommen, sondern die Newtonsche Farbenlehre. - Goethe hat eine Evolutionslehre be­gründet. Die Welt hat sie nicht begriffen, sondern sie hat erst das an­genommen, was in einer populär-materialistischen Weise im Darwinis­mus als Evolutionslehre, als Entwickelungslehre gegeben worden ist. Man kann sagen : Sich besinnen auf die Kräfte, die der mitteleuro­päische Mensch hat, der von der Midgardschlange eingekreist ist, das ist es, worauf es ankommt, sich nicht zu beugen unter das, was an Rationalismus und Empirismus hereingebracht wird!

Sie sehen die kolossale Aufgabe, die vorliegt, Sie sehen die Größe des Ideals. Es wird gar nicht bemerkt, weil es noch, ich möchte sagen, im Strom der Erscheinungen verfließt, wenn man einmal das mittel­europäische Wesen geltend macht. Ich weiß nicht, von wievielen das Folgende bemerkt worden ist. Als aus den Gründen, die auch gestern im öffentlichen Vortrag genannt wurden, unsere geisteswissenschaft­liche Bewegung sich von der spezifisch britischen Richtung der Theo­sophischen Gesellschaft frei machen mußte und als vor langer Zeit das gewissermaßen im Geistigen vorausgeschehen ist, was jetzt im Kriege

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sich vollzieht - und aus guten Gründen vorausgegangen, voraus-geschehen ist -, habe ich dazumal an Symptomen die ganze Sache be­sprochen und erklärt. Es gibt törichte Menschen, welche urteilen wollen über das, was unsere geisteswissenschaftliche Bewegung ist und oftmals gesagt haben : Nun ja, auch diese mitteleuropäische geisteswissenschaftliche Bewegung ist ja von dem ausgegangen, was sie von der britischen theosophischen Bewegung bekommen hat. -Da möchte ich doch daran erinnern, daß ich erzählt habe - ich sage das nicht aus persönlichen Gründen, sondern weil es die Lage, den ganzen Nerv der Sache an einem Symptom charakterisiert -, wie ich, bevor ich irgendwie einen äußeren Zusammenhang hatte mit der britisch-theosophischen Bewegung, in Berlin Vorträge gehalten habe, die dann gedruckt wurden in meiner Schrift «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geistesleben». In dieser Schrift wird kein Mensch etwas von irgendeinem Einfluß vom Westen finden, sondern da ist rein aus dem mitteleuropäischen Geistesleben heraus alles entwickelt, aus der spirituellen, mystischen Bewegung von Meister Eckart bis zu Angelus Silesius. Und als ich das erste Mal nach London gekommen bin, hat dazumal eine der Koryphäen der Theosophlschen Gesellschaft, Mr. Meal, der das Buch gelesen hat, das gleich in vielen Kapiteln ins Englische übersetzt worden ist, gesagt, in diesem Buche stehe eigent­lich die ganze Theosophie darin. - So weit, als die Leute zugegeben haben, daß sie mit uns gehen können, so weit konnten wir selbst-verständlich uns mit der ganzen Sache vereitugen; aber etwas anderes ist auch nicht gemacht worden.

Das ist es, worauf es ankommt : daß wir uns besinnen auf unsere Aufgaben der mitteleuropäischen Geisteskultur und daß wir niemals von ihnen abweichen ! Man hat von dieser oder jener Seite den Eng-ländern die Orden zurückgeschickt, die Diplome und dergleichen. Das ist vielleicht doch das weniger Wichtige. Das Wichtige wird erst sein, wenn man den Newtonismus, den englisch gefärbten Darwinismus zurückschlckt, das heißt, das mitteleuropäische Geistesleben davon befreit. Und dafür ist einiges zu lernen aus der Art, wie - frei von allen andern Einflüssen - das mitteleuropäische Geistesleben eben als Geisteswissenschaft sich geltend gemacht hat. Aber man muß sich

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darauf besinnen, muß das Wesentliche einmal ins Auge fassen und muß fest auf diesem Boden stehen. Es ist sehr eigentümlich, wie ge-heimnisvoll die Dinge eigentlich wirken.

Denken Sie doch nur einmal den folgenden Fall : Ernst Haeckel hat im Grunde genommen sein ganzes Leben hindurch sich bemüht, die deutsche Weltanschauung in Bahnen zu lenken, die ganz beeinflußt sind von britischem Denken, von britischem Wesen. In Ernst Haeckels Schriften fließt ganz das britische Denken, der britische Empirismus. Und jetzt wettert er am allermeisten gegen England. Das sind Vor­gänge, die sich im Unterbewußten der Seele des Mitteleuropäers voll­ziehen; das sind auch Dinge, die in einer solchen Seele mit dem Karma eng zusammenhängen. Denken Sie einmal, was es heißt, wenn Haeckel sich hinstellt vor die Welt und sagt, er selbst habe die erste große Tat des großen Forschers Huxiey vollbracht, indem er den Satz von der Ähnlichkeit des Menschenknochen mit dem Tierkhochen prägte; wie er, Haeckel, dann hingewiesen hat auf den großen Umschwung in der Auffassung von der Abstammung des Menschen, und wie er in die Evolutionslehre nichts hereinnahm als das, was aus dem Westen kam -und wenn man dann sieht, wie er jetzt gedrängt wird, zu wettern gegen dasjenige, was sein ganzes Geistesleben gebildet hat. Es ist das tragischste Ereignis der Gegenwart für eine solche Seele, das sich nur denken läßt. Es ist geistiger Dynamit, denn es zersprengt eigentlich alle Grundsäulen, auf denen eine solche Seele steht.

Und so sieht man hinein in die Tiefen desjenigen, was sich eigent-lich gegenwärtig vollzieht, aber auch in das Furchtbare, auf das wir aufmerksam sein müssen. Nur dann, wenn man wirklich die Dinge so betrachtet, wird man in die Lage kommen, sie über den engen Hori­zont hinaus, unter dem sie heute häufig betrachtet werden, einmal ins Auge zu fassen. Man wird vor allen Dingen eine große Lehre ziehen können - und das wird die schönste, zugleich die demütigendste und erhabenste Lehre sein, die Lehre von dem, wozu der waltende, wir­kende, wesende Weltengeist den mitteleuropäischen Menschen be­stimmt hat, der jetzt, umschiungen von der Midgardschiange, wie in einer Festung eingeschlossen ist, allüberall von Feinden umgeben. Wenn uns dasjenige, was geschieht, zum großen Symbolum wird für

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tiefstes Weltenweben und Weltenwesen, dann erst kommen wir frei von einer selbstischen Auffassung der schweren, schicksaltragenden Ereignisse der Gegenwart. Und dann werden wir erst fühjen, wie wir uns würdig machen müssen dessen, was etwa Fichte auch in einer Zeit, in der Deutschland in schicksaltragenden Tagen stand, gesprochen hat in den « Reden an die deutsche Nation», wo er sprechen wollte, wie er sich ausdrückt, « für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg», und in der Richtung sprach, in der man dazumal sprechen mußte vom Deutschen schlechtweg zum Deutschen schlecht-weg. Aber wie Fichte dazumal von alledem gesprochen hat, was die deutsche Mission, der deutsche Pflichtenkreis ist, so ist das Schwere, das wir heute erleben innerhalb der Einschließung durch hassende Feinde, dasjenige, was wir erleben müssen als den Sonnenaufgang des mitteleuropäischen Bewußtseins. In der Tat darf ein Wort, das sich in Fichtes Reden am Schluß findet, heute umgesetzt werden dahin, daß gesagt wird : Zu der Menschheit Heil muß die spirituelle Welt­anschauung einfließen in die Seelen. Und auf diejenigen, die in Mittel-europa wohnen, auf die sieht hin der Weltengeist, daß sie Sprachrohr werden für dasjenige, was er der Menschheit in fortlaufender Offen­barung zu sagen und zu bringen hat.

Ohne Hochmut, ohne Überhebung, ohne nationalen Egoismus kann man also auf dasjenige, was mit Leib und Blut und Seele die Söhne Deutschlarids und Mitteleuropas überhaupt zu verteidigen haben, hinschauen. Doch muß man sich auch dessen bewußt werden. Dann aliein kann aus den ungeheuren Opfern, die gebracht werden müssen, aus den Leiden, die erfließen, folgen, was zu der Menschheit Heil ist. Denn wir stehen an einer wichtigen Schwelle, an einer be­deutungsvollen Schwelle, und man könnte diese Schwelle in der Menschheitsentwickelung so charakterisieren, daß man sagt : In der Zukunft muß der Abgrund überbrückt werden zwischen dem Physi­schen und dem Geistigen, zwischen dem physisch Lebendigen und dem geistig Lebendigen, zwischen dem Irdischen und dem, was jen­seits des irdischen Todes liegt. Die Zeit muß gewissermaßen über uns kommen, wo uns nicht nur die Seelen lebendig sind, die im physischen Leibe herumwandeln, sondern wo wir uns eingegliedert fühlen jener

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größeren Welt, der auch angehören die Seelen, die zwischen Tod und neuer Geburt entkörpert in der Welt leben, die wir im großen Stile die unsrige nennen. Hinausgerichtet werden muß der Blick der Menschen über das, was nur sinnlich-physische Augen sehen können. An der Schwelle zu diesem neuen Erleben, zu diesem neuen Bewußtsein stehen wir in der Tat. Und was ich Ihnen sagte von dem Erweitern des Bewußtseins, von dem Höherhinaufentwickeln des Bewußtseins, das muß eine geläufige Anschauung werden. Die mitteleuropäische Kultur ist vorbereitet dazu, dies zu einer geläufigen Anschauung zu machen; sie ist wirklich dazu vorbereitet.

Ich habe Ihnen gezeigt, wie sich beste Geister des 19. Jahrhunderts heute noch fürchten, das in ihr Bewußtsein hineinzubekommen, was die Seele in ihren Tiefen hat; nur kann sie von ihren irdischen Seelen-kräften aus die Aufmerksamkeit noch nicht darauf verwenden. Jenes Denken ist ja da, in welches hineinreichen die übersinnlichen Kräfte und übersinnlichen Wesenheiten, und dieses Denken öffnet sich auch sogleich, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist. Die Materialisten fürchten sich davor, sich zu gestehen, daß das menschliche Bewußtsein also erweitert werden könne, daß wirklich die Schranke zwischen dem physischen und dem geistigen Erleben fallen kann, zwischen dem, was diesseits des Todes und jenseits des Todes liegt. Und weil sie sich fürchten, lehnen sie es ab als phan­tastisch, träumerhaft, ja sogar als seelenkrank. Aber erkennen wird man, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, nur die Kräfte entwickelt, die er auch jetzt schon hat zwischen Geburt und Tod. Nur wirken sie in solchen Tiefen, daß er sie selber nicht schaut. Sie bewirken Dinge in ihm, die zwar getan werden in ihm, aber auf die im gewöhnlichen Leben die Aufmerksamkeit nicht gelenkt wird. Mit den Kräften, von denen der Mensch weiß, mit die­sen Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens allein könnte das physisch4rdische Leben nicht verrichtet werden. Wenn der Mensch nur denken, fühlen und wollen könnte, so wie er es jetzt kann, würde er niemals imstande sein, seinen Leib zum Beispiel plastisch so aus­zubilden, daß das Gehirn zu seinen Anlagen paßte. Dazu mußten plastisch bildende Kräfte eingreifen. Die gehören aber schon zu dem,

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was die Seele gar nicht mehr wahrnimmt im physischen Erleben, was einem umfassenderen Bewußtsein angehört als dem Kreisausschnitt des Bewußtseins, den wir im gewöhnlichen Leben haben.

Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, dann hat er nicht Mangel an Bewußtsein, sondern dann lebt er zunächst in einem Bewußtsein, welches viel reicher und inhaltvoller ist als das Bewußt­sein hier im physischen Leben. Denn von einem umfassenderen Be­wußtsein schneidet der Leib ein Stück heraus und zeigt alles das, was gezeigt werden kann, dazu noch alles nur im Spiegel. Das aber, was im Leibe steckt und was der Mensch durch die Pforte des Todes trägt, das hat in der Tat in sich ein umfassendes Bewußtsein. Und wenn der Mensch durch die Pforte des Todes getreten ist, dann ist er in diesem umfassenden Bewußtsein darin. Er hat nicht zu wenig, sondern im Gegenteil zu viel, zu reiches Bewußtsein, wenn er durch die Pforte des Todes geht. Darüber habe ich gesprochen in meinem Wiener Zyklus an Ostern 1914. Der Mensch hat ein reicheres Bewußtsein nach dem Tode, und wenn er eine Zeitlang, nachdem jene durch den Ätherleib bewirkte, oft geschilderte Rückschau vorbei ist, in eine Art Schlafzustand eintritt, so ist das nicht ein wirklicher Schlafzustand, sondern ein Zustand, der dadurch herbeigeführt wird, daß der Mensch in einem reicheren Bewußtsein darin ist aJs hier. Und wie durch über-reiches Licht, durch eine Überfülle des Lichtes unsere Augen ge­blendet werden, so ist der Mensch geblendet durch die Überfülle des Bewußtseins, und er muß sich erst orientieren lernen. Der scheinbare Schlaf besteht nur darin, daß der Mensch in dieser Überfülle des Be­wußtseins so sich orientiere, daß er dann die Überfülle des Bewußt­seins herabstimmen kann zu dem, was er schon ertragen kann nach den Ergebnissen seines Lebens. Das ist das Wesentliche. Nicht zu wenig, sondern zu viel Bewußtsein haben wir, und wir wachen dann auf, wenn wir unser Orientierungsvermögen herabgestimmt haben auf das, was wir ertragen können. Es ist also ein Herabdämpfen bis zum ertragbaren Grade der Überfülle des Bewußtseins, was nach dem Tode eintritt. Solche Dinge müssen Sie sich durch die Einzelheiten des Wiener Zyklus klarmachen.

Ich will es heute nur veranschaulichen an zwei uns naheliegenden

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Beispielen. Ich könnte viele solche Beispiele anführen, denn es sind ja in letzter Zeit und auch schon fraher aus dem Kreise unserer Freunde viele durch die Pforte des Todes gegangen. Aber durch die besondere Eigenart der Umstände, gerade dadurch, daß es sich um letzte Tode handelt, liegen gewissermaßen diese Betrachtungen näher, und ich möchte von solchen Beispielen ausgehen, um Ihnen von dem zu sprechen, was so nahe unserem Herzen gehen kann, weil es in unserer eigenen Mitte geschehen ist aus dem Kreise unserer geisteswissen­schaftlichen Bewegung.

Vor kurzem haben wir vom physischen Plane eine liebe Freundin verloren, und es war meine Aufgabe, bei der Einäscherung Worte zu sprechen für die durch die Pforte des Todes hindurchgegangene Seele. Da war es so, daß es sich mir durch die in einem solchen Falle deutlich genug sprechenden Impulse der geistigen Welt wie von selbst als eine Notwendigkeit ergab, die Seeleneigentümlichkeit dieser befreundeten Seele zu charakterisieren. Wir standen also - es war in Zürich - vor der Einäscherung eines lieben Mitgliedes unserer geisteswissenschaft­lichen Bewegung. Wirklich, ohne daß ich es gewollt habe, ist mir in der damals etwas längeren Zeit, die zwischen dem Eintritt des Todes an einem Mittwochabend und der Einäscherung am Montag früh ver-flossen war - es ist begreiflich, daß die Rückschau durch den Äther-leib schon aufgehört hatte -, aus der geistigen Welt heraus die Not­wendigkeit gekommen, zu beginnen und zu schließen die Worte, die ich am Sarge zu sprechen hatte, mit Worten, welche charakterisieren sollten das innere Wesen dieser Seele. Dieses innere Wesen der in der Lebensmitte dahingegangenen Freundin war wirklich so, daß man sich in dieses Wesen vertiefen mußte und durch Identifizierung mit dem­selben es innerlich geistig schaffen, das heißt also, das Denken unter-tauchen lassen mußte in die Seele der Verstorbenen und dasjenige, was in der Seele der Verstorbenen webte, in die eigenen Gedanken hinein fließen lassen. Dann bekam man die Möglichkeit, gleichsam im Hin­blick auf diese Seele zu sagen, wie die Seele war im Leben und wie sie jetzt nach dem Tode noch ist. Und es hat sich von selbst ergeben, das in die folgenden Worte einzukleiden. Ich mußte am Beginn und am Schluß der Einäscherung die folgenden Worte sagen:

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Du tratest unter uns.

Deines Wesens bewegte Sanftmut

Sprach aus Deiner Augen stiller Kraft -

Ruhe, die seelenvoll belebt,

Floß in den Wellen,

Mit denen Deine Blicke

Zu Dingen und zu Menschen

Deines Innern Weben trugen; -

Und es durchseelte dieses Wesen

Deine Stimme, die beredt

Durch des Wortes Art mehr

Als in dem Worte selbst

Offenbarte, was verborgen

In Deiner schönen Seele weset;

Doch das hingebender Liebe

Teilnahmsvoller Menschen

Sich wortlos voll enthüllte - -

Dies Wesen, das von edler, stiller Schönheit

Der Welten-Seelen-Schöpfung

Empfänglichem Empfinden kündete.

So ergab sich das Wesen dieser Seele durch die Identifikation mit der Seele in den Tagen vor der Einäscherung, nachdem die Rückschau durch den Ätherleib vorbei war. Die Seele hatte noch nicht die Mög-lichkeit gefunden, in dem Übermaße des Bewußtseins sich zu orien­tieren. Sie war also gewissermaßen schlafend, als der Leib der Ein­äscherung gegenüberstand. Die Einäscherungsrede war gesprochen -am Anfang und am Schlusse diese Worte. Dann war es, daß die Flamme - das, was so aussieht wie die Flamme, es aber nicht ist -den Körper ergriff, und während der Körper ergriffen wurde von diesem, was aussieht wie die Flamme, was aber nur die aufsteigende Wärme und Hitze ist, da war es, daß wie ein Augenblick des Er­wachens über die Seele kam. Und jetzt konnte man sehen, wie die Seele zurückblickte auf die ganze Szene, die sich abgespielt hatte unter den Menschen, die bei der Einäscherung waren. Und ganz besonders

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blickte sie zurück, diese Seele, auf das, was gesprochen worden ist, darin wiederum begann das ja natürliche Zurücksinken in die Über­fülle des Bewußtseins, man kann sagen : in die Bewußtlosigkeit. Später war ein Moment wahrzunehmen, wo wiederum ein solches Zurück­blicken da war. Das dauert dann immer längere Zeit, bis endlich ein voll­ständiges Orientieren in der Überfülle des Bewußtseins da sein kann.

Aber ein Wichtiges kann man daraus ersehen. Es zeigte sich näm­lich, daß dieser Seele dadurch, daß bei der Einäscherung Worte ge­sprochen worden sind, die aus ihrer eigenen Seele gekommen sind, diese Worte ihr selbst entzündeten den Rückblick, daß sie etwas Erweckendes hatte in diesen Worten. Und daraus kann man lernen, daß es zum Allerwichtigsten gehört nach dem Tod, sein eigenes Er­leben zu überschauen. Gewissermaßen beginnen muß man nach dem Tod mit der Selbsterkenntnis. Hier im Erdenleben kann man die Se]bsterkenntnis ja missen, man kann sie so stark missen, daß wahr ist, was ein nicht gewöhnlicher Mensch, auch nicht ein gewöhnlicher Literat, sondern ein berühmter Professor der Philosophie, Dr. Ernst Mach - nicht Ferdinand Maack, den wurde ich nicht erwähnen -, in seiner «Analyse der Empfindungen», einem sehr berühmten Werk, etwa mit den Worten bekennt: Als junger Mensch ging ich einmal über die Straße und sah plötzlich in einem Spiegel einen Menschen, der mir entgegenkam. Ich dachte : Welch ein unsympathisches, wider­wärtiges Gesicht. Wie erstaunt war ich, als ich entdeckte, daß ich mein eigenes Gesicht im Profil gesehen hatte. - Er hatte also sein eigenes Gesicht gesehen, das er so wenig kannte, daß er dieses Urteil fällen konnte. Und derselbe Professor erzählt, wie es ihm später passiert sei, als er schon ein berühmter Professor der Philosophie war, daß er nach einer langen Reise recht ermüdet in einen Omnibus gestiegen sei, da wäre von der andern Seite auch ein Mann eingestiegen - gegen­über hing ein großer Spiegel -, und er gesteht seine Gedanken ganz aufrichtig, indem er sagt, er habe gedacht : Was steigt denn da für ein herabgekommener unsympathischer Schulmeister ein? - Und wieder erkannte er sich selbst, und er fügt hinzu : Also kannte ich den Gattungshabitus besser als den eigenen. - Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie wenig sich der Mensch schon seiner äußeren Gestalt nach

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im Leben kennt, wenn er nicht gerade eine kokette Frau ist, die oft in den Spiegel sieht. - Aber viel, viel weniger kennt man seine seelischen Eigentümlichkeiten. An denen geht man viel mehr vorbei. Ein be­rühmter Philosoph der Gegenwart kann man ohne Selbsterkenntnis werden. Aber der Mensch braucht diese Selbsterkenntnis, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist.

Der Mensch muß also zurückschauen gerade auf den Punkt seiner Entwickelung, von welchem er durch den Tod geschritten ist, und er muß sich da erkennen. Sowenig wie der Mensch, der im physischen Leben steht und mit den gewöhnlichen Kräften des Lebens zurück-schaut, jemals seine eigene Geburt erblicken kann, sowenig diese je­mals vor den gewöhnlichen Kräften der Seele steht - es gibt ja keinen Menschen, der durch die gewöhnlichen Seelenkräfte auf die physische Geburt zurückschauen kann -, so notwendig ist es, daß in jedem Augenblick der Moment des Todes da ist, auf den man zurückblickt. Der Tod steht immer vor Augen als das letzte bedeutende Ereignis. Dieser Tod ist von der andern Seite gesehen, von jenseits des Todes gesehen, etwas ganz anderes als von der physischen Seite. Er ist das schönste Erlebnis, das überhaupt erblickt werden kann von der andern Seite, von der Seite des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt. Er ist dasjenige, was erscheint als das glorreiche Bild des ewigen Sieges des Geistigen über das Physische. Und er ist dadurch, daß er als solches Bild erscheint, der stetige Erwecker der höchsten Kräfte der Menschennatur, wenn diese Menschennatur im geistigen Erleben zwischen Tod und neuer Geburt ist. Daher kommt es, daß die Seele, wenn sie zurückschaut, wenn sie zurückzuschauen trachtet, zunächst auf sich selbst schauen muß. Gerade bei diesen Fällen, die wir zuletzt durchgemacht haben, war es so klar, wodurch der Trieb entstand, diese Seele noch besonders zu charakterisieren, um ihr entgegenzukommen in diesem Drang, beim Zurückblicken sich in Selbsterkenntnis vor sich zu haben. So wirkt das sogenannte Lebendige mit dem sogenannten Toten zusammen. Und immer mehr und mehr wird solche Korrespondenz kommen von sogenannten Lebendigen zu den sogenannten Toten.

Ein anderer Fall, den wir in der letzten Zeit erlebten, ist der unseres lieben Freundes Fritz Mitscher. Wenn Fritz Mitscher auch den hiesigen

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Freunden weniger bekannt ist, so hat er doch unter vielen andern Anthroposophen gewirkt durch seine Vorträge, durch das, was er von Freund zu Freund in wunderbarer Weise geleistet hat durch die Art, wie er sich hineinfand in das anthroposophische Leben, so daß gerade seine Art angesprochen werden muß als mustergültig, als vorbildlich, vorbildlich aus dem Grunde, weil er, dessen Seelenkräfte darauf ge­richtet waren, eine gelehrte Bildung durchzumachen und in sich auf­zunehmen, bestrebt war, alles das, was er bemüht war, zu sammeln nach seiner Aniage durch Gelehrtheit, zu umfassen durch die intime Art seines Seeleniebens, es dann aber in seine geisteswissenschaftliche Weltanschauung einzufügen. Diese Art des Wirkens, sie brauchen wir insbesondere, indem wir in segensreicher Weise der Zukunft das­jenige entgegentragen wollen, was die geisteswissenschaftlichen Ideale sind. Menschen brauchen wir, welche mit Verständnis zu durch­dringen versuchen, was Zeitbildung ist, um es einzutauchen in den Strom der spirituellen Bildung; die gewissermaßen das Opfer dar­bringen, die Zeitbildung einzutauchen in den Strom des Spirituellen. Auch da - und ich spreche ja nur von Dingen, die sich durch das Karma mit Notwendigkeit ergeben haben - hat es das Karma mit sich gebracht, daß ich bei der Einäscherung zu sprechen hatte. Und auch da, aus innerer Notwendigkeit heraus hat es sich ergeben, das Wesen unseres lieben Freundes wieder zu charakterisieren am Anfang und am Ende der Einäscherungsrede. Und ich mußte dieses Wesen also charakterisieren :

Eine Hoffnung, uns beglückend :

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten,

Durch die Kraft des Seelenseins,

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Lautrer Wahrheit liebe Wesen

War Dein Sehnen urverwandt;

Aus dem Geisteslicht zu schaffen,

War das ernste Lebensziel,

Dem Du rastlos nachgestrebt.

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Deine schönen Gaben pflegtest Du,

Um der Geist-Erkenntnis hellen Weg

Unbeirrt vom Welten-Widerspruch

Als der Wahrheit treuer Diener

Sichern Schrittes hinzuwandeln.

Deine Geistorgane übtest Du,

Daß sie tapfer und beharrlich

An des Weges beide Ränder

Dir den Irrtum drängten

Und Dir Raum für Wahrheit schufen.

Dir Dein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Dir im Innern machtvoll strahle,

War Dir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten Deine Seele kaum,

Weil Erkenntnis Dir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

Eine Hofftiung, uns beglückend

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Ein Verlust, der tief uns schmerzt,

So entschwindest Du dem Feld,

Wo des Geistes Erdenkeime

In dem Schoß des Seelenseins

Deinem Sphärensinne reiften.

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Fühle, wie wir liebend blicken

In die Höhen, die Dich jetzt

Hin zu andrem Schaffen rufen.

Reiche den verlaß'nen Freunden

Deine Kraft aus Geistgebieten.

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt :

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Eine Hoffnung, uns beglückend,

Ein Verlust, der tief uns schmerzt :

Laß uns hoffen, daß Du ferne-nah

Unverloren unsrem Leben leuchtest

Als ein Seelen-Stern im Geistbereich.

In der Nacht darauf war es bei der im übrigen noch durchaus nicht zur Orientierung gekommenen Seele so, daß sie von sich aus wie eine Antwort etwas zurückgab, was zusammenhängt mit den Zeilen, die bei der Einäscherung an ihr Wesen gerichtet waren. Solche Worte wie diese, sie sind so gesprochen, daß die eigene Seele wahrhaftig sie niederschreibt, ohne viel dazu tun zu können. Durch Orientierung an der fremden Seele, aus der fremden See]e heraus sind sie geschrieben. Und es war mir ganz unbewußt, absolut unbewußt, daß zwei Strophen in einer ganz besonderen Weise gebaut sind, bis ich hörte von der durch die Pforte des Todes gegangenen Freundes seele die Worte :

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gesta]ten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Mir im Innern machtvoll strahle,

War mir Lebenssorg' und Freude.

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Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten meine Seele kaum,

Weil Erkenntnis mir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Ms des Lebens wahrer Wert erschien.

Jetzt erst konnte ich wissen, warum diese Strophen so gebaut sind; sie sind von mir genau so gesprochen, daß es heißt :

Dir Dein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Dir im Innern machtvoll strahle,

War Dir Lebenssorg' und Freude.

Aber jedes Dir kam in Mir, jedes Dein kam in Mein zurück; so um-geändert, also von der Seele über ihr eigenes Wesen ausgesprochen, kamen sie zurück.

Das ist ein Beispiel, wie die Korrespondenz stattfindet, wie das gegenseitige Verhältnis in der Zeit nach dem Tode schon besteht zwischen der Welt hier und der Welt dort. Daß dieses Bewußtsein in die Menschenseelen eindringe, das ist mit dem Sinn unserer geistes-wissenschaftlichen Bewegung verknüpft. Daß uns die Welt auch der­jenigen, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt leben, zu einer Welt wird, in der wir uns mit ihnen darinnen wissen, das wird Geistes­wissenschaft der Menschheit geben und so die Welt erweitern aus dem engen Bereich der Wirklichkeit, in der der Mensch vorläufig steht. Das aber hängt innig mit dem zusammen, was in Mitteleuropa sein soll. Und wer gut zugehört hat, der wird gerade in den an Fritz Mitschers Seele gerichteten Worten finden, was mit diesem Sinne unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung tief zusammenhängt, denn aus einer tiefen inneren Notwendigkeit sind die Worte ge­sprochen :

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt :

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Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Es ist manchmal, wenn auch nicht der Wirklichkeit nach, so doch den vorübergänglichen Zeiten nach so, daß man zweifeln kann, ob die Seelen, die im Fleische verkörpert sind hier auf dieser Erde, genügend dasjenige zum Menschen- und Erdenheil wirklich tun werden, was wirklich notwendig gemacht werden muß an geistiger Erfassung der Welt. Aber derjenige, der voll und lebendig in der geisteswissenschaft­lichen Bewegung darinsteht, der kann auch aus dem Grunde nicht verzweifeln, weil er weiß, daß hineinwirken in den Strom, in dem wir im Leibe stehen, die Kräfte derjenigen, die hinaufgestiegen sind in die geistigen Welten, nachdem sie hier sich stärker gefühlt haben dadurch, daß sie Geisteswissenschaft in sich aufgenommen haben. Und es ist wie ein Sich Verständigen mit einer Freundesseele, die durch die Pforte des Todes gegangen ist, wenn man ihr nachruft, was man der Kraft des Freundes verdanken kann für eine geistige Bewegung; wenn man sich gleichsam mit ihr verständigen kann, um vereint zu bleiben mit ihren Kräften, so daß wir sie immer unter uns haben, so daß sie immer unter uns fortwirkt. Nicht bloß, daß wir Ideen und Begriffe und Vorstellungen in der Geisteswissenschaft aufnehmen, nicht bloß darum handelt es sich, sondern daß wir eine Bewegung, eine Geistes-bewegung hier auf Erden schaffen, in die wir wirklich die spirituellen Kräfte hineinbringen.

Es liegt uns ja gerade in diesem Moment nahe, aus den Empfin­dungen heraus, die vielleicht unsere hiesigen Freunde beseelen, die Gedanken zu richten nach der Seele desjenigen, der immer seine Kräfte diesem Zweige gewidmet hat. Daß wir uns auch mit ihm ver­bunden fühlen wollen, daß wir vereinigt mit seinen Kräften uns wissen wollen, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen ist, dazu erheben wir uns von den Sitzen. Die Leipziger Freunde wissen ja alle, von welcher befreundeten Seele ich spreche, und sie haben gewiß ihre Gedanken bewegten Herzens an diese Seele gerichtet.

Das sind die Vorstellungen gewesen, welche Ihrem Gemüt nahezubringen,

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heute, da wir zusammensein durften, mir oblag. Beseelt waren sie, diese Worte, von dem Bewußtsein, daß die schweren und schicksaltragenden Tage, in denen wir leben, abgelöst werden müssen wiederum von solchen, die friedevoll über die Erde gehen werden, in denen die Kräfte des Friedens wirken werden. Aber bei der Art, wie vieles, vieles stark umgestaltet werden wird durch das, was jetzt geschieht im Erden-Menschheitsleben, ja, umgestaltet werden muß, müssen wir, die wir uns zur Geisteswissenschaft bekennen, ganz be­sonders eingedenk sein, wieviel darauf ankommt, daß sich auf dem Boden, für den so viel Blut fließt, für den so oft jetzt Seelen durch die Pforte des Todes gehen, auf dem so viele Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter trauern, sich vollziehen muß, was sich vollziehen kann durch diejenigen, deren Seelen durch­leuchtet sein können von den zukunftsicheren Gedanken der Geistes-wissenschaft.

Ja, es werden aufsteigen müssen von dem Erdenboden in die geisti­gen Höhen hinauf diejenigen Gedanken, welche aus dem Bewußt­sein des lebendigen Zusammenhanges der Menschenseele mit der geistigen Welt kommen. Es werden diese geistigen Welten jetzt Seelen betreten, und es werden geistige Kräfte sein, die gerade durch unsere schicksalschweren Tage hervorgebracht werden. Bedenken Sie, wie viele in der Blüte ihrer Jahre in dieser Zeit durch die Pforte des Todes gehen ! Bedenken Sie, daß die Ätherleiber dieser Menschen, die zwi­schen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahr, zwischen dem dreißig­sten und vierzigsten Jahr durch die Pforte des Todes gehen, Äther-leiber sind, die noch durch Jahrzehnte hindurch hier im physischen Leben den Leib hätten versorgen können. Diese Ätherleiber werden getrennt von den physischen Leibern, sie behalten aber die Kräfte noch in sich, um hier für die physische Welt zu wirken. Diese Kräfte werden weiter walten in den geistigen Welten, getrennt von den un­verbraucht durch die Pforte des Todes gegangenen Ätherleibern. Strahlend hell wird zum spirituellen Heil und Fortschritt der Mensch­heit die Geistigkeit aus den unverbrauchten Ätherleibern der Helden-kämpfer kommen. Aber begegnen wird sich müssen dasjenige, was da herunterströmt, mit dem, was an Gedanken von den Seelen herausströmen

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kann, die sie geistbewußt durch Geisteswissenschaft werden haben können. Daher dürfen wir die Gedanken, die wir uns heute vor die Seele geführt haben, zusammenfassen in einige Worte, die den Zusammenhang des von den geisteswissenschaftlichen Gedanken ge­tragenen Bewußtseins mit den heutigen Zeitereignissen darstellen, die ausdrücken, wie der Raum für die kommende Friedenszeit wird erfüllt sein müssen mit Gedanken, die von Seelen in die geistigen Welten hinauf gelangen, von Seelen, die durch die Geisteswissenschaft hin-durchgegangen sind. Dann wird das, was mit so großen Opfern, mit Blut und Tod in unserer Zeit erkämpft, errungen wird, im rechten Sinne Blüten und Früchte tragen können, wenn sich Seelen finden, die geistbewußt ihren Sinn ins Geisterreich hinaufwenden. Daher dürfen wir sagen, die heute so schweren schicksaltragenden Tage bedenkend :

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich !

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DAS EINGREIFEN DES CHRISTUS-IMPULSES IN DAS GESCHICHTLICHE GESCHEHEN - DIE ÜBERBRÜCKUNG DER KLUFT ZWISCHEN LEBENDEN UND TOTEN Nürnberg, 13. März 1915

Wenn Geisteswissenschaft vor allen Dingen eine Art Lebenskraft für unsere Seelen sein will, und dies auch sein kann, so muß diese Geisteswissenschaft sich auf der andern Seite auch mächtig und geeignet er­weisen, in solchen Zeiten, in denen sich so viel vorbereitet, die so bedeutsam sind wie die unsrigen, den geistigen Blick der Seelen, die sich der Geisteswissenschaft ergeben, zu erweitern. Dadurch wird das­jenige, was geschieht, in einem etwas weiteren Licht gesehen, als der durch den Materialismus beengte Blick der andern Zeitgenossen es vielfach heute noch kann. Man hat sehen können in dem, was durch die Jahre her innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung gepflegt worden ist, daß eines der Ziele auch darin bestanden hat, die Empfindungsart der Seele zu erweitern, so daß der Mensch von dem bloßen Denken über sein engeres Selbst und über dasjenige, was die­ses engere Selbst umgibt, loskommt und wirklich ein wenig hinzuschauen vermag auf die großen Impulse, die großen Kräfteäußerun­gen, die durch die ganze Entwickelung der Erdenmenschheit gehen. Und wenn wir uns so bemüht haben, gewissermaßen die Spannkraft unserer Gefühle und Empfindungen zu erweitern, so müssen wir auch die Ktäfte, die wir durch die Geisteswissenschaft gewonnen haben, geeignet machen können, gerade in solchen Zeiten, die auf der einen Seite so tief schmerzlich heranbranden an die Seele mit ihren Wogen, auf der andern Seite aber diese Seele erheben zu ganz besonderer Höhe, weil sie so Bedeutungsvolles in ihrem Schoße bergen, wir müs­sen in solchen Zeiten schon in die Lage kommen können, ein wenig mit dem zu gehen, was nicht so äußerlich sichtbar ist in den Ereig­nissen, was der gewöhnliche Verstand in diesen Ereignissen nicht zu schauen vermag. Wir müssen uns namentlich die Frage aufwerfen können: Bedeutet dasjenige, was als so furchtbare Ktiegsfackel ent­zündet über unseren Häuptern brennt, bedeutet das etwas von pro­phetischer Art für die ganze Erdenentwickelung?

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Nur derjenige wird in den gegenwärtigen Ereignissen recht darin­stehen, der diese Ereignisse in einem so bedeutsamen Licht sieht, wie dies nur irgend möglich ist. Oftmals werden sich Freunde, die in unseren Reihen sind, gefragt haben, warum in den letzten Jahren in unserem Kreise zuweilen davon gesprochen worden ist, daß in den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Zeiten kommen werden, auf die wir mit einer besonderen Aufmerksamkeit vorausblicken müssen, weil die Kinder und Kideskinder derer, die jetzt leben, wichtige und gewal­tige, aber auch tragische und schmerzende Ereignisse werden zu durch­leben haben. Denen, welchen es heute obliegt, etwas mitzugeben, um die Seelen der Kinder und Kindeskinder aufrechtzuerhalten gegen­über dem, was über die Menschheit des 20. Jahrhunderts kommen wird, muß bewußt sein, daß dieses Mitzugebende eine starke innere geistige Kraft sein muß. Viel, viel mehr als wir uns heute schon im gewöhnlichen Leben vorstellen können, werden unsere Nachkommen des 20. Jahrhunderts starke innere, die Seele haltende Kräfte brau­chen, um fortzutragen die Güter der Menschheit, die in der Mensch­heitsentwickelung durch Jahrhunderte und Jahrhunderte angesam­melt worden sind. Und noch ganz andern Stürmen des Lebens wer­den die Nachkommen der jetzt lebenden Erdenmenschheit ausgesetzt sein. Ich sagte, man hat sich manchmal wundern können, wenn das in unseren Reihen so gesagt worden ist. Vielleicht kann aber jetzt eine Empfindung davon entstehen, wenn wir bedenken, daß wir in den größten kriegetischen Ereignissen, den furchtbarsten kriegerischen Ereignissen darinstehen, die jemals die Menschen betroffen haben, seitdem die Menschheit eine bewußte Geschichte auf dieser Erde durchlebt.

Da wäre es durchaus unrichtig, wenn wir uns nicht so intensiv als möglich, so stark als möglich von der Bedeutung des Augenblicks durchdringen und uns die Frage vorlegen würden : Was hat denn eigentlich dasjenige, was wir aus inneren Sehnsuchten der Seele her­aus erstreben, was hat denn geistige Erkenntnis mit demjenigen zu tun, was da in die Entwickelung der Menschheit hereinkommen soll? Sehen wir denn nicht, auch wenn wir nur oberflächlich blicken, ein drohendes Ungewitter, das sich von Osten herüber seit langer Zeit

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erhoben hat, über die neuere Bildung und Kultur Europas entbren­nen? Und man muß wenigstens wissen, daß im Schoße dieses Ostens ganz gewaltige Kräfte wesen, von denen man schon sehen kann, daß sie so, wie sie sich jetzt geltend machen, im Grunde auf das Zer­stückeln, das Zerstören der europäischen Kultur hinausgehen. In wel­chem Grade dies der Fall ist, das kann jetzt nur geahnt werden.

Mit dem, was wir europäische Kultur und Zivilisation nennen, ste­hen wir in der fünften nachatlantischen Kulturperiode. Es ist die Kul­tur der Bewuntseisseele, in deren Mitte Seelen unter uns sind, die der Menschheit etwas zu geben haben. Wenn wir darauf zurückblik­ken, was die griechisch-lateinische Kultur war, so ergibt sich uns diese griechisch-lateinische Kultur im wesentlichen, wenn auch in einer ganz andern Ausgestaltung, als ein Nachklang, eine auf einer höheren Stufe zutage tretende Wiederholung desjenigen, was auch schon in der alten Atlantis gelebt hat. Wenn es dort auch noch anders lebte, in der vierten nachatlantischen Kulturperiode ist eine Art Wie­derholung davon eingetreten. Die fünfte nachatlantische Kultur-periode, in der wir stehen, ist eine Neuformation, ist etwas völlig Neues, was zu dem bisherigen Entwickelungsgang der Menschheit hinzugekommen ist. Solches sollen wir nicht bloß als abstrakte Wahr­heit, als Theorie, sondern mit dem tiefsten und intensivsten mensch­lichen Verantwortlichkeitsgefühl erfassen, und wir sollen uns auch klar darüber sein, daß in der Erdenentwickelung noch lange Zeiten werden ablaufen müssen, bis alles das aus den Herzen und Seelen der Menschen herausgekommen ist, was die göttliche Weltenordnung durch die fünfte nachatlantische Kulturperiode der Erdenmenschheit zu geben hat.

In der vierten Kulturperiode ging als das bedeutendste Ereignis der ganzen Erdenentwickelung der Impuls des Mysteriums von Gol­gatha auf. So wie dieses Mysterium von Golgatha in der vierten Kul­turperiode gewirkt hat, so wird es in der fünften nachatlantischen Kulturperiode nicht bloß weiterwirken. Dieser fünften Kulturperiode obliegt es, mit voller Geist-Erkenntnis, mit vollem Verständnis all­mählich dem Mysterium von Golgatha entgegenzukommen, mit all den Erkenntniskräften der Seele; nicht nur mit den Kräften des Verstandes,

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den Kräften der bloß gefühlsmäßigen Frörnmigkeit; nach und nach durch all das, was die Seele aus sich selbst hervorbringen kann an Erkenntnissen und Verständaiskräften, den Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, zu erfassen. So daß das Wort des Paulus, allerdings in einer neuen Art, wahr ist : «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Und im Grunde genommen ist alles das, was wir in der Geisteswissenschaft aufbringen, die Vor­bereitung dazu, mit allen inneren Erkenntuiskräften der Seele zuletzt zu erfassen, was eigentlich dieser Christus ist. Das ist eine bedeutende, große Aufgabe der flinften Kulturperiode.

Nun wollen wir uns einmal ein wenig hineinversetzen, was damit eigentlich gesagt ist, wenn der fünften Kulturperiode solches zuge­mutet wird. Bringen wir vor unsere Seelen die Art, wie der Christus-Impuls seit dem Mysterium von Golgatha in der Menschheit gewirkt hat. Wenn der Christus-Impuls nur durch dasjenige hätte wirken kön­nen, was die Menschen über diesen Christus-Impuls im Laufe der Jahrhunderte, seitdem das Mysterium von Golgatha vollzogen wor­den ist, verstanden haben, dann hätte der Christus-Impuls nur wenig wirken können unter den Menschen. Aber er ist nicht ein solcher Impuls, der nur begrifflich zu dem menschlichen Verständnis oder zu dem Gefühlsverständnis gesprochen hat, sondern er ist ein realer Im­puls, der mit lebendigen Kräften in den Verlauf der Geschichte selbst hineingeflos sen ist. Dasjenige, wofür das auf Golgatha fließende Blut das äußere Symbolum ist, das ist ja das, wovon eine lebendige Kraft in die Menschheitsgeschichte hereinfließt.

Versuchen wir, uns einmal an einem geschichtlichen Ereignis Illar­zumachen, wie dieser Christus-Impuls gewirkt hat, ohne daß ihn die Menschen schon verstanden haben; wie er gewirkt hat als eine leben­dig treibende Kraft in der Entwickelung der Menschheit. Die fünfte nachatlantische Kulturperiode ist dazu berufen, in das Bewußtsein hereinzubringen die ganze innere Natur und Wesenheit des Christus-Impulses. Aber er hat schon als eine lebendige Kraft in den unter­bewußten Seelenkräften gewirkt, bevor er in der Menschheit voll zum Bewußtsein erwachen konnte. Und eine derjenigen Gestalten, die der Christus4mpuls sich ausgesucht hat, um durch sie zu wirken, Bedeutsames

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zu wirken, ist zum Beispiel - man könnte auch noch andere anrühren - die Gestalt der Jungfrau von Orleans. Wenn wir die Ge­schichte Europas bis zu dem Ereignis zurück verfolgen, das sich in Anknüpft:ng an die Persönlichkeit der Jungfrau von Orleans abge­spielt hat, so müssen wir, auch wenn wir nur äußerlich die Geschichte betrachten, sagen : Mit dem, was sie dazumal vollbrachte, als sie, in­mitten des französischen Volkes sich erhebend, die englischen Kräfte zurückgeschlagen hat - sie hat das ja in Wahrheit getan -, ist erst die Landkarte Europas so gestaltet worden, wie sie sich eben nach und nach gestaltet hat. Und alle andere Geschlchtsbetrachtung ist im Grunde für die letzten Jahrhunderte, insofern sie europäische Volks-und Staatenverteilung betrifft, ein Märchen, ist etwas, was sich nicht bewußt ist, daß mit der Jungfrau von Orleans der Christus4mpuls war, der dazumal als ein lebendiger Impuls die Verteilung der europäi­schen Völker und Volkskräfte bewirkt hat. Und man möchte sagen : Während die gelehrten Leute über allerlei stritten, schon anfingen zu streiten über die Frage, ob man das Abendmahl in dieser oder jener Gestalt zu genießen habe, ob dieses oder jenes durch diese oder jene Formel gedeutet werde, und während so die gelehrten Leute zeigten, daß sie eben mit ihrem bewußten Verständnis noch nicht herangekom­men waren an die Erfassung desjenigen, was der Christus-Impuls ist, wirkte dieser Impuls durch das einfache Landmädchen, durch die Jungfrau von Orleans, wirkte gestaltend in die europäische Geschichte hinein. Denn die Wirkung des Christus-Impulses ist eben nicht von dem Verständnis abhängig, das man ihm entgegenbringt. Durch sei­nen michaellschen Vertreter wirkte der Christus-Impuls in die Jungfrau von Orleans hinein. Nun aber mußte die Jungfrau von Orleans dazu etwas durchmachen, das einer Initiation ähnlich ist. Wir reden heute von der Einweihung, der Initiation und geben dazu dem Be­wußtsein des Menschen die Regeln, die wir zusammengestellt haben in dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Aber von einer solchen Einweihung konnte bei der Jungfrau von Orleans natürlich nicht die Rede sein. Bei ihr kann nur von einer Ein­weihung die Rede sein, die gewissermaßen ein Überbleibsel der älte­ren Einweihung war, die sich mehr in den unterbewußten Seelenkräften

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der Menschen vollzog. Nun haben sich gerade diese alten Einweihungen wie Elementarkräfte fortgepflanzt bis herauf in die neuere Zeit. In alten Sagen und Märchen und Legenden wird vieles erzählt : daß diesem oder jenem Menschen dieses oder jenes passiert ist, wodurch ihm die innere Seelenkraft aufgegangen ist, so daß er dieses oder jenes von der geistigen Welt gesehen hat. Solche Dinge sollen nur eine Andeutung davon sein, wie ohne menschliches Zutun, durch Wirkung göttlich-geistiger, die Welt durchwallender Kräfte, gewisse Menschen, die durch ihr Karma dazu geeignet sind, natur­gemäße Eingeweihte sind, durch den Platz, auf den sie durch das Menschheitskarma hingestellt werden, wo dieses Menschheitskarma mit dem eigenen Karma zusammenfließt. Ein sehr schöner Nachklang an eine solche Natureinweihung, wie man sie nennen möchte, gibt uns ein Gedicht, welches davon spricht, daß der « Sonnensohn» Olaf Asteson in den dreizehn Nächten und Tagen, die von der Geburt Christi bis zur Erscheinung Christi, bis zum 6. Januar, abfließen, in einer Art Schiafzustand verweilte. Olaf Asteson : in dem Namen ist schon angedeutet, daß in ihm durch Vererbung liegende Erkenntnis-kräfte unterbewußter Art enthalten sind, denn Olaf Asteson heißt eigentlich: derjenige, durch den das Blut seiner Ahnen geht. Der Sonnensohn Olaf Asteson durchschläft und durchträumt die dreizehn Nächte, welche die finstersten des irdischen Jahres sind, oder wenig­stens die größte Kraft der irdischen Jahresfinsternis in sich enthalten, vom ersten Weihnachtstag bis zum 6. Januar, dem Epiphaniasfest. Nun ist das nicht bloß eine menschliche abergläubische Spintisiererei, was sich in solchen Sagen und Legenden an diese Nächte knüpft. Denn in der Tat ist es so, daß es zwei Jahreszeiten gibt, die sich kos­misch gewissermaßen wie zwei entgegengesetzte Pole zum Leben der Seele des Menschen im Leibe verhalten. Wenn wir die Jahreszeit neh­men, die um das Johannisfest im Sommer liegt, so ist das die Zeit, welche besonders geeignet ist dazu, daß die menschliche Seele mit all ihren Leidenschaftsimpulsen durch die äußerliche physische Sonnen-kraft, die da ihre größte Energie erreicht, im Kosmos aufgeht, sich mit dem Kosmos vereinigt. Daher war das Johannisfest der alten Zeit dazu bestimmt, in die menschliche Seele das an göttlich geistigen

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Kräften hineinzulegen, was den Kosmos durchwellt und durchwallt, wenn die Menschen sich vergaßen und aufgingen bei diesem Fest in die äußeren starken physischen Kräfte des Kosmos. Da aber, wo die Sonnenkraft die schwächste physische Entfaltung erreicht, in der Mitte des Winters, erreichen dafür die geistigen Kräfte, die in der Finsternis wirken, die größte Stärke. Und mit Recht, man kann sagen, nach kosmischen Gesetzen liegt das Fest der Geburt des Jesus von Nazareth in dieser Zeit. Da, wo das äußere Physische am finstersten ist, kann die Seele das Gewaltigste erleben, wenn sie sich vereinigt fühlt mit den Kräften, die geistig die Aura der Erde durchspielen. Daher ist es in diesen Tagen, daß Olaf Asteson schläft und schläft, und all das erlebt, was wir das Kamaloka nennen, dann das, was wir die Seelenwelt, und endlich das, was wir das Geisterland nennen. Und die norwegische Legende erzählt uns, wie Olaf Asteson, nachdem er nach den dreizehn Nächten wieder erwacht, zu erzählen weiß von dem, was er erlebt hat, wie er den Seelen begegnet ist in der Seelen-welt und im Geisterlande. Das alles sind zwar Bilder, die einer imagi­nativen Erkenntnis entsprechen, aber sie deuten auf dasjenige, was wirklich lebendige Möglichkeiten der menschlichen Seele sind, wenn diese Seelen sich entrückt fühlen in jener Zeit der physischen Finster­nis, die aber die Zeit der spirituellen Erleuchtung ist, wenn sie sich entrückt flihlen zu dem, was in der Erdenaura wallt und webt. Und am Ende der Legende sehen wir die Kräfte des Christus-Impulses, die mit Gewalt packen - aber das unterbewunte Verständnis des Olaf Asteson. In solchen Legenden wird gleichsam von Natureinweihun-gen, die in alten Zeiten noch möglich waren, gesprochen, von einem Hinschauen in die geistige Welt. In diesen Zeiten hat die Erdenaura wirklich eine Kraft, die sie in andern Zeiten, wo sie von der physi­schen Sonnenkraft gleichsam überflutet und überstrahlt wird, nicht hat. Und da der Christus seit dem Mysterium von Golgatha mit der Erdenaura vereinigt ist, so kann auch die Kraft des Christus-Impulses in diesen Tagen ganz besonders in die Seelen hineinwirken, wenn ihr diese Seelen Empfänglichkeit entgegenbringen.

Daher könnte man, bevor man irgend etwas geschichtlich unter­sucht, voraussetzen, daß, auch bei einer solchen Gestalt wie der Jungfrau

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von Orleans, der Christus-Impuls durch dreizehn Tage hindurch unterbewußt in ihre Seele hineingewirkt hätte; daß auch sie gewisser­maßen - was Olaf Asteson in den dreizehn Tagen und Nächten im Schlafzustand durchgemacht hat - etwas wie eine Erleuchtung durch den Christus-Impuls in den unterbewußten Seelenkräften durch­gemacht hätte. Dann müßte die Jungfrau von Orleans aber einmal in den dreizehn Tagen, die vom 25. Dezember bis zum 6. Januar liegen, in einer Art schlafähnlichem Zustand gewesen sein, und am 6. Januar müßte dann, nachdem ihre Seele in einer Art von Schlafzustand war, der Christus-Impuls diese Seele ergriffen haben. Dasjenige, was man so voraussetzen kann, war wirklich in einer eigentümlichen Weise vorhanden, nur in einer ganz besonderen Zeit, wo der Mensch in der Tat in einer Art von Schlafzustand sein kann. Nämlich bevor der Mensch den ersten Atemzug im Erdenleben tut, bevor er dem Leib seiner Mutter entwunden wird und den ersten irdisch-physischen Lichtstrahl empfängt, verbringt er ja eine Zeit als werdender Mensch in einem wahren Schlafzustand. Und ebenso wie man am Abend in einen Traumesschlaf kommt, ist man im Leibe der Mutter in solch einem traumähnlichen Schlaf. Und diejenigen Tage, in denen der traumährliche Schlaf am meisten für die unbewußten Einflüsse der geistigen Welt empfänglich ist, sind eben die letzten Tage, die der Mensch im Leibe der Mutter verbringt. Und so könnte es auch wohl sein, daß gerade diese Tage bei der Jungfrau von Orleans dazu ver­wendet worden wären, ihr den Christus- Impuls einzupflanzen, bevor sie mit physischen Augen das physische Sonnenlicht erblickte, den ersten Atemzug außer dem Leibe der Mutter tat. Das war der Fall, denn die Jungfrau von Orleans ist am 6. Januar geboren. Am 6. Januar vollzog es sich, daß das ganze Dorf zusammenlief, weil irgend etwas Unbestimmtes in der Dorfaura lag. Das ist eine histo­rische Tatsache. Die Leute wußten nicht, was geschehen war : die Jungfrau von Orleans war geboren. Hinter solchen Dingen verbirgt sich vieles. Und erst dann, wenn die Menschheit dazukommen wird, diese geheimnisvolle Tatsache einmal im richtigen Licht zu sehen, wird auch Verständnis desjenigen vorhanden sein, was unter der Oberfläche der äußerlichen Sinnenwelt im Menschenwerden wirklich

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vorgeht. Die göttlichen Kräfte suchen sich die mannigfaltigsten Wege, um hineinzukommen in dasjenige, was menschliche Seele ist. Selbst­verständlich mußte das Karma der Jungfrau von Orleans geeignet sein dazu, daß so etwas geschehen konnte. Aber indem das Karma der Jungfrau von Orleans zusammenfiel mit der Tatsache, daß sie am 6. Januar geboren ist, war dasjenige historisch gegeben, was möglich machte, daß auf diese Gestalt der Geschichte der Christus-Impuls be­sonders wirkte und Europa eine neue Gestaltung gab. Dies sind Dinge, die man prüfen kann, wenn man mit einigem Verständnis den Lauf der Geschichte beobachtet. Das sind die Dinge, an welche das geistige Verständnis anknüpfen wird in der Zukunft, wenn diese fünfte nach-atlantische Kulturperiode wirklich alle Erkenntniskräfte aus den See­len heraufholen wird. Die Seele wird dann bewußter und immer be­wußter das Dasein des Christus-Impulses erleben. Aber sie wird das nur dann so erleben, wenn die Menschheit in den Stand kommt, Gei­steswissenschaft nicht mehr als eine bloße Theorie zu betrachten, son­dern als das lebendige Leben zu erfühlen, sie innerlich zu erfahren. Dann wird Geisteswissenschaft dasjenige bewirken können, was eigentlich ihre Mission im Werdegang der Menschheit ist.

In einer solchen Zeit, wie die unsrige ist, müssen wir uns insbeson­dere klar darüber sein, daß der Abgrund überbrückt werden muß, der sich für ein materialistisches Zeitalter immer mehr und mehr auf­tut zwischen den Menschenseelen, die hier im physischen Leibe ver­körpert miteinander leben, und denen, die schon durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und immer mehr wird man dazukommen, auch die Seelen so zur gesamten Menschheit hinzugehörig zu erschauen, die in dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt stehen, wie diejenigen, die sich im physischen Leben zwischen Ge­burt und Tod befinden. Das Bewußtsein, daß wir alle vereint sind auf dem Erdenrund, auch diejenigen, die vor uns in die übersinnlichen Reiche übergegangen sind, die nur mit andern Kräften unter uns wir­ken als wir, die wir im Leibe sind, dieses Bewußtsein muß immer stärker, immer intensiver werden. Aber dazu ist eben Verständnis der geistig wirksamen Kräfte notwendig. Dazu ist notwendig, daß wir lernen, die Zusammenhänge der irdischen Erscheinungen in

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jenem neuen Lichte zu nehmen, das die Geisteswissenschaft geben kann.

Nur weil Geisteswissenschaft etwas sein soll, was zugleich unsere Herzen bewegt, indem es unsere Seelen in der Erkenntnis weiterbringt, will ich - um einiges zu erläutern über den Weg, der zugleich ein sol­cher ist, daß er anknüpft an manches, was uns im weitern Umkreis unserer geisteswissenschaftlichen Erkenntnisströmung in den letzten Wochen beschäftigt hat -, will ich zu Ihnen sprechen von etwas, was in den letzten Wochen an uns herangetreten ist. Ich könnte gewiß auch andere Fälle wählen, aber diese Fälle sind mit unserem Karma verknüpft in einer unmittelbaren Weise, so daß ich über sie gerade am heutigen Tage wiederum sprechen kann. Und Sie können das, was da gesagt wird, auch für andere erweitern, die innerhalb und außer­halb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung mit ihrem Schick­sal und seinem Verhältnis zu ihrem Tode in einem ahnlichen Verhäh­nis stehen, wie das in den Fällen ist, von denen ich sprechen will.

Da haben wir einen erschütternden Fall im vorigen Herbst in Dornach im Umkreis unseres Baues erlebt. Liebe Freunde waren mit ihren Kindern nach Dornach hingezogen, hatten sich dort in der Nähe des Baues angesiedelt, um die Gärtnerei zu besorgen. Und das älteste, sieben Jahre alte Kind, ein geistig unendlich aufgeweckter Knabe, der aber auch in bezug auf seine Herzenseigenschaften etwas ganz Eigen­tümliches war, der war wirklich etwas wie ein Sonnenkind. Man hatte innigsten Anteil an der Seele dieses Kindes, auch wenn man es nur flüchtig da und dort einmal sehen konnte. Als dann der Vater ein­gerückt war, um auf dem Schlachtfe]de seine Pflicht als deutscher Bürger zu tun, da war der siebenjährige Knabe mit seinem Herzen, ich möchte sagen, schon so in der ganzen Situation des Lebens darin, daß er sich ganz besonders angestrengt hat, den Vater, 59 gut er konnte, zu ersetzen, um der Mutter zu helfen, indem er alles mögliche besorgte. Er fuhr in die Stadt, kaufte ein, der siebenjährige Knabe ganz allein. Eines Abends wurde nun der Knabe vermißt. Es war ge­rade ein Vortragsabend. Eine uns befreundete Persönlichkeit kam so etwa um zehn Uhr und sagte, daß der Knabe vermißt wäre. Und es konnte zum Schluß gar nicht unklar sein, daß dieses Vermißtsein des

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Knaben etwas zu tun habe mit dem Umfallen eines Möbelwagens, der in der Nähe des Baues an einer Stelle umgefallen war, wo vielleicht vorher kaum ein Möbeiwagen gefahren ist, seit jener Zeit auch nicht wieder und wohl auch lange Zeit hindurch keiner fahren wird. Der Wagen war über eine kleine Böschung in eine Wiese hinein so her­untergefallen, daß die Fuhrleute sagten, es wäre keine Rede, daß man den Wagen am Abend noch heben könne. Sie spannten die Pferde aus, für die sie sehr besorgt waren, und ließen den Wagen ruhig liegen, um ihn am nächsten Tage zu heben, weil sie glaubten, man würde einen ganzen Tag zu tun haben, um den schweren Wagen heben zu können. Nun war es zehn Uhr abends. Wir mußten das Vermißtsein des Knaben in Zusammenhang mit dem Umfallen dieses Wagens brin­gen. Es wurden alle möglichen Instrumente herbeigeschafft, und alles, was arbeiten konnte, arbeitete, und in zwei Stunden war der Wagen gehoben. Um Mitternacht fanden wir den toten Knaben unter dem Möbelwagen.

Nun, wenn man nur äußerlich beachtet und ins Auge faßt, wie von längerer Zeit her, bevor das geschehen war, sich alles zusammen-schob, so daß der Knabe, der sonst immer einen etwas andern Weg gegangen war, wodurch er auf der rechten Seite am Wagen vorbei­gegangen wäre, damals aber so ging, daß er an der linken Seite vor­beikam, wo ihn der Wagen gerade überfallen mußte, wenn man be­denkt, daß er etwas aufgehalten war in der wohlwoliendsten Weise, so daß er etwa eine Viertelstunde später weggegangen ist - er hatte in der sogenannten Kantine etwas für das Abendbrot geholt -, so daß er später weggegangen ist, als er eigentlich wollte, wenn man bedenkt, daß das Ganze sich so vollzogen hat, daß es eigentlich wirklich auf ein paar, ja kaum ein paar Minuten ankam, daß der Knabe gerade an der Stelle war, wo der Wagen umfiel, und daß das Ganze nicht be­achtet wurde; von gar nicht ferne schauten Leute zu, wie der Wagen umfiel, aber von dem Knaben hatte man nichts gesehen, wenn man das alles bedenkt, dann wird man schon äußerlich anerkennen, wie das im eminentesten Sinne ein Beispiel ist für eine ]eicht sich voll-ziehende logische Täuschung, der sich der Mensch hingeben kann.

Ich habe öfter, auch vor Ihnen, anschaulich gezeigt, wie der Mensch

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sich schon im äußeren Leben Täuschungen hingeben kann, so daß er geradezu Ursache und Wirkung verwechselt. Gesagt habe ich : Man nehme an, man sähe von der Ferne einen Menschen am Rande eines Flusses gehen. Man sieht, wie er plötzlich taumelt und in den Fluß hineinfällt. Man zieht ihn nicht lange danach tot heraus. Nun ist man ja wohl berechtigt, nach allen äußeren Gründen anzunehmen, daß der Mensch ins Wasser gefallen und eben ertrunken ist. Und tut man nichts anderes, so wird es im menschlichen Urteil dabei bleiben. In diesem Falle bedarf es nur eines äußeren Mittels, um sich vielleicht vom Gegenteil zu überzeugen. Man hat an der Stelle, wo der Mensch in den Fluß gefallen ist, auch noch einen Stein gefunden und wird da-durch in dem Urteil bestärkt. Öffnet man die Leiche, so wird man finden, daß der Mensch vom Schlage getroffen wurde, daß er infolge­dessen in den Fluß gefallen ist und daß er den Tod nicht aus dem Grunde gefunden hat, weil er in den Fluß fiel, sondern daß er hinein-fiel, weil er tot war. Also Ursache und Wirkung sind völlig verwech­selt worden. Das aber geschieht vor allen Dingen in der Wissenschaft für denjenigen, der die Dinge durchschaut, an vielen Stellen. In unse­rem Falle, wo der Knabe seinen Tod fand, müssen wir sagen : Den Möbelwagen hat das Karma dieses Knaben bestellt, den Wagen hat sein Karma gerade an die Stelle hingebracht. Falsch ist das Urteil, wenn man glaubt, da sei ein Zufall im Spiele gewesen. Der Knabe sollte in diesem Falle eben nur das siebente Lebensjahr in dieser In­karnation erreichen. Und ich möchte sagen, die ganze Veranstaltung ist dazu gepflogen worden. Wir müssen da uns völlig daran gewöhnen, Ursache und Wirkung zu vertauschen gegenüber der Art, wie wir sie im gewöhnlichen Leben sehen.

Wenn wir nun aber mit dem Blick des Sehers auf das Leben dieser Seele hinschauen, dann wird uns gewiß erschütternd, ganz gewaltig erschütternd, aber zu gleicher Zeit beleuchtend die göttlich-geistigen Geheimnisse der Welt, etwas aufgehen können, was bedeutsam ist. Es dauerte nicht lange nach des Knaben Tod, so war die ganze Aura des Dornacher Baues verändert. Und indem ich dieses sage, sage ich Ihnen etwas, was mit meinen Erfahrungen zusammenhängt. Wenn man selbst zu arbeiten hat für den Dornacher Bau der Anthroposophischen Gesellschaft,

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wenn man dasjenige einzuleiten hat, was dort auszuführen ist, dann weiß man, was man den helfenden Kräften verdankt, die aus einer solchen Aura in die Seele hereinwirken. Seit jenen Tagen ist mit der Aura des Dornacher Baues wirklich verbunden, echt verbunden dasjenige, was der noch unverbrauchte Atherleib des Knaben war. Denn der Atherleib ist ja dasjenige, was vom Menschen abgelegt wird. Die Individualität, aus dem Ich und Astralleib bestehend, geht dann weiter, das ist etwas anderes. Aber der Ätherleib, wenn er in so zar­tem Kindesalter abgelegt wird, hat Kräfte in sich, die noch jahrzehnte­lang den physischen Leib und das physische Leben hätten versorgen können. Nun sind diese Kräfte unverbraucht durch die Pforte des Todes gegangen. Sie werden nach einigen Tagen abgelegt. Und diese Kräfte wirken nun gerade mit der Aura des Baues zusammen. Man kann also nicht sagen, daß es bei dieser Individualität die Seele selbst ist, sondern es ist der unverbrauchte Ätherleib. Nichts geht auch in der geistigen Welt verloren. Der Physiker weiß, daß nichts verloren­geht von physischen Kräften, daß sich die Kräfte nur verwandeln. Auch in der geistigen Welt haben wir verwandelte Kräfte zu suchen, unverbrauchte Ätherkräfte, die von frühverstorbenen Menschen in die geistige Welt hinaufgehen. Wir kommen diesen Dingen nah, wenn wir an konkreten Fällen diese Dinge beobachten. Und nur aus diesem Grunde sei heute von solch konkreten Fällen zu Ihnen gesprochen.

Eine liebe anthroposophlsche Freundin starb nach einem Leben, das ihr manche Prüfung gebracht hatte, vor Wochen in Zürich, und das Karma unserer Bewegung brachte es mit sich, daß ich bei der Ein­äscherung zu sprechen hatte. Die Zeit bis zur Einäscherung vom Tode ab dauerte vom Mittwoch abends sechs Uhr, wo der Tod eintrat, bis Montag früh um elf Uhr. Also eine etwas längere Zeit als gewöhn­lich. Dadurch war die Abtrennung der Individualität von dem Äther-leib, während die Einäscherung geschah, schon geschehen. Nun war das Eigentümliche, daß in der Zeit, in welcher die Seele sich in den Tagen zwischen dem Eintreten des Todes und der Einäscherung schon vom Ätherleib losgetrennt hatte, die Notwendigkeit an mich herantrat : Du mußt vor der Einäscherungsrede und nachher, gewisse Worte sprechen. Wie diese Worte geprägt waren, damit hatte dasjenige,

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was eigenes Können, eigenes Wortprägen tut, wirklich recht wenig zu tun, sondern es ergab sich durch die Identilikation mit der Seele der Persönlichkeit, die durch die Pforte des Todes gegangen war, die Notwendigkeit, diese Seele zu charakterisieren, aber so zu charakterisieren, daß die Charakteristik gegeben war wie eine Ein­gebung, wie eine Erleuchtung, die von der Seele selbst kam. Die Seele sagte gleichsam : Präge Worte, durch die dasjenige in tönenden Wor­ten erscheint, was meine Seele charakterisiert. - Aber es war in der Seele noch Unbewußtheit. Nicht bewußt rührten die Worte von der Seele her, sondern sie rührten von dem Wesen dieser Seele her. Ich mußte sie charakterisieren, wie sie sich nicht in egoistischer Weise selbst bespiegeln wollte, sondern wie sie sich erschien, wenn eine andere Seele sie betrachtete. Und für diese andere Seele ergab sich die Notwendigkeit bis in die Prägung der einzelnen Worte hinein, am Anfang desjenigen, was man eine Leichenrede nennen könnte, das Folgende zu sprechen. Wie in Anrede an die Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen war, mußten die folgenden Worte ge­sprochen werden:

Du tratest unter uns.

Deines Wesens bewegte Sanftmut

Sprach aus Deiner Augen stiller Kraft -

Ruhe, die seelenvoll belebt,

Floß in den Weflen,

Mit denen Deine Blicke

Zu Dingen und zu Menschen

Deines Innern Weben trugen; -

Und es durchseelte dieses Wesen

Deine Stimme, die beredt

Durch des Wortes Art mehr

Als in dem Worte selbst

Offenbarte, was verborgen

In Deiner schönen Seele weset;

Doch das hingebender Liebe

Teilnahmsvoller Menschen

Sich wortlos voll enthüllte - -

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Dies Wesen, das von edler, stiller Schönheit

Der Welten Seelen Schöpfung

Empfänglichem Empfinden kündete.

Wie gesagt, am Anfang und am Ende der Bestattung mußten diese Worte gesprochen werden. Nun war in der Tat diese Seele gewisser­maßen wie schlafend während des ganzen Vorganges, während der Bestattungszeremonie. Dann folgte die Einäscherung. Das Merkwür­dige trat ein, daß der erste Augenblick eines nachher wiederum ver-gehenden Aufblitzens des Bewußtseins für die Seele in dem Moment eintrat, wo, man kann nicht sagen die Flamme, sondern die Wärme den Leichnam ergriff. Da konnte man sagen : Diese Seele ist nun durch die Pforte des Todes gegangen, ihren Ätherleib hatte sie ab­gelegt, und nun zeigte sich, wie eine solche Seele zurückblickt. Vor dieser Seele stand in diesem Rückblick die ganze Bestattungszeremo-nie, das heißt das, was gesprochen worden war; darauf blickte sie hin. Und man könnte da das Geheimnis der Zeitenwirksamkeit für die Seele sehen, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen ist. Das hätte man in einem solchen Falle immer sehen können. Wenn man hier im phyischen Leib auf etwas, was im Raume steht, hinblickt und dann davon weggeht, so geht dieser Gegenstand nicht weg, son­dern bleibt stehen, und man kann sich immer umschauen - man sieht, er bleibt stehen. So ist es aber nicht mit dem, was wir zeitlich erleben im physischen Leben; da haben wir nur ein Erinnerungsbild der Er­eignisse. Wenn man dagegen nach dem Tode auf vergangene Ereig­nisse zurückblickt, so bleiben sie stehen; man blickt wie durch den Raum hindurch auf die Ereignisse. So war also stehengeblieben, was gesprochen worden war, die Seele blickte darauf zurück wie auf ein Raumgebilde durch den Zeitenlauf hindurch. Das ist das Hinblicken auf die Gebilde der Akasha-Chronik. Dann trat wiederum eine Art Schlafzustand ein. Aber besonders in diesem Falle zeigte sich so recnt klar, wie unbegründet die Befürchtung der materialistischen Seele ist, daß das Bewußtsein, wenn die Seele durch die Pforte des Todes geht, herabgemindert werden könne. Wir haben nach dem Tode, wenn wir in eine Art Schlafzustand sinken, bis zum späteren Erwachen nicht

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kein oder zu wenig Bewußtsein, sondern wir haben zu viel Bewußt­sein. Wir sind zunächst, wenn wir den Ätherleib abgelegt haben, wenn das Lebenstableau abgelegt ist, so erfüllt von Bewußtsein - ich habe darüber in dem in Wien gehaltenen Zyklus «Inneres Wesen des Men­schen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» Näheres gesagt -, daß das Bewußtsein zunächst blendet, und der Mensch muß sich zu­erst orientieren. Und er orientiert sich, indem er auf sein eigenes Erdenieben und auf seinen Charakter in diesem Erdenleben zurück­blickt. An der Selbsterkenntnis muß er sich orientieren, da muß die Orientierungskraft angreifen, und von da aus wird dann gewisser­maßen dasjenige, was zu viel Bewußtsein ist, so weit herabgedämpft, daß der Mensch, je nachdem, was er durch die letzte Inkarnation durchgemacht hat, es ertragen kann. Es ist also eigentlich ein Herab-dampfen der Überfülle des Bewußtseins, die da war, bis zu dem Grade, den der Mensch ertragen kann. Aber es kann das etappenweise auftreten. Und unter dem Eindruck des Ergriffenwerdens des Leibes von der Wärme, der Hitze, entstand ein erstes Aufblitzen von wirk­lichem Bewußtsein in der Seele bei dieser uns befreundeten Persön­lichkeit.

Daß die Seele aber danach strebt, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen ist, dasjenige zusammenzufassen, was in ihr ist, das zeigte sich mir besonders deutlich an einem andern Fall. Ich sagte, diese Dinge kann man ja bei jedem Tode erleben, aber ich führe Ihnen charakteristische Beispiele aus der allerjüngsten Zeit an. Es zeigte sich mir mit ganz besonderer Deutlichkeit bei einem andern Falle, wo eine befreundete Persönlichkeit, nachdem sie höhere Jahre erreicht hatte, durch die Pforte des Todes gegangen ist. Die letzten Jahre, die sie auf der Erde durchlebte, war sie mit allen Gefühlen und Empfindungen in einer seltenen Weise an das hingegeben, was man die Impulse der Geisteswissenschaft nennen kann. Sie war so, daß sie alles einzelne der Geisteswissenschaft mehr fühlte, als mit dem Verstande erfaßte, daß sie mit der Seele vereinigte die Art der Emp­findung, des Fühlens, welches eine nicht theoretische, sondern lebens-wahre Auffassung der Geisteswissenschaft gibt. Nun war es bei die­ser Persönlichkeit so, daß ganz kurz nach der Todesstunde, während

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des Hineiniebens in das Lebenstablean mit dem Ätherleib, wie hin-strahlte von der Seele, mit der man sich dann identifizierte, dasjenige, was diese Seele als ihr Selbst jetzt zu erfassen suchte, wo sie den Leib ab­gelegt hatte. Und ich mußte mir dann ganz kurz nach dem Tode, als die Seele mit dem Ätherleibe noch vereinigt war, Worte aufschreiben, die ich auch wiederum nicht geprägt habe durch mein Menschen-wissen, sondern die nichts anderes sind als eine Wiedergabe dessen, was die Seele sich innerlich in sich selbst erarbeitete, um gleichsam zusammenzufassen wie in eine Art Resümee dasjenige, was sie aus der Geisteswissenschaft hatte bekommen können, um zu einem innerlich vollen Selbstbewußtsein zu kommen. Da tönte es in der Seele mit den Worten, die ich dann auch, einer Eingebung folgend, vor und nach der Bestattungsrede zu sprechen hatte. Sie werden gleich den großen Unterschied zwischen dem ganzen Ton dieser Worte merken, die ich für die andere Persönlichkeit vorher angeführt habe.

In Weltenweiten will ich tragen

Mein fühlend Herz, daß warm es werde

Im Feuer heil'gen Kräftewirkens;

In Weltgedanken will ich weben

Das eigne Denken, daß klar es werde

Im Licht des ew'gen Werde-Lebens;

In Seelengründe will ich tauchen

Ergeb'nes Sinnen, daß stark es werde

Für Menschenwirkens wahre Ziele;

In Gottesruhe streb' ich so

Mit Lebenskämpfen und mit Sorgen,

Mein Selbst zum höhern Selbst bereitend;

Nach arbeitfreud'gem Frieden trachtend,

Erahnend Welten-Sein im Eigensein,

Möcht' ich die Menschenpflicht erfüllen;

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Erwartend leben darf ich dann

Entgegen meinem Schicksalsterne,

Der mit im Geistgebiet den Ort erteilt.

Selbstcharakteristik der Seele in der Ich-Form! Sie haben bei dem Früheren den deutlichen Charakter, daß die betrachtende Seele die andere Seele charakterisieren muß im wechselseitigen Geistverkehr mit ihr. Hier hatte die betrachtende Seele nichts anderes zu tun, als sich ganz zu versetzen in die Seele, die sich noch mit den Kräften des Ätherleibes in ihrem durch die Geisteswissenschaft bereicherten We­sen zu erfassen suchte, um sich gewissermaßen klarzuwerden, wie sie sich nun zu orientieren hat in der geistigen Welt.

Das sind wiederum Fälle, in denen so recht klar wird, wie der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geschritten ist, ange­wiesen ist darauf, in Selbsterkenntnis auf sein Selbst zurückzublicken. Und man konnte deutlich sehen, wie es für den Toten eine gewisse Hilfe ist, wenn der noch im physischen Leibe Weilende ihm hlift zu formulieren, in Worte zu fassen dasjenige, was in ihm waltet und webt. Selbstverständlich kommen später die Zeiten, wo der Mensch seine Schwächen und seine Fehler, seine Sünden erblickt in der Seelenwelt. Aber das müssen wir festhalten : So sehr zuweilen der Tod von denen, die noch im Leibe weilen, gefürchtet wird, von der andern Seite rück­blickend gesehen, nimmt sich der Tod ganz anders aus. Hier im phy­sischen Leben kann kein Mensch mit den gewöhnlichen Menschen-kräften bis zur Stunde seiner Geburt zurückblicken. Eigentlich gibt es für keinen Menschen, der nicht hellsichtige Kräfte hat, eine Mög­lichkeit, sein Eintreten in die Welt anzuschauen; erst spater tritt der Zeitpunkt ein, bis zu dem man zurückschauen kann. Gerade das Um­gekehrte ist der Fall mit jener Geburt für die geistige Welt, die wir den Tod nennen. Auf diesen Zeitpunkt blickt der Mensch unaus­gesetzt in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Allein dieser Moment gehört zum Herrlichsten, Großartigsten, zum A1]erschönsten, auf das man überhaupt in der geistigen Welt sehen kann. Von der andern Seite gesehen ist der Tod immer unmitteihar beweiskräftig da-für, daß der Geist unablässig seinen Sieg über die Leiblichkeit feiert.

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Und das erlebt man an sich selbst. Daher dieses Streben, das, was man sein kann, auch wirklich in der Seele nach dem Tode zu erleben. Da­her ist es eine Hilfe, wenn eine im Leibe lebende Seele dasjenige in Worte prägt, wonach die Seele strebt, damit ihr das, was sie ist, klar mit all dem Besten, das sie hat, vor dem eigenen geistigen Blick stehe, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen ist. Man konnte gerade in diesem Falle so recht sehen, wie einem mit einer inneren Notwendigkeit solche Worte kommen, die sich auf das Selbst der be­treffenden Seele beziehen, wenn man bei der Bestattung zu sprechen hat und nicht aus Willkür heraus spricht, sondern der göttlichen Stimme gehorcht, die einen zu tun heißt, was man zu tun hat.

In einem noch andern Falle zeigte sich mir das durch den karmi­schen Verlauf der letzten Zeiten, als einer unserer Freunde in früher Jugend starb, der zu großen Hofinungen gerade für unsere Bewegung berechtigt hat. Er starb im dreißigsten Jahr seines Lebens. Am 26. Februar würde er dreißig Jahre alt gewesen sein, kurz vorher starb er. Und dieser Freund, unser lieber Fritz Mitscher, er ist ja der­jenige gewesen, der mit unendlicher, sich opfernder Hingabe das­jenige, was er, der eine Anlage zur Gelehrtennatur hatte, an Gelehr­samkeit erraffen konnte, geisteswissenschaftlich zusammenfaßte und damit in der Tat vor etwas stand, was für unsere Bewegung so not­wendig ist : den Umfang unserer Wissenschaft so in sich aufzunehmen, daß man sie geisteswissenschaftlich durchdringt und geisteswissen­schaftlich wiedergibt, so daß man voll auf dem Boden der wissen­schaftlichen Gegenwart steht. Er war dazu gut vorbereitet. Auch wenn nun das Karma so verläuft, daß solche Seelen frühzeitig durch die Pforte des Todes gehen, so hat das seine Bedeutung im ganzen Weltenverlau£ Und wie es in den andern Fällen war - weil ich gerade durch das Karma dazu gedrängt war, bei der Bestattung zu sprechen -, so war es auch da, daß ich am Anfang und am Ende der Bestattungs­rede Worte zu sprechen hatte, welche wiederum in derselben Weise gesprochen werden mußten, sich hineinversetzend in das Wesen der Seele, so daß die Worte wieder nicht willkürlich geprägt sind, sondern im lebendigen Zusammensein mit der durch den Tod gegangenen Seele gefaßt waren. Da mußte ich denn sagen :

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Eine Hofinung, uns beglückend :

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten,

Durch die Kraft des Seelenseins,

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Lautrer Wahrheitliebe Wesen

War Dein Sehnen urverwandt;

Aus dem Geisteslicht zu schaffen,

War das ernste Lebensziel,

Dem Du rastlos nachgestrebt.

Deine schönen Gaben pflegtest Du,

Um der Geist-Erkenntnis hellen Weg

Unbeirrt vom Welten-Widerspruch

Als der Wahrheit treuer Diener,

Sichern Schrittes hinzuwandeln.

Deine Geistorgane übtest Du,

Daß sie tapfer und beharrlich

An des Weges beide Ränder

Dir den Irrtum drängten

Und Dir Raum für Wahrheit schufen.

Dir Dein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Dir im Innern machtvoll strahle,

War Dir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten Deine Seele kaum,

Weil Erkenntnis Dir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

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Eine Hoffnung, uns beglückend :

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Ein Verlust, der tief uns schmerzt,

So entschwindest Du dem Feld,

Wo des Geistes Erdenkeime

In dem Schoß des Seelenseins

Deinem Sphärensinne reiften.

Fühle, wie wir liebend blicken

In die Höhen, die Dich jetzt

Hin zu andrem Schaffen rufen,

Reiche den verlaß'nen Freunden

Deine Kraft aus Geistgebieten.

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt :

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Eine Hoffnung, uns beglückend,

Ein Verlust, der tief uns schmerzt :

Laß uns hoffen, daß Du fernenah,

Unverloren unsrem Leben leuchtest

Als ein Seelen-Stern im Geistbereich.

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Schon in der nächsten Nacht konnte ich es erleben, daß von dieser Seele aus dem Geistbereich das Folgende herübertönte :

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Mir im Innern machtvoll strahle,

War mir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten meine Seele kaum,

Weil Erkenntnis mir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich, als ich diese Verse hingeschrieben hatte, nicht daran gedacht habe, nicht im entfernte­sten, daß die beiden Strophen gerade so sind, daß jedes Dir in ein Mir, jedes Dein in Mein verwandelt werden können. Ich wurde dar­auf erst aufmerksam, als mir die beiden Strophen zurücktönten von der andern Seele wie eine Antwort in der nächsten Nacht. So daß die Strophen genau so bleiben konnten, nur daß sie aus der zweiten Per­son in die erste gesetzt waren.

Wenn ich dies erwähne, so ist es, weil uns daran das Herzensver­ständnis aufgehen kann, wie in der Zukunft der Menschheitsentwicke­lung die Möglichkeit bleiben wird, von Seele zu Seele zu sprechen, wenn der Mund auch nicht mehr das Werkzeug ist. Denn wie wir bier für das Alltagsleben durch den Mund der andern Seele Antwort bekommen, so war es hier an einem Beispiel, wo die Seele noch sogar aus dem Unbewußten ihres Wesens heraus Antwort gab, gleichsam sagend : Ich habe verstanden, denn so war es mir wirklich im Leben; jetzt begreife ich es, nachdem ich den Leib abgelegt habe, was ich im Leben angestrebt habe.

Es kommt wirklich nicht allein darauf an, daß wir Begriffe, Ideen und Vorstellungen über die geistigen Welten aufnehmen, sondern

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darauf, daß wir uns in einem bestimmten Leben in eine bestimmte Lebensart hineinieben als Mensch, indem wir als Menschen der fünf­ten nachatlantischen Kulturperiode der sechsten und siebenten Kul­turperiode entgegengehen. Es kommt darauf an, daß real überbrückt werde der Abgrund, der die Lebenden von den sogenannten Toten trennt, daß die Menschheit immer mehr und mehr eins wird, nicht nur insofern sie im Leibe inkarniert ist, sondern auch insofern sie die­jenigen Formen des Daseins angenommen hat, die der Mensch zwi­schen Tod und neuer Geburt durchlebt. Nicht etwa dies bloß der Menschheit zu bringen, ist die Geisteswissenschaft da, sondern für das Leben, das die Erde braucht für den Rest dieser nachatlantischen Entwickelung, ist die Geisteswissenschaft der erste, ich möchte sagen, noch stammelnde Versuch, denn, was in der Geisteswissenschaft ge­geben werden kann, ist ja im Grunde genommen jetzt noch ein Stam­meln nur gegenüber dem, was zukünftige Menschheitsgeschiechter an Geisteswissenschaft erleben werden.

Ich wollte durch diese Schilderung, die versucht, durch die Kraft des Herzens dasjenige begreiflich zu machen, was wir über die Ver­hältnisse von Leben und Tod denken können, Sie heute auf dieses nach dem Leben Hingeordnete der Geisteswissenschaft verweisen, damit Ihnen für ein anderes Verständnis als das Kopfverständnis, für das Herzensverständnis aufgehe, was wir eigentlich durch die geistes-wissenschaftliche Vertiefung lebensvoll suchen, was also die Aufgabe der fünften nachatlantischen Kulturperiode ist. Ihr wird ja die sechste, ihr wird die siebente folgen. Man begreift aber erst so recht, was mit der mitteleuropäischen Kultur zu verteidigen ist, wenn man gerade diese mitteleuropäische Kultur innig vereint fühlt mit dem, was in der fünften Kulturperiode für die Menschheit errungen werden muß. Und dann kann etwas beginnen von dem, was ich am Anfang der heutigen Betrachtung genannt habe : ein Erweitern des Blickes über dasjenige, was unsere schicksaltragenden Zeiten in ihrem Schoße haben.

Im Osten bereitet sich eine Art des Menschenlebens vor, welche für die Zukunft eine Bedeutung haben wird. Sie brauchen darüber nur nachzulesen in dem Zyklus über die Mission der Volksseelen, der einmal

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in Kristiania gehalten worden ist. Aber grundverschieden von der Seelenart, die gerade diejenige des Mitteleuropäers ist, ist schon die Seelenart des Osteuropäers, vom weiteren Orient gar nicht zu spre­chen - grundverschieden. Und wir müssen schon durch dasjenige, was uns die Geisteswissenschaft sein soll, darauf kommen, uns für solche Sachen ein offenes Geistesauge zu schaffen. Was oftmals erzählt wird, daß einmal die Waräger von der russisch-slawischen Bevölke­rung geholt worden wären, daß ihnen gesagt worden wäre : Wir haben ein schönes Land, aber wir haben keine Ordnung, kommt zu uns und macht uns Ordnung! Richtet uns eine Art von Staatswesen ein! -was so wie gemüthaft erzählt wird wie ein Ausgangspunkt der russi­schen Geschichte, ist ja nichts weiter als eine Legende ohne jeden historischen Hintergrund. Das hat niemals so stattgefunden. In Wahr­heit sind diese Waräger ausgezogen, als Eroberer, und sind wahr­haftig nicht gerufen worden. Und dennöch bedeutet das, was so er­zählt wird in der Geschichte, doch noch mehr, als es selbst bedeuten würde, wenn es einer historischen Wahrheit entsprechen würde. Denn es bedeutet etwas Prophetisches, etwas wirklich Prophetisches, etwas, was noch nicht geschehen ist, was aber in der Zukunft geschehen wird. Was sich im Osten entwickeln soll, wird sich nämlich so ent­wickeln müssen, daß die Fähigkeiten der östlichen Völker verwendet werden, um dasjenige, was die Kultur des Westens geschaffen hat, aufzunehmen und in sich dann weiter zu verarbeiten, sich befruchten zu lassen mit dem, was im Westen geschaffen wird. Dies wird in der Zukunft einmal die Aufgabe der östlichen Völker sein. Man kann mit einem kurzen Wort das Wesen gerade des russischen östlichen Volkes charakterisieren. Wenn wir das wirkliche Volk betrachten - nicht jene verlogene Gemeinschaft, von der das russische Volk jetzt regiert wird -, dann müssen wir uns klar sein darüber, daß die russische Seele einen ungeheuren Umfang von Begabung hat, daß sie gewissermaßen zu allem begabt ist; aber gerade indem sie ihre Mission in der Welten und Menschheitsentwickelung immer mehr entfaltet, wird sich zeigen, daß etwas da sein kann in der Menschheit, was man nennen kann :

Begabung ohne produktive Kraft. Die Begabung wird noch immer mehr werden, wird immer größer werden. Dasjenige aber, was zum

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Beispiel den Mitteleuropäer so auszeichnet, daß er seine Begabung vereinigt hat mit der geistigen Kraft, daß er hervorbringt jenes «Wer immer strebend sich bemüht... » und intirn mit seinem Volksgeist lebt; daß er dasjenige, was er verstehen will, zugleich hervorbringen will, was so großartig in Eichtes Philosophie da ist, wo das Ich, um sich zu begreifen, sich fortwährend hervorbringen will - man wird erst später sehen, was für eine Größe diese Philosophie hat -, gerade dasjenige, was so Mitteleuropa auszeichnet, von dem ist das polarische Gegenteil in Rußland, im Osten Europas vorhanden. Diese russischen Seelen sind absolut aufnehmend : sie haben die größte Begabung für das Aufnehmen, und wenn man bei ihnen von Produktivität spricht, so täuscht man sich. Sie sind dazu berufen, Begabung ohne Produk­tivität zu entwickeln. Selbst der Begriff ist heute schwer zu fassen, weil es dies in der Entwickelung noch nicht gegeben hat, sondern sich erst nach und nach entwickeln muß. Und in der Zukunft wird es so kommen, daß von Osten herüber an den Westen der Ruf ergeht : Wir haben ein schönes Land, aber keine Ordnung - denn die Unordnung wird immer noch größer werden -, kommt und macht Ordnung! -Mitteleuropa ist dazu berufen, die Produktivität des Geistes hinein-zutragen in den Osten. Und was jetzt geschieht, das ist ein unver­nünftiges Sich-Wehren gegen das, was in der Zukunft doch ge­schehen muß. Man will zertreten dasjenige, zu dem man einmal wird kommen müssen, um zu sagen : Kommt zu uns und macht Ordnung! -Es ist so in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit, daß das­jenige am meisten zurückgestoßen, am meisten zurückgeworfen wird, was man zuletzt am allermeisten ersehnen und ertrachten muß. Das größte Unglück, das kommen könnte, wenn der Osten Europas, wenn Rußland in diesem Vorgang einen Sieg erringen würde, das größte Unglück wäre dieses gar nicht für Mitteleuropa, sondern für Rußland selber, das allergrößte Unglück, innerlich betrachtet, denn dieser Sieg müßte wieder rückgängig gemacht werden; dieser Sieg könnte mit seinen Wirkungen nicht bleiben. So stehen wir vor dem tragischen Augenblick der Entwickelungsgeschlchte der Menschheit, daß sich der Osten vor etwas wehrt, was er in der Zukunft ersehnen wird, mit allen Kräften ersehnen wird. Denn er würde in einen vollständigen

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Niedergang verfallen, wenn er sich nicht befruchten ließe von dem geistigen Leben desjenigen, was für ihn der Westen ist, der unmittel­bar angrenzende Westen. Und zwar muß dieser Westen im weiteren Verlaufe seiner Kultur dasjenige hervorbringen, was lebendiges Geistesleben ist, nicht bloß Idealismus, sondern lebendiges Geistes­leben. Dieses lebendige Geistesleben wird wie eine Geistessonne sein, die von Westen nach Osten, in einer dem Lauf der äußern Sonne ent­gegengesetzten Richtung, sich bewegen wird. Und der äußere russische Mensch wird immer mehr einsehen, wie wenig er durch sich selbst vermag, wie er darauf angewiesen ist, sich wirklich in den ganzen Entwickelungsprozeß der Menschheit hineinzustellen; wie er die größte Sünde dadurch begeht, daß er sich an der für ihn west-europäischen Kultur vergreift. Merkwürdige Vorblitze möchte ich sagen, könnten wir davon empfinden. Trat doch wiederum etwas auf in diesem Osten, was im Westen eine Unmöglichkeit war : die so­genannte Barfüßerweltanschauung, eine Art Philosophie der Bar­füßer, die sich rasch, nachdem sie vor einigen Jahren noch gar nicht da war, über große Kreise verbreitet hat. Barfüßertum! Die Welt­anschauung derjenigen, die den absoluten Unglauben an Menschen und Menschentum zu einer Philosophie machen, da sie nicht glauben können, daß der Mensch wirklich etwas anderes ist als dasjenige, was da zwischen Geburt und Tod herumwandelt, herumwandelt unter Mühsal und Schrecken, herumwandelt so, daß die Worte Freiheit, Brüderlichkeit, Erbarmen, Mitleid und Liebe leere Phrasen sind, und daß der nur weise ist, der als Pilger mit bloßen Füßen durch die Welt wandelt, barfuß, der die ganze Kultur, die ganze verfaulte west­europäische Kultur - wie der Barfüßer sagt - als eine große Täuschung empfindet, und der die abgerissenen Kieider und die dumpfe Stube und die weite Straße als dasjenige betrachtet, wodurch sich der Mensch durchwälzt, wenn er sich zu der Barfußerweltanschauung durch­gerungen hat. Und wenn ein Dichter diese Barfußerweltanschauung ausdrücken läßt durch eine seiner Personen mit bezeichnenden Wor­ten, so muß uns das ganz merkwürdig berühren, uns, die wir ver­suchen, aus der mitteleuropäischen Weltanschauung immer das heraus­zufinden, was den Menschen das Licht der Zukunft anfachen kann.

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Wenn ein Dichter eine Person aussprechen läßt dasjenige, was aber im Grunde genommen eine Art von Fazit der Barfüßerweltanschauung und ihrer Philosophie sein kann, wie mutet es uns an?

«Ja, was ist er dir denn, dieser Mensch? Verstehst du, er nimmt dich am Kragen, zerdrückt dich unter dem Nagel wie einen Floh! Dann mag dir ja leid um ihn sein! Jawohl! Dann magst du ihm ja deine ganze Dumrnheit offenbaren. Er wird dich für dein Erbarmen auf sieben Foltern spannen, deine Eingeweide wird er sich über die Hand wickeln und dir alle Adern aus dem Leibe zerren, einen Zoll pro Stunde. Ach du... Erbarmen? Bete zu Gott, daß man dich ohne alles Erbarmen einfach durchprügeln möge, und Schluß!... Erbarmen?... Pfui ! »

Und Gorki, von dem Sie schon manches gehört haben werden, sagt zu solchen Worten : «Grausam, aber wahr», indem er nun nicht nur die Weltanschauung einer dichterischen Persönlichkeit wiedergibt, wie sie der Dichter ausspricht, sondern seine eigene Weltanschauung ausspricht, die sich für ihn als die Betrachtung der Welt ergibt. Das ist die Weltanschauung eines Barfüßers, eine Weltanschauung, von der man gerade so reden kann wie von andern jetzt vorhandenen Weltanschauungen. Es ist die Weltanschauung, die die Möglichkeit verloren hat, aus sich herauszukönnen, aus sich heraus zu etwas zu kommen, das Licht hineinsendet ins Leben; die zu warten hat, bis sie von diesem Licht befruchtet wird, und dann ihre Mission in der Menschheitsevolution erfüllen kann; die sich aber jetzt aufbäumt gegen dasjenige, was sie gerade tun muß. Man hat viele Phrasen er­leben können in der Welt, aber ich sage es aus dem tragischsten Emp­finden heraus : Solche Phrasen, wie sie von den verschiedensten Par­teien im August 1914 auf der Kriegsversammiung der russischen Duma gesprochen worden sind, solch eine Summe von Phrasen über­steigt den Höhepunkt aller Phrasenhaftigkeit. So etwas wird nur ge­sprochen, wenn alle lebendige Produktionskraft der Seele ausgepumpt ist. Im Osten steht man in Wirklichkeit am Vorabend desjenigen, was erst werden soll, und entfaltet eine Kraft, die entgegengesetzt liegt dem, was einstmals diesen Osten groß machen wird. Und wir in Mitteleuropa haben uns zu sagen : Dieser Osten wartet doch gerade auf die spirituelle Weisheit, die in der Mitte von Europa aufgehen muß.

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Meine lieben Freunde, versuchen Sie, dasjenige in Empfindungen umzusetzen, was ich also mit schweren Empfindungen, möchte ich sagen, in einzelnen Worten charakterisierend angedeutet habe, was ich Ihnen so angedeutet habe, daß es dasjenige beleuchten kann, was wir als Geisteswissenschafter mit erweiterten Empfindungen überschauen und in das wir uns hineinfinden sollen, um die eigentliche Notwendig­keit, auch die zeitgeschichtliche Notwendigkeit der geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung zu begreifen. Dann werden wir uns mit Gedanken durchdringen, welche verständnisvoll von unseren Seelen hinaufgehen in die Weltenweiten. Gedanken, welche sich dann be­gegnen werden mit dem, was in der nächsten Zukunft, wenn wieder­um Friede über den Gefilden der Erde sein kann, herunterwirken wird aus diesen geistigen Welten.

Heute habe ich Ihnen gezeigt, wie die Ätherleiber derjenigen Seelen wirken, die als unverbrauchte Ätherleiber sich loslösen von den See­len, die noch jahrelang, noch jahrzehntelang hier im physischen Leib, für das physische Leben wirken könnten. Es muß uns der Gedanke aufgehen, wie viele solche unverbrauchten Ätherleiberteile in die geistige Welt hinaufsteigen - noch außer demjenigen, was die auf den Schlachtfeldern durch die Todespforte gehenden Menschen durch ihre Individualität in die geistige Welt hinauftragen. Diese Äther-leiber aber werden eine große Summe von geistigen Kräften sein, jener geistigen Kräfte, welche mitwirken sollen aus den geistigen Sphären zur Heranbildung einer geistigen Weltanschauung, welche die Menschheit immer mehr und mehr ergreifen soll. Daß aber her­unterwirken können aus den geistigen Sphären diese in den unver­brauchten Ätherleibern heraufgestiegenen Kräfte, dazu müssen ihnen begegnen Gedanken, die von Erdenmenschen wiederum hinauf­steigen in die geistigen Sphären, solche Gedanken, die Verständnis entgegenbringen dem geheimen Wirken der geistigen Welt, in das hineinverwoben sein werden die Kräfte dieser unverbrauchten Äther-leiber. Das aber soll für uns eine Aufmunterung sein, daß wir uns durchdringen mit den großen Wahrheiten der Geisteswissenschaft. Denn diese Wahrheiten werden in uns Gedanken anregen, die weiter und weiter auch in andern Menschen dann wirken werden. Und je

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nachdem, was als schicksaischwerer Inhalt unserer Tage sich enifaltet, werden friedensvolle Tage kommen, wo das, was die Seelen aus der Geisteswissenschaft in sich eingepflanzt haben, hinaufsteigen wird. Es wird sich begegnen mit dem, was aus den Ätherleibern derer, die auf den Schlachtfeldern der Ereignisse durch die Pforte des Todes ge­gangen sind, an Kräften sich angesammelt hat und herunterströmt. Und dann wird das eintreten, was ich zusammenfassen möchte in einige Worte als ein aus der geisteswissenschaftlichen Betrachtung sich ergebendes Fazit. Wenn wir die Früchte der Geisteswissenschaft in unsere Zeitenentwickelung recht hineinzustellen wissen, dann wird eintreten, was ich aussprechen möchte in den Worten :

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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MORALISCHE IMPULSE UND IHRE ERGEBNISSE DAS VERHÄLTNIS DER EUROPÄISCHEN VOLKER ZU IHREN VOLKSGEISTERN - DER KULTURIMPULS DER EURYTHMIE Nürnberg, 14. März 1915

Es könnte zunächst scheinen und scheint es vielen Menschen auch so, als ob dasjenige, was man im wahren Sinne des Wortes hellsichtige Kräfte nennt, durch welche die Wesenheiten und Vorgänge der geisti­gen Welten erkannt werden können, als ob der Mensch diese hell­sichtigen Kräfte im Alltagsieben gar nicht hätte, beziehungsweise im Alltagsleben gar nichts von diesen Kräften in seiner Seele entwickelte. So ist es aber nicht. Die hellsichtigen Kräfte sind nicht solche Kräfte, die dem Menschen, so wie er im Alltagsleben darinnen lebt, ganz un­bekannt, ganz fremd wären. Das ist nicht der Fall, sondern dasjenige, was wir entwickeln, um in die geistigen Welten hineinzuschauen, was wir aus den tiefen Untergründen der Seele hervorholen müssen, um den Weg in die geistigen Welten hinein zu finden, das ist in einer be­stimmten Seelentätigkeit auch schon für das gewöhnliche Leben des Menschen vorhanden. Das ist vorhanden in dem, was man die mora­lischen Impulse des Menschen nennt. Eine wirklich moralische Tat, ein wirklich moralischer Impuls geht aus denselben Fähigkeiten der Seele hervor, die durch entsprechende Ausbildung zu den hellsich­tigen Fähigkeiten führen. Für das gewöhnliche Leben steht die Sache allerdings so, daö alles, was der Mensch tut, aus dem kommen kann, was in seiner Leiblichkeit liegt oder was er sich für und durch seine Leiblichkeit im Laufe des Lebens angeeignet hat. Wenn der Mensch Begierden entwickelt, wenn der Mensch dieses oder jenes tut, wozu er bestimmt wird durch seine Erziehung oder seine sonstigen Lebens-verhältnisse, dann ist es das Leibliche, aus dem der Impuls dazu kommt. Aber es gibt im Menschenleben wirklich Impulse, die nicht aus dem Leiblichen kommen, bei denen wirklich nur die Seele betätigt ist, wenn der Mensch diese Impulse faßt: das sind die moralischen Impulse. Eine wirklich moralische Tat ist diejenige, zu der der Leib zwar zu Hilfe gerufen wird, damit man eine Vorstellung von der

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moralischen Tat bekommt, aber der Impuls, der Antrieb zu der mora­lischen Tat liegt im Geistig-Seelischen, das wirklich unabhängig vom Leiblichen ist. Man wird niemals mit bloßer Philosophie eine Defini­tion des Moralischen geben können, und es ist das Charakteristische gerade der Philosophie, sofern sie Moralphilosophie sein will, daß sie zu einer richtigen, befriedigenden Definition des Moralischen nicht kommt, wenn sie sich nicht auf den Boden stellt, daß es dem Menschen möglich ist, sein Geistig-Seelisches unabhängig vom Leibe in sich zu erleben. Denn eine andere wirkliche Definition des Moralischen ist nicht möglich, als nur diejenige: Moralisch ist das, was der Mensch beschließt, was der Mensch tut durch Kräfte, die unabhängig von sei­nem Leibe sind.

Nun wissen wir, daß das menschliche Leben sich aus moralischen, weniger moralischen und unmoralischen Handlungen und Impulsen zusammensetzt. Der Unterschied, welcher zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen besteht, zeigt sich erst der okkulten Be­trachtung im wahren Lichte. Der Mensch geht in seinem kleinsten Lebenszyklus, in jenem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden, in den Schlafzustand ein. Dieser Schiafzustand besteht darin, daß das Ich und der Astralleib im wesentlichen aus dem physischen und Ätherleib herausgehen und dann außerhalb dieses physischen und Ätherleibes leben. Nun ist damit noch keineswegs alles gesagt, wenn man bemerkt, das Ich und der Astralleib gehen aus dem physischen und Ätherleib heraus. Sondern man muß sich auch klar darüber sein, daß das Ich und der Astralleib, indem sie aus dem Ätherleib und dem physischen Leib herausgehen, in die geistigen Welten, die übersinnlich um uns walten, aufgenommen werden. Wir gehen in die übersinnlichen Welten mit unserem Ich und Astralleib hinein. Haben wir am Tage, während unseres Wachzustandes, einen moralischen Impuls gehabt, eine mora­lische Tat vollbracht, dann besteht das Folgende: Wir müssen mit unserem Ich und Astralleib aufgenommen werden von den Geistern der nächsthöheren Hierarchien, von den Geistern, die wir zu der Hierarchie der Angeloi, der Archangeloi und so weiter rechnen. Diese müssen uns aufnehmen, in sie gehen wir gleichsam hinein im Schlaf-zustand. So wie wir bei Tage im Leibe leben, so leben wir während des

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Schlafzustandes in den Wesenheiten der höheren Hierarchien drinnen. Also darüber seien wir uns klar. Wenn wir nun eine moralische Tat vollbracht, einen moralischen Impuls gehabt haben, so besteht für die Wesenheiten der nächsthöheren Hierarchien die Möglichkeit, nach spirituellen kosmischen Gesetzen unser Ich und unseren Astralleib mit unseren moralischen Impulsen beziehungsweise dem, was in unserer Seele von unseren moralischen Impulsen geblieben ist, auf­zunehmen. Haben wir eine unmoralische Handlung begangen oder einen unmoralischen Impuls gehabt, so können wir während des Schlafes mit diesem, mit dem Rest, mit dem, was sich durch den unmoralischen Impuls in uns gebildet hat, nicht in die Wesenheiten der höheren Hierarchien während des Schlafes eingehen. Es bleibt wirk­lich das zurück, wird zurückgestoßen, was in uns unmoralisch ist, es wird wieder hinabgestoßen in die Leiblichkeit. Die Folge davon ist, daß alles dasjenige, was wir als Nachwirkung des Moralischen im Schlafzustand in die geistigen Welten hineintragen, in unserem physi­schen und Ätherleib nicht wirkt, denn es wird von ihnen hinweg-genommen. Dasjenige aber, was unmoralische Gedanken, unmora­lische Impulse, unmoralische Handlungen sind, das wird zu etwas, was in den Ä therleib und den physischen Leib hinein zurückgestoßen wird, und das wirkt darinnen. So daß also flir den Schlafzustand die Möglichkeit besteht, daß, während der Mensch sich in dem Zustand vom Einschlafen bis zum Aufwachen befindet, in seinem physischen und in seinem Ätherleib die Ergebnisse seiner unmoralischen Hand-lungen arbeiten. In dieser Beziehung ist es wirklich leicht zu erkennen, was ich auch schon öfter in Vorträgen betont habe, daß die Sprache einen wunderbaren Genius hat, daß sie großartig genial wirkt. Wenn wir von Schuld sprechen, da bedeutet gerade dieses deutsche Wort « Schuld» unendlich präzise das, um was es sich handelt. Wir zahlen dasjenige, was wir der geistigen Welt schuldig sind, mit unseren mora­lischen Handlungen, aber wir bleiben schuldig der geistigen Welt das­jenige, was wir zurücklassen müssen im Leibe, unsere unmoralischen Gedanken, unmoralischen Impulse, unmoralischen Handlungen.

Und nun bedenken Sie folgendes: Wenn wir unser Leben so ver­bringen würden, daß wir nur die Dinge der Außenwelt wahrnehmen

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und über sie denken würden, so würden die Vorgänge selbst in unse­rem physischen Leibe ganz andere sein, als sie sind, da wir nicht nur denken und wahmehmen, sondern uns auch an das Gedachte, Wahr­genommene und Erlebte erinnern. Was wir denken, vorstellen, emp-finden, geht bis in unseren Ätherleib hinunter, aber der Ätherleib prägt es wiederum dem physischen Leibe ein, und dasjenige, was der Ätherleib wie Abdrücke im physischen Leibe schafft, das ist die Er­innerung. Wenn wir uns im späteren Leben an irgend etwas von früher Erlebtem erinnern, so bedeutet das: Wir stoßen mit dem Astral-leib, der sich dann mit dem Ätherleib vereinigt, auf das, was wie eine Einprägung, wie ein Siegelabdruck in unserem physischen Leibe ge­blieben ist. Kindlich ist die materialistische Vorstellung, die sich herausgebildet hat: als wenn eine Erinnerung im Gehirn da, eine andere dort sitzen würde, als wenn sie so eingeschachtelt wäre. Das ist nicht wahr, sondern jede Erinnerung hat einen Abdruck, der im Grunde dem ganzen Haupte und noch manchem andern Teil der menschlichen Gestalt entspricht, und die Erinnerungen stecken in-einander, nicht nebeneinander, wie eine kindliche materialistische Vor­stellung annimmt. Diese Erinnerungstätigkeit beruht also darin, daß unser Astralleib und Ätherleib Eindrücke in unserem physischen Leib bewirken können. Es ist wirklich dieselbe Tätigkeit, die äußerlich dann eintritt, wenn wir uns irgend etwas notieren. Wenn wir närrilich die Notizen anschauen, so besitzt das, was wir in unserer Seele haben, natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Zeichen, die wir auf dem Papier haben. Auf dem Papier sind Zeichen irgendwelcher Form, aber durch dasjenige, was wir dann daraus machen, indem wir an­geregt werden, in der Seele das wieder lebendig zu machen, was wir notiert haben, geht ein geistiger Vorgang vor sich. Und so ist es auch mit der Erinnerung. Was in uns bleibt, hat wahrhaftig mit demjenigen, was beim Erinnern in der Seele auftritt, prinzipiell nicht mehr Ähn­lichkeit als das, was auf dem Papier steht, mit dem, was in der Seele auftritt, wenn wir es wieder lesen.

Hellsichtig angeschaut, ist die Sache so: Nehmen wir also an, es erinnere sich jemand an etwas, was er früher durchgemacht hat. Was dann in seinem physischen Leibe aufleuchtet, ist ein Zeichen, das in

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irgendeiner Weise sogar der menschlichen Figur vom Kopfe und ein Stück darunter nachgebildet ist. Das sind Zeichen. Es ist jedes anders, was in der Erinnerung auftaucht, aber es sind Zeichen. Und was wir erleben, indem wir uns erinnern, das macht erst die Seele aus den Zeichen. Es ist das wirklich ein unterbewußtes Lesen, was als Erinne­rung auftritt. Wenn Naturwissenschaft etwas weiter fortschreiten und die physischen Vorgänge untersuchen wird, so wird sie gerade als Hilfe für Geisteswissenschaft auftreten, indem sie zeigen wird, daß dasjenige, was im Leibe bleibt, wirklich erst von der Seele einem Prozeß unterzogen werden muß, der dem Lesen in der Seele prinzipiell ähnlich ist. Erinnerung ist ein wirkliches unterbewußtes Lesen. Das ist eine reguläre Tätigkeit der menschlichen Seele, dieses Sich-Erinnern.

Wenn wir nun aber Ergebnisse unmoralischer Impulse, Gedanken oder Handlungen beim Einschlafen in unseren Leib hinunterschicken, bringen wir aus unserem physischen Leibe dasjenige, was wir an un­moralischen Impulsen gehabt haben, nicht heraus. Dadurch geschieht etwas ähnliches, wie es sonst regelmäßig geschieht in der Erinnerung. Das Arbeiten an dem physischen Leibe prägt sich dort ein, und wenn der Mensch nun einschlafen will und sein Ich und Astralleib aus sei­nem physischen und Ätherleib herausgehen will, dann beginnt dieser Prozeß. Was er da zurücklassen muß, prägt sich ein, wie sich Erinne­rungen einprägen, und dann kommen die Gewissensbisse, die da auf­treten. Das ist der wirkliche Vorgang der Gewissensbisse. So spiegeln sie sich zurück aus demjenigen, was die Dinge in unserem physischen Leib und auch im Ätherleib an Abdrücken besorgen. Das bleibt dann. Und weil es bleibt wie die regulären Erinnerungen, so können diese Gewissensbisse bleiben und Stärke erlangen und treten dann als Selbst-vorwürfe das weitere Leben hindurch auf. Das ist das Wichtige, daß wir wirklich dazukommen, einzusehen, daß das moralische Handeln ein realer Prozeß ist, daß es nicht bloß etwas Abstraktes ist, sondern daß dieses moralische Handeln ein Hinauftragen desjenigen, was wir hier tun auf Erden, in die geistigen Welten ist. Und da wir die Ergeb­russe unseres moralischen Verhaltens den höheren Hierarchien über­geben, so bleiben sie auch in gewisser Beziehung in diesen höheren

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Hierarchien. Das aber, was wir nicht mirnehmen können, was dann im physischen und Ätherleib arbeitet, das bleibt hier auf der Erde, das ist im Erdenprozeß darin. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, muß er immer darauf zurückschauen, und indem er immer darauf zurückschaut, muß in ihm der Impuls entstehen, es aus dem Erdenprozeß herauszuschaffen. Darauf beruht dann die Aus­arbeitung des Karma zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Nun nehmen wir allerdings in unser Karma die Ergebnisse unserer moralischen Impulse mit, aber indem wir sie während des Schlafes in geistige Welten hinauftragen, machen sie dort auch einen Eindruck. Wir können sagen, die Engel, die Erzengel, auch die Geister der Persönlichkeit haben nun dasjenige, was wir an moralischen Impulsen zu ihnen hinauftragen. Und was tun sie damit? Für den Entwicke­lungsgang der Erde sind diese moralischen Impulse, die nunmehr in der geistigen Welt darin sind, die eigentlichen Befruchtungskeime für die späteren Erdenperioden. Nicht nur daß wir diese Ergebnisse in unserem Karma behalten, sondern wir bringen die Abdrücke hinauf, und in den kommenden Erdenepochen tragen sie die Geister der höheren Hierarchien wieder hinunter, und es bilden dann diese Ergeb­nisse der moralischen Impulse in späteren Erdenepochen die Befruch­tungskeime für das menschliche erfinderische Denken, für das mensch­liche Denken überhaupt. Man denke sich ein, daß eine Epoche in der Erdenentwickelung ganz unmoralisch wäre, so daß keine mora­lischen Impulsabdrücke in die geistigen Welten hinaufgetragen wür­den. Dann würde in der Erdenentwickelungszeit eine Epoche folgen müssen, wo den Menschen für das Erdenleben wenig einfallen würde, wo die Menschen wenig Ideen und Begriffe haben würden, wo eine Armut herrschen würde in demjenigen, was das Leben an Seelischem durchprägen und durcherregen soll.

So stehen wir mit unseren moralischen Impulsen in einem realen Prozeß des Kosmos darin. Und so ist die Geisteswissenschaft, die uns so etwas zeigt, geeignet, unsere Verantwortlichkeit zu erhöhen, unsere Verantwortlichkeit zu energisieren, denn wir merken dadurch erst, was es bedeutet, im menschlichen Leben moralisch oder unmoralisch sein. Unmoralisch sein heißt, der Erde ihre Lebenskeime entziehen, sie

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dem physischen Erdenprozeß einverleiben, in dem sie dann Zer­störungskeime für die nächsten Erdepochen werden, denn natürlich bleiben sie da auch erhalten, weil nichts verlorengeht. Sie löschen dann dasjenige aus, was lebendig als Seelisches leben soll. Nehmen wir an, eine größere Menschenmenge würde beschließen, unmoralisch zu leben in einer bestimmten Epoche. Dann würde dadurch eine ge-dankenarme spätere Epoche herbeigeführt werden, und die Seelen würden auf die Erde herunterkommen und auf der Erde Gedanken­armut finden, sie würden einem öden Leben verfallen sein.

Nun ist die Möglichkeit vorhanden, daß wir nicht nur dasjenige in unsere Erkenntnis aufnehmen, was der Inhalt des Moralischen ist. Wenn wir dasjenige, was der Inhalt des Moralischen ist, nicht in unsere wirksame Erkenntnis aufnehmen, so veröden wir die Erde. Aber wir haben nötig, und wir haben die Möglichkeit, auch anderes noch aufzunehmen in unsere Seelenentwickelung, und das ist das Wissen von dem Übersinnlichen. Im Grunde war die Erde niemals ganz ohne Wissen von dem Übersinnlichen. Wir wissen ja, daß die Menschheit in alten Zeiten ein gewisses Erbgut von helisichtigem Vermögen, hellsichtigen Fähigkeiten, dadurch aber auch von hell­sichtigem Wissen erhalten hat. Und es ist noch gar nicht so lange her, daß die Nachwirkungen dieses hellsichtigen Wissens auf der Erde da waren. Wir wissen ja auch, daß wir in der Zeit leben, wo dieses hell­sichtige Wissen seit Jahrhunderten auf die völlige Neige geht, aber dann ersetzt werden muß durch das bewußt zu erringende hellsichtige Wissen. In dieser wichtigen Zeit leben wir. Und wir haben uns gestern vor die Seele geführt, wie die fünfte Kulturepoche und diejenigen, die deren Träger sind, berufen sind, hellsichtiges Wissen bewußt den Seelen wieder zu erringen. Und die fünfte Kulturepoche wird nicht zu Ende gehen, bevor eine gewisse Summe hellsichtigen Wissens einen verhältnismäßig großen Teil der Menschheit ergriffen hat. Das Her­dersche Wort ist wahr, daß die Erleuchtung über die Erde gehen werde.

Alles Wissen, das wir uns erwerben von der bloß sinnlichen Außen­welt, alle Gedanken die wir haben bloß als Nachbilder der sinnlichen Außenwelt, können von uns nun auch nicht so unbedingt, während wir schlafen, in die geistige Welt gebracht werden. Es ist ja wahr, die

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Gedanken, die Vorstellungen, die wir haben, reichen bis zu einem gewissen Grade in die Wesenheiten der höheren Hierarchien hinein -eben mit Ausnahme der unmoralischen Impulse; doch ragt dasjenige, was wir uns an Bildern der Außenwelt erwerben, bis zu einem ge­wissen Grade hinein in die geistige Welt. Aber es ragt nicht sehr weit herauf, vor allen Dingen nicht mehr bis in die Sphäre der Erzengel. So daß der Mensch, wenn er sich nur mit Vorstellungen erfüllt, die aus der Sinneswelt stammen, nicht sehr weit hineintragen kann in die geistigen Welten dasjenige, was er nur an Vorstellungen der Sinnes-welt gewinnt. Was wir aber an übersinnlichen Vorstellungen in uns erleben, das wird weit hineingetragen in die geistigen Welten, und gerade diejenigen Wesenheiten, äje der Hierarchie der Erzengel an­gehören, bekommen gleichsam die Abdrücke davon und tragen es in spätere Zeiten hinüber. Und was so an übersinnlichem Wissen durch Ich und Astralleib der Menschen in die geistigen Welten hinaufgetragen wird, das wird später wiederum zum Erdenentwickelungs-prozeß verwandt. Es bildet jetzt nicht, wie die moralischen Impulse, die Befruchtungskeime, das Regsame, sondern die Keime für das, was wir den Erdenfortschritt nennen. Und die Ablehnung der über­sinnlichen Vorstellungen durch ein Zeitalter bedeutet die Verurteilung eines kommenden Zeitalters, in der Erdenentwickelung keinen Fort­schritt zu machen. Derjenige, der die übersinnlichen Vorstellungen ablehnt, hemmt den Fortschritt kommender Zeitalter, soweit es an ihm ist. Wenn irgendein Volk ganz materialistisch würde, so würde dieser Materialismus eines ganzen Volkes für ein kommendes Zeit­alter die Erde zum Stillstand in ihrer Entwickelung verurteilen -natürlich bis zu einem gewissen Grade, weil ja die andern Völker die übersinnlichen Vorstellungen nicht ablehnen müßten. Also auch da sehen wir wiederum, wie das Erwerben übersinnlicher Vorstellungen im Erdenprozeß selbst eine Bedeutung hat. So hängen Ursachen und Wirkungen im ganzen Erdenprozeß zusammen. Diejenigen Menschen, die in unserer Gegenwart gewissermaßen bewußt Materialisten sind, sind im Grunde ahrimanisch verführte Wesenheiten, von den ahrimanischen Geistern verführte Wesenheiten, denn Ahriman hat ein großes Interesse daran, den regelmäßigen Fortschritt zu hemmen.

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Wiederum sehen wir, wie Geisteswissenschaft das Verantwortlich­keitsgefühl der einzelnen menschlichen Seele zur Gesamtheit der Welt zu erhöhen imstande ist. Wir sehen, wie uns Geisteswissenschaft dem Selbst entreißt und uns zu Angehörigen des gesamten Menschheits-prozesses macht, wie Geisteswissenschaft ihrem Wesen nach eine selbstlose Betätigung der Menschenseele ist.

In einer gewissen Beziehung ist alles Leben in übersinnlichen Vor­stellungen dem moralischen Leben nachgebildet. Daher gibt es nichts Störenderes für die Erkenntnisse der übersinnlichen Welten als die Erfüllung der Menschenseele mit unmoralischen Impulsen. Im Grunde sehen wir gerade daraus, welch tiefe Begründung es hat, daß als Vor­bereitung für hellsichtige Entwickelung eine im eminentesten Sinne so zu nennende moralische Denkungsart des Menschen gefordert wird. Wirklich ist nun der fünften Epoche übertragen, dafür zu sorgen, daß in bewußter Weise geistige Erkenntnis die Menschen erfülle, damit in dem, was die nachatlantische Zeit noch an Resten zu leben hat, der Fortschritt der Menschheit nicht gehemmt werde, damit wirk­lich ein Fortschritt in der Menschheit stattfinden könne. Und wenn wir nach alledem, was jetzt in den letzten Tagen besprochen worden ist, gerade den mitteleuropäischen Völkern im eminentesten Sinne die Anlage für geistige Erkenntnis zuzuschreiben haben, dann muß uns klar sein, welche Bedeutung das Fortleben, das ungestörte Sich-Entwickeln der mitteleuropäischen Kultur hat.

Wenn wir nun mit dem, was wir also erwähnt haben, den Horizont vielleicht nur des europäischen Lebens ein wenig überblicken, was bietet sich uns dann dar? Mit dem Völkerleben hängt ja das Leben der höheren Hierarchien zusammen. Sie brauchen nur den Zyklus über die Entwickelung der Volksseelen, der einmal in Kristiania gehalten wurde, und der in der jetzigen Zeit besonders wichtig ist, zu studieren, Sie brauchen ihn sich nur vor die Seele zu führen und Sie werden sehen, wie die Erzengelwesenheiten in das Völkerleben eingreifen; wie überhaupt dieses Völkerleben im Zusammenwirken der höheren Hierarchien mit dem, was hier auf Erden geschieht, sich abspielt. Wenn wir einen einzelnen Menschen betrachten, so wissen wir,daß seine Ich- Entwickelung erst langsam und allmählich stattfindet. Gewiß,

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im zarten Kindesalter, von dem Zeitpunkt an, bis zu dem man sich zurückerinnert, beginnt das Bewußtsein des Ich. Aber dieses Ich wird ja immer reifer und reifer, schreitet fort in seiner Entwickelung. In unserer Zeit herrschen in bezug auf diese Ich-Entwickelung schon ziemlich große Irrtümer. Es herrscht viel zu wenig Bewußtsein davon, daß eine solche Ich-Entwickelung im Leben stattfindet. Und so kann man es erleben, daß heute die Menschen in grünster Jugend sich reif finden, alles zu beurteilen, weil sie nicht wissen, daß erst ein be­stimmtes Alter erreicht werden muß, um bestimmte Dinge zu be­urteilen, weil das Ich erst dadurch eine bestimmte Reife erreicht hat.

Wie es im einzelnen Leben des Menschen ist, so ist es nun auch mit dem Völkerleben. Nur müssen wir das Folgende berücksichtigen, wenn wir das Völkerleben verstehen wollen im Verhältnis zum einzel­nen Menschenleben auf dem physischen Plan. Der einzelne Mensch reift heran mit Bezug auf die Ich-Entwickelung, dadurch, daß er reifer und reifer wird, lernt er auch die Außenwelt besser zu überschauen. Was wissen wir von der Außenwelt, wenn wir zwanzig, fünfund­zwanzig Jahre erlangt haben, und was können wir wissen, wenn wir das Leben ordentlich zubringen, wenn wir zehn Jahre mehr durch­gemacht haben! Für solche Dinge muß sich gerade der Geisteswissen­schafter eine Empfindung erwerben. Da steht das Ich in seinem Ver­hältnis zur äußeren Welt, im Verhältnis zu dem, was dieses Ich um­gibt.

Mit den Wesenheiten der höheren Hierarchien ist es anders. Diese Wesenheiten der höheren Hierarchien stehen ihrerseits zu unserem Ich in einem solchen Verhältnis wie wir zu den Dingen der Außenwelt. Für uns sind die Gegenstände und Wesenheiten des mineralischen, Pflanzen- und Tierreiches Objekt. Für die Wesenheiten der höheren Hierarchien sind zum Beispiel unsere Iche Objekt. Nur daß das Ver­hältnis der Wesenheiten der höheren Hierarchien zu unseren Ichen nicht das der Wahrnehmung ist, wie wir es der Außenwelt gegenüber haben, sondern es ist mehr ein Durchstrahien unseres Ichs mit dem Willen der höheren Hierarchien, ein Einwirken des Willens der höhe­ren Hierarchien.

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Jene Erzengelwesen, welche nun die Völker zu leiten haben, stehen zu den Ichen, zu den einzelnen Menschen der Völker wirklich in einer solchen Beziehung, wie wir mit dem Wahrnehmungsvermögen zu den Dingen der Außenwelt stehen. Wir sind für diese Erzengelwesen die Objekte. Was für uns Außenwelt ist, sind wir als Menschen für die Erzengel, nur daß es bei uns mehr ein Wahrnehmungsprozeß ist und bei den Erzengein mehr ein Willensprozeß. Aber in bezug auf diesen Willensprozeß macht der Erzengel auch eine Entwickelung durch. Dieser Erzengel macht geradeso eine Reifung seiner Seele durch, jetzt nicht in bezug auf sein Ich, sondern in bezug auf tiefere Kräfte seiner Seele. Er macht eine Entwickelung durch, durch die er dann allmählich ein anderes Verhältnis zu den einzelnen Menschen seines Volkes erlangt; so wie wir mit einem reiferen Ich ein anderes Ver­hältnis zu unserer Umwelt erlangen.

Nehmen wir zum Beispiel das Erzengelwesen, welchem im Verlauf der Geschichte die Leitung desjenigen übertragen ist, was wir als italienisches Volk kennen. Dieses Erzengeiwesen hat lange Zeit ein solches Verhältnis zu dem italienischen Volke gehabt, daß es eigent­lich mit seinem Willen im wesentlichen in die höheren Teile des See­lischen hineingewirkt hat. In seinem weiteren Verlauf wirkte dieses Erzengelwesen aber nicht nur in das höhere Seelische, sondern auch in das mehr Niedere der Seele hinein, in die Passionen, in die Impulse der Seele, die noch mit dem Leiblichen zusammenhängen. So geht die Entwickelung des Erzengelwesens Weiter: Zuerst wirkt es mehr auf das eigentlich Seelische, im späteren Verlauf wird es immer mächtiger und es wirkt in das Seelische hinein, das mehr mit dem Leiblichen zusammenhängt. Und wir können für das italienische Volk geradezu angeben, wie um das Jahr 1530 herum der Erzengel in seiner Entwickelung die Stufe durchmachte, die sich so charakterisieren läßt, daß man sagen kann: Früher hat er mehr auf das Seelische ge­wirkt, nun fängt er an, mit seinem Willen mehr das Seelische zu im­prägnieren, insofern es das Leibliche durchdringt. Und nun beginnt das italienische Volk eigentlich erst in bezug auf sein Äußeres sich gehen zu lassen, so recht seinen Nationaicharakter zu entwickeln. Studieren Sie die Geschichte des italienischen Volkes vor dem genannten

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Zeitraum - so um die Mitte des 16. Jahrhunderts herum -, Sie werden dann sehen, daß da der Erzengel noch bei den Menschen der italienischen Halbinsel in die inneren Eigenschaften der Seele ge­wirkt hat; daß sich dann aber im eminentesten Sinne erst der äußere Nationalcharakter ausgebildet hat, so wie wir ihn gegenwärtig kennen. Vor diesem Zeitpunkt - und ein solcher Zeitpunkt ist für jedes Volk vorhanden - ist das ganze Seelenleben eines Volkes noch lebendig. Da ist es noch so, daß das Seelenleben des Volkes diese oder jene Eigenschaft annehmen kann. Die Eigenschaften sind noch nicht so energisch ausgeprägt. Nach diesem Zeitpunkt, wo der Erzengel zu den tieferen Eigenschaften des Seelischen seine Willensbeziehungen entwickelt hat, wird der Volkscharakter starr, da geht er bis in die leiblichen Eigenschaften hinein, da beginnt die Zeit, wo man kaum mehr irgendwie mit etwas, was dem Nationalcharakter nicht ent­spricht, an das Volk herankommen kann, wo es gleich nervös wird, wenn man mit irgend etwas kommt, was nicht ganz in der nationalen Linie oder Strömung liegt.

Für das französische Volk ist dieser Zeitpunkt in der geschicht­lichen Entwickelung tatsächlich auch richtig zu bezeichnen. Es ist das alles natürlich nur approximativ, nur ungefähr, aber es läßt sich be­zeichnen für das französische Volk um das Jahr 1600, im Beginn des 17. Jahrhunderts, und für das englische Volk in der Mitte des 17. Jahr­hunderts, um das Jahr 1650 herum.

Wenn Sie zurückgehen vor diese Zeit, in die Zeit des Mittelalters, werden Sie sehen, wieviel Gemeinschaftliches die Völker Europas noch haben, und wie bei den einzelnen Völkern die Ausprägung des Nationalcharakters in den Zeitpunkten beginnt, die ich angeführt habe. Es macht der Erzengel eine Entwickelung so durch, daß man sagen kann: Vorher waren seine Kräfte noch schwächer, so daß er nur in die seelischen Glieder, in das Innere hineinwirken konnte. Nachher werden die Kräfte stärker, er kann bis zu dem Physischen hin seine Kräfte aus spannen. Dadurch bewirkt er den scharf ausgeprägten Nationalcharakter. Es werden Ihnen selbst einzelne Erscheinungen ziemlich begreiflich erscheinen, wenn Sie solche Dinge zur geschicht­lichen Betrachtung haben. Bedenken Sie, daß in der Zeit, in der das

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englische Volk seinen Shakespeare hatte, noch nicht der National-charakter in dieser Weise umfaßt worden war, so daß gerade das Nicht-mehr-Verstehen-Können Shakespeares, gerade von Seiten des englischen Volkes, davon herrührt, daß der Erzengel die Umklamme­rung mit dem bestimmt differenzierten Nationaicharakter vollzogen hat. Das wird erst eine wirkliche Geschichtsbetrachtung der Zukunft geben, wenn man nicht mehr, wie es ja im 19. Jahrhundert so vielfach vorhanden ist, bei der Gescbichtsbetrachtung ausgehen wird davon, daß Ideen in der Geschichte wirken. Ideen kann ein Mensch haben, aber Ideen können nicht als Kräfte in der Geschichte wirken. Ideen können auch die Engel, Erzengel und Urkräfte haben, aber Ideen müssen immer von Wesen ausgehen; das was wirkt, müssen Wesen sein. Die ganze Geschichtsbetrachtung des 19. Jahrhunderts, insofern sie von den Ideen in der Geschichte spricht, ist ein Spuk, weil sie auf dem Glauben beruht, daß Ideen sich entwickeln, sich frei bewegen können im fortiaufenden Zeitenstrom.

Wir können nun die Frage aufwerfen: Wie ist das nun mit dem deutschen Volke? Trat da auch einmal ein Zeitpunkt ein, in dem der Erzengel eine bestimmte Stufe erlangt hat? - Ein solcher Zeitpunkt trat schon ein. Aber nun besteht ein gewisser Unterschied gerade des deutschen Volkes von den andern Völkern. Wir wissen, daß des Menschen Seele aus Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele besteht. Das können Sie auch schon aus den Vorträgen über die Volksseelen entnehmen, daß der Erzengel beim italienischen Volk vorzugsweise nach seiner Macht strebt, in die Emp­findungsseele zu wirken, bei dem französischen Volk in die Ver­standes- oder Gemütsseele und beim britischen Volk in die Bewußt­seinsseele, beim deutschen Volke in das Ich, das über die drei Seelen-glieder seine Macht erstreckt. Daher ist auch das Verhältnis des Erz­engels zu den einzelnen Ichen des deutschen Volkes ein anderes als bei den westlichen Völkern. Es kam schon ein Zeitpunkt, wo der Erzengel des deutschen Volkes auch in das physische Leben oder das niedere Seelenleben, insofern es das Physische ergreift, hineingegriffen hat. Das ist ungefähr die Zeit zwischen 1750 und, man kann sagen, 1830. Wenn man einmal die Dinge ganz vernünftig studieren wird,

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dann wird man ganz wunderbare Aufschlüsse über den Gang der Völkerentwickelung bekommen. Und wenn jemand sich nur darauf einlassen würde, den wirklich großartigen, grandiosen Unterschied zu betrachten, der im deutschen Leben herrscht in den Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Menschen, die zweihundert Jahre vorher gelebt haben, dann würde er sehen, wie gewaltig dieser Unter­schied ist. Dazumal griff der Erzengel in den Nationnicharakter des deutschen Volkes ein, so wie die Erzengel bei den andern Völkern in den Zeitpunkten, die ich bezeichnete, eingegriffen haben. Aber, man möchte sagen, er ließ wieder ab, er prägte nicht so energisch, so gründlich die Physis um, wie es bei den andern Völkern geschah. Daher ist es ja auch nur gekommen, daß der Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so vor sich ging, daß dieses deutsche Volk wirklich alles Mögliche von den andern Völkern unbewußt auf­genommen hat. Das hat ja in unseren Tagen schon viel zu tragischen Konflikten geführt. Denken Sie nur einmal an so etwas wie die Tat­sache, daß Ernst Haeckel in seiner ganzen Weltanschauung, insofern er sich diese Weltanschauung auf Wissenschaft aufgebaut hat, absolut Engländer ist, ganz verengländert ist, daß er englische Gedanken-formen aufgenommen hat. Es ist alles, was er denkt, irifluenziert, be­einflußt von englischem Wesen. Von Darwin, von Huxley geht er aus. Er betrachtet Spencer als seinen philosophischen Gott. Und während man ein Hegelsches Buch oder ein Buch aus unserer Geisteswissen­schaft ins Englische in Wirklichkeit nicht übersetzen kann, kann man Haeckel selbstverständlich sehr leicht ins Englische übersetzen. Sie werden erstaunt sein darüber, daß ich das sage, weil Sie ja wissen, daß geisteswissenschaftliche Bücher ins Englische übersetzt sind. Aber das, was in den Büchern darinsteht, das kann in englischer Über­setzung nur annähernd stehen; es steht gar nicht in Wirklichkeit darin, sondern nur annähernd. Man kann zum Beispiel niemals ins Englische wirklich den Satz übersetzen, der urdeutsch ist, der zusammenhängt mit der Empfindung Meister Eckarts und alledem, was sich im deut­schen Wesen in Anlehnung an Meister Eckart entwickelt hat. Man kann diesen Satz wirklich nicht ins Englische übersetzen: «In dem Gemüte lebt das Fünklein, in dem sich in der Menschenseele die Weltseele

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offenbart.» Es ist unmöglich, ihn ins Englische wirklich zu übersetzen, denn für das, was erlebt wird im Worte «Gemüt», gibt es keine Übersetzung. Ebenso ist das urhegelsche Diktum, das ge­radezu einen Grundnerv der deutschen Philosophie bildet: «Sein und Nicht-Sein vereinigen sich zur höheren Einheit im Werden», unmög­lich ins Englische zu übersetzen. Selbstverständlich, übersetzen kann man ja alles, aber es kann dasjenige, was bei einem solchen Satze erlebt wird, nicht in dieser Sprache wiedergegeben werden.

Die deutsche Sprache hat ja auch die besondere Eigentümlichkeit, daß sie noch eine gewisse Flüssigkeit gestattet. Denken Sie doch, wie unendlich leicht es ist, wenn irgend etwas ins Englische oder Französische übersetzt wird, zu sagen: Das ist falsch, das sagt man nicht! - Wir Deutschen dürfen gar nicht die Unart entwickein, zu sagen, daß irgend etwas falsch ist, sondern wir müssen unsere Sprache flüssig erhalten - das ist radikal gesprochen, selbstverständlich. Und nehmen Sie unsere Zyklen durch, da werden Sie sehen, wie gerungen wird nach immer neuen Worthildungen, auch nach Wortbildungen, die von innen heraus die Worte gestalten. Das kommt zum Beispiel davon her, daß der Erzengel des deutschen Volkes von der scharfen Ausprägung wieder abgelassen hat. Er hat gleichsam nur einen An­flug genommen während nicht ganz eines Jahrhunderts, um den Nationalcharakter zu prägen, und hat dann das Volk wiederum frei gegeben. Es liegt unendlich viel in dem, was ich damit meine. Aber das muß auch so sein, denn das deutsche Volk ist dazu berufen, seinen Idealismus in lebendige Geist-Erkenntnis umzubilden. Fichte, Schelling, Hege4 die man heute so befehdet, sie haben ein Denken geschaffen, welches zwar nicht schon Spiritualismus ist, nicht Geisteswissenschaft ist, welches aber der Keim der Geisteswissenschaft ist, welches so­zusagen, wenn es durchmeditiert wird, wirklich zur Geisteswissenschaft führt. Dazu muß aber der deutsche Nationalcharakter noch flüssig bleiben, muß wirklich möglich machen, daß man sagt: Man ist Italiener! Man ist Franzose! Man ist Engländer! Aber man wird immer Deutscher! Der Erzengel hat bei dem deutschen Volke nur den An­satz zur Bildung des Nationalcharakters gemacht. Und in derselben Weise national, etwa chauvinistisch zu sein wie die westeuropäischen

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Völker, das würde bei dem Deutschen eine Unwahrheit sein, das kann er gar nicht - man kann ja natürlich alles, aber dann entspricht es nicht dem eigentlichen Wesen des Deutschen.

Bei dem russischen Volke liegt nun etwas ganz anderes vor. Bei dem russischen Volke muß vor allen Dingen klar durchschaut werden, wie der Erzengel überhaupt in ganz anderer Weise zu den einzelnen Ichen des Volkes steht, als bei den westlichen und mitteleuropäischen Völkern. Bei den westeuropäischen Völkern ist es so, daß der Erz­engel hineinwirkt mit seinen Willensstrahlen, bei dem italienischen Volk in die Empfindungsseele, bei dem französischen Volke in die Verstandes- oder Gemütsseele, bei dem britischen Volk in die Be­wußtseinsseele, bei dem deutschen Volk in das Ich. Aber überhaupt nicht in die Seelen hinein wirkt der Volksgeist bei dem russischen Volke. Er schwebt gleichsam über dem Volke wie eine Wolke, und die Seele kann nur binaufahnen und sehnen zu ihm. Er ist noch ge­wissermaßen Gruppengeist geblieben. Da ist kein inniges Zusammen­wirken des Volksgeistes mit den einzelnen Menschen-Ichen. Man kann kaum einen tragischeren, ernsteren Eindruck bekommen, als wenn man einem russisch-orthodoxen Gottesdienst beiwohnt, diesem Gottesdienst, in dem das menschliche Ich derjenigen, die daran als Gläubige teilnehmen, fast ganz ausgeschaltet ist. Es waltet durch das Ganze durch ein ganz und gar die einzelne Persönlichkeit nicht er­greifendes unpersönliches Allgemeines. Ein nicht in die Menschen-natur Hineinsprechendes waltet in diesem Gottesdienste. Das ist ein unmittelbarer Ausdruck dafür, daß die russische Seele noch gar nicht erwacht ist zu jener Belebung, die von dem Verkehr des einzelnen Ich mit dem Volksgeiste herrührt. Es hat alles etwas steif Schablonen­haftes, wie wenn aus unbekannten Welten hineinreiche das Geistige und es bloß zu steif Schablonerhaftem brächte, in den Verrichtungen ebenso wie in der Ikonenmalerei. Da stehen wir vor noch etwas ganz anderem, als in Westeuropa der Fall ist. Da stehen wir davor, daß der Erzengel sich überhaupt noch nicht angeschickt hat, in das Nationale einzugreifen. Das Nationale ist daher für den Russen noch ein Seelen-traum. Der Russe redet ja selbstverständlich immer von dem «wahr­haft russischen Menschen», und die russischen Schriftsteller reden

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von ihm, aber es ist dies ein Seelentraum, der insbesondere deshalb betont wird, weil der Volksgeist nicht dem Menschen einverleibt ist, sondern weil der Russe eine Sehnsucht nach einem überpersönlichen Volksgeist hat.

In diese tiefen Geheimnisse muß man hineinsehen, dann wird man begreifen, wie die europäischen Kulturgebiete einander gegenüber-stehen. Es wird mir selbstverständlich niemals einfallen, in direkter Weise in diesem Gegenüberstehen der Kulturgebiete etwa die Ursache der gegenwärtigen Ereignisse zu sehen. Aber in indirekter Weise muß man das doch tun. Namentlich muß man sich darüber klar sein, daß die jetzige Kriegsfackel ein mächtiges Metkzeichen ist, uns bekannt­zumachen mit dem, was innerhalb des geistigen Lebens Europas waltet und webt und west.

Wir sehen hinauf zu Wesenheiten der höheren Hierarchien, wir sehen diese Wesenheiten der höheren Hierarchien auch in Entwicke­lung. Während wir als einzelne Menschen unser Ich entwickeln, sehen wir diese sich so entwickeln, daß sie immer mehr und mehr Macht bekommen, das Ich mit dem Willen zu durchdringen. Zuerst halten sie sich gleichsam noch fern von diesem Ich, überschatten es von oben herunter, wie beim russischen Volk. Dann gibt es ein intimeres Überschatten und Zusammenleben zugleich, wie es bei dem deutschen Volke ist. Und dann gibt es ein strammes, steifes Hineinatbeiten des Nationalcharakters in die einzelnen menschlichen Individuen, wie es bei den drei charakterisierten westeuropaaschen Völkern der Fall ist. Und daraus sehen Sie auch, wie dieses neuzeitliche Leben der Men­schenentwickelung überhaupt beschaffen ist. Sehen Sie sich nur ein­mal die mitteleuropäische Geschichte an und Sie werden finden -wenn Sie von Rußland absehen, wo die Verhältnisse ganz andere sind -, Sie werden finden, wie ähnlich namentlich das Leben der west­europäischen Völker und in gewisser Beziehung auch der mittel­europäischen Völker ist, wie ein europäischer Internationalismus herrscht. Und dann sehen wir etwa von dem 14. Jahrhundert an für die einzelnen Völker eine neue Zeit heraufkommen. Wir sehen, wie mit dem Heraufkommen dieser neueren Zeit die Völker von einem ausgeprägten Nationaicharakter ergriffen werden. Wir sehen, wie dem

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deutschen Volke mit der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gerade so viel gegeben wird an Nationalcharakter, daß der Deutsche ge­wissermaßen erfühlt, was Nationalcharakter ist, aber nicht so viel bekommt, daß er jemals im erstarrten Nationalcharakter aufgehen mußte. Man wird finden, daß das in der tiefen Anlage des deutschen Wesens liegt, daß der Deutsche nicht im Nationalcharakter aufzugehen braucht; daß es wirklich einen tiefen Sinn hat, wenn Fichte sagt: All dasjenige, was Freiheit des menschlichen Seelenwesens will, all dasjenige, was nach dem Allgemeinsten der Menschheit hinstrebt, das gehört zu uns.

Darin liegt eine freie Entwicklungsmöglichkeit des mitteleuro­päischen, des deutschen Charakters. Es liegt aber auch darin das ge­geben, was unmittelbar zur Einsicht führt, daß die westeuropäischen Völker in der Tat mit diesem Nationalcharakter - oder flüssigen Nationalcharakter - des deutschen Volkes rechnen müssen. Ich sage, etwas wie der flüssige Nationalcharakter des Deutschen kann gerade in unserer Zeit zum Tragischen führen. Gedenken wir noch einmal Ernst Haeckels. Wir haben gesehen, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - weil gleichsam wiederum frei gegeben war die Ent­wickelung des Nationalcharakters - so stark englisch beeinflußt wer­den konnte. Und jetzt kommen unsere Tage. Der Mann, der eigent­lich das ganze Engländertum in sich trägt hat die allerstärksten Hassesworte gegen das englische Volk geschleudert, Ernst Haecke] selbst. Er stand ja an der Spitze derjenigen, die alle englischen Diplome und Orden und Auszeichnungen zurückgeschickt haben. So viel wich­tiger wäre, daß man den materialistischen Darwinismus, den materia­listischen Newtonismus, alles das, was von ihnen ausgegangen ist, zurückschickte. In dieser Beziehung müssen wir uns nur einmal wirk­lich auch selbst richtig verstehen lernen, müssen ohne nationalen Haß die Dinge objektiv sehen lernen können.

Im Grunde war es eine Art geistigen Vorspieles, als sich vor einigen Jahren die Spaltung zwischen unserer anthroposopbischen Bewegung und der indisch-englisch gefärbten Theosophischen Bewegung voll­ziehen mußte. Es mußte sich vollziehen. Mit dem Materialismus eines im Fleische verkörperten Christus können diejenigen nicht mitgehen,

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die berufen sind, das Spirituelle zu entwickeln, und innerhalb unserer Reihen mußte es herauskommen, daß die Wiederkehr des Christus in Wirklichkeit die Wiederkehr eines ätherischen Christus sein wird. Es ist das schon öfter gesagt worden und auch in meinem ersten Myste­riendrama aus dem Munde Theodoras zu hören. Allerdings, jetzt lesen wir in einer englisch-theosophischen Zeitschrift - ich erzähle Ihnen wirklich keine Märchen, und zwar wird das von der Präsidentin der dortigen Gesellschaft selbst ausgesprochen -, daß sich an der Art, wie die Deutschen jetzt den Krieg führen, zeigt, was eigentlich hinter der damaligen theosophischen deutschen Unternehmung gesteckt hat, denn jetzt zeige es sich, daß man eigentlich übelgenommen hätte auf theosophischem Felde, daß die Präsidentin Annie Besant immer ein­getreten sei für den Friedensfürsten, der es mit Europa so gut gemeint habe, Eduard VIL Das hätten wir schon mit ungeheurem Widerwillen betrachtet, und deshalb hätten wir unsere Agenten nach England geschickt, die dort Theosophie in unserem Sinne vortragen sollten, um die Theosophen in unsere Hände zu bekommen. Wäre es uns gelungen, so erzählt die Präsidentin in der englischen theosophischen Zeitschrift, damals so weit durchzudringen, daß wir den ganzen, wie sie sagt, «reichen Verwaltungsapparat» der indisch-englischen Theo-sophie in die Hand bekommen hätten - wir haben das natürlich nie gewollt -, so wäre unsere Absicht ausgeführt worden, das Gift unserer Anschauungen bis nach Indien zu tragen und von da aus auf die britische Regierung Einfluß zu gewinnen, so daß unsere Absicht aus­geführt worden wäre, das britische Volk zur Anerkennung der deut­schen Oberherrschaft über England auf diesem Wege zu veranlassen! -Das ist die Darstellung, die jetzt in englisch-theosopbischen Zeit­schriften den Theosophen dort gegeben wird.

Nun sehen Sie die Wahrheit! Wir müssen uns sie zum Bewußtsein bringen, denn es geht nicht, daß wir über diese Dinge wie im Traume denken. Die Wahrheit ist ja doch diese, daß zum Beispiel all dasjenige, was ich geschrieben habe in meinem Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens», nur herausgeschrieben ist aus der Art, wie der Spiritualismus in der mitteleuropäischen Kulturströmung lebt. Das Buch ist sogleich ins Englische übersetzt worden, und man

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hat uns damals dort - mir wenigstens - gesagt, in diesem Buche stecke die ganze Theosophie darin. Wir könnten nun sagen: Nun ja, wenn die Leute in London finden, daß in dem Buche die ganze Theosophie darinsteckt, so können sie ja mit uns gehen. - Aber wir haben nicht einen Schritt gemacht, der etwas anderes war als ein Ausdruck des mitteleuropäischen sich entwickelnden Spiritualismus. Und einige Monate vor dem Kriegsausbruch hat es mich noch eigentümlich be­rührt - heute darf ich das erwähnen -, daß einige von unseren Damen, die Eurythmie treiben, nach London hinübergegangen sind, um dort einen Kursus zu geben. Die Eurythmie hat gefallen. Das ist ganz gut, sie soll den Menschen gefallen. Aber man merkt nicht, daß diese Eurythmie das Geistige ist, der Gegenpol des materialistischen Sport-wesens; daß man auf der einen Seite das Europa überflutende, ganz dem Materialismus Angehörige hat und den Materialismus bis in die Bewegung der Menschen hineinträgt durch den Sport, der dem Amüsement der Menschen, der Sucht, sich gesund zu machen, dient, der ganz materialistisch ist, während bei uns jede Bewegung der Aus­druck für das Geistige ist, genau dem entspricht, was mitteleuro­päische Spiritualität ist. Immer handelt es sich darum, auf diesem Boden zu arbeiten und aus diesem Boden heraus die Früchte der geistigen Entwickelung zu treiben. Wie hat gerade das Sportwesen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein­gegriffen! Wie haben dann auch feinere sportliche Tätigkeiten - ich glaube, eine Methode war besonders die von Dalcroze -, wie haben diese Dinge eingegriffen! Jetzt wird man ihn nicht besonders gerne mögen, weil er auch zu denjenigen gehört, die den «deutschen Barba­rismus» so furchtbar beschimpfen. Aber dasjenige, was dem deutschen Wesen angehört, das ist das Eurythmische, wodurch das Geistige, das in den Bewegungen des Ätherleibes gegeben ist, das dem Ätherleib naturgemäß ist, das im übersinnlichen Menschen wirkt, zum Aus­druck gebracht wird in den Bewegungen des äußeren physischen Leibes.

Diese Eurythmie beruht ja auf folgenden Prinzipien: Wir haben ein Organ, durch das der Ätherleib unmittelbar in Aktion tritt, so daß das Physische ein Abbild des Ätherischen wird. Das ist der Fall, wenn wir

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sprechen. Aber es wird nicht das ganze Physische, sondern die Luft ein Abbild des Ätherischen. Das tönende Wort in der Luft, die Art, wie die Luft schwingt, ist unmittelbar ein Ausdruck des Ätherischen. Wenn man dasjenige, was im Laut, im Wort lebt, nun ergreift und es auf den ganzen Ätherleib ausdehnt und dann Hände und Füße und alles am Menschen sich so bewegen läßt, wie ganz naturgemäß im Sprechen und im Gesang die Luft im Ätherleib bewegt wird, dann hat man die Eurythmie. Denn die Eurythmie ist ein Sprechen des ganzen Menschen, so daß zu Hilfe genommen wird nicht nur die sich be­wegende Luft, sondern die menschlichen Organe.

An einer solchen Sache sehen Sie, wie universell, wie umfassend dasjenige gedacht ist, was das Eingreifen der Geisteswissenschaft in die moderne Kultur ist. Wir haben, um den Nerv der Sache zu ver­stehen, eben einiges gehört, woran man heute gar nicht einmal denkt, und wenn ich durch diese beiden Vorträge, die ich jetzt in diesem engeren kleinen Kreise gehalten habe, wirklich nichts anderes er­reiche, als daß in Ihnen die Empfindung angeregt wird, man müsse noch mehr auf das hinschauen, was Geisteswissenschaft in univer­seller Beziehung für das ganze menschliche Leben wrn, so ist das schon genug. Denn damit, daß wir uns einzelne theoretische Begriffe aneignen, wird wirklich die Aufgabe der Geisteswissenschaft nicht erfüllt. Die Aufgabe der Geisteswissenschaft wird erfüllt, wenn sie eingreift in alles, alles Leben, und dieses Leben durchgeistigt, dieses Leben spiritualisiert. Und notwendig ist cs in unserer fünften Kultur-epoche innerhalb desjenigen Volkes, dem insbesondere diese Aufgabe zufällt, die Spiritualisierung herbeizuführen, diese Dinge zu ver­stehen, ein Verantwortlichkeitsgefühl in bezug auf die Entwickelung herbeizuführen. Die Menschheitsentwickelung zu kritisieren, ist leicht, recht leicht. Darum handelt es sich aber nicht, denn die Dinge, die geschehen, geschehen mit Notwendigkeit, auch wenn sie dem­jenigen widersprechen, was gewissermaßen der gute Fortschritt mit den Menschen will. Nun müssen wir in einer gewissen Beziehung etwas, was diesem guten Fortschritt eigentlich widerspricht, in unserer Kultur herinnen haben und herinnen lassen. Unter diesen mancherlei Dingen, die dazugehören, ist zum Beispiel dieses, daß wir im Grunde

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genommen eigentlich wegen unseres gegenwärtigen Kulturstand­punktes unserer Zeit, wie man sagt, um des Fortschrittes willen, unsere Kinder vom zartesten Alter an zu malträtieren beginnen. Man weiß es nicht, aber man malträtiert sie. Denn es gibt im Grunde genommen nichts der menschlichen Natur Widersprechenderes, als die Kinder vom siebenten Jahre an schon anfangen zu lassen, die Schulgegen­stände zu lernen und sie schulmäßig zu unterrichten, wie man es gegenwärtig tut. Es könnte einen wirklich als etwas besonders Glück­liches treffen, wenn man ganz anders heranwüchse und solches, was schon im siebenten Jahr an die Menschen herangebracht wird, erst im neunten oder zehnten Jahre bekäme. Aber das wird wohlgemerkt nicht in der Absicht etwa gesagt, daß es nicht geschehen solle, denn der allgemeine Kulturfortschritt fordert es, es muß so sein. Aber es muß der Gegenpol geschaffen werden. Und während wir auf der einen Seite dadurch, daß wir gewisse Arten des Schulunterrichtes haben, namentlich die Ätherleiber der Kinder schrecklich malträtieren, weil wir ihnen etwas einprägen, wofür sie in diesen Jahren absolut nichts taugen, müssen wir im Zuführen der Eurythmie einen Gegenpol schaffen und gerade das, was Eurythmie ist, den Kindern zuführen, damit der Ätherleib in diesen ihm eingeborenen Bewegungen den Ausgleich hat. Eurythmie wird etwas werden, was ganz allgemein ist, denn die Entwickelung erreicht nicht ihr Ziel dadurch, daß man ein­seitig vorwärtsgeht, sondern daß man in Gegensätzen vorwärtsgeht. Man muß immer den Gegenpol schaffen, den Gegenpol geltend machen. Entwickelung bewegt sich in Gegensätzen. Und der Malträ­tierung des Ätherleibes durch den heutigen Schulunterricht muß ein Gegenpol geschaffen werden, in dem Elastischmachen, dem natur­gemäßen In-Bewegung-Bringen des Ätherleibes in dem Sinne, wie es in den ersten Anfängen in unserer Eutythmie versucht wird. So hängt etwas, was vielleicht viele heute noch «unsere Eurythmie» nennen, wirklich mit demjenigen zusammen, was ich den universellen Cha­rakter unserer geistigen Bewegung zu nennen habe.

Wenn wir auf der einen Seite sehen, wie das in die Ranken des äuße­ren Lebens eingreift, wie es uns auf der andern Seite tief durchdringen kann, daß die Tiefen des Christus-Impulses sich verbinden mit dem,

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was wir in der Geisteswissenschaft zusammentragen, dann haben wir vom höchsten Wissen ins niederste den universellen Charakter der Geisteswissenschaft. Und viel mehr als auf manches andere kommt es darauf an, daß wir uns eine Empfindung von diesem universellen Charakter der Geisteswissenschaft verschaffen. Und ich muß sagen, es gehört zu den vorläufig noch schwierigsten Empfindungen und Gefühlen, daß die gegenwärtigen schicksaltragenden Ereignisse nicht bedeutsamer empfunden werden, daß sie nicht stärkere Eindrücke auf unsere Zeitgenossen machen. Denn abgesehen von alledem, was man äußerlich bemerken kann, sind diese schicksaltragenden Ereignisse eine Warnungstafel, eine Warnung davor, bei dem zu bleiben, was die letzten Jahrhunderte an Materialismus in die Menschheit herauf-getragen haben, eine Warnung zur Umkehr in bezug auf den Ent­wickelungsweg der Menschheit. Und dasjenige, was an Blut und Tod durchgemacht wird, sollte so empfunden werden, als ob es von den Göttern auf die Erde hereingeschickt wäre, auf daß es uns lehre, wie notwendig der Weiterentwickelung der Menschheit die Spiritualität ist. Es ist zum Beispiel wirklich bejammernswert, wenn wir in diesen Zeiten erleben, daß Leute Vorträge halten, auch Artikel schreiben, in denen sie sagen: Wenn sie nur bald wiederum kommen möge, die Zeit, wo wiederum der freie Verkehr der Völker so stattfindet, wie er früher stattgefunden hat, sonst könnten die Deutschen in den Wahn verfallen, zur Metaphysik von Fichte und Hegel wieder zurückzukom­men, wieder metaphysische Triebe zu entwickeln. - Selbst in diesen schicksaltragenden Tagen wird wie eine Furcht hingestellt, daß in die Sehnsuchten der Menschen etwas von metaphysischen Trieben wieder hereinkommen könnte! Das sollen gerade diese Monate, die meta­physischen Triebe wiederum erwecken! Denn in wie vielen Fällen sehen wir - zum traurigen Leiderlebnis der Mütter, Väter, Söhne, Töchter, Schwestern, Brüder und weiterer menschlicher Zusammen­hänge -, daß ein unbewußter Glaube an die Bedeutung des Übersinn-lichen wie ein Zauberhauch durch unsere Welt geht. Es sollen Tau­sende und aber Tausende opferfreudig durch den Tod gehen, und die Menschen sollten etwa nachher, wenn wiederum Friede auf unsere Erde eingezogen ist, weiter predigen dürfen, daß das menschliche

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Leben zwischen Geburt und Tod eingeschlossen ist? Dann wären die Opfertode für nichts dargebracht, denn diese Opfertode entspringen -wenn auch für viele nicht deutlich - dem festen Glauben daran, daß diese Tode die Morgenröte für eine neue Zeit sind. Wer auf dem Schlachtfeld in den Tod hineingeht, der will durch seinen Tod wahr­haftig etwas anderes bekräftigen, als das: Hier endet mein Leib. -Welche Sinnlosigkeit wäre es, die europäische Erde in unserer Zeit mit Leichnamen zu erfüllen, wenn die materialistische Weltanschauung auch nur einen Funken von Recht hätte. Das müssen wir uns vor allen Dingen in die Seele schreiben. Diejenigen, die diese Zeit überleben werden, die leben werden in der Zeit, wo wieder Frieden herrschen wird, die werden an denen, die hingestorben sind, Verräter sein, wenn sie nicht an der Spiritualisierung der menschlichen Entwickelung arbeiten. Denn im Grunde genommen bedeutet ein solches Nicht­arbeiten an der Spiritualisierung der Menschheit nichts anderes, als denen, die durch Blut und Tod gegangen sind, zu sagen: Ihr seid für nichts gestorben! - Denn ist der Materialismus richtig, dann sind sie alle für nichts gestorben.

Mit dieser Empfindung muß sich insbesondere der Geisteswissen­schafter ganz durchdringen. Ich habe erst in diesen Tagen wiederum lesen können, wie es heute Menschen gibt - und im 19. Jahrhundert sind diese Menschen immer zahlreicher und zahlreicher geworden -, die behaupten: Es war ein Vorurteil des Paulus, daß er sagte, wäre der Christus nicht auferstanden, dann wären vergebens unsere Worte und unser Glaube. Aber dieses Wort des Paulus ist wahr! Denn durch das, was durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, ist erst die menschliche Seele wieder berufen worden, Kräfte zu haben, die sie in die geistige Welt hineinführen. Wir haben von diesen Kräften ge­sprochen. Aber unsere Zeit ruft uns mit deutlichen Lauten zu: Ver­geblich wäre der Tod so vieler, wenn der Materialismus richtig wäre! Wäre der Materialismus richtig, so wären sie alle umsonst gestorben.

Wenn wir uns mit solchen Gedanken durchdringen, dann werden diejenigen, die ihre Kräfte dem großen Menschheitsfortschritt zur Verfügung gestellt haben in einem Tod, der im blühenden Menschen­alter erfolgte, dann werden sie ihre Kräfte verstärkt erhalten durch die

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Gedanken, die aus unseren Seelen hinaufgehen. Wenn Menschen­seelen dasjenige, was sie an spirituellen Gedanken und Empfindungen haben können, geisterwärts lenken, dann werden, wie ich auch gestern am Schlusse sagte, die Kräfte von oben, die gesammelt werden, die unverbrauchten Ätherkräfte, sich begegnen mit den menschlichen spirituellen Gedanken und ein neues Zeitalter herbeiführen. Deshalb sei auch heute geschlossen mit den Worten, die in diesen Tagen uns doch den Sinn, den Empfindungs- und Gefühlssinn gaben unseres Darinstehens in der Zeit als Geisteswissenschafter:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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KOSMISCHE EINWIRKUNGEN AUF DIE MENSCHLICHEN WESENSGLIEDER WÄHREND DES SCHLAFES - DIE OKKULTE GRUNDLAGE DES WEIHNACHTSFESTES - DER SINN DER OPFERTODE Wien, 1. Mai 1915

Es muß in diesen Tagen meine Absicht sein, unseren Seelen einiges von dem nahezubringen, was vom geisteswissenschaftlichen Gesichts­punkte aus einiges Licht zu werfen vermag auf unsere großen Zeitereignis se. Und deshalb wird es auch nächsten Sonntag meine Aufgabe sein, unsere Empfindungen auf gewisse Gesichtspunkte hinzulenken, die einiges Licht bringen können gerade in dasjenige, was jetzt in so tiefstem Sinne unsere Herzen und Seelen bewegen muß. Dazu aber möchte ich heute gewissermaßen eine vorbereitende Grundiage schaf­fen, indem ich Ihre Seele auf gewisse Mächte und Kräfte hinlenke, die im geschichtlichen Dasein der Menschen wirken, die nur erkannt wer­den können durch jene Einsichten, welche die Geisteswissenschaft zu geben vermag, und die für das alltägliche Bewußtsein nicht unmittel­bar wahrnehmbar sind. Auf Entwickelungstatsachen des menschlichen Lebens, wie sie sich äußern im geschichtlichen Verlauf des Menschen­lebens, auf mehr oder weniger unterbewußte Tatsachen möchte ich heute hinweisen. Ausgehen aber wollen wir davon, daß ja, wie Sie aus der Darstellung in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» wissen, dasjenige, was sich im Verborgenen mit jedem Menschen vollzieht, erkannt wird in aufeinanderfolgenden übersinnlichen Erkenntnisstufen, in der sogenannten imaginativen Er­kenntnis, in der inspirierten Erkenntnis und in der intultiven Er­kenntnis. Ich habe schon gestern im öffentlichen Vortrag betont, daß man immer festhalten muß, daß der Geisteswissenschafter, der durch seine Erkenntnis der imaginativen, der inspirierten, der intuitiven Wahrnehmungen etwas über die geistigen Welten aussagt, nichts bin­zubringt, was nicht in den geistigen Regionen, in denen jede Men­schenseele darin lebt, auch ohne seine Erkenntnis vorhanden wäre. Der Geisteswissenschafter macht nur aufmerksam auf dasjenige, was

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immer webt und lebt in der Welt und wie die einzelne Menschenseele darin hineingestellt ist. So daß nicht nur für denjenigen, der die Ab­sicht hat, sich hineinzubegeben in den Strom der okkulten Erlebnisse, sondern für jede Menschenseele das Wissen von dem wichtig ist, was ihr unter allen Umständen innere Wirklichkeit ist, nur eine Wirklich­keit, die mit der gewöhnlichen Wahrnehmung des Lebens nicht er­kannt werden kann.

So möchte ich denn ausgehen von einigen Tatsachen der imagina­tiven Wahrnehmung über die menschliche Natur überhaupt. Wir be­obachten täglich, daß ein rätselvolles Ereignis, wenigstens ein für die äußere Wissenschaft rätseivolles Ereignis, rhythmisch abwechselnd in unser Leben eingreift: das Wachen und das Schlafen. Wir wissen längst, daß wir im Wachzustand der physischen Erdenwelt angehören mit unseren vier Menschengliedern, dem physischen Leib, dem Äther­leib, Astralleib und Ich. Wir wissen, daß wir im Schlafzustand, also vom Einschlafen bis zum Aufwachen, in der physischen Welt nur mit unserem physischen Leibe und unserem ätherischen Leib sind, daß wir uns gewissermaßen zurückziehen in die rein geistige Welt mit unserem astralischen Leibe und Ich. Was sich nun der geistigen Anschauung des Geistesforschers darbietet, können wir so charakterisieren, daß wir sagen: Der Geistesforscher sieht dasjenige an, was sich zum Beispiel immerfort mit dem Menschen vollzieht, wenn er mit dem Einschlafen seinen physischen und seinen ätherischen Leib verläßt und sich in die Region der höheren Welt mit seinem Astralleibe und dem Ich begibt. Was da mit dem Menschen - mit jedem Menschen bei jedem Ein­schlafen - geschieht, dem schaut der Geistesforscher einfach zu. So daß wir sagen können: Der Geistesforscher beobachtet nur dasjenige, was sich jeder Menschenseele darbieten würde, wenn sie nicht im Traumzustand, sondern im völligen Schlafzustand auf die Welt so hinunterschauen könnte, daß sie unter den Dingen der Welt ihren physischen und Ätherleib als etwas fände, was außerhalb ihrer, also der schlafenden Seele ist.

Nun dürfen wir uns nicht vorstellen, daß wir dann etwa dasjenige, was wir da verlassen haben und worin wir unseren physischen Leib und Ätherleib zurückgelassen haben, von dem Gesichtspunkte des

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Schlafes aus so sehen, wie wir mit unseren physischen Augen das sehen, was uns in der physischen Welt umgibt. Damit wir dasjenige, was uns umgibt, so sehen, wie wir es eben vom Aufwachen bis zum Einschlafen sehen, dazu ist notwendig, daß wir uns unserer physischen Augen, unserer physischen Sinnesorgane bedienen. Dieser bedienen wir uns nicht, wenn wir außerhalb des physischen Leibes und des Ätherleibes sind. Würden wir plötzlich hellsehend im Schlafzustand, so würden wir alle von dem, was wir während des Wachens sehen, so wie es während des Wachens ist, eben nichts wahrnehmen. Auch unseren physischen Leib und Atherleib nehmen wir da nicht etwa so wahr, wie wir den physischen Leib wahrnehmen, wenn wir in einen Spiegel hineinschauen. Das ist ganz falsch, wenn man glaubt, daß man den physischen Leib und den Ätherleib gleichsam so ansieht, als wenn man sich mit seinem astralischen Leibe und dem Ich über den physi­schen und Ätherleib beugen würde. Das ist nicht der Fall. Dasjenige, was sich der imaginativen Erkenntnis - also halten wir das fest: der imaginativen Erkenntnis - darbietet, das ist, daß uns zuletzt ver­schwindet, wirklich für den Augenblick verschwindet alles dasjenige, was wir gewohnt sind, im Wachzustande zu sehen. Auch indem wir unseren physischen Leib und Ätherleib sehen, sind diese nicht so, wie sie im Wachzustande sind, sondern wirklich erscheint uns unser physi­scher Leib und Ätherleib wie zu einer Welt erweitert; sie erscheinen uns wie mit der ganzen Erdenwelt zusammenhängend. Wir schauen hin; das haben wir im Bewußtsein, daß wir auf physischen Leib und Ätherleib hinschauen. Aber wir schauen sie so, daß sie zunächst für uns gewissermaßen die einzige Welt sind. So wie wir im Wach zustande Berge, Flüsse und Wolken, Sonne und Sterne und so weiter um uns herum haben und auf sie als auf ijnsere Umgebung hinschauen, so schauen wir, indem wir auf unsere Umgebung hinschauen, wenn wir außerhalb unseres physischen und Ätherleibes sind, diesen unseren physischen Leib und den Ätherleib wie zu einer Welt erweitert. Gar nichts anderes schauen wir an. Das schauen wir so an, wie wir sonst die verschiedenen Dinge unserer Erde anschauen. Wir schauen bin auf unsere eigene Leiblichkeit wie auf eine ganze Welt.

Und merkwürdig, diese Welt, auf die wir da hinschauen, ist uns so,

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daß wir sie, indem wir ins Einschlafen übergehen, so empfinden, wie wir im Frühling die Erde empfinden, wenn sie, nachdem sie von der Schneedecke des Winters befreit worden ist, wenn sie die einzelnen grünen Sprossen hervorbringt, wenn sie sich wiederum zum Wachs­tum, zur Vegetation dessen, was sich auf ihr bildet, anschickt, wenn alles wiederum in Sprossen und Sprießen übergeht. Indem wir im Einschlafen den zu einer Welt erweiterten physischen Leib und Äther-leib ansehen, so sehen wir sie gleichsam so, daß wir sie empfinden können wie einen im Frühling aufwachenden Planeten. Und das geht durch den ganzen Schlafzustand so weiter. Was wir da in mächtigen Bildern sehen, die uns wirklich in der Ausdehnung wie ein Planet erscheinen, das schickt sich an, seinem Sommer entgegenzugehen, wie die Erde sich anschickt, ihrem Sommer entgegenzugehen, wenn der Frühling zu Ende geht. Und so machen wir den Schlafzustand durch, wenn wir ihn regelrecht durchmachen. Wir gehen gleichsam im Schlaf­zustand durch bis zu jenem Punkte, wo wir empfinden: Unser physi­scher Leib und Atherleib tragen Sprießendes und Sprossendes bis zur Blüte, ja bis zur Fruchtentfaltung; überall wächst und gedeiht alles. Wenn ich mich im einzelnen ausdrücken soll, so muß ich sagen - für den imaginativen Anblick ist dasjenige, was sich so darbietet, aller­dings paradox -: Während wir mit dem physischen Anschauen ge­wissermaßen unsere Erdoberfläche empfinden und auf ihr das von unten nach oben Sprießende, dasjenige, was wächst und gedeiht, im Bewußtsein haben, ist es so, wenn wir nun von außerhalb dasjenige beobachten, was mit unserem Leibe vorgeht und mit der Pflanzenwelt vergleichen, als wenn seine Wurzeln von oben herdringen und es mit seinen Blüten in unseren Leib hineinwächst. Also eine vollständig um­gekehrte Welt empfinden wir, und die Früchte werden hineinversenkt. Wir lernen dann, daß mit diesem Hineinversenken der Früchte wirk­lich dasjenige zum Ausdruck kommt, was uns dann als die Stärkung des Schlafes zum Bewußtsein kommt. Und dadurch wissen wir, daß in der Tat - weil ja alles, was wir so in der Imagination anschauen, Kräfte sind - unser physischer Leib und Ätherleib die Kräfte aus dem ganzen Kosmos empfangen, indem wir uns in den Schlafzustand be­geben. Wir schauen zu, wie Kräfte, die sich in der Bildung von aus

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der Welt hereinwachsenden Pflanzen ausdrücken, aus dem Kosmos kommen. Wir sehen, wie der Kosmös eine ganze Vegetation in un­sere Leiblichkeit hineintreibt. Und wir bekommen dann das sichere Wissen davon, daß wir beim Einschlafen unseren Leib aus dem Grunde verlassen, weil wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen mit dem Ich und Astralleib unseren physischen Leib und den Ätherleib den Einwirkungen der Kräfte des Kosmos entziehen. Dadurch, daß wir selbst hinausgehen, machen wir unseren physischen Leib und den Ätherleib frei für die Einwirkungen des ganzen Kosmos, der mit dem, was er nun elementarisch, nicht physisch, an solchen Kräften hat, die sich uns eben in den geschilderten Imaginationen ausdrücken, in uns bineinsendet. So ist jedesmal, wenn wir einschlafen, eine Beziehung zwischen physischem Leib und Ätherleib mit dem ganzen Kosmos hergestellt. Während wir im Wachzustand in der physischen Welt leben, lebt wirklich unser physischer Leib und Ätherleib während unseres Schlafes in dem, was wir die elementarische Welt nennen, die Welt der bloßen Kräfte, die sich uns eben in den geschilderten Ima­ginationen darstellen. Und wir selber, wo sind wir mit unserem Ich und Astralleib? Nun, wir haben oft geschildert, und es ist auch in verschiedenen Schriften dargestellt: mit unserem Ich und Astralleibe sind wir in der Welt, die geschildert worden ist als die Welt der höhe­ren Hierarchien unter den Wesenheiten, die wir Angeloi, Archangeloi, Archai und so weiter nennen. In diese Wesenheiten und ihre Welt taucht das Ich und der Astralleib ein. So wie wir, wenn wir wachend sind, von den Wesen der tierischen Welt, der Pflanzenwelt, der Mine­ralwelt wissen und als Mensch gleichsam über dieser Welt stehen, in­dem wir sie in unsere Gedanken aufnehmen, so werden wir selbst wie Gedanken aufgenommen von den Wesen der höheren Hierarchien. Und das ist das Bedeutsame, daß wir sagen können: Während hier unten unser physischer Leib und Ätherleib mit den Kräften des gan­zen Kosmos in Zusammenhang treten, werden wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen selber gedacht, wie wenn wir richtige Wesen wären, gewoben aus Gedanken und der Willenswesenheit; wir wer­den gedacht von den Wesen der höheren Hierarchien. - Wie wir die Natur denken, so denken uns die Wesenheiten der höheren Hierarchien.

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Daher ist es, genau gesprochen, gar nicht richtig, zu sagen, wenn man aus dem physischen Leib herauskomme, denke man die Welt. Richtig ist eigentlich, zu sagen, man erlebe es, daß man von der Welt der höheren Hierarchien gedacht wird. Wie der Gedanke wäh­rend des Wachlebens sich fühlen müßte, wenn er Bewußtsein hätte, so müßten wir uns erleben als die Gedanken der höheren Wesen­heiten, wenn wir außerhalb unseres physischen Leibes sind.

Und wie erleben wir für diese unsere imaginative Erkenntnis das Wiedererwachen? Indem wir uns allmählich zum Aufwachen anzuschicken haben, erleben wir das wirklich so, wie wir in der äußeren Natur - wir können die Imagination wieder mit der äußeren Natur vergleichen - das Hereinziehen des Winters erleben mit aliedem, was er an Zerstörendem, Lähmendem und Vernichtendem für das spros­sende und sprießende Sommerleben hat. Und so wie der Winter über die Erde den Frost und die Kälte bringt und die Zerstörung dessen, was Sommerherrlichkeit ist, tauchen wir selber in den physischen Leib und Ätherleib ein. Was an Kräften wirklich wie eine Vegetation, so­gar wie eine Tierwelt aus der elementarischen Welt des Kosmos in unseren physischen Leib und Ätherleib eingezogen ist, dem bereiten wir mit dem Aufwachen den Untergang, wie der Winter den Unter­gang der Sommerherrlichkeit bereitet. Und während wir wachend sind, versetzen wir wirklich, durch unsere Anwesenheit in unserem physischen Leib und Ätherleib, diese in einen solchen Zustand, wie die Verhältnisse des Kosmos die Erde versetzen, wenn Winter ist. Wir breiten den Winter über unsere eigene physische und ätherische Wesenheit aus, indem wir in sie einziehen. Sie sehen daraus zugleich, wie dasjenige, was man von physischen Gesichtspunkten aus oftmals als Vergleich gebraucht, für das geistige Anschauen nicht stimmt. Gewiß, aus dem Gefühl heraus hat schon der Mensch das Bewußtsein, daß er mit dem ganzen Kosmos zusammenhängt und daß gewisser­maßen dasjenige, was er erlebt, ein mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos ist. Aber es liegt dem Menschen dann nahe, wenn er wirklich etwas in seinem mikrokosmischen Leben mit dem makro-kosmischen Leben vergleichen will, zu sagen: Das Aufwachen ist wie das Hereinkommen des Frühlings in unser Leben, und das Wachleben

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ist wie der Sommer. Und der Herbst ist wie das abendliche Müdewerden, das Schlafesleben ist wie der Winter. - Gerade das Um­gekehrte ist Wirklichkeit. Das Sommerleben ist das Schlafesleben und das Winterleben ist das Wachleben. Das ist die Wahrheit der Sache.

Wenn der Geistesforscher diese Verhältnisse wirklich untersucht, dann findet er aber, daß, während sich sein Ich und Astralleib so in die Regionen der höheren Hierarchien erhebt und gewissermaßen von den höheren Wesenheiten gedacht wird, hereinwirkt in seinen physi­schen Leib und Ätherleib nicht nur dasjenige, was in der elementaren Welt ist, sondern daß gewisse Wesenheiten der höheren Hierarchien auch in unseren physischen Leib und Ätherleib hineinwirken. Nicht nur ist es die elementare Welt, die aus Kräften besteht, sondern wirk­liche Wesenheiten sind es, Wesenheiten der höheren Hierarcbien, welche in unseren physischen und Ätherleib hereinwirken. Und da stellt sich dann das Merkwürdige heraus, daß wir gewahr werden kön­nen, wie wir in dem Augenblick, wo wir einscbiafen, in ganz andere Verhältnisse kommen als die, in denen wir sind, während wir wachen. Wie gesagt, alles dasjenige, was so ausgesprochen werden kann, beruht darauf, daß die Geistesforschung uns gestattet, zuzuschauen, wie es mit dem Einschlafrn und Aufwachen ist. Und für sie zeigt sich dann, daß auf unseren physischen und Ätherleib vom Aufwachen bis zum Einschlafen auch dasjenige Wesen aus den höheren Hierarcbien wirkt, das wir empfinden müssen als den Volksgeist, die Volksseele, der wir angehören. Indem der Mensch aufwacht, taucht er aufwachend nicht nur in seinen physischen und Ätherleib unter, sondern auch in die Vorgänge, die in seinen physischen Leib und Ätherleib ausgeführt werden von dem, was sein Volksgeist vollbringt. Das Eigentümliche stellt sich heraus - ich bitte, das wohl zu beachten, denn es geziemt uns, die wir in die Geisteswissenschaft eindringen wollen, den Welten-zusammenhang tiefer zu betrachten, als das äußere Wahrnehmen ihn betrachten kann -, daß der Mensch mit dem Einschlafen nicht nur eintaucht in diejenigen Wesenheiten der höheren Hierarchien, die sei­ner individuellen Entwickelung entsprechen, sondern auch in solche geistige Wesenheiten, die wir als Volksgeister ansehen müssen. Und zwar taucht der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen in den

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Zusammenhang aller andern Volksgeister ein, nur nicht desjenigen, der der seinige ist.

Also merken wir uns das wohl: Während des Wachens leben wir ein­getaucht in die geistigen Tatsachen, die der eigene Volksgeist in unse­rem physischen und Ätherleibe ausführt. Wir leben zusammen ge­wissermaßen mit dem eigenen Volksgeist vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Nun sind neben unserem Volksgeiste in der Welt vor­handen alle andern Volksgeister der andern Völker. Mit dem Ein­schlafen tauchen wir unter in den Zusammenhang der andern Volks-geister, nicht in einen einzelnen andern Volksgeist - halten Sie das streng fest -, sondern in das, was sie zusammen vollbringen, was sie gleichsam im Verein, als Gesellschaft vollbringen. Ausgeschaltet ist während der Nacht nur der eigene Volksgeist aus diesem Zusammen­hang. Wir können dem nicht entgehen, auch einen Zusammenhang mit all denjenigen Volksgeistern zu haben, die den andern Völkern angehören, in die wir in einer bestimmten Inkarnation eben nicht inkarniert sind. Denn, indem wir beim Tagwachen unserem Volks-geiste angehören, gehören wir im Schlafzustand den andern Volks-geistern, allerdings nur ihrem Zusammenklang an; während wir im Wachzustand den Intentionen des einzelnen Volksgeistes angehören, in dessen Gebiet wir eben in einer bestimmten Inkarnation hinein-geboren sind.

Aber es gibt ein Mittel, auch während des Schlafzustandes gewisser­maßen in die Wesenheit eines einzelnen andern Volksgeistes unter­zutauchen. Während wir im normalen Zustand wachend in unserem eigenen Volksgeiste beziehungsweise seiner Tätigkeit leben und im Schlafe im Zusammenklang der andern Volksgeister, können wir schlafend untertauchen in einen einzelnen Volksgeist, wenn wir uns einen recht glühenden Haß gegen das, was dieser andere Volksgeist vollbringt, im Leben aneignen. Und so grotesk es klingt, wahr ist es doch - und wir in unserer Bewegung müssen solche Wahrheiten ruhig ertragen können -: Wenn der Mensch so wirklich aus dem innersten Wesen heraus glühenden Haß gegenüber einem Volksgebiet empfin­det, so verurteilt er sich dazu, mit dem Volksgeist dieses Volksgebietes in der Nacht zu scbiafen, mit ihm zusammen zu sein.

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Da berühren wir eben Wahrheiten, denen gegenüber wir sehen kön­nen, daß das Leben hinter jenem Schleier, der für die alltägliche Be­obachtung die geistigen Welten verhüllt, einen tiefen Ernst zu haben beginnt, und daß es in einer gewissen Beziehung schon unbequem ist, ein Bekenner der Geisteswissenschaft zu sein. Denn es beginnt die Geisteswissenschaft von gewissen Punkten aus im allertiefsten Sinne Ernst zu machen mit Verhältnissen, die man im Leben unbequem fin­det und über die wir wirklich gnadenvoll dadurch binweggehoben werden, daß uns das Leben im gewöhnlichen Sinne die Wahrheit nicht enthüllt. Trotzdem wir selbstverständlich im äußeren Leben voll auf dem Boden stehen müssen, den dieses äußere Leben von uns verlangt, so müssen wir, wenn wir im Gebiete der Geisteswissenschaft uns zu denjenigen Gebieten erheben, wo andere Eigentümlichkeiten des Lebens beginnen, mit einem solchen Grundsatz ganz Ernst machen.

In dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten ? » wird davon gesprochen, daß in dem Augenblick, wo man sich hinaufethebt in die geistige Welt - und jeder Mensch ist ja in der gei­stigen Welt, es handelt sich hier nur um ein Erkennen dessen, was immer da ist -, dann jene bequeme Einheit des Menschenwesens auf­hört, in der wir in der physischen Welt leben. Spaltungen geht das Menschenwesen ein; abgesehen von jenen Spaltungen, die dort er­wähnt sind, und die man beobachten kann nach der Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, treten manche andere Spaltungen ein, zum Beispiel diejenige, die von einer tiefen Bedeutung für unser ganzes Gemütsleben sein muß. Wir müssen anerkennen, daß, indem wir in einer bestimmten Inkarnation gegenüber dem Volkstum, in dem wir eben stehen, voll unsere Pflicht zu tun haben, ihm voll unsere Liebe darzubringen haben, dieses Volkstum im ganzen Entwickelungspro­zeß der Erde darinsteht. Wir müssen uns klar sein, daß wir, indem wir auch geistige Wesenheiten sind im Ich und Astralleib, wirklich der ganzen Menschheit angehören und mit unseren Impulsen mit der gan­zen Menschheit fühlen müssen. Und nicht ist es so, daß die Geistes­wissenschaft zuläßt, daß wir in ihr in einer Einseitigkeit leben, son­dern wir müssen diese beiden Seiten unseres Wesens in einen vollen Einklang bringen können.

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Wir müssen uns klar darüber sein, daß wir - trotzdem wir als Mensch der gegenwärtigen Inkarnation, auch wenn wir Geisteswis­senschafter sind, unser Volkstum so lieben können, wie nur irgend jemand sein Volkstum zu lieben vermag - mit diesem Fübien das­jenige in Einklang bringen, was uns mit der ganzen Menschheit zu­sammenführt. Und gerade Geisteswissenschaft ist ja die Erhebung zu diesem Zusammengeführtwerden mit der ganzen Menschheit, weil sie uns eröffnet, daß wir mit der ganzen Menschheit zusammenhängen in unserem Ich und Astralleib. Harmonie zu bewirken zwischen Ge­gensätzen, das ist dasjenige, was Geisteswissenschaft immer mehr und mehr von demjenigen fordert, der sich mit Ernst und Würde in sie hineinbegibt. Und von Unheil ist es, wenn man wahre Geisteswissen­schaft verwechselt mit jenem unklaren mystischen Getriebe, das immer da die Bedürfnisse des äußeren, physischen Lebens verqulcken möchte mit demjenigen, wozu wir uns erheben müssen, indem wir in die geistige Welt eintauchen. Denn unklare Mystik, die überall in das alltägliche Leben dasjenige hereinbringen möchte, was die Geistes­wissenschaft erst im rechten Lichte zeigt, jene unklare Mystik wird zum Beispiel niemals die Liebe zum eigenen Volkstum in Einklang bringen können mit der Liebe zur ganzen Menschheit, wird zu einem verschwommenen mystischen Kosmopolitismus führen. Den kann man ebenso, wie ich das schon getan habe, vergleichen mit dem, was unklare Theosophen immerzu von der Gleichheit und von dem Gleichgelten aller Religionen der Erde sagen. Gewiß, im Abstrakten kann man sagen: Alle Religionen der Erde enthalten die Wahrheit. Aber das ist genau dasselbe, als ob man sagt: Auf dem Tisch steht Pfeffer, Salz und Paprika und allerlei anderes, und das alles sind Speisezutaten. Zucker, Pfeffer, Salz und Paprika - das ist alles gleich; also gebe ich einmal in den Kaffee Paprika und Zucker in die Suppe, weil ja alles Speisezusätze sind. Genau auf demselben Punkt der Logik stehen die, welche in unklarer Mystik nur von dem Einheitskern aller Religionen faseln, statt sich in die wirkliche Wesenheit jedes einzelnen, was in unserer Erdenentwickelung erscheint, einzulassen. Nicht dar­auf kommt es an, daß wir nur immer betonen: Alle Völker sind ge­wissermaßen nur Ausdrücke für das allgemein Menschliche, sondern

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darauf, daß wir gerade die spezifischen Aufgaben, die den einzelnen Völkern durch ihre Volksseelen gegeben sind, erkennen. Und dazu ist ein Anhaltspunkt gegeben in dem Vortragszyklus, der ja schon lange gedruckt ist, der eine Anzahl von Jahren vor dem Ausbruch des Krieges gehalten worden ist, der nicht unter dem Einfluß des Krieges entstanden ist, dem man daher nicht vorwerfen kann, er sei unter den Eindrücken des Krieges entstanden: «Die Mission einzelner Volks-seelen im Zusammenhang mit der nordisch-germanischen Mytholo­gie.»

Gerade in unserer Zeit ist es wichtig, auf solche ernsten Dinge sich zu besinnen, damit der Mensch die Harmonie zwischen dem, was all­gemeine Menschenliebe ist, und der Volksliebe finden kann. Man braucht nicht davor zurückzuscheuen, die Eigentümlichkeiten jedes einzelnen Volkes, insofern es Volk ist - der einzelne erhebt sich ja immer über sein Volk -, die Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker zu charakterisieren. Nur muß es, wie das schon aus den Bemerkungen, die ich machte, hervorgeht, selbstverständlich ohne Haß geschehen. Geradesowenig wie man die wirkliche Wesenheit der einzelnen Pflanze erkennt, wenn man die Pflanze haßt und das schildert, was man als Haß empfindet, ebensowenig kann man die Eigentümlichkeiten eines Volkes erkennen, wenn man das schildert, was man an dem Volke haßt, oder wenn man das in die Schilderung aufnimmt, was aus Gefühlen des Hasses kommt.

Und so muß es immerzu das Bestreben desjenigen sein, der sich bis zu den Gesichtspunkten der Geisteswissenschaft zu erheben vermag, nicht in der einförmigen Einheit das Wesen der Welt zu sehen, son­dern gerade in der Harmonie des Vielen. Und der Mensch muß die Möglichkeit finden, alle mögliche Wärme, hinsichtlich derer er vor keinem, der nicht Geisteswissenschaft erstrebt, zurückzustehen braucht, alle Wärme für sein Volkstum zu empfinden, und das auf der andern Seite zu vereinigen, was uns wiederum, insofern wir der gan­zen Menschheit angehören, mit der ganzen Menschheit als einer gro­ßen, gesamten Wesenheit zusammenbringt.

Wie gesagt, an solche Dinge wollen wir dann übermorgen an­knüpfen. Jetzt aber will ich bemerken, daß wir zugleich, indem wir

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aus unserem Zustand des Wachens in den Schlafzustand übertreten und dadurch in die Wesenheiten der höheren Hierarchien aufgenom­men werden, im Grunde genommen das abstreifen, was uns mit der einzelnen Inkarnation durch unseren physischen Leib und Ätherleib zusammenbringt. Im Schlafe streifen wir also auch unser nationales Wesen ab. Durch den Schlaf werden wir bloß Menschen, Menschen mit all den Eigentümlichkeiten, die wir durch das haben müssen, was wir uns als Menschen erworben haben. Wenn wir als Geistesforscher dasjenige anschauen, was mit dem Menschen, sowohl im Wach- wie im Schlafzustande geschieht, nehmen wir aber zugleich wahr, daß der Mensch, indem er schläft, mit seinem Ich und Astralleib in der geisti­gen Welt lebt, ebenso wie auch sein physischer Leib und Ätherleib nun der großen Welt angehören; daß dieses Eigenleben, das gleichsam in unserer Haut verfließt, aufhört, und daß wir unser Selbst zum großen Selbst erweitern. Und nun bedenken Sie, daß wir im Grunde immer im Laufe von vierundzwanzig Stunden durchmachen einen Sommer-und einen Winterzustand. Diesen Sommer- und Winterzustand macht ja auch die Erde durch, aber die Erde macht ihn im Jahreslauf durch. Warum macht die Erde diese Zustände im Jahreslauf durch? Weil die Erde ein Wesen ist wie wir selbst, nur auf einer andern Stufe der Hierarchien. Die ganze Erde, wenn wir sie so physisch betrachten, wie sie um uns ist, ist nur der Leib der Erde; und so wie wir in uns unser Geistig-Seelisches tragen, so hat auch die Erde ihr Geistig-Seelisches. Der Unterschied ist nur der, daß wir im Laufe von vierundzwanzig Stunden wachen und schlafen, und die Erde wacht und schläft im Laufe des Jahres. Sie wacht vom Herbst bis zum Frühling und schläft während des Sommers. So daß wir eigentlich immer sagen können, wenn wir während des Sommers leben: Wir leben eingebettet in die schlafende Erde. - Und wenn wir während des Winters leben: Wir leben eingebettet in die wachende Erde. - Nicht so ist es, daß die Erde wacht im Sommer und schläft im Winter, wie wir in dem aus dem ge­wöhnlichen Leben genommenen trivialen Vergleich sagen können. Sondern das ist richtig, daß, wenn der Herbst kommt, die Erde als seelisch-geistiges Wesen aufwacht und in der Mitte des Winters am wachsten ist. Der Erdgeist denkt am allermeisten in der Mitte des Winters

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und er iängt an, sein Denken allmählich einzustellen beim Heran-nahen des Frühlings; und er schläft, wenn das äußere Leben sprießt und sproßt; während des Sommers schläft der Erdgeist.

Wir als Menschen sind aber nicht nur durch unseren physischen Leib mit dem Leibe der Erde in Verbindung, sondern auch mit dem Geist der Erde. Nun wissen wir durch die verschiedenen Vorträge, daß mit dem Geist der Erde sich vereinigt hat durch das Mysterium von Golgatha der Geist, den wir als den Geist des Christus bezeichnen. In dem, was der Geist der Erde ist, lebt seit dem Mysterium von Gol­gatha der Christus-Geist darin. Wenn die Menschen daher ein Fest be­gehen wollen, das ihnen ausdrücken soll, daß im Erdgeist der Christus-Geist darinnen ist - in welche Zeit müssen sie dann dieses Fest ver­setzen? Nicht in den Sommer, sondern in den Winter hinein müssen sie das Fest versetzen, mitten in den Winter hinein. Das ist das Weih­nachtsfest. Aus diesem Grunde versetzt man das Weihnachtsfest und das, was sich daraus entwickelt, in die Winterzeit hinein. Das ging aus einer richtigen Erkenntnis derjenigen hervor, welche die Einrichtung des christlichen Jahres einmal bestellt haben. Aus den okkulten Wahr­heiten heraus ist das Weihnachtsfest festgelegt worden, nicht aus histo­rischen Tatsachen heraus. Weil in der Tat für das, was jetzt die Menschheit ist, der Mensch, indem er mit seinem Geistig-Seelischen in das Geistig-Seelische der Erde eingebettet ist, mit dem wachsten Zustand des Erdenseins zusammen ist in der Winterzeit. Da lebt er in der wachenden Erde.

Und was werden die alten Völker getan haben, von denen wir wis­sen, daß sie auf eine Art traumhaften Hellsehens ihren Dienst der Welt und ihre Erkenntnis der Welt aufgebaut haben? Nun, sie müssen vor­zugsweise sich berufen haben auf das, was im schlafenden Etdgeist lebt, wenn der Erdgeist am meisten schläft, sich am meisten in seinen schlafenden Zustand zurückgezogen hat. Da müssen sie sich erhoben haben - im Gegensatz zu der neueren Menschheit - zu dem, was ihnen auf unbewußte Art einflößte die Wahrheit, wie sie für sie sein mußte. Mitten im Sommer finden wir daher bei den Völkern, die dem Kultus angehört haben, der aus dem mehr schlafenden, traumhaften Zustand heraus seine Erkenntnis schöpfte, das J ohannisfest, die Johannisfrier,

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das Sommerfest im Gegensatz zu dem Weihnachtsfest, das der neueren Menschheit geziemt.

Was so äußerlich festgesetzt ist, und was unsere materialistische Zeit gar nicht mehr versteht, das hat wirklich seine tiefen Grundiagen in dem, was geistige Wirklichkeit ist. Und jetzt leben wir in einer Zeit, in der die Menschen wiederum anfangen müssen, in einer ganz andern Weise zu denken und zu fühlen und zu empfinden, wie es im abgelau­fenen Zeitraum der Fall war. Der abgelaufene Zeitraum hat die Auf­gabe gehabt, den Menschen das Reich des materialistischen Denkens und Empfindens nahezubringen. Und gerade die letzten Jahrhunderte, welche die Menschenseelen durchgelebt haben, sollten den Menschen nahebringen das materialistische Denken und Empfinden. Es ist ein­mal so, daß die Erdenentwickelung durchgehen mußte durch den materialistischen Zeitraum. Wir tun nicht gut, wenn wir für den Mate­rialismus bloß eine herbe Kritik haben. Er mußte einmal in die Erden-entwickelung hereintreten. Aber jetzt leben wir in einer Zeit, wo der Materialismus wieder überwunden werden muß, wo wieder spirituelles Anschauen in die Menschenseelen hereinkommen muß. Und das ist die mehr oder weniger helle oder dunkle Empfindung aller derer, die sich in ihrer eigenen Seele hingezogen fühlen zu unseren geistes-wissenschaftlichen Bestrebungen, zu unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung; daß sie eben empfinden, jetzt ist die Zeit da, wo man, während früher traumhaft die geistige Welt geschaut werden mußte, bewußt diese geistige Welt in sich aufnehmen muß. Und dazu ist Geisteswissenschaft da.

Nun war also der abgelaufene Zeitraum der des Materialismus. Und weil gewissermaßen die Menschheit untertauchen mußte in den Mate­rialismus, mußte der starke Impuls, der die Menschheit wieder hinauf-führt, gerade durch die Zeit des Materialismus hindurch wirken. Das ist der Christus-Impuls. Und als der Christus-Impuls in die Erden-entwickelung hereintrat, da begann auch schon die Vorbereitung. Sie kam erst recht herein im 14., 15. Jahrhundert. Aber als er herankam, da bereitete sich schon vor, daß die Menschheit in den Materialismus untertauchte. Der Christus-Impuls war da als eine objektive Tatsache in der Weltenentwickelung, aber geeignet, ihn zu verstehen, waren die

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Menschen gerade in der Zeit, wo er da war, am wenigsten. Jetzt leben wir in der Zeit, wo angefangen werden soll, das, was da war, auch wirklich zu verstehen.

Was sehen wir daher? Wir sehen in der bisherigen Entwickelung einen merkwürdigen Gang des Christus-Impulses. Wir sehen, daß die­ser Christus-Impuls, als er durch das Mysterium von Golgatha in die Menschheitsentwickelung eingezogen ist, ganz und gar nicht ver­standen wird von den Menschen. Denn versuchen wir einmal, uns ein Bild von dem zu machen, was die Leute in ihrer Gescheitheit taten. Gerade in den ersten und den folgenden Jahrhunderten, nachdem der Christus-Impuls eingezogen ist, finden wir, daß sich alle möglichen theologischen Systeme bilden, daß die Leute darüber streiten, wie sie sich die Dreieinigkeit zu denken haben und so weiter. Ein unendliches theologisches Gezänk sehen wir durch Jahrhunderte hindurch, und es wäre wohl der schlimmste Weg, heute etwa aus diesem theologi­schen Gezänk heraus verstehen zu wollen, wie der Christus-Impuls gewirkt hat in diesen Jahrhunderten. Und die Leute, die sich da über sein Verständnis zankten, haben auch nichts verstanden von der Art, wie der Christus-Impuls in der Evolution darinsteht.

Versuchen wir uns einmal klarzumachen, wie er wirklich gewirkt hat. Ich will dazu einzelne Tatsachen anführen. Nehmen wir das, was geschehen ist im 4. Jahrhundert, im Jahre 312, am 28. Oktober, und wodurch die spätere Landkarte Europas vollständig bestimmt worden ist: das war das, daß Konstantin, der ja «der Große» genannt worden ist, der Sohn des Constantius Cbiorus, gegen Maxentius, den Herr­scher von Rom, gezogen war und den Sieg über ihn erfochten hat, wodurch dann in einer äußerlichen Weise das Christentum in der west­lichen Welt auch gesiegt hat. Konstantin hat das Christentum dann zur Staatsreligion erhoben und so weiter. Aber hat er das aus seiner Gescheitheit heraus getan? Ist das, was dazumal geschah, aus der Ge­scheitheit geschehen? Das können wir nicht sagen. Was ist denn eigentlich geschehen? Als Maxentius, der Beherrscher von Rom, er­fahren hatte, daß Konstantin im Anzuge war, frug er zunächst die Sibyllinischen Bücher. Er ging also auf eine traumhafte Art daran, die Welterscheinungen verstehen zu wollen. Und was er aus diesen

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Büchern herausbekam, das war, daß ihm bedeutet wurde: Die richtige Tat werde der vollbringen, welcher als Beherrscher Roms die Stadt verläßt und die Schlacht außerhalb Roms schlägt. Das war so ziemlich das Ungewöhnlichste, was man hat denken können. Denn Konstantin hatte ein viel kleineres Heer als Maxentius und hätte ohne Zweifel nichts ausrichten können, wenn Maxentius in Rom geblieben wäre. Aber Maxentius ist auf den Rat der Sibyillnischen Bücher aus Rom hinausgezogen. Doch auch im Heere des Konstantin haben nicht die Feldherren gesiegt. Vielmehr hatte Konstantin einen Traum, in dem ihm das Symbolum des Christus erscbienen ist. Auf diesen Traum hin ließ er dann seinen Heeren das Kreuz als das Symbolum des Christus vorantragen. Was ihm der Traum offenbarte, davon hat er sein Ver­halten abhängig gemacht. Diese Schlacht, durch die damals die Land­karte Europas bestimmt wurde, hat nicht die Gescheitheit der Men­schen entschieden, nicht die Feldherren haben sie geschiagen, sondern Träume und Weissagungen. Alles in Europa wäre anders geworden, wenn dazumal die Dinge nach dem Bewußtsein der Menschen vor sich gegangen wären und nicht nach dem, was aus dem Unterbewuß­ten heraufgewirkt hat, was die Menschen eben nicht wußten.

Die Theologen haben sich darüber gestritten, was der Christus ist, ob er in Ewigkeit mit dem Vater geboren, ob er in der Zeit geboren, ob er gleichwert mit dem Vater sei und so weiter. Was sie mit den Gedanken durchdrangen, in dem war nichts enthalten von dem Christus-Impuls. Aber er wirkte innerhalb der Menschen im Unter­bewußten. Er wirkte nicht durch die Iche, sondern durch die Astral-leiber wirkte er. Realität, Wirklichkeit war der Christus-Impuls, und er wirkte, ohne daß ihn die Menschen zu verstehen brauchten. Das ist das Wichtige, das Wesentliche. Die Art und Weise, wie der Christus gewirkt hat, ist so unabhängig von dem, was die Menschen von ihm verstanden haben, wie der Verlauf eines Gewitters unabhängig ist von dem, was die Menschen an der Elektrisiermaschine oder sonst im physikalischen Laboratorium gelernt haben. Jetzt ist die Zeit, sich bewußt in die Wirksamkeit des Christus-Impulses hineinzuversenken. Aber in dem, was geschichtlich geschehen ist, wirkte der Christus als Kraft immer darin.

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Gehen wir von diesem zu einem andern Beispiel in späterer Zeit über. Da müssen wir uns allerdings desjenigen erinnern, was ich Ihnen auseinandergesetzt habe. Für die Zeit, in welcher der Materialismus heraufgezogen ist, ist es wichtig zu wissen, daß der Mensch, indem er sich in die geistige Welt versenken will, das am besten in der Winter-zeit tun muß. Daher kommt für diese Zeit überall die Anschauung auf, daß in den bezeichneten Nächten der Wintermitte besonders begabte Naturen begnadet werden mit Inspirationen aus der geistigen Welt. Es gibt überall bei den Völkern Legenden und Sagen, die uns erzählen, wie besonders begabte Naturen, die keine Initiation durchmachen, sondern durch ihre Natur selbst, durch in ihnen wirkende elementare Kräfte begnadet sind, inspiriert zu werden, wie diese inspiriert werden in den Nächten vom Weihnachtsabend ab bis zum Dreikönigstag, in den dreizehn Winternächten. Es gibt eine sehr schöne Legende, die in Norwegen vor nicht langer Zeit gefunden worden ist, die Legende von Olaf Asteson, der mit dem Weihnachtsabend an die Kirche heran­geht und zu schlafen beginnt. Er schläft bis zum 6. Januar; und als er aufwacht, weiß er in Imaginationen von dem zu erzählen, was sich im Seelenland, im Geisterland, wie wir es nennen, zugetragen hat. Er drückt es in Bildern aus, aber er hat es durchlebt in diesen dreizehn Nächten. Und solche Legenden finden sich überall. Sie sind eben nicht das, was man heute Legenden nennt. Es hat in der Tat immer begnadete Menschen gegeben, die gewissermaßen eine Naturinitiation durchgemacht haben durch in ihnen wirkende elementare Kräfte, die der Mensch, wenn er getreulich die Vorschriften des Initiationsweges befolgt, durch seinen Willen durchmachen kann. So daß wir sagen können: In der Zeit des Materialismus konnte es immer Menschen geben, welche dann, wenn der Geist der Erde am wachsten ist, in der Mitte des Winters, sich vereinigen konnten mit dem Geist der Erde und Inspirationen empfangen. Das war auch die Zeit, wo nicht durch das Bewußtsein hereinwirken konnte der Christus-Impuls, der sich mit der Erde verbunden hat. Denken wir uns besonders begnadete Seelen, die empfänglich sind für die geistige Welt. Für sie mußte sich heraus­stellen, daß sie die Antriebe zu dem, was sie aus der geistigen Welt heraus zu vollbringen haben, gerade bekommen werden in diesen

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dreizehn Nächten bis zum 6. Januar. Das mußte sich zeigen und zeigte sich auch immer wiederum in kleinen und großen Beispielen, daß es im geschichtlichen Verlauf Menschen gab, welche spirituell so ver­anlagt waren, daß, wenn der rechte Zeitpunkt für sie eintrat, wo sie in einem Winter jene dreizehn Nächte durchlebten, der geistige Impuls -und in dieser Zeit besonders der Christus-Impuls - in sie hereinkam. Naturirütiationen, Initiationen, die also nicht durch menschliche Be­wußtseinsarbeit sich vollzogen, werden sich in der Zeit des Materia­lismus immer am leichtesten vollzogen haben in diesen dreizehn Näch­ten. Und wir können erfahren, daß, wo solche Initiationen auftraten, sie sich in diesen dreizehn Nächten vollzogen haben.

Und nun haben wir eine Tatsache, die selbst jene, die nur ein wenig guten Willen haben, die geistige Welt anzuerkennen - die wenigsten Menschen haben das heute -, anerkennen werden, daß im 15. Jahr­hundert durch eine Jungfrau, die Jungfrau von Orleans, nachweislich in den Gescbichtsverlauf spirituelle Mächte eingetreten sind. Das kann man auch gescbichtlich nachweisen, daß wiederum die ganze Land­karte Europas anders gestaltet worden ist dadurch, daß die Jungfrau von Orleans damals den Franzosen gegen die Engländer geholfen hat. Und wer nachdenkt, kann herausbringen, daß alies sich anders ge­staltet hätte nach dem, was die Menschen können, wenn nicht das Hirtenmädchen eingegriffen hätte - und in diesem Hirtenmädchen eben die Kräfte aus der spirituellen Welt. Was dazumal bewirkt wurde, dazu war die Jungfrau von Orleans bloß das Instrument. Was in sie hereingewirkt hat, war der Christus-Impuls.

Dazu hätte sie aber eine Naturinitiation haben müssen - und diese Naturinjtiation würde am besten auszuführen gewesen sein in den dreizehn Nächten bis zum 6. Januar. Es hätte also die Jungfrau von Orleans einmal in eine Art von Schlafzustand kommen müssen in der Zeit vom 24. Dezember bis zum 6. Januar, wo sie besonders auf­nahmefäbig gewesen wäre für den spirituellen Eir:'iuß, der gerade in dieser Zeit da sein kann. So daß vorauszusetzen wäre, daß die Jung­frau von Orleans in einem nicht vollbewußten Zustande die Zeit vom 24. Dezember bis zum 6. Januar erlebt haben würde - und dabei den Christus-Impuls bekommen hätte. - Ja, die Jungfrau von Orleans hat

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in einer ganz eklatanten Weise diesen Zustand durchgemacht! Man kann ihn nicht eklatanter durchmachen, als wenn man noch in jenem Schlafzustande ist, in dem man vor seiner Geburt ist, in den letzten Zeiten, die man als Kind vor der Geburt im Leibe der Mutter zu­bringt. Da ist das äußere Bewußtsein selbstverständlich nicht fäbig, irgend etwas aufzunehmen. Es ist ein Schlafzustand da, und wenn es das Ende der Zeit im Mutterleibe ist, dann ist es der reifste Zustand des innermütterlichen Schlafes. Und die Jungfrau von Orleans ist in der Tat am 6. Januar geboren. Das ist das große Geheimnis der Jung­frau von Orleans, daß sie in den dreizehn Tagen, die ihrer Geburt vorangingen, einen Natur-Initiationszustand durchgemacht hat. Da­her war es, daß besonders sensitive Menschen an jenem 6. Januar, als die Jungfrau von Orleans geboren wurde, in dem Dorfe zusammen-liefen und sagten, es müsse etwas ganz Besonderes geschehen sein. Sie fühlten, daß etwas Besonderes in das Dorf gekommen war. Die Jung­frau von Orleans war geboren. Und sie hat durchgemacht eine Natur­initiation in jenem für sie bedeutenden Schlafzustand, den sie im Leibe der Mutter in der letzten Zeit vor der Geburt durchmachte. Da sehen wir, wie immer hinter der Schwelle dessen, was sich für das mensch­liche Bewußtsein vollzieht, wirklich die geistigen Wesenheiten, die unter dieser Schwelle des Bewußtseins sind, wirken.

Da sehen wir, was eine Geschichte bedeuten kann, die nur mit dem rechnet, was in Dokumenten und äußeren Mitteilungen gegeben ist. Die Götter gehen anders durch den Lauf der Geschichte. Die Götter wirken durch andere Mittel und auf andern Wegen. Sie stellen eine Jungfrau von Orleans in das Dasein herein, die durch ihr besonderes Karma für die Inkarnation geeignet ist, den Christus-Impuls auf-zunehmen und mit ihm zu wirken. Und sie lassen diesen Christus-Impuls einfließen in der geeigneten Zeit. Natürlich war beides dazu geeignet: Es mußte das besondere individuelle Karma gerade der Jungfrau von Orleans dazukommen. Nicht jedes Kind, das am 6. Januar geboren ist, könnte das gleiche vollbringen.

So können wir wirklich sagen: Der Christus-Impuls hat in den Men­schen gewirkt durch diejenigen Kräfte, die diesen Menschen nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Erst heute leben wir in der Zeit, in der

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wir bewußt aufnehmen müssen dasjenige, was durch Jahrhunderte hin­durch einen andern als den bewußten Weg in die geschichtliche Wirk­samkeit hinein suchte.

Ein Gefühl wollte ich in Ihren Seelen hervorrufen davon, wie im Konkreten die unterbewußten Mächte wirken. Wie dasjenige, was äußere Geschichte ist und studiert werden kann nach Dokumenten und äußeren Urkunden, eine Äußerlichkeit ist. Es ist gut, wenn man insbesondere in unserer Zeit ein solches Studium anstellt. Sehen wir doch gerade in unserer Zeit, wie sich auf der einen Seite abspielt ein Großes, ein Gewaltiges, ein Heldenhaftes, gepaart mit Opfertaten. Aber wir sehen das Große, das sich in unserer Zeit vollzieht, wirklich begleitet von der Konsequenz des äußersten Materialismus, von jener Konsequenz, welche alles, was sich in unserer Zeit vollzieht, aus bloßen äußeren Umständen zu erklären sucht. Das kommt ja dadurch zum Ausdruck, daß ein Volk dem andern Volk zuschiebt die Schuld an den jetzigen Ereignissen und so äußerlich alles dadurch beurteilen möchte, daß man beim andern die Schuld findet für das, was sich voll­zieht. Auch für unsere Zeit liegen tief unten in den unterbewußten Ereignissen die Gründe und Ursachen für das, was geschieht. Davon wollen wir dann übermorgen sprechen.

Geeignet wird gerade unsere Zeit sein - auch durch das, was sich so blutig vollzieht -, den Menschen die Mahnung zu geben nach spirituellen Impulsen des Erkennens hin. Wenn einmal wiederum Friede sich über die heute kriegführenden Länder hinziehen wird, wird man eine Entdeckung machen: die Entdeckung, daß man aus äußeren Ursachen so gewaltige Kriege der Weltgeschichte nicht er­klären kann! Man wird es entdecken, daß man sie nicht erklären kann. Heute sagen noch die Leute, besonders die Gescheiten: Es ist nicht angemessen, über alles zu sprechen, was diesen Krieg verursacht hat, darüber wird die Geschichte sprechen! - Und die dünken sich be­sonders klug, die da sagen: Erst in fünfzig, in hundert Jahren wird die Geschichte das Richtige darüber sprechen!

Was man heute Geschichte nennt, wird niemals die Ursachen der heutigen Ereignisse erklären; aber ersehen wird man, daß aus der geschichtlichen Betrachtung die Ursachen nicht ergründet werden

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können. Aber andere Hilfen werden da sein. Das zeigt gerade eine okkulte Beobachtung unserer Gegenwart.

Was ist denn eine der auffärngsten Tatsachen in dieser schicksal­tragenden Zeit? Oh, eine der auffälligsten Tatsachen ist ohne Zweifel diese, daß so unzählige Menschen in jugendlichen Jahren durch die Pforte des Todes gehen. Wir wissen, was mit dem Menschen ge­schieht, wenn er durch die Pforte des Todes geht. Wir wissen, daß er zunächst aus dem physischen Leib heraustritt mit Ätherleib, Astral­leib und Ich und daß er nach verhältnismäßig kurzer Zeit diesen Ätherleib abstreift und mit dem Extrakt daraus seine weitere Wande­rung durchmacht. Aber können Sie sich nicht denken, daß ein Unter­schied sein muß zwischen einem Ätherleib, der abgestreift wird zwi­schen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr, der noch die Funktionen des Menschenlebens hätte versorgen können durch Jahr­zehnte hindurch, und einem Ätherleib, der da abgestreift wird im späteren Alter? Ja, da ist ein großer Unterschied. Wenn ein Mensch durch Alter oder durch Krankheit stirbt, so hat der Ätherleib seine Aufgabe erfüllt. Aber bei einem jungen Menschen, deren ja Unzählige jetzt durch die Pforte des Todes gehen, hat der Ätherleib noch nicht alles erfüllen können, was er erfüllen könnte.

Nun möchte ich Ihnen an einem konkreten Beispiel zeigen, wie es mit solchen Ätherleibern ist, die gleichsam gewaltsam weggerissen werden von dem physischen Leibe. Man könnte natürlich viele Bei­spiele anführen. Aber ich will Ihnen heute ein Beispiel anführen, das wir selbst im Herbst erlebt haben in Dornach. An der Stätte des Baues haben wir das erlebt. Eine Familie, die in der Nähe des Baues wohnt, hatte ein Söhnchen von sieben Jahren - eine Familie, die zu unserem anthroposophischen Kreise gehört. Es war ein lieber Junge von sieben Jahren, wirklich ein ganz wunderbarer Junge. Er war so brav, daß, als sein Vater in den Krieg gezogen war, der kleine siebenjährige Theo zu seiner Mutter sagte: Jetzt muß ich besonders fleißig sein, denn ich muß dir noch da helfen, wo dir der Vater geholfen hat! -Eines Abends nach einem Vortrag kam eine unserem Kreise an­gehörige Persönlichkeit und erklärte, daß dieser kleine Theo seit dem Abend verschwunden sei. Man konnte sich nichts anderes denken, als

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daß er verunglückt sei. Nun war an jenem Abend durch das, was man im äußeren Leben Zufall nennt, ein Möbeiwagen an einer Stelle ge­fahren, wo jahrelang gewiß keiner gefahren ist, und seither auch keiner wieder. An der Stelle war der Wagen umgekippt. Der kleine Theo war in jenem Häuschen gewesen, das man die Kantine nennt, weil dort unsere Freunde, die am Bau arbeiten, mit Essen versorgt werden. Merkwürdigerweise - er wäre früher weggegangen - wurde er von irgend jemand zurückgehalten, und während er durch eine Tür hinaus­gehen wollte, durch die er auf einen bestimmten Weg gekommen wäre, mußte er diesmal durch eine andere Türe gehen, und er ging dadurch an dem Möbelwagen vorüber, gerade als der Möbelwagen umfiel. Der Wagen fiel über ihn. Es ist das eines jener Beispiele, wo wir so klar sehen, wie das Karma wirkt.

Ich habe oftmals den einfachen Vergleich gebraucht, um zu zeigen, wie oft Ursache und Wirkung gänzlich verwechselt werden: Wir sehen einen Menschen an einem Fluß entlanggehen. Plötzlich sehen wir, wie der Mensch in den Fluß bineinfällt. Wir gehen hin und finden an der Stelle, wo der Mensch hereingefallen ist, einen Stein liegen. Der Mensch wird aus dem Wasser gezogen. Er ist schon tot. Wenn man die Sache nicht weiter untersucht, so wird man mit dem besten äußeren Gewissen die Sache so erzählen: Der Mann ist über den Stein gefallen, in den Fluß hinein, und ist ertrunken. - Man hätte nur zu untersuchen brauchen, und man hätte gefunden, daß der Tod nicht eingetreten ist, weil der Mensch ins Wasser fiel, sondern der Mensch ist ins Wasser gefallen, weil er tot war; er hatte einen Schlag bekommen. Die Sache ist also umgekehrt, als man sich denken muß. So sieht man, wie man im Leben leicht überall Ursache und Wirkung verwechselt. In der ge­wöhnlichen Wissenschaft geschieht das allerdings überall, daß Ur­sachen und Wirkungen verwechselt werden.

Hier ist es nun natürlich auch so, daß das gerade dieser Theo es bewirkt hat: er war die Ursache, daß der Wagen zu dieser Zeit vorbei-fuhr, er hat ihn auf sich gelenkt. Das muß man sich als das eigentliche Geheimnis der Sache vor Augen halten. Aber nun das Weitere: Ein wirklich in der allerersten Blüte des Lebens verunglücktes Menschen kind! Ja, wenn man verquickt ist mit seinem Herzen mit der ganzen

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Bauarbeit in Dornach und zu gleicher Zeit die Möglichkeit hat, dies zu beobachten, was in diesen Bau hereinwirkt, dann kann man sagen: Dieser Ätherleib, der auf diese Weise gewaltsam von dem kleinen Theo getrennt worden ist, der ist jetzt in der Atmosphäre des Baues, und die schönsten Inspirationskräfte zu dem, was dort geschaffen wird, gewinnt man dadurch, daß man seine eigene Seele verelnigt mit dem, was vergrößert, wie zu einer kleinen Welt ausgedehnt, in der Atmosphäre des Baues lebt. Und niemals werde ich anstehen, rück­haltlos zu bekennen, daß ich vieles, was ich zu unserem Bau in jener Zeit finden konnte, der Hinlenkung der eigenen Seele nach dem in der Atmosphäre des Baues wirksamen Ätherleib des kleinen Theo zu ver­danken habe. So sind eben die Zusammenhänge in der Welt. Das­jenige, was die eigentliche Individualität dieses Menschenwesens ist, geht weiter, aber zurück bleibt der Ätherleib, der noch viele Jahr­zehnte ein menschliches Leben hätte versorgen können.

Nun denken Sie sich die Anzahl der unverbrauchten Ätherleiber, die da schweben in der geistigen Atmosphäre über uns und über den­jenigen, die auch nach uns leben werden! Jene Ätherleiber, die zurück­geblieben sind von denen, die durch unsere schicksaltragende Zeit in frühem Lebensalter durch die Pforte des Todes gegangen sind. Wir sprechen da nicht von dem Wege, den die Individualitäten durch­machen, sondern wir sprechen davon, daß durch diese zurückgebliebe­nen Ätherleiber eine eigene geistige Atmosphäre geschaffen wird. Die Menschen, die da leben werden, sie werden in dieser Atmosphäte leben. Sie werden eingetaucht sein in eine geistige Atmosphäre, die er­füllt sein wird von diesen Ätherleibern, die ihr Leben bingeopfert haben dadurch, daß in unserer Zeit gerade die Menschheit vorwärts­kommen kann durch diese Ereignisse. Aber notwendig wird sein, daß man verspüre dasjenige, was diese Ätherleiber wollen, welche die besten Inspiratoren der zukünftigen Menschheit sein werden. Es wird eine schöne Zeit des Spiritualismus erwachen können, wenn die Men­schen Verständnis, inneres Herzensverständnis entgegenbringen dem, was ihnen diese Ätherleiber werden sagen wollen. Alle diese Ätherleiber, sie werden Helfer sein zum spirituellen Aufschwung der Zu­kunft. Deshalb ist es so wichtig, daß es Seelen gibt, die in der Lage

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sein werden, dasjenige zu fühlen, was in die Atmosphäre der Zukunft hineinkommt durch diese Ätherleiber.

Nicht dadurch lernen Sie nur etwas über die Natur der Ätherleiber, daß Sie erzählen können: Der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralieib und Ich, sondern daß Sie auch ein solches Ge­heimnis der wirksamen Geistigkeit der Ätherleiber wissen, wie es in der Zukunft da sein wird.

Vorzubereiten werden sich diejenigen haben, die jetzt schon eine Hinneigung haben zum Bekenntnis der Geisteswissenschaft, für die Empfänglichkeit dessen, was diese Ätherleiber sagen wollen. Lenken wir daher unsere Seelen der geistigen Welt zu, so werden wir uns und diejenigen, die nach uns kommen werden, vorbereiten, das zu emp­finden, was die Vermächtnisse, die ätherischen Vermächtnisse der Toten von der Menschheit der Zukunft wollen. Wenn Menschen­seelen durch die Geisteswissenschaft so angeregt sein werden, daß sie binlenken können ihren geistigen Sinn in die geistigen Welten, dann wird sicher Großes und Gewaltiges als Wirkung aus dem Blut und aus dem Mut und aus den Leiden und aus den Opfern hervorsprießen. Daher möchte ich am Schlusse unserer heutigen Betrachtung in einige Worte zusammenfassen dasjenige, was uns jetzt beseelen, beleben kann, wenn wir als geisteswissenschaftliche Bekenner unseren Sinn binlenken auf die großen, scbicksaltragenden Ereignisse unserer Zeit.

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DER KRIEG, EIN KRANKHEITSPROZESS - MITTELEUROPA UND DER SLAWISCHE OSTEN - DIE TOTEN ALS HELFER DES MENSCHHEITSFORTSCHRITTES Wien, 9. Mai 1915

Nicht nur darf unsere geisteswissenschaftliche Weltanschauung sich wenden an die Entwickelung und das Emporkommen der einzelnen Seelen, sondern sie muß auch vor allen Dingen wirklich uns helfen, weitere Gesichtspunkte zu gewinnen für die Anschauung des Lebens. Und in unserer Zeit muß es uns ganz besonders nahegehen, solche weiteren Gesichtspunkte für die Beurteilung des Lebens zu gewinnen. Gewiß, es ist eine große und auch bedeutungsvolle Aufgabe für den einzelnen Menschen, durch dasjenige, was er als die Frucht der gei­steswissenschaftlichen Selbsterziehung gewinnen kann, sich selbst weiterzubringen. Und nur dadurch, daß sich die einzelnen Menschen wirklich weiterbringen, können sie mitarbeiten an der Entwickelung der Menschheit überhaupt. Aber nicht allein darauf soll unser Augen­merk gerichtet sein, sondern wir sollen wirklich als Bekenner der anthroposophischen Weltanschauung auch die großen Ereignisse der Zeit von einem hohen Gesichtspunkte, einem wirklich geistigen Ge­sichtspunkte aus empfinden können. Wir sollen uns wirklich auf einen höheren Standpunkt versetzen können bei der Beurteilung dessen, was geschieht. Und einige Gesichtspunkte gerade mit Bezug auf die großen Ereignisse unserer Zeit mögen heute angegeben sein, weil unsere gegenwärtige Zusammenkunft in dieser schicksaltragenden Zeit liegt.

Gehen wir von etwas aus, was uns als Menschen naheliegen kann. Menschen werden zu gewissen Zeiten von Krankheiten befallen. Krankheiten betrachtet man gewöhnlich als dasjenige, was unseren Organismus schädigt, was wie ein Feind in unseren Organismus ein­dringt. Nun ist ein solcher allgemeiner Gesichtspunkt keineswegs immer gerechtfertigt. Gewiß, es gibt Krankheitserscheinungen, die von diesem Gesichtspunkte aus beurteilt werden müssen, wo gewisser­maßen die Krankheit wie ein Feind hereindringt in unseren Organismus.

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Aber nicht immer ist es so. Es ist sogar nicht einmal in den meisten Fällen so, sondern die Krankheit ist in den meisten Fällen ganz etwas anderes. Die Krankheit ist in den meisten Fällen nicht der Feind, sondern gerade der Freund des Organismus. Dasjenige, was der Feind des Organismus ist, geht in den meisten Fällen der Krankheit voran, entwickelt sich im Menschen, bevor die äußerlich sichtbare Krankheit zum Ausbruch gekommen ist. Da sind einander wider­strebende Kräfte im Organismus darin, und die Krankheit, die zu irgendeiner Zeit ausbricht, ist der Versuch des Organismus, sich zu retten vor den einander widerstrebenden Kräften, die vorher nicht bemerkt worden sind. Die Krankheit ist oftmals der Beginn in der Arbeit des Organismus, die Heilung gerade herbeizuführen. Die Krankheit ist das, was der Organismus unternimmt, um die feind­lichen Einilüsse, die der Krankheit vorangehen, zu bekämpfen. Die Krankheit ist die letzte Form des Prozesses, aber sie bedeutet den Kampf der guten Säfte des Organismus gegenüber demjenigen, was da unten lauert. Sie ist da, um das herauszutreiben aus dem Menschen, was da unten lauert. Nur dann, wenn wir die weitaus größte Anzahi der Krankheiten so ansehen, dann kommen wir zu einem richtigen Auffassen des Krankheitsprozesses. Es deutet also die Krankheit darauf hin, daß etwas vorgegangen ist vor dem Ausbruch der Krank­heit, das gerade durch die Krankheit aus dem Organismus heraus­kommen soll. Wenn manche Erscheinungen des Lebens im richtigen Lichte gesehen werden, dann kommt man ganz leicht auf das, was eben gesagt worden ist. Die Ursachen können auf den verschieden­sten Gebieten liegen. Worauf es ankommt, das ist das, was ich eben angedeutet habe: daß wir die Krankheiten ansehen als etwas, was ein Sich zur Wehr Setzen des Organismus ist gegen die Dinge, die aus­getrieben werden sollen.

Nun glaube ich nicht, daß es einen Vergleich gibt, der wirklich so zutreffend sein kann als der Vergleich einer solchen Summe von be­deutsamen, tief eingreifenden Ereignissen, wie wir sie jetzt seit dem Beginn des August 1914 über einen großen Teil der Erde hin erleben, mit einem Krankheitsprozeß des Menschenwerdens. Gerade das muß uns auffallen, daß diese kriegerischen Ereignisse wirklich ein Krankheitsprozeß

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sind. Aber falsch wäre es, zu glauben, daß wir damit fertig werden, wenn wir einfach diesen Krankheitsprozeß in dem un­tichtigen Sinne auffassen würden, wie eben mancher Krankheits­prozeß aufgefaßt wird: als wenn er der Feind des Organismus wäre. Was als Ursache vorliegt, geht voraus dem Krankheitsprozeß. Nun kann uns gerade in unserer Zeit ganz besonders auffallen, wie wenig die Menschen in der Gegenwart geneigt sind, solche Wahrheiten zu berücksichtigen, die sich demjenigen unmittelbar als einleuchtend erweisen müssen, der geisteswissenschaftliche Weltanschauung nicht bloß in den Verstand, sondern auch in die Empfindung aufnimmt.

Wir haben ja vieles unendlich Schmerzliche erfahren müssen ge­rade im Laufe der letzten, sagen wir, neun Monate - Sclunerzliches erfahren müssen mit Bezug auf die Urteilsfähigkeit der Menschen. Ist es denn nicht eigentlich so, wenn man das, was schließlich doch durch die Literatur, die am meisten gelesen und von den verschiedensten Ländern der Erde verbreitet wird, liest, ist es denn nicht so, als wenn die Menschen, die urteilen über die heutigen Ereignisse, annehmen würden, daß im Juli 1914 eigentlich die Geschichte ihren Anfang ge­nommen hat? Das war die traurigste Erfahrung, die wir neben allem andern Schmerzlichen haben mitmachen müssen, daß sich gezeigt hat, wie gerade die tonangehenden oder vielmehr artikelangebenden Menschen, die die öffentliche Meinung machen, im Grunde nichts von dem Werden der Ereignisse wissen und nur auf das Allernächste hin-schauen. Daher sind die unendlichen Diskussionen, diese ganz hin-fälligen Diskussionen entstanden. Wo liegt die Ursache zu den gegen­wärtigen kriegerischen Koniiikten? Immer wieder und wiederum hat man gefragt: Hat der die Schuld? Hat jener die Schuld? - und so wei­ter. Immer ist man kaum weiter zurückgegangen als bis zum Juli, höchstens Juni 1914. Ich erwähne das aus dem Grunde, weil ja das, was ich sage, wirklich ein Charakteristikum unserer materialistischen Zeit ist. Man glaubt gewöhnlich, der Materialismus bringe nur mate­rialistische Denkweise, materialistische Weltanschauung zustande. Das ist nicht so. Der Materialismus bringt nicht nur diese zustande, sondern er bringt auch Kurzsichtigkeit zustande; der Materialismus bringt Denkfaulheit, bringt Einsichtslosigkeit zustande. Dasjenige, was

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materialistische Denkweise ist, führt dazu, daß man zum Schiusse alles beweisen und alles glauben kann. Und es gehört wirklich zu jener Selbsterziehung, die uns wahrhaft richtig gemeinte Anthroposophie geben muß, daß wir das einsehen, daß man, wenn man bloß auf dem Gebiete des Materialismus stehenbleibt, alles beweisen und alles glauben kann.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Wenn man in den letzten Jahren da oder dort die geisteswissenschaftliche Weltanschauung vorge­bracht hat und der oder jener glaubte, gegenüber der geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung seine Ansicht geltend machen zu müs­sen, konnte man oftmals hören: Ja, Kant hat doch schon durch seine Phliosophie bewiesen, daß der Mensch Grenzen des Erkennens habe, und daß man da nicht hinkommen kann, wo die geisteswissenschaft­liche Weltanschauung hinkommen will im Erkennen. - Dann wurden angeführt die gewiß sehr interessanten Sachen, wodurch Kant be­wiesen haben soll, daß man nicht in die geistige Welt hineindringen könne mit dem menschlichen Erkennen. Wenn man nun dennoch Geisteswissenschaft vertrat, dann kamen die Menschen und glaubten:

Der leugnet ja alles, was Kant bewiesen hat! Und selbstverständlich steckte darin so etwas von der Behauptung: das müsse also ein be­sonders törichter Mensch sein, denn er leugne ja das streng Bewiesene.

So ist es gar nicht. Der Geisteswissenschafter leugnet gar nicht, daß das absolut richtig ist, was Kant bewiesen hat, sondern es ist klar, daß das ganz gut bewiesen ist. Aber nehmen Sie einmal an, irgend jemand hätte in der Zeit, in welcher das Mikroskop nicht gefunden war, streng bewiesen, daß es kleinste Zellen in der Pflanze gäbe, aber man könne diese niemals finden, weil die menschlichen Augen nicht dazu eingerichtet seien. Das hätte sich streng beweisen lassen, und der Be­weis wäre absolut richtig, denn das menschliche Auge, so wie es ein­gerichtet ist, kann niemals in den Organismus der Pflanze bis zu diesen kleinsten Zellen hineindringen. Ein absolut richtiger Beweis, der niemals umgestoßen werden kann. Doch das Leben hat sich so entwickelt, daß zum Menschenauge das Mikroskop gefunden worden ist, und daß trotz des strengen Beweises die Menschen zum Erkennen der kleinsten Zellen gekommen sind. Erst wenn einmal eingesehen

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wird, daß für die Erringung der Wahrheit Beweise ganz wertlos sind, daß Beweise richtig sein können, aber im Grunde nichts besonderes bedeuten für den Fortschritt der Wahrheitserkenntuis, erst dann wird man auf dem richtigen Boden stehen. Dann wird man wissen: Die Beweise können natürlich gut sein, aber die Beweise haben gar nicht die Aufgabe, wirklich zur Wahrheit zu führen. Denken Sie nur einmal an den Vergleich, den ich gegeben habe, dann werden Sie sehen, daß ebenso, wie absolut strikte der Beweis sein kann, daß die menschliche Sehfähigkeit nicht zur Zelle reicht, auch strikte sein kann der Beweis, die menschliche Erkenntnis könne, wie Kant sagt, nicht zu übersinn­lichen Welten reichen. Die Beweise waren absolut richtig, aber das Leben geht über Beweise hinaus. Das ist nämlich auch etwas, was einem auf dem Wege der Geistesforschung gegeben wird, daß man seinen Gesichtskreis erweiternd wirklich dazukommt, an ein anderes zu appellieren als an den menschlichen Verstand und seine Beweise. Und derjenige, der sich auf materialistische Vorstellungen beschränkt, wird tatsächlich zu einem unbändigen Glauben an Beweise geführt. Wenn er einen Beweis in der Tasche hat, ist er überhaupt von der Wahrheit überzeugt. Geistesforschung wird uns gerade zeigen, daß man im Grunde das eine und das andere recht gut beweisen kann, daß aber Verstandesbeweise für die Erringung der wirklichen Wahrheit keine Bedeutung haben. Und so ist es denn eine Begleiterscheinung unserer materialistischen Zeit, daß die Leute in Verstandeskurzsichtigkeit verfallen. Und wird diese Verstandeskurzsichtigkeit auch noch von den Leidenschaften durchsetzt, so kommt das zustande, was wir heute nicht nur in den mit den Waffen kämpfenden europäischen Völkern sehen, sondern was wir sehen in der Befehdung der europäischen Völker gegenseitig, wo einer über den andern alles mögliche vor­bringt und im Grunde keine Aussicht besteht, daß der eine den andern jemals - nicht nur während des Krieges - überzeugen könnte. Und wer den Glauben hat, daß ein neutraler Staat zwischen den Behaup­tungen zweier feindlicher Staaten etwa jemals wählen könnte, der hätte einen naiven Glauben. Selbstverständlich läßt sich das, was auf dem einen Boden gesagt wird, ebensogut vertreten, ja belegen durch allerlei Beweise wie dasjenige, was auf dem andern Boden gesagt wird.

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Einsicht bekommt man nur, wenn man sich einläßt auf die tieferen Grundiagen der ganzen menschlichen Entwickelung.

Nun habe ich schon einige Jahre vor Ausbruch dieses Krieges versucht, durch den Zyklus über die einzelnen Volksseelen und ihre Wirkung auf die einzelnen Menschen in den verschiedenen europä­ischen Gebieten ein wenig Licht zu werfen darauf, wie sich die einzel­nen Nationen gegenüberstehen, und daß da wirklich verschiedene Kräfte bei den verschiedenen Völkern herrschen. Heute wollen wir dasjenige, was dort gesagt ist, noch durch ein paar andere Gesichts­punkte ergänzen.

Unsere materialistische Zeit denkt allzu abstrakt. Vor allen Dingen wird so etwas in unserer materialistischen Zeit gar nicht berücksichtigt, daß es im Leben eine wirkliche Entwickelung gibt, daß der Mensch heranreifen lassen muß dasjenige, was in ihm ist, damit es eben nach und nach reif werde zum wirklichen Urteil. Der Mensch - das wissen wir ja und es ist genügend ausführlich dargestellt in «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» - macht eine Entwickelung durch so, daß ungefähr in den ersten sieben Jahren sein physischer Leib, vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre der Äther-leib und so weiter ihre besondere Entwickelung finden. Wird schon dieser Fortschritt in der Entwickelung des einzelnen Menschen wenig berücksichtigt, so wird die parallele Erscheinung, die gleichbedeutende Erscheinung noch viel weniger berücksichtigt. Die Vorgänge, die sich innerhalb der einzelnen Volkszusammenhänge abspielen, werden ja gelenkt und geleitet - das wissen wir schon alle aus der Geistes­wissenschaft - von Wesenheiten der höheren Hierarchien. Wir spre­chen im wahren Sinne des Wortes von Volksseelen, von Volksgeistern. Und wir wissen, daß zum Beispiel der Volksgeist des italienischen Volkes inspiriert dasjenige, was wir Empfindungsseele nennen; daß der französische Volksgeist inspiriert dasjenige, was wir Verstandes-oder Gemütsseele nennen, daß die Bewohner der britischen Inse] inspiriert werden durch die Bewußtseinsseele; in Mitteleuropa wird inspiriert dasjenige, was wir das menschliche Ich nennen. Damit wird nun aber kein Werturteil gefällt über die einzelnen Nationen, sondern es wird nur gesagt, daß das so ist. Daß zum Beispiel eine Inspiration

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des Volkes, das die britische Insel bewohnt, darin beruht, daß es als Nation alles das in die Welt hereinbringt, was durch Inspiration der Bewußtseinsseele von seiten des Volksgeistes bewirkt wird. Es ist merkwürdig, wie nervös geradezu auf diesem Gebiet die Menschen werden. Als das da oder dort während der kriegerischen Ereignisse von mir wiederum betont wurde, was, wie gesagt, in dem erwähnten Zyklus schon früher ausgesprochen worden ist, ja, da hat es Menschen gegeben, die es geradezu aufgefaßt haben wie eine Art Beschimpfung des britischen Volkes, daß gesagt worden ist, sie hätten die Aufgabe, die Bewußtseinsseele zu inspirieren, während die Volksseele, welche die deutsche Volksseele ist, das menschliche Ich zu inspirieren hat. Es war das gerade so, als wenn man es als Schimpf auffassen würde, wenn man sagt: Salz ist weiß, Paprika ist rot. - Es ist eine einfache Charakte­ristik, die Darstellung einer Wahrheit, die besteht, und als eine solche Wahrheit hat man das zunächst hinzunehmen. Man wird viel besser zurechtkommen mit dem, was waltet zwischen den einzelnen Gliedern der Menschheit, wenn man hinschaut auf die Eigentümlichkeiten, welche die einzelnen Völker haben, und nicht, wenn man alles durch­einanderrührt, wie es die heutige materialistische Anschauung macht. Selbstverständlich, der einzelne Mensch erhebt sich über dasjenige, was ihm durch seine Volksseele wird, und das ist ja gerade die Aufgabe unse­rer anthroposophischen Gesellschaft, daß sie den einzelnen Menschen heraushebt aus der Gruppenseelenhaftigkeit, daß sie ihn zum all­gemeinen Menschentum erhebt. Aber dabei bleibt doch bestehen, daß der einzelne Mensch, insofern er in einem Volkstum steht, von diesem Volkstum in der Richtung inspiriert wird, daß zum Beispiel der italie­nische Volksgeist zu der Empfindungsseele spricht, der französische Volksgeist zu der Verstandes- oder Gemütsseele, der britische Volks­geist zu der Bewußtseinsseele. Wir haben uns also vorzustellen, daß gleichsam über dem, was die einzelnen Menschen in den einzelnen Nationen beginnen, der Volksgeist schwebt. Aber wie wir sehen, daß beim Menschen schon eine Entwickelung vorhanden ist, wie man beim einzelnen Menschen sagen kann: Das Ich kommt in einer gewissen Weise zur Entwickelung, zu einer besonderen Entwickelung in einem bestimmten Zeitraum des Lebens, so kann man auch mit Bezug auf die

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Volksseele im Verhältnis zu ihrem Volk von einer Entwickelung sprechen, richtig von einer Entwickelung. Nur ist diese Entwickelung etwas anders als beim einzelnen Menschen.

Nehmen wir zum Beispiel herausgreifend das italienische Volk. Da haben wir also dieses Volk, und dann die zu diesem Volke gehörige Volksseele. Die Volksseele ist ein Wesen aus der übersinnlichen Welt, ist der Welt der höheren Hierarchien angehörig. Sie inspiriert die Empfindungsseele, und das geschieht nun immer, solange das Volk lebt, das italienische Volk - weil wir von diesem Volk sprechen -, aber sie inspiriert die Empfindungsseele in den verschiedenen Zeiten in der verschiedensten Weise. Es gibt Zeiten, in denen die Volksseelen die Angehörigen der einzelnen Nationen so inspirieren, daß diese Inspiration gleichsam seelisch geschieht. Da schwebt die Volksseele in höheren Regionen des Geistes, und ihre Inspiration geschieht so, daß sie nur in seelische Eigenschaften hinein inspiriert. Dann gibt es Zeiten, wo die Volksseelen weiter herunterschweben und stärker in Anspruch nehmen die einzelnen Angehörigen der Nationen, wo sie sie so stark inspirieren, daß nicht nur der Mensch sie in seine seelischen Eigenschaften hereinbekommt, sondern wo sie so stark wirken, daß bis in die körperlichen Eigenschaften hinein der Mensch von den Volksseelen abhängig wird. Solange ein Volk unter dem Einflusse der Volksseele so steht, daß sie nur die seelisch-geistigen Eigenschaften inspiriert, ist noch der Typus des Volkes nicht so ausgeprägt. Da wirken die Kräfte der Volksseele nicht s9, daß der ganze Mensch bis in das Blut hinein ergriffen wird. Dann kommt eine Zeit, wo man gleichsam schon in der Art, wie der Mensch aus den Augen schaut, aus den Zügen, die sein Gesicht trägt, entnehmen kann, wie der Volks­geist heineinwirkt. Das prägt sich aus, daß die Volks sele sich tief her-abgesenkt hat; sie nimmt stark und intensiv den ganzen Menschen in Anspruch.

Beim italienischen Volke war es so, daß der Zeitpunkt, von dem ich gesprochen habe, wo der Volksgeist sich tief heruntersenkt, wo er so hineinwirkt, daß man in einzelnen Menschen den Abdruck finden kann, in der Mitte des 16. Jahrhunderts ungefähr war, so um 1550 herum. Dann wiederum schwebte die Volksseele gleichsam zurück,

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und von dieser Zeit an vollzieht sich das durch Vererbung auf die Nachkommen. Man kann also sagen: Das intensivste Zusammen­sein des italienischen Volkes mit seiner Volksseele war um 1550 herum. Da hat sich die italienische Volksseele am tiefsten herunter­gesenkt, da hat dieses Volk der italienischen Halbinsel seinen präzise­sten Charakter bekommen. Gehen wir zurück in die Zeit vor 1550, da sehen wir, daß die Charakterzüge durchaus nicht so ausgeprägt sind, daß einem das so stark entgegentreten könnte, wie von 1550 an. Da beginnt eigentlich erst das Charakteristische, was wir eben als Italiener­tum kennen. Da ist sozusagen die eigentliche Ehe erst geschiossen worden zwischen der italienischen Volksseele und der Empfindungs­seele des einzelnen Menschen, der der italienischen Volkheit angehört.

Für das französische Volk - ich rede also nicht von dem einzelnen Menschen, der sich über das Volkstum erheben kann - trat der ähn­liche Zeitpunkt, wo also der Volksgeist sich am tiefsten herunter-senkte und das Volk ganz durchdrang, ungefähr um 1600 ein, im Beginne des 17. Jahrhunderts. Da ergriff der Volksgeist ganz die Ver­standes- oder Gemütsseele.

Für das britische Volk trat der Zeitpunkt ein in der Mitte des 17. Jahrhunders, etwa um 1650 herum. Da bekam erst das britische Volk seinen äußerlichen britischen Ausdruck.

Wenn Sie solche Dinge wissen, dann wird Ihnen manches erklärlich sein, denn Sie können jetzt zum Beispiel in einer ganz andern Weise die Frage aufwerfen: Wie ist es mit Shakespeare in England? - Shakes­peare hat in England gewirkt, bevor der britische Volksgeist am intensivsten gewirkt hat auf das englische Volk. Daher ist es, daß er nicht in England ordentlich verstanden wird. Bekanntlich gibt es dort Ausgaben, in denen alles ausgemerzt ist, was nicht ganz im Ge­schmack der Gouvernanten ist. Es ist Shakespeare sehr häufig im alleräußersten Sinne moralisiert. Und wir wissen ja, daß das tiefste Verständnis Shakespeares herbeigeführt worden ist nicht in England, sondern in der mitteleuropäischen Geistesentwickelung.

Nun werden Sie die Frage aufwerfen: Wann war denn diese Berüh­rung des Volksgeistes mit den Angehörigen des mitteleuropäischen Volkes? - Da ist es allerdings so: Dadurch, daß in Mitteleuropa das

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Ich das maßgebende ist, daß wirklich eine Art Herabschweben des Volksgeistes stattfindet, dann ein Wiederzurückgehen, dann wieder ein Herunterschweben, wieder ein Zurückgehen, da finden Wieder­holungen statt. Und so haben wir in der Zeit ungefähr, in der die wunderbare Sagenwelt des Parzival, des Gral entstanden ist, ein solches Heruntersteigen des Volksgeistes, ein Sich-Vereinigen mit den einzelnen Seelen, ein Wiederzurückgehen und ein nächstes Herunter-schweben ungefähr zwischen den Jahren 1750 und 1830. Da wird am tiefsten ergriffen dasjenige, was in Mitteleuropa lebt, von dem, was mitteleuropäischer Volksgeist ist. Seither ist wiederum ein Zurück­gehen des Volksgeistes. So sehen Sie, wie eigentlich es ganz begreif­lich ist, daß, sagen wir, Jakob Böhme in einer Zeit gelebt hat, in der er gerade wenig vom deutschen Volksgeist haben konnte. Da war nicht die Zeit, in der der Volksgeist sich verband mit den einzelnen Seelen des Volkes. Jakob Böhme ist daher, obwohl er der «Teutonische Philo­soph» genannt wird, ein Mensch, der zeitlich unabhingig ist von dem, was sein Volksgeist ist; der gleichsam wie eine entwurzelte Erschei­nung dasteht, wie eine ewige Erscheinung innerhalb seiner Zeit. Wenn wir Lessing, Schiller> Goethe nehmen, das sind auch deutsche Philosophen, die wurzeln ganz im deutschen Volksgeiste. Und das ist gerade das Charakteristische, daß diese in der Zeit zwischen 1750 und 1830 le­benden Phliosphen im Volksgeiste ganz darin wurzeln. So sehen Sie also, daß es nicht bloß darauf ankommt, daß man nur weiß: Beim italienischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Empfindungsseele, beim französischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Verstandes-seele, beim britischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Bewußt-seins seele, beim mitteleuropäischen Volke wirkt der Volksgeist durch das Ich -, sondern daß man auch wissen muß, daß dieses in gewissen Zeitpunkten geschieht. Und die Ereignisse, die sich abspielen, werden geschichtlich nur erklärbar, wenn man solche Dinge wirklich weiß. Jener Unfug, der als Wissenschaft getrieben wird, wo man die Doku­mente hernimmt und nacheinander die Ereignisse aufzählt und sagt, eines müsse man aus dem andern herleiten, dieser Unfug der Ge­schichtsforscher führt allerdings nicht zu einer wirklichen Geschichte, zu einem Verständnis des Menschwerdens, sondern eben nur, man

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kann sagen, zu einer Fälschung desjenigen, was in der Menschen­geschichte waltet und wirkt.

Und wenn man nun sieht, wie in ganz verschiedener Weise auf die emzelnen Völkerschaften - es könnten ja noch andere charakterisiert werden - dasjenige wirkt, was als Kraft diese Völkerschaften treibt, dann sieht man die gegensätzlichen Dinge, die da sind. Und man sieht, daß das, was heute geschieht, wahrhaftig nicht erst in den letzten Jahren geschehen ist, sondern in den Jahrhunderten sich eben vor­bereitet hat.

Schauen wir hinüber nach dem Osten, nach dem Gebiet, das die russische Kultur trägt. Das ganz Eigentümliche der russischen Kultur ist dieses, daß die russische Kultur erst dann zur Entfaltung kommen kann, wenn einmal der Zeitpunkt eintreten kann, wo die russische Volksseele sich verbindet mit dem Geistselbst - das ist auch schon ausgesprochen in dem genannten Zyklus. Das heißt, es muß ein spä­terer Zeitraum kommen, in dem dasjenige, was Charakteristik dieser Eigentümlichkeit des europäischen Ostens sein kann, sich erst aus­prägen wird. Und das wird dann ganz verschieden sein von dem­jenigen, was im Westen von Europa oder in der Mitte von Europa sich abwickelt. Vorläufig aber ist es ganz erklärlich, daß dasjenige, was der russischen Kultur zugeteilt ist, überhaupt noch gar nicht da ist, sondern daß die russische Kultur - wie der einzelne Mensch - so zum Geistselbst steht, daß sie sich immer nach oben wendet. Der einzelne Angehörige des russischen Volkes und selbst tiefsinnige russische Philosophen sprechen nicht so, wie in Mitteleuropa das Größte ge­rade gesagt wird, sondern sie sprechen in ganz anderer Weise.

Da finden wir etwas höchst Charakteristisches. Was ist denn ein Eigentümlichstes dieses mitteleuropäischen Geisteslebens? Sie wissen alle, daß es eine Zeit der großen Mystiker gegeben hat, in der Meister Eckart, Johannes Tau/er und andere gewirkt haben. Sie alle haben im menschlichen Gemüte das gesucht, was in diesem menschlichen Ge­müte selber enthalten ist als das Göttliche. Sie haben gesucht, den Gott ln der eigenen Brust, in der eigenen Seele zu finden, «das Fünklein im Gemüte», wie Eckart sich ausdrückte. Dadrinnen, so sagten sie, muß es etwas geben, wo die Gottheit unmittelbar anwesend ist. Und so

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entstand jenes Streben, wo das Ich sich zusammenschließen wollte mit seiner Gottheit in sich selbst. Erkämpft sein wollte diese Gottheit; im Werden erkämpft sein wollte die Gottheit. Das geht als ein Zug durch das ganze mitteleuropäische Wesen hindurch. Denken Sie, wie unendlich gemütstief es ist, wenn derjenige, der ganz, ich möchte sagen, international auf dem Boden der mitteleuropäischen Kultur und des mitteleuropäischen Geisteslebens steht, Angelus Silesius> wenn der in einem seiner schönen Sprüche «Cherubinischer Wanders­mann» sagt: Wenn ich sterbe, so sterbe nicht ich, sondern Gott stirbt in mir. - Denken Sie, wie unendlich tief das ist! Denn der das sagt, er ergriff lebendig die Idee der Unsterblichkeit, denn er fühlte: Wenn der Tod eintritt im einzelnen Menschen, so ist das, weil der Mensch durch­drungen ist von der Gottheit - diese Erscheinung des Todes ist nicht eine Erscheinung des Menschen, sondern des Gottes, und da der Gott nicht sterben kann, so kann der Tod nur eine Täuschung sein. Der Tod kann also keine Zerstörung des Lebens sein. Er weiß, daß eine unsterbliche Seele besteht, wer da sagt: Wenn ich sterbe, so sterbe nicht ich, sondern Gott stirbt in mir. - Es ist eine ungeheuer tiefe Empfindung, die bei Angelus Silesius lebt. Das ist eben durchaus eine Folge dieses Umstandes, daß hier die Inspiration im Ich geschieht.

Wenn die Inspiration in der Empfindungsseele geschieht, kann das eintreten, was zum Beispiel bei Giordano Bruno eingetreten ist. Der Mönch fühlt sich mit aller Leidenschaft ein in das, was Kopernikus gefunden hat, fühlt die ganze Welt belebt. Lesen Sie eine Zeile bei Giordano Bruno, und Sie werden bestätigt finden, daß er, insofern er aus dem italienischen Volkstum herausgewachsen ist, gerade den Be­weis dafür darstellt, daß da die Volksseele inspiriert die Empfindungs-seele.

Gartesius, Descartes, ist geradezu an dem charakterisierten Punkt der französischen Entwickelung geboren, wo der französische Volks­geist sich so recht vereinigte mit dem französischen Volk. Lesen Sie eine Seite bei Cartesius, dem französischen Philosophen, Sie werden finden, daß er auf jeder Seite bestätigt, was Geisteswissenschaft findet: Daß da die Inspiration des Volksgeistes auf die Verstandes-seele wirkt.

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Lesen Sie Locke oder Hume oder einen andern englischen Philo­sophen, bis Mill und Spencer> überall Inspiration der Bewußtseins-seele.

Lesen Sie Fichte in seinem Ringen im Ich selber, dann haben Sie die Inspiration des Ich durch die Volksseele. Das ist gerade das Eigentümliche, daß diese mitteleuropäische Volksseele im Ich erlebt wird, und daß daher das Ich das eigentlich Strebende ist, das Ich, ich möchte sagen, mit all seiner Stärke und all seinen Irrtümern, mit all seinen Irrwegen und auch mit all seinen Überwindungen. Wenn dieser mitteleuropäische Mensch zum Christus den Weg finden soll, so will er ihn in der eigenen Seele gebären.

Versuchen Sie einmal nur irgendwie zu suchen - wenn es nicht äußerlich von der westeuropäischen Kultur übernommen ist -, in dem russischen Geistesleben diese Idee, den Christus oder einen Gott im Inneren zu erleben. Sie können es nicht finden. Da wird überall erwartet, daß dasjenige, was hereintritt in die Geschichte, wirklich so hereintritt, daß es, wie Solowjow sagt, wie ein «Wunder» hereintritt. Das russische Geistesleben ist sehr geneigt, im Übersinnlichen die Auferstehung des Christus anzuschauen, äußerlich das Hineinspielen einer inspirierenden Macht zu verehren, aber diese spricht so, wie wenn der Mensch darunter wäre, wie wenn sich das Inspirierende wie eine Wolke über die Menschheit hinbewegte, nicht wie wenn es hineinginge in das menschliche Ich. Dieses intime Beisammensein des Ich mit seinem Gott, oder auch, wenn es sich um Christus handelt, mit dem Christus, dieses Verlangen, daß der Christus im eigenen Gemüt geboren werde, das ist nur in Mitteleuropa zu finden. Und wenn ein­mal die ost-europäische Kultur zu der Entwickelung, die ihr angemes­sen ist, kommen wird, so wird sich das dann dadurch zeigen, daß jene Kultur begründet werden wird, die wie über den Menschen schwebt, die wiederum eine Art von Gruppenseelenhaftigkeit darstellt, nur auf einer höheren Stufe, als die alte Gruppenseelenhaftigkeit war. Vorläufig müssen wir es ganz naturgemäß finden, daß in der Art und Weise, wie selbst der russische Philosoph spricht, überall gesprochen wird von etwas, was wie die geistige Welt über der Menschenwelt schwebt, dem man aber nie so intim nahen kann, wie der mitteleuropäische

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Mensch mit seinem Ich sich dem nähern will, was das Göttliche ist, dem, was als Göttliches durch die Welt wallt und webt.

Und wenn ich oftmals davon sprach, daß die Gottheit durch die Welt wallt und webt und wogt, so ist das aus der Empfindungswelt des mitteleuropäischen Menschen heraus und würde gar nicht ver­standen werden können in derselben Weise, wie es vom mittel­europäischen Gemüt aufgenommen werden kann, von irgendeinem andern Volkstum in Europa. Das ist das Charakteristische, das Eigen­tümliche des mitteleuropäischen Volkes.

Das sind die Kräfte, die da leben in den einzelnen Völkern, und die sich gegenüberstehen, die daher immer wieder und wiederum in Wettstreit treten müssen, die sich gewaltsam entladen müssen, wie Wolken sich entladen und Blitze und Gewitter bewirken.

Aber sehen wir denn nicht, so könnte man jetzt sagen, wie im Osten von Europa ein Wort ertönt hat, das gewissermaßen wie ein Losungsruf war und so wirken sollte, wie wenn die Kultur von Ost­europa etwa jetzt beginnen sollte, sich über das wenig wertvolle Westeuropa auszudehnen, es zu überströmen? Sehen wir denn nicht, wie die Slawophlien, die Panslawisten, der Panslawismus auftrat, besonders auch in Geistern wie Dossojewsk:i und ähnlichen, wie er auftrat mit den besonderen Punkten seines Programms, wie da ge­sagt wurde: Ihr Westeuropäer allzusammen, ihr habt eine faulgewor­dene Kultur, die muß ersetzt werden von Osteuropa. - Dann wurde eine ganze Theorie aufgebaut, eine Theorie, die vor allen Dingen gipfelte darin, daß gesagt wurde: Im Westen ist alles faul geworden, das muß ersetzt werden durch die frischen Kräfte des Ostens. Wir haben die gut orthodoxe Religion, die wir nicht bekämpfen, sondern wie wir hingenommen haben eben wie die über den Menschen schwe­bende Wolke des Volksgeistes und so weiter. Und da wurden dann geistvolle Theorien aufgebaut, ganz geistvolle Theorien, was jetzt schon die Grundsätze, die Intentionen des alten Slawentums sein könnten, wie vom Osten jetzt schon die Wahrheit sich über Mittel-und Westeuropa ausbreiten müsse.

Ich sagte, der einzelne kann sich über sein Volkstum erheben. Solch ein einzelner war auf einem bestimmten Gebiet auch Solowjow,

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der große russische Philosoph. Obwohl man auch bei ihm in jeder Zeile merkt, daß er als russischer Mensch schreibt, so steht er doch über sernem Volkstum. In der ersten Zeit seines Lebens war Solowjow Panslawist. Aber er hat sich genauer befaßt mit dem, was die Pan­slawisten und Slawophilen als eine Art Völkerphilosophie, Völkerweltanschauung aufgestellt haben. Und was hat Solowjow, der Russe, gefunden? Er hat sich gefragt: Ist denn wirklich dasjenige, was das Russentum ist, schon in der Gegenwart da? Ist das vielleicht schon enthalten bei denjenigen, die den Panslawismus vertreten, die das Slawophilentum vertreten? - Und siehe da, er ruhte nicht, bis er auf das Richtige kam. Was hat er gefunden? Er hat die Behauptung der Slawophilen, zu denen er vorher gehört hatte, nachgeprüft, er ist ihnen zu Leibe gerückt, und da hat er gefunden, daß ein großer Teil der Denkformen, der Behauptungen, der Intentionen, hergenommen ist von dem jesultenfreundlichen französischen Philosophen de Maistre, daß er der große Lehrer der Slawophilen auf dem Gebiete der Welt­anschauung ist. Solowjow hat selbst bewiesen, daß das nicht auf ei­genem Boden gewachsen ist, was Slawophilismus ist, sondern von de Maistre herstammt. Und er hat noch mehr bewiesen. Er hat auf­gestöbert ein längst vergessenes deutsches Buch aus dem 19. Jahr­hundert, das in Deutschland kein Mensch kennt. Ganze Partien des­selben haben die Siawophilen abgeschrieben in ihrer Literatur. Was ist da für eine eigentümliche Erscheinung eingetreten? Man glaubt, vom Osten komme etwas, was im Osten entstammt sein soll, und es ist rein westlicher Import. Es ist herübergekommen aus dem Westen und dann den westlichen Menschen wieder entgegengeschickt. Die westlichen Menschen werden mit ihren eigenen Gedankenformen bekanntgemacht, weil die eigenen Gedankenformen im Osten noch nicht vorhanden sind.

Gerade wenn man den Dingen genau zu Leibe geht, bestätigt sich überall das, was Geisteswissenschaft zu sagen hat. So daß man es schon in dem, was sich vom Osten heranwälzen will, mit etwas zu tun hat, was noch elementar ist, mit etwas, was erst seine Entwickelung finden wird, wenn es ebenso liebevoll aufnimmt dasjenige, was in Mitteleuropa sich entwickelt hat, wie dieses Mitteleuropa einmal liebevoll aufgenommen

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hat das griechische und lateinische Wesen vom Süden her. Denn so geschieht die Entwickelung der Menschheit, daß das Spätere das Frühere aufnimmt. Und das, was ich in dem öffentlichen Vortrag als die faustische Denkweise Mitteleuropas charakterisieren konnte durch die Worte: Es gab ein Jahr 1770 - Goethe empfand es als ein faustisches Streben, als er sagte:

Habe nun, ach! Philosophie,

Juristerei und Medizln,

Und leider auch Theologie

Durchaus studiert mit heißem Bemühn.

Da steh ich nun, ich armer Tor,

Und bin so klug als wie zuvor!

Da kam ein ungeheuer reiches, deutsches Geistesleben, ein unge­heuer intensives, reiches Streben im deutschen Geistesleben. Aber wenn Goethe seinen «Faust» vierzig Jahre später geschrieben hätte, gewiß hätte er nicht angefangen: « Habe nun, ach! Philosophie...» und so weiter studiert und bin nun der für alle Zeiten weise Mann ge­worden -, sondern er hätte genau ebenso seinen «Faust» geschrieben wie 1770. Dieses lebendige Streben kommt eben her von der Inspira­tion der Volksseele in das Ich hinein, von jenem intimen Zusammen­sein des Ich mit dem Volksgeiste. Das ist eine Grundeigentümlichkeit der mitteleuropäischen Geisteskultur. Und mit dieser muß sich die osteuropäische Kultur liebevoll verbinden, muß sie aufnehmen. Das­jenige, was einiließen mußte nach Mitteleuropa, es wurde einmal von der südlichen Kultur empfangen, aufgenommen. Jetzt aber ist es nicht anders, wenn vom Osten her die elementare Entwickelungswelle sich wälzt, als wenn der Schüler auf seinen Lehrer wütend ist, weil er von ihm etwas lernen soll und ihn deshalb durchprügeln will. Es ist ein etwas trivialer Vergleich, aber es ist doch ein Vergleich, der durch­aus präzise die Sache gibt. Menschenmassen mit ganz verschiedenen inneren Entwickelungskräften wohnen in Europa zusammen. Diese verschiedenen Entwickelungskräfte müssen in gegenseitige Kon­kurrenzwirksamkeit kommen, sie müssen sich in verschiedener Weise behaupten. Was da ist an widerstrebenden Kräften, an Kräften, die

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ins Widerspiel kommen, das hat sich lange, lange entwickelt. Und gerade wenn man auf die Feinheiten sieht, so findet man, wie sich darin überall dasjenige ausspricht, was Geisteswissenschaft zu sagen hat.

Ist es denn nicht so wundervoll ausgesprochen, drängt sich nicht die Welle der europäischen Entwickelung so zusammen, daß gleich­sam symbolisch vor die ganze Menschheit hingesteilt wird, wie in Mitteleuropa empfunden werden muß das intime Zusammenleben des Ich mit der geistigen Welt; wie der Gott erlebt werden soll im « Funk­lein im Gemüte», wie der Christus erlebt werden soll im «Fünklein im Gemüte»! Der Christus selber muß im menschlichen Ich wirksam lebendig werden. Daher neigt sich in Mitteleuropa wie in keiner andern europäischen Sprache allmählich die ganze Entwickelung dem zu, daß das «Ich» genannt wird. Und Ich ist «I-C-H». Wie ein mäch­tiges Symbolum im intimen Zusammenwirken dessen, was dem Ge­müte das Helligste sein kann mit diesem Gemüte selber, steht das da in Mitteleuropa: Ich = I-CH - Jesus Christus! Jesus Christus und zugleich das menschliche Ich. So wirkt der Volksgeist, inspirierend das Volk, um in charakteristischen Worten auszudrücken, was die zugrunde liegenden Tatsachen sind. Ich weiß wohl, daß die Menschen lachen, wenn so etwas gesagt wird; wenn ausgesprochen wird, daß jahrhundertelang der Volksgeist gearbeitet hat, damit die Bezeich­nung Ich zustande gekommen ist, die so symbolisch bezeichnend ist. Aber lassen wir die Menschen lachen! Nur noch wenige Jahrzehnte, und sie werden nicht mehr lachen, sondern sie werden das dann viel bedeutender nennen, als was die Leute heute Naturgesetze nennen.

Was so wirkte als Entwickelungswelle, das wirkte recht charakteri­stisch. Das Bewußtsein sagt manchmal nur einen ganz geringen Teil der Wahrheit; aber was in den unterbewußten Tiefen wirkt, das spricht sich viel, viel wahrer aus. Wir sprechen zum Beispiel von Germanen. Worte bilden sich durch den wirkenden Sprachgenius. Ein Teil der Bewohner Mitteleuropas nennt sich «Deutsche». Wenn er aber von Germanen spricht, so rechnet er dazu Deutschland, Öster­reich, Holland, die skandinavischen Völker, aber auch die Bewohner der britischen Insel. Er dehnt das Wort Germanen über ein weites Gebiet aus. Der Bewohner der britischen Insel aber weist das zurück.

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Er nennt bloß den Deutschen «German» = Germane. Er selbst hat nicht das Wort Germane für sich. Die deutsche Sprache umgreift mit dem Wort einen viel größeren Kreis. Sie ist als solche geneigt, das Wort in den Dienst der Selbstlosigkeit zu stellen; er nennt nicht bloß sich Germane, der Deutsche, er umfaßt die andern mit. Der andere, der Brite, weist das zurück. Gehen Sie einmal auf das Wunderbare im sprachschöpferischen Genius ein, dann werden Sie sehen, daß darin wirklich Wunderbares ist. Mit Bezug auf das, was die Menschen im Bewußtsein haben, entsteht die Maja, die große Täuschung. Was in unterbewußten Tiefen waltet, das wirkt viel, viel wahrer. In dem spricht sich ungeheuer Bedeutsames und Tiefes aus.

Und jetzt vergleichen Sie mit der Art, wie man intim zu Werke gehen muß, um die europäischen Kräftespiele zu verstehen, vergleichen Sie mit dieser intimen Art die grobkiotzige Art, mit der man heute die Verhältnisse der europäischen Völker zueinander ansieht, und Sie werden erst einsehen können, welche Verwüstung in der menschlichen Urteilskraft das materialistische Zeitalter angerichtet hat. Daß man angefangen hat zu denken, die Materie trägt und hält alles, ist noch nicht das Schlimmste, sondern daß man kurzsichtig geworden ist, daß man auf die Hauptsache nicht sehen kann, nicht auch nur einen Schritt hinter den Schleier tut, der als Maja über die Wahrheit gewoben ist, das ist das eigentlich Schlimme.

Der Materialismus hat gut vorbereitet, was er gewollt hat. Und auch da hat der Genius gewirkt, nur ist der Genius, der den Materialismus als der höchste Anführer bewirkt hat, Ahriman. Er hat einen mäch­tigen Einfluß gehabt in den letzten Jahrhunderten, einen recht mäch­tigen Einfluß. Und ich möchte noch kurz auf ein Kapitel hinweisen, auf das man vielleicht nicht gerne heute hinweist. Wenn es geschieht, betrachtet man es als eine besondere Verrücktheit. Man kommt dem Menschen am leichtesten bei, wenn man ihm, wenn er noch jung ist, in sein Vorstellungsvermögen, in sein Gemüt dasjenige hineinträufelt, was dann in ihm auswachsen soll. Im späteren Leben ist ja den wenig­sten Menschen noch etwas gründlich beizubringen. Nie hätte Ahriman daher eigentlich bessere Aussichten, die Seelen richtig materialistisch zu präparieren, als wenn er in die jugendlichen, die kindlichen Seelen

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schon hineinträufelt, was dann selber weiter wirkt im Unterbewußten. Wenn in dem Zeitraum, wo der Mensch noch nicht mit Verstandes-kräften nachdenkt, schon die materialistischen Denkformen auf­genommen werden, dann werden die Menschen gründlich materia­listisch denken lernen, wenn der Materialismus schon in die kind­lichen Gemüter gepflanzt wird! Das hat Ahriman in der Form getan, daß er einen Schriftsteller der materialistischen Zeit mit der Idee des «Robinson Crusoe» inspiriert hat. Wer nämlich wirklich sehenden Geistes den «Robinson» auf sich wirken läßt, der wird dadrin sehen, wie im «Robinson» gründlich die materialistischen Vorstellungen wirken. Es sieht nicht so aus, aber das Ganze - wie der «Robinson» aufgebaut ist, wie er in diesem Abenteurerleben im äußeren Erleben zu allem getrieben wird, bis zuletzt selbst die Religion wie Kohiköpfe auf Feldern aufwächst - das alles präpariert das kindliche Gemüt sehr gut zum materialistischen Denken. Und wenn man bedenkt, daß es in einem gewissen Zeitraum - im 16., 17., 18. Jahrhundert - einen böhmischen, einen portugiesischen, einen ungarischen und so weiter Robinson als Nachahmung des «Robinson Crusoe» gegeben hat, so muß man sagen: die Arbeit ist gründlich geleistet worden, und der Anteil, den die «Robinson»-Lektüre an der Ausbildung des Materialis­mus gehabt hat, ist etwas Ungeheures.

Gegenüber solchen Erscheinungen muß darauf hingewiesen werden, daß es auch etwas anderes gibt, was die Kinder in ihr Verständnis bis spät ins Leben aufnehmen sollen: das sind die Märchen, die in Mittel-europa leben, und besonders die Märchen, welche die Brüder Grimm gesammelt haben. Das ist eine viel bessere Literatur für die Kinder als der «Robinson». Und wenn in unserer Zeit dasjenige, was zwi­schen den europäischen Völkern in so furchtbarer, so schwerer, schicksaltragender Weise geschieht, als eine Mahnung aufgefaßt wird, etwas genauer hinzusehen auf die Art und Weise, wie sich in dem Untergrund der Ereignisse entwickelt hat dasjenige, was sich in die Gegenwart hineinerstreckt, dann wird man vor allen Dingen er­kennen, daß es schließlich wirklich nicht darauf ankommt, ob nun ein paar deutsche Gelehrte ihre Orden und Diplome nach England zurückschicken! Wenn sich die Mahnung der Zeit so stark erweist, daß

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man die materialistisch inspirierte Bewußtseinsseele des britischen Volkes in ihrer Bedeutung erkennt, so wird man auch die Bedeutung der «Robinson »-Lektüre durchschauen und den ganzen Robinson einmal ausmerzen. Viel gründlicher, viel radikaler wird zu Werke gegangen werden müssen, wenn man die Mahnungen unserer heuti­gen Zeit einmal im richtigen Sinne wird berücksichtigen können.

Es ist jetzt fünfunddreißig Jahre her, daß ich angefangen habe, Goethe zu interpretieren, gerade in seiner geisteswissenschaftlichen Aufgabe. Ich habe versucht zu zeigen, wie in der Goetheschen Ent­wickelungslehre eine wirklich große, geistgemäße Entwickelungs­lehre gegeben ist. Es muß die Zeit kommen, wo das in weiteren Kreisen eingesehen wird. Denn Goethe hat eine große, gewaltige Entwickelungslehre gegeben, die geistgemäß ist. Das war den Men­schen schwierig, zu verstehen. Da hat dann im materialistischen Zeit­alter Darwin besser wirken können, der in vergröberter, materiali­stischer Weise das gegeben hat, was Goethe in feiner, geistiger Weise als Entwicklungslehre gegeben hat. Es war eine gründliche Ver­engländerung, die Mitteleuropa ergriffen hat. Nun denken Sie sich die Tragik, die eigentlich darin liegt, daß der englischste Naturforscher in Deutschland, Ernst Haecke/> der ganz schwor auf Darwin, auftreten mußte mit seinem wütenden Haß gegen das Engländertum, und als dieser Krieg ausbrach, einer der ersten war, die an England die er­haltenen Orden und Diplome zurückschlckten. Um den englisch ge­färbten Darwinismus zurückzuschicken, wird er wohl schon zu alt gewesen sein, das aber wäre das Wesentliche, das Wichtigere.

Die Dinge, um die es sich handelt, liegen ungeheuer tief, sie sind ungeheuer bedeutungsvoll, und sie hängen zusammen mit der not­wendigen geistigen Vertiefung unserer Zeit. Wird man einmal ein­sehen, wie unendlich tiefer die Goethesche Farbenlehre ist als die Newtonsche Farbenlehre, wie unendlich tiefer die Goethesche Ent­wicklungslehre ist als die Darwinsche Entwicklungslehre, dann wird man sich erst bewußt sein dessen, was das mitteleuropäische Geistesleben birgt, auch mit Bezug auf solche höchste Gebiete.

Ich will durch alles dies in Ihren Seelen nur eine Empfindung her­vorrufen, welche Mahnung uns die gegenwärtigen schweren, schicksaltragenden

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Ereignisse sein müssen. Eine Mahnung zu arbeiten, die uns dahin führen soll, uns zu besinnen auf das, was da steckt im mittel-europäischen Geistesleben und was gewissermaßen eine Verpflichtung ist, es heraus- und hervorzuholen. Das meinte ich auch, als ich gestern in dem öffentlichen Vortrag sprach davon, daß dieses mitteleuropäische Geistesleben Keime enthält, die zu Blüten und Früchten führen müssen.

Und wenn wir immer wieder und wiederum bekennen: das be­wußte Seelenleben, es geht an der Oberfläche vor sich, darunter liegt aber all das, wovon m diesen Tagen gesprochen worden ist, dann dürfen wir auch schon unsere Gedanken hinlenken darauf, daß in den Impulsen zahlreicher Menschen auch in der Gegenwart noch etwas ganz anderes lebt als das, dessen sie sich bewußt sind. Glauben wir nicht, daß die Menschen im Westen und Osten, die die mitteleuro­päische große Festung zu verteidigen haben, nur für das kämpfen, dessen sie sich bewußt sind im Oberbewußtsein. Blicken wir vor allen Dingen hin auf die Impulse, die vielen unbewußt sind, die heute durch Blut und Tod gehen, aber da sind sie, die Impulse, vorhanden sind sie, und wir sollten aus der Geisteswissenschaft die Empfindung herausschöpfen können, indem wir nach Ost und West schauen, was in den Impulsen derjenigen, die da die Opfer verrichten, dasjenige lebt, was erst die Zukunft noch für das äußere Erleben herausgebären muß, wovon vielleicht selbst die Kämpfenden kaum eine Ahnung in ihrem Bewußtsein haben. Dann erst, wenn wir es also betrachten, durchdringt sich uns dasjenige, was da geschieht, mit dem rechten Gefühl, mit der rechten Empfindung.

Aber bedenken wir, wie viele Seelen in diesen Ereignissen, mit de­nen an kriegerischer Größe sich ja nichts vergleichen läßt, was jemals da war in der bewußten Menschheitsgeschichte, bedenken wir, wie viele Seelen durch Blut und Tod gehen, und bedenken wir, daß diese Seelen herunterschauen werden auf den Tod, der durch die großen Ereignisse der Zeit über sie verhängt worden ist. Bedenken wir, daß im Sinne des vorgestern Gesagten die jugendlichen Ätherleiber die geistige Atmosphäre durchziehen. Bedenken wir, daß nicht nur die Seelen, die Individualitäten, in der geistigen Welt sein werden, son­dern daß Brauchbares aus den jugendlichen Ätherleibern die geistige

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Atmosphäre durchziehen wird. Versuchen wir, von da ausgehend, auf die Mahnungen zu sehen, welche die Menschen haben sollen, die übrigbleiben hier auf der Erde. Ja der einzelne, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, mahnt an die großen Aufgaben, die in der europäischen Kultur zu vollziehen sind. Und diese Mahnungen müssen gehört werden. Und geneigt müssen die Menschen werden, aus der Tiefe des Geisteslebens heraus sich Empfindungen, erkennende Emp­findungen zu verschaffen, wie das eigentlich beschaffen ist, in dem wir darin leben. Wenn man einmal in diesem Sinne empfinden wird:

mit jedem, der heute in der Blüte seiner Jahre draußen auf dem Schlachtfelde bleibt, steht ein Mahner, ein Rufer nach Spiritualisierung der Menschheit in der europäischen Kultur, dann wird man es richtig verstanden haben. Und nicht allein das möchte man, daß von solchen Stätten, wie die ist, an der wir stehen, nur ausgehe ein abstraktes Erkennen: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, der Mensch geht durch viele Inkarnationen, der Mensch hat ein Karma und so weiter -, sondern das möchte man, daß die Seelen, die teilnehmen an unserem geisteswissenschaftlichen Leben, in ihren innersten Tiefen aufgerüttelt werden zu dem Emp­findungsleben, das eben angedeutet worden ist, zu dem Miterleben desjenigen, was Mahnrufe der Frühverstorbenen in der nächsten Zukunft sein werden. Das Schönste, was wir uns erwerben können als Bekenner der Geisteswissenschaft, es ist das lebendige Leben, welches wie ein Hauch durch die Reihen derer gehen soll, die sich zu uns rechnen. Nicht das Wissen, nicht die Erkenntnis allein, son­dern dieses Leben, das Wirklichwerden dieses Lebens.

In den letzten Zeiten sind uns gerade mehrere Mitglieder vom physischen Plan hinweggegangen. Auch ein junger Mitarbeiter, unser lieber Fritz Mitscher. Und ich hatte, auch durch das Karma veranlaßt, die Aufgabe, bei der Einäscherung in Basel zu sprechen. Ich hatte der enteilenden Seele gewisse Worte nachzusprechen. Unter mancherlei anderem enthielten diese Worte, die ich zu der Seele sprach, daß wir das Bewußtsein haben, sie werde ein Mitarbeiter bleiben, auch nach­dem sie durch die Pforte des Todes gegangen. Ich mußte dieses sprechen aus dem Bewußtsein heraus, daß das, was uns alle belebt,

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nicht nur wie eine Theorie dasteht, sondern daß das, was wir wie eine Theorie aussprechen, die ganze Seele mit vollem Leben erfüllen muß. Dann aber müssen wir zu denen, die durch die Pforte des Todes ge­gangen sind, stehen wie zu denen, die hier noch im Leben stehen. Ja, wir müssen nicht anstehen, uns zu sagen: Die im physischen Leibe Lebenden sind durch die mannigfaltigsten Umstände verhindert, voll auszuleben das geistige Leben. Was alles können wir doch in diesem physischen Erdenleben an Hemmungen bei den Menschen bemerken, wenn es sich darum handelt, die wirklich großen Aufgaben der Ent­wickelung zu erkennen - und dann auch zu erfüllen! Aber auf die Toten können wir uns vielfach besser verlassen. Dieses Empfinden, daß sie in unseren Reihen sind, dieses Übertragen einer besonderen Mission ließen mich in entsprechender Weise den Nachruf sprechen für unseren Freund Fritz Mitscher, der als Frühverstorbener durch die Pforte des Todes gegangen ist. Und das, was für ihn gesagt ist, bezieht sich auf viele andere, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Wir sehen in ihnen unsere wichtigsten Mitarbeiter, und es wird nicht mißverstanden werden, wenn ich sage: Viel mehr als auf die Lebendigen können wir uns bei unseren geistigen Arbeiten auf die Toten verlassen.

Aber damit wir überhaupt so etwas aussprechen können, müssen wir ganz lebendig darinstehen in dem, was unsere spirituelle Be­wegung uns geben kann. Ich baue darauf, daß gerade auch nun auf dem äußeren Felde für die Spiritualisierung der Menschenkultur der Zukunft die durch die Pforte des Todes Gegangenen in unserer schlcksalschweren Zeit die wichtigsten Mitarbeiter sind. Denn dieser Tod, auf den jene zurückschauen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, er wird ein großer Lehrmeister sein. Und mancher braucht heute einen stärkeren Lehrer, als das Leben geben kann. Das kann man an mancherlei Beispielen sehen.

Ich möchte ein Beispiel anführen - manches andere könnte ange­führt werden: Ein aufsehenerregender Artikel, gegnerisch gegen die von mir vertretene Geisteswissenschaft, erschien vor mehreren Jahren in einer Zeitschrift, die in Süddeutschland herauskommt, im «Hoch­land». Dieser Artikel hat sehr viel Aufsehen gemacht. Er hat vielen

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eingeleuchtet, weil er von einem ganz berühmten Philosophen ge­schrieben war. Der Herausgeber jener Zeitschrift «Hochland» hat diesen Artikel aufgenommen. Er hat also eigentlich propagiert, wie er meint, eine solche sehr in Betracht kommende Anschauung über diese vertrackte Geisteswissenschaft. - Sehen Sie, es kommt wahr­haftig nicht darauf an, mit äußeren Mitteln sich dagegen zu wehren. Es ist durchaus begreiflich, daß die ganz gescheiten Leute der Gegen­wart Geisteswissenschaft töricht finden. Aber nachdem der Krieg aus­gebrochen war, hat sich etwas anderes ereignet. Der Herausgeber der genannten Zeitschrift ist ein guter Deutscher, ein sich deutsch fühlender Mensch. Der Mann, dessen Artikel er dazumal aufgenommen hat, hat jenem Herausgeber jetzt Briefe geschrieben, und dieser hat sie nun auch, nun, sagen wir, in seiner besonders begnadeten «Un­schuld» in den «Süddeutschen Monatsheften» abgedruckt. Versuchen Sie einmal, sie zu lesen, so werden Sie sehen, was alles an Gift und Galle gegen die mitteleuropäische Geisteskultur jener selbe Philosoph an den Herausgeber des «Hochland» schreibt, so daß jener Mann, also der Herausgeber, sich veranlaßt fühlt zu sagen: Wer so etwas denkt, den könnte man in Mitteleuropa nur in Irrenhäusern finden. -Denken Sie sich, was fur eine unendlich bedeutsame Kritik! Es gibt einen Herausgeber einer süddeutschen Zeitschrift. Dieser Heraus­geber nimmt einen Artikel auf, den er für maßgebend hält zur Ver­nichtung der Geisteswissenschaft, von dem er sagt: Das ist einmal ein guter Artikel über die Geisteswissenschaft von einem berühmten Philosophen! - Nach einiger Zeit bekommt der Herausgeber Zu­schriften von demselben Mann, die er dann bezeichnet als herrührend von einem Menschen, der ins Irrenhaus gehört. Also müßte man nicht, mit Lebenslogik schließend, nun fortfahren und sagen: Wenn der Mann jetzt ein Narr ist, so war er auch früher ein Narr, und der gute Herausgeber hat es dazumal nur nicht erkannt, daß er es mit einem Narren zu tun hat, als er gegen Geisteswissenschaft schrieb. - Das ist Lebenslogik. Man kann manchmal nicht abwarten, bis solche Lebenslogik wirkt, aber sie waltet schon in unserem Leben, und so kann man manchmal etwas nach diesem Rezept erleben. Dazumal ist der Artikel erschienen gerade gegen meine Geisteswissenschaft. Man

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hat ihn gelesen. Man hat gesagt: Ja, das ist ein berühmter Philosoph und Platoniker, er ist also besonders gescheit. - Der Herausgeber hat sich gesagt: Wenn jemand, der so gescheit ist, über die Geisteswissen­schaft schreibt, ist das ein bedeutender Artikel. - Es vergeht eine Zeit, und derselbe Herausgeber sagt: Der Mann ist ein Narr. - Aber er brauchte erst den Beweis auf die eben angeführte Weise. Ja, so geht es bei den Lebenden zu. Solche Menschen, die so wenig festen Boden unter den Füßen haben wie jener Herausgeber der süddeutschen Zeit­schrift, haben schon nötig, daß sie belehrt werden durch Ereignisse, die in viel tieferem Sinne durch das Leben der letzten Zeiten von der geistigen Welt her gegeben werden, als es genehm ist.

Und so werden Sie verstehen, wenn ich zu dem vorhin Gesagten zurückkehre: Unsere Zeit hat viele widerstrebende Kräfte gehabt, und wenn wir den Krieg eine Krankheit nennen - wir können das tun -, so ist das eine Krankheit, die herbeigeführt wurde durch etwas, was längst vorher sich abspielte, und er ist da zur Gesundung, damit manches ausgemerzt wird, was zur Schädigung des Lebens der ganzen Kultur nach und nach führen mußte. Wenn wir ihn in dem Sinne als Krankheit bezeichnen, wenn wir aber die Krankheit als ein Sich-zur Wehr Setzen anschauen, dann verstehen wir diesen Krieg und die schicksaltragenden Ereignisse der Gegenwart, verstehen ihn auch in seinen bedeutsamen Winken und Mahnungen. Dann erleben wir ihn mit allen inneren Kräften unserer Seele, so daß wir recht aufmerksam werden können auf diejenigen, die durch die Pforte des Todes ge­gangen sind und die hinschauen auf die nächste Zukunft und wirklich das gelernt haben werden, was sie dann in die Seelen, die sie hören wollen, hineininspirieren können: daß spirituelle Vertiefung, die zum Menschenheil und Menschenfortschritt in der nächsten Zukunft not­wendig ist, in sie hineinkommen muß.

Und wenn Ihre Seelen dasjenige, was ich mit diesen Worten sagen möchte, in der rechten Weise aufnehmen können, dann sind Sie erst im vollen rechten Sinne Bekenner unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Wenn Ihre Seelen den Entschluß fassen können, zu solchen Seelen zu werden, die Aufmerksamkeit zuwenden wer­den dem, was heruntergeraunt wird von jenen, die durch unsere

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schlcksaltragenden Ereignisse durch die Pforte des Todes gegangen sind.

Eine Verbindungsbrücke soll durch die Geisteswissenschaft ge­schlagen werden gerade für die nächste Zukunft zwischen den Le­bendigen und den Toten, eine Verbindungslinie, durch welche die inspirierenden Elementarkräfte derer, welche die großen Opfer in unserer Zeit dargebracht haben, den Weg herüber werden finden können.

Deshalb wollte ich in diesen Tagen, lehrend zu Ihren Seelen spre­chend, Empfindungen anregen. Diese Empfindungen sollen wie er­wartende Empfindungen sein dessen, was den Seelen gesagt wird durch die Wirkungen unserer schicksalschweren Zeit.

In diesem Sinne sei auch heute wiederum mit den Worten geschlos­sen, die ich schon vorgestern hier sprach, die wie ein Mantram in unseren Seelen wirken sollen, damit unsere Seelen Erwartende wer­den, Erwartende der Inspiration, die da kommen wird von den Toten, im Geiste aber ganz besonders lebendig Werdenden:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DIE BEZIEHUNG DES MENSCHEN ZU DEN NATURREICHEN UND DEN HIERARCHIEN - ZEITGEISTER UND VOLKSGEISTER - DIE MAHNENDEN STIMMEN DER TOTEN Prag, 13. Mai 1915

Es ist eine schwere Zeit, in welcher wir leben, eine Zeit wirksamer mutvoller Taten und hoher Opfer auf der einen Seite, eine Zeit schwerer harter Prüfungen für die Menschenseelen auf der andern Seite. Einiges von Empfindungen anzuregen gerade mit Rücksicht auf unsere schicksaltragende Zeit, möge zum Schlusse dieser Be­trachtungen dann meine Aufgabe sein. Da wir zusammensein dürfen in einer solchen Zeit, wollen wir am Schlusse unserer Betrachtungen auch gemäß dieser Zeit unsere Empfindungen gipfeln lassen. Aus­gehen aber wollen wir von etwas, das uns gerade über mancherlei, das bedeutungsvoll zu unseren Seelen sprechen muß in unserer Zeit, Licht verbreiten kann.

Wir nennen, seitdem wir beginnen, geisteswissenschaftlich die Welt zu betrachten, die vier Glieder unserer Menschennatur: physi­schen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Und wir wissen, daß das Ich oder vielmehr dasjenige in der menschlichen Wesenheit, das wir Ich benennen, durch das wir das Ich ausdrücken, das jüngste, aber auch für uns bedeutsamste Glied der menschlichen Wesenheit ist. Denn wäre der Mensch durch die Folge von Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit nur bestehend aus physischem Leib, Ätherleib und Astral­leib, so wäre er eben nicht Mensch. Der Mensch ist Mensch dadurch, daß er während der Erdenzeit durch die Geister der höheren Hier­archien sein Ich erhalten hat und daß er nun während der Erdenzeit dieses Ich sich im Laufe der aufeinanderfolgenden Inkarnationen weiter entwickelt durch verschiedene Menschengemeinschaften, durch Völker und Zeiträume hindurch, bis die Erde am Ziel ihrer Ent­wickelung angelangt sein wird und bis der Mensch dadurch, daß er sein Ich vollständig entwickelt haben wird, sein Erdenziel auch er­reicht haben wird. Nun wissen wir aber auch, daß es höhere geistige Wesenheiten gibt - wir gebrauchen dafür das Wort «höhere» -, die

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höheren Hierarchien angehören, die gewissermaßen über dem Men­schen stehen. Wir sprechen von der Hierarchie der Engel, Angeloi, von der Hierarchie der Erzengel, Archangeloi, der Archal oder Zeit-geister und so weiter nach aufwärts steigend. Wir bezeichnen sie durch diese Namen, wir könnten ebensogut andere Namen gebrauchen, aber die Namen sind einmal im Abendlande eingeführt.

Wir wollen uns nun einmal vor die Seele führen, wie wir uns denn eigentlich diese geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien im Verhältnis zu dem, was der Mensch hier auf der Erde ist, vorstellen können. Wir gehen davon aus, was der Mensch hier auf der Erde in seinem Umkreis hat. Wir wissen, es ist das Minerakeich, das Pflanzen­reich und das Tierreich, und der Mensch muß sich selber nach alledem, was er beobachten kann, wie er sich findet, das Menschenreich selbst als das höchste Reich betrachten. So daß wir sagen können: Wenn wir die sichtbaren Reiche auf der Erde hier nehmen, so haben wir als solche das Mineraireich, das Pflanzenreich, das Tierreich und das Menschenreich. Über diesen Reichen, gewissermaßen wie eine Fort­setzung nach oben, erscheint das Reich der Angeloi, der Archangeloi, der Archai und so weiter. Wir können uns einfach vorstellen, daß die Reiche mit dem Menschenreich nicht abgeschlossen sind, sondern sich auch nach oben weiter erstrecken, nur daß die höheren Reiche nicht gesehen werden können mit den Sinnen, welche die äußeren Sinne sind.

Allein es könnte auffällig erscheinen,. daß, wenn wir hinaufgehen vom Mineral-, Pflanzen- und Tierreich zum Menschenreich, dann auf einmal über dem Menschenreich die Unsichtbarkeit beginnt. Es wird das aber nur so lange auffällig sein, als man nicht bedenkt, daß die Tiere - für den ist das ganz klar, der sich ganz in das tierische An­schauungsvermögen versetzen kann - den Menschen nicht so sehen, wie der eine Mensch den andern sieht. Wenn die Tiere reden könnten, würden sie von sichtbaren Reichen nur sprechen als von Mineral-, Pflanzen- und Tierreich; sie würden sich selber als das höchste sicht­bare Reich betrachten. Daß die Tiere den Menschen so sehen, wie ein Mensch den andern, ist nur ein Vorurteil. Für die Tiere sind wir Menschen wirklich von einem übersinnlichen, gespensterhaften Dasein;

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und wenn die Tiere nur solche Wahrnehmungen hätten, wie wir sie haben, so würden sie die Menschen nicht sehen, sondern sie wären für sie so unsichtbar wie für die Menschen das Reich der Engel. Nur weil sie eine gewisse Art von traumhaftem Hellsehen haben, so sehen die Tiere den Menschen als Gespenst, als ein übersinnliches Wesen. Von dem Bild, das ein Tier vom Menschen hat, kann sich der Mensch als solcher unmittelbar keine Vorstellung machen. Dafür allerdings sehen die Tiere auch nach unten etwas, oder besser gesagt, nehmen nach unten etwas wahr, was der Mensch nach unten nicht mehr wahrnimmt. Nämlich die Tiere nehmen nicht nur so wahr, wie der Mensch die mineralische Welt wahrnimmt, sondern sie nehmen noch - besonders stark die niederen Tiere - etwas ganz anderes wahr. Wenn ein Tier, ich will sagen, eine Schnecke über den Boden kriecht, dann nimmt sie die ganze Eigentümlichkeit des Bodens wahr. Das würde den Menschen fortwährend stören, wenn er, indem er über den Erdboden geht, diesen so wahrnehmen würde wie eine Schnecke oder selbst eine Schildkröte. Mit den höheren Tieren, die warmes Blut haben, ist es etwas anderes, aber gerade die niederen Tiere nehmen wirklich die ganze Eigentümlichkeit des Bodens wahr, auf dem sie kriechen. Sie nehmen die ganze Eigentümlichkeit der Luft wahr, sie nehmen alles, was um sie herum ist, in einer ganz andern Weise wahr als der Mensch. Das Tier weiß, ob es sich über einen Boden, der Moorboden ist, oder ob es sich über einen Sandboden hinbewegt, denn es nimmt die ganze Eigentümlichkeit des Bodens in sich wahr. Und zwar ist das so ähn­lich, wie wir die Dinge in unserer Umgebung hören. Alle mineralische Welt ist in einem feinen Erzittern von Kräften durchsetzt, die der Mensch nicht wahrnimmt. Dieses feine Erzittern, diese Kräfte nimmt das Tier so wahr, daß es das eine als sympathisch empfindet, das andere nicht. Wenn das Tier zum Beispiel von einer Bodenart zur andern umkehrt, so ist es nicht so, daß das Tier es sieht wie der Mensch, sondern weil ihm etwas schmerzlich ist, weil die feinen Bewegungen in ihm nachklingen, weil es sich wie dazugehörig fühlt. Das ist eine Art von instinktivem Hören, wie ein Mithören dessen, was in dem Boden vorgeht, oder das ist wie ein Riechen. So daß wir sagen können:

Das Tier nimmt ein Elementarreich wahr und läßt vom Menschen an

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schon eine höhere Hierarchie gelten. - Wir sind also mitten hinein­gestellt in die Welt, die wir als die äußere Sinnenwelt, die äußeren Reiche der Sinnenwelt kennen, und die Welt der höheren Hierarchien. Die niederen sichtbaren Hierarchien nennen wir die Naturreiche, die unsichtbaren nennen wir die höheren Hierarchien.

Nun wissen wir aber auch, daß ein solches Wesen der höheren Hier­archien, zum Beispiel ein Angelos, auch einmal die Stufe der Mensch­heit durchgemacht hat. Das war, während die Erde die alte Monden­zeit durchmachte. Da war der Mensch noch nicht Mensch; denn er hatte kein Ich; er war erst auf der Vorbereitungsstufe der Menschheit und hatte als höchstes Glied seiner Wesenheit den Astralleib. Die Wesenheiten, die zur Hierarchie der Angeloi gehören, hatten während der alten Mondenzeit ihre menschliche Stufe durchgemacht. Und die Geister, zu denen wir uns wenden als den schützenden Geistern des einzelnen Menschen, das sind diese Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, von denen jedem gleichsam ein Mensch zugeteilt ist. «Gei­ster Eurer Seelen» sind diejenigen, die unmittelbar in der Hierarchie über dem Menschen stehen, die wirklich ihre schützenden Schwingen, symbolisch gesprochen, über die Menschen hin wirken lassen, und zwar über das einzelne menschliche Individuum wirken lassen.

Dann kommen wir zu der Hierarchie der Archangeloi. Die waren auch einmal Menschen. Während der alten Sonnenzeit waren die Wesenheiten, die wir heute Archangeloi nennen, auf der Menschen-stufe. Sie waren nicht so gestaltet wie heute die Menschen, selbstver­ständlich nicht, ganz anders waren sie gestaltet, aber sie waren dazu­mal auf ihrer Menschenstufe. Wir dürfen uns nicht vorstellen, daß während der alten Sonnenzeit die Archangeloi so ausgesehen haben wie heute die Menschen, aber in bezug auf ihre Entwickelung waren sie dazumal auf ihrer Menschheitsstufe. Und ebenso waren die Geister der Persönlichkeit oder Zeitgeister während der alten Saturnzeit auf ihrer Menschenstufe.

Nun, nehmen wir herausgreifend einmal diese Geister, die wir be­zeichnen als Archangeloi. Da haben wir solche Geister als Archangeloi, welche während der alten Sonnenzeit durchgemacht haben ihre Menschheitsstufe, die aufgestiegen sind zu der Stufe der Engel während

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der Mondenzeit, und die heute zur Stufe der Archangeloi auf­gestiegen sind. Diese geistigen Wesenheiten wollen wir zunächst ein­mal, als zwei Stufen über uns stehend, gleichsam hingestellt sein lassen vor unsere Seelen; später werden wir darauf zurückkommen. Dann haben wir die geistigen Wesenheiten, welche während der alten Saturn zeit Menschen waren, sie sind heute Geister der Zeit, sie stehen drei Stufen über uns. Wir wollen sie wiederum hingestellt sein lassen. Und jetzt wollen wir unser Verhältnis gerade zu diesen beiden Arten von geistigen Wesenheiten betrachten.

Wenn der Mensch eine Inkarnation durchmacht - also nehmen wir an, heute in unseren Erdenleibern leben wir in einer Inkarnation -, dann stehen über uns Geister, die wir zu der Hierarchie der Engel, dann Geister, die wir zu der Hierarchie der Archangeloi, und solche, die wir zu der Hierarchie der Archai, Zeitgeister oder Geister der Per­sönlichkeit rechnen. Die machen aber auch ihrerseits eine Entwicke­lung durch. Greifen wir einmal heraus die Archai, die Geister der Persönlichkeit oder Geister der Zeit. Wir machen also unsere Inkarna­tion durch, gehen dann durch die Pforte des Todes, gehen nach dem Tode in eine geistige Welt ein, machen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt eine gewisse rein geistige Entwickelung durch und kommen dann durch eine neue Geburt wiederum in ein Erdendasein. Nun können wir fragen: Wovon hängt das ab, ob wir uns nach einer gewissen Anzahl von Jahren wiederum auf die Erde herunter-bewegen? In öffentlichen Vorträgen wird diese Frage öfter aufgewor­fen. Man kann dann von gewissen Gesichtspunkten aus schon eine Antwort geben, aber intim in unseren Zweigen sprechend können wir eine sachlichere, mehr auf das Reale hindeutende Antwort geben.

Während wir hier im physischen Leibe leben, hat der Zeitgeist eine ganz bestimmte Entwickelungsstufe. Er tut irgend etwas, was mit der Entwickelung der Menschen auf Erden zusammenhängt, und er macht seinerseits eine Entwickelung durch. Wenn dieser Zeitgeist im Laufe erner Entwickelung soweit gekommen ist, daß wir alle von ihm haben in uns einfließen lassen, was er seinerseits da oben durchmacht, durch­gemacht hat, dann sind wir gewissermaßen reif, zu einer Erdeninkar-nation hinunterzukommen. Und wenn er seinerseits wiederum eine

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Stufe weitergekommen ist und wir uns durch die geistigen Welten entwickelt haben bis zu einer gewissen Stufe, können wir wiederum in eine Erdenentwickelung eintreten. Verstehen wir uns in dieser Be­ziehung gut. Sehen wir zunächst einmal von unserer eigenen Ent­wickelung ab. Sehen wir, wie da in einer sehr langen Zeitperiode der Geist der Zeit seine Entwickelung durchmacht.

Ich will das Folgende sagen: Wenn wir die Entwickelung der Erdenmenschheit so betrachten, daß wir zurückgehen bis zu der Be­gründung des alten Rom, etwa achthundert Jahre vor dem Mysterium von Golgatha - wenn wir also bis zur Begründung von Rom zurück­gehen -, dann finden wir, daß da ein bestimmter Zeitgeist mit seiner Entwickelung einsetzte. Vorher war ein anderer Zeitgeist leitend und lenkend die Geschicke der Erde. Und dieser Zeitgeist, der dazumal gewissermaßen als Zeitgeist die Führung der Erde übernommen hatte in ihrer geistigen Entwickelung, war bis ins 16.Jahrhundert hinein führend. So lange führt ein Zeitgeist die Geschicke der Erde. Seit jener Zeit, also seit dem 16. Jahrhundert, ist ein anderer Zeitgeist da. Wir haben es also da mit zwei Zeitgeistern zu tun. Der Mensch, der zum Beispiel im 3. Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha in irgendeiner Inkarnation auf der Erde war, machte dasjenige durch, was dieser Zeitgeist für die Erde bewirkte. Für die Zeit nach seinem Tode, wenn dieser Mensch im 3. Jahrhundert gestorben ist, oder auch im 2. Jahrhundert, kann ihm der Zeitgeist zunächst nichts geben. Was er ihm hat geben können, das hat er ihm gegeben. Jetzt muß der Zeit­geist erst wiederum seinerseits eine Reihe von Jahren durchmachen, bis er dem Menschen etwas Neues geben kann. Dann kommt dieser Mensch, der zwischen Tod und Geburt in einer geistigen Welt ge­wesen ist, wiederum auf die Erde herunter, wenn der Geist ihm etwas Neues geben kann. Nun ist es allerdings so eingerichtet, daß der Mensch im Durchschnitt eigentlich mehrmals kommt, denn der Zeit­geist ist nicht in der Lage, dem Menschen immer alles zu geben, was er ihm geben könnte, wegen der Unvollkommenheit der Menschen. Dadurch kommt der Mensch mehrmals in der Zeit, in der ein Zeit­geist sich entwickelt. Aber im wesentlichen hängt es doch davon ab, daß die Zeitgeister die aufeinanderfolgenden Inkarnationen der Menschen

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regeln. Nun regeln aber die Zeitgeister ihrerseits diesen ganzen Lauf der menschlichen Geschicke dadurch, daß sie gleichsam Unter­gebene haben. Und das sind die Erzengel. Solche Erzengel regieren gewissermaßen in untergeordneten Stellungen viel kürzere Zeit als die Zeitgeister. Während die Zeitgeister so lange regieren, wie ich es vor­hin angeführt habe, wir also einen Zeitgeist von der Gründung Roms bis ins 16. Jahrhundert annehmen können, regieren die Geister, die wir zur Hierarchie der Erzengel rechnen, nur etwa zwischen drei und vier Jahrhunderten. Sie wechseln so ab, daß etwa sechs oder sieben hinter­einander kommen, während ein Zeitgeist regiert. So daß wir um die Zeit, in der das Mysterium von Golgatha stattfindet, zuerst die Regie­rung in der geistigen Entwickelung desjenigen Erzengels haben, den wir bezeichnen mit dem Namen Oriphiel. Dann kommt die Regierung des Anael, dann die Regierung des Zachariel, des Raphael, des Samael, des Gabriel; und jetzt seit dem Jahre 1879 haben wir die Regierung desjenigen Erzengels, den wir als Michael bezeichnen. Also wir haben, wenn wir die geistigen Welten anschauen, gleichsam die höhere Regie­rung der Zeitgeister und darunterstehend, aufeinanderfolgend in der Zeitenfolge, die Regierungen von Erzengeln. Weil der Mensch nicht alles aufnehmen kann, was ihm der Zeitgeist geben würde, so nimmt er es nicht direkt aus der Hand des Zeitgeistes, sondern aus der Hand des Erzengels, der weniger höheren Macht. Halten wir also fest: Un­mittelbar unsere persönlichen Schützer gehören in die Hierarchie der Angeloi. Darüber stehen diejenigen, die mehr die Menschen im Zu­sammenhang der Menschen regeln. Und über ihnen stehen die Archai oder Geister der Persönlichkeit oder Zeitgeister.

Wenn ich so rede, handelt es sich immer um diej enigen Wesenheiten, welche wirklich regelrecht ihre Entwickelung durchgemacht haben. Aber nicht alle Geister machen regelmäßig ihre Entwickelung durch. Es gibt wirklich geistige Wesenheiten, die während der Saturnzeit schon Archai gewesen sind, die aber auf der Stufe der Archai, also auf der damaligen Stufe zurückgeblieben sind. Sie sind also jetzt während der Erdenentwickelung über ihre Saturnstufe nicht hinausgekommen. Sie sind in Wirklichkeit nicht aufgestiegen zur Stufe der regelmäßigen Entwickelung. Sie haben ihren Menschencharakter beibehalten, sind

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auf der einen Seite übersinnliche Saturnwesen, stehen aber auf der Stufe der Menschheit. Ebenso gibt es Wesen aus der Hierarchie der Archai, die auf der Sonne auf der Menschenstufe stehen blieben und jetzt in der übersinnlichen Welt noch als Menschen dastehen. Diese Wesenheiten bezeichnen wir ja mit einem Sammelnamen als luzife­rische Wesenheiten, die also zurückgeblieben sind, oder aber als ahri­manische Wesenheiten. Auf den Unterschied zwischen luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten können wir uns heute nicht ein­lassen. Es sind zurückgebliebene Geister.

Nun müssen wir uns die Frage beantworten: Wie empfängt der Mensch, hier in seiner Erdeninkarnation stehend, den Einfluß der Geister, die regelrecht fortgeschritten sind, der Zeitgeister, Archai, und der Archangeloi, die ihre Diener sind? Übersinnlich sind diese Wesenheiten - der Mensch kann zu ihnen nicht in eine solche Be­ziehung treten wie zur sinnlichen Welt. Daher weiß der Mensch in der Regel nicht, wenn er sich bloß auf die Sinneswelt verläßt, daß er hineingestellt ist in eine Entwickelung, die über ihm lenken die Archai und Archangeloi. Er weiß es nicht; aber in all das, was sein Wesen ist, greifen diese übersinnlichen Wesenheiten ein. Nun gehören auch die­jenigen geistigen Wesenheiten, die wir Volksgeister nennen, die also die ganzen Völker lenken, in die Reihe der Archangeloi, der Erzengel. Und insofern wir dasjenige, was wir sind, dem Volke verdanken, dem wir angehören, müssen wir das, was uns das Volkswesen gibt, als eine Gabe des entsprechenden Wesens aus der Hierarchie der Angeloi an-sehen. Es ist die Inspiration der Archangeloi, welche uns zukommt dadurch, daß wir in ein Volk hineingestellt sind. Nun brauchen wir nur zu bedenken, was es für den Menschen bedeutet, daß er in ein Volk hineingestellt ist. Mit dem Volkstum fließen ja geistige Eigenschaften, aber auch Gewohnheiten; es fließt eine ganz bestimmte Konfiguration des Wesens in den Menschen hinein. Man kann sich gar nicht vor­stellen, daß man das, was man in einer Inkarnation ist, anders gewor­den wäre als dadurch, daß man es geworden ist durch die Gabe des Volksgeistes - also in Wirklichkeit durch die Gabe einer Erzengel-wesenheit.

Außer dem, daß wir innerhalb eines Volkstums stehen und also, von

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einem Erzengelwesen inspiriert, gewisse Konfigurationen unseres gan­zen Seins empfangen, stehen wir in der Entwickelung der Gesamt-menschheit. Und da unterstehen wir den Intuitionen, in die uns hinein-leitet der Zeitgeist aus der Hierarchie der Archai. Sie müssen dabei bedenken, daß wir heute in unserer jetzigen Geisteskultur etwas emp­fangen, was wiederum über alle Volksdifferenzierung hinausgeht; was wir dadurch haben, daß wir vom 19. ins 20. Jahrhundert hineinleben, was wir nicht gehabt hätten, wenn wir während der römischen oder griechischen Zeit gelebt hätten. Das verdanken wir dem Zeitgeist. Und man kann streng unterscheiden: Zeitgeistgabe und Volksgeist-gabe. Wenn nun aber nur das wäre, was regelmäßige Entwickelung des Menschen ist, was regelmäßige Entwickelung des Angelos, des Archangelos, was regelmäßige Entwickelung des Zeitgeistes ist, dann würden wir, jeder einzelne, die Gabe stets von unserem Zeitgeist und von unserem entsprechenden Volksgeist empfangen und würden uns durch den Empfang dieser Gabe entwickeln. Die Menschen auf der Erde würden sich nebeneinander entwickeln. Alle Angehörigen ver­schiedener Völker über die Erde hin würden die Gabe der Volks-geister auf der Erde empfangen so, wie wenn in einem Saal fünf Bilder ganz verschieden voneinander hängen würden, die Verschiedenes dar­stellen, aber das eine Bild nicht im geringsten das andere stören würde. So würden einzelne Menschen nebeneinander auf der Erde die Gabe ihrer Volksgeister empfangen. Sie würden sich nicht stören, wenn alle Entwickelung regelmäßig vor sich gegangen wäre. Aber da sind zu­rückgebliebene Wesenheiten. Unter den lenkenden Archangeloiwesen sind solche, die ihre Entwickelung richtig auf der Sonne begonnen haben und bis zur Erdenzeit richtige Archai geworden sind, aber auch solche, die auf der Sonnenstufe stehengeblieben sind, die im Grunde erst auf der Stufe von Menschen sind. Diese Wesenheiten also stehen auf derselben Stufe wie die Volksgeister, und doch wiederum sind sie hinter ihnen zurückgeblieben, haben erst die Eigenschaften von un­sichtbaren übersinnlichen Menschen, nicht von Archangeloi. Sie sind zurückgeblieben, diese Wesenheiten. Sie machen in einer gewissen Weise dieselben Ansprüche an die Welt wie die Archangeloi, aber sie haben ja die Stufe der Archangeloi auf der Erde nicht erreicht. Daher

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müssen sie in gewisser Weise mit denselben Kräften wirken wie auf der Sonne. Die Folge davon ist, daß sie den Menschen anstatt wie Archangeloi, wie Menschen ergreifen, wie unsichtbare Menschen, die hineinfahren in die Menschennatur, die den Menschen nicht von oben lenken, sondern hineinfahren in die Menschennatur. Und von diesen Geistern, die also in gewisser Weise in Konkurrenz treten mit den wirklich führenden Volksgeistern, kommt es, daß die Völker einander befehden, nicht miteinander auf der Erde in Frieden leben. Der Mensch würde gar nicht versucht sein, seine Persönlichkeit, sein Menschentum mit seinem Volkstum zu identifizieren, sondern er würde das Volks­tum wie etwas betrachten, was ihn geistig nährt. Er würde aber nicht streitmäßig für sein Volkstum eintreten, nicht seine Persönlichkeit damit identifizieren. Der Mensch würde nicht sagen, ich bin der oder der Nationalität, sondern: Die Nationalität ist da, und ich muß, weil ich nun eben in sie hineingeboren bin, auf dem Umweg durch diese Nationalität meine geistige Nahrung ziehen. - Aber indem der Erz­engel ihn dazu aneifert, so zu denken, kommt der andere, der eigent­lich auf der Stufe der Menschheit steht und im Grunde ein luziferischer Geist ist, und führt ihn in die Nationalität hinein. Und die Folge davon ist, daß nicht dasjenige, was erzengelhaft ist, als Gabe auf den Men­schen herabkommt, sondern daß der Mensch sich mit dem Volkstum identifiziert wie mit einer ganz persönlichen Angelegenheit, und da­durch kommt dieser Streit der Nationalitäten auf der Erde. Darüber mussen wlr uns durchaus klar sein: Weil wir nicht nur sozusagen uns in den Einfluß des führenden Erzengels setzten, sondern auch in die Beeinflussung des stehengebliebenen, des zurückgebliebenen Erz­engels, identifizieren wir uns in der Art mit der Nationalität, wie wir das auf der Erde tun. Darin besteht gerade das Geisteswissenschaft­liche im Empfinden, daß wir uns als Menschen hinauszuheben ver­stehen über das bloß Nationale, um zum allgemeinen Menschentum den Zugang zu finden. Dann können wir im eminentesten Sinne national sein. So wie der einzelne Mensch das eine und der andere etwas anderes als Kunst betreiben kann, und der eine, indem er die seine Kunst betreibt, nicht der Gegner des andern zu sein braucht, so brauchte nicht der eine national der Gegner des andern zu sein, wenn

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es keine in der Entwickelung zurückgebliebene Erzengeiwesen gäbe, die die Identifizierung bewirken. Das muß man durchaus voraus­setzen, wenn man überhaupt von dem sprechen will, was der Men­schenentwickelung mit Bezug auf das Nationale oder sonstige Diffe­renzierungen zugrunde liegt.

In bezug auf den Zeitgeist werden Sie Genaueres noch einsehen, wie da das luziferische Element in das regelrechte Element hinein-wirkt, wenn wir das Folgende betrachten. Ein Zeitgeist wirkt ja eine bestimmte Zeit hindurch. Seit dem 16. Jahrhundert ist ein neuer Zeit­geist da. Dieser Zeitgeist hat seine ganz bestimmte Aufgabe. Er hat die Aufgabe, zu den früheren Entwickelungsimpulsen das ganze mate­rialistische Können und Verstehen der Welt hinzuzufügen. Daher hat das Materialistische in der Welt so große Fortschritte gemacht seit dem 16. Jahrhundert. Wir brauchen deshalb nicht das materialistische Ver­stehen als etwas Minderwertigeres anzusehen als die frühere Art des Verständnisses, wenn wir uns nur nicht einseitig mit ihm identifizieren. Was wird der sagen, welcher die Sache auf diese Weise anschaut, über die Regierung der verschiedenen Zeitgeister? Er wird sagen: Jetzt sind wir von dem bestimmten Zeitgeist beherrscht; vorher waren wir von einem andern Zeitgeist beherrscht, da haben die Menschen andere Vorstellungen, andere Impulse gehabt. Und wenn der Mensch nun sich nur beeinflussen lassen würde von den regelrecht sich fortent­wickelnden Zeitgeistern, so würde er sagen: Wir müssen uns jetzt eben diesem Zeitgeist anpassen, indem wir mehr eindringen in die Gesetze des Werdens der Welt, des materialistischen Denkens. Dann wird wiederum nach einer Zeit ein anderer Zeitgeist kommen; der wird einen andern Geist in das menschliche Denken hereinbringen.

Ich habe es schon öfter betont, daß wir gerade als Bekenner der Geisteswissenschaft sagen müssen: Heute verkünden wir Geistes­wissenschaft mit ganz bestimmten Worten und Vorstellungen und Begriffen, aber es ist nicht so, daß wir glauben, dasjenige, was wir heute sagen, gelte für alle Erdenzukunft, sondern es wird sich wan­deln. Wenn zweitausend Jahre mehr vorüber sein werden, wird auch dasjenige, was wir heute Erkennmis der Geisteswissenschaft nennen, mit andern Worten verkündigt werden, ebenso wie wir heute anders

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reden als in der Griechenzeit; nichts wird bleiben von der Art unserer Worte. Wir bauen nicht auf irgend etwas äußerlich Bleibendes, son­dern wir wissen, daß ein Zeitgeist den andern ablöst und daß alle gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Wer aber dadurch beeinflußt ist, daß zurückgebliebene Zeitgeister vom Saturn in ihm wirken und sich dadurch mit deren Einfluß identi­fiziert, der sagt: Die andern Menschen waren damals alle dumm, das war die Kinderstube der Menschheit. Wir haben es heute herrlich weit gebracht; wir haben heute restlos gültige Wahrheiten für alle Zukunft gefunden! - Demütiger, bescheidener wird man auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft. Wer sich mit dem Zeitgeist identifiziert, sagt: Kopernikus hat nun endlich das Richtige gefunden; früher wurde etwas anderes geglaubt. Nun werden die Menschen für immer sagen:

Die Erde und die Planeten bewegen sich in einer Ellipse um die Sonne. Die Sonne steht in der Mitte! - Heute schon weiß Geisteswissenschaft, daß das eine einseitige Lehre ist. Sie ist sehr gut für unsere materia­llstische Zeit, um die Welt vorzustellen, aber absolut ist sie falsch. Es ist gar nicht wahr, daß die Sonne in einem Brennpunkt der Ellipse steht und die Erde sich darum bewegt. In Wahrheit ist das alles eine materialistisch ausgerechnete Scheinbewegung. In Wahrheit ist es so, daß die Sonne sich selbst bewegt und die Erde und die andern Planeten ihr in einer schraubenförmigen Bewegung nachlaufen. Und dadurch, daß gewisse Stellungen, wenn es so schraubenförmig herumgeht, ent­stehen, steht die Erde einmal so, ein andermal so. Dadurch kommt der Schein einer Ellipse heraus. In Wahrheit ist es eine andere Linie. Kom­men wird die Zeit, da auch die äußere Wissenschaft das wissen wird.

Man wird bescheidener, wenn man weiß, daß die Wahrheiten in einer bestimmten Form ausgesprochen nur für gewisse Zeiten gelten. Und wir werden niemals als richtige Bekenner der Geisteswissenschaft behaupten: Von jetzt an in alle Zukunft hinein werden alle Menschen sagen, der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, sondern die Zukunft wird wieder ganz anders sprechen. Darauf kommt es an, daß alles in Entwickelung sei; daß die Ideen von gestern so berechtigt sind wie die Ideen von heute; daß wir uns nicht nur beherrschen lassen von einem Zeitgeist, der uns vorgaukelt, daß

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alles Frühere eitel Trug und Täuschung war und wir es so herrlich weit gebracht haben. Mit Bezug auf den Zeitgeist sehen Sie an den Menschen die Besessenheit von dem luziferischen Geist, die da sagen:

Wie herrlich weit haben wir es doch gebracht! Wie unvollkommen war doch alles, was man früher über die Welt gedacht und gesagt hat! Das aber, was wir nun gefunden haben, das wird bleiben. Als ewige Wahr­heiten wird bestehen bleiben das, was man seit dem 16. Jahrhundert gefunden hat.

Dasjenige also, was man im allgemeinen Volksgeist nennt, ist im Grunde also schon eine komplizierte Wesenheit. Es ist der regelrechte Volksgeist, der gewissermaßen über uns schwebt und dem wir, wenn wir ihm allein folgten, so folgen würden, daß wir seine Gaben hin­nehmen, weil wir in seine Sphäre hineingestellt sind. Aber er wird fortwährend beeinträchtigt in seiner Wirksamkeit durch seinen luzife­rischen Beigesellen, der in uns hineinfährt, der uns veranlaßt, uns als einzelner Mensch mit dem ganzen Volkstum zu identifizieren. Das aber tut der einzelne Mensch doch in verschiedener Weise; und da ist es von ganz ungeheurer Wichtigkeit, daß wirklich eingesehen werde, daß in der Mitte von Europa ein Volkstum sich entwickeln muß, welches in anderer Weise zu seiner ganzen Volksgeistwesenheit steht als dasjenige, was an der Peripherie von Europa ist. Und diese Ein­sicht müssen wir uns schon einmal aneignen. Es ist im höchsten Maße bedeutungsvoll, was sich unter der Oberfläche des menschlichen Be­wußtseins vollzieht, und was wirklich schon einmal von den geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien abhängt. Heute wird es der materialistisch denkende Mensch noch als einen Wahnsinn erklären, wenn man sagt, daß von den geistigen Wesenheiten solche Impulse ausgehen, die ich eben genannt habe, wie dieser einer ist, daß in Mittel­europa, ohne daß die Menschen es wußten, die Volkheit gedrängt wor­den ist zu einer solchen Empfindungsweise gegenüber dem Göttlichen oder - weil in Mitteleuropa der Christus wirkt - zu dem Christlichen; daß der mitteleuropäische Mensch lernt, den Christus so zu empfinden, wie er zu dem Innersten der Seele spricht. Das ist nicht auf irgend­einem andern Grund und Boden so gewesen wie in Mitteleuropa. Man verstand zum Beispiel noch während der römischen Zeit der christlichen

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Entwickelung den Christus gewiß als eine Wesenheit, die auf die Erde gekommen ist, die für die Menschen gewirkt hat. Gewiß, die Fortgeschritteneren und zum Teil die, welche überhaupt schon so ge­dacht haben, wie wir heute denken, die wir im Besitz der Geistes­wissenschaft sind, empfanden, wie Paulus gedacht hat: «Nicht ich, sondern der Christus in mir!» Aber, es ist noch ein Unterschied gegen­über einem Empfinden, wie wir es finden bei Meister Eckart, bei Tauler, bei Angelus Silesius und ähnlichen Geistern. Wie haben diese Geister das Mysterium von Golgatha aufgenommen! Wir brauchen nur Angelus Silesius zu fragen; und er wird uns antworten mit dem schönen Spruch:

Wär Christus tausendmal in Bethiehem geboren

Und nicht in dir, du wärst noch ewiglich verloren!

Das Miterleben des Mysteriums von Golgatha in der eigenen Seele -darauf kommt es an. Diese mitteleuropäischen Menschen suchten innerlich etwas zu erleben, was ein innerliches Bild, ein innerlicher Ausdruck des Mysteriums von Golgatha ist. Und so wunderschön es ist, wenn sich Angelus Silesius einmal über den Tod ausspricht und sagt: Alles im Grunde, was in mir geschieht, geschieht letzten Endes dadurch, daß Gott in mir ist und die Dinge in mir vollzieht. Und wenn ich sterbe, so sterbe nicht ich, sondern eigentlich stirbt Gott in mir! -Denken Sie, welch wunderbar intime Unsterblichkeitsidee schon da-mit gegeben ist, daß man sagt: Gott stirbt in mir! - Denn Gott ist natürlich unsterblich. Wenn Gott in mir stirbt, dann ist der Tod nur scheinbar; dann empfindet man, wie Angelus Silesius empfindet: daß der Gott nur in einem scheinbar stirbt, denn Gott kann nicht sterben. Also ist das Sterben nicht, was es äußerlich erscheint, es ist nur eine Tatsache des Lebendigen. Und weil Gott nicht sterben kann - aber doch in einem stirbt -, ist damit schon die Unsterblichkeit empfunden.

Dieses innerliche intimste Zusammensein mit dem Gott, ob man es als Göttliches oder als Christliches empfindet, das ist dasjenige, was sich lange vorbereitet hat im Laufe der mitteleuropäischen Entwicke­lung. Und da haben nun die mitteleuropäischen Volksgeister so ge­wirkt, daß das einen äußerlichen sinnbildlichen Ausdruck, einen realen

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sinnbildlichen Ausdruck gefunden hat. Nirgends außer in Mittel­europa wird «Ich» gesagt, wenn man sein eigenes Ich meint, seine eigene Wesenheit. Es ist durch den Volksgeist, der sich als Sprachgeist manifestiert, die ganze Evolution so gelenkt worden, daß es allmählich dazugekommen ist, die eigene Wesenheit auszudrücken mit dem Wort Ich. Aber Ich, «I-Ch», ist Jesus Christus! Es liegt in Jesus Christus darin. Dadurch, daß in dem «Ich» Jesus Christus in seinen Anfangs­buchstaben ausgesprochen wird, ist das sinnbildlich ausgedrückt, was im mitteleuropäischen Geisteswesen liegt, wie es intim verbunden ist mit dem innerlichsten Erleben. Jedesmal, wenn man «Ich» ausspricht, spricht man die Anfangsbuchstaben « Jesus Christus » aus. Wenn man nur einmal auf solche Dinge, die wirklich heute noch als phantastisch angesehen werden, die geistigen Augen lenken würde, würde man schon finden, wie unbewußt die Geister der höheren Hierarchien in die menschliche Entwickelung immer hineinwirken, und dann Bedeut­sames finden in den Dingen, die man heute nur so hinnimmt.

Ich will nur eine wirklich bedeutsame Tatsache erwähnen. Man be­zeichnet eine gewisse Gruppe europäischer Menschen als Germanen. Und indem man in Mitteleuropa von Germanen spricht, meint man England, Holland, Norwegen, Schweden und auch noch andere. Man dehnt den Begriff der Germanen weit aus. Ich rede nicht von Agita­tion, sondern von dem, was in der Sprache gegeben ist. Wenn die Eng­länder sprechen, bezeichnen sie sich selbst nicht als Germanen, denn sie nennen nur die Deutschen Germans. Der Deutsche nennt sich « Deutscher», und wenn er von Germanen spricht, umfaßt er eine größere Gruppe von Menschen. Der Engländer wendet den Namen Germanen, Germans, bloß auf die Deutschen an, auf die, die nicht « er» sind. Das ist eine ungeheuer bedeutsame Tatsache. Es ist etwas, was im tiefsten Sinne bezeichnend ist für die Art, wie auf der einen Seite und auf der andern der Volksgeist wirkt; wie er in Mitteleuropa dahin wirkt, das Große zu umschließen, und der Volksgeist des eng­lischen Volkes bemüht ist, das, was Weiteres umschließt, von sich weg-zutun und auf den andern nur anzuwenden.

Überhaupt wird das, was die Sprache lehrt als den Ausfluß der wirk­samen Volksgeistigkeit, nach und nach in einer wunderbaren Weise

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für die Menschen wirklich herauskommen. Jetzt wird man noch wenig verstanden, wenn man so über die verschiedenen europäischen Völker spricht, wie ich es jahrelang vor diesem Kriege - gar nicht von diesem Kriege hervorgerufen - versucht habe in dem Zyklus «Die Mission emzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordi­schen Mythologie». Es wird das so aufgefaßt, als wenn man irgend­welche Werturteile aussprechen wollte. Aber man will keine Wert­urteile aussprechen, sondern bloß eine Charakteristik. Und nun kön­nen wir ja gerade die westeuropaaschen Völker dadurch charakterisie­ren, daß man das zum Ausdruck bringt, genau und präzise, was ich in diesem Vortragszyklus zum Ausdruck gebracht habe.

Wir wissen, daß des Menschen Seele aus Empfindungsseele, Ver­standes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele besteht, und daß in diesen drei Seelennuancen das Ich darinnen wirkt. Wenn wir nun das italienische Volk mit seiner Volksseele betrachten, so finden wir das Eigentümliche, daß da die Volksseele hinein inspiriert in die Emp­findungsseele. Und das ist das Charakteristische des italienischen Volkstums, daß die Volksseele hineinwirkt inspirierend in die Emp­findungsseele. Wenn nun etwas besessen ist von dem luziferischen Volksgeist, ist es auch die Volksseele. Und nun bedenken Sie, daß auf der einen Seite das Großartige des italienischen Volkes darin besteht, daß die Empfindungsseele inspiriert wird. Denken Sie an Dante, an alle die großen italienischen Künstler! Aber auch wiederum das Iden­tifizieren - gleichsam das Übermenschliche, das luziferisch zurück­geblieben ist in all den leidenschaftlichen Entwickelungsimpulsen, die innerhalb des italienischen Volkes auftreten! Damit wird kein Wert­urteil ausgesprochen, sondern bloß charakterisiert.

Bei dem französischen Volke können wir überall sehen, wie die Verstandesseele oder Gemütsseele inspiriert wird von der Volksseele, richtig die Verstandes- oder Gemütsseele.

Beim britischen Volke ist es die Bewußtseinsseele. Nun ist für den gegenwärtigen Menscbheitszyklus die Bewußtseins seele dasjenige, was den Menschen am meisten mit der äußeren physischen Welt in Zu­sammenhang bringt. Daher ist diejenige Volkheit, die von der Be­wußtseinsseele inspiriert wird, vor allem betraut mit der Mission, die

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materialistische Kultur zu befördern und zu pflegen. Damit wird wiederum kein Werturteil ausgesprochen, sondern nur charakterisiert, daß eben die britische Nation dazu berufen ist, die Bewußtseinsseele inspirieren zu lassen. Insofern der einzelne seinem Volk angehört, also insofern er von dem luziferischen Volksgeist inspiriert wird, identifi­ziert er sich mit der rein materialistischen Kultur der Gegenwart. Das finden wir wirklich in der britischen Kultur. So wie der einzelne in die britische Nation sich stellt, kommt das heraus, was eben der materia­listische Geist der britischen Nation ist, dieser eigentümliche Geist, der vom Jahre 1856 bis zum Jahre 1900 vierunddreißig Eroberungs­kriege geführt hat und siebenundfünfzig Millionen Erdenmenschen zu neuen britischen Untertanen gemacht hat, und der dann in unserer Zeit für die Freiheit einzelner Menschengruppen einzutreten vorgibt.

Wenn wir eine solche Zeit wie die unsrige betrachten, müssen wir uns durchaus klar sein, daß gerade diese unsere Zeit die Menschen gar sehr lehren wird, wie eine Mahnung zu empfinden, was man jetzt als den Gegensatz der einzelnen Völkergruppen Europas oder überhaupt eines großen Teiles der Erde hinstellt. Die Angehörigen von vierund­dreißig Nationalitäten stehen miteinander im Kriege, von kleinen Stammesunterschieden ganz abgesehen. Das sollte man als eine Mah­nung ansehen, wirklich einmal abzusehen von dem, was man bisher Geschichte genannt hat. Aber diese Betrachtungsweise wird gerade in unserer Zeit vorläufig noch bis zum Unfug geführt. Wie finden wir es wirklich bis zum Unfug getrieben, was die einzelnen Nationen Eu­ropas sich heute alles vorwerfen, wie man abwiegt die einzelnen äuße­ren Tatsachen, um die Ursachen des furchtbaren Krieges der Gegen­wart aufzufinden. Aber gerade dieser Krieg wird die Menschen lehren, daß man in seinen äußeren Ursachen nichts findet, sondern höchstens äußere Symptome für das, was tief innerlich verborgen in den Men­schengruppen durch die Führung fortgeschrittener und zurückgeblie­bener geistiger Wesenheiten besteht. Und zwingen wird in einer ge­wissen Weise gerade dasjenige, was die heutige Zeit als Prüfungen zeigt, zu appellieren an die spirituellen Untergründe, bei denen die Ursachen liegen für das, was heute äußerlich in der Welt vorgeht.

Von den verschiedensten Seiten her kann man zeigen, wie in den

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Untergründen des Bewußtseins dasjenige wirkt, was sich äußerlich zeigt. Ich will, obwohl die meisten der Freunde dieses Beispiel schon kennen, noch einmal darauf hinweisen, wie die ganze Landkarte Eu­ropas im ausgehenden Mittelalter dadurch bestimmt worden ist, daß die Jungfrau von Orleans in den Krieg zwischen England und Frankreich eingegriffen hat. Jeder, der unsere äußere Geschichte verständnisvoll ansieht, muß anerkennen, daß die Landkarte von Europa sich ganz anders gestaltet hätte, wenn nicht damals England von Frankreich besiegt worden wäre dadurch, daß die Jungfrau von Orleans eingriff in den Kampf. Aber die Jungfrau von Orleans war kein gelernter Stratege, kein Mensch, der auf dem Gipfel der Zeitbildung gestanden hätte. Sie war ein einfaches Menschenkind - ein Landmädchen. Aber durch sie haben Geister der höheren Hierarchien gewirkt in der Art, wie sie in dieser Zeit wirken mußten. Nun ist es ja bis in unsere Zeit durchaus notwendig gewesen, daß diese Geister im Unterbewußten wirkten, weil die Menschen noch nicht verstehen konnten, was nun geisteswissenschaftlich verstanden werden muß. Wir haben es in Le­genden oftmals schön ausgedrückt, wie höhere geistige Wesenheiten im Unterbewußten eingreifen. Und mit Recht, nicht aus Aberglauben, sondern weil es wirklich den Tatsachen entspricht, wird der Zeit, wo die äußere Welt für das Jahr am meisten zurückgegangen ist, der Zeit von Weihnachten bis zum 6. Januar, besondere Bedeutung beigemes­sen. Wenn man geistige Erkenntnisse nicht in der Weise, wie wir es heute auf dem Wege suchen, der in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» angegeben ist, sondern auf mehr elementare Art erreichen will, so konnte man in diesen dreizehn Nächten inspi­riert werden. Das ist zum Beispiel sehr schön ausgedrückt in der nor­wegischen Legende von Olaf Asteson. In dieser Legende wird uns angedeutet, wie Olaf Asteson vor dem Anbruch des Weihnachtsfestes zur Kirche geht; wie er vor der Kirche in einen Schlafzustand kommt und während der dreizehn Nächte schläft; wie er dann aufwacht am Dreikönigstag und wirklich dasjenige zu erzählen vermag, was er durchiebt hat. Und was er da bildlich in anschaulicher, aber primitiver Art erzählt, das entspricht demjenigen, was wir den Durchgang durch die Seelenwelt und den Durchgang durch das Geisterland nennen. Das

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alles hat Olaf Asteson erfahren in der Zeit, in die mit Recht das Weih­nachtsfest gelegt worden ist. Das soll uns andeuten, daß das natur­klndmäßige Hellsehen am besten in diesen dreizehn Nächten von Weihnachten bis zu dem Fest der Drei Könige entwickelt werden konnte.

Da nun die Jungfrau von Orleans solch ein Naturkind war, könnte man voraussetzen, daß sie in diesen dreizehn Nächten durch eine Art Traumzustand die Welt erlebt hätte, von der sie sprach, als sie das französische Heer gegen die Engländer führte, daß sie in diesen drei­zehn Nächten inspiriert worden wäre. Nun, das ist in einer eigentüm­lichen Weise geschehen. Jeder Mensch macht einen Schiafzustand durch, einen Zustand, wo die Sinne noch nicht sprechen, und zwar im Leibe der Mutter, bevor er das physische Erdenlicht erschaut. Das ist wirklich noch eine Art von Schlafzustand, und der reifste Zustand ist natürlich in den letzten dreizehn Tagen vor der Geburt. Das ist das Große, Gewaltige, das unsere Seele mit solchem Staunen erfüllt: Die Jungfrau von Orleans ist am 6. Januar geboren. Sie hat die Inspiration also wirklich in den dreizehn Nächten durchgemacht, aber bevor sie dem Erdenlicht ihr Auge geöffnet hatte. Daß der 6.Januar der Ge­burtstag der Jungfrau von Orleans ist, es ist deshalb auch absichtlich in unserem Kalender bezeichnet worden. Das ist etwas, was wir in seinem großen weltgeschichtlichen Zusammenhang erfassen müssen; denn es kann uns sagen, wie geheimnisvoll die Zusammenhänge in der Welt sind und wie geheimnisvolle Mächte in der Welt wirken. Sö wirkten geheimnisvolle Mächte dazumal am 6. Januar, da die Leute in dem kleinen Dörfchen, wo die Jungfrau von Orleans geboren wurde, des Morgens zusammenliefen; wo die Tiere selbst sich so wunderbar benahmen. An diesem 6. Januar konnte eine Inspiration abgeschlossen werden. In den dreizehn Nächten konnte ein Wesen inspiriert werden, das durch sein eigenes Karma dazu veranlagt war. Selbstverständlich -nicht jeder, der am 6. Januar geboren wird, ist dazu veranlagt, sondern das Karma muß zusammenfallen mit den andern Bedingungen.

Ich wollte dieses Beispiel der Jungfrau von Orleans anführen als ein solches, das uns so recht zeigt, wie unterirdische Mächte in das geschichtliche Werden und Entwickeln hineinspielen. Gewiß, dann

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kam die materialistische Entwickelung der folgenden Jahrhunderte. Diese mußte ganz begreiflicherweise solch ein Hinweisen auf Ge­schichtsuntergründe wie einen Wahnsinn ansehen. Das schadet nichts; wie es auch gar nichts schadet, wenn heute die Menschen draußen noch diese Geisteswissenschaft wie einen Wahnsinn ansehen. Durch­ringen wird sich diese Geisteswissenschaft schon.

Aber solche bedeutsamen Ereignisse, wie die sind, innerhalb der die Menschen der gegenwärtigen Zeit leben und in die sie sich ja durchaus hineininkarniert haben, um an ihnen in der einen oder andern Form teilzunehmen, sie bedeuten nicht immer das gleiche in der historischen Entwickelung. Heute bedeuten diese schicksakragenden Ereignisse eine Mahnung an die Menschen. Es ist ja wirklich schon eine solche Flut von Literatur über diesen Krieg geschrieben worden, aber in aliedem, was erschienen ist an Büchern, Broschüren und so weiter, finden wir noch nicht das, von dem man eigentlich voraussetzen muß, daß es gefunden werde, und das auch nach und nach gefunden werden muß. Man hört ofrmals: Über die Ursachen kann man eigentlich nicht reden, vielleicht nach dem Krieg, vielieicht erst nach Jahrzehnten werden die Menschen aus Dokumenten die wahren Ursachen dieses Krieges finden und wissen, wer eigentlich daran schuld war. - In jedem dritten Zeitungsblatt können Sie das lesen. Nun, darum handelt es sich nicht, sondern es handelt sich darum, daß man darauf kommen wird - und gerade durch diese heutige Zeit -, daß in diesen äußeren Veranlassungen eben nicht die wirklichen Ursachen zu sehen sind, sondern daß man die Ursache in der geistigen Welt zu suchen hat. Man wird finden, daß dieser Krieg wirklich hineingestellt worden ist wie das bedeutsame Karma des Materialismus, das durchgemacht wer­den muß, damit die Menschen eine Summe von Überzeugungen in sich aufnehmen, die aus dem Materialismus wiederum in den Spiritua­tismus hinüberführen. Diese Prüfung muß die Menschheit schon durchmachen.

Was geschieht denn im Grunde heute in so erschütternder Weise um uns herum? - Nun, wir wissen es ja, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, so läßt er zunächst in der physischen Welt sei­nen physischen Leib zurück. Er tritt zunächst in die geistige Welt ein

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mit seinem Ätherleib, Astralleib und Ich. Den Ätherleib wirft er bald ab; er wird der übrigen Welt mitgeteilt. Mit Astralleib und Ich geht er dann weiter durch das Seelenland, durch das Geisterland durch. Aber nun bedenken wir, daß heute eine große Anzahl von Menschen in verhältnismäßig kurzer Zeit und mit einem bestimmten Bewußtsein durch die Pforte des Todes geht; daß sie einen Ätherleib abwerfen, der sozusagen noch jahrzehntelang ein Menschenieben normal hätte ver­sorgen können. Wenn ein Mensch zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr stirbt, so wirft er einen Ätherleib ab, der seinen physischen Leib noch sechzig bis siebzig Jahre hätte versorgen kön­nen. Die Kräfte sind ja im Ätherleib darin, denn es geht auch im Geistigen nichts verloren. Alie die Menschen, die heute in der Blüte ihrer Jahre durch die Pforte des Todes gehen, übergeben der Welt einen Ätherleib, der noch ein langes Leben hindurch dieses Leben hätte unterhalten können. Diese Kräfte sind nun alle da in der geistigen Welt. Wie sind sie da, diese Kräfte? - Ich möchte Ihnen an einem an­schaulichen Beispiel, das aus unserem Kreise selbst entnommen ist, zeigen, was eine solche Erscheinung für eine Bedeutung hat.

Es war im verflossenen Herbst, da verlor eine zu unserem anthro­posophischen Kreise gehörige Familie ein Söhnchen, das sieben Jahre alt war, einen lieben Knaben. Es waren wirklich die äußeren Um­stände außerordentlich tragische. Der Vater war fortgezogen in den Krieg als deutscher Staatsbürger; er war eben krank geworden und im Lazarett. Eines Abends, gerade als Vortrag war in Dornach, wo unser Bau aufgeführt wird, zeigte man uns an, daß der kleine sieben­jährige Knabe fehle. Er war seit dem Abend nicht nach Hause ge­kommen. Nicht vergessen darf ich zu erwähnen, daß die Familie sich in Dornach als Gärtnersfamilie niedergelassen hat. Ich war selbst kurz vorher, aus Deutschland kommend, in die Schweiz gereist. Der Knabe war mir schon vor dem Bau entgegengekommen und reichte mir die Hand; ein sonniges, ein sehr liebes Kind war es. An jenem Abend wurden wir also benachrichtigt, daß der Knabe weg sei. Nun konnte man sich nichts anderes denken, als daß ein Möbelwagen, der Möbel für Mitglieder herbeigebracht hatte und in der Nähe des Baues um­gefallen war, auf das Kind gefallen ist. Nun müssen Sie zu alledem

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voraussetzen, daß ungezählte Jahre vorher kein Möbeiwagen an jener Stelle gefahren ist und seit jener Zeit auch nicht. Sie müssen ferner bedenken: Der Knabe wohnte bei seiner Mutter, die die Gärtnerei besorgt. Er war ein so lieber Knabe, daß er, als der Vater fort mußte, zur Mutter sagte, er würde ihr jetzt recht tüchtig helfen, weil der Vater nicht mehr da sei. Er war an jenem Abend in die sogenannte Kantine geschickt worden, um etwas für seine Mutter zu holen. Es war gar nicht weit, nur ein kurzer Weg liegt zwischen der Kantine und der Wohnung der Mutter. Auf diesem kurzen Weg ist eine Weg-kreuzung, so daß der Möbelwagen eine Biegung machen mußte. Nun wollte der Knabe eigentlich zehn Minuten früher weggehen, wurde aufgehalten von jemand, der mit ihm gehen wollte. Wäre er früher weggegangen und durch eine andere Türe, durch die er sonst weg-ging, so wäre er früher an dem Wagen vorbeigegangen und auf der linken Seite des Wagens, während er nun rechts ging. Dadurch, daß er später wegging, zu einer andern Türe hinaus und rechts von dem Möbelwagen, ist der Wagen, als er umklppte, gerade auf den Knaben gefallen. Die Leute hatten sich das angeschaut, auch die, die bei den Pferden waren. Niemand ahnte etwas davon, daß der Knabe unter den Wagen gekommen war. Man sagte dann: Der Wagen ist zu schwer, als daß wir ihn noch den Abend heben, morgen wollen wir das tun. - Zwischen fünf und sechs Uhr war das geschehen. Und nun waren wir etwa um viertel elf Uhr in der Lage, den Wagen unbedingt heben zu müssen. Bis zwölf Uhr war er gehoben; und wir haben das tote Kind hervorgehoben.

Nun, das erste, was ich erwähnen möchte, ist dieses, daß gerade solch ein Beispiel so recht geeignet ist, zu zeigen, wie die Menschen in bezug auch auf das Leben verkehrt denken. Und ich möcbte noch­mals einen, zwar schon oft gebrauchten Vergleich für dieses verkehrte Denken anführen. Nehmen Sie an, Sie sehen in einiger Entfernung einen Menschen, der am Rande eines Flusses geht. Plötzlich sehen Sie, daß der Mensch in den Fluß fällt. Sie laufen hin, da finden Sie an der­selben Stelle einen Stein. Natürlich sagen Sie, der Mensch ist über den Stein gestolpert, in das Wasser gefallen, dadurch fand er seinen Tod. Die Sache kann aber ganz anders sein, sie kann gerade umgekehrt

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sein. Es kann den Menschen der Herzschlag getroffen haben. Er ist in das Wasser gefallen, weil er vorher tot war; und er hat nicht den Tod gefunden, weil er in das Wasser gefallen ist. Dieser Fehler wird jeden Augenblick gemacht, besonders in der Naturwissenschaft. Man merkt es natürlich nicht, wenn er sich fein verbirgt.

So war es auch in bezug auf dieses Kind. Das Karma dieses Kindes war abgelaufen. Der Möbelwagen ist wegen des Kindes dort gefahren. Die geistigen Wesenheiten, die hinter dem Geheimnis walten, arrangierten die Sache so, daß das Kind seinen Tod finden konnte. Sieben Jahre war der Knabe alt. Ein recht jugendlicher Ätherleib, der hätte noch können viele Jahrzehnte das Leben versorgen, die Kräfte waren da. Nun, ich werde stets bekennen, was es heißt, daß seit einiger Zeit unser Dornacher Bau eingebettet ist in den vergrößerten Äther-leib des kleinen Knaben Theodor Faiß. Wirklich ist der Ätherleib ver­größert - er vergrößert sich nach dem Tode -, und der Ätherleib dieses kleinen siebenjährigen Theo bildet wie eine Art Aura des Baues seither. Und wenn man mit dem Bau zu tun hat, wenn man die Not­wendigkeit hat, die Ideen für den Bau zu finden, die ihn in der rechten Weise in die geistige Welt hineinversetzen, seit dem Tode dieses Kna­ben weiß man, daß man mitinspiriert wird durch den Ätherleib, der mit die Aura des Baues bildet, den Ätherleib vom kleinen Theo Faiß. Es könnte selbstverständlich keine Sehnsucht, originell zu erscheinen, mich verleiten, abzuleugnen, daß vieles von dem, was seither an Bei­trägen für den Bau entstanden ist, mitinspiriert ist durch den Um­stand, daß die Aura dieses Ätherleibes um den Bau herum ist und man im Bau gewissermaßen diese Hilfe hat, daß diese unverbrauchte Ätherkraft zugunsten des Baues wirkt. Denken Sie sich, was da hinter den äußeren Tatsachen für bedeutungsvolle innere Tatsachen stehen: Eine Familie verlegt ihren Wohnsitz in die Nähe des Baues. Da ist ein Knabe, durch sein Seelenwesen besonders veranlagt; er opfert seinen Ätherleib hin, damit der Bau eingehüllt ist in die Kraft dieses Äther-leibes. Da haben wir ein solches Beispiel, an dem wir ersehen, wie un­verbrauchte Ätherleiber, die hingeopfert werden, ihre Aufgabe in der Welt haben.

Da erst beginnt im Grunde dasjenige, was an Empfindungsgehalt

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aus unserer Geisteswissenschaft fließen soli. Daß man weiß, der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, man macht verschiedene Erdenleben durch -, daß man das theoretisch weiß, darauf kommt es wahrhaftig nicht an. Sondern darauf kommt es an, was in unser wirkliches Erleben eingefügt wird durch diese An­schauungen. Leben versucht man auch dadurch hineinzubringen in unsere Bewegung, daß man nicht nur theoretisch durch die Lehre, sondern durch das Leben selbst zu überwinden versucht den Unter­schied zwischen Lebenden und Toten. Als uns jüngst ein sehr lieber Mitheifer, Fritz Mitscher> gerade in seinem dreißigsten Jahre entrissen wurde und ich die Rede bei der Einäscherung in Basel zu halten hatte, bestand ein wichtiges Wort darin, daß ich mich zu dieser Seele wandte, um ihr, ich möchte sagen, bittend den Auftrag zu geben, auch nach dem Tode weiter unter uns zu arbeiten. Denn wir brauchen nicht bloß die sogenannten Lebendigen, sondern wir brauchen die Mitarbeit derer, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und in zwei­facher Weise werden sie mitarbeiten. Auf der einen Seite werden in der nächsten Zeit mitarbeiten eine große Anzahl von Ätherleibern, welche die Menschen abgelegt haben, die durch die Pforte des Todes ge­gangen sind in den schlcksalschweren Erlebnissen. Jugendliche, un­verbrauchte Ätherleiber sind jetzt wie eine große gewaltige Aura, in der wir leben. Und dann sind es auf der andern Seite die Individuall­täten selbst, die aus ihren Ätherleibern heraus weiter wirken. Hin-blicken auf den unverbrauchten Ätherleib können wir in dem Beispiel des kleinen Theo Faiß, wo der Ätherleib zum Inspirator wird für manches, was am Bau geleistet worden ist. Hinblicken auf die Indivi­dualität wollte ich in meiner Ansprache an Fritz Mitscher. So ganz und gar zu fühlen und zu empfinden, wie die Kluft ausgefüllt wird zwischen Leben und Tod, ist es, was zu unserer Geisteswissenschaft gehört. Denn nicht nur theoretisch wissen, sondern es ganz lebendig durchdringen, daß uns die Toten wie Lebende sind, daß die Toten etwas geben wie die jugendlichen, unverbrauchten Ätherleiber, muß uns bewußter Inhalt der Erdenzeiten werden. Und in diesen Äther-leibern, die Menschen angehört haben, die jetzt durch die großen schicksaltragenden Ereignisse den Tod gefunden haben, leben ja die

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Nachklänge von alledem, was empfünden wird, wenn man den Tod als ein Opfer für die von der Zeit geforderten Ereignisse - mehr oder weniger bewußt - vor sich sieht. Das fährt hinein in diese Ätherleiber. Den Tod suchen, oder besser gesagt, den Tod voraussehen und dennoch wissen, daß dieser Tod eine Bedeutung hat, das wird bei zahlreichen Menschen, die in der Gegenwart durch die Pforte des Todes gehen, der Fall sein. Man kann Materialist sein; wenn man so dahinlebt, kann man ja sagen: Volksseelen, Volksgeister sind ja nur Namen für etwas, was abstrakt zusammenhäit eine Gruppe von Men­schen mit gleicher Sprache und gleichen Eigentümlichkeiten. Von Volksgeistern als von wirklichen Wesenheiten zu sprechen, ist eine Verdrehtheit. - Mögen selbst manche, die jetzt durch die Pforte des Todes gehen, den Worten nach so sprechen; dadurch, daß sie so durch den Tod gehen, geben sie unbewußt ihre Zustimmung zu dem, was Geisteswissenschaft sagen muß, daß Volksgeist, Volksseele eine reale Wesenheit ist. Denn was würde es heißen, wenn Volksgeister, Volks-seelen nicht reale Wesenheiten wären und von allen Seiten die Men­schen im blutigen Kriege stehen? Unter Voraussetzung einer mate­rialistischen Weltgestaltung wäre das unmöglich zu denken. Wenn sich der einzelne aber für den Volksgeist opfert, wenn der Volksgeist eine reale Wesenheit ihm ist, dann hat es den tiefsten Sinn, daß solche Ereignisse über die Menschen gekommen sind. So werden wir eine kommende Zeit fühlen, in welcher viele, viele unverbrauchte Äther-leiber in der geistigen Atmosphäre schweben, alle mahnend, daß es Geistiges gibt. Diese Ätherleiber werden in Zukunft gute Helfer sein, um die menschliche Weltauffassung spirituell zu vertiefen. Die Men­schen werden bloß in ihren Seelen empfinden müssen, wie die Toten rufen. Wenn wiederum über den Gefilden, über denen sich jetzt die furchtbaren Ereignisse entwickeln, wieder Friede herrschen wird, wer­den die Menschen, die dann leben werden, um so besser wirken, wenn sie die Stimme der Toten hören. Aber das ist nicht nur symbolisch gemeint. Die unverbrauchten Ätherleiber werden da sein und den Ruf ertönen lassen. Die Welt kann fürder nicht bestehen, ohne daß die Menschen ihren Zusammenhang mit der geistigen Welt erfühlen und empfinden. Und stumpf würde sich die Menschheit der Zukunft erweisen,

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wenn sie also die Mahnung der Toten nicht würde hören können. - In der Physik gibt jeder zu, daß keine Kraft verlorengeht; man spricht von der Umwandlung der Kraft. Auf dem geistigen Boden ist es ebenso. Die Kräfte, die der unverbrauchte Ätherleib durch die Pforte des Todes trägt, verschwinden nicht; sie werden da sein. Und in die Seelen der Zukunft hinein können sie aufgenommen werden, und diese Seelen können durch diesen Zusammenhang mit den Seelenresten, die aus unverbrauchten Ätherleibern zurückgeblie­ben sind, Kraft und Zuversicht für ihr spirituelles Wirken empfangen.

Neben vielem, was uns dieser Krieg sagen kann, ist es für uns als Bekenner der Geisteswissenschaft vor allen Dingen dies, daß wir gleichsam im Geiste schon hinaufschauen in die Atmosphäre, die da sein wird, die Atmosphäre der unverbrauchten Ätherleiber; daß aber hier unten Seelen werden sein müssen, die eine Empfindung dafür haben, daß das die Mahnungen der Toten sind. Dies herbeizuführen, gehört aber zu unserer Aufgabe als rechtmäßige Bekenner der Geistes­wissenschaft. Wir müssen schon einen geistgemäßen Gesichtspunkt auch gegenüber solchen Zeitereignissen finden können, nicht den Ge­sichtspunkt, der abstraktes Denken ist. Sondern wir müssen uns wirk­lich die Zukunftsbevölkerung der Erde so vorstellen, daß unten Seelen sind, die im physischen Leibe sind, und von oben unverbrauchte Ätherleiberkräfte herunterwirken; und daß diese Seelen unten sagen können: Wir verzweifeln nicht daran, daß bessere Zeiten für das spirituelle Erkennen kommen werden,. denn die unverbrauchten Ätherleiber helfen uns mit ihren Kräften. - Wenn wir das konkret, nicht abstrakt nehmen, dann haben wir etwas von den Mahnungen, die diese schicksaischwere Zeit uns insbesondere als Bekennern der Geisteswissenschaft geben kann, verstanden. So muß es kommen, denn es bedarf schon realer Einwirkungen in die menschliche Ent­wickelung hinein. Wir hätten lange fortwirken müssen, wenn wir wiederum durch Verstandesüberzeugungen das hätten hervorzurufen gehabt, was die spirituelle Weltanschauung geben will. Bei der Jung­frau von Orleans fand eine unterbewußte Initiation statt. In der Zu­kunft wird in anderer Weise das Spirituelle hineinwirken in die Menschheitsentwickelung. Die unverbrauchten Ätherleiber werden

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es sein, die helfend uns zur Seite stehen werden, uns und auch denen, die als Individualitäten wiederum hineinwirken wollen auf den physi­schen Plan.

Mit Bezug auf dasjenige, was die Menschen verstehen können, geht es auch heute manchmal noch ganz sonderbar zu. Aus dem angeführ­ten Beispiel werden Sie schon zugeben, daß zur Zeit der Jungfrau von Orleans die Strategen, die Feldherren nicht dasjenige herbeigeführt haben, was herbeigeführt worden ist. Ein anderes Beispiel habe ich auch schon öfter angeführt: Als in entscheidender Stunde das Heer des Konstantin gegen Rom marschierte, da waren es auch nicht die Feldherren, die den Sieg herbeiführten und das fünfmal stärkere Heer des Maxentius, der seine Heere vor die Tore Roms führte, dem Kon­stantin entgegen, schlugen. Konstantin folgte nicht seinen Feldherren, sondern einem Traume, der ihm sagte, er solle das Monogramm Christi seinen Heeren vorantragen lassen. Träume und sibyllinische Orakel haben dazumal die Heere an einem bestimmten Orte zusam­mengeführt und alles entschieden. Dadurch aber, daß Konstantin siegte, hat die Landkarte Europas wiederum ihr entsprechendes Aus­sehen bekommen. Wer war es denn, der dazumal unter der Schwelle des Bewußtseins die Ereignisse lenkte? Der Christus-Impuls war es, aber der Christus-Impuls, so wie er real war, nicht wie ihn die Men­schen verstanden haben. Wir lernen den Christus-Impuls nicht kennen, wenn wir hinhören auf das Gezänk der Theologen. Nicht in dem, was die Menschen bewußt vollbrachten, was die Menschen verstanden haben, wirkte der Christus-Impuls; sondern er wirkte in der Zusam­menfügung der Ereignisse bei Konstantin und Maxentius, und später wieder bei der Jungfrau von Orleans. Auch in unserer heutigen Zeit erlebt man gar manches, sei es auch manchmal an kleinen Tatsachen. Es kann manchmal Kleines mit Großem verglichen werden. Da schrieb ein hervorragender Philosoph vor einigen Jahren in einer süd­deutschen Monatsschrift einen längeren Artikel über die geisteswissen­schaftliche Weltanschauung, die ich zu vertreten habe. Dieser Artikel hat sehr viel gewirkt; er war ganz gegnerisch geschrieben, allerdings durchsetzt mit manchem wohlwollenden Urteil über die Theosophie im allgemeinen, manchem Anerkennenden auch. Mir wurde zum Beispiel

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der Rat gegeben, statt auf solche Dinge meine Gaben lieber ver­wenden zu wollen, um endlich herauszubringen, ob wirklich MicKie­wicz die Wiederverkörperung der Jungfrau von Orleans sei und so weiter. Aber im ganzen war der Artikel doch sehr geeignet, das, was gerade als unsere geisteswissenschaftliche Weltanschauung zu gelten hat, so darzustellen, daß ein unebener Eindruck hervorgerufen wurde. Der Philosoph, der den Artikel geschrieben hatte, galt als großer Platoniker, als großer Logiker. Er sagte selbst, er widme sich keiner andern Aufgabe als der Verkündigung der Wahrheit, und deshalb könne er die Wahrheit wissen. Der Herausgeber der Zeitschrift schien sehr befriedigt zu sein, einen so langen autoritativen Artikel über diese Geisteswissenschaft bringen zu können. Das war schon vor einigen Jahren. Dann kam der Krieg. Der Betreffende gehört nicht einer An­schauung an, die mit Mitteleuropa sympathisiert, sondern er sympa­thisiert in entschiedener Weise mit England und Frankreich und sogar mit denen, die im Gefolge von England und Frankreich kämpfen. Nun, was geschieht? Er schreibt eine Anzahl von Briefen an denselben Mann, der Herausgeber der Zeitschrift ist. Dieser Herausgeber der erwähnten Zeitschrift veröffentlicht diese Briefe auch, weil sie zu charakteristisch sind, in einer andern Zeitschrift, den « Süddeutschen Monatsheften». Er erinnert sogar daran, daß er derselbe Mann ist -Karl Muth ist es -, der die Zeitschrift «Hochland» herausgibt und der den Artikel über die « Steinersche Theosophie», wie er sagt, ab­gedruckt hat. Diese Briefe sind nun so, daß man sagen kann, alles was an Geifer über die mitteleuropäische Bevölkerung von seiten eines westeuropäisch gesinnten Menschen gesagt werden kann, wird darin gesagt. Unter anderem erklärt der Mann: Gegen die Menschen, die alle nicht wissen können, wofür sie kämpfen, sind die schwarzen Menschen freie Adelsmenschen. Gegen Mitteleuropa müsse man nur das englische Weltreich halten, das sei wie die Katholische Kirche eingesetzt von Gott und hätte niemals etwas anderes getan, als was in der göttlichen Weltordnung liegt.

Diesen Brief abzudrucken ist ganz selbstverständlich! Der genannte Herausgeber schreibt dazu: In ganz Mitteleuropa wird sich außer in [rrenhäusern kein Mensch finden lassen, der so etwas vertreten

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könnte! - Also jetzt gibt der gute Herr Muth zu, daß der Mann, den er ausersehen hat, um ihn auf unsere geisteswissenschaftliche Welt­anschauung loszulassen, eigentlich für das Irrenhaus reif ist. Ja, so steht es überhaupt mit dem, was gegenüber unserer geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung vorgebracht wird. Nur hätte Herr Muth dazumal schon wissen müssen, daß der Mann reif sei für das Irrenhaus. Aber er brauchte erst die Mahnung des Krieges. Seine Einsicht mußte erst herausgefordert werden durch dasjenige, was er nun leicht ein­sehen konnte. Gar mancher für das Irrenhaus Reife wandert herum und kritisiert die Weltanschauung, die wir vertreten, nur kommt es nicht auf eine so groteske Weise heraus.

Ich sagte, an diesem Beispiel zeigt sich, daß der Verstand, den die Menschen heute haben, noch lange hintennachhinken würde, wenn es sich um geisteswissenschaftliche Weltanschauung handelt und daß schon gesagt werden muß: Nicht nur die Lebendigen sind dazu not­wendig, daß das Quantum Spiritualität, das in die Welt kommen muß, hereinkomme, sondern auch die Toten! Und zu den besten Helfern werden diejenigen gehören, die mit Seele und Leben einzutreten hat­ten für den Gang unserer schlcksalschweren und schicksaltragenden Ereignisse der Gegenwart. Und so möchte man denn heute, daß solche Betrachtungen nicht nur etwas Theoretisches in den Seelen bleiben, sondern eine tief ehrliche Empfindung werden, die Empfindung, daß wir das Bekenntnis zur Geisteswissenschaft so nehmen mögen, daß unsere Seelen aufmerksame Wisser desjenigen werden, daß da in der geistigen Welt mahnende Stimmen da sein werden, die uns sagen:

Lasset euch uns Tote ein Wahrzeichen sein dafür, daß spirituelle Ver­tiefung in die Menschen kommen muß, denn wir haben diesen Tod mit Bewußtsein durchgemacht - nicht für unsere Sache, sondern für das, was unabhängig ist von uns, so daß wir besiegelt haben dadurch das Bekenntnis zu etwas, was über das einzelne materielle Menschen­leben hinausgeht!

Wenn unter den Bekennern der Geisteswissenschaft solche sein werden, die das ernste Raunen derjenigen, die also durch die Pforte des Todes gegangen sind, ahnen, empfinden, wissen werden, dann wird im Realen etwas von dem erreicht werden, was durch Geisteswissenschaft

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in den Empfindungen der Menschenseelen erreicht wer­den soll; mit andern Worten, wenn durch die Geisteswissenschaft Seelen da sein werden, die ihren Sinn ins Geisterreich zu lenken ver­stehen, denn aus dem Geisterreich wird vieles in den kommenden Zeiten den Menschen gesagt werden können.

Das ist es, was ich Ihnen für Ihre Empfindungen andeuten wollte, da es die Verhältnisse so gegeben haben, daß wir gerade in dieser Zeit auch in einer Zweigversammiung hier zusammensein können. Das möchte man ja, daß bei solchen Versammiungen nicht bloß ein Wissen im Keime verschafft wird, sondern daß das, was in solchen Versamm­lungen gesprochen wird, wirke wie ein lebendiger Keim, der in den Boden der empfindenden Seele eingesenkt wird. Was Sie empfindungs-gemäß weitertragen werden durch eine solche Betrachtung, das wird die Hauptsache sein.

Deshalb wollen wir diese Betrachtungen abschließen, indem wir dessen gedenken, was werden soll für uns aus den schicksaitragenden Ereignissen der Zeit:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DIE BEDEUTUNG DES HINEINGESTELLTSEINS MITTELEUROPAS ZWISCHEN OST UND WEST - AHRIMANISCHE INSPIRATION UND SPIRITUELLE IMPULSE - DAS SYMBOL DES ROSENKREUZES Prag, 15. Mai 1915

Wenn wir uns versammeln bei einer solchen Gelegenheit, durch die unseren Bestrebungen ein eigener Raum gewidmet ist, dem wir ein geistiges. Gepräge geben können, das unserem geisteswissenschaft­lichen Empfinden und Fühlen entspricht, dann ist es gut, wenn wir des großen Gesichtspunktes gedenken, den wir als Bekenner der Geistes­wissenschaft gegenüber der Welt und ihren Erscheinungen, ihren Auf­gaben, ihren großen Rätseln einzunehmen gedenken. Und wie sollte nicht auch sonst unsere Zeit, unsere so prüfungsreiche, so schmerz durchwühlte Zeit, unsere Seelen dazu drängen, einen Gesichtspunkt zu gewinnen, der weiter geht! Insbesondere in unserer Zeit muß die Sehnsucht vorhanden sein nach einem Gesichtspunkt, der weiter geht als das, was durch das äußere Leben und äußeres Menschenstreben angesehen werden kann.

So recht aus den Aufgaben und aus den Bestrebungen unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung werden wir an wichtigem Orte in unserem neuen Dornacher Bau eine plastische Gruppe auf­stellen. Diese plastische Gruppe soll darstellen dasjenige, was im in­timsten und auch im tiefsten Sinne aus unserer Bewegung heraus unsere Seelen fühlen sollen. Diese Gruppe wird eine Mittelfigur ent­halten. Man kann diese Mittelfigur bezeichnen als den Christus, man kann sie auch bezeichnen als das, was im Menschen als das Göttliche, das im Menschen lebende Göttliche, in der rechten Weise sich in die Welt hineinzustellen versucht. Man kann diese Mittelfigur bezeichnen als «den Menschen», den kosmischen Menschen, ausgedrückt in einer irdischen Persönlichkeit, wie ja der Christus in der irdischen Persön­lichkeit ausgedrückt war im zeitlich-geschichtlichen Leben durch den Jesus von Nazareth.

Aber es werden zwei andere Figuren zu seiten dieser Mittelfigur

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sein, die eine wie oben auf einem Felsen, geflügelt, aber herabstürzend vom Felsen. Und durch die eigentümliche, nicht von Haß oder von Kraft durchsetzte, sondern von innerer Festigkeit durchdrungene Handhaltung der Mittelfigur wird eine Kraft bewirkt, durch welche die Figur am Felsen oben, die geflügelte Figur, sich die Flügel bricht und dadurch in die Tiefe hinunterstürzt. Dieses Brechen der Flügel -das muß eben in dieser plastischen Gestaltung gut ausgedrückt wer­den - wird nicht dadurch bewirkt, daß der Mensch, der in der Mitte steht, der Christus-Mensch, etwa die Flügel bricht, sondern dadurch, daß er in seiner Spiritualität die Hand ausstreckt, erträgt der andere, das geflügelte Wesen, dies nicht, und durch das, was in ihm vorgeht, weil er unerträglich für seine Wesenheit dasjenige findet, was unten lebt, bricht er selbst durch innere Kraft sich die Flügel und stürzt herab. Es ist also festzuhalten, daß sich dieses Wesen selbst herunter­stürzt, daß es nicht etwa heruntergestürzt wird durch irgendeine Gegnerschaft.

Und unten im Felsen drinnen sehen wir eine andere Gestalt gefesselt liegen, in Ketten liegen. Diese bestrebt sich, von unten herauf das Erdreich aufzuwühlen. Aber sie kommt nicht auf in diesem Bestreben gegen das, was ausströmt von der nach unten gerichteten Hand der Mittelfigur. Sie windet sich und krümmt sich durch das, wiederum in ihrer eigenen Wesenheit gelegene Zurückgeworfen- und Zurück­gestoßenwerden durch die Kraft der Mittelfigur.

Sie ahnen, daß in dieser Gruppe ausgedrückt ist dasjenige, was wir nennen das Christus-Prinzip unseres Kosmos, in der Mittelfigur, das luziferische Prinzip in dem vom Felsen herabstürzenden Engel, und das ahrimanische Prinzip in der Gestalt, die unten in der Höhle von unten nach oben strebt. Es ist von mir versucht worden, diese drei Gestalten - wir dürfen ja in so intimem Kreise so etwas aussprechen -möglichst porträtähnlich zu gestalten, so daß man wirklich einen Ein­druck bekommen wird von der Form, die Ahriman annimmt, wenn er in einem solchen Zusammenhang dem Menschen erscheint, und auch von der Physiognomie des Luzifer, die er annimmt, wenn er dem Menschen erscheint. Was der abendländischen, religiösen Welt­anschauung fehlt bis in unsere Tage hinein, was in sie erst durch

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unsere geisteswissenschaftliche Weltanschauung hineingebracht wer­den kann, das ist die Erkenntnis, daß in dem ganzen Weltenzusam­menhang Ahriman und Luzifer drinnen walten. Öffentlich kann man die Dinge ja nur andeuten, weil heute die Menschen noch zurück­schrecken vor einem genauen Aussprechen dieser Dinge. Aber er­innern wir uns, daß selbst im gestrigen öffentlichen Vortrag gesagt worden ist, daß der Mensch durch Meditation auf der einen Seite hinaufgeführt wird in eine Region, wo er sich im innersten Wesen einsam und ohnmächtig fühlt, auf der andern Seite in ein Gebiet, wo er sich in seinem Wesen durchsetzt fühlt von Furcht und Ohnmacht. Das­jenige, was uns droht, wenn wir einseitig nur nach dem Freiwerden von dem Materiellen streben, was uns droht, wenn wir abstrakt nach dem Geistigen streben, das ist das Ergriffenwerden vom luziferischen Prinzip. Was uns droht, wenn wir nur hinunterstreben nach dem Materiellen, wenn wir leben in dem Verlangen nach dem Materiellen, wo wir wie versteinert erscheinen - wie ich es gestern im öffentlichen Vortrag ausgeführt habe -, das ist das ahrimanische Prinzip. Und der Mensch steht darinnen zwischen luziferischem und alrrimanischem Prinzip. Das muß erkannt werden. Aber in der richtigen Weise muß auch erkannt werden, daß wir nicht etwa damit auskommen, daß wir nur sagen: Wir müssen Luziferisches und Ahrimanisches von uns ab-streifen. - Alle Gefühle, die wir gegen das Luziferische und das Ahri­manische an Haß oder an Furcht aufbringen, sind eigentlich unserer menschlichen Natur nicht zuträglich. Wir müssen erkennen, daß Ahri-man und Luzifer ihre Berechtigung haben im ganzen Kosmos. Des­halb ist in der plastischen Figur angedeutet, daß nicht der Christus durch inneren Haß oder von sich ausgehendem Drang den Luzifer und Ahriman überwinden will, sondern daß Luzifer selbst, daß Ahri­man selbst sich überwinden. Es ist ganz falsch, wenn wir Gefühle in uns entwickeln, als ob Ahriman und Luzifer von uns abgestoßen wer­den müßten, als ob wir sie direkt bekämpfen müßten. Das hat selbst die durch die Welt ziehende normale Gottheit nicht angeordnet in ihrer weisen Weltenlenkung, daß Ahrimanisches und Luziferisches nicht da sei in der Weltenlenkung. Es ist da.

Wenn wir uns fragen, wo ist im Werden der Menschen heute noch

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das luziferische Prinzip da, dann müssen wir hinübersehen nach dem Osten. Im Osten, in Asien und im europäischen Rußland, waltet Luzi­fer durch die Kultur hindurch. Und obwohl, wie ich in dem Zyklus über die Mission der Volksseelen ausgeführt habe, das russische Ele­ment dazu berufen ist, in der weiteren Entwickelung das Geistselbst herauszubilden, so ist doch bei der russischen Kultur die Gefahr vor­handen, von Luzifer umstrickt zu werden. Sie ist auf dem Wege dazu. Das luziferische Prinzip besteht darinnen, daß gute Geister zurück-bleiben. In der griechisch-orthodoxen Kirche war bis in das 6., 7. Jahr­hundert ein guter Geist, aber das, was zu einer Zeit ein guter Geist ist, verwandelt sich in einen luziferischen Geist, wenn es über diese Zeit fortbehalten wird. Das Festhalten an der orthodoxen Religion ist ein «in den Klauen des Luzifer sein». Und viel intensiver noch ist das der Fall bei den geistigen Formen, welche sich im Orient entwickeln, die für Urzeiten ihre Berechtigung hatten. Dadurch, daß sie sich konser­vieren, laufen sie ein in das luziferische Element. Überall drüben im Osten finden wir bei sehr vielen Menschen, welche dort inkarniert sind, daß sie etwas durchzumachen haben in der Welt des Luzife­rischen. Und im Westen finden wir nach der weisen Weltenlenkung überall die Seelen eingetaucht in das ahrimanische Element. Am stärk­sten finden wir das in Amerika. In Amerika besteht die Tendenz, eine Kultur zu entwickeln, die ganz untertaucht in das materialistische, das ahrimanische Element, die ganz durchsetzt wird - selbst da, wo nach Spiritualismus gestrebt wird - von rein materiellen Anschauungen. Selbst da, wo man nach Geistigem strebt, will man dott die Geister handgreiflich nach spiritistischer Art vor sich haben. Das wird immer stärker werden, und die Sehnsucht nach dem Handgreiflichen wird immer größer werden. Sie wird auch den Westen Europas nach und nach ergreifen. Da wird die Mission erfüllt werden, das ahrimanische Element einzuführen in die Kultur.

Das meine ich mit den großen Gesichtspunkten: daß wir einsehen, wie wir in Mitteleuropa eingespannt sind zwischen dem luziferischen Prinzip des Ostens und dem ahrimanischen Prinzip des Westens, wie wir aber dazu berufen sind, uns aufzuschwingen zu den Kräften, welche dargestellt werden durch das Christus-Prinzip, das auf der einen

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Seite den Luzifer zum Brechen der Flügel bringt, durch die Über­windung des Ohnmachtsgefühis, und nach der andern Seite gegen Ahriman zu die ausstrahlenden Kräfte entwickelt, die zurückdrängen alle Furcht, die besteht vor dem Wissen von der geistigen Welt. Denn in Wahrheit ist das ahrimanische Element, welches durch die Welt pulsiert, nicht zurückzuhalten, es ist da. Auch das Mitteleuropäische wird von diesem ahrimanischen Element ergriffen. Nur muß man wissen, wie man sich zu ihm zu stellen hat, denn der Gang des ahrima­nischen Elementes ist der Gang durch den Materialismus. Und dieser Gang durch den Materialismus muß sein, und es hat einen tiefen, einen weisheitsvollen Zusammenhang, warum dieser Gang durch den Materialismus sein muß.

Denken Sie sich, daß doch dasjenige, was einseitige religiöse Be­wegung ist - ich sage ausdrücklich «einseitige» religiöse Bewegung-, auch im Christentum da ist, und am stärksten ausgeprägt ist im Ele­ment des Jesuitismus. Bedenken Sie, daß das sich immer wendet gegen den wirklichen wissenschaftlichen Fortschritt. Die katholische Kirche hat doch erst im 19. Jahrhundert die Kopernikanische Weltanschauung offiziell anerkannt. Was äußere Wissenschaft ist, wird von der ein­seitigen Religion selbstverständlich bekämpft, das kann nicht anders sein. In diesem Bekämpfen von seiten der Religion gegenüber der äußeren Wissenschaft liegen zwei Impulse. Der eine Impuls ist der, daß die einseitige Religion wohl fühlt: In der Wissenschaft, die bloß mit Rücksicht auf die äußere Welt getrieben wird, bekundet sich Ahri-man. Das ist das Berechtigte im Kampfe der Kirche. Nicht hinweg-zuhalten ist Ahriman von der äußeren Wissenschaft, wenn sie nicht aufblickt zur spirituellen Weltanschauung; das ist das Berechtigte. Auf der andern Seite aber steht ein unberechtigter Impuls in dem Wenden der einseitigen Religion gegen die Wissenschaft. Diese ein­seitige religiöse Weltanschauung ist nämlich selbst beseelt, durchseelt möchte man sagen, besonders vom luziferischen Element. Denn nach religiöser Vertiefung streben und das wissenschaftliche Eindringen in geistige Welten hassen, das ist dasjenige, was Luzifer von dem Men­schen will. Luzifer könnte nicht besser sein Ziel erreichen, als wenn alle Menschen bloß religiös wären. Dieses Religiöse hat einen ungeheuer

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starken egoistischen Einschlag. Denken Sie nur, wie die Men­schen, die nicht nach dem geistigen Wissen streben, ihre Religion auf­fassen. Aus Egoismus heraus wollen sie selig werden, aus Egoismus ein Leben, wie sie es sich ausmalen, nach dem Tode führen! Aus Egoismus wollen sie nur einmal verkörpert sein in der Welt! In der einseitigen Religion ist der Egoismus auf die höchste Spitze getrieben:

ein Egoismus der Seele, nicht bloß des Leibes. Die besten religiösen Aspirationen, die uns umgeben, stecken im Egoismus. Und wirklich, die frömmsten Leute, die uns durch ihre Frömmigkeit rühren - Luzi­fer ist es, der ihre religiösen Gefühle beherrscht. Luzifer ist es viel lieber, wenn er fromme Seelen bekommt, die einen Sinn haben für das Geistige, das Gute, das sie aus Egoismus anstreben. Denn er wlli nicht lauter Verbrecherseelen, er will gerade die frommen Seelen einführen in sein Element.

So steht also auf der einen Seite das berechtigte, wissenschaftliche Element, welches sich eben auf der Schwelle nach dem Ahrimanischen hin bewegen würde, wenn es nicht zur geistigen Welt aufblickt, auf der andern Seite das luziferische Element, welches in egoistische Reli­giosität verfallen würde auch in Mitteleuropa, wenn nicht die spiri­tuelle Weltanschauung ein geistiges Wissen hineinbringen würde. Das wird der Fortschritt im Christentum sein. So wird es uns gerade zum unendlich bedeutungsvollen Schatz unseres Gemütes, wenn wir uns mit der Erkenntnis durchdringen, daß wir wissend stehen zwi­schen dem, was da sein muß, dem Luziferischen und Ahrimanischen, dem man nicht entfliehen kann, das aber seine Macht verliert, wenn man es erkennt. Das ist die Eigentümlichkeit der geistigen Welt:

Wenn man es erkennt, verliert es die Macht, durch die es die Menschen besessen macht. Luzifer und Ahriman sind unsichtbar. Bekommen wir eine Vorstellung von ihnen in Raum und Zeit, so verlieren sie ihre Macht über uns.

Sie dürfen nicht glauben, daß dann, wenn ein böser Geist von einem Menschen geahnt wird durch hellsichtige Kraft, aber nicht geschaut wird, der Mensch etwas Schlimmes macht, wenn dieser Geist ab­gebildet oder plastisch dargestellt wird. Das ist richtig: Durch die sinnliche Anschauung verliert der Geist seine Macht. Die Menschen

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werden nicht mehr nervös werden durch das geistige Hinstellen einer Figur, sondern es verliert dadurch der Geist als unsichtbare Macht seine Bedeutung, und wir stellen uns bewußt in sie hinein. Wie die Gottheit selbst Luzifer und Ahriman gebraucht, um von Ost und West die Welt in das richtige Geleise zu bringen, damit die Welt nicht eine unregelmäßige Entwickelung durchmacht, sondern wie durch Pendel­bewegung fortschreitet, so läßt die Weltregierung das Luziferische vom Osten, das Ahrimanische vom Westen wirken. Sie setzt aber auch uns in Mitteleuropa die schwere, große Aufgabe, diese Pendel-bewegung in der richtigen Weise zu betrachten. Dieses Pendel ist eigentlich ein Kahn, wie wenn an eine Pendeluhr ein Kahn angehängt wäre. Und in diesem Kahn sitzen die in Mitteleuropa in richtiger Weise hinstrebenden Seelen. Sie müssen wirklich hineintauchen und müssen wissen, diese Seelen, daß sie den richtigen Gleichgewichtspunkt er­fassen müssen. Sie müssen das, was hinter der Schwelle des gewöhn­lichen Bewußtseins liegt, erkennen, müssen es in ihr Bewußtsein auf­nehmen. Und diese unsere jetzigen schweren Tage sind eine Mahnung vor alien Dingen an diejenigen, die schon etwas ahnen von dem, was der Welt in Zukunft bevorsteht. Nicht daß innerhalb des Krieges auf der einen oder andern Seite ein äußerer Sieg erfochten wird, nicht dar­auf allein kommt es an, sondern darauf kommt es an, wie gelebt wer­den wird nach diesem Siege. Denken Sie, wenn es dahin kommen würde, daß die mitteleuropäischen Völker siegen, daß aber auf dem Felde dieses Sieges die rein materialistisch-ahrimanische Weltanschau­ung sich ausbreiten würde und diese festgehalten würde durch das luziferische Element - dann, wenn der Osten auf der einen Seite und der Westen auf der andern Seite in die mitteleuropäische Geistigkeit einbrechen würde, dann wäre auch ein äußerer Sieg nicht von Heil für dieses Mitteleuropa. Und es bricht seit Jahrhunderten, ohne daß die Menschen es merken, das ahrimanisch4uziferische Element ganz stark herein. Denken Sie nur einmal, wie es notwendig war, das orientalisch­luziferische Element abzulehnen in unserer mitteleuropäischen theo­sophischen Bewegung. Denn dasjenige, was wir von Osten bekamen als Theosophle, es war von Luzifer durchsetzt und führte ja auch in seinem Extrem zur Anerkennung eines äußeren Menschengötzen,

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eines physisch wiederverkörperten Christus. Das war der Kampf, den wir führen mußten gegen die unberechtigte Auslegung der theosophi­schen Weltauffassung.

Aber auch darüber müssen wir uns klar sein, daß wir in Mittel­europa in der richtigen Weise erkennen müssen, wie wir uns hinein­zuversetzen haben in das, was der Menschheit in der Zukunft bevor­steht. Wir werden gerade durch das, was uns die Geisteswissenschaft sein kann, gerade durch das einsehen lernen, daß der Materialismus, die materialistische Weltanschauung sich nicht ausdehnen darf über das Gebiet, das für Mitteleuropa vorbereitet wird. Diejenigen werden streben müssen, dies zu verhindern, die etwas davon ahnen, daß eine geistige Weltanschauung, über Mitteleuropa hinströmend und von da aus ausstrahlend über die ganze Erde, sich wirklich verbreitet. Und denkbar wäre es ja, äußerlich denkbar als Hypothese, daß dieses Mitteleuropa nach einem Siege einer materialistischen Kultur dienen würde. Dann würde die Früchte dieses Sieges Ahriman einheimsen. Und dies muß verhindert werden.

Denken Sie nur an eine solch tragische Figur wie Ernst Haeckell Goethe hat eine Entwicklungslehre geschrieben. Seit 1884 bemühe ich mich, den Menschen verständlich zu machen, daß es eine Entwick­lungslehre ist, die im höchsten Sinne geistgemäß ist. Aber die Men­schen können sie bei Goethe nicht in der tiefen Weise verstehen, in der sie dort gegeben ist. Als sie dann in trivialer Weise durch Darwin gebracht wurde, da verstanden sie die Menschen, da konnten die Lehren einfließen in die Herzen und Seelen der Menschen: da hatte die Lehre eine materialistische Färbung bekommen! Und nehmen Sie eine solch tragische Figur wie Ernst Haeckel: jeden Gedanken, jede Faser seines wissenschaftlichen Lebens hat er von England herüberbezogen. Huxley, Locke, Darwin waren seine Lehrmeister. Und heute ist Ernst Haeckel einer derjenigen, die sich am meisten gegen England wenden, er ist einer der wütigsten Kämpfer - soweit er es als alter Mann sein kann; er stand an der Spitze derjenigen, die nach England alle Orden und Diplome und Auszeichnungen zurückschickten. Das hat aber keinen Belang, Orden und Auszeichnungen zurückzuschicken, wenn nicht der englisch gefärbte Darwinismus zurückgeschickt wird.

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Und noch manches andere ist da. Am besten werden die Seelen vorbereitet für den Materialismus, wenn sie noch für das äußere Leben, ich möchte sagen, halb schlafen, wenn es noch kindliche Seelen sind. Man merkt es nicht, daß man da am besten in die Seelen hineinsenken kann Vorstellungen, die sie später geistig präparieren, das Materia­listische als selbstverständlich anzunehmen. Das hat Ahriman voll­zogen, indem er dem britischen Volke einen sehr wirksamen Geist hat erstehen lassen, durch den unvermerkt, ohne daß die Menschen es irgendwie ahnen, in die kindlichen Seelen hineinverpflanzt wird der Drang zum Materialismus. Das ist der außerordentlich geniale Ver­fasser des «Robinson Crusoe». Wenn man die Vorstellungen, von denen der Robinson durchdrungen ist, in die kindlichen Seelen hinein-senkt, dann bekommen sie die Neigung zum Materialismus. In dem Buche entsteht selbst die Religion von selber, so wie Kohiköpfe wach­sen. Nichts ist da, was reflektiert auf etwas, das von der spirituellen Welt einfließen soll. Und sehen Sie nur, wie der Robinson durch die Welt zieht! Es gab eine Zeit der literarischen Entwickelung in Mittel­europa, wo es in allen Sprachen Nachahmungen des Robinson gab. Und die vielen Übersetzungen des Robinson! Man kann sie gar nicht zählen, die in allen Nationen hereingebrachten Robinsons! So tief liegt das drinnen. Aber es muß durch das wirklich nach dem Spiri­tuellen gerichtete Große, Bedeutsame der mitteleuropäischen Kultur der geistige Weg wiederum gewiesen werden. Und wirklich durch höhere Führung waren die Gebrüder Grimm da und haben die deut­schen Märchen wiederum gesammelt. Und wenn wir unserer Jugend statt des ahrimanischen Robinson die deutschen Märchen bringen, dann bringen wir ihnen die Neigung zum Spiritualismus.

Es erscheint einem tief wehmütig, wenn man - das alles ist sympto­matisch - folgendes erlebt: Ein sehr bedeutender Philosoph Öster­reichs, Professor Dr. Ernst Mach, hat ein Buch geschrieben, das tief einschneidend war für viele, die heute philosophisch denken wollen, «Analyse der Empfindungen». Auf der dritten Seite finden Sie fol­gendes. Von der Selbsterkenntnis spricht er. Wir wissen, daß die Selbsterkenntnis so außerordentlich wichtig ist, ich habe es des öfteren auseinandergesetzt. Ernst Mach gibt nun einen Beweis dafür, daß die

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Selbsterkenntnls selbst für die äußere Welt recht schwierig ist. Er erzählt: Ich kam an einer Spiegelauslage vorbei, wo ich mein eigenes Bild, meine eigene Gestalt mir entgegenkommen sah. Ich dachte:

welch ein unsympathischer, widerwärtiger Mensch kommt mir da ent­gegen! Ich war es selbst. - So sagte er. Er war es also selbst, der sich so wenig gekannt hat, daß er zu seinem Spiegelbild sagte: was für ein unsympathischer, widerwärtiger Mensch! Und um das vollends noch recht klarzumachen, fügt er hinzu: Als er schon Professor war, war er einmal in der Nacht von einer Reise gekommen und in einen Omnibus gestiegen. Als er hineinstieg, sah er im Spiegel einen Mann einsteigen, und er sagte sich wiederum: was für ein herabgekommener Schulmeister steigt denn da ein? Und er fügt hinzu: So habe ich also meinen Gattungshabitus besser gekannt als meinen Spezialhabitus. -Nun, wenn es schon so schwierig ist für einen Menschen, der sich nicht oft im Spiegel schaut - das spricht für Ernst Mach, daß das stattgefunden hat -, die äußere Gestalt zu erkennen, dann wird man eine Ahnung bekommen, wie schwierig es ist, Selbsterkenntnis in der Seele zu erwerben. Das ist es aber gerade, was notwendig ist: Selbst­erkenntnis in der Seele zu erwerben. Und nun möchte ich sagen, es berührt fast tragisch, wenn man in demselben Buche noch weiter nachliest und Ernst Mach von der Erziehung seines Sohnes spricht und aus wirklich ernster Seele heraus sagt: Gott sei Dank - nein, das sagt er nicht, aber etwas, was dem entspricht -, niemals haben meine Kinder irgendwelche Märchen gelesen. - Sie sind also nicht infolge des Märcheniesens irgendwie durch phantastische Vorstellungen in eine geistige Welt hineingeführt worden. - Da sehen wir, wie sich hineinnistet in die Seelen der Gegenwart dasjenige, was die mittel­europäische Kultur dem Ahriman zuführen will. Und so muß man sagen: nicht daß gesiegt wird, sondern daß auf Grundlage des Sieges das Rechte siege, das ist es, worauf es ankommt.

Wir haben auch in Mitteleuropa ein Schwergewicht hängen, selbst an einem Siege. Denn wir sind auch mit etwas, was stark luziferisch durchsetzt ist, sogar verbunden. Es war einmal der Segen Europas, daß über Südeuropa herüber die arabische, maurische Kultur sich aus­breitete. Für die damalige Zeit war vollberechtigt dasjenige, was aber

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heute ahrimanisch geworden ist. Wir sind mit dem Schwergewicht des Bündnisses mit den Osmanen belastet. Wir müssen da den richtigen Standpunkt finden und nicht etwa glauben, daß wir nach äußeren poli­tischen Gesichtspunkten unsere Empfindungen einrichten können. Dasjenige, was in der äußeren Welt lebt, ist wahrhaftig nicht geeignet, das Ahrimanische abzuhalten. Die äußere Journalliteratur steuert direkt nach dem ahrimanischen Prinzip hin und übergießt mit Spott und Hohn dasjenige, was klar sehen will über die Mächte, die in unsere Welt hineinspielen. Und deshalb muß das, was uns in unserer Zeit er­scheint unter dem Zeichen von Blut und Leid, uns als die große Mah­nung erscheinen, die Seelen auf den Empfang desjenigen zu stimmen, was der Gegenwart aus dem geistigen Leben zufließen will. Und hin-neigen müssen sich unsere Seelen zu demjenigen, was vorbereitet worden ist in der mitteleuropäischen Kultur besonders in der Art, daß es wirklich zum Ausdruck bringt, wie wir hineingestellt sind zwischen zwei pendelartig die Welt durchziehende Kraftelemente, wie wir aber das Gleichgewicht finden müssen. Klar muß uns sein, daß auf der einen Seite die Welt strebt nach ahrimanischer Verhärtung, danach strebt, im Feuer des rein Materiellen zu erstarren; daß sie nach der andern Seite strebt, in egoistischer Weise zu einem abstrakt Geistigen aufzusteigen. Nach der einen oder andern Seite hin zu folgen, würde dem mitteleuropäischen Menschen von Verderben sein. Bloß der an die äußeren Sinne gebundenen Wissenschaft folgen, würde uns dazu bringen, daß wir die Rosen vom Kreuze reißen und bloß hinschauen nach dem, was erstarrt. Wir würden allmählich eine Weltanschauung gewinnen, die den Menschen ganz abbringen würde von allem Hin-blicken nach dem Geistigen; die ihn nur hinschauen lassen würde nach dem, was ahrimanisch erstarrt ist. Versuchen Sie, sich die Ideale der ahrimanischen Wissenschaft vorzustellen: Es ist eine Welt durch­einanderwirbelnder Atome, ein rein materielles Weltengebilde. Her­auswerfen aus diesem Weltbild möchte man alles, was geistig ist. Vor­stellen möchte man sich, und man lehrt es schon die Kinder in der Schule, daß einmal ein Umeinanderwirbeln der gasförmigen Welten-massen da war, daß sich daraus die Sonne gebildet hat, die dann wiederum die Planeten abgestoßen hat. Man macht es den Kindern in

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der Schule klar, indem man einen Öltropfen in Wasser tut, hindurch-schiebt an der Stelle des Äquators ein kleines rundes Papierblatt, es mit einer Stecknadel in der Mitte durchsticht und nun an der Nadel dreht. Dadurch spalten sich kleine Tropfen ab, ein kleines Planeten-system entsteht. Selbstverständlich ist es bewiesen, was man so zeigt, aber man vergißt das Wichtigste: daß der Lehrer drehen muß. So hat man sich, wenn man sich ehrlich in das hineinversetzen will, in Wahr­heit einen großen Herrn Lehrer vorzustellen, der im Weltenraum die ganze Sache dreht. Aber die Gedanken, die Empfindungen und Ge-fühle, welche nach Ahriman hinstreben, sind solche, die sich das Ent­stehen der Sonne und der Planeten auf die eben beschriebene Weise vorstellen. Und in dem lag wieder das, was zur Geschichtsauffassung geführt hat. Herman Grimm sagt einmal: Ein Stück Aasknochen, um das ein hungriger Hund seine Kreise zieht, ist ein appetitlicherer An­blick als diese Weltanschauung, die bloß einzig auf dieser Kopernika­nischen Weltanschauung fußt.

Das ist eine Gefahr, die Rosen vom Kreuze zu reißen und bloß das schwarze, verkohlte Kreuz zu haben. Die andere Gefahr ist die, das Kreuz von den Rosen zu reißen und bloß nach dem Geiste streben wollen, verachten das, was die Gottheit selbst in die Weltenentwicke­lung hineingestellt hat, nicht liebevoll untertauchen wollen in den Gedanken, daß das, was hier in der Sinnenwelt ist, ein Ausdruck des Göttlichen ist. Das ist die einseitig religiöse Weltanschauung, welche die Wissenschaft verachtet, die bloß die Rosen will und die unbewußt nach dem luziferischen Element des Ostens hinstrebt - wie die Wissen­schaft, die die Rosen vom Kreuze reißen will und bloß das verkohlte Kreuz behalten will, nach dem Westen hinstrebt. Wir aber in Mittel­europa, wir sind dazu berufen, die Rosen am Kreuze zu haben, das zu haben, was nur durch den Zusammenhang der Rosen mit dem Kreuze ausgedrückt wird, der Rosen am Kreuze. Und wir empfinden, indem wir zum starren Kreuze hinschauen, daß dasjenige, was als starres Materielles in die Welt gekommen ist, aus dem Göttlichen in die Welt getreten ist. Es ist, wie wenn die Geistigkeit selbst sich einen Kreis geschaffen hat im Materiellen: Ex deo nascimur.

Wir fühlen auch, daß, wenn wir es richtig verstehen, wir nicht nur

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mit Luzifer in die geistige Welt hineingehen dürfen, sondern daß wir sterben, indem wir uns verbinden mit dem, was vom göttlichen höhe­ren Selbst in die Welt hinuntergesriegen ist: In Christo morimur.

Und in der Zusammenfassung des Kreuzes mit den Rosen, der materiellen Weltanschauung mit der spirituelien Weltanschauung, füh­len wir, wie die Menschenseele im Geiste erwachen kann: Per spiritum sanctum reviviscimus.

Deshalb ist das Kreuz von Rosen umwunden das Symbolum ge-wesen desjenigen, der sich in tiefer Weise hineingestellt hat in der mitteleuropäischen Kultur in die Spiritualität hinein: Goethe. Deshalb muß es unser Symbolum sein. Und deshalb wollen wir, uns in diesem Raume versammelnd, soweit wir anwesend sein können in der Zu­kunft, eingedenk sein dessen, was aus den großen Aufgaben der Erdenentwickelung heraus unser Ideal sein muß: das Kreuz mit Rosen zu umwinden, weder die Rosen vom Kreuze zu reißen und nur das Kreuz in der Hand zu halten, noch auch die Rosen allein zu schätzen und durch die Rosen allein in das geistige blühende, sprossende Leben in der Abstraktion hlnaufzueilen. Das ist es, was uns in unserem Sym­bolum, im Rosenkreur, ausgedrückt ist, was wir immer mehr und mehr in unser Gemüt, in unsere Empfindungen aufnehmen wollen, wenn wir uns in einem unseren Bestrebungen also geweihten Raume versammeln. Dann können wir sicher sein, daß die Geister, welche in gutem Sinne die Erdenentwickelung leiten, unsichtbar unter uns wal­ten werden; daß unsere Worte, daß all das, was wir denken und emp­finden, indem wir uns den geisteswissenschaftlichen Bestrebungen hingeben, daß all das wirklich in einem solchen Raume die Unter­stützung der unsere Bestrebung führenden geistigen Gewalten und Mächte findet. Und wir können uns fühlen, wie wenn wir beim Be­triebe unserer geisteswissenschaftlichen Anschauungen immerfort in­spiriert werden von den unsichtbar in einem solchen Raume waltenden Geistern. Diese aber, diese geistigen Mächte möchte ich anrufen, daß sie immer, wenn in ernster Wahrheit, in ehrlicher, liebevoller Weise in diesem Raume gestrebt wird, bei den strebenden Seelen seien! Dann, wenn das sich erfüllen kann, dann dürfen wir sicher sein, daß diese geisteswissenschaftliche Weltanschauung das sein

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wird, was den Weg der Götter finden wird, wie er immer gefunden worden ist.

Wir versammeln uns heute in solchen Räumen. Sie sind abgesondert von dem, was draußen in der Welt strebt. Das, was draußen in der Welt strebt, sieht etwas Sektiererisches, etwas Abergläubisches in unseren Räumen. Und so sind wir gleichsam unterirdisch gegenüber der geistigen Kultur der Gegenwart versammelt. Oberirdisch ist diese heutige Geisteskultur, die im Osten durch Luzifer, im Westen durch Ahtiman tief durchsetzt ist. Da gedenken wir immer wiederum, um unsere Herzen zu stärken, unsere Seelen zu beleben, wie in einer andern Etappe die abendländische Weltanschauung vom Unterirdi­schen zum Oberirdischen aufgestiegen ist. Da war die Weltanschauung des Römerreiches, die Weltanschauung, welche die vornehme Philo­sophie und die künstlerische Weltanschauung der Griechen aufgenom­men hatte. Es waren im Grunde glänzende Geister unter denen, die innerhalb dieses alten Rom und seiner Umgebung lebten mit dieser alten Weltanschauung. Und tief verachtet waren sie, die unterirdisch in den Katakomben eine ganz neue Lehre pflegten. Diejenigen aber, die in den Katakomben, abgeschlossen von dem, was damals als be­rechtigte Weltanschauung oberirdisch galt, die neue Lehre pflegten, sie wußten, daß sie sich zu halten hatten allein an dem Inhalt dieses ihres Strebens, daß sie festzuhalten hatten an dem, was durch den Christus-Impuls in der Welt eingezogen ist. Sie strebten in den Kata­komben und wußten: da oben lebten diejenigen, die ihnen nach dem Leben trachteten, die sie verfolgten, die sie nicht verstanden. - Be­trachten wir dann, nachdem wir diese Zustände des alten Römischen Reiches uns vor Augen geführt haben, die Menschenentwickelung ein paar Jahrhunderte später. Das, was oben war, es ist verschwunden. Das, was unten in den Katakomben gelebt hat, ist heraufgezogen, es zieht siegreich durch das Abendland hindurch. Es lebte schon in den Seelen derer, die da unten verstoßen, verachtet und verhöhnt in den Katakomben dasjenige erstrebten, was dann die Welt erobern sollte. So müssen wir uns fühlen, meine lieben Freunde, gleichsam noch geistig ausgestoßen und verhöhnt und verfolgt von denen, die heute die sogenannte berechtigte Weltanschauung pflegen. Aber so, wie es

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gegangen ist in der ersten Etappe der abendländischen christlichen Entwickelung, so wird es weiter gehen. Dasjenige, was man am lieb­sten vernichten würde - nicht wie einstmals, indem man die Menschen in Pech einnäht und verbrennt, sondern indem man sie verhöhnt und verspottet -, es wird sich durchsetzen. Dasjenige, was da höhnt und spottet, was den Boden der Erde allein mit einer ahrimanischen und luziferischen Weltanschauung erobern will, das wird verschwunden sein, wie die alte römische Kultur, die alte Weltanschauung in einem gewissen Sinne verschwunden ist in der Art, wie sie war. Das aber, was in unseren Katakomben gepflegt wird - es sind geistige Katakom­ben, die Welt ist ja doch fortgeschritten -, was in diesen unseren Kata­komben gedacht, gesonnen, gefühlt wird, das, wovon das Gemüt sich durchdringt: es wird heraufsteigen und seinen Siegeszug antreten in der neueren Kultur. Dessen seien wir eingedenk in jedem Momente, wo wir überschreiten die Pforte zu einem solchen Raum. Und da-drinnen wellend, seien wir eingedenk, daß wir noch sind wie in einem Boot unter dem Meere, das aber im Grunde die Richtung nach oben nehmen wird - und sicherlich nehmen wird, wenn wir in starker, kräftiger Weise uns in das vertiefen, womit wir gelernt haben, unsere Seelen zu verbinden. Mit diesem Gelöbnis, daß wir also stark uns von dem geistigen Christus4mpuls durchdringen wollen, der einen Schritt weiter sich entwickeln will, mit dieser Gesinnung, mit diesem Ge­löbnis wollen wir wirklich in diesen Raum hineingehen; im Sinne dieser Empfindungen hineingehen, daß alles geweiht als den geistigen Mächten zu gelten hat, den spirituellen Individualitäten, die, wie wir wissen können, durch unsere Bewegung waltend weben, die ihre seg­nenden Hände schützend über uns ausbreiten. Dessen wollen wir ein­gedenk sein, wenn wir uns in Zukunft hier versammeln.

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CHRISTUS IM VERHÄLTNIS ZU LUZIFER UND AHRIMAN - DIE DREIFACHE WESENSGESTALTUNG Linz, 18. Mai 1915

Wenn einmal unser der Geisteswissenschaft gewidmeter Bau in Dornach fertiggestellt sein wird, so wird er an bedeutungsvoller Stelle eine plastische Gruppe enthalten, die drei Figuren hauptsächlich darbieten wird. In der Mitte dieser Gruppe wird eine Gestalt stehen, wie, ich möchte sagen, der Repräsentant des höchsten Menschlichen, das auf der Erde sich entfalten konnte. Daher wird man auch diese Gestalt des höchsten Menschlichen in der Erdenentwickelung empfinden können als den Christus, der in dem Leibe des Jesus von Nazareth drei Jahre innerhalb der Erdenentwickelung gelebt hat. Es wird die be­sondere Aufgabe sein, diese Christus-Gestalt so auszugestalten, daß man auf der einen Seite wird sehen können, wie das Wesen, um das es sich handelt, in einem menschlichen Erdenleibe wohnt, wie aber doch dieser Erdenleib in jeder Miene, in allem, was an ihm ist, durch­geistigt ist von dem, was aus kosmischen, aus geistigen Höhen im dreißigsten Jahre des Lebens in diesen Erdenleib als der Christus eingezogen ist. Dann finden sich da zwei andere Figuren, die eine zur linken, die andere zur rechten Seite der Christus-Gestalt, wenn ich diese Gestalt, die ich eben mit ein paar Worten angedeutet habe, die Christus-Gestalt nennen kann. Diese Christus-Gestalt steht wie vor einem Felsen, der insbesondere da, wo die linke Seite des Christus ist, sich auftürmt, so daß sein Gipfel über dem Haupt der Christus-Gestalt liegt. Da oben auf dem Felsen ist eine andere Gestalt, eine ge­flügelte Gestalt; aber die Flügel sind zerbrochen, und diese Gestalt fällt, weil sie die Flügel zerbrochen hat, in den Abgrund. Was künst­lerisch besonders scharf wird herausgearbeitet werden müssen, das wird die Art sein, wie diese Christus-Gestalt den linken Arm erhebt. Denn durch diese Erhebung des linken Armes der Christus-Gestalt geschieht es, daß diese herabstürzende Wesenheit die Flügel zerbricht. Aber es darf das nicht so aussehen, als wenn etwa der Christus dieser Wesenheit die Flügel zerbräche, sondern das Ganze muß künstlerisch

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so gestaltet sein, daß, indem der Christus den Arm hinaufhebt, schon in der ganzen Handbewegung liegt, daß er eigentlich auch mit dieser Wesenheit nur unendliches Mitleid hat. Diese Wesenheit erträgt aber nicht das, was durch den Arm und die Hand hinaufströmt und was noch sichtbar sein wird, indem selbst im Felsen wie Einhöhlungen von den Fingern der hinaufgestreckten Hand sein werden. Was diese Wesen­heit in sich selbst empfindet, da sie in die Nähe der Wesenheit kommt, die als die Christus -Wesenheit dasteht, das ist so, daß man es in die Worte kleiden möchte: Ich kann nicht ertragen, daß so Reines auf mich heraufstrahlt.

Das ist es, was in dieser Wesenheit lebt und was so wesentlich in dieser Wesenheit lebt, daß ihre Flügel zerbrochen werden und sie in­folgedessen in den Abgrund stürzt. Es wird dieses eine besonders be­deutsame künstlerische Aufgabe sein. Und Sie merken, was da ver-fehlt werden könnte, wenn der Christus plastisch so dastehen würde und einfach durch Erheben der Hand eine solche Kraft ausgestrahlt würde, daß er dieser Wesenheit die Flügel zerbricht, wodurch sie in den Abgrund stürzt. Dann würde es der Christus sein, der wie mit Haß diese Wesenheit bestrahlen und sie zum Stürzen bringen würde. So darf das aber nicht dargestellt werden, sondern die Wesenheit selbst soll sich zum Stürzen bringen. Denn diese Wesenheit, die herab-stürzend mit zerbrochenen Flügeln dargestellt wird, das ist Luzifer.

Und auf der andern Seite, gegen rechts von der Christus-Gestalt aus gelegen, wo der Felsen einen Vorsprung haben wird, da wird der Felsen ausgehöhlt sein. In dieser Aushöhlung ist auch eine Gestalt, die Flügel hat. Und diese Gestalt, die da Flügel hat, wendet sich mit den armähnlichen Organen nach der Felsenhöhlung oben. Sie müssen sich also vorstellen: rechts die Felsenhöhlung und in der Höhlung diese geflügelte Gestalt, die aber ganz anders geartete Flügel hat als die Gestalt oben am Felsen. Die Gestalt oben am Felsen hat mehr adierartige Flügel, die Gestalt in der Felsenhöhlung aber fledermaus­artige Flügel. Die Gestalt in der Höhle klammert sich förmlich ein in die Höhle, man sieht sie in Fesseln, man sieht sie da unten arbeiten, das Erdreich auszuhöhlen.

Die Gestalt, die in der Mitte steht, die Christus-Gestalt, hat die

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rechte Hand heruntergerichtet. Während sie also die linke Hand nach oben richtet, ist die rechte Hand nach unten gerichtet. Wiederum wird es eine bedeutsame künstlerische Aufgabe sein, dies nicht so darzustellen, wie wenn der Christus diese Gestalt, die Ahriman ist, in Fesseln schlagen wollte, sondern der Christus hat selbst unendliches Mitleid für Ahriman. Ahriman aber kann das nicht ertragen, er windet sich in Schmerzen durch das, was durch die Hand des Christus aus­strahlt. Und was da ausstrahlt, das bewirkt, daß die Goldadern, die unten in der Felsenhöhlung sind, sich wie Schnüre um den Ahriman­leib winden und ihn fesseln. Ebenso wie das, was bei Luzifer geschieht, durch ihn selbst geschieht, so auch bei Ahriman. Wir werden dann versuchen, daß diese Auffassung, die durch ein bildhauerisches Kunst­werk an einer bedeutungsvollen Stelle im Bau stehen wird, darüber dasselbe Motiv in malerischer Auffassung haben wird, was dann ganz anders sein muß. So daß also unten diese Gruppe von drei Gestalten: Christus, Luzifer, Ahriman als plastische Gruppe dastehen wird und darüber dasselbe Motiv gemalt.

Wir stellen in unseren Dornacher Bau dieses Verhältnis zwischen Christus, Luzifer und Ahriman hinein, weil uns die Geisteswissen­schaft in einer gewissen Weise wirklich zeigt, daß die nächste Aufgabe in bezug auf das Verständnis des Christus-Impulses darin besteht, daß der Mensch endlich wissen lernt, welches Verhältnis in der Welt zwischen diesen drei Mächten Christus, Luzifer und Ahriman be­steht. Denn bis jetzt redet man zwar vielfach von Christentum und dem Christus-Impuls, aber was durch den Christus4mpuls eigentlich in-folge des Mysteriums von Golgatha in die Welt gekommen ist, das ist den Menschen noch nicht zur vöffigen Klarheit gekommen. Man spricht ja wohl davon, daß es Luzifer gibt, daß es Ahriman gibt, aber indem man von Luzifer und Ahriman spricht, spricht man sehr häufig so, als wenn man sie fliehen müßte, als wenn man geradezu immer sagen müßte: Ich will nichts, gar nichts wissen von Luzifer und Ahri­man! - Wenn die göttlich-geistigen Mächte, die auf die Weise, wie ich es gestern im öffentlichen Vortrag beschrieben habe, gefunden werden, auch nichts wissen wollten von Luzifer und Ahriman, so würde eben die Welt nicht bestehen können. Nicht dadurch, daß man sagt: Luzifer!

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ich ffiehe ihn, Ahriman! ich ffiehe ihn -, stellt man sich zu ihnen in das richtige Verhältnis, sondern dadurch, daß man das, was der Mensch infolge des Christus-Impulses anzustreben hat, betrachtet wie die Gleichgewichtslage eines Pendels. Der Pendel ist in der Mitte im Gleichgewicht, er muß aber nach der einen und der andern Seite ausschlagen. So ist es auch in der Erdenentwickelung des Menschen. Der Mensch muß auf der einen Seite ausschlagen nach dem luziferi­schen Prinzip, auf der andern Seite nach dem ahrimanischen Prinzip, aber er muß feststehen durch die Ausbildung desjenigen, was Paulus genannt hat: «Nicht ich, sondern der Christus in mir».

Den Christus in seiner Wirksamkeit müssen wir nämlich durchaus als eine Realität auffassen, als eine Wirklichkeit. Das heißt, wir müssen uns klar sein, daß das wirklich da war, was durch das Mysterium von Golgatha in unsere Erdenentwickelung hineingeflossen ist. Wie gut oder wie schlecht die Menschen das bis jetzt verstanden haben, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß es da war, daß es gewirkt hat in der menschlichen Erdenentwickelung. Gar vieles könnte man sagen, was die Menschen bisher von dem Christus4mpuls nicht verstanden haben. Und ein Stückchen wird die Geisteswissenschaft hinzuzutragen haben zu der Erfassung desjenigen, was aus geistigen Höhen durch das Mysterium von Golgatha als der Christus4mpuls eingeflossen ist in die Erdenentwickelung. Um uns das zu vergegenwärtigen, wie der Christus gewirkt hat, wollen wir, wie das auch schon an andern Orten geschehen ist, zwei Momente der Erdenentwickelung der Menschheit uns einmal vor Augen führen, zwei Momente, die wichtig geworden sind in der ganzen abendiändischen Entwickelung.

Sie werden aus der Geschichte wissen, welch wichtiger Moment es war, als Konstantin, der Sohn des Constantius Chiorus, den Maxen­tius besiegt hat und durch Konstantin äußerlich das Christentum in die abendiändische Weiterentwickelung eingeführt worden ist. Daß das geschehen konnte, dazu mußte Konstantin jene wichtige Schlacht schlagen gegen Maxentius, durch welche Konstantin dann das Chri­stentum in seinem abendiändischen Reiche zur Staatsreligion gemacht hat. Die ganze Landkarte Europas wäre eine andere geworden, wenn dazumal diese Schlacht des Konstantin gegen Maxentius nicht stattgefunden

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hätte. Aber Feldherrenkunst, dasjenige, was die Menschen dazumal mit dem Verstand vermocht haben, das hat diese Schlacht wirklich nicht zur Entscheidung gebracht, sondern etwas ganz anderes. Maxentius hat nachschlagen lassen in den sogenannten Sibyllinischen Büchern, den prophetischen Büchern Roms, und da wurde er so ge­führt, daß er sein Heer, das gut bewahrt gewesen wäre in den Mauern Roms, hinausführte aus den Mauern Roms und es im freien Feld gestellt hat dem Heere des Konstantin. Konstantin aber hatte vor der Schlacht einen Traum, in dem ihm bedeutet wurde: Wenn du im Zeichen des Mysteriums von Golgatha dem Maxentius entgegen-ziehst, so wirst du ein großes Ziel erreichen. - Und vorantragend das Zeichen des Mysteriums von Golgatha, das Kreuz, ging Konstantin in die Schlacht mit einem um drei Viertel kleineren Heere, als es Maxentius hatte. Und begeistert von der Gewalt, die aus dem Myste­rium von Golgatha kam, gewann Konstantin jene bedeutungsvolle Schlacht, durch die das Christentum äußerlich eingeführt worden ist in Europa. Wenn wir uns erinnern, was dazumal die Menschen mit dem Verstande von dem Christus-Impuls begriffen haben, finden wir ein endioses theologisches Gezänke. Die Menschen haben gestritten darüber, ob der Christus gleich ist von Ewigkeit her mit dem Vater und dergleichen mehr. Man muß sagen: Nicht darauf kommt es an, was die Menschen gewußt haben dazumal von dem Christus-Impuls, sondern darauf, daß er da war, der Christus-Impuls, daß er da war, daß er geleitet hat durch den Konstantin, durch einen Traum des Kon­stantin das, was geschehen sollte. Auf die Wirklichkeit des Christus, auf die reale, die wirkliche Gewalt des Christus kommt es an. Ver­stehen, was der Christus-Impuls ist, damit fangen wir erst in der Geisteswissenschaft an.

Ein anderer Moment war derjenige, als in dem Kampfe zwischen Frankreich und England Europa wiederum eine Gestaltung bekom­men hat, vor der man sagen kann: Wäre dazumal Frankreich nicht sieghaft gewesen gegen England, so würden alle Verhältnisse anders geworden sein. Aber wie war das geschehen? - Der Christus-Impuls hat bis in unsere Zeit, wo er immer bewußter und bewußter werden muß, eben in das Unterbewußte der Seele hineingewirkt. Und da sehen

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wir denn in der abendiändischen Geistesentwickelung, wie sich der Christus-Impuls in den Seelen der Menschen diejenigen Zustände auf­sucht, durch die er bei einzelnen Menschen wirksam werden kann. Legenden haben uns aufbewahrt die Art, wie der Christus4mpuls in der abendländischen Geistesentwickelung sich geltend machen kann. Diese Legenden weisen zurück zum Teil in alte heidnische Zeiten, überall aber in solche Zeiten, in denen sich gerade im Heidentum Ver­ständnis für das Christentum vorbereitete.

Wenn die Seele nicht in bewußter Art die Initiation anstrebt auf dem Wege, der vorgezeichnet ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», sondern gleichsam auf natürliche Weise, wie durch eine Naturinitiation vom Christus-Impuls durchdrungen wurde, so ist die gunstigste Zeit, in welcher dieser Christus-Impuls in die Seele hineininspirieren kann, die Zeit vom Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstag, die Zeit vom 25. Dezember bis zum 6. Januar. Ver­stehen können wir das dadurch, daß wir uns klarmachen: für die okkultistische Erkenntnis wird es ganz eindeutig ersichtlich, daß unsere Erde nicht das allein ist, wovon die Geologen sprechen. Das, wovon die Geologen sprechen, das ist von der Erde soviel wie das Knochen-gerüst vom Menschen. Aber unsere Erde hat auch das Geistige, das dazugehört. Und eben in die Erdenaura ist der Christus hineingezogen. Und diese Erde schläft und wacht, wie wir in vierundzwanzig Stunden schlafen und wachen. Wir müssen uns damit bekanntmachen, daß der Schlafzustand der Erde während der Sommerzeit, der Wachzustand während der Winterzeit eintritt. Und am wachsten ist der Geist der Erde in diesen zwölf oder dreizehn Nächten von Weihnachten bis Dreikönigstag. In den alten Zeiten, in denen, wie Sie ja aus den man­nigfaltigen Darstellungen in meinen Vortragszyklen wissen, die Men­schen mehr in einer Art traumhaften Hellsehens sich zum geistigen Prinzip der Welt erhoben haben, war die günstigste Zeit die Sommer­zeit. Ganz naturgemäß ist es, daß, wer in einem mehr traumhaften Heilsehen zum Geistigen sich erheben will, es leichter hat während der schlafenden Erdenzeit, zur Sommerzeit. Daher war es das Johannifest, das in den alten Zeiten am günstigsten war, um die Kraft der Seele hinaufzuheben zum Geistigen. An die Stelle der alten Art, wie das

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Geistige in die Erde hineinwirkt, ist die neue, mehr bewußte Art gc­treten; da ist nun die beste Zeit die Zeit, wenn die Erde wacht.

Daher sagen uns die Legenden, daß besonders begnadete Menschen, Menschen die durch ihr Karma besonders geeignet sind, um die Weihnachtszeit in einen besonderen Bewußtseinszustand kommen, der nur äußerlich ähnlich ist dem Schlaf, der aber innerlich so ist, daß inspirierend in ihn das hineinwirken kann, wodurch die Menschen erhoben wurden zu der Welt, die wir bezeichnen als das Geisterland. Da gibt es eine sehr schöne Legende, eine norwegische Legende von Olaf Asteson, von dem uns erzählt wird, wie er am Weihnachtsabend zur Kirche geht, in schlafähnlichen Zustand fällt und wie er dann auf­wacht am 6. Januar und erzählen kann, was er erlebt hat in diesem schlafähnlichen Zustand. Und wirklich erzählt uns diese norwegische Legende, wie Olaf Asteson etwas durchlebt hat, was man zunächst wie die Seelenwelt empfindet, dann etwas, was man wie das Geister-land empfindet, nur eben alles in Bildern, in Imaginationen.

Diese Zeit ist die günstigste gewesen in denjenigen Epochen, in denen die Menschen noch nicht so vorgeschritten waren wie in unserer Zeit. Heute sind die Zeiten vorbei, in denen in dieser Weise wie durch eine Naturinitiation der Christus-Impuls in die Seelen hineinströmen kann. Heute müssen die Menschen ebenso bewußt, wie es vorgeschrie­ben ist in « Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», sich hinaufranken zur Initiation. Wir leben in einer Zeit, in der Natur­initiationen immer seltener werden und endlich ganz verschwinden werden, so daß wir nicht mehr darauf zu rechnen haben. Aber eine -im wesentlichen - Naturinitiation zu nennende Initiation war noch die, durch welche der Christus-Impuls hineinwirkte in das Gemüt des ein­fachen Landmädchens, in die Jungfrau von Orleans durch die ver­ursacht worden ist der Sieg der Franzosen über die Engländer, der die europäische Landkarte in so großartiger Weise umgestaltet hat. Wiederum nicht dasjenige, was der menschliche Verstand leisten konnte, war es, sondern das, was dazumal über alle Kunst der Heer­führer hinausgehend die Jungfrau von Orleans leitete, und wodurch Europa eine neue Gestalt bekam - der Christus-Impuls, der in das Unbewußte einer einzelnen Persönlichkeit hineinarbeitete, aber so

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hineinarbeitete, daß dann von dieser Persönlichkeit ausstrahlte, was wirksam ist in der ganzen Geschichte.

Nun müßten wir darauf achten, ob etwas Ahnliches vorgegangen sein könnte als Naturinitiation bei der Jungfrau von Orleans, ob die Seele der Jungfrau von Orleans in den Nächten vom 25. Dezember bis zum 6. Januar inspiriert worden wäre. Im Lebensgange scheint so etwas nicht nachzuweisen zu sein, daß die Jungfrau von Orleans auch einmal in den zwölf oder dreizehn Tagen vom 25. Dezember bis 6. Januar in einem schlafähnlichen Zustande war, in welchem besonders der Christus-Impuls hätte in sie hineinwirken können, so daß sie dann als Mensch wie die Hülle nur des Christus4mpulses gewirkt hätte auf Frankreichs Schlachtfeldern. Und doch war es so. Es gibt nämlich eine Zeit, die, wenn das Karma der betreffenden Individualität das be­sonders möglich macht beim Menschen, wirklich von einem solchen schlafähnlichen Zustand ausgefüllt werden kann. Das ist die Zeit der letzten Tage, in denen der Mensch noch, bevor er das physische Er­denlicht schaut, im Leib der Mutter lebt. Da lebt der Mensch in einem traurahaften, schlafähnlichen Zustand. Er hat ja noch nicht durch die Sinne etwas gesehen, was äußerlich in der Welt sich zuträgt. Wäre ein Mensch durch sein Karma besonders geeignet, in diesen letzten Tagen, In welchen er im Leib der Mutter wohnt, aufzunehmen den Christus-Impuls, so würden diese Tage auch Tage der Naturinitiation sein. Dann würde ein solcher Mensch schon gekräftigt und gestärkt mit dem in ihm liegenden Christus-Impuls zum erstenmal das Auge auf­schlagen nach der Initiation, das heißt in diesem Falle, nach der Ge­burt. Und ein solcher Mensch müßte am 6. Januar geboren sein. Die Jungfrau von Orleans ist am 6. Januar geboren. Das ist das Geheimnis der Jungfrau von Orleans, daß sie am 6. Januar geboren ist, daß sie die Zeit von Weihnachten bis zum Dreikönigstag in jenem eigen­tümlichen, schlafähnlichen Zustand im Leib der Mutter zugebracht und da ihre Naturinitiation aufgenommen hat. Nun bedenken Sie die tiefen Zusammenhänge, die hinter der äußeren Entwickelung stehen, die man gewöhnlich die Geschichte nennt. Was äußerlich in der Ge­schichte aus Dokumenten dargestellt wird, das ist in der Regel sogar das Unwichtigste. Das einfache Datum, das in unserem Kalender

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verzeichnet ist, daß die Jungfrau von Orleans am 6. Januar in die Welt hineingeschickt worden ist, das ist von maßgebender historischer Be­deutung. So wirken die Kräfte aus dem Übersinnlichen in das Sinn­liche herein. Und wir müssen diese okkulte Schrift lesen, durch die sich für uns die Hineinwirkung des Übersinnlichen in das Sinnliche darstellt. Also das Hineinströmen des Christus-Impulses wie durch eine Naturinitiation, schon vor der physischen Geburt, war bei der Jungfrau von Orleans vorhanden.

Ich will diese Dinge auseinandersetzen, um in Ihren Seelen ein Ge­fühl davon hervorzurufen, wie hinter dem, was man gewöhnlich Ge­schichte nennt, für das äußere Anschauen unbekannte Mächte und Zusammenhänge wirksam sind. So leitet aber seit dem Mysterium von Golgatha der Christus-Impuls die Geschichte namentlich der euro­päischen Menschheit. Und im Orient, in Asien ist eine Weltauffassung zurückgeblieben, von der man sagen kann: Sie ist in ihren Empfin­dungen noch nicht bis zu dem Christus-Impuls herangekommen. Ge­wiß, der Europäer hat sich verführen lassen, das, was man als Inder­tum empfindet, ganz besonders tief zu nennen. Aber das ist das Cha­rakteristische dieses Indertums - überhaupt der ganzen asiatischen Religionsempfindung -, daß es mit all seinem Fühlen vor dem Chri­stus-Impuls steht, aber den Zustand bewahrt hat, der im religösen Empfinden der Erdenmenschheit da war vor dem Christus-Impuls. Zurückbleiben in der Entwickelung bedeutet immer, etwas Luzi­ferisches in sich aufnehmen. Daher trägt die asiatische Religions­entwickelung in sich ein luziferisches Element. Und blicken wir hin­über zur asiatischen Religionsentwickelung, so müssen wir gewahr werden: Gewiß, wir können in ihr vieles sehen, was die Menschheit einmal schon hatte, wovon sie aber abkommen mußte. Aber das alles müssen wir in der abendiändischen Kultur zum Teil reinigen von dem luziferischen Element, zum Teil hinaufheben so, daß das Christus-Prinzip einffießen kann.

Wenn wir von Asien nach Europa hinübergehen, so finden wir im Osten von Europa, in der russischen Kultur, ausgebreitet das ortho­doxe Christentum, das stehengeblieben ist auf einer früheren Stufe der christlichen Entwickelung, das nicht mitgehen wollte, das noch etwas

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Luziferisches behalten wollte. Kurz, blicken wir nach Osten hinüber, so haben wir das, was, ich möchte sagen, die weise Weltenienkung in der ganzen Entwickelung der Menschheit als das luziferische Element zurückließ.

Blicken wir nach Westen hinüber, besonders nach der amerikani­schen Kultur, dann haben wir eine andere Eigentümlichkeit. Das Charakteristische dieser amerikanischen Kultur ist, daß alles im Äußer­lichen gesucht wird. Dadurch wird gewiß Großes, Bedeutsames her­vorgebracht; aber alles wird im Äußeren gesucht. Nehmen Sie ein Beispiel. Wenn wir in Europa, namentlich in Mitteleuropa, sehen, daß ein Mensch, der in seinem Leben zunächst nicht Gelegenheit hatte, auf den Christus und die geistigen Weltenmächte sein Gemüt hin­zurichten, durch irgend etwas plötzlich gleichsam Umkehr gehalten hat in seinem Leben, dann interessiert uns, was in dieser Seele vor­gegangen ist. Nicht daß er einen Sprung erlebte in seiner Entwicke­lung, ist es, was uns interessiert, das finden wir ja überall. Denn am unrichtigsten ist der Ausspruch, den die äußere Wissenschaft geprägt hat: Natur macht keine Sprünge. - Vom grünen Pflanzenblatt zum roten Blumenblatt ist ein mächtiger Sprung, vom Blumenblatt zum Kelche ist wiederum ein mächtiger Sprung. Es ist ein durchaus un­richtiger Ausspruch, und die Wahrheit der Entwickelung beruht ge­rade darauf, daß überall Sprünge gemacht werden. Daß also auch ein Mensch, wenn er eine Zeitlang so äußerlich hingelebt hat, durch irgend etwas wie plötzlich zum Geistigen sich hinneigen kann, das ist nicht das Besondere, was uns interessiert. Aber die innere Macht und Gewalt, die so etwas bewirkt, was man eine Bekehrung zum Gei­stigen nennen könnte, das wird uns interessieren. Wir werden in das Gemut eines solchen Menschen hineinschauen wollen, wir werden wissen wollen, was ihn zu einer solchen Umkehr gebracht hat. Es wird uns das innere Seelische interessieren. Wie macht es nun der Ameri­kaner? - Er macht etwas sehr Eigentümliches. In Amerika konnte man ja vielfach beobachten, daß solche Bekehrungen stattgefunden haben. Nun, der Amerikaner läßt Briefe schreiben von solchen, die eine Be­kehrung durchgemacht haben. Dann legt er alle diese Briefe zusammen auf ein Häufchen und sagt: Ich habe die Briefe nun erhalten von einer

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Anzahl Menschen; es waren etwa gegen zweihundert, die Briefe ge­schrieben haben. Vierzehn Prozent von all diesen Seelen, die eine solche Bekehrung erlebten, haben sie aus Furcht geschrieben, die plötzlich über sie kam vor dem Tode oder der Hölle; aus altruistischen Motiven fünf Prozent; aus Streben nach sittlichen Idealen siebzehn Prozent; aus Gewissensbissen fünfzehn Prozent; aus Befolgung von Lehren, die ihnen gegeben worden sind, zehn Prozent; dadurch, daß sie gesehen haben, daß andere bekehrt wurden - also aus Nach­ahmung -, dreizehn Prozent; dadurch, daß man sie genötigt hat, in-dem man sie im entsprechenden Alter durchprügelte, neunzehn Pro­zent und so weiter. So nimmt man die extremsten Seelen heraus, sor­tiert sie und erhält ein Resultat, das auf «sichere Daten» aufgebaut ist. Das wird dann verzeichnet in den Büchern, die man als «Seelenkunde» unter die Leute schickt. Alle andern Unterlagen sind diesen Leuten unsicher, seien nur auf Subjektivem aufgebaut, so sagen sie. Da haben Sie ein Beispiel von Veräußerlichung des Allerinnerlichsten selbst. So ist es in vieler, vieler Beziehung in Amerika. In der Zeit, die eine besondere spirituelle Vertiefung fordert, grassiert der äußerlichste Spiritismus in Amerika! Man will dort alles handgreiflich haben.

Das ist eine materialistische Erfassung des geistigen Lebens. Wir könnten noch viele solche Dinge anführen, an denen Sie sehen wür­den, daß die Kultur im Westen gepackt wird von dem Ahrimanischen. Das ist das andere Ausschlagen des Pendels. Blicken wir nach Osten, so haben wir das luziferische Element, blicken wir nach Westen, so haben wir das ahrimanische Element. Und die so unendlich bedeu­tungsvolle Aufgabe, die wir zwischen West und Ost in Mitteleuropa haben, das ist die, das Gleichgewicht zu finden. Daher möchten wir in unserem Dornacher Bau hinstellen als plastische Gruppe das Größte der spirituellen Anforderungen unserer Zeit: das Gleichgewicht zu finden zwischen dem Verhältnis zu Luzifer und dem Verhältnis zu Ahriman. Dann wird man erst erkennen, was der Christus4mpuls von der Erdenentwickelung wollte, wenn man den Christus nicht so ein­fach herausstellen wird, sondern wenn man in der richtigen Weise wissen wird, wie der Christus diejenige Macht ist, die für uns vorbild­lich im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman dasteht.

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Daß in bezug auf das Verhältnis des Menschen und des Christus zu Luzifer und Ahriman noch keine Klarheit herrscht, das mag Ihnen durch folgendes anschaulich werden. Auch das Größte, das, was nach der einen Richtung das Größte enthält, ist nicht immer frei von dem, was noch als Einseitigkeit in der Zeit herrschen muß. Man kann ge­wiß nicht hoch genug stellen jenes Bild, das Michelangelo in der Six­tinischen Kapelle in Rom hingestellt hat, «Das jüngste Gericht», dieses wunderbare Bild. Der Christus triumphlerend, die Guten nach der einen Seite lenkend, die Bösen nach der andern. Schauen wir uns diesen Christus an. Die Züge hat er nicht, die wir gerne erreichen möchten bei dem Christus, der in unserem Dornacher Bau stehen soll. Das muß ersichtlich werden, daß der Christus die Hand erhebt in Mitleid, trotzdem da oben Luzifer ist. Luzifer soll nicht gestürzt wer­den durch die Macht des Christus, sondern er stürzt sich selbst herab, weil er nicht ertragen kann, was von dem Christus ausstrahlt in seiner Nähe. Und der Christus erhebt sein Auge und faltet die Stirn, indem er die gefaltete Stirn zu Luzifer erhebt. Und Ahriman wird nicht durch den Haß des Christus überwunden, sondern er fühlt, daß er nicht er­tragen kann, was von dem Christus ausströmt. Der Christus aber steht inmitten als derjenige, der das Parzival-Element in die neuere Zeit heraufbringt, der nicht durch seine Kraft, sondern durch sein Dasein zur Sich-Überwindung die andern bringen muß, so daß die andern sich selbst überwinden und nicht er sie überwindet. Bei Michelangelo sehen wir noch, wie der Christus durch seine Gewalt die einen zum Himmel, die andern zur Hölle schickt. Das wird in der Zukunft nicht der richtige Christus sein, sondern das wird ein Christus sein, der noch sehr luziferisch ist. Damit ist natürlich dieses Bild nicht verkleinert. Die ganze Größe dieses Bildes wird anerkannt, aber man muß gestehen, daß Michelangelo noch nicht den Christus malen konnte, weil die Weltentwickelung noch nicht soweit war. Es muß durchaus ein­gesehen werden, daß man nicht nur den Sinn zu dem Christus hinienken soll, sondern daß man den Sinn hinienken soll zu der dreifachen Wesens-gestaltung: Christus, Luzifer, Ahriman. Ich kann das nur andeuten. Geisteswissenschaft wird das alles erst herausbringen, was in diesem Geheimnis liegt: Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman.

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Aber nun bedenken Sie das Folgende: Wenn wir nach Osten sehen, so sehen wir selbst im nächsten Osten luziferische Mächte. Und im Westen sehen wir ahrimanische Mächte. Wirklich, es muß schon ein­mal unsere Art sein, in der geisteswissenschaftlichen Betrachtung die Dinge nicht mit Sympathie und Antipathie und auch die Völker und Volksseelen nicht mit Sympathie und Antipathie zu betrachten, son­dern so, wie sie in ihrer Eigenart sind. Was man die nationale Eigen­tümlichkeit eines Menschen nennt, der in seinem Volkstum darin­steht, das hängt vor allen Dingen von dem ab, was im physischen und im ätherischen Leib wirksam ist. Wenn wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit unserem Seelisch-Geistigen als astralischer Leib und Ich leben, dann leben wir außerhalb des gewöhnlichen Nationalen. Nur vom Aufwachen bis zum Einschlafen, wenn wir in den Leib untertauchen, leben wir im Nationalen. Daher ist das Nationale auch etwas, was der Mensch während seines Aufenthaltes im Kamaloka nach und nach überwindet. Zum allgemein Menschlichen strebt der Mensch hin, indem er im Kamaloka das Nationale überwindet, um dann die größte Zeit zwischen Tod und neuer Geburt im allgemein Menschlichen zu leben. Es gehört zu den Eigenschaften, die im Kama­loka abgelegt werden, auch dasjenige, was uns spezialisiert zum natio­nalen Menschen.

In dieser Beziehung sind nun die einzelnen Nationalitäten sehr voneinander verschieden. Vergleichen wir einmal einen französischen Menschen und einen russischen Menschen. Der französische Mensch hat die Eigentümlichkeit, daß er das, was die Volksseele hineinträgt in seinen physischen Leib und Ätherleib während seines Lebens zwischen Geburt und Tod, ganz besonders festhält, daß er ganz be­sonders darin lebt. Das drückt sich darin aus, daß der Franzose - nicht als einzelner Mensch, sondern als Franzose - eine Vorstellung hat von dem, was ein Franzose ist; daß er vor allen Dingen das voran­stellt, was denn eigentlich ein Franzose ist. Aber diese Gedanken, die sich der Franzose von seiner Nationalität macht, die sich überhaupt der Romane von seiner Nationalität macht, bewirken, daß im Äther-leib scharf eingedrückt ist die Vorstellung, die der Franzose von Natio­nalität hat. Geht er durch die Pforte des Todes, dann trennt er schon

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nach Tagen den Ätherleib ab; dieser Ätherleib ist dann eine fest-geschlossene Gestalt, die lange in der ätherischen Welt vorhanden bleibt. Der Ätherleib kann sich lange nicht auflösen, weil ihm fest eingeprägt sind die Vorstellungen seiner Nationalität; diese Vor­stellungen halten den Ätherleib zusammen. Wenn wir nach Westen hinübersehen, so sehen wir daher das Feld des Todes angefüllt mit festgeptägten Ätherleibern.

Schauen wir nun näher nach dem Osten, nach dem russischen Menschen, dann ist das Eigentümliche dieser russischen Menschen, daß sie, wenn die Seelen durch die Pforte des Todes gehen, einen solchen Ätherleib in sich tragen, daß er sich verhältnismäßig sehr rasch auflöst. Das ist der Unterschied zwischen dem Westen und dem Osten. Die Ätherleiber, die ausgeschieden werden nach dem Tode beim westeuropäischen Menschen, die haben die Eigentümlichkeit, daß sie sich starr halten wollen. Das, was der Franzose «Gloire» nennt, das prägt sich seinem Äthetleib fest ein als nationale Gloire, so daß er verurteilt ist, lange, lange nach seinem Tode den geistigen Blick hinzulenken nach diesem Ätherleib, sich selbst anzuschauen nach dem Tode. Der russische Mensch dagegen schaut sich wenig an nach dem Tode. Durch das alles ist der westeuropäische Mensch dem ahri­manischen Einfluß ausgesetzt; dieses Vermaterialisieren des Äther-leibes ist wiederum ausgesetzt dem ahrimanischen Prinzip. Das Zer­fließen des Ätherleibes, das baldige Aufgehen des Ätherleibes ist be­gleitet von einem Wollustgefühl, und das ist gerade das Eigentüm­liche, ein instinktives Wollustgefühl im Nationalen. Wie ist dieses ausgedrückt im Osten? - Mitteleuropa versteht das nicht, wie es sich auch da nicht hineinfühlt. Wenn man Dostojewskij und selbst Tolstoj verfolgt oder andere, die tonangebend waren, die immer reden vom «russischen Menschen», so ist dies ein Wollustgefühi im Nationalen, das sich selbst nicht definieren kann. Selbst bei Solowjow finden wir noch, wie in seiner Philosophie etwas Schwüles lebt, das der mittel­europäische Mensch mit der Klarheit und Reinheit, die er sucht, nicht vereinigen kann. Was in Europa als geistige Macht wirksam ist, das hängt mit alledem zusammen. In Mitteleuropa ist ein anderer, ein Mittelzustand vorhanden, nämlich etwas, was man noch weiter ausführen

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könnte, als es irn gestrigen öffentlichen Vortrag möglich war Ich sagte: Etwas ist vorhanden in Mitteleuropa, was innerliche Stre-bensnatur ist. Goethe würde in den vierziger Jahren genau ebenso seinen «Faust» geschrieben haben: Immer streben, immer streben! -Aber dieses Streben ist innerlichste Natur. In Mitteleuropa war es, wo die Mystiker aufgetreten sind, die das Göttlich-Geistige nicht bloß erkennen wollten, sondern es mit der eigenen Seele durchleben wollten. Innerlich erleben wollten die Mystiker das Christus-Ereignis. Nimmt man nun Solowjow, so findet man, daß er vor allen Dingen davon ausgeht: Der Christus ist einmal historisch für die Menschheit gestorben. Das ist ganz richtig, aber es handelt sich bei Solowjow um eine Seele, die wie eine Wolke das geistige Leben außer sich sieht, eine Seele, die sieht, daß gleichsam schon alies geschehen ist, während der mitteleuropäische Mensch fordert, daß jeder wieder aufs neue das Christus-Erlebnis in sich erlebe. Selbst einem Solowjow würde Meister Eckart etwa folgendes erwidert haben. Wenn Solowjow immer wieder betont, der Christus müsse durch den Tod gehen, damit der Mensch Mensch sein kann, so würde Meister Eckatt sagen: Ihr schaut den Christus an, wie man irgend etwas Äußerliches anschaut. Darauf kommt es nicht an, daß wir immer hinblicken nur auf die historischen Ereignisse, sondern wir müssen im Inneren den Christus selbst erleben, wir müssen etwas entdecken im Inneren, was solche Zustände durch-macht wie der Christus, wenigstens geistig, so daß geistig spirituell das Christus-Erlebnis wieder durchiebt wird.

Nun erscheint es gewiß vertrackt und phantastisch, wenn der heutigen Menschheit gesagt wird: Die ganze Entwickelung, selbst der sprachliche Volksgeist hat in Mitteleuropa so gewirkt, daß herein-geprägt wurde in seine Sprache dieser Zusammenhang des Ich mit dem Christus-Prinzip: I-CH = Jesus Christus. I-CH, das sich zusam­menfügt so, daß es «Ich» wurde. Und indem man in Mitteleuropa Ich ausspricht, spricht man den Namen des Christus aus. So nahe will man das Ich mit dem Christus fühlen, so innig damit verbunden sein. Dieses intime Zusammenleben mit der geistigen Welt, wie es in Mitteleuropa auf allen geistigen Gebieten angestrebt werden muß, kennt man weder im Westen noch im Osten. Daher muß im 20. Jahrhundert

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etwas geschehen, damit sich allmählich über den ganzen europäischen Kontinent in entsprechender Weise ausbreiten kann das Christus-Prinzip. Ich habe es öfter in verschiedenen Vortrags­zyklen betont, daß im November 1879 diejenige geistige Wesenheit, die wir als den Erzengel Michael bezeichnen, eine besondere Ent­wickelungsstufe erreicht hat. Michael wurde sozusagen der führende Geist. Dieser führende Geist bereitet nun das Ereignis vor, das im ersten meiner Mysteriendramen als Erscheinung des ätherischen Chri­stus über die Erde hin angedeutet ist, das Ereignis, welches im 20. Jahrhundert eintreten muß. Dann wird eintreten, daß erst einzelne Seelen, dann mehr und immer mehr Seelen wissen werden: Der Christus ist wirklich da, der Christus wandelt wiederum auf der Erde, aber in ätherischer Gestalt, nicht in physischer Gestalt. - Das muß vorbereitet werden. Wenn im Laufe dieses 20. Jahrhunderts gewissen Seelen die geistigen Augen hellsichtig geöffnet würden - und das wird geschehen - für das, was in der ätherischen Welt lebt, würden sie gestört werden durch jene Ätherleiber, die von Westeuropa her sich ausbreiten. Auf die würde der geistige Blick zuerst fallen, und man würde in unrichtiger Weise die Gestalt des Christus sehen. Daher muß Michael einen Kampf kämpfen in Europa. Er muß etwas bei­tragen, daß diese westeuropäischen starren Ätherleiber aufgelöst wer­den in der ätherischen Welt. Dazu muß er diejenigen Ätherleiber nehmen, die sich gerne auflösen, die Ätherleiber im Osten, und muß mit ihnen kämpfen gegen Westen. Das bewirkt, daß sich seit 1879 ein mächtiger Kampf in der astralen Welt vorbereitet hat zwischen russischen und westeuropäischen Ätherleibern, und dieser Kampf durchtobt die ganze astralische Welt. Es ist wirklich ein heftiger Kampf vorhanden in der Astralwelt, geführt von Michael, zwischen Rußland und Frankreich. Das ist das, was in der Astralwelt zugrunde liegt dem Kampfe, der da tobt in Europa. Und wie wir oftmals so erschütternd davon ergriffen werden, daß etwas, was hier in der phy­sischen Welt sich vollzieht, in der geistigen Welt entgegengesetzt ist, so ist es auch hier der Fall. Jenes durch Verführung von Ahriman zusammengekommene französisch-russische Bündnis, das vorzugs­weise auf dem ahrimanischen Element, nämlich auf zwanzig Milliarden

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beruht, die von Frankreich an Rußland gegeben worden sind, ist der physische Ausdruck für einen Kampf, der tobt zwischen französischen und russischen Seelen, für einen Kampf; in den Mitteleuropa mit seinem Streben im innersten Seelenelement nach dem Begegnen mit dem Christus hineingestellt ist. Und Europa ist dem Karma verfallen, daß gerade in Mitteleuropa in tragischer Weise erlebt werden muß, was der Osten mit dem Westen und der Westen mit dem Qsten aus­zumachen hat. Die Dinge, die äußerlich das deutsche Element mit dem französischen Element auszumachen hat, sind nur so aufzufassen, daß das Deutsche eben mitten zwischen dem Osten und dem Westen ist und nach beiden Seiten als Amboß wirkt. Denn das, was von beiden Seiten in Deutschland zusammengestoßen wird, das wird in Wahrheit von diesen beiden Seiten verhandelt. Das ist die geistige Wahrheit, die ganz anders ist als das, was sich äußerlich in der physischen Welt ab­spielt. Denken Sie, wie verschieden die geistige Wahrheit von dem ist, was sich äußerlich in der physischen Welt abspielt! Alles das klingt gewiß den heutigen Menschen grotesk, aber die Wahrheit ist es. Er­schütternd muß diese Wahrheit auf uns wirken.

Aber noch eine andere Sache ist außerordentlich bedeutsam. Es widerspricht gewiß alledem, was uns die Geschichte zeigen kann, daß England, nachdem es immer mit der Türkei gegen Rußland vereint war, nun plötzlich mit Rußland gegen die Türkei kämpfen muß. Ver­stehen kann man diesen Widerspruch erst, wenn man folgende okkulte Beobachtung macht. Während hier unten auf dem physischen Plan England mit Rußland vereint das türklsche Element bekämpft, stellt sich folgendes für die okkulte Beobachtung dar. Wenn man in bezug auf diesen Kampf okkult beobachtet und gleichsam von unten herauf auf den physischen Plan schaut und dann auf den Astralplan, so stellt sich heraus: Für den Norden erscheint einem Rußland mit England verbündet, und für den Südosten erscheint einem die Türkei mit Eng­land verbündet. Das rührt davon her, daß das Bündnis zwischen Eng­land und Rußland nur eine Bedeutung hat auf dem physischen Plan, aber keine Abspiegelung hat in der geistigen Welt, da es ganz auf ma­teriellen Interessen beruht. Von unten sieht man nur auf dem physi­schen Plan England und Rußland verbunden im Norden. Im Südosten

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sieht man durch den physischen Plan hindurch auf dem Astral­plan die Engländer mit den Türken seelenhaft vereint gegen Rußland kämpfend. So kämpft England auf dem physischen Plan auf der einen Seite zusammen mit Rußland, und auf der andern Seite wird Rußland von England bekämpft. So müssen wir die Dinge betrachten, die sich äußerlich wirklich abspielen, insofern sie sich als äußere Geschichte offenbaren. Denn das, was dahintersteckt, ist eben etwas ganz anderes.

Es wird eine Zeit kommen, in der die Menschen über die jetzigen Ereignisse ganz anders reden werden, als es gegenwärtig geschieht. Man muß sagen, die ganze Kriegsliteratur hat etwas recht Unerfreu­liches. Manches Schöne wird ja auch gesagt, aber doch auch sehr viel Unerfreuliches. Und vor allen Dingen unerfreulich ist eines. Es wird immer gesagt: Heute kann man noch nicht darüber sprechen, wer den Krieg verschuldet hat und so weiter. - Man tröstet sich hinweg über die Dinge. Man sagt: In Zukunft wird man aus den Dokumenten der Archive schon herausbringen, wer den Krieg verschuldet hat! - In bezug auf die äußeren Ereignisse ist die Sache aber gar nicht so schwer zu finden, wenn man ohne Leidenschaft urteilt. Und Chamberlain hat in seinen «Kriegsaufsätzen», wenn er auch in den Einzelheiten irrt, schon recht, wenn er sagt, daß man gerade über diesen Krieg das Allergewisseste wissen kann. Das ist richtig, daß darüber kein Zweifel ist, nur muß man die richtige Frage stellen. Es wird zum Beispiel eine Frage, wenn sie richtig gestellt ist, nur eindeutig beantwortet werden können. Es ist die Frage: Wer hätte diesen Krieg verhindern können?

- Die immer wiederkehrende Frage: Wer hat die Schuld an diesem Kriege? und noch viele andere Fragen, sind eben nicht richtig. Wer hätte den Krieg verhindern können? - Darauf wird die Antwort keine andere sein können als die: Die russische Regierung hätte den Krieg verhindern können! - Und nur so wird man die richtige Definition finden können für die Antriebe, die im einzelnen wirken. Selbst­verständlich hätte wiederum der seit Jahrzehnten von dem Osten gewollte Krieg heute nicht kommen können, wenn nicht ein gewisses Verhältnis zwischen England, Rußland und Frankreich bestanden hätte, so daß man auch, wenn man will, England die größere Schuld zuschreiben kann. Aber alle diese Dinge berücksichtigen nicht das,

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was hinter alledem doch an Ursachen steht, die den ganzen Weltkrieg als Notwendigkeit darstellen. Es ist naiv zu glauben, daß der Krieg hätte ausbleiben können. Die Menschen reden jetzt, als ob dieser Krieg nicht hätte zu kommen brauchen. Er liegt natürlich im euro­päischen Karma.

Etwas wollte ich andeuten durch die geistigen Gegensätze zwischen Osten und Westen. Es kommt nicht darauf an, daß wir sozusagen in besonderer Weise nach den äußeren Ursachen fragen, denn diese sind ja nicht wichtig. Wir müssen nur wissen, daß dieser Krieg eine histo­rische Notwendigkeit ist. Da sind die einzelnen Ursachen nicht wichtig.

Aber wichtig sind schon alle die verschiedenartigen Wirkungen, zu denen wir uns in der richtigen Weise werden stellen müssen. Und da kann uns eine Wirkung als ganz besonders bedeutungsvoll vor die Seele treten. Es ist eine großartige, charakteristische Erscheinung, daß durch einen solchen Krieg viele unverbrauchte Ätherleiber erzeugt werden. Und da dies der größte Krieg ist, den die Menschheit ge­führt hat seit der bewußten Geschichtsentwickelung, so ist auch diese Eigentümlichkeit in einem höchsten Maße vorhanden. Unverbrauchte Ätherleiber werden erzeugt. Und sehen Sie, der Ätherleib, den der Mensch in sich trägt, kann ihn lange versorgen, bis der Mensch siebzig, achtzig, neunzig Jahre alt ist. Im Kriege aber werden Menschen in der Blüte ihrer Jahre hingeopfert. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, so wird der Ätherleib, wie Sie wissen, nach kurzer Zeit ausgestoßen; aber bei den im Kriege Gefallenen wird der Ätherleib so ausgestoßen, daß er noch lange, jahrzehntelang hindurch im physischen Leibe diese Menschenleben hätte versorgen können. In der Physik erkennt man an, daß keine Kraft verlorengeht. Im Gei­stigen ist es aber ebenso. Diese Ätherleiber, die frühzeitig in die äthe­rische Welt hineingehen, bleiben mit ihren Kräften vorhanden. Be­denken Sie nun, wie unzählige unverbrauchte Ätherleiber von denen da sind, die als junge Menschen durch die Pforte des Todes gehen. Mit diesen Ätherleibern ist es doch etwas Besonderes. Das möchte ich an einem Beispiel, das unserer Bewegung naheliegt, erläutern, um dann überzugehen auf die Ätherleiber, die von den durch den Tod gegangenen

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Kriegern in der ätherischen Welt in der nächsten Zukunft enthalten sein werden.

Wir haben in diesem Herbst in Dornach den Tod des kleinen Sohnes einer dort jetzt in der Umgebung des Baues beschäftigten Familie aus der Anthroposophischen Gesellschaft erlebt, den Tod des kleinen, siebenjährigen Theodor Faiß. Der Vater hat früher in Stuttgart gelebt, dann kam er als Gärtner nach Dornach in die Um­gebung des Baues und lebte dort mit seiner Familie. Er selbst war bald nach Kriegsausbruch eingezogen worden und war zu der Zeit des Ereignisses, das ich anführen will, im Lazarett. Der kleine, sieben­jährige Theodor war ein wirkliches Sonnenklnd, ein wunderbarer, lieber Knabe. Nun geschah eines Tages das Folgende. Wir hatten ge­rade einen Vortrag, wie ich sie in Dornach halte im Anschluß an das, was im Bau geschieht. Nach dem Vortrag kam eine Persönlichkeit und sagte, daß der kleine Theodor Faiß seit dem Spätnachmittag nicht zu seiner Mutter zurückgekommen sei. Es war zehn Uhr abends, und man konnte nichts anderes denken, als daß ein großes Unglück ge­schehen sei. Es war nämlich an diesem Nachmittag ein Möbelwagen angekommen und war in der Nähe der sogenannten Kantine einen Weg gefahren, auf dem er hatte umbiegen müssen. An eine Stelle war dazumal dieser Wagen gelangt, an der, man kann wirklich ruhig sagen, viele Jahrzehnte vorher kein so großer Wagen, überhaupt viel-leicht noch kein Möbeiwagen gefahren ist und ebensowenig nachher. Nun war der kleine Theodor, bevor dieser Wagen umgebogen hatte, in der Kantine gewesen. Er war dort etwas aufgehalten worden, sonst wäre er früher mit dem, was er an Eßwaren in der Kantine für das Abendessen geholt hatte, nach Hause gegangen. Er ist nun den Weg nach Hause - es ist nur eine ganz kurze Strecke - gerade so zurück­gegangen, daß er sich gerade an jener Stelle befand, wo der Wagen umfiel und auf ihn, den kleinen Theodor, fiel. Niemand hatte es be­merkt, selbst der Kutscher nicht. Der hatte nur seine Pferde in Sicher­heit gebracht, als der Wagen umfiel, und wußte nicht, daß das Kind darunter war. Als uns das Fehlen des Klndes gemeldet wurde, mußten wir den Wagen zu heben versuchen. Die Freunde holten Werkzeuge, und die mobilisierten schweizerischen Soldaten halfen uns dabei.

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Natürlich war das Kind seit etwa einhalb sechs Uhr nachmittags schon tot. Der Möbeiwagen hatte es sogleich erdrückt, es war am Erstik­kungstod gestorben.

Da haben wir solch einen Fall, auf den anzuwenden ist, was ich schon oftmals durch einen Vergleich klarzumachen versuchte, daß man ver­wechselt Ursache und Wirkung. Ich habe schon oft den folgenden Vergleich gebraucht: Nehmen wir an, wir sehen am Rande eines Flusses einen Menschen gehen. Der Mensch fällt in den Fluß hinein. Man läuft hin und findet an der Stelle, wo der Mensch in den Fluß gefallen ist, einen Stein und denkt nun, der Mensch sei gestolpert, dann in den Fluß gefallen und dadurch gestorben. Man sagt also, der Mensch ist gestorben, weil er in den Fluß fiel. Aber wenn man ihn nun seziert, so findet man vielleicht, daß er vom Herzschlag getroffen wurde und infolgedessen tot in das Wasser gefallen ist. Er ist also nicht gestorben, weil er ins Wasser gefallen ist, sondern ins Wasser gefallen, weil er gestorben ist. Solche Verwechslungen von Ursache und Wirkung finden Sie in der Beurteilung des Lebens ganz häufig und in der ge­wöhnlichen Wissenschaft noch mehr.

Bei dem kleinen Theodor war es so, daß das Karma abgelaufen war, so daß man wirklich sagen kann: Er hat den Wagen selbst hinbestellt. Ich erwähne den ganzen Fall, der äußerlich außerordentlich tragisch ist, aus dem Grunde, weil wir es da zu tun haben mit dem Ätherleib eines Kindes, der noch Jahrzehnte hindurch das Leben dieses Kindes hätte versorgen können. Dieser Ätherleib ist mit all den unverbrauch­ten Kräften in die geistige Welt, die ätherische Welt übergegangen. Wo ist er? Was macht er? - Derjenige, der genötigt ist, am Dornacher Bau seither mit künstlerischen Intentionen zu arbeiten, überhaupt Gedanken zu hegen in der Umfriedung des Baues, der weiß, wenn er zu gleicher Zeit okkulte Anschauung hat: Dieser ganze Ätherleib ist mit seinen Kräften vergrößert in der Aura des Dornacher Baues. Wir müssen unterscheiden: die Individualität ist woanders, die geht ihren eigenen Weg, aber der Ätherleib ist ja nach einigen Tagen ausgestoßen, der ist nun im Bau vorhanden. Und niemals werde ich anstehen zu sagen, daß unter den Kräften, die man zur Intuition braucht, die Kräfte dieses Ätherleibes sind, der hingeopfert ist für den Bau. Hinter dem

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Leben sind die Zusammenhänge oftmals noch ganz anders, als man nur ahnt. Zu schützenden Mächten des Baues ist dieser Ätherleib geworden. Etwas großartig Gewaltiges liegt in einem solchen Zu­sammenhang.

Und nun bedenken wir, welch große Summe von Kraft in den un­verbrauchten Ätherleibern derjenigen in die geistige Welt hinaufgeht, die jetzt durch die Pforte des Todes infolge der kriegerischen Ereig­nisse gehen.

Die Dinge hängen eben doch anders zusammen, als die Menschen es sich vorstellen können; das Karma in der Welt vollzieht sich anders. Und Geisteswissenschaft muß gerade dazu da sein, an die Stelle phan­tastischer Vorstellungen geistig wahre Vorstellungen zu setzen. Wir können uns ja kaum - um nur ein Beispiel zu nennen - etwas vom spirituellen Standpunkt aus Phantastischeres und Unwahreres denken, als etwas, was sich vollzogen hat in den letzten Dezennien. Was hat sich denn vollzogen dadurch, daß man eine besondere «Friedens-gesellschaft» gegründet hat, um an Stelle des Krieges das Recht zu setzen, wie man sagte, «das internationale Recht»! - In keiner Zeit der Menschheit sind so furchtbare Kriege geführt worden als seit der Zeit, da die «Friedensgesellschaft» besteht. Und in den letzten Jahr­zehnten hat ja diese Friedensbewegung unter ihren besonderen Be­schützern den Monarchen gehabt, der die blutigsten und grausamsten Kriege geführt hat, die jemals in der Weltgeschichte geführt worden sind. So daß die Einleitung der Friedensbewegung von seiten des Zaren wirklich als die größte Komödie erscheinen muß, die in der Weltgeschichte jemals gespielt worden ist, die allergrößte Komödie und zu gleicher Zeit die alierabschenlichste Komödie! Das ist das­jenige, was da drüben die luziferische Verführung genannt werden muß. Das kann in Einzelheiten gut verfolgt werden. Man kann sagen, es übt auf die Seele einen erschütternden Eindruck aus, wenn man sieht - mag man sonst die Dinge ansehen wie man will, - wie im Be­ginne, als diese Kriegsimpulse in Europa eingezogen sind, in Mittel­europa, selbst da, wo man sich versammelt hatte wie im Berliner deutschen Reichstag, die Leute alle fast nichts gesprochen haben. We­nig ist gesprochen worden, aber die Dinge haben gesprochen. Unendlich

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viel ist im Westen wie im Osten gesprochen worden. Aber den erschütterndsten Eindruck in einer gewissen Weise hat man von dem, was in der Petersburger Duma von den verschiedenen Parteien ge­sprochen worden ist. Auf die verschiedenste Weise haben die Ver­treter der Duma wirklich nichts anderes als die strohernsten Phrasen mit dem gröBten Feuer der Begeisterung vorgebracht. Es war er­schütternd. Das ist luziferische Verführung. Das alles aber weist uns darauf hin, daß das Feuer, das in diesem Kriege brennt, ein Warnungs­und Mahnfeuer ist, und daß die Menschen wohl aufpassen müssen.

Alles, was jetzt überhaupt geschieht, weist darauf hin, daß wenig­stens einige Seelen sich sagen müssen: Es kann so nicht fortgehen, wie es in der Welt gegangen ist, es muß Spirituelles in die Menschenent­wickelung einfließen! Der Materialismus hat sein Karma in diesem furchtbarsten der Kriege gefunden. In gewisser Beziehung ist dieser Krieg das Karma des Materialismus. Je mehr die Menschenseelen dieses einsehen werden, desto mehr werden sie über das Diskutieren hinauskommen, ob dieser, ob jener den Krieg verschuldet hat, und werden sich sagen: Dieser Krieg ist uns in die Weltgeschichte hinein-geschickt worden, daß er ein Mahner sei, daß wir uns zuwenden sollen einem spirituellen Auffassen des ganzen Menschenlebens.

Der Materialismus macht ja nicht nur die Seelen der Menschen materialistisch gesinnt, er verdirbt auch die Logik und macht das Empfinden stump£ Innerhalb Mitteleuropas wird man noch manches einsehen müssen, was zusammenhängt mit dem, was ich gesagt habe:

daß man sich gerade in Mitteleuropa am intimsten befassen muß mit der Fortentwickelung des Christus-Impulses. Aber dazu wird gehören, daß man wird anfangen müssen, die Geister, welche schon die Keime dazu gelegt haben, zu verstehen. Nur ein Beispiel: Goethe hat eine Farbenlehre geschrieben. Die Physiker sehen sie an als etwas, nun, über das sie mitleidig lächelnd sagen: Was hat der Dichter von den Farben verstanden? Er war eben ein Dilettant! - Seit den achtziger Jahren bemühe ich mich, die Goethesche Farbenlehre gegen die moderne Physik zum Durchbruch zu bringen. Das kann nicht ver­standen werden. Warum kann es nicht verstanden werden? Weil das materialistische Prinzip, welches von der britischen Volksseele ausgeht,

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in Mitteleuropa seinen Einzug gefunden hat. Newton, den Goethe bekämpfen mußte, hat den Sieg davongetragen über das, was bei Goethe aus dem Geist entsprungen ist. Goethe hat auch eine Ent­wicklungslehre begründet, in welcher gezeigt wird, wie durch das Erfassen von geistigen Gesetzen die Wesen von dem Unvollkommen­sten zum Vollkommensten fortschreiten. Das ist den Menschen zu schwer gewesen, zu verstehen. Als Darwin auf leichtere Weise seine Entwicklungslehre brachte, haben die Menschen diese angenommen. Darwin hat gesiegt über Goethe. Der materialistische Denker, der durch die britische Volkssele inspiriert ist, hat gesiegt über Goethe, der alles aus dem intimsten Zwiegespräch mit der deutschen Volksseele gezogen hat.

Ernst Haeckel hat Tragisches erlebt. Sein ganzes Leben hindurch hat er sich geistig genährt mit dem, was Huxley und Darwin ihm ge-geben haben. Der Materialismus Ernst Haeckels ist im Grunde ge­nommen rein englisches Produkt. Nun, als der Krieg ausbrach, war Haeckel entrüstet über das, was von den britischen Inseln aus ge­schah. Er war einer der ersten, welche die englischen Orden, Diplome und Auszeichnungen zurückschickten. Was zurückgeschickt werden muß, sind aber nicht die Diplome, Orden und Auszeichnungen, son­dern das sind der englisch gefärbte Darwinismus und die englisch ge-färbte Physik. Zu dieser Besinnung muß man kommen, damit ein­gesehen wird, was in dem mitteleuropäischen Gebiet als intimes Zu­sammensein mit den Gesetzen der Welt erstrebt werden kann.

Am meisten kann man verderben, wenn man schon in das kindliche Gemüt das ergießt, was sich dann in nur materialistischer Färbung weiter entwickelt. Darauf haben die Jahrhunderte hingearbeitet. Ahriman hat bei den Briten drüben einen sogar ganz großen Schrift­steller so inspiriert, daß dieser Schriftsteller ein Werk geschrieben hat, das ganz darauf berechnet war, die Seele von dem klndlichen Alter an materialistisch so zu beeinflussen, daß man es nicht merkt, weil man das alles nicht als materialistisch präparierend ansieht. Das ist der « Robinson Crusoe.» Die ganze Art, wie der Robinson beschrieben ist, ist so raffiniert, daß diese Vorstellungen der Robinsonade, wenn sie aufgenommen werden, den Geist so präparieren, daß er später nur

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materialistisch denken kann. Die Menschheit ist von den Robinso­nadenerfindern noch nicht geheilt, es hat solche immer gegeben und gibt sie heute noch. Und so könnte vieles angeführt werden. Nicht um etwas Ablehnendes gegenüber den Völkern des Westens zu sagen, die so sein mussen, wie sie sind, sondern um darauf hinzu­weisen, wie in Mitteleuropa die Menschen den Zusammenhang finden müssen mit den großen, nur erst keirahaften Werten für die Entwik­kelung gegen die Zukunft hin, werden diese Dinge ausgesprochen. Wie bedeutsam steht da im Grunde genommen ganz besonders auch Österreich da. In den letzten Jahrzehnten konnte man sehen, wie ein Höchstes erstrebt worden ist durch Geister wie Hamerling auf dichte­rischem Gebiet, wie Garneri> der den Darwinismus vertiefen wollte nach der moralischen Seite hin, und von Künstlern wie Bruckner und andern auf allen möglichen Gebieten. Selbstbesinnung der Volkheit auf diese Dinge, das ist es, worauf es ankommen wird.

Und nun bedenken wir die unverbrauchten Ätherleiber, die da vor­handen sind. Diese Ätherleiber wurden von Menschen abgelegt, die in einem großen Ereignis lernten, sich für etwas zu opfern, was es für sie, jedenfalls sinnenfäilig, nicht mehr gibt: für die Volkheit. Wenn man heute als Geisteswissenschafter davon spricht, daß es eine Volks­seele gibt als Erzengel und so weiter, dann wird man ausgelacht. Was man im Materialismus Volksseele nennt, ist nur der abstrakte Zu­sammenhang der Eigenschaften, die die Menschen eines Volkes haben. Was der Materialist Volk nennt, ist bloß die Summe von Menschen, die einander gleichsehend auf einem Raume zusammenleben. Wir spre­chen von Volkheit so, daß wir wissen: Der Volksgeist ist als eine reale Wesenheit im Erzengelrang wirklich vorhanden. Wenn auch der­jenige, der sich opfert, der durch den Tod geht für sein Volk, kein vollständiges Bewußtsein bat auf dem Feld der Ereignisse von einem realen Volksgeist, so bekräftigt er doch durch die Art, wie er durch den Tod geht, daß er an eine Fortwirksamkeit nach diesem Tode glaubt, daß er glaubt, daß es mehr gibt als das, was die Augen sehen in der Volkheit: ihren Zusammenhang und ihr Zusammenstehen mit dem Übersinnlichen. Alle diejenigen, die also durch den Tod gehen, ob sie es nun mehr oder weniger wissen, gehen durch diesen Tod,

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bekräftigend, daß es eine übersinnliche Welt gibt; das wird ihren Ätherleibern eingeprägt. So daß in der Zukunft außer denjenigen, die im physischen Erdenrund leben werden, wenn wieder Frieden ein­getreten sein wird, die unverbrauchten Ätherleiber leben werden, immerdar in die Sphärenmusik die Töne hineinsendend: Es gibt mehr in der Welt als das, was bloß mit physischen Augen gesehen werden kann! Spirituelle Wahrheit wird hineintönen in die Sphärenmusik durch das, was die Toten zurücklassen in ihrem Ätherleib, ganz ab­gesehen von dem, was sie mitnehmen mit ihrer Individualität, die sie durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt tragen. Aber ge-hört werden wird müssen dasjenige, was leben wird, was herabtönen wird aus diesen Ätherleibern, weil diese Ätherleiber abgelegt worden sind von Menschen, die, besiegelnd die Wahrheit der spirituellen Welt, durch den Tod gegangen sind. Die größte Sünde der Menschheit wird sein, wenn sie nicht hinhören wird darauf, was die gestorbenen Men­schen ihr durch ihre mahnenden Ätherleiber zurufen werden. Und wie unendlich wird belebt dasjenige, was man so im Hinblick auf die geistige Welt schauen wili, wenn man sich zu denken hat, daß die Väter und Mütter, die Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, die teure Tote verlieren, sich sagen müssen: Was da hingeopfert worden ist, lebt für die ganze Menschheit, mahnend an das, was da kommen muß!

Wenn man bloß auf das bauen wollte, was hier in der physischen Welt sich abspielt, könnte man nicht viel Hoffnung haben für den gedeihlichen Fortgang der spirituellen Bewegung, die in unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung gepflegt werden soll. Als uns neulich ein guter, treuer Mitarbeiter starb, ungefähr im dreißig­sten Jahr seines Lebens, da war in meinen Worten, die ich richtete an diese durch die Pforte des Todes gegangene Seele, die Bitte, daß sie ebenso treu und tapfer mitarbeiten möchte auf unserem geisteswissen­schaftlichen Felde, wie sie hier treu und hingebungsvoll mitgearbeitet hat, verwertend alles, was sie wußte. Fleißig hat er mitgearbeitet hier auf dem physischen Plan, dieser Mitarbeiter. Das gab ich ihm mit als eine Botschaft in sein Leben zwischen Tod und neuer Geburt, daß er mit­arbeiten möge nach dem Tode, wie er es getan hat vor dem Tode,

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denn wir rechnen auf diese Toten, die sogenannten Toten, wie auf die Lebendigen. So lebendig muß uns die geisteswissenschaftliche Welt­anschauung sein, daß die Kiuft überwunden wird zwischen den so­genannten Toten und den Lebenden, daß wir die Toten unter uns fühlen wie Lebende. Nicht bloß Theorie, Leben wollen wir. So wollen wir auch darauf hinweisen, daß ein lebendiges Band besteht zwischen denen, die leben auf der Erde, wenn wieder Friede sein wird, und denen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Die Menschen werden von den Toten lernen können, werden lernen müssen, wie diese Toten in der angegebenen Weise mitwirken an dem großen spirituellen Fortschritt, der die Erde ergreifen muß.

Es geht im Leben manchmal so, daß man sieht, wie die mensch­liche Logik nicht ausreicht. Ein Beispiel möchte ich Ihnen anführen, nicht aus persönlichen Gründen, sondern um zu charakterisieren die Art und Weise, wie sich die Menschen zu unserer Bewegung stellen. Vor einigen Jahren konnte man in einer süddeutschen sehr ernsten Zeitschrift einen Aufsatz lesen, den ein berühmter Philosoph der Gegenwart geschrieben hat über unsere Geisteswissenschaft. Die Gei­steswissenschaft wurde da so behandelt, daß es einen gewissen Ein­druck machen konnte auf die Leute, weil der Aufsatz von einem großen Philosphen geschrieben war. Der Herausgeber der Zeitschrift tat sich etwas Besonderes darauf zugute, daß er einen Artikel über die Geisteswissenschaft von einem so berühmten Manne bringen konnte. Natürlich war alles schlecht und schief dargestellt; ein ganz schiefes Bild wurde von der Geisteswissenschaft gegeben. Was brauchte aber der Herausgeber, um einzusehen, was er eigentlich da als Urteil hatte abgeben lassen in seiner Monatsschrift über unsere Bewegung? - Es kam der Krieg. Jener Mann, der den Artikel geschrieben hatte, schrieb an den Herausgeber einige Briefe. Diese Briefe enthalten ziem­lich das Abstoßendste, was man überhaupt über die mitteleuropäische Kultur sagen kann. Schrecklich geschimpft und gehöhnt wurde da über diese mitteleuropäische Kultur. Der Herausgeber hat diese Briefe jetzt abgedruckt als ein Beispiel dafür, wie töricht man denken kann über diese Kultur. Und er sagt jetzt: So, wie dieser Mensch schreibt, kann doch nur ein Mensch schreiben, der ins Irrenhaus gehört. - Es

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liegt also das Faktum vor, daß für einen guten Herausgeber so etwas notwendig war, um einzusehen, daß der Mann, der vor einigen Jahren über die Geisteswissenschaft diesen Artikel, der nach außen auch viel Schaden angerichtet hat, schrieb, ins Irrenhaus gehört. Wenn der Mann aber jetzt ins Irrenhaus gehört, so gehörte er damals doch auch schon hinein. Aber damals schrieb er einen Artikel über Geistes-wissenschaft!

So geht es in der Welt zu! Es müssen schon andere Hilfen kom­men als die, die der Mensch heute hat, um ein Urteil zu bekommen. Der Geisteswissenschafter steht allerdings fest auf dem Boden, der da klar zeigt, daß die Wahrheit ihren Weg findet. Aber die Geisteswissen­schaft muß wirken in der Entwickelung der Menschheit, damit das Not­wendige geschieht. Und so, wie in jener Zeit, da der Kaiser Konstantin seine Aufgabe zu vollenden hatte, der Christus4mpuls aus der gei­stigen Welt in das Unterbewußte hineinwirken mußte, so, wie bei der Jungfrau von Orleans der Christus4mpuls wirken mußte, damit das geschah, was geschehen mußte, so muß der Christus4mpuls weiter-wirken, nur jetzt mehr in Bewußtheit. Es muß Seelen geben in der Zukunft, die wissen werden: Da oben in der geistigen Welt rufen die­jenigen, die mit ihrer Individualität sich opferten, uns auf, ihnen nach­zufolgen in dem von ihnen im Tode erlangten Glauben an die Wirk­samkeit des Geistigen. Aber auch die Kräfte aus den unverbrauchten Ätherleibern rufen in die Zukunft hinein, was man nur zu verstehen braucht, um es in die eigene Seele aufzunehmen. Unten aber müssen Seelen sein, die das vernehmen. Seelen müssen da sein, die sich dazu vorbereiten durch das richtige, durch das lebendige Verständnis unserer Geisteswissenschaft. Unsere Geisteswissenschaft muß hier unten Seelen schaffen, die zu ahnen vermögen, was da oben die Äther­leiber der Toten in der Zukunft sprechen werden. Seelen, die wissen: Dort oben sind die Kräfte, die den Menschen, der auf Erden sich selbst überlassen sein mußte, ermahnen können. Und wenn hier unten geistbewußte Seelen nach den verborgenen Tönen der geistigen Welt ihren Sinn richten werden, dann werden aus alledem, was an Blut geflossen ist, was an Opfern geleistet wurde, was an Leid ertragen werden mußte und noch ertragen werden muß, die rechten Früchte entstehen. Hinblickend

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auf die Hoffnung, die ausgesprochen werden darf; daß sich recht, recht viele Seelen finden mögen durch die Geisteswissenschaft, welche hören können diese Stimmen, die insbesondere durch diesen Krieg aus der geistigen Welt ertönen werden, möchte ich, zusammen­fassend die Schlußworte der heutigen Betrachtung, Worte sprechen, die nur empfindungsgemäß das ausdrucken sollen, was ich in ihren Seelen anregen möchte:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

Mit solchen Gefühlen im Herzen wollen wir immerdar uns durch­dringen mit dem Sinn des Rosenkreuzes, damit dieses Rosenkreuz in der rechten Weise von uns als die Devise angesehen wird unseres Wirkens und Webens und Empfindens. Nicht das schwarze Kreuz allein. Wer die Rosen vom schwarzen Kreuz reißen würde, wer nur das schwarze Kreuz hätte, würde dem Ahriman verfallen. Das schwarze Kreuz ist das nach der bloßen Materie hinstrebende Leben­dige. Auch nicht, wer das Kreuz von den Rosen reißt und die Rosen allein halten möchte, wird das Richtige finden. Denn die Rosen, vom Kreuze getrennt, wollen uns zwar erheben zum Leben, aber dieses Leben würde egoistisch bloß nach dem Geistigen hinaufstreben wollen und nicht den Geist offenbaren in dem Materiellen. Nicht das Kreuz allein, nicht die Rosen allein, sondern die Rosen am Kreuz, das Kreuz tragend die Rosen, beides in harmonischer Wechselwirkung: das ist das, was unser richtiges Symbolum ist.

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GEISTESWISSENSCHAFT ALS GESINNUNG - DER ÄTHERLEIB ALS ABSPIEGELUNG DES WELTENALLS Elberfeld, 13. Juni 1915

Wir stehen in der Gegenwart innerhalb einer Ära von Ereignissen, welche alle Empfindungen der Menschenseele in tiefstem, in bedeu­tungsvollstem Sinne aufrufen müssen. Wir stehen inmitten von Ereig­nissen, welche dasjenige, was unserer Geisteswissenschaft immer als ein Rätsel aufgegeben ist - den Tod - viele, viele Male in verhältnis­mäßig kurzer Zeit über die Erde hinziehen lassen. Wir stehen in einer Zeit, welche Leid und Schmerzen verbreitet über unzählige Seelen, und in einer Zeit, von der wir hoffen wollen, daß sie in ihrem Schoße bedeutungsvolle Kräfte für die Entfaltung der zukünftigen Entwicke­lung der Menschheit trägt. Wenn so vieles aus Schmerz und Leid ge­boren werden muß, und wenn uns gerade Geisteswissenschaft lehrt, daß vieles aus Schmerz und Leid geboren werden muß, so werden gerade geisteswissenschaftliche Betrachtungen auch in dieser schick­saltragenden Zeit geeignet sein können, manche Kraft der Zuversicht, manche Kraft der Hoffnung in uns anzuregen. Und so seien denn heute einige Betrachtungen vor Ihren Seelen entwickelt, die zwar nicht direkt, aber doch indirekt mit dem zusammenhängen, was an Empfindungen und Gefühlen in unserer schmerz- und sturmbewegten Zeit in uns hervorgerufen werden kann.

Was wir so vielfältig in unserer Gegenwart sich ereignen sehen und fühlen, es ist, daß Menschen den physischen Plan verlassen in ver­hältnismäßig frühem Alter ihres physischen Daseins. Gerade das ist ja das Eigentümliche solcher Ereignisse, wie die jetzigen es sind, daß sie jugendliche Leben vom physischen Plan abberufen. Wir wissen, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes geht, seinen physischen Leib den Elementen der Erde zu übergeben hat, daß er, indem er durch die Pforte des Todes tritt, zuerst noch vereint ist mit seinem Ätherleib, seinem Astralleib und seinem Ich. Wir wissen, daß nach verhältnismäßig kurzer Zeit dieser Ätherleib von dem Menschen getrennt wird, und daß dann der Mensch seine weitere Wanderung,

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die er durchzumachen hat zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt, in dem Ich und dem Astralleib durchmacht, vereint mit den­jenigen Gliedern seiner geistigen Natur, die er sich erst in der geistigen Welt aneignen kann; daß aber dann für seine weitere Wanderung in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt der Ätherleib sich von der menschlichen Individualität trennt und seinen eigenen Weg durchmacht. Nun muß es uns auffallen, daß bei einem jugendlichen Sterben dieser Ätherleib in einer ganz andern Verfassung sein muß als beim Sterben eines Menschen, der eine normale Altersstufe erlangt hat. Wir wissen, wie die äußere Naturwissenschaft davon spricht, daß Kräfte sich zwar verwandeln können, daß sie aber nicht verlorengehen können. Für die äußere Welt des physischen Daseins erkennt die Naturwissenschaft diese Wahrheit durchaus an, daß Kräfte niemals verlorengehen, sich nur verwandeln. Für die geistige Welt muß Geisteswissenschaft lehren, dieses auch anzuerkennen. Wenn ein Ätherleib sich loslöst von einem Menschen, der im jugendlichen Alter durch die Pforte des Todes gegangen ist, so ist das ein solcher Äther-leib, der noch durch viele Jahrzehnte das Leben dieses Menschen auf dem physischen Plan hätte versorgen können. Ein Ätherleib muß ja so eingerichtet sein, daß er alle diejenigen Lebenskräfte hergeben kann, die der Mensch bis ins höchste Alter in Anspruch nehmen muß. Wenn der Mensch, sagen wir, im fünfundawanzigsten, sechsundzwan­zigsten, dreißigsten Lebensjahr durch die Pforte des Todes geht, geht sein Ätherleib weg von ihm, aber dieser Ätherleib hat noch Kräfte, durch die er vielleicht bis ins sechzigste, siebzigste, achtzigste Jahr hinein das physische Leben des Menschen hätte erhalten können. Diese Kräfte sind im Ätherleib, diese Kräfte gehen nicht verloren. Und es muß uns - gerade in einer solchen Zeit wie die jetzige, wo so viele sol­cher Ätherleiber den geistigen Welten gewissermaßen anvertraut wer­den - die Frage beschäftigen: Was geschieht mit den Ätherleibern der­jenigenMenschen, die in frühem Jugendalter durch die Pforte des Todes gegangen sind? - Es wird gut sein, wenn wir, um uns recht gründlich eine solche Frage zu beantworten, uns damit bekanntmachen, welchen Weg eigentlich der Ätherleib eines Menschen durchmacht, während der Mensch das Leben zwischen Geburt und Tod durchläuft.

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Der äußere physische Leib des Menschen wird immer älter. Beim Ätherleib ist dies nicht der Fall. So schwierig zu begreifen es scheinen mag, beim Ätherleib ist das ganz und gar nicht der Fall, daß er immer älter wird, sondern der Ätherleib wird in demselben Maße, wie der physische Leib älter wird, immer jünger und jünger, und er erreicht eine gewisse, man könnte sagen, kindliche Stufe des ätherischen Da­seins in der Zeit, in welcher der Mensch im normalen Lebensalter durch die Pforte des Todes geht. So daß wir uns sagen müssen: Wenn wir durch die Geburt unser physisches Erdendasein antreten, dann ist dasjenige, was sich als Ätherleib mit unserem physischen Leib ver­einigt hat - wir können vergleichsweise sagen - eigentlich alt und wird während des Lebens immer jünger und erreicht seine kindliche Stufe dann, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Wir könnten also auch sagen: Wenn nun ein Mensch im jugendlichen Alter stirbt, wird sein Ätherleib nicht jung genug, sondern er behält eine gewisse Stufe des Alters. - Was heißt das aber in Wahrheit? Was das heißt, darüber kann uns ein Beispiel belehren, das eine Anzahl von Ihnen schon kennen, das ich aber doch wiederum hier erwähnen muß, ein konkre­tes Beispiel aus der letzten Zeit, das von einer Anzahl von Freunden erlebt werden konnte.

Dieses konkrete Beispiel bezieht sich eigentlich auf ein ganz junges Kind, das kleine Söhnlein eines Mitgliedes von uns. Es war gerade an einem Vortragsabend in Dornach, als wir nach dem Vortrag erfahren mußten, daß ein Knabe von sieben Jahren, der Sohn unseres Freundes Faiß, abgängig sei. Und es war bald klar, daß ein großes Unglück ge­schehen sein müsse. Es war nämlich am Spätnachmittag in die Nähe des Dornacher Baues ein Möbeiwagen gekommen, kurioserweise in eine Gegend, in welche vielleicht recht lange vorher, wenn überhaupt je, kein Möbelwagen gefahren ist, und nachher wohl auch nicht. Die­ser Möbeiwagen war an einer bestimmten Stelle umgefallen. Gegen Abend war das geschehen, weiter war nichts bemerkt worden; der Knabe war aber abgängig. Und als dann, mit andern vereint, unsere Freunde zwischen zehn und zwölf Uhr abends alle Anstrengung mach­ten, um den Möbelwagen zu heben, der von den Leuten, denen er gehörte, nicht mehr aufgehoben worden war - sie hatten es sich für

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den nächsten Tag erspart, weil der Wagen sehr ungünstig gefallen und sehr schwer war -, als es gelungen war, ihn zu heben, da stellte sich heraus, daß in der Tat das Kind, der kleine Theodor Faiß, gerade in dem Augenblick vorbeigegangen war, als der Möbelwagen umfiel, und daß der Wagen auf das Kind gefallen war. Nun war dieses Kind -es war nur sieben Jahre alt geworden - ein außerordentlich liebes Kind, ein Kind, das außerordentlich schöne Eigenschaften hatte.

Ich möchte, um eine solche Tatsache in das Licht unserer Geistes-wissenschaft zu rücken, an eine logische Erwägung erinnern, die ich öfters in unserem Kreise angestellt habe. Ich habe öfters gesagt, wie man Ursache und Wirkung durch äußerliches Denken, durch un-geschultes Denken verwechseln kann, und daß solche Verwechs­lungen von Ursache und Wirkung wirklich außerordentlich häufig vorkommen. Durch ein Beispiel versuchte ich das zu veranschau­lichen, ein Beispiel, das nur ein Vergleich sein soll. Man nehme an, man sehe in der Ferne einen Menschen am Rande eines Baches gehen. Man sieht, wie er hineinfällt in den Bach, man bemüht sich, in die Nähe zu kommen, und man sieht, wie gerade an der Stelle, wo der Mensch ins Wasser fiel, ein Stein liegt. Man versucht, den Menschen herauszuziehen aus dem Bach: er ist tot. Was liegt näher, als zu sagen:

Der Mensch ist über den Stein gestolpert und in den Bach gefallen und ist dann ertrunken. Das braucht aber gar nicht so zu sein, sondern hier wird vielleicht die einfache physische Untersuchung uns lehren können, daß in dem Augenblick, wo der Mensch gerade diese Stelle betrat, ohne daß sein Schicksal irgend etwas mit dem Stein oder sonst etwas zu tun hatte, der Herzschlag ihn getroffen hat, und daß er in­folgedessen in das Wasser gefallen ist - so daß der Herzschlag die Ursache des Hereinfallens in das Wasser war -, während man, wenn man sich keine Mühe gibt, auf die Sache zu kommen, sagen würde, das Hereinfallen ins Wasser sei die Ursache des Todes. Man würde also gerade das Umgekehrte von dem annehmen, was das Richtige ist.

Schwieriger schon ist eine solche Sache mit Bezug auf das Ver­hältnis von Ursache und Wirkung einzusehen, wenn man es mit Dingen zu tun hat, die mit der geistigen Welt zusammenhängen. So muß man sagen: In einem solchen Falle wie in dem Falle dieses Kindes,

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das wirklich durch so außerordentliche Umstände - die noch durch manches andere außerordentlich waren - seinen Tod findet, hat man von einem höheren Gesichtspunkte aus nicht daran zu denken, daß nun dieses geschehen sei: daß der Möbelwagen gekommen und um­gefallen und das Kind zufäilig unter den Wagen geraten ist; daß also der Wagen die Ursache für den Tod des Kindes sei. Vielmehr wird man in einem solchen Falle geisteswissenschaftlich in einer richtigen Weise denken, daß des Kindes Karma abgelaufen war, und daß im Grunde der Wagen an jene Stelle hingefahren ist, weil das Kind seinen Tod finden sollte; daß also der Wagen nur die äußeren Bedingungen herbeigeführt hat, um den Tod, der im Karma vorgezeichnet war, dem Kinde zu geben. Trivial könnte man sagen: Dasjenige, was des Kindes höheres Selbst ist, das durch die Pforte des Todes gehen wollte, habe sich die ganze Situation, die ganzen Geschehnisse, so bestellt. Gewiß wird es für den Menschen, der im Sinne unserer Zeit denkt, etwas ganz Wahnwitziges haben, von einer solchen Idee zu hören. Geistes­wissenschaft muß uns eben zeigen, wie manches, was die materia­listisch gesinnten Menschen der Gegenwart als wahnwitzig ansehen, gerade der Wahrheit entspricht.

Was bedeutungsvoll ist, ist aber, daß nunmehr gerade in diesem Falle der Ätherleib eines siebenjährigen Kindes sich losgetrennt hat von der Individualität des Kindes, von dem, was dann in Verbindung mit Ich und Astralleib weiter durch die geistigen Welten geht. Es soll jetzt nicht meine Aufgabe sein, davon zu sprechen, welches der weitere Lebensfortgang dieser Individualität des kleinen Theodor Faiß ist, sondern meine Aufgabe ist es vielmehr, aufmerksam zu machen dar-auf, daß der Ätherleib ja in diesem Falle ein solcher war, der nur sieben Jahre das physische Leben mit Lebenskräften versorgt hat; aber Kräfte hat er in sich gehabt, um ein ganzes langes Leben zwischen Geburt und Tod mit Lebenskräften zu versorgen. Diese Kräfte, die bleiben im Ätherleib. Und das Bedeutungsvolle ist, daß derjenige, der seit jenem Tode des kleinen Theodor Faiß in irgendeiner geistigen Beziehung mit dem Bau zu tun hatte, den wir in Dornach der Geistes­wissenschaft errichten sollen, nunmehr wissen kann, was aus dem Ätherleib des kleinen Theodor Faiß geworden ist. Bei diesem Bau ist

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ja so mancherlei zu leisten. Wir werden gleich noch einiges von dem sprechen, was heute in bezug auf Inspirationen aus der geistigen Welt herunterzuholen ist. Man braucht helfende Kräfte, wenn all dasjenige, was da aus der geistigen Welt geholt werden soll, wirklich herunterkom­men soll. Und da zeigt sich, daß in der Tat seit dem Tode des kleinen Theodor Faiß von dem vergrößerten Ätherleib dieses Kindes-bisin wei­tem Umkreis - unser Dornacher Bau wie von einer Aura eingehüllt ist. Es ist möglich, wirklich zu bestimmen, wie weit diese Einhüllung geht.

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Wenn Sie den Dornacher Bau sehen werden - diejenigen, die ihn schon gesehen haben, wissen es -, es ist ein Doppelrundbau (siehe Zeichnung). Hier haben wir ein Heizhaus, in einer besonderen Art, nach Grundsätzen der Geisteswissenschaft angelegt, und hier haben wir dann ein anderes Haus angelegt, wo die Glasfenster für den Bau geschliffen werden. Nur nebenbei will ich erwähnen, daß etwa hier

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das sogenannte «Haus Hansi» ist - das ist das Haus, in dem wir woh­nen. Nun ist es merkwürdig, daß bis hier, gegen den Wald hinauf, dann gerade an dem Heirhaus vorbei, mitten durchschneidend diesen Bau, wo die Fenster geschliffen werden, und hier an diesem Haus vor­bei, Haus Hansi, dieses nicht einschließend, diese Aura des kleinen Theodor Faiß einhüllt den ganzen Bau. So daß man in der Tat, wenn man den Bau betritt, diese Ätheraura betritt.

Worauf ich öfter aufmerksam machte, das ist, daß sich ja der Äther­leib vergrößert, wenn er vom physischen Leibe frei wird. Daher braucht es uns nicht zu erstaunen, daß uns dieser Ätherleib in einer solchen Vergrößerung erscheint. Und in diesem Ätherleib sind die Vermittlerkräfte, durch die man gewisse Eindrücke aus der geistigen Welt findet, die man braucht, um sie in den Formen und der künstle­rischen Ausgestaltung des Baues zu verwenden. Und derjenige, der für den Bau zu arbeiten hat, weiß, was er dieser Ätheraura verdankt. Niemals werde ich anstehen zu bekennen, daß die Arbeit seit dem Tode dieses kleinen Theodor Faiß mir dadurch möglich gemacht ist, daß Vermittlerkräfte für die Inspirationen in diesem über dem Bau ausgebreiteten Ätherleibe des Knaben gegeben sind. Es wäre viel leichter, eine solche Sache gar nicht zu erwähnen. Man könnte ja prunken damit, daß man solche Vermittlerkräfte nicht brauche. Aber es handelt sich nicht um solche Dinge, sondern darum, die Wahrheit zu erkennen.

Wenn wir diese eben geschilderten Tatsachen uns vor die Augen führen, dann bekommen wir einen Eindruck davon, wie es mit einem Ätherleib ist, der sich von einem Menschenleben trennen muß, wenn dieses Leben in jugendlichem Alter mit dem Tode abgeschlossen wird. Nun ist es wichtig, zu berücksichtigen, daß uns eines Menschen Ätherleib nicht bloß etwa wie ein nebelartiges Gebilde bleibt, in das der physische Leib eingebettet ist. Erkennen wir ja auch einen physi­schen Menschenleib nicht dadurch, daß wir ihn bloß wie eine Masse von Muskeln und Knochen und so weiter beschreiben, sondern da­durch, daß wir ihn erkennen, wie er gewissermaßen wie eine Art Tempel der Gottheit, wie ein Mikrokosmos dasteht. Was am physi­schen Leibe ist, erkennen wir nur dann im rechten Sinne, wenn wir

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uns bewußt werden, daß die Formen, in die er geprägt ist, wirklich aus dem ganzen Weltenall herausgenommen sind, daß der Mensch ein Wundergebilde ist mit Bezug auf seinen physischen Leib. Wer die Gefühle empfinden kann, welche ausgesprochen sind in dem ersten Gespräch des zweiten Mysteriendramas «Prüfung der Seele», wird sich eine Vorstellung machen können davon, wie ein einzelner Mensch in bezug auf seinen physischen Leib durch alle möglichen Hierarchien in dieses sein physisches Dasein gestellt ist; wie eine ganze Götterwelt es als ihr Ziel ansieht, diesen Menschen in das physische Dasein hineinzustellen. Nun lernen wir so recht kennen, welche Bedeutung dieser physische Leib hat, wenn wir die Beobachtung der hellsichtigen Erkenntnis ein wenig ins Auge fassen.

Das hellsichtige Erkennen ist ja das Erkennen, das dadurch zu­stande kommt, daß der Mensch sein Geistig-Seelisches aus seinem Physisch-Leiblichen herauszieht und daß er dann bewußt und wahr-nehmend werden kann außerhalb seines Leibes im Geistig-Seelischen. Und es ist im Grunde in bezug auf alles Äußere kein Unterschied zwischen dem Menschen, der hellsichtig wahrnehmend ist, und dem schlafenden Menschen, der auch sein Geistig-Seelisches aus dem Physisch-Leiblichen herausgezogen hat. Dadurch, daß das hellsichtige Bewußtsein außerhalb des physischen Leibes wahrnehmen kann, kann es sich aber eine Vorstellung davon machen, was mit dem Menschen geschieht, wenn er im schlafenden Zustand ist. Zur Erleichterung nur sei diese schematische Zeichnung gemacht. Nehmen wir an, dieses sei das Physisch-Leibliche und dieses das Geistig-Seelische beim schlafen­den Menschen. Beim wachenden Menschen ist natürlich das Geistig-Seelische im Physisch-Leiblichen darinnen; wir stellen uns also einmal den Menschen in seinem schlafenden Zustand vor. Da liegt der

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physische Leib und der Ätherleib im Bette, sie enthalten nicht den Astralleib und das Ich, wie sie diese im Wachen enthalten. Aber man möchte sagen, dasjenige, was der Astralleib und das Ich im physischen Leibe während des Wachens vollbringen, wird nicht ganz eingestellt im Schlafe. Für all dasjenige, was der Mensch zunächst wahrnehmen kann, ist ja der im Bette liegende Mensch wie entseelt daliegend. Für das hellsichtige Bewußtsein ist dieser physische Mensch und dieser Ätherleib, der im Bette liegt, aber nicht wie entseelt daliegend. Der Hellseher muß etwas ganz anderes sagen von diesem schlafenden physischen und Äthermenschen. Er muß sagen: Während des ganzen Tages ist die Gegend der Erde, auf welcher jetzt die Menschen schla­fen, von der Sonne beschienen worden. Jetzt ist Nacht. Ich rede von den normalen Verhältnissen, wenn man in der Nacht schläft und bei Tage wacht, nicht von den heutigen großstädtischen oder größt­städtischen Verhältnissen. Finsternis breitet sich über die Gegend aus, über welche bei Tag die Sonne geschienen hat. Merkwürdig, da merkt man: die Erde als Wesen beginnt zu denken und die Organe, durch welche die Erde denkt, das sind diese schlafenden Menschenleiber.

Wie die Menschen selbst durch ihr Gehirn denken, so denkt die Erde durch diese schlafenden Menschenleiber. Immer nimmt sie bei Tage wahr - und das Wahrnehmen besteht in dem Von-der-Sonne-Beschle­nenwerden aus dem Weltenraum heraus, das ist Wahrnehmung der Erde - und in der Nacht verarbeitet sie in Gedanken das, was sie wahr­genommen hat. Die Erde denkt, sagt der Hellseher, und sie denkt da­durch, daß sie sich der schlafenden Menschen bedient. Jeder schlafende Mensch wird gewissermaßen ein Gehirnmolekül der Erde. Es ist unser physischer Leib so eingerichtet, daß er, wenn wir ihn selbst nicht ge­brauchen, dazu dienen kann, daß die Erde durch ihn zu denken vermag.

Aber so wie die Erde durch den physischen Leib denkt, so imagi­niert sie - Sie wissen ja, was imaginative Erkenntnis ist -, so imaginiert sie alles dasjenige, was auf der Erde selbst nicht irdisch ist, was zu der Erde gehört aus dem ganzen Kosmos. Das imaginlert sie im Ätherleib. Im schlafenden physischen Leib des Menschen erkennt man Gehirnteile der Erde, und im Ätherleib des Menschen, wenn er schläft, er­kennt man ein Imaginleren desjenigen Weltenalls, das zunächst zur

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Erde gehört. Da spielt in wunderbaren Bildern in den Ätherleib all das herein, was aus der Ätherwelt der Erde als Kräfte zufließen muß, damit die Geschehnisse dieser Erde sich abspielen können. So wahr der Mensch als physischer Mensch zur Erde gehört, so wahr gehört er als Äthermensch den Himmeln an. Und nur deshalb können wir unse­ren physischen Leib für uns selbst als Denkorgan gebrauchen, weil er zum Denken geschaffen ist, weil ihn sozusagen die Erde während des Wachens abgibt. Auch nur deshalb können wir unseren Ätherleib so gebrauchen, daß er uns die Lebenskräfte gibt, weil uns ihn die Him­mel abgeben während des Wachens, und weil die Kräfte der Imagina­tion der Himmel während des Wachens in uns in Lebenskräfte ver­wandelt werden. So daß wir von unserem Ätherleib nicht bloß wie von einem Nebelgebilde sprechen wollen, sondern davon, daß er in sich ein die Himmel spiegelndes, mikrokosmisches Gebilde ist.

Als besonders vollkommenes Gebilde wird uns unser Ätherleib bei unserer Geburt übergeben. Bei unserer Geburt ist unser Ätherleib so, daß er innerlich erglitzert und erglänzt von lauter Imaginationen, die aus dem großen Weltenall zu ihm kommen. Er ist eine herrliche Ab-spiegelung des Weltenalls. Und dasjenige, was sich der Mensch er­werben kann während seines Lebens an Erziehung, an Wissen, an Willens- und Gemütskräften, indem er alt wird zwischen Geburt und Tod, das wird aus diesem Ätherleib herausgeholt. Die kosmischen Himmelskräfte übergeben uns das, was sie uns zu übergeben haben, während des Lebens zwischen Geburt und Tod. Deshalb sind wir als Äthermenschen wiederum jung, wenn wir ein ganz normales Leben zwischen Geburt und Tod durchlaufen haben, weil wir dann alles aus diesem Ätherleib herausgesogen haben. Geht aber ein solcher Ätherleib durch die Pforte des Todes, der einem jugendlichen Leibe an­gehört, dann ist noch viel, viel unverbrauchtes Himmelslicht in ihm. Daher wird er zu einem Vermittler solcher Kräfte, wie ich erzählt habe. Ganz abgesehen davon, was aus der Individualität einer solchen Menschenseele wird, wie die, von der vorher die Rede war, wird aus dem Ätherleib etwas wie eine Gabe der Himmel, eine Gabe der geisti­gen Welten. Daher kann dieser Ätherleib in dem geschilderten Sinne inspirierend wirken.

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Es würde viel zu weit führen, von dem eigentümlichen Karma zu sprechen, das eine solche Menschenseele hat, die in der Lage ist, eben ern solches Opfer zu bringen. Denn das kann nicht künstlich herbei-geführt werden, sondern es muß mit dem ganzen Karma eines solchen Menschen zusammenhängen, der ein Opfer zu bringen hat, der irgend etwas zu tun hat, das im geistigen Weltenprozeß der Menschheit eine Rolle zu spielen berufen ist, wie es ja gewollt wird für diesen unseren Dornacher Bau, der unsere geisteswissenschaftlichen Bestrebungen umschließen soll.

Nun aber bedenken Sie, daß wir einer Zeit entgegengehen, in wel­cher viele, viele solche Ätherleiber, wenn auch nicht aus solch jugend­lichem Menschenalter heraus, aber doch aus jugendlichem Menschen­leben heraus, in der geistigen Atmosphäre sein werden. Diejenigen, die auf den blutigen Schlachtfeldern durch die Pforte des Todes ge­gangen sind, sie gehen ja alle in einer andern Weise durch die Pforte des Todes als derjenige, der in seinem Bette oder durch einen gewöhn­lichen Unglücksfali durch die Pforte des Todes geht. Sie gehen in einer gewissen Weise so durch die Pforte des Todes, daß sie mit ihrem Tode rechnen, wenn auch mehr oder weniger im Unterbewußten - der Astralleib rechnet in einer gewissen Weise mit dem Tode. Und von einem Opfer bei diesem Tode kann man ja immer sprechen. Alle die Ätherleiber, die auf diese Weise von jugendlichen Menschen in die geistige Welt hinaufgehen, werden unverbrauchte Kräfte haben. Und eine Periode der Menschheitsentwickelung steht vor uns, in welcher Menschenseelen bewußt hinaufschauen können in die geistige Welt und sich sagen können: Eine Zeit ist vergangen, die viele, viele un-verbrauchte Ätherleiber in die geistige Welt hinaufgeschickt hat. Und in diesen unverbrauchten Ätherleibern sind Kräfte enthalten, Kräfte, von denen wir geisteswissenschaftlich schon heute sagen können, welche Bedeutung sie für die Entwickelung der Menschheit haben werden.

Wenn man so etwas erörtert, muß man ausdrücklich daraufaufmerk­sam machen, daß das, was zu sagen ist über diese Sache, nicht etwa von jedem Kriege, der in der Entwickelung der Menschen auf Erden statt­gefunden hat, gilt. Was geistig geschieht und durch die Geisteswissenschaft

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betrachtet werden soll, liegt nicht so einfach, wie es sich die Naturwissenschaft macht. Andere Kriege der früheren Zeiten erfor­derten, daß eben anders über sie gesprochen werde. Dasjenige, was ich zu sagen habe, gilt von den gegenwärtigen schicksaltragenden Zeiten. Denken Sie einmal das Folgende: Bei verschiedenen Anlässen, bei ver­schiedenen Gelegenheiten hat betont werden müssen, daß es nicht einer Willkür entspringt, wenn wir heute Geisteswissenschaft treiben, sondern daß es wirklich im Entwickelungsprozeß der Menschheit liegt, daß die Menschen allmählich bekanntwerden mit der Geistes­wissenschaft. Wir wissen ja, wie eine jede Epoche der Erdenentwicke­lung der Menschheit eine bestimmte Aufgabe hat. Aus verschiedenen Zyklen können wir das entnehmen. Und erkennen können wir, daß das Heil der künftigen, der nächstkünftigen Entwickelung der Menschheit nur erblühen kann, wenn wirklich das, was durch die Geisteswissenschaft geoffenbart werden kann, geistiges Eigentum einer größeren und immer größeren Anzahl von Seelen werde.

Aber nun bedenken Sie einmal, die Sie ja zum größten Teil wohl alle von einem herzlichen Enthusiasmus für die Geisteswissenschaft getragen sein werden, bedenken Sie, welche Schwierigkeiten obwalten mit Bezug auf die Ausbreitung der geisteswissenschaftlichen Wahr­heiten in der Gegenwart. Bedenken Sie, wie die Menschen draußen in der Welt diesen geisteswissenschaftlichen Wahrheiten widerstreben. Bedenken Sie, wie diese Wahrheiten verlästert werden, wie die Men­schen sie als wahnsinnig, als verdreht, als verrückt, als Phantasterei ansehen. Es könnten ja wirklich eindringliche Beispiele gesagt werden, aber alle Beispiele würden doch nur ein kleiner Teil dessen sein, was im Grunde jeder empfinden kann, wenn er für Geisteswissenschaft begeistert ist und sich der Welt gegenüber sieht, von der er so gerne hätte, daß sie die Geisteswissenschaft aufnehmen würde - und die sie heute so wenig aufnimmt. Der Geisteswissenschafter selbst darf sich nun das Folgende sagen: Dasjenige, was mit den bloßen Erdenkräften der Menschheit erreicht werden soll, erscheint mit Bezug auf das, was Geisteswissenschaft für eine Aufgabe hat, schwach, recht schwach zu sein. Aber da werden in einer nächstkünftigen Epoche die unver­brauchten Ätherleiber derjenigen sein, die Seele und Leben durch die

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Pforte des Todes auf den Feldern der Ereignisse in unserer Zeit haben tragen müssen, und die ätherischen Leiber mit ihren unverbrauchten Kräften, sie werden inspirierende Kräfte, helfende Kräfte in der nächstkünftigen Zeit sein können. Und wir brauchen uns nur - jetzt nicht verstandesgemäß theoretisch, aber herzlich gemütvoll - die Ge­sinnung anzueignen, hinaufzusehen zu den himmlischen Ätherleibern derer, die in frühem Jugendieben durch die Pforte des Todes in unserer schlcksaltragenden Zeit gegangen sind, und brauchen gewissermaßen nur in betender Stimmung unsere Seelen hinaufzuwenden zu diesen Ätherleibern, und diejenigen, welche von Geisteswissenschaft be­geistert sind, brauchen nur ihre Seelen hinaufzuwenden zu diesen Kräften - und sie werden Hilfe haben von diesen Ätherleibern. So daß, wenn inbrünstiges geistiges Zusammenleben mit diesen Äther-leibern durch echtes Durchdrungensein mit geisteswissenschaftlicher Gesinnung möglich sein wird, unter den mancherlei Früchten, die im Schoße unserer schicksalschweren Zeit sind, auch diese zu finden sein werden, daß in die Seelen der geisteswissenschaftlich begeisterten Menschen der Zukunft dasjenige einströmen wird, was in den Kräften der jugendlich hingeopferten Ätherleiber unserer schicksalbewegten Zeit liegt. Durch die Seelen derer, die im physischen Leibe in der nächsten Zukunft leben, werden strömen können, wenn diese Seelen von der echten Gesinnung durchzogen sind, die Kräfte der also hin­geopferten Ätherleiber Und himmlische Kräfte, das heißt, Kräfte der geistigen Welt werden das sein! Und ganz andere Kräfte werden dann walten können in der Welt, um dasjenige, was in diese Welt kommen muß - geisteswissenschaftliche Gesinnung -, dieser Welt bringen zu können. Und wir müssen nur die Möglichkeit finden, uns zu dem, was jetzt geschieht, im Sinne der eben gegebenen Auseinandersetzung zu bekennen, dann werden diese schicksaltragenden Tage auch für den­jenigen, der in der Geisteswissenschaft drinnensteht, eine tiefe, tiefe Bedeutung haben.

Herrlich, haben wir gesagt, sind die imaginativen Gebilde, die im Ätherleibe des Menschen sind. Und doch sind sie anders, als sie wären, wenn sie nicht durch einen Ätherleib des Menschen gegangen wären. Aber auch auf diesem Felde gilt der Satz: Aus nichts wird nichts! -

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Das ist nicht ein absoluter Satz, aber auf diesem Felde gilt er. Das-jenige was durch eine Menschenseele, wenn sie durch die Geburt in das physische Dasein tritt, als Ätherleib hinzukommt, das versammelt also Kräfte der geistigen Welt, die während des physischen Lebens verbraucht werden. Diese Kräfte sind nicht aus dem Nichts, sie sind da in der geistigen Welt. Gewiß, man kann sie auch in der geistigen Welt finden, aber wenn man sie unmittelbar aus der geistigen Welt finden will, so ist es schwierig. Man muß viel größere Machtmittel aufwenden. Wenn sie aber einmal durch einen physischen Menschen gegangen sind, der dann früh gestorben ist, und sich einem darstellen gleichsam mit dem, was sie in dem Durchgang durch den Menschen in sich haben, so ist es leichter, ihre Hilfe zu gebrauchen. Alle die Kräfte, die in diesem jungen Ätherleibe des kleinen Theodor Faiß sind, gewiß, sie wären auch sonst in der geistigen Welt, aber es wäre eine geistige Herkulesaufgabe, sie sonst herbeizuziehen. Dadurch, daß sie auf dem Umweg durch den Knaben herbeigekommen sind, ist das Sich-inspirieren-Lassen durch sie wesentlich erleichtert, ist anders ge­worden. Denken Sie dann, welch ungeheuer große Bedeutung für die ganze Fortentwickelung der Menschheit es hat, daß dieser Menschheit in der nächstkünftigen Zeit eine so große Menge von Ätherleibern mit noch unverbrauchten Kräften gegeben sein wird! Aber durch den Umstand, durch die Tatsache, daß diese, ich möchte immer wieder sagen, himmlischen Kräfte durch Menschen gegangen sind, befreiten sich diese Kräfte gewissermaßen aus den Gesetzen, innerhalb derer sie im Kosmos draußen stehen. Es ist unmöglich, daß im Kosmos diese Kräfte in einem üblen Sinne verwendet werden, die eben unmittelbar aus dem Kosmos geholt werden. Nehmen wir einmal an, alle die Men­schen, die jetzt durch die kriegerischen Ereignisse oder durch andere Verhältnisse durch die Pforte des Todes gehen, sie würden, wenn der Krieg nicht gekommen wäre, nicht eine solche Summe von Äther-leibern liefern. Es würden natürlich alle diese Kräfte auch im Kosmos sein; dann würden sie aber von den Menschen nicht verwendet werden können, weil es zu schwierig wäre, sie zu verwenden. Auch deshalb würden sie nicht verwendet werden können, weil sie aufgebraucht würden in den Leben von den Menschen, die ihr normales Alter erreichten.

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Das ist ganz bedeutungsvoll, daß diese himmlischen Kräfte durch Menschenleiber durchgegangen sind. Dadurch werden sie ge­wissermaßen frei von dem gewöhnlichen Fortgang der Entwickelung. Und diese Freiheit macht, daß diese Kräfte allerdings auch verwendet werden können in anderer Weise als zum Heile der Menschheit.

Sie können auch in anderer Weise verwendet werden. Das Men­schenleben muß sich im Lichte der Freiheit entwickeln. Nehmen wir einmal an, es würde Ahriman wirklich gelingen, den Gedanken der Menschen und die Vernunft der Menschen soweit zu verdunkeln, daß sie alie Geisteswissenschaft ablehnen würden. Dann würden diese Ätherleiber doch da sein, aber es wären keine geisteswissenschaftlich begeisterten Seelen da, die diese Kräfte in den Dienst des Erdenfort­schrittes stellen. Da würden dann Luzifer oder Ahriman eingreifen können und würden entweder in die Welt hinein, die sich Luzifer, oder in die Welt hinein, die sich Ahriman aufbaut, diese Kräfte verwenden können. Bedenken Sie, daß etwas ungeheuer Bedeutungsvolles damit ausgesprochen ist! Ausgesprochen ist damit, daß es gewissermaßen in die Hand der Menschen gelegt ist, in welcher Weise die Kräfte, die durch Opfertode der Welt verliehen worden sind, dem Erdenprozeß einverleibt werden. Daß sie die Möglichkeit haben, das durch die Geisteswissenschaft Angefachte zu inspirieren, das wird diese Kräfte dem Fortschritt der Erdenentwickelung dienstbar machen. Sonst aber könnte es sein - wenn der Materialismus alle Geister ergreifen würde, oder wenn Nationalismus sich in einer rein leidenschaftlichen Weise ausbreiten würde -, daß Luzifer oder Ahriman diese Kräfte in ihren Dienst stellen würden; dann würde der Erdenfortschritt von diesen Kräften nichts haben können. Da geht einem, wenn man diese Zu­sammenhänge bedenkt, die ganze tiefe Bedeutung der Geisteswissen­schaft für die menschliche Erdenentwickelung erst auf. Da lernt man erst sich sagen: Wie notwendig ist es, damit Opferkräfte im rechten Sinne in der Entwickelung verwertet werden, wie notwendig ist es, daß einzelne Menschen, die dazu imstande sind, ergriffen werden von dem, was als Gesinnung aus der Geisteswissenschaft hervorgehen kann! - Und zu etwas ungeheuer Heiligem wird diese Geisteswissen­schaft, wenn man sie im Zusammenhange betrachtet mit dem geistigen

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Werdegang, wie er sich ausdrückt auch in unseren schicksaitragenden Tagen. Die Gesinnung, die uns aus der Geisteswissenschaft werden kann, wird dadurch zu etwas Gebetartigem, das sich zusammenfassen läßt in die Worte: Laß uns nur recht, o Weltengeist, durchdrungen sein von dieser geisteswissenschaftlichen Gesinnung, damit wir nicht verfehlen, das, was sein kann zu der Erde Heil und der Erde Fort­schritt, Luzifer und Ahriman im rechten Sinne abzutrotzen!

Unser Bau, er soll wie ein Wahrzeichen für dasjenige dienen, was Geisteswissenschaft der Menschheit als Gesinnung werden soll. Daher ist er so eingerichtet, daß in seinen Formen künstlerisch zum Aus­druck kommt, was Geisteswissenschaft aus sich heraus geben kann. Ich müßte vieles sprechen, wenn ich Ihnen dasjenige, was in jede Einzelheit dieses Baues hineingelegt ist, auseinandersetzen wollte. Das alles werden Sie erfahren, wenn Sie im Laufe der Jahre den Bau be­suchen werden, und die Dinge, die sich darin abspielen sollen, mit­machen werden. Nur von einem wili ich heute sprechen im Zusam­menhang mit dem, was ich eben auseinandergesetzt habe.

An einer bedeutungsvollen Stelle des Baues, da wo er gegen Osten hin sich wendet, wird sich eine bildhauerische Gruppe befinden. In dieser bildhauerischen Gruppe soll insbesondere zum Ausdruck ge­bracht werden dasjenige, wovon das Bewußtsein unserer Zeit sich im rechten Maße durchdringen muß. Diese Gruppe wird, ganz abgesehen von dem, was dazukommen wird, im wesentlichen aus drei Figuren bestehen. Drei Wesenheiten werden in dieser Gruppe zum Ausdruck kommen. Es wird eine Art Felsen dz sein. Dieser Felsen hat einen Vorsprung nach vorne, und in diesem Vorsprung ist eine Höhle. Auf dem Felsenvorsprung steht die Hauptfigur. Diese Hauptfigur, man wird sie nennen können, wie man wili, aber man wird in ihr zu sehen haben den Repräsentanten des Erdenmenschen im höchsten Sinne des Wortes. Und will man in demjenigen Menschen, der drei Jahre seines Erdenlebens in sich die Christus -Wesenheit getragen hat, das Ideal des Erdenmenschen sehen, so wird man in dieser Hauptfigur auch den Christus sehen können. Aber das darf nicht so geschehen, daß man etwa vor diese Gruppe tritt mit dem Bewußtsein, das soll der Christus sein, sondern alles muß künstlerisch gefühlt werden. Das heißt, es darf

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nicht äußerlich symbolisch gedeutet werden, sondern alles muß aus den Formen selbst folgen.

Hier oben ist eine zweite Wesenheit. Diese Wesenheit hat hier ein menschenähnliches, ich kann nur sagen menschenähnliches Haupt. Das Haupt ist wirklich so, daß man sagen kann, ein menschliches Haupt erinnert an dieses Haupt. Denn dieser Kopf ist so gebildet, daß mächtig ausgebildet ist die Schädelpartie, namentlich die Stirnpartie. Während beim Menschen diese Teile da oben verhältnismäßig un­beweglich sind, ist bei diesem Wesen alles beweglich. Alles ist see­lischer Ausdruck. So wie der Mensch seine Hände bewegen kann mit den Fingern, aber nicht diese Partie hier, so kann diese Wesenheit hier oben alles bewegen. Und man sieht es der bildhauerischen Arbeit an, daß da oben alles beweglich ist. Sehr zurücktretend ist bei dieser Wesenheit die untere Partie des Gesichtes. Man möchte sagen, es wölbt sich die mächtige Schädelbildung über das zurücktretende Gesicht. Ich kann nur einzelne Teile besprechen, denn es ist jeder einzelne Strich an dieser Figur von einer großen Bedeutung. Dann ist aber das Eigentümliche, daß eine Verbindung zwischen dem, was beim Men­schen zum Kehlkopf verkümmert ist, und dem Ohr bei dieser Gestalt besteht. Das, was als Kehlkopfläppchen darin ist, wölbt sich herauf und bildet den unteren Teil der Ohren. Der obere Teil wird durch die Strrnpartie gebildet. Auf der andern Seite schließen sich zwei an Vogelflügel erinnernde Gebilde an, zwischen denen dann ein Leib ausgebreitet ist, der so ist, wie wenn es ein umgestaltetes menschliches Antlitz im ganzen wäre. Flügel und Kehlkopf und Ohr sind in einem gebildet, so daß man erkennen wird: mit den Flügeln lebt das Wesen in der Sphärenharmonle drinnen, schwingt sich durch den Raum, durch die Wellen der Sphärenharmonle, und das lokalisiert sich im Ohr. Bei dem Menschen ist das alles verkümmert. Dadurch nun, daß der Menschheitsrepräsentant die linke Hand hier hinaufhebt, werden dieser Gestalt auf dem Felsen die Flügel gebrochen, und dadurch stürzt sie vom Felsen herunter. - Sie ahnen: mit dieser Gestalt, die da vom Fel­sen herunterstürzt, mit ihren gebrochenen Flügeln, ist Luzifer gemeint.

Hier unten, in der Höhle darin, befindet sich eine andere Gestalt. Sie hat nicht vogelähnliche Flügel, sondern sie hat fledermausähnliche

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Flügel, eine Art von drachen- oder wurmähnlichem Körper und ein Haupt, an das wiederum das menschliche Haupt erinnert. Aber alles das, was an Luzifer mächtige Stirnbildung ist, tritt an dieser unteren Gestalt ganz zurück, ist verkümmert. Die unteren Partien gegen den Mund zu, die sind mächtig ausgebildet bei dieser Gestalt. Und diese Gestalt ist umwickelt von dem, was in der Erde an Gold ist. Das Gold der Erde wird zu Fesseln, welche diese Gestalt dadrinnen anfesseln. Diese Gestalt krümmt sich unter der Wirkung, die von der herunter-gehenden Hand des Menschheitsrepräsentanten, des Christus, ausgeht. Diese Gestalt da unten ist Ahriman, ist der durch das Gold der Erde gefesselte Ahriman.

Mit dem, was ich jetzt eben gesagt habe, ist gewissermaßen die Idee des Ganzen gegeben. Aber mit dieser Idee hat man nur hingedeutet auf dasjenige, worum es sich handelt. Niemals wird es sich bei uns darum handeln, die Unart der alten Theosophen, die immer mit Sym­bolen gearbeitet haben, auch hier zu treiben, sondern es wird sich darum handeln, daß alles wirklich ins Künstlerische umgewandelt wird, was von der Geisteswissenschaft aus zu dem menschlichen Ge­fühl hintreibt. Daher darf man nicht sagen: diese Gestalten drücken das oder jenes aus -, sondern sie müssen durch dasjenige, was sie künstlerisch sind, durch das, was man in ihnen sieht, das sein, was das Verhältnis des Menschen, oder auch des Christus, zu Luzifer und Ahriman darstellt. Daher kann dies auch nicht mit den alten künstle­rischen Mitteln zum Ausdruck kommen. Jede Fingerbewegung an den Händen, die Art und Weise wie die Hände gebildet werden, wird be­deutungsvoll sein, denn darin wird sich etwas Bedeutungsvolles aus­drücken müssen. Man könnte zunächst die Idee haben, daß der Christus die linke Hand hinaufhebt und durch das, was er will, ließe er Kräfte ausströmen, welche dem Luzifer die Flügel brechen, so daß dieser herunterfällt. Und durch die rechte heruntergesenkte Hand würden wieder Kräfte ausgeströmt, durch welche Ahriman gefesselt wird. Man hätte etwas ganz Falsches vorgestellt, wenn man sich dieses vorgestellt hätte.

Um das ganz Bedeutungsvolle, was in diesem liegt, auszuführen, möchte ich an etwas erinnern, was wirklich zu dem Größten gehört,

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was die Kunst bisher hervorgebracht hat: «Das jüngste Gericht» von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Da sieht man den Christus, wie er die Guten nach dem Himmel, die Bösen nach der Hölle fördert. Man sieht es dem Christus an, wie er die einen nach der guten Welt, die andern nach der schlimmen Welt fördert. Dieser Christus, wie er da dargestellt ist, ist fortan nicht der Christus, den wir erst in seiner wahren Wesenheit durch die Geisteswissenschaft begreifen sollen. Der Christus, der der wahre Christus ist, verdammt nicht, lobt nicht, indem er Zorn, oder indem er gewöhnliche Liebe anwendet, sondern durch das, was er ist, wirkt er. Luzifer werden nicht die Flügel gebrochen, sondern er bricht sie sich durch seine Seelenverfassung, indem er in die Nähe des Christus kommt. Und Ahriman, er fesselt sich selbst durch das, was in seiner Seele geschieht, indem er in die Nähe des Christus kommt. Daher muß die hinauf-gehaltene und die hinuntergehaltene Hand alles, was nicht rein seien­des Mitgefühl mit der Welt ist, nicht haben. Der Luzifer dort oben, der kann nicht ertragen, seinerseits nicht ertragen, daß die Hand des Christus in seine Nähe kommt. Und durch das, was er dadurch in sich erlebt, bricht er sich die Flügel, nicht bricht der Christus sie ihm, er bricht sie sich selbst. Und ebenso ist es bei Ahriman. Michelangelo hat noch nicht verstanden, einen Christus zu bilden, wie er wirklich ist. Die Christus -Wesenheit ist so bedeutsam, dasVerständnis derChristus­Wesenheit ist so schwierig, daß dies nut im Laufe der Zeit erreicht werden kann. Der Christus, der durch das, was er ist, die Wesen dazu bringt, daß sie sich selbst verdammen oder erlösen, der wird erst ver­standen werden. Der Christus auf dem Bilde des Michelangelo hat noch etwas Luziferisch-Ahrimanisches, weil er durch seinen Zorn die Bösen in die Hölle, die Guten in den Himmel führt: da ist er engagiert mit seinen Leidenschaften. Der Christus hier steht unpersönlich da, und die Wesen verurteilen sich selbst, die in seine Nähe kommen.

Sie sehen daraus, daß die Stellung des Menschen in der Welt, in der luziferische und ahrimanische Kräfte enthalten sind, an einer bedeu­tungsvollen Stelle unseres Baues zum Ausdruck kommen muß; daß Wesen ausgedrückt werden müssen, die nur in der geistigen Welt ge­funden werden können. Aller Naturalismus der Kunst, alles das, wozu

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die Kunst gestrebt hat gerade in den letzten Zeiten, in denen die Men­schen vom Materialismus ergriffen wurden, all das muß gerade über­wunden werden durch diese Kunst, die hier gepflegt ist. Und etwas so vöilig Neues muß, auch künstlerisch, durch Geisteswissenschaft in die Welt eintreten, daß überwunden wird auch ein Größtes, das bisher möglich war: die Christus-Gestalt des Michelangelo, in dem «Jüng­sten Gericht».

Man darf solche Sachen aussprechen, wenn man auf der andern Seite wiederum all das betont, was nicht vergessen werden darf: daß selbstverständlich für all das unser Bau nur ein primitiver Anfang sein kann. Alles ist unvollkommen, alles ist elementar, alles ist nur ein Anfang, aber es soll der Anfang schon etwas völlig Neues sein. Daß alles unvollkommen ist, das kann selbstverständlich gewußt werden, aber hingewiesen werden muß auf etwas, was als Impuls in das ganze Menschenleben hineinkommen soll.

Bedenken Sie nun, wie nahe es liegt, gleichgültig vorüberzugehen an einer Gabe des kosmischen Daseins, die da besteht in den unver­brauchten Menschen-Ätherleiberkräften. Bedenken Sie, wie diese Ätherleiberkräfte eine Beute Luzifers und Ahrimans werden könnten, wenn der Mensch nicht die Möglichkeit fände, sie in das Heil der Erdenentwickelung hineinzustellen. Da haben wir ein ungeheures Ge­heimnis unserer Erdenmenschheitsentwickelung berührt: das Ge­heimnis von der Beziehung des Christus-Impulses zu dem Luzifer-Impuls, zu dem Ahriman-Impuls. Und diese Beziehung des Christus-Impulses zu dem Luzifer-Impuls und dem Ahriman-Impuls wird immer mehr und mehr in der nächsten Zukunft durch die Menschheit verstanden werden können. Luzifer-Kräfte und Ahriman-Kräfte durchwalten die Welt, und der Mensch muß durch sein Christus-Bewußtsein werden wie ein Wesen, das wie in einem Boote sitzt, das zwar immer in den Stürmen, die Luzifer und Ahriman erregen, schau­keln muß, das aber seinen Weg findet durch das Meer, dessen lebendige Substanz aus Luzifer und Ahriman besteht, durch das aber der Mensch sein Christus-Boot dennoch hindurchtreibt.

Nicht darum kommen wir in unseren Zweigen zusammen, daß wir dieses oder jenes theoretisch lernen, was uns Geisteswissenschaft enthüllen

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kann, sondern darum kommen wir zusammen, daß alles, was in unseren Seelen lebt, erfüllt wird von einer Gesinnung, die aus die­ser Geisteswissenschaft erfließen kann. Nicht was wir denken aus der Geisteswissenschaft, sondern wie wir es denken, empfinden, fühlen und wollen, darauf kommt es an. Und ob das Kleinste oder das Größte, was wir in der Erdenentwickelung der Menschheit beobach­ten können, vor unser Seelenauge tritt, überall kann uns vor Augen treten, wie es für den Menschen der Zukunft notwendig ist, sich ge­rade mit dem bekanntzumachen, was die Dreiheit Christus, Luzifer, Ahriman bedeutet. Nicht hat sehen können Michelangelo, nicht haben sehen können die Zeiten, die bisher vergangen sind, in der richtigen Weise, wie diese Dreiheit in der Welt dasteht. Aber man wird auch den Christus in seiner Wesenheit erst richtig erkennen, wenn man ihn sieht in seinem Verhältnis zu dem, was in der Welt wirkt wie der Nord- und Südpol: Luzifer und Ahriman.

Mancherlei über diese Dinge wird für diejenigen, die dann dabei sein können, noch in den nächsten Tagen von uns zu besprechen sein. Heute hatte ich auf Ihre Seelen dasjenige legen wollen, was uns die geisteswissenschaftliche Gesinnung so wichtig auch für bedeutungs­volle Dinge erscheinen läßt, die sich in der geistigen Welt in der näch­sten Zukunft dem zeigen können, der das, was physisch geschieht, auch geistig zu durchschauen vermag.

0 man möchte zu den die Erde und die Menschheit schützenden guten Göttern und Geistern flehen, daß sie Kraft den Menschen geben, damit eintreten kann dasjenige, was geschehen muß zum Heile der Menschheit!

Da oben werden sie sein, die unverbrauchten Ätherkräfte der ju­gendlich durch den Tod gegangenen Menschen. Aber Menschen-herzen und Menschenseelen werden hier auf Erden sein müssen, die so hinaufschauen zu diesen Kräften, daß diese Kräfte durch sie in die richtige Entwickelungsrichtung hineingebracht werden können. Nicht nur darauf kommt es an, daß da oben die Kräfte sind, die auch eine Beute Luzifers und Ahrimans werden könnten, sondern darauf kommt es an, daß unten in physischen Leibern Menschenseelen sind, die ihre andächtige Stimmung zu diesen Opfer-Ätherleibern hinaufsenden.

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Davon wird es abhängen, in welchem Sinne in die Menschheitsent­wickelung die Kräfte einfließen, die geschaffen werden auf den Fel­dern, auf denen das Blut rinnt, auf denen Opfer gebracht werden, auf denen Schmerzen gelitten werden.

Das ungefähr zeichnet den Anteil, der an dem künftigen Gang der Menschheitsentwickelung aus Geisteswissenschaft werden kann, wenn das, was nur von Geisteswissenschaft erkannt werden kann, wirklich von einer Anzahl von Menschen ergriffen wird.

Was aus den gegenwärtigen schicksaltragenden Tagen werden kann, ich möchte es zum Schluß noch einmal in einigen pragmatischen Wor­ten vor Ihren Seelen aussprechen:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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GEMEINSAMKEIT ÜBER UNS - CHRISTUS IN UNS Düsseldorf, 15. Juni 1915

Wir haben uns heute hier versammelt, meine lieben Freunde, in erster Linie, um die Feier der Einrichtung jenes Zweiges zu begehen, welcher von unserem lieben Freunde Professor Craemer begründet worden ist, und welcher in der innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Be­wegung gehaltenen Art und Weise seine Kräfte dem geistigen Leben der Gegenwart und der Zukunft weihen will. Bei einer solchen Ge­legenheit ist es immer gut, zu gedenken des eigentlichen Sinnes unserer Vereinigung in einzelnen Zweigen, uns zu fragen: Warum schließen wir uns zu Arbeitsgruppen zusammen, und warum pflegen wir innerhalb solcher Arbeitsgruppen das Geistesgut, dem wir unsere Fähig­keiten widmen wollen? Wenn wir uns diese Frage im rechten Sinne beantworten wollen, müssen wir klar darüber sein, daß wir unsere Arbeit, die wir hier leisten, in einer gewissen Weise noch abtrennen, wenn auch nur in Gedanken abtrennen, von der Art und Weise, wie wir uns in bezug auf unsere sonstige Arbeit einrichten.

Derjenige Mensch in unserer Gegenwart, der sich überhaupt mit gewissen intimeren Wahrheiten des geistigen Fortschrittes der Mensch­heit nicht genau bekanntmachen will, der könnte fragen: Könntet ihr denn nicht, auch ohne daß ihr euch in einzelnen abgeschlossenen Gruppen zusammenschließt, einfach dadurch diese Geisteswissen­schaft treiben, daß sich Vortragende dieser Gruppen finden und in ganz freier Weise Menschen, die sich auch nicht besonders kennen, zusammenkommen lassen, sie zusammenrufen, um an ihre Seelen das geistige Gut, von dem ihr sprecht, herangelangen zu lassen? - Selbstverständlich könnten wir auch so verfahren. Aber solange es uns in irgendeiner Weise möglich ist, Verbindungen herzustellen im weiteren und im engeren Sinne von Menschen, die sich kennen, die sich in gewisser Beziehung freundschaftlichst und brüderlichst in diesen Arbeitsgruppen vereinigen, so lange wollen wir dieses aus vollem Bewußtsein unserer rnit der Geisteswissenschaft verbundenen Gesinnung

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heraus tun. Denn es ist nicht umsonst, daß sich bei uns Menschen treffen zur Pflege des intimeren Teiles unseres Geistesgutes, die sich ernst geloben, in brüderlicher Liebe und Eintracht zusammen­zusein. Nicht nur, daß es eine gewisse Bedeutung hat für die Art und Weise, wie wir zueinander stehen, wie wir miteinander verkehren, daß wir in ganz anderer Weise sprechen können, wenn wir wissen, wir sprechen zu uns verwandten, mit uns bewußt verbundenen Seelen, nicht nur, daß dies so ist, sondern es ist noch etwas anderes. Wir ver­richten in der Tat mit solcher Vereinigung in den einzelnen Zweigen etwas, was innig zusammenhängt mit der ganzen Auffassung, die wir von unserer geistigen Bewegung haben müssen, wenn wir sie im tief­sten Inneren verstehen. Unsere geistige Bewegung muß ja uns alle durchdringen mit dem Bewußtsein, daß sie nicht nur eine Bedeutung hat für dasjenige Dasein, welches die Sinne umfassen können, und für das Dasein, welches der auf das Äußere gerichtete Verstand der Menschen umfassen kann; unsere geistige Bewegung muß sich klar darüber sein, daß unsere Seelen durch sie eine echte und wahre Ver­bindung mit den geistigen Welten suchen. Wir müssen uns gleichsam mit Bewußtsein immer wieder und wiederum sagen: Indem wir Geisteswissenschaft treiben, versetzen wir in gewissem Sinne unsere Seelen hinein in jene Welten, welche nicht nur Erdenwesen bewohnen, sondern welche als ihren Daseinsort die Wesen der höheren Hier­archien bewohnen, die Wesen der unsichtbaren Welten. Daß wir ge­wissermaßen darinnen sind und daß unsere Arbeit für diese unsicht­baren Welten eine Bedeutung hat, daß wir in diesen unsichtbaren Welten wirklich darinnen sind - das ist es, was uns bei unserer Arbeit zum vollen Bewußtsein kommen muß. Nun ist es in der Tat so, daß innerhalb der geistigen Welt die geistige Arbeit, die wir verrichten, indem wir, uns kennend, in einzelnen Arbeitsgruppen zusammen­arbeiten, eine ganz andere Bedeutung hat, als wenn wir eine solche Arbeit nicht innerhalb solcher Arbeitsgruppen, sondern außerhalb derselben, zerstreut in der Welt leisten würden. Also eine ganz andere Bedeutung für die geistigen Welten als eine Arbeit, die wir sonst leisten könnten, hat die Arbeit, die wir innerhalb unserer Gruppen in brüderlicher Eintracht zusammen leisten. Um das in vollständigem

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Sinne zu verstehen, müssen wir uns an Bedeutsames erinnern, das uns bei unserem geisteswissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre in mannigfaltiger Weise vor die Seele hat treten können.

Gedenken wir einmal dessen, daß sich unsere Erdenentwickelung für uns Menschen so vollzogen hat, daß in der nachatlantischen Zeit zuerst diese Erdenentwickelung getragen worden ist von derjenigen Kulturgemeinschaft, die wir die altindische Kulturperiode nennen. Daß dann fortgesetzt worden ist diese Kulturperiode von dem, was wir mit einem mehr oder weniger passenden Ausdruck - darauf kommt es jetzt nicht an - die urpersische Kulturperiode nennen. Dann kam die ägyptisch-chaldäisch-babylonische Kulturperiode, dann die gn.echisch4ateinische, dann unsere fünfte nachatiantische Kultur-periode. Jede solche Kulturperiode hat auf der einen Seite dasjenige an Kultur und an geistigem Leben besonders zu pflegen, was ihr zu­nächst für die äußere sichtbare Welt zugeteilt ist. Aber eine jede solche Kulturperiode muß zugleich vorbereiten, gewissermaßen in ihrem Schoße vorbereitend tragen dasjenige, was da kommen soll in der nächstfolgenden Kulturperiode.

Die erste nachatlantische Kulturperiode, die altindische, mußte in ihrem Schoße die urpersische vorbereiten, die urpersische wiederum die ägyptisch-chaldäische und so weiter. Und unsere fünfte nach-atlantische Kulturperiode muß die sechste Kulturperiode der nächsten Zeit vorbereiten. Öfter ist es nun gesagt worden, daß es unsere geisteswissenschaftliche Aufgabe ist, durch dasjenige, was wir uns aneignen, nicht nur, was ja ganz recht, aber nicht das einzige ist, Geistesgut für unsere einzelnen Seelen zu gewinnen - das wird uns zugeteilt für das ewige Leben unserer Seele -, aber es ist auch unsere Aufgabe, dasjenige vorzubereiten, was dann die sechste Kulturperiode zu ihrem Inhalte, zu ihrer besonderen äußerlichen Arbeit haben soll. So war es in jeder der einzelnen nachatlantischen Kulturperioden. Und diejenigen Stätten, in welchen immer dasjenige vor­bereitet wurde, was für die nächste Kulturperiode das bedeutsame Äußere war, das waren die Mysterienstätten. Das waren diejenigen Vereinigungen von Menschen, in denen anderes gepflegt worden ist, als die äußere Welt pflegt.

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Nun wissen Sie auch, daß es bei der ersten nachatlantischen Kulturperiode, bei der altindischen Kulturperiode, vorzüglich darauf ankam, daß durch diese altindische Kultur gepflegt wurde des Menschen Ätherleib, bei der urpersischen der Astralleib, durch die ägyptisch-­chaldäische die Empfindungsseele, durch die griechisch4ateinjsche die Verstandes- oder Gemütsseele. Unsere Kulturperiode pflegt und wird zur Ausbildung bringen bis zu ihrem Ende dasjenige, was man Be­wußtseinsseele nennt. Vorbereitet aber muß dasjenige werden, was dann in der sechsten Kulturperiode gewissermaßen den Inhalt, den Charakter der äußeren Kultur abgeben wird. 0 diese sechste Kulturperiode, sie wird mancherlei Züge in sich tragen, mancherlei Charakterzüge, die sich gar sehr unterscheiden von den Charakterzügen unserer Zeit. Vor allen Dingen können wir drei Charakterzüge hervorheben, von denen wir wissen müssen, daß wir sie als unsere Ideale für die sechste nachatlantische Kulturperiode schon im Herzen tragen müs­sen, daß wir sie vorzubereiten haben für diese sechste Kulturperiode.

Jetzt ist etwas noch nicht in der Menschengemeinschaft vorhanden, was in der sechsten Kulturperiode da sein wird bei denjenigen Men­schen, die gelten werden als solche, die das Ziel der sechsten Kulturperiode erreicht haben, die nicht zurückgeblieben sind hinter diesem Ziele; also nicht innerhalb derer, die in der sechsten Kulturperiode Wilde oder Barbaren sind. Von diesen Bewohnern der Erde in der sechsten Kulturperiode - von denen also, die dann auf der Höhe der Kultur stehen werden - wird einer der wichtigsten Charakterzüge ein gewissermaßen moralischer Charakterzug sein. Jetzt ist noch wenig innerhalb der Menschheit von diesem Charakterzug zu bemerken. Der Mensch muß heute schon feiner organisiert sein, wenn es ihm in der Seele weh tun soll, daß er außer seinem eigenen Dasein andere Men­schen in der Welt anschauen, betrachten, sehen muß, denen es schlechter geht als ihm. Gewiß, feiner organisierte Naturen empfinden auch heute schon Leid über das Leid, das über viele Menschen in der Welt ausgegossen ist - aber es müssen eben feiner organisierte Naturen sein. In der sechsten Kulturperiode wird bei denjenigen Menschen, die ganz auf der Höhe dieser Kultur stehen werden, nicht nur jenes Gefühl vorhanden sein, das wir heute als Schmerz empfinden über

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Elend, Leid und Armut, die verbreitet sind in der Welt, sondern der Mensch wird dann auf der Höhe der Kultur der sechsten nachatlanti­schen Kulturperiode jedes fremde Leid als sein eigenes Leid emp­finden. Wenn er einen Hungernden sieht, wird er den Hunger so leb­haft empfinden bis ins Physische herunter, daß ihm dieser Hunger des andern unerträglich sein wird. Dasjenige, wovon hier angedeutet ist, daß es in der sechsten Kulturperiode nicht mehr so sein wird wie noch in der fünften, daß vielmehr in der sechsten Kulturperiode das Wohl des einzelnen voll abhängen wird von dem Wohl der Gesamtheit, ist ein moralischer Charakterzug. So wie jetzt nur das Wohl eines einzelnen menschlichen Gliedes von der Gesundheit des ganzen Leibes abhängt, und wenn der ganze Mensch nicht gesund ist, sich auch das einzelne Glied nicht aufgelegt fühlt, dieses oder jenes zu tun -, so wird in der sechsten Kulturperiode ein Gemeinsames die dann zivilisierte, die dann kultivierte Menschheit ergreifen, und der einzelne wird in viel höherem Maße, wie ein Glied des Ganzen, das Leiden, die ganze Not, die ganze Armut oder den Reichtum mitempfinden. Das ist der erste vorzugsweise moralische Wesenszug, der die zivilisierte Mensch­heit der sechsten Kulturperiode charakterisieren wird.

Ein zweiter Grundzug wird dann sein, daß all dasjenige, was wir heute Glaubensgüter nennen, in einem viel, viel höheren Maße ab­hängen wird von der Individualität des einzelnen, als das heute der Fall ist. Die Geisteswissenschaft drückt das so aus, daß auf jeglichem religiösen Gebiet in der sechsten Kulturperiode vollständige Ge­dankenfreiheit und Sehnsucht nach der Gedankenfreiheit die Men­schen ergreifen werden, so daß all dasjenige, was ein Mensch glauben will, wovon ein Mensch namentlich in religiöser Beziehung überzeugt sein will, in die Kraft seiner Individualität gestellt sein wird. Glaubenszusammenhang, wie er heute noch so vielfach existiert, Glaubenszusammenhang, der in der verschiedensten Weise unter den einzelnen Menschengemeinschaften herrscht, wird in dem Teile der Menschheit in der sechsten Kulturperiode, die dann die zivilisierte sein wird, nicht mehr herrschen. Jeder wird als notwendige Eigentümlichkeit der Menschen empfinden, daß auf religiösem Gebiet vollständige Gedankenfreiheit herrscht.

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Und das dritte wird sein, daß die Menschen in der sechsten Kultur­periode Erkenntnisse überhaupt nur zu haben vermeinen werden, wenn sie Geistiges erkennen, wenn sie erkennen, daß in der Welt das Geistige ausgebreitet ist und daß die Menschenseelen sich mit dem Geistigen verbinden müssen. Was man heute Wissenschaft nennt, und was als Wissenschaft eine materialistische Färbung trägt, wird in der sechsten Kulturperiode gar nicht mehr Wissenschaft heißen. Das wird man betrachten als einen alten Aberglauben, der nur denjenigen Menschen eigentümlich sein kann, die auf der Stufe der fünften, dann überstandenen nachatiantischen Kulturperiode zurückgeblieben sind. Heute betrachten wir es als alten Aberglauben, sagen wir, wenn der Neger meint, daß kein Glied seines Leibes nach seinem Tode ab­getrennt werden dürfe von seinem Leibe, weil er dann nicht als ein ganzer Mensch in die geistige Welt eintreten könne. Es verknüpft heute noch der Neger den Unsterblichkeitsgedanken mit reinem Materialismus, mit dem Glauben nämlich, daß irgendein Abdruck seiner gesamten Form in die geistige Welt eingehen müsse. Wie er also im Grunde materialistisch denkt, aber an Unsterblichkeit glaubt, wäh­rend wir heute, da wir aus unserer Geisteswissenschaft wissen, daß wir das Geistige vom Leibe zu trennen haben und daß nur das Geistige in die übersinnliche Welt eingeht, wie wir heute jenen materialistischen Unsterblichkeitsglauben als einen Aberglauben betrachten müssen, so wird aller materialistischer Glaube, auch in der Wissenschaft, in der sechsten nachatlantischen Kulturperiode als alter Aberglaube da sein. Und als Wissenschaft wird ganz selbstverständlich für die Menschen nur dasjenige gelten, was, wie die Geisteswissenschaft sagt, Pneumato­logie, Geistiges zur Grundlage hat.

Sie sehen, unsere Geisteswissenschaft ist ganz darauf angelegt, die Dinge, die eben genannt worden sind, für die sechste Kulturperiode vorzubereiten. Wir versuchen, Geisteswissenschaft zu pflegen, um den Materialismus zu überwinden, um vorzubereiten dasjenige, was in der sechsten Kulturperiode an Wissenschaft da sein muß. Wir be­gründen Menschengemeinschaften, in denen gar nichts herrschen darf von irgendeinem Autoritätsglauben, von Anerkennung einer Lehre, nur weil sie von der einen oder andern Persönlichkeit geliefert wird.

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Wir begründen Menschengemeinschaften, in denen alles, alles gebaut sein muß auf die freie Zustimmung der Seele zu den Lehren. Damit bereiten wir dasjenige vor, was die Geisteswissenschaft Gedanken­freiheit nennt. Und dadurch, daß wir uns zusammenschließen, uns in brüderlichen Vereinigungen verbinden, um unsere Geisteswissen­schaft zu treiben, bereiten wir dasjenige vor, was als Kultur, als Zivili­sation die sechste nachatlantische Kulturperiode durchdringen soll.

Aber noch tiefer müssen wir in den Gang der Menschheitsentwicke­lung hineinschauen, wenn wir ganz verstehen wollen, um was es sich bei unseren brüderlichen Vereinigungen eigentlich handelt. In der ersten nachatlantischen Kulturperiode hat man auch in Gemein­schaften, die dazumal ihren Mysteriencharakter hatten, dasjenige ge­pflegt, was dann in der zweiten Kulturperiode herrschte. Das heißt, man hat schon in den besonderen Vereinigungen der ersten nach-atlantischen, der urindischen Kulturperiode dasjenige gepflegt, was dann herrschen sollte als Pflege des Astralleibes. Es würde viel zu weit führen, wollte man heute beschreiben, was in diesen besonderen Vereinigungen des alten Indien gepflegt worden ist, abweichend von dem, was äußere altindische Kultur war, um vorzubereiten die ur­persische Kulturepoche. Aber das soll gesagt werden, wenn sich diese Menschen der altindischen Kulturperiode vereinigten, um das vor­zubereiten, was für die zweite Kulturperiode vorzubereiten war, dann fühlten sie: Das ist noch nicht erreicht, das ist noch nicht bei uns, was bei uns sein wird, wenn unsere Seelen in der nächsten Kulturperiode wiederverkörpert sein werden. Das schwebt gleichsam noch über uns. - Und so ist es auch. In dieser ersten Kulturperiode war das, was in der zweiten erst, man möchte sagen, vom Himmel auf die Erde heruntersteigen sollte, noch über den Seelen schwebend. Und die Arbeit wurde so eingerichtet, daß die Geister der höheren Hier­archien durch die Arbeit, welche die Menschen auf der Erde in engeren Vereinigungen, in Mysterienvereinigungen verrichteten, heraufflie­ßend hatten Kräfte, durch die sie pflegen konnten dasjenige, was dann als Inhalt des Astralleibes in die Seelen der Menschen in der zweiten, der urpersischen Kulturperiode herunterströmen sollte. Man möchte sagen, als kleine Kinder waren sie noch vorhanden, die Kräfte, welche

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dann, etwas erwachsen, herabstiegen in die Seelen, die in altpersischen Leibern verkörpert waren. Oben in der geistigen Welt empfingen sie die Kräfte von der Menschenarbeit, die von unten heraufströmten, vorbereitend die nächste Kulturperiode, und durch diese Kräfte wur­den herangepflegt jene Kräfte, die dann herunterströmen sollten. Und so muß es in jeder weiteren Kulturperiode sein.

In unserer Kulturperiode muß es so sein, daß wir uns bewußt werden: Das, was sich in uns durch die gewöhnliche Zivilisation, durch die gewöhnliche Kultur ausgebildet hat, muß die Bewußtseinsseele sein; das muß dasjenige sein, was seit dem 14., 15., 16. Jahrhundert angefangen hat, als Wissenschaft, als äußeres materialistisches Bewußtsein die Menschen zu ergreifen, was sich immer weiter und weiter ausbreiten wird, und was nach Ablauf der fünften Kulturperiode, bis an das Ende der fünften Kulturperiode sich ganz und gar durchentwickelt haben wird. Dasjenige aber, was die sechste Kulturperiode ergreifen muß, muß das Geistselbst sein. Das Geistselbst muß dann in den Seelen darinnen selber ausgebildet werden, wie jetzt die Bewußtseinsseele ausgebildet wird. Das ist aber die Eigentümlichkeit des Geistselbst, daß es diese drei Charakterzüge, von denen ich ge­sprochen habe, in den Menschenseelen voraussetzt, wie Geistes­wissenschaft es sagt: Brüderliches soziales Zusammenleben, Gedan­kenfreiheit und Pneumatologie. Eine Menschengemeinschaft, inner­halb welcher das Geistselbst so ausgebildet wird wie in unseren Seelen der fünften nachatlantischen Kulturperiode durch die äußere Kultur die Bewußtseinsseele, braucht eben diese Charakterzüge. Daher dürfen wir uns vorstellen, daß dadurch, daß wir uns in Arbeitsgruppen brüderlich vereinigen, unsichtbar über unserer Arbeit schwebt das­jenige, was wie das Kind jener Kräfte ist, welche die Kräfte des Geistselbst sind, das von den Wesen der höheren Hierarchien gepflegt wird, damit es dann herunterströmen kann in unsere Seelen, wenn sie wieder da sein werden in der sechsten Kulturperiode. Arbeit leisten wir in unseren brüderlichen Arbeitsgruppen, die heraufströmt zu den für das Geistselbst vorbereitet werdenden Kräften.

So sehen Sie, wie wir im Grunde nur aus dem Weisheitsgut unserer Geisteswissenschaft heraus verstehen können, was wir eigentlich in

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bezug auf unseren Zusammenhang mit den höheren, den geistigen Welten tun, wenn wir uns in solchen Arbeitsgruppen vereinigen. Und der Gedanke, daß wir solches tun, daß wir die Arbeit, die wir in unseren Arbeitsgruppen verrichten, nicht allein um unserer Egoität willen verrichten, sondern daß wir sie verrichten dafür, daß sie hinaufströme in geistige Welten, der Gedanke an dieses Arbeiten im Zu­sammenhang mit den geistigen Welten gibt einem Arbeitszweige die rechte Weihe. Und indem wir einen solchen Gedanken hegen, durch­dringen wir uns mit dem Weihegedanken, der eine solche Arbeits­gruppe innerhalb unserer geistigen Bewegung begründet. Daher ist es von einer besonderen Bedeutung, daß wir diese Tatsache so recht geistig erfassen. Wir finden uns in Arbeitsgruppen zusammen, welche neben dem, daß sie Geisteswissenschaft, pneumatologische Wissen­schaft treiben, neben dem, daß sie auf Gedankenfreiheit aufgebaut sein wollen und nichts von einem Dogma, nichts von einem Glaubenszwang kennen, ihre Arbeit tauchen in brüderliches Zusammenarbeiten. Darauf kommt es an, daß wir diesen Gemeinschaftsgedanken in der richtigen Weise wirklich in unser Bewußtsein aufnehmen, daß wir uns gewissermaßen sagen: Außer dem, daß wir als gegenwärtige Seelen angehören der fünften nachatlantischen Kulturperiode und da ganz individuell uns entwickeln, immer mehr und mehr das Einzel-persönliche herausholen aus dem Gemeinschaftsleben, müssen wir wiederum eine höhere Gemeinschaft, die wir auf freie brüderliche Liebe begründen, wie den Zauberhauch empfinden, den wir einatmen in unseren Arbeitsgruppen.

Das ist die ganz tiefe Bedeutung der westeuropäischen Kultur: daß die Bewußtseinsseele gesucht werden soll innerhalb der fünften nach-atlantischen Kultur. Es ist die Aufgabe der westeuropäischen und ganz besonders der mitteleuropäischen Kultur, daß die Menschen immer mehr und mehr in ihrer Seele eine individuelle Kultur, ein individuelles Bewußtsein entwickeln. Darauf kommt es an in der Gegenwart. Wir können vergleichen diese unsere Kulturperiode mit der griechischen, der römischen. In der griechischen Kulturperiode, da sehen wir es besonders auffällig: es herrscht noch ganz besonders Gruppenseelenhaftigkeit, ein Bewußtsein von einer Gruppenseelenhaftigkeit

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gerade bei den zivilisierten Griechen. Derjenige, der in Athen lebte und geboren war, fühlte sich vor allen Dingen als Athener. Diese Gemeinschaft der Stadt mit dem, was dazugehört, hatte eine andere Bedeutung für den einzelnen Menschen als heute eine mensch­liche Gemeinschaft. Heute will der Mensch herauswachsen aus der Gemeinschaft, und das ist die richtige Aufgabe der fünften nach-atlantischen Kulturperiode. In Rom war der Mensch vor allen Dingen nicht etwas anderes als römischer Bürger; das war dasjenige, was er in erster Linie war. Die Zeit aber ist heraufgestiegen in der fünften nachatlantischen Kulturperiode, wo wir vor allen Dingen Mensch sein wollen, Mensch und nichts als Mensch in unserem innersten Wesen.

Was uns heute so schmerzlich erleben läßt, wie die Menschen gegen­einanderstreben auf der Erde, ist ja nur eine Reaktion auf das un­ablässige Streben der fünften Kulturperiode nach freier Ausbildung des allgemein Menschlichen. Durch die feindselige Abschließung der einzelnen Länder und Völkerschaften heute soll nur um so mehr im Widerstand die Kraft entwickelt werden, die den Menschen vor allen Dingen ganz Mensch sein läßt, die Kräfte, die den Menschen herauswachsen lassen aus jeglicher Art von Gemeinschaft. Dafür aber muß er vorbereiten wiederum Gemeinschaften, die auf vollem Bewußtsein aufgebaut sind, in die er in der sechsten Kulturperiode frei eintreten wird, die er sich ganz allein selber auferlegt. Wie ein hohes Ideal schwebt vor uns diese Gemeinschaft, die die sechste Kulturperiode so umschließen wird, daß sich die zivilisierten Menschen selbstver­ständlich aus ihrer Seele heraus wie Brüder und Schwestern gegen­überstehen werden.

Wir wissen nun eines aus den zahlreichen Vorträgen, die in den ver­flossenen Jahren gehalten worden sind: daß im Osten Europas ein Volk lebt, welches insbesondere dazu berufen sein wird, dasjenige, was an elementaren Kräften in ihm ist, erst in der sechsten Kulturperiode zur besonderen Ausprägung zu bringen. Wir wissen, daß das russische Volk erst in der sechsten Kulturperiode reif sein wird, die Kräfte, die in ihm heute elementar vorhanden sind, zur Ausprägung zu bringen. West- und Mitteleuropa ist dazu berufen, dasjenige in die Menschenseelen hineinzubringen, was durch die Bewußtseinsseele

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hineingebracht werden kann. Dazu ist der Osten nicht berufen. Der Osten Europas wird warten müssen, bis das Geistselbst herabsteigt auf die Erde und die Menschenseelen durchdringen kann. Das ist oftmals erwähnt worden; wir müssen es im rechten Sinne verstehen. Im unrechten Sinne verstanden, kann es sehr leicht zu Hochmut und zu Überhebung gerade im Osten führen. Die Höhe der nachatlanti­schen Kultur ist schon in der fünften nachatlantischen Kulturperiode zu erreichen. Dasjenige, was folgen wird in der sechsten und siebenten Kulturperiode, das wird eine absteigende Entwickelung sein. Dennoch aber wird es so sein, daß diese absteigende Kulturentwickelung in der sechsten Kulturperiode inspiriert sein wird, durchdrungen sein wird von dem Geistselbst. Heute fühlt instinktiv, aber man möchte sagen, oftmals recht verkehrt instinktiv, der Mensch des Ostens, derjenige, der von den Geistern des Ostens selbst « der russische Mensch» ge­nannt wird, er fühlt, daß das mit ihm so steht; er hat nur meistens ein höchst unklares Bewußtsein davon. Schon charakteristisch ist es, daß so vielfach heraufkommen konnte dieser Ausdruck «der russische Mensch». In der Sprache herrscht ein Genius, wenn so etwas aus der Sprache herausgeholt wird und man nicht sagt, wie im Westen: der Brite, der Franzose, der Italiener, der Deutsche, sondern «der russische Mensch». Und viele der russischen Intellektuellen legen einen Wert darauf, daß immer gesagt werde « der russische Mensch». Das liegt tief begründet in dem ganzen Genius der entsprechenden Kultur. Man meint schon dasjenige, was sich als Menschentum, gleichsam als Brüderlichkeit über eine Gemeinsamkeit ausbreitet. Man will es andeuten dadurch, daß man eben das Menschsein im Aus­druck gebraucht. Aber man zeigt zugleich, daß man noch nicht auf der vollen Höhe ist, die man zu erreichen hat in ferner Zukunft, indem man dazusetzt etwas, was im Grunde grell widersprechend ist dem Hauptwort. Der «russische» Mensch: man nimmt gleichsam im Eigen­schaftswort das zurück, was man im Hauptwort ausspricht. Denn wenn das Menschentum erreicht werden soll, so darf es kein solches Eigenschaftswort haben, welches dieses Menschentum ja wiederum zu etwas Ausschließendem macht.

Aber noch viel, viel tiefer ist gegenwärtig gerade in den Mitgliedern

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der russischen Intelligenz das darinnen begründet, daß eine gewisse, in der Zukunft zu verstehende Gemeinschaftlichkeitsidee, eine Brüder­lichkeitsidee herrschen müsse. In dieser Beziehung fühlt die russische Seele schon: Das Geistselbst soll einmal herabsteigen, es kann aber nur herabsteigen in eine Menschengemeinschaft, welche von Brüder­lichkeit durchdrungen ist. Niemals kann es sich ausbreiten in einer Menschengemeinschaft, die nicht von Brüderlichkeit durchdrungen ist. Deshalb ist es, daß die russischen Intellektuellen, wie sie sich nennen, dem Westen Europas und auch Mitteleuropa folgenden Vor­wurf machen. Sie sagen: Ihr achtet ja gar nicht auf dasjenige, was echtes Gemeinschaftsleben ist, ihr pflegt nur den Individualismus. Jeder will ein Eigener sein, jeder will nur eine Individualität sein. Ihr treibt das Persönliche, durch das sich jeder einzelne Mensch als Selbst, als Individualität fühlt, auf die höchste Spitze. - Das ist dasjenige, was in sehr vielen Vorwurfen in bezug auf Barbarei und so weiter Mittel­europa und Westeuropa vom Osten her entgegentönt. Und die­jenigen, die sich bewußt werden wollen über das, was da eigentlich vorliegt, sagen: Dieses ganze West- und Mitteleuropa hat schon alles Gefühl für menschliche Zusammenhänge verloren. Und indem man jetzt Gegenwart und Zukunft verwechselt, sagt man: Wirkliche menschliche Zusammenhänge, wo sich jeder als der Bruder des andern fühlt, wo sich derjenige, der über dem andern steht, fühlt als dessen «Väterchen » und «Mütterchen», wirkliches menschliches Gemein­schaftsleben ist nur in Rußland. - So sagt die russische Intelligenz. Und sie sagt, deshalb hat es das westeuropäische Christentum nicht zustande gebracht, das wirkliche menschliche Gemeinschaftswesen zu pflegen. Der Russe kennt noch, so sagen sie, die Gemeinschaft. Und ein solcher ausgezeichneter russischer Intellektueller wie der im 19. Jahrhundert lebende Alexander Herzen kam, als auf die letzte Kon­sequenz, dazu, zu sagen: In Westeuropa kann niemals Glück ent­stehen. Was man auch für Versuche machen mag in der westeuropä­ischen Kultur und Zivilisation, niemals wird da Glück entstehen. Nie­mals wird die Menschheit zufrieden sein können. Da kann nur das Chaos herrschen. Der einzige Segen liegt im russischen Wesen, wo die Menschen sich noch nicht von der Gemeinschaft getrennt haben, wo

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sie in ihren Dorfgemeinden noch etwas haben wie Gruppenseelen­haftigkeit, an dem sie festhalten.

Was wir Gruppenseele nennen, aus dem sich die Menschheit nach und nach herausgearbeitet hat und in dem noch ganz und gar die Tierheit drinnen lebt, das verehren gerade die russischen Intellek­tuellen bei ihrem Volk als etwas besonders Großes und Bedeutsames. Sie können sich nicht erheben zu dem Gedanken, daß die Zukunfts­gemeinschaftlichkeit als hohes Ideal vorschweben soll, ein Ideal, das erst geltend gemacht werden muß. Sie halten an dem Gedanken fest: Schauen wir, was uns als den letzten in Europa geblieben ist! Die andern haben schon sich herausgehoben aus der Gruppenseelenhaftig­keit, wir haben sie uns noch bewahrt; wir müssen sie uns bewahren. -Diese Gruppenseelenhaftigkeit wird in Wirklichkeit gar nicht sein dürfen für die Zukunft, denn das ist die alte Gruppenseelenhaftigkeit. Es würde nur eine luziferische Gruppenseelenhaftigkeit, eine auf früherer Stufe zurückgebliebene Gruppenseelenhaftigkeit sein, wäh­rend die wahre, die zu erstrebende Gruppenseelenhaftigkeit diejenige ist, die wir innerhalb unserer Geisteswissenschaft suchen. Aber gerade an dem Drang und der Sehnsucht der russischen Menschen, nament­lich der Intellektuellen, ist zu erkennen, wie man zum Herabsteigen des Geistselbst den Geist der Gemeinschaft braucht. Wie er dort nur auf falschem Wege gesucht wird, so muß er in unserer geisteswissen­schaftlichen Strömung auf rechtem Wege gesucht werden. Und wir möchten hinüberrufen nach dem Osten: Gerade das müssen wir bis ins Äußerste überwinden, was ihr auf äußere Art zu bewahren sucht:

die alte luziferisch-ahrimanische Gemeinschaft. - Die Gemeinschaft­lichkeit luziferischer und ahrimanischer Art, sie wird einen so festen Glaubenszwang haben, wie ihn begründen mußte die orthodox ge­bliebene katholische Kirche in Rußland. Diese Gemeinschaftlichkeit wird nicht verstehen, was Gedankenfreiheit ist, und sie wird am allerwenigsten sich zur völligen Individualität und doch zum sozialen brüderlichen Zusammenleben heraufschwingen können. Daher möchte sie das bewahren, was in Blutsbrüderschaft geblieben ist, in bloßer Zusammengehörigkeit durch das Blut. Eine Gemeinschaft, die sich nicht auf das Blut, sondern auf den Geist, auf die Gemeinschaft der

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Seelen gründet, das ist, was angestrebt werden muß auf geisteswissen­schaftlichem Wege. Und das ist es, was wir anstreben, indem wir uns sagen: Gemeinschaften müssen wir anstreben, in denen das Blut nicht mehr spricht. Es wird fortbestehen selbstverständlich, das Blut, es wird in Familienzusammenhängen sich ausleben - was bleiben muß, das wird nicht ausgerottet, aber etwas Neues muß entstehen! Das, was in dem Kind bedeutsam ist, wird in den Greisenkräften erhalten sein, aber der Mensch muß im späteren Lebensalter Neues hinzu-bekommen.

Dasjenige, was das Blut bringt, darf nicht so umgedeutet werden, als ob es die großen Menschengemeinschaften der Zukunft umfassen würde. Das ist der große Irrtum, der vom Osten in die heutigen blutigen Ereignisse hineinspielt, daß man einen Krieg entbrannt hat unter dem Titel einer Gemeinschaft des Blutes der slawischen Völker Da spielt in unsere schlcksaltragende Zeit all dasjenige hinein, was jetzt eben auseinandergesetzt worden ist, was aber im Grunde wieder­um den richtigen Kern in sich enthält, nämlich das instinktive Fühlen: das Geistselbst kann nur in einer brüderlichen Gemeinschaft er­scheinen. Es darf aber nicht eine Gemeinschaft des Blutes sein, son­dern es muß eine Gemeinschaft der Seelen sein. Was dann erwächst als Gemeinschaft der Seelen, was das sein soll, das pflegen wir in seiner Kindhaftigkeit in unseren Arbeitsgemeinschaften, in unseren Zweigen. Dasjenige, was so wie der Osten Europas an der Gruppen­seelenhaftigkeit festhält, indem er zum Beispiel die slawische Gruppen­seele als etwas bezeichnet, aus dem er nicht heraus will, das er im Gegenteil zum umfassenden Prinzip für seine ganze Staatenbildung ansehen will, das ist etwas, was gerade überwunden werden muß.

Wie ein großes Symbolum steht es da, wie ein ungeheures Symbo­lum, daß die beiden Staaten, von denen der Krieg ausgegangen ist, auf der einen Seite Blutsbrüderschaft als den Grund des Krieges an­geben - Rußland mit dem gesamten Slawentum -, und der andere Staat, der dem gegenübersteht, dreizehn offizielle Völkerschaften und dreizehn Staatssprachen hat. Der Mobilisationsbefehl in Österreich mußte in dreizehn Sprachen ausgestellt werden, weil dreizehn Völker­schaften in Österreich vereinigt sind: Deutsche, Tschechen, Polen,

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Ruthenen, Rumänen, Magyaren, Slowaken, Serben, Kroaten, Slo­wenen - dazu noch eine besondere Slowenen-Vulgärsprache -, Bosnier, Dalmatiner und Italiener. So sind dreizehn verschiedene Stämme, von allen kleinen Differenzierungen abgesehen, in Österreich vereinigt. Ob man das nun einsieht oder nicht, das zeigt, daß dieses Österreich aus einem Zusammenhang von Menschen besteht, wo die Gemeinsamkeit niemals begründet werden kann auf Blutsbrüder­schaft, denn in dreizehn verschiedenen Geblüten entsprießt dasjenige, was in dieser eigentümlichen Grenze herrscht. Man möchte sagen, der am meisten zusammengesetzte Staat Europas steht gegenüber dem Staate, der am meisten nach Gruppenseelenhaftigkeit strebt oder nach Konformität.

Aber dieses Streben nach Gruppenseelenhaftigkeit zieht manches andere noch nach sich. Und da kommen wir nun noch auf etwas weiteres, an das wir uns heute bedeutungsvoll erinnern mögen. Ich habe auch schon gestern im öffentlichen Vortrag als einen der be­deutendsten Geister des ganzen Rußland den großen Philosophen Solowjow genannt. Solowjow ist wirklich ein hervorragender Geist, aber ein ganz russischer Geist. Ein Geist, der außerordentlich schwierig zu verstehen ist vom westeuropäischen Gesichtspunkte aus. Aber Anthroposophen sollten ihn kennenlernen. Diejenigen, die auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen, sollten ihn kenneniernen, sie sollten sich zu einem gewissen Verständnis Solowjows hinauf-schwingen können. Nun will ich eine, ich möchte sagen, die Haupt-und Zentralidee Solowjows einmal von unserem intimen Gesichts­punkte aus vor Ihre Seelen bringen. Solowjow ist viel zu sehr Philo­soph, als daß er so ganz ohne weiteres die Gruppenseelenhaftigkeit wirklich für sich annehmen könnte. Die Sache macht ihm Schwierigkei­ten, und er kommt in mancherlei Widersprüche hinein. Aber von einer Idee ist er nicht ganz vollbewußt beherrscht, so beherrscht, daß man sa­gen muß: Ach, wenn dieser Solowjow nur ganz hellsichtig wäre, daß er vorausnehmen könnte dasjenige, was seine Seele erst einsehen wird auf der Erde, wenn sie in der sechsten Kulturperiode inkarniett sein wird!

Die Idee, die dem Westeuropäer in ihrem Ausgangspunkt recht schwer verständlich ist, selbstverständlich auch dem Mitteleuropäer,

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wurde zu einer Haupt- und Zentralidee bei Solowjow. Das ist die folgende. Wir in Westeuropa suchen gerade in dem, was wir als die Vorbereitung für die sechste Kulturperiode pflegen, unter vielem andern, den Tod zu begreifen in seiner Bedeutung für das Leben. Wir versuchen zu verstehen, wie der Tod das Erscheinen einer Da­seinsform ist, wie die Seele sich im Tode verwandelt in eine andere Daseinsform. Wir schlidern, wie der Mensch lebt in seinem Leibe, und was er für ein Leben führt zwischen Tod und neuer Geburt. Wir suchen den Tod zu verstehen. Wir suchen den Tod zu überwinden, indem wir ihn verstehen, indem wir zeigen, daß er nur ein Schein ist, daß die Seele in Wahrheit lebt, indem sie durch den Tod geht. Aber das ist uns mit eine Hauptsache, daß wir den Tod durch das Verstehen zu überwinden suchen.

Da stehen wir aber zum Beispiel auf einem der Punkte, und zwar gerade einem der hauptsächlichsten Punkte, wo sich geisteswissen­schaftliches Streben ganz und gar differenziert von dem, was Solowjow, der große russische Geist, als seine Idee bat: Es gibt Übel in der Welt, es gibt Böses in der Welt. Das Böse in der Welt, die Übel sind da. Schauen wir mit unseren Sinnen die Übel, das Böse an, dann können wir nicht leugnen, daß die Welt voll von Bösem ist. Das spricht dagegen, sagt Solowjow, daß die Welt göttlich ist. Denn wie kann man, wenn man die Welt mit seinen Sinnen anschaut, an eine göttliche Welt glauben, da eine göttliche Welt doch nicht das Böse darstellen kann! Aber die Sinne sehen es überall, das Böse, und das ärgste Böse ist der Tod. Dadurch, daß der Tod in der Welt ist, zeigt sich die Welt in ihrer ganzen Bösheit, in ihrem ganzen Übel. Das Urübel ist der Tod.

Das ist die Weltcharakteristik von Solowjow. Er sagt - ich zitiere fast wörtlich - Schaut nur die Welt an mit euren bloßen Sinnen! Ver­sucht nur zu begreifen die Welt mit eurem bloßen Verstande. Da könnt ihr niemals die Übel in der Welt wegleugnen. Und den Tod verstehen zu wollen, wäre absurd! Der Tod ist da. Er zeigt sich. Nie­mals kann eine Sinnenerkenntnis den Tod erkennen. Daher zeigt die Sinnenerkenntuis eine böse Welt, eine Welt der Übel. Können wir nun glauben - sagt Solowjow -, daß diese Welt göttlich ist, wenn sie uns

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zeigt, daß sie voller Übel ist? Wenn sie uns den Tod auf Schritt und Tritt zeigt? Nimmermehr können wir glauben, daß diese Welt eine göttliche ist, die uns den Tod zeigt. Denn in Gott können nicht Übel, kann nicht das Böse sein, kann vor allen Dingen nicht das Urübel, das Urböse sein. In Gott kann nicht der Tod sein. Wenn also Gott in die Welt käme - ich wiederhole fast wörtlich, was Solowjow sagt-, wenn Gott in die Welt käme, wenn er in der Welt erschiene, könnten wir ihm so ohne weiteres glauben, daß er Gott sei? Nein, wir könnten Gott nicht ohne weiteres glauben, daß er Gott sei! Er müßte sich erst legitimieren! Wenn ein Wesen käme und behauptete, es wäre Gott, dann würden wir ihm nicht glauben. Dann müßte es sich erst legiti­mieren. Es müßte erst etwas aufweisen - so spricht Solowjow - wie ein Weltdokument, etwas, wodurch wir erkennen können: Das ist Gott! Und so etwas können wir in der Welt nicht finden. Gott kann sich durch das, was in der Welt ist, nicht legitimieren, denn das alles, was in der Welt ist, widerspricht dem Göttlichen. Wodurch also kann er sich legitimieren? Dadurch allein kann er sich legitimieren, daß er, wenn er auf die Welt kommt, zeigt, daß er Sieger über den Tod ist, daß der Tod ihm nichts anhaben kann. Wir würden niemals glauben, daß der Christus Gott ist, wenn er sich nicht legitimierte. Und er hat es getan, indem er auferstanden ist, indem er gezeigt hat, daß das Urübel, der Tod, nicht in ihm ist. - Also da haben wir ein Gottbewußtsein, das sich aufbaut nur auf einer wirklichen, historischen Auferstehung des Christus, die den Gott legitimiert als Gott. Nichts in der Welt als die Auferstehung läßt uns erkennen, daß es einen Gott gibt. Wäre Christus nicht auferstanden - dieser Paulus-Spruch ist es hauptsächlich, den Solowjow immer wieder anführt -, so wäre all unser Glaube eitel. Und eitel wäre alles, was wir sagen können über ein Göttliches in der Welt.

Daher der Satz Solowjows: Schauen wir die Welt an, so sehen wir in der Welt überall nur Übel und Böses und Verwesung und Sinn­losigkeit. Wäre Christus nicht auferstanden, so wäre die Welt sinnlos. Also ist der Christus auferstanden! - Merken Sie wohl diesen Satz! Denn dieser Satz, er ist ein Kardinalsatz eines der größten Geister des Ostens! Wäre Christus nicht auferstanden, so wäre die Welt sinnlos.

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Also ist der Christus auferstanden! - Solowjow hat gesagt: Es mag Leute geben, die glauben, es wäre nicht logisch, wenn ich sage: Wäre Christus nicht auferstanden, so wäre die Welt sinnlos; also ist er auf­erstanden! - Das ist aber eine viel bessere Logik - meint Solowjow -, als alle Logik, die ihr mir entgegenhalten könnt!

Ich habe Ihnen im Konkreten, gerade an diesem eigentümlichen Fordern eines Dokumentes für die Göttlichkeit von dem Gott, bei Solowjow gezeigt, wie eigentümlich im Osten die Gedanken sind; wie eigentümlich die Gedanken sich hinaufranken, um dasjenige, wo­durch der Gott unmittelbar zeigt, daß er der Gott ist, einmal zu er­greifen. Wie anders ist es im Westen, wie anders in Mitteleuropa! Wofür wenden wir geisteswissenschaftliches Streben auf? Versuchen Sie zu vergleichen und zu überblicken all dasjenige, was wir in der Geisteswissenschaft treiben! Was hat es denn für ein Ziel, worauf wollen wir denn hinaus? Wir wollen aus dem Wissen, aus der Er­kenntnis heraus, so daß wir es einsehen können, in der Welt erkennen, daß die Welt einen Sinn hat, daß die Welt Bedeutung hat, daß nicht bloß Übel und Verwesung in ihr sind. Unmittelbar durch die Er­kenntnis wollen wir begreifen, daß die Welt einen Sinn hat. Und wir wollen uns gerade vorbereiten dadurch, daß wir begreifen, daß die Welt einen Sinn hat, für ein Miterleben der Christus -Wesenheit. Wir wollen den lebendigen Christus erfassen. Allerdings als eine Gabe, als eine Gnade des Christus wollen wir all das entgegennehmen. Wir wissen, daß es so ist, was uns gegeben werden kann nach dem Aus­spruch: «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.» Wir wollen entgegennehmen all dasjenige, was uns der Christus fort­während verspricht. Denn nicht bloß durch die Evangelien spricht er, sondern auch in unseren Seelen. Das meint er mit dem Ausspruch : «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.» Immer kann er gefunden werden als der lebendige Christus. Wir wollen in ihm leben, ihn in uns aufnehmen: «Nicht ich, sondern der Christus in mir!» Das ist unser hauptsächlichster Paulinischer Ausspruch: «Nicht ich, sondern der Christus in mir !» Damit wir durch ihn sehen: Überall, wo wir hinkommen, ist Sinn! Faust schon wollte das sagen, indem er seine ganze Weltanschauung in den Worten aussprach:

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Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,

Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst

Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,

Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht

Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,

Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust

Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.

Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,

Die Riesenfichte, stürzend, Nachbaräste

Und Nachbarstämme quetschend, niederstreift,

Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,

Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust

Geheime tiefe Wunder öffnen sich.

Äußeres und Inneres geistig erfassen, Sinn überall erfassen, den Tod selbst sinnvoll erfassen, daß er der Durchgang ist von einer Lebens­form zur andern Lebensform! Und indem wir also den lebendigen Christus suchen, dann - den lebendigen Christus suchend - folgen wir ihm auch durch den Tod und durch die Auferstehung hindurch. Wir gehen nicht von der Auferstehung aus, wie der osteuropäische Mensch. Wir folgen dem Christus, von dem wir uns inspirieren lassen, dem Christus, den wir hineinnehmen in unsere Imaginationen. Wir folgen dem Christus bis zum Tode. Wir folgen ihm nicht nur, indem wir sagen : Ex deo nascimur -, sondern indem wir sagen : In Christo morimur. - Wir verfolgen die Welt und wissen, daß die Welt das Dokument ist, durch das Gott seine Göttlichkeit ausspricht. Wir können im Westen nicht sagen, indem wir erleben und erfassen wollen das geistige Weben und Walten : Wir brauchen ein Dokument, wenn Gott in die Welt hineinkommt und sich ausweisen soll -, sondern wir

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suchen überall den Gott. In der Natur und in den Menschenseelen suchen wir den Gott.

Daher bedarf aber auch diese fünfte nachatlantische Kulturepoche desjenigen, was wir pflegen in unseren brüderlichen Zweigvereini­gungen. Sie bedarf der bewußten Pflege, gleichsam jener geistigen Aura, die noch über uns schwebt, die von den Geistern der höheren Hierarchien gepflegt ist und hineinffießen wird in die Menschenseelen, wenn sie in der sechsten Kulturperiode leben werden. Wir wollen uns nicht an Totes wenden, wie der Osten. an die Gruppenseelen­haftigkeit, an die überbliebene Gemeinschaftlichkeit. Wir wollen das Lebendige pflegen von Kindheit auf, und das ist der Gemeinschafts­geist unserer Zweige. Wir wollen nicht suchen, was da unten im Blute rumort, um zusammenzurufen bloß die, bei denen etwas Ge­meinsames im Blut rumort, und das in irgendeiner Gemeinschaft pflegen. Wir wollen zusammenrufen die Menschen, die sich ent­schließen, Brüder und Schwestern zu sein, und die das über sich schwebend haben, was sie pflegen wollen, indem sie die Geistes­wissenschaft pflegen und den guten Geist der Brüderlichkeit über sich schwebend fühlen.

Dieses ist dasjenige, was wir als einen Weihegedanken bei der ersten Entfaltung eines unserer Zweige in uns aufnehmen. Damit weihen wir einen Zweig, wenn wir ihn begründen, ein. Gemeinsamkeit und Lebendigkeit! Gemeinsamkeit suchen wir über uns, den lebendigen Christus in uns, der kein Dokument braucht, der nicht erst durch die Auferstehung sich beglaubigen soll, der beglaubigt ist, weil wir ihn in uns selbst erleben. Die Gemeinsamkeit über uns, den Christus in uns : das machen wir zu unserem Wahlspruch, zu unserem Weihewahl­spruch, indem wir einen Zweig begründen. Und wir wissen : Ob zwei oder drei oder sieben oder viele, viele in diesem Sinne im Namen des Christus vereinigt sind, in ihnen lebt der Christus. Und alle jene, die in diesem Sinne den Christus als ihren Bruder anerkennen, sind selbst Schwestern und Brüder. Und diesen will der Christus als seinen Bruder anerkennen, der den andern Menschen als seinen Bruder anerkennt. Wenn wir in der Lage sind, solchen Weihewahlspruch in uns auf­zunehmen, mit solcher Gesinnung unsere Arbeit zu verrichten, dann

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wird der rechte Geist unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung in dieser unserer Arbeit walten. Auch in dieser schwierigen Zeit haben sich unsere geisteswissenschaftlichen Freunde von auswärts vereinigt mit denjenigen, die hier ihren Zweig begründet haben. Das ist immer cm schöner Brauch. Denn dadurch tragen die Weihegedanken, den Weihewahlspruch auch die andern, die in andern Zweigen arbeiten, hinaus. Und sie geloben sich, immer wiederum zu denken an die­jenigen, die in einem Zweige sich versprochen haben, miteinander im Sinne unserer Bewegung zu arbeiten. Und so wächst und wächst das­jenige, was wir als unsere unsichtbare Gemeinschaft durch die Art unserer Arbeit begründen wollen. Dann aber, wenn solche Gesinnung, mit unserer Arbeit sie verbindend, sich immer mehr ausbreitet, dann werden wir den durch die Geisteswissenschaft uns gestellten Forde­rungen für den Fortschritt der Menschheit gerecht. Und dann dürfen wir glauben, daß diejenigen, die da leiten als die großen Meister der Weisheit den menschlichen Fortschritt und das menschliche Wissen, bei unserer Arbeit unter uns sind. Und insoferne Sie, die Sie hier arbeiten, in dieser unserer geisteswissenschaftlichen Gesinnung arbei­ten, in demselben Sinne weiß ich, daß die hohen Meister, die wirklich unsere Bewegung leiten von den geistigen Welten aus, auch in der Mitte Ihres Arbeitens sein werden.

Von diesem Gesichtspunkte aus rufe ich heute die Kraft und die Gnade und die Liebe dieser Meister der Weisheit, die da lenken und leiten dasjenige, was wir als Arbeit in brüderlichen Vereinigungen in unseren Zweigen treiben, ich rufe die Gnade, ich rufe die Kraft, ich rufe die Liebe dieser Meister der Weisheit, die in unmittelbarem Zusammenhang stehen mit den Kräften der höheren Hierarchien, über die Arbeit auch dieses Zweiges hernieder. Möge das, was der gute Geist von Euch, Ihr großen Meister, und möge das, was der gute Geist unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung ist, mit diesem Zweige sein. Möge es in ihm walten und wirken!

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ERFAHRUNGEN DES MENSCHEN NACH DEM DURCHGANG DURCH DIE TODESPFORTE Düsseldorf, 17. Juni 1915

Es ist öfter gesagt worden im Zusammenhang mit mancher geisteswissenschaftlichen Betrachtung, daß es sich innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung und ihrer Bestrebungen vor allen Din­gen nicht nur darum handelt, theoretisch aufzunehmen diejenigen Be­griffe und Ideen, die man sich durch Geisteswissenschaft aneignen kann, sondern daß die geisteswissenschaftlichen Ergebnisse eingehen sollten in die innersten Bewegungen, die innersten Impulse unseres seelischen Lebens. Gewiß, wir müssen ausgehen von den Ergebnis­sen der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, und solche Erkennt­nisse kann man sich nur aneignen, wenn man sie eben studiert, sich im einzelnen damit beschäftigt. Aber Geisteswissenschaft soll nicht so aufgenommen werden wie eine andere Wissenschaft, so daß man hin­terher gewissermaßen bloß weiß, man habe dieses oder jenes gehört, dieses oder jenes sei wahr in bezug auf das eine oder andre in der Welt, sondern Geisteswissenschaft soll so auf unsere Seele wirken, daß diese Seele anders werde in diesem oder jenem Empfindungsgebiet, daß sie anders werde durch die Aufnahme desjenigen, was aus der Geistes­wissenschaft herausfließen kann. Die Begriffe, Ideen und Vorstellun­gen, die wir durch Geisteswissenschaft aufnehmen, sollen unsere Seele im Innersten aufrütteln, sollen sich vereinigen mit unserem Empfinden, so daß wir durch Geisteswissenschaft lernen, die Welt nicht nur anders anzuschauen, sondern auch anders zu empfinden. In gewisse Lebenslagen sich ganz anders hineinzufinden, als dies ohne Geisteswissenschaft möglich ist, das sollte eigentlich der Geisteswis­senschafter. Und wenn er das kann, dann hat er im Grunde erst das erreicht, was aus der Geisteswissenschaft uns erfließen soll.

Wir leben heute in einer schweren Zeit, in welcher uns ja etwas von der wichtigsten Frage der Geisteswissenschaft, der Frage des Todes in so unzählbaren Fällen vor Augen, vor die Seelen, vor die Herzen tritt, dem einen näher, dem andern ganz nahe. Der Geisteswissenschafter

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sollte auch in dieser Zeit Geisteswissenschaft gefühls­mäßig bewähren können. Er sollte anders zu den Ereignissen der Zeit stehen können, auch dann, wenn sie ihn noch so nahe berühren, als der andere. Trost wird gewiß der eine, Aufmunterung wird der andere brauchen; aber das sollen beide auch in der Geisteswissenschaft finden. Dann erst, wenn dies der Fall sein kann, haben wir Geisteswissenschaft nach dem, was sie will, im richtigen Sinne verstanden.

Wir müssen durch die Vorstellungen der Geisteswissenschaft schon dadurch eine gewisse Erschütterung in unserer Seele erfahren, daß wir über manche Dinge ganz anders fühlen lernen, als wir ohne Gei­steswissenschaft über irgend etwas in der Welt fühlen können. Neh­men Sie vieles von dem zusammen, was über das Rätsel des Todes innerhalb unserer Geisteswissenschaft schon gesagt worden ist, so werden Sie verstehen können, was ich auch heute nicht nur wieder­holend, sondern manches ausführend, in Anknüpfung an manche frü­here Betrachtung anführen möchte. Wir müssen über den Tod nicht nur anders denken lernen, sondern wir müssen über den Tod anders fühlen lernen. Denn das Rätsel des Todes hängt in der Tat mit den tiefsten Welträtseln zusammen. Seien wir uns nur ganz klar darüber, daß wir all dasjenige, wodurch wir uns in der physischen Welt Wahr­nehmungen und Kenntnisse verschaffen, wodurch wir von der äuße­ren Welt etwas erfahren, ablegen, wenn wir durch die Pforte des Todes treten. Wir verschaffen uns in der physischen Welt durch unsere Sinne die Eindrücke der Welt. Diese Sinne legen wir ab, wenn wir in die geistige Welt eintreten. Wir haben dann die Sinne nicht mehr. Das schon muß uns ein Beweis dafür sein, daß wir uns, wenn wir über die übersinnliche Welt denken, bemühen müssen, anders zu denken, als wir zu denken gelernt haben durch unsere Sinne.

Gewiß, wir haben eine Art von Anhaltspunkt, indem auch in das gewöhnliche Leben, das wir zwischen Geburt und Tod verbringen, etwas Analoges, etwas Ähnliches von den Erlebnissen in der geistigen Welt hineinragt. Das sind die in das gewöhnliche Leben hereinragen­den Traumerlebnisse. Die Traumerlebnisse werden uns nicht durch unsere Sinne; mit den Traumerlebnissen haben unsere Sinne wirklich nichts zu tun. Dennoch sind sie in Bildern bestehend, die manchmal

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an das Leben durch die Sinne erinnern. Wir haben in diesen Traum-erlebnissen, wenn auch einen schwachen Abglanz, so doch eben einen Abglanz der Art, wie uns das geistige Dasein als imaginative Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt entgegentritt. Imagina­tive Wahrnehmungen haben wir allerdings nach dem Tode; in Bil­dern taucht das Erleben auf. Nur wenn Sie in der sinnlichen Welt zum Beispiel eine rote Farbe sehen und den Gedanken hegen müssen : Was ist hinter dieser roten Farbe? - dann werden Sie sich sagen : Da ist etwas, was den Raum erfüllt, etwas Materielles ist dahinter. - Die rote Farbe erscheint Ihnen auch in der geistigen Welt, aber dahinter ist nicht ein Materielles, nicht etwas, was im gewöhnlichen Sinne einen materiellen Druck ausüben würde. Hinter dem Roten ist ein Geistiges, ein seelisches Wesen; hinter dem Roten ist dasselbe, was Sie als Ihre Welt fühlen in Ihrem Seelischen. Man möchte sagen : Von den Sinneseindrücken steigen wir hinunter zu der materiellen Welt, äußerlich im physischen Ich, hinauf steigen wir von den Imaginatio­nen immer mehr in geistige Regionen in der geistigen Welt. Und des­sen müssen wir uns nun klar sein - es ist das besonders stark erwähnt worden in der neueren Auflage meiner «Theosophie» -, daß auch diese Imaginationen uns nicht so entgegentreten wie die sinnlichen Eindrücke der physischen Welt. Sie sind dort gewiß da, diese Imagi-nationen, aber sie treten als Erlebnisse auf: Das Rot, das Blau sind dort Erlebnisse. Man kann diese Imaginationen mit Recht rot oder blau nennen, aber sie sind doch eben etwas anderes als die Sinnes­eindrücke der physischen Welt. Sie sind viel innerlicher, und wir sind viel mehr mit ihnen verbunden. Außerhalb der roten Farbe der Rose sind Sie selbst, in der roten Farbe der geistigen Welt fühlen Sie sich darinnen, Sie sind mit der roten Farbe verbunden. Indem Sie in der geistigen Welt ein Rotes wahrnehmen, entwickelt sich ein Wille, ein stark wirksamer Wille eines geistigen Wesens. Und dieser Wille strahlt, und das, was er strahlt, ist rot. Aber Sie fühlen sich in dem Willen darin, und dieses Darinsein, dieses Darinfühlen, dieses Erlebnis bezeichnen Sie dann selbstverständlich als rot. Ich möchte sagen, die physische Farbe ist wie das gefrorene geistige Erlebnis, wie das erstarrte geistige Erlebnis. Und so müssen wir uns auf vielen Gebieten

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die Möglichkeit aneignen, etwas anderes zu denken, unseren Vorstellungen andere Werte und Bedeutungen zu geben, wenn wir uns wirklich erheben wollen zu einem Begreifen der geisti­gen Welt.

Dann müssen wir uns klar sein, daß oben in der geistigen Welt dasjenige, was wir Imaginationen nennen, im Verhältnis zu den gei­stigen Wesen, deren Ausdruck zum Beispiel die Farben sind, auch nicht so ist wie das Verhältnis einer Farbe zu einem sinnlichen Wesen. Die Rose ist rot, das ist eine Eigenschaft der Rose. Aber wenn ein Geist in die Nähe kommt und wir nach dem, was jetzt gesagt worden ist, das Bewußtsein haben müssen : Der Geist strahlt rot-, so bedeutet das Rot nicht in ähnlicher Weise eine Eigenschaft des Geistes, wie das Rot der Rose eine Eigenschaft bedeutet; sondern dieses Rot ist mehr eine Art Offenbarung des Inneren des Geistes, es ist mehr ein Schriftzeichen, das der Geist hinsetzt in die geistige Welt. Und man muß erst durchschauen durch die Imaginationen. Die Tätigkeit, die man da entwickelt, ist in der physischen Welt nur in ihrem ahrimani­schen Abbild zu erreichen, nämlich mit dem Lesen. Die rote Farbe an der Rose schauen wir an, dann werden wir uns bewußt : Rot ist die Eigenschaft der Rose. Das Rot in der geistigen Welt schauen wir nicht bloß an, sondern wir deuten es, aber nicht spintisierend - davor muß ich immer wiederum warnen -, sondern unsere Seele findet schon von selbst, daß damit etwas gegeben ist wie ein Laut, ein Buchstabe, wie etwas, was entziffert, gelesen werden soll, wodurch man erst erkennt, was gemeint ist. Der Geist meint etwas, wenn er sich als rot oder blau oder grün, oder wenn er sich als Cis oder gis offenbart. Der Geist meint etwas damit; man fängt an, mit dem Geist zu sprechen, man fängt an, seine Schrift zu lesen. Darauf beruht die äußere Kultur, daß solche Dinge, die in der geistigen Welt ihre tiefe Weisheit tragen, dann auch in die äußere Welt herausverpflanzt werden. Wir sprechen mit Recht von einem okkulten Lesen, denn derjenige, der sich das hellsichtige Bewußtsein aneignet, der in die geistige Welt eintritt, der die Imaginationen anschaut und in ihnen liest, schaut durch sie auf den Grund der Seele in der geistigen Welt, nicht bloß durch Farben, sondern auch durch andere Eindrücke, solche Eindrücke, die an Sinneseindrücke

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erinnern, und solche, die neu hinzukommen in der Gei­stigkeit.

Diese Tätigkeit, die eine rein seelisch geistige Tätigkeit ist, unter­steht gewissermaßen der Regierung der richtig fortschreitenden gei­stigen Wesenheiten. Hier in der physischen Welt schafft Ahriman ein Abbild. Gerade von dem, was ich jetzt charakterisiert habe, von die­sem okkulten Lesen, ist das äußere Lesen von Schriftzeichen in der physischen Welt ein ahrimanisches Abbild. Denn alles Lesen in der physischen Welt durch Zeichen, die künstlich ausgebildet worden sind, ist eine ahrimanische Tätigkeit. Gar nicht mit Unrecht ist die Erfindung der Buchdruckerkunst als eine ahrimanische Kunst emp­funden worden, als eine « schwarze Kunst», wie man sie genannt hat. Man darf eben nicht glauben, daß man durch irgendwelche Verrich­tungen aus den Kiauen von Luzifer und Ahriman kommen könne. Luzifer und Ahriman müssen in der äußeren Kultur darinnen sein. Es handelt sich nur darum, daß man seinen gleichmäßigen Weg fort-schreite, indem das Leben nach der luziferischen und ahrimanischen Seite fortwährend ausschlägt. Wenn jemand gar nicht von Ahriman berührt sein wollte, müßte er schon niemals lesen lernen. Aber dar­um handelt es sich nicht, daß wir Ahriman und Luzifer fliehen, son­dern darum handelt es sich, daß wir in das richtige Verhältnis zu ihnen kommen; daß wir, trotzdem sie als Kräfte um uns herum da sind, uns in der richtigen Weise zu ihnen stellen können. Wenn wir wissen, wir folgen dem, was wir so oft als den Christus-Impuls in der Weltentwickelung geschildert haben, und wenn wir uns die geistigen Empfindungen aneignen, die uns in jedem Augenblicke unseres Lebens den Willen auferlegen, diesem Impuls zu folgen, dann kön­nen wir auch lesen. Dann können wir erfahren - und wir werden es schon, wenn es nach unserem Karma für uns recht ist -, daß Ahriman auch das Lesen eingerichtet hat, und wir werden diese ahrimanische Kunst im rechten Lichte sehen. Wenn wir das nicht erfahren, dann deklamieren wir die Worte, die die ahrimanische Kultur eingesetzt hat, von dem großen Fortschritt, von der Glorie der äußeren ahrima­nischen Kultur, zum Beispiel des Lesens.

Aber alle diese Dinge legen auch Pflichten auf, und darum handelt

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es sich, daß solche Pflichten auch eingehalten werden. Gerade in unserer jetzigen Zeit kann vieles angeführt werden, um dieses oder jenes zu verteidigen oder anzuklagen. Wahrhaffig, wir haben das, was wir eine flutende Kriegsliteratur nennen können. Jeder Tag bringt nicht nur Broschüren, sondern auch Bücher und so weiter. Da kön­nen Sie oft auch lesen : Dieses Land hat so viele Analphabeten; in dem andern Lande können so und so viele lesen und schreiben, und dergleichen. Sich dies ohne weiteres zu eigen zu machen, würde nicht dem gemäß sein, was der in der Geisteswissenschaft Bewanderte aus seiner Verantwortlichkeit heraus zu sagen hat. Würde ich zum Bei­spiel unter demjenigen, was ich mit Bezug auf unsere Zeit anzuführen habe, alles besonders Schlimme bei einem Volke andeuten wollen, und um das anzudeuten, sagen, bei dem Volke sind so und so viele, die nicht lesen und so und so viele, die nicht schreiben können, so würde ich nicht in der richtigen Weise geisteswissenschaftlich spre­chen. Da mussen immer nur die Dinge angeführt werden, die man verantworten kann gegenüber den okkulten Pflichten. Daraus sehen Sie - ich wollte das nur als Beispiel anführen -, daß Geisteswissen­schaft in diesem tieferen Sinne auch wirklich in das Leben übergehen muß und Pflichten auferlegt. Und wenn solche Dinge, welche die andern auch sagen, gesagt werden, dann werden Sie immer verfolgen können, daß der ganze Zusammenhang, in dem sie bei dem Geistes-wissenschafter gesagt werden, dasjenige ist, worauf es ankommt. Da­her wird selbstverständlich manches demjenigen, der nicht mit Gei­steswissenschaft bekannt ist, dann, wenn es in der Geisteswissenschaft gesagt ist, noch ganz sonderbar vorkommen können, weil er gewöhnt ist, andere Vorstellungen zu haben, und manchmal sich sagen müs­sen : Diese Geisteswissenschaft nennt ja das Schwarze weiß, und das Weiße schwarz! - Und er hat nach seiner Meinung recht. Es ist manch­mal notwendig, denn wenn man mit den gewöhnlichen Vorstellungen und Begriffen, die man sich in der physischen Welt aneignet, in die geistige Welt aufsteigt, so ist es wirklich so, daß manche Begriffe gründlich geändert werden müssen.

Nehmen wir von diesem Gesichtspunkte aus einen der wichtigsten, rätselhaftesten Begriffe, die wir uns aneignen müssen aus den Eindrücken

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der physischen Welt heraus, den Begriff des Todes. In der physischen Welt sieht der Mensch den Tod ja immer nur von der einen Seite, von der Seite, daß er das menschliche Leben sich ent­wickeln sieht bis zu dem Punkte hin, wo der Mensch stirbt, das heißt, wo der physische Leib zunächst von den höheren Gliedern der Men­schennatur wegfällt und dann innerhalb der physischen Welt seine Auflösung findet. Man kann wirklich sagen, das, was da der Mensch über den Tod sieht innerhalb der physischen Welt, heißt : den Tod von der einen Seite anschauen. Von der andern Seite aber den Tod anschauen heißt, ihn wirklich in einem entgegengesetzten Lichte an­schauen, heißt, ihn ganz anders, gründlich anders sehen.

Wenn wir durch die Geburt in das physische Leben eintreten, machen wir zunächst etwas durch, was wir so erleben, daß der Höhe­punkt des physischen Bewußtseins bei uns noch nicht völlig erreicht ist. Sie wissen ja, an die ersten Jahre unseres Erlebens erinnern wir uns mit dem gewöhnlichen physischen Bewußtsein nicht zurück. Nie­mand kann sich mit dem gewöhnlichen physischen Bewußtsein an seine Geburt erinnern. Wenigstens wird kein Mensch in der Welt auf­treten, der behaupten wird, er könne sich nach seinem physischen Bewußtsein erinnern, wie er geboren worden ist. Wir können sagen : Das ist eine Einrichtung des physischen Bewußtseins, daß vergessen werden muß die Geburt des Menschen. Sie wird vergessen, auch noch die ersten Jahre des physischen Erlebens werden vergessen. Wenn wir im physischen Leben zwischen Geburt und Tod auf unser Leben zurückblicken, erinnern wir uns bis zu einem gewissen Punkte. Dann bricht das Erinnern ab. Der Punkt, wo es abbricht, ist nicht unsere physische Geburt, sondern es geht ein Erleben voraus. Kein Mensch kann das erfahren, kann das wissen, daß er geboren ist. Er kann es nur schließen. Daraus schließen wir es, daß wir geboren sind - und nur daraus -, daß nach uns Menschen geboren werden, deren Geburt wir wahrnehmen. Wenn der Naturforscher behauptet, er wolle nur zugeben, was gesehen werden kann, so könnte nach diesem Grund­satz, wenn er logisch sein will, niemand seine Geburt behaupten, denn unmöglich ist es, anders als hellsichtig seine Geburt wahrzunehmen ; man kann nur auf sie schließen.

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Genau das Entgegengesetzte findet nun statt mit Bezug auf den Tod. Das ganze Leben hindurch zwischen Tod und neuer Geburt steht dem Menschen als der lebendigste, als der hellste Eindruck der Moment des Todes, den er vorher durchgemacht hat, vor dem Seelen-auge. Aber glauben Sie nicht, daß Sie daraus etwa schließen dürfen, es wäre dies ein schwieriger Eindruck. Da würden Sie glauben, daß der Tote auf das zurückschaut, was Sie in der physischen Welt vom Tode sehen, den Zerfall, den Untergang. Er sieht den Tod aber von der andern Seite; er sieht in dem Tod etwas, was man als das Aller-schönste auch in der geistigen Welt bezeichnen muß. Denn es gibt in dem, was der Mensch zunächst normalerweise in der geistigen Welt erleben kann, nichts Schöneres als den Anblick des Todes. Diesen Sieg des Geistes über das Materielle, dieses Aufleuchten des geistigen Lichtes der Seele aus der dunklen Finsternis des Materiellen zu schauen, das ist das Größte, das ist das Bedeutsamste das geschaut werden kann auf der andern Seite des Lebens, die der Mensch zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt durchmacht.

Wenn der Mensch den Ätherleib zwischen Tod und neuer Geburt ablegt und allmählich sein Bewußtsein voll gebildet hat, was ja nicht sehr lange Zeit nach dem Tode geschieht, dann ist es so, daß er nicht so zu sich steht, wie er hier in der physischen Welt zu sich steht. Wenn der Mensch hier in der physischen Welt schläft, ist er seiner unbewußt, und wenn er aufwacht, so wird er sich dessen bewußt, daß er jetzt weiß : Ich habe ein Selbst, ein Ich in mir. Nach dem Tode in der gei­stigen Welt ist das etwas anderes - da ist sein Selbstbewußtsein auf einer höheren Stufe -, es ist dann nicht genau so. Ich werde gleich davon sprechen, wie es ist. Aber es gibt dort auch etwas wie ein Sich-Besinnen auf das Ich, das Selbst. Geradeso wie man sich des Morgens beim Aufwachen auf das Selbst besinnen muß, so ist es in der geistigen Welt auch. Aber dieses Sich-Besinnen ist ein Zurückblicken zu dem Moment des Todes. Immer ist es so, als wenn wir, um unser Ich wahrzunehmen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, uns sag­ten : Du bist wirklich gestorben, also bist du Ich, bist du ein Ich!

Das ist das Bedeutungsvollste : Man blickt zurück auf den Sieg des Geistes über den Leib, man blickt zurück auf den Moment des Todes,

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der das Schönste der geistigen Welt ist, das erlebt werden kann. Und in diesem Zurückblicken wird man seines Selbstes in der geistigen Welt gewahr. Das ist immer, man kann nicht sagen, wie ein Auf­wachen - da würde man auch die Begriffe einseitig prägen -, es ist die Besinnung auf sich, zu seinem Tode zurückzublicken. Daher ist es so wichtig, daß der Mensch die Möglichkeit hat, mit vollem nach­todlichem Bewußtsein - einem Bewußtsein, das nach dem Tode ein­tritt - wirklich zurückzublicken auf den Moment des Todes, damit er nicht in irgendeiner Weise bloß träumt, was er da schaut, sondern voll verstehen kann, was er schaut ; das ist ungeheuer wichtig. Und dazu können wir uns allerdings schon während des Lebens dadurch vorbereiten, daß wir versuchen, Selbsterkenntnis zu üben. Nament­lich ist das von unserer Zeit ab der Menschheit notwendig, Selbst­erkenntnis zu üben. Im Grunde ist alle Geisteswissenschaft dazu da, um dem Menschen diejenige Selbsterkenntnis zu geben, die ihm not­wendig ist. Denn Geisteswissenschaft ist eigentlich eine Einführung in des Menschen erweitertes Selbst, jenes Selbst, durch das man im Grunde der ganzen Welt angehört. Ich sagte, das Bewußtsein ist nach dem Tode etwas anderes als hier in der physischen Welt. Wenn ich Ihnen das ganz graphisch darstellen möchte, wie das Bewußtsein nach dem Tode ist, so könnte ich das in folgender Weise tun.

Nehmen Sie an, hier hätten wir ein Auge, und hier hätten wir einen Gegenstand. Wodurch erlangen wir das Bewußtsein, daß da ein Gegenstand außer uns ist? Nun, dadurch, daß der Gegenstand einen Eindruck auf unser Auge macht. Der Gegenstand macht einen Ein­druck auf unser Auge, und wir lernen etwas von dem Gegenstand wissen. Der Gegenstand ist draußen in der Welt, er macht einen Ein­druck auf unsere Sinne, und wir nehmen die Vorstellung, die wir uns von dem Gegenstand bilden können, in uns herein, in unsere Seele herein. Der Gegenstand ist außer uns. Die Vorstellung, die wir uns dann bilden, hat er uns dann überliefert. Anders ist es nun in der gei­stigen Welt. Und weil ich es graphisch nicht anders darstellen kann, möchte ich das, was ich immer Seelenauge nenne, Ihnen auch, trotz­dem es strenggenommen unrichtig ist, als Seelenauge zeichnen. Die­ses Seelenauge, das der Mensch nach dem Tode hat, ist nun so veranlagt,

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daß der Mensch nach dem Tode zum Beispiel einen Engel oder eine andere Menschenseele, die auch in der geistigen Welt ist, nicht so sieht, wie er eine Blume in der physischen Welt sieht, sondern dieses Seelenauge ist so veranlagt - lassen wir zunächst eine Men­schenseele außer Betracht, sehen wir nur auf eine Wesenheit der höhe­ren Hierarchie -, daß es, wenn hier eine Engeiwesenheit ist, eine Erz­engelwesenheit, als Auge nun nicht das Bewußtsein hat : Ich sehe da außer mir dieses Engelwesen -, sondern : Ich werde von dem Engel-wesen gesehen, das sieht mich. - Es ist gerade das Umgekehrte der physischen Welt. So leben wir uns in die geistige Welt hinein, daß wir das Bewußtsein bekommen gegenüber den Wesen der höheren Hierarchien, daß wir von innen gewußt werden, daß sie uns denken. Wir fühlen uns in ihnen darin eingebettet, wir fühlen uns erkennt­nisgemäß ergriffen von den Engeln, Erzengeln, Geistern der Persön­lichkeit, wie Minerakeich, Pflanzenreich, Tierreich sich von uns er­griffen fühlen.

Nur in bezug auf Menschenseelen ist es so, daß wir sowohl von ihnen gesehen werden können, so daß wir das Gefühl haben, sie sehen uns, wie wir auch das Gefühl haben, das, was unser Schauen ist, geht in sie hinüber. Es ist ein Sehen bei uns und bei den Menschenseelen. Allen andern Wesen der höheren Hierarchien gegenüber haben wir das Gefühl, wir werden von ihnen wahrgenommen, gedacht, vor­gestellt ; und indem wir von ihnen wahrgenommen, gedacht, vor­gestellt werden, sind wir in der geistigen Welt darin. Und das ist dann so : Nehmen wir an, wir wandeln als Seele in der geistigen Welt

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umher, wie wir in der physischen Welt herumwandeln. Dann ist es so, daß wir überall das Gefühl haben, in Beziehung zu treten zu den Wesenheiten der höheren Hierarchien, wie wir hier in der physischen Welt das Gefühl haben, in Beziehung zu treten zum Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich. Nur brauchen wir immer wieder die Besin­nung, daß wir ein Selbst haben. Dann blicken wir auf unseren Tod hin und sagen uns : Das bist du! - Das ist ein fortdauerndes Bewußt­sein, ein fortdauernder Inhalt des Bewußtseins.

Das heute Gesagte kommt zu den verschiedenen Vorstellungen da­zu, die Sie aus Zyklen und Büchern aufnehmen können. Es ist mehr seelisch gesprochen als dasjenige, was zum Beispiel in dem Buche «Theosophie» mehr der äußeren Anschauung nach gesprochen ist. Aber erst dadurch, daß man so etwas recht seelisch auskaut, kommt man so recht hinein in die Empfindungen, die man diesen Dingen gegenüber und überhaupt der geistigen Welt gegenüber haben muß.

Selbsterkenntnis ist daher dasjenige, was uns fördert, was uns stark macht für das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Es konnte mir dieses neuerdings wiederum mit besonderer Lebhaftigkeit gegenübertreten, als ich die Aufgabe hatte, nach dem Hingang von Freunden unserer Sache einige Male bei der Einäscherung zu spre­chen. Da stellte sich immer die Notwendigkeit heraus, irgend etwas zu sprechen, das innig zusammenhängt mit dem Charakter, dem Selbst der betreffenden, durch die Pforte des Todes Gegangenen. Warum kam immer instinktiv, möchte man sagen oder intuitiv, die Notwen­digkeit, den Toten etwas nachzurufen, was mit ihrem Wesen zusam­menhing? Das zeigte sich eben durch das Leben der Betreffenden nach dem Tode. Es kommt ihnen zu Hilfe in der Kraft der Selbst-erkenntnis. Indem man von diesen Eigenschaften, die sie in sich selbst fühlen, unmittelbar nach dem Tode, wo ihr Bewußtsein noch nicht erwacht war, sprach, konnte man ihnen gleichsam zufließen lassen etwas von der Kraft, die sie brauchen, um allmählich die Möglichkeit auszubilden, hinzuschauen auf den Moment des Todes, wo ihre ganze Wesenheit konzentriert erscheint, wie sie sich entwickelt hat zwischen Geburt und Tod. Man kommt also den Toten zu Hilfe, wenn man ihnen gerade nach dem Tode etwas zufließen läßt, was sie an Eigenschaften,

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an Erlebnisse und so weiter erinnert, welche die ihrigen waren. Man befördert dadurch die Kraft der Selbsterkenntnis. Und wenn man hellsichtig die Möglichkeit hat, sich hineinzuversetzen in die Seele eines solchen Toten, dann verspürt man in seiner Seele den Drang, gerade in dieser Zeit etwas zu hören über die Art, wie er war, über das oder jenes, was er durchgemacht hat, oder seine Haupteigen­schaften. Sie können begreifen : Wie hier auf Erden das Leben des einen Menschen nicht dem Leben des andern gleicht, sondern wie alle Menschen Leben haben, die voneinander verschieden sind, so ist es auch bei denen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Nicht ein Seelenleben gleicht dem andern zwischen Tod und neuer Geburt. Ich möchte sagen : Jedes Seelenleben, das man da beobachten kann, ist immer wiederum eine neue Offenbarung, und immer kann man nur einzelne besondere Eigenschaften herausheben. Ich möchte heute und dann auch übermorgen in Köln über solche Dinge spre­chen. Ich möchte von einem konkreten Fall als Beispiel sprechen.

Wir haben in Dornach vor einiger Zeit ein Mitglied den physischen Plan verlassen sehen, das zu ziemlich hohen Jahren gekommen war. Ein Mitglied, das sein Leben jedenfalls in emsiger Arbeit, fürsorg­licher Arbeit verbracht hat, aber in den letzten Jahren, seit längerer Zeit schon mit tiefster Seele mit unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung verbunden war, diese geisteswissenschaftliche Welt­anschauung auspragte in der eigenen Seele und mit ihrem Herzen ganz dabei war. So daß man sagen kann : diese Persönlichkeit war so weit gekommen, daß sie in den letzten Zeiten ihres physischen Daseins ganz eins war mit unserer Weltanschauung, dem Empfinden, dem Fühlen nach ganz eins war. Nun wissen Sie, daß der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes tritt, zuerst seinen physischen Leib ablegt, dann noch eine Weile den Ätherleib an sich trägt und dann auch den Ätherleib ablegt. Und dann kommt eine Zeit, wo der Mensch erst nach und nach das Bewußtsein erringen muß, welches ihm dann zwi­schen dem Tode und einer neuen Geburt eigen sein muß. Unmittelbar nach dem Tode ist der Mensch in seinem Ätherleibe. Da erlebt der Mensch, wir wissen das, einen vollen Rückblick, wie ein großes Lebenstableau, wie er sein Leben zwischen Geburt und Tod durchgemacht

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hat. In dieser Zeit treten auch in seiner Seele, man möchte sagen, wie mit einem Schlage, ganz besonders die kraftvollen Impulse auf, so daß manches, was gerade in dieser Beziehung bedeutungsvoll ist, nach dem Tode noch ganz anders auftreten kann als während des Lebens. Während des Lebens ist der Mensch ja vielfach gefesselt durch die Grenzen, die ihm sein physischer Leib setzt. Unmittelbar nach dem Tode hat man die Schwere, das Drückende, Feste, das die Deutlichkeit mancher Seelenimpulse Abschwächende des Physischen überwunden. Man hat noch den Ätherleib an sich; man hat daher noch nicht das Bewußtsein, das man im Leben hatte, voll verloren. Es ist eine ganz imaginative Welt, die erstens die Bilder des vergangenen Lebens enthält, dann aber die besonders starken Impulse enthält. Wenn nun eine Seele während des Lebens so ganz mächtig die Im­pulse der Geisteswissenschaft aufgenommen hat, wenn diese Seele diese Impulse bis zum innersten Fühlen und Empfinden herein­gebracht hat in sich, dann kann sie diese Eindrücke nach dem Tode auch in einer ganz andern Weise entfalten, da sie den elastischen, füg­samen Ätherleib zur Verfügung hat, der dann nicht mehr gefesselt ist an dasjenige, was der physische Leib zuläßt. Das konnte man beson­ders bei jener Persönlichkeit sehen, von der ich jetzt eben gesprochen habe, die ganz kurz nach dem Tode, nachdem es eben gelungen war, sich ganz in ihre Seele zu versetzen, aus dieser Seele herausfließen ließ dasjenige, was aus den geisteswissenschaftlichen Impulsen in ihr gelebt hat. Sie hätte ganz gewiß während des Lebens und vielleicht auch unmittelbar nach dem Tode, nicht nach derselben Weise in physische Worte geprägt, sie hätte noch nicht in physische Worte prägen kön­nen, was Geisteswissenschaft aus ihr machte, weil der Leib sie von allen Seiten bedrängte. Nun war sie heraus aus dem physischen Leibe, war in der ätherischen Welt, da prägte sich dasjenige, was sie durch Geisteswissenschaft aufgenommen hatte, so, daß es zum Ausdruck der Seele der betreffenden Persönlichkeit wurde. Und ich hatte dann die Notwendigkeit, daß ich ein paar Tage darauf bei der Einäscherung der betreffenden Persönlichkeit gerade die Worte zu sprechen hatte, die ich vernommen hatte unmittelbar aus dieser Seele, die also ihr gehörten, nicht mir - ich hatte diese Worte bei der Einäscherung auszusprechen :

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In Weltenweiten will ich tragen

Mein fühlend Herz, daß warm es werde

Im Feuer heil'gen Kräftewirkens ;

In Weltgedanken will ich weben

Das eigne Denken, daß klar es werde

Im Licht des ew'gen Werde-Lebens ;

In Seelengtünde will ich tauchen

Ergeb'nes Sinnen, daß stark es werde

Für Menschenwirkens wahre Ziele:

In Gottes Ruhe streb' ich so

Mit Lebenskämpfen und mit Sorgen,

Mein Selbst zum höhern Selbst bereitend ;

Nach arbeitfreud'gem Frieden trachtend,

Erahnend Welten-Sein im Eigensein,

Möcht ich die Menschenpflicht erfüllen ;

Erwartend leben darf ich dann

Entgegen meinem Schlcksalssterne,

Der mir im Geistgebiet den Ort erteilt.

Man kann sagen, das ist in Worten, die nun die Empfindung nach dem Tode ausdrücken und prägen, dasjenige, was die Seele durch Geistes­wissenschaft gewonnen hat. Dann kam die Zeit, die ja jeder nach dem Tode mehr oder weniger durchzumachen hat, die man nur uneigent­lich eine Schlafenszeit nennt, denn wenn man den Ätherleib abgelegt hat, so ist man eigentlich gleich ganz darinnen in der geistigen Welt, nur ist man geblendet. Man ist in der Fülle der geistigen Welt dar­innen, doch geblendet. Man kann das nicht alles überschauen, man muß erst seine Kraft, die man mitbtachte durch den Tod, anpassen dieser geistigen Welt ; man muß sich erst herabstimmen, und das dauert einige Zeit. So daß man mehr sagen könnte : Man sieht zuviel, das Bewußtsein ist da, und man muß es erst herabstimmen bis zu den

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Kräften, die man gewonnen hat. Dann fängt man an, sich orientieren zu können und wirklich zu leben in der geistigen Welt. Es ist eigent­lich nicht ganz richtig gesprochen, wenn man sagt, man wache nach einiger Zeit zum Bewußtsein auf, sondern man muß sagen, man habe zuviel Bewußtsein und müsse es herabstimmen bis zu dem Grade, den man ertragen kann. Das ist dann das Aufwachen. Die Seele, von der ich Ihnen eben gesprochen habe, kam daher in dieses - wenn der Ätherleib abgelegt ist - Nicht-ertragen-Können des Geisteslichtes. Aber sie hatte viel Kraft ; Sie sehen es den Worten an, die ich gelesen habe, und daß diese Kraft allmählich ganz durchdrungen worden war von dem, was aus dem menschlichen Fühlen und Wollen Geisteswis­senschaft machen kann. Daher kam es, daß die Persönlichkeit, die Wesenheit, die Seele, einige Zeit nach dem Tode dann zum Bewußt­sein kam, zu einem Bewußtsein, das dieser Wesenheit erträglich war. Natürlich wäre viel zu schildern über die Zeit, die dann beginnt für eine Seele, wenn man alles schildern wollte, was da eine solche Seele erlebt. Man schildert ja immer nur Teile ; und es gehört selbstver­ständlich, indem wir innerhalb unserer Bewegung stehen, gerade zu dem Bedeutsamsten, das an den Seelen zu beobachten, was diese See­len mit unserer Bewegung verbindet. Man kann an dem lernen, was überhaupt Menschenseelen nach dem Tode mit der ganzen Welt ver­bindet ; aber man kann am besten an solchen Seelen das beobachten, was das Leben der Seele nach dem Tode ist, besonders dann, wenn sie einem so nahegetreten ist wie diese Seele, von der ich jetzt hier spreche. Und so kam es denn, daß zuerst beobachtet werden konnte gerade bei dieser Seele, wie sie zum sich orientierenden Bewußtsein kam, an der Teilnahme an unseren Versammlungen, wirklich an der Teilnahme an unseren Versammlungen. Und voll ausgeprägt war diese Teilnahme bei einem Dornacher Osterfest dieses Jahres, an jenem Osterfest, wo versucht worden ist, besonders die Tiefe des Gedan­kens des Osterfestes unseren lieben Freunden dort in Dornach aus­einanderzusetzen. Da war diese Seele anwesend. Sie nahm teil; wie sie früher mit inniger Wärme teilgenommen hatte, so nahm sie jetzt als Seele teil. Und sie wollte sich aussprechen, wie mancher ja auch im physischen Leibe das Bedürfnis hat, sich nachher über dasjenige auszusprechen,

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was er aufgenommen hat. Sie wollte sich aussprechen, und es ist das Eigentümliche, daß sie wiederum in solche Worte prägte, weil dadurch die Möglichkeit ist, sich zu verständigen, daß sie wiederum in solche Worte prägte, wie sie nun lebt und wie sie lebend war in bezug auf das, was sie nun miterlebt hatte bei diesem unserem Ostervortrag. Und da kam denn, man möchte sagen, etwas wie eine Ergänzung dessen, was damals unmittelbar nach dem Tode gekommen war. Es ist also wiederum dieselbe Seele, die das eben Vor-gelesene unmittelbar nach dem Tode, noch im Ätherleibe, gesprochen hat, die es jetzt nur aus dem Bewußtsein infolge der Teilnahme eben an diesem Ostervortrag gesprochen hat :

In Menschenseelen will ich lenken

Das Geistgefühl, daß willig es

Das Osterwort in Herzen wecke ;

Mit Menschengeistern will ich denken

Die Seelenwärme, daß kräftig sie

Den Auferstandnen fühlen können ;

Man sieht, sie will mit denjenigen, mit denen sie verbunden war in unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung, weiter arbeiten. Sie will sich ihnen widmen, daß sie das Osterwort im Herzen erweckt bekom­men, wie es ja durch den Ostervortrag versucht wurde, daß dasjenige; was wir in der Geisteswissenschaft den Auferstandenen nennen, in der richtigen Weise erfühlt werden könne. Aber ganz besonders be­deutsam war etwas, was herauskam in den folgenden drei Zeilen. Das ist ganz besonders schön, und tief ergreifend.

Ich hatte gerade in jenen Ostervorträgen und in manchen andern Vorträgen, die damals gehalten worden sind, mich bemüht, wieder und wiederum, was ich schon öfters getan habe, darauf aufmerksam zu machen, was die Geisteswissenschaft für eine Bedeutung hat nicht nur hier für das Erdenleben, sondern für die ganze Welt. Derjenige, der durch die Pforte des Todes tritt, kann von alledem auch das als Miterlebnis haben und erfahren, was hier in der Geisteswissenschaft

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getrieben wird. Deshalb rate ich so vielen, wenn sie liebe Tote, durch die Pforte des Todes Gegangene haben, innen vorzulesen oder zu er­zählen von den geisteswissenschaftlichen Lehren, denn was in geistes-wissenschaftliche Worte geprägt ist, hat nicht nur Bedeutung für die im physischen Leibe lebenden Seelen, sondern es hat volle Bedeu­tung auch für die Seelen, die entkörpert sind. Es kommt ihnen zu wie geistige Lebensluft, geistiges Lebenswasser, oder man könnte auch sagen, sie vernehmen Licht durch uns hier unten. Dieses Licht ist für uns ja zunächst, man möchte sagen, symbolisch, denn wir hören Worte und nehmen sie als Gedanken in unsere Seele auf; die Toten sehen es aber wirklich als Geisteslicht.

Nun ist es sehr bedeutsam, daß gerade diese Seele, die das oft gehört hat, förmlich sagen wollte : Ich habe das verstanden, und es ist wirk­lich so! - Denn ihre Worte in dieser Beziehung sind :

Es leuchtet hell dem Todesscheine

Des Geisteswissens Erdenflamme...

Es ist Tatbestand für die Seele. Sie will sagen : Das, was ihr sprecht unten, es ist heraufleuchtend wie eine Flamme. - Und sie drückte das aus, indem sie sagte «Erdenfiamme» : «Es leuchtet hell dem Todes-scheine...» Warum «Todesscheine»? Wenn Sie nachdenken, werden Sie es herausfinden. Sie sagte, weil sie immer gehört hat, daß wir die Welt Maja nennen : Auf der Erde ist man im Schein der Sinne ; jetzt ist sie auch in einem Scheine, durch den sie das Wesen erst zu schauen hat :

Es leuchtet hell dem Todesscheine

Des Geisteswissens Erdenfiamme ; -

und etwas, was sie nun auch bekräftigt :

Das Selbst wird Welten-Aug' und Ohr.

Weltenohr meint sie. Sie meint, das ganze Selbst wird jetzt wie ein mächtiges Sinnesorgan. Im Physischen hat er Augen und Ohren, der

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Mensch ; dann wird er selbst zum Wahrnehmungsorgan der ganzen Welt. Es ist eine schöne Art und Weise, durch welche der Tote zeigt, wie er bewußt wird, daß wahr wird dasjenige, was Geisteswissen­schaft sagt. Für diese Seele ist es besonders charakteristisch, daß sie sich gleichsam nach dem Tode aussprechen will und sagen will : Ja, jetzt bin ich so weit, daß dasjenige, was ich da unten gelernt habe, sich mir als das Richtige darstellt.

Mir selbst waren diese Worte von einer gewissen Wichtigkeit, weil sie nach einiger Zeit, ein paar Wochen später, aus der geistigen Welt heraus gekommen sind von jener Seele, von der ich gesprochen habe, nachdem kurz vorher, ein paar Wochen vorher, ein anderes mich be­friedigendes Ereignis auftrat.

Freunde von unserer Bewegung verloren im jetzigen Kriege einen noch ziemlich jungen Sohn, der freiwillig in den Krieg eingetreten war. Der junge Mann fiel. Er war, man möchte sagen, halb nahe-getreten der Geisteswissenschaft in der letzten Erdenzeit, die er durch­gemacht hat. Er war erst siebzehn, achtzehn Jahre alt. Er war halb nahegetreten der Geisteswissenschaft. Nun war er hingegangen, war gefallen. Nach einiger Zeit konnte geschaut werden, wie die Seele die­ses jungen Mannes - und bei vielen Seelen, die jetzt im Kriege durch die Pforte des Todes gegangen sind, ist das der Fall, daß sie verhält­nismäßig rasch zum Bewußtsein kommen -, es konnte also bei dieser Seele gesehen werden, wie er sich seinen Eltern näherte, wie er wirk­lich herankam an seine Eltern. Und es war so - es konnte richtig ge-hört werden - wie wenn er innen sagte : Nun möchte ich es euch auch wirklich begreiflich machen, daß dasjenige, was ich in eurem Hause oftmals gehört habe von Geisteswissenschaft, von Geisteslicht und geistigen Wesen, mir klarwerden kann, daß es wahr ist, daß es mir hilft, was ich da gehört habe.

Ich erwähne das nicht deshalb, weil es etwas Besonderes sein soll, sondern weil es gerade zeigt, wie der Zusammenhang ist zwischen dem irdischen Leben und dem geistigen Leben. Eine Merkwürdigkeit will ich dabei doch erwähnen. Nach einem Vortrag, den ich dann in einem unserer Zweige hielt - ich hatte damals die Worte aufgeschrie­ben, die durchgekommen waren -, ging ich zu den betreffenden Eltern

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des jungen Mannes und erzählte ihnen dieses und bezeichnete ihnen auch die Nacht, in welcher sich das zugetragen hat, daß der junge Mann sich seinen Eltern genähert und dieses gleichsam zu der Seele der Eltern gesprochen hat. Und da sagte der Vater : Das ist ganz merk­würdig, ich habe sehr selten Träume. Diese Nacht, diese selbe Nacht aber habe ich von meinem Jungen geträumt, daß er mir erschienen ist und daß er mir etwas sagen wollte ; ich habe es aber nicht ver­standen.

Es wird heute noch außerhalb unserer geistigen Bewegung Ste­hende sonderbar berühren, wenn ihnen diese Dinge erzählt werden ; wir halten sie daher möglichst unter uns. Aber uns selbst muß es ja wichtig sein, auch auf diese Dinge konkret einzugehen, denn aus die­sen einzelnen Bausteinen der Erfahrungen aus der geistigen Welt setzt sich doch unser Wissen zusammen. Und erst dann bekommen wir ein konkretes Bild, wenn wir uns nicht so sehr bloß darauf be­schränken wollen, schöne Theorien über die geistige Welt zu verneh­men, sondern wenn wir es wiederum bis zu solcher Lebendigkeit der Geisteswissenschaft in unseren Seelen bringen können, daß wir es er­tragen, daß von der geistigen Welt wirklich so gesprochen wird, wie vernünftige Menschen eben von dem sprechen, was sie in der sinn­lichen Welt erleben. Nur dadurch wird im richtigen Sinne Geistes­wissenschaft ganz lebendig in uns, und das soll sie werden, ganz leben­dig soll sie in uns werden, daß wir ein Leben, nicht nur eine Lehre, eine Erkenntnis, daß wir ein Leben durch sie gewinnen ; daß sie uns überbrückt die Kiuft, die sonst durch den Materialismus, der sich außerhalb der Geisteswissenschaft allein ausbreiten kann und immer größer und größer werden muß, daß sie uns überbrücke diese Kluft zwischen dem Physisch-Sinnlichen, das wir durchmachen zwischen Geburt und Tod, und dem Geistigen, in dem wir leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, auf daß wir lernen, wirklich nach und nach Bürger auch der geistigen Welt zu werden. Das ist das, worauf es ankommt, daß wir lernen zu sprechen : Derjenige, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, hat nur eine andere Lebensform an­genommen und steht unserem Fühlen nach dem Tode so gegenüber, wie jemand, der eben durch die Ereignisse des Lebens in ein fernes

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Land hat ziehen müssen, in das wir ihm erst später nachziehen können ; so daß wir nichts zu ertragen haben als eine Zeit der Trennung. Aber dieses muß lebendig empfunden werden und lebendig gefühlt werden durch die Geisteswissenschaft. Und lassen Sie es nur darauf ankom­men, aus einzelnen konkreten Tatsachen ein Bild zu machen, Sie wer­den schon sehen, daß diese Tatsachen auch für denjenigen, der nicht hineinschaut in die geistige Welt, so zusammenstimmen, sich so tra­gen, daß der Glaube, den man hat, bevor man hinzinschaut in die geistige Welt, wirklich kein blinder Glaube, kein Autoritätsglaube ist, sondern ein Glaube, der getragen ist von dem Gefühl, das tiefer ist als kritisches Wissen, von dem der Menschenseele eingeborenen ur­sprünglichen Wahrheitsgefühl.

Wir leben einmal in einer Zeit, in der uns schon die jetzigen äuße­ren schlcksaltragenden Ereignisse andeuten, wie der Menschen Leben vertieft werden soll. Viel besser wäre es, wenn die Menschen, statt zu diskutieren darüber, wer Schuld an diesem Kriege hat, wer dieses oder jenes tut, wenn sie diese kriegerischen Ereignisse betrachten wür­den als Mahnung, die Seelen mehr zu vertiefen, als es bis nun von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Menschen geschehen ist. Ich sagte, indem ich wichtigste Dinge vor Ihren Herzen besprach :

In bezug auf manches müssen wir durch die Geisteswissenschaft ler­nen, Vorstellungen, Begriffe, die wir gehabt haben, umzuformen, um­zuändern. Zu diesen Begriffen können wir nun - das sei heute unserer Betrachtung noch angefügt, die wir über einen freilich so bedeut­samen Gegenstand wie über den Tod gepflogen haben -, zu diesen Vorstellungen können wir auch die Vorstellung des Krieges rechnen. Man wird recht haben, auch vom geisteswissenschaftlichen Sinne aus, den Krieg wie eine Krankheit der Entwickelung zu betrachten. Gewiß ist er eine Krankheit, aber denken Sie nur einmal daran, daß Sie einer Krankheit auch nicht Recht tun, wenn Sie sie, so wie sie ist, aburteilen. Das, worauf es bei einer Krankheit ankommt, ist auch vielfach das­jenige, was im Menschenleibe der Krankheit vorangegangen ist : Die Unordentlichkeit, die Disharmonie sind vorangegangen. Dann kommt die Krankheit, die oftmals dazu da ist, um gerade dem entgegenzu­arbeiten, was unordentlich war im Leibe. Sogar wenn der Mensch vor

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dem Tode eine Krankheit durchmacht, ist es so - dahinein trägt er seine Disharmonie, die es ihm unmöglich machen würde, wenn sein Karma abgelaufen ist, unmittelbar in die geistige Welt einzutreten. Vielleicht würde ihm die geistige Welt zu lange im Nebel sein, oder andere Hemmnisse würden da sein, weil in ihm Disharmonien sind, die eben so nicht in die geistige Welt hineingetragen werden können. Da bedarf es einer Krankheit vor dem Tode. Die macht erst seine Seele so weit von der Disharmonie frei, daß er in die geistige Welt ein­treten kann. Und ist es eine Krankheit, die zur Genesung führt, dann ist diese Krankheit dazu da, um dasjenige, was der Krankheit voran­gegangen ist, was durch Karma früherer Leben, vielleicht von Jahr­tausenden und Jahrtausenden bedingt wurde, auszugleichen. Man wird zum Beispiel gar nicht gut tun, wenn man sagt: Das Kind hat die Masern ; hätte es doch diese Masern nicht bekommen! - Man kann nicht wissen, was alles über das Kind gekommen wäre, wenn es die Masern nicht gekriegt hätte. Denn darin kam das heraus, was immer tief in dem Kinde saß und seinen Ausgleich suchte.

So ist es auch gut, den Krieg zu betrachten, und das Übel nicht so sehr in dem zu sehen, was jetzt in Blut und Eisen durchgemacht wer­den muß, sondern auch das zu schauen, was sich seit langen, langen Zeiten abgespielt hat in den Strömungen der Erde. Tiefer hineinzu-schauen in die Zusammenhänge, das müssen die Menschen lernen! Und nach diesem Kriege wird einmal die Zeit kommen, wo die Men­schen anfangen werden, gerade über diesen Krieg nachzudenken. Da werden sie darauf kommen, wie viele hohle Worte geredet worden sind, wenn man gesagt hat : Dieser hat die Schuld, jener hat die Schuld. - Und etwas wird gerade, wenn auch vielleicht erst ziemlich lange nach dem Kriege, kommen. Da werden die Leute etwas ganz anderes sagen als heute. Da wird es Menschen geben, die werden sagen : Ach, wenn man wirklich so Geschichte studiert, wie man sie bisher studiert hat, findet man zwar in diesen Diplomatenakten die­ses, in jenen Diplomatenakten jenes ; da und dort ist das oder jenes aufgezeichnet worden. Aber wenn man so verfährt, wie die Ge­schichte das alles bisher behandelte, und alles, wie man so sagt, «ob­jektiv beurteilen» will, dann bekommt man es nie heraus, warum das

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alles sich so ereignet hat. - Dann wird man erst gewahr werden, daß dieser Krieg gerade nötigen wird, über die äußeren Ursachen hinweg auf tiefere Gründe, die dann Geisteswissenschaft zu erklären haben wird, zu schauen. Es können ja heute leider über diese Dinge nur An­deutungen gegeben werden. Man wird finden, daß an mancherlei Stel­len gerade bei diesem Kriegsausbruch dieses oder jenes geschehen ist, wo die bedeutsamste Rolle nicht das Bewußtsein gespielt hat, sondern irgend etwas unbewußt in den Gang der Ereignisse eingetreten ist und durch das Unbewußte hindurch unter der Schwelle des äußeren Verständnisses Liegendes heraufgespielt hat. So daß gar nicht er­schöpft werden diejenigen Dinge, die der Historiker gewöhnt ist an­zuschauen als dasjenige, was maßgebend ist für die Ursächlichkeit, die vorliegt. Gerade bei diesem Beispiel wird man lernen : Geschichte, wie wir sie bisher gewöhnt sind, erklärt uns gar nichts. Es wird eine Mahnung sein, auf tiefere Gründe einzugehen.

Und wie ich fast bei jedem der Vorträge, die ich in der letzten Zeit gehalten habe, am Schlusse eine Art Mahnung an unsere Seelen rich­ten mußte, so möchte ich es auch heute wieder tun.

Es geht eine gewisse Verantwortlichkeit für die Seelen einfach aus der Tatsache hervor, daß man der geisteswissenschaftlichen Weltauf­fassung nähergetreten ist. Man muß fähig werden, durch die geistes-wissenschaftliche Weltauffassung wenigstens die Empfindung zu haben, daß jene oberflächlichen Urteile, die heute gerade deswegen, weil der Materialismus alle Welt beherrscht, eigentlich überall gefällt werden, nicht auch unsere Urteile werden sollen als Bekenner der Geisteswissenschaft. Das, was heute spielt, ist ja wirklich ein ober­flächlicher Haß von Nation zu Nation. Ich habe vielfach darüber in unseren Zweigvorträgen gesprochen. Uns braucht er nicht in der­selben Weise zu erfüllen, aber wir brauchen deshalb auch nicht un­gerecht zu werden. Denn von der alten Theosophischen Gesellschaft können wir lernen, recht ungerecht zu werden! Die haben ihren Leu­ten mit Bezug auf die Religionen auch eingeprägt : Alle Religionen sind gleich. - Das ist so, wie wenn man den Menschen einprägen möchte : Auf dem Tische stehen Speisezusätze, Pfeffer, Salz, Zucker, Paprika ; nun, alles ist Speisezusatz, man soll dem einen nicht vor dem

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andern den Vorzug geben. Also, habe ich hier Kaffee, nun, so tue ich etwas Pfeffer hinein, das ist ja alles ganz gleich! Es ist dieselbe Logik darin, wenn man davon spricht, daß derselbe Wesenskern allen Reli­gionen zugrunde liegt, ganz das Gleiche. Es erspart einem allerdings diese Logik, die große wunderbare Weltenentwickelung in ihren Ein­zeiheiten zu studieren, denn man kommt ja aus mit dem Satz : Ein Wesenskern ist in allem darin! Aber in bezug darauf haben wir uns längst von den oberflächlichsten Urteilen frei gemacht. So kann uns dasjenige, was wir mit Recht anerkennen, mit liebevollem Verständ­nis einzugehen auf jede nationale Eigentümlichkeit, nicht zur Un­gerechtigkeit führen, das heißt, nicht aus einer höheren Objektivität heraus zu sehen. Es wird nicht möglich sein, daß in dieser Beziehung alle Freunde übereinstimmen. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß unsere Seelen sich bemühen, über den Standpunkt, den der äußere Materialismus einnimmt, hinwegzukommen, wirklich hin­überzukommen ; daß unsere Seelen das Empfinden haben : Du mußt eingehen auf die Eigentümlichkeit der verschiedenen Volksseelen. -Dann werden wir schon sehen, daß uns die Bekennerschaft zu unse­rer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung in mancher Beziehung eine gewisse Verantwortlichkeit auferlegt, die Verantwortlichkeit zu einer aus der Geisteswissenschaft möglichen Gründlichkeit und einem tieferen Eingehen auf die Dinge.

Da erfährt man dann manchmal schmerzliche Dinge. Man erfährt, daß die große Mahnung, die gerade jetzt dasteht durch unsere schick­salschweren Ereignisse, nicht vor allen Seelen so dasteht, daß sie sich verpflichtet fühlen, ihre Herzen wirklich tiefer, gründlicher hinzu-tragen in dasjenige, was geschieht, als die oberflächlichen Urteile des­sen, was wir ja gerade überwinden wollen, des äußeren Materialismus. In dieser Beziehung möchte man wünschen und ersehnen, daß die Seelen, die innerhalb unserer Bewegung sind, gewissermaßen eine Schar bilden, die auch den heute uns tief bewegenden Fragen gegen­über eine gewisse Gründlichkeit einnehmen. Und es ist in bezug auf vieles Gründlichkeit notwendig. Man glaubt gar nicht, was alles in unserer Zeit möglich ist.

Oh, ich könnte vieles, vieles erzählen von dem, was jenem, der

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heute wirklich mit Menschenliebe die Zeit verfolgt, das Herz blutig machen kann. Es wird heute ja vieles, manchmal mit dem besten Wil­len, aus einer ungesunden, vielleicht eben von Anriman befangenen Weltanschauung heraus, an Ansichten und Gedanken verbreitet. Aber gerade der flutenden Literatur gegenüber müssen wir uns vielfach in tiefere Gedanken über die Aufgabe der Kulturentwickelung versen­ken. Solches wird ja gerade in unseren Vorträgen jetzt versucht da-durch, daß auf die wirkliche Stellung der einzelnen Völker hingedeutet wird. Denn es handelt sich wirklich vielfach um eine Verteidigung der Gründlichkeit gegen die Oberflächlichkeit. Ich konnte zum Beispiel -nur ein Beispiel - gerade in den letzten Wochen etwas sehr Merk­würdiges erfahren. Aus begreiflichen Gründen möchte ich hier nicht den Titel eines Buches nennen, das im Auslande erschienen ist, sogar in deutscher Sprache, und von dem behauptet wird, daß es von einem Deutschen geschrieben worden sein soll. Ausdrücklich möchte ich betonen, daß man sich dazu aufschwingen kann, jeden beliebigen Standpunkt zu verstehen. Man kann vielleicht den allerdeutschfeind­lichsten Standpunkt verstehen, wenn ihn dieser oder jener vertritt. Man wird ihn zu verstehen suchen, man braucht ihn ja nicht zu teilen, aber man kann ihn vielleicht verstehen. Aber dieses Buch, das ich meine, hat Merkmale, denen gegenüber es nicht darauf ankommt, daß es einen gründlich deutschfeindlichen Standpunkt einnimmt, der auf jeder Zeile Geifer ist gegenüber dem Deutschtum und dem deut­schen Wesen. Daß es giftig geschrieben ist, selbst das könnte man verstehen. Dennoch wird niemand kommen dürfen und sagen : Wenn ein Deutscher so spricht, das können wir begreifen, denn er redet abfällig vom Deutschtum. - Es kommt aber auf etwas anderes an. Das Buch ist so geschrieben, daß jemand, der ein wenig Gefühl hat für innere Sachlichkeit und innere Gründlichkeit, der ein wenig Bildung hat, von diesem Buch sagen muß : Es ist eine schauerliche Nachbildung der schrecklichsten Hintertreppenliteratur. - Ganz abgesehen von dem Standpunkt, steht es literarisch so tief, daß derjenige, der in dem Buch etwas findet, zeigt, daß er literarisch ein Hintertreppenwerk, ein zusammengeschustertes, mit Unkenntnis, ich möchte sagen, zur offen-barsten Schau getragenen Unkenntnis hingeschriebenes Werk als etwas

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hinnimmt, das man auch ernst nehmen kann. Also nicht auf den Standpunkt braucht es anzukommen. Aus der Art, wie so etwas ge­schrieben ist, so wie kein Mensch, der vernünftig, logisch denken gelernt hat, schon formal schreibt, kann man vielmehr erkennen, daß man es mlt einer ganz mlnderwertigen Buchmacherei zu tun hat. Den­noch habe ich auch schon Urteile hören müssen, daß auch dieses Buch, dessen Titel ich aus besonderen Gründen hier nicht nenne, ernst genommen wird. Wenn solche Dinge vorkommen, dann ist es eben gerade an uns, wirklich nicht zurückauscheuen, sich ein Urteil zu bil­den auf Grund einer gewissen Allseitigkeit. Wenn jemand vielleicht auch mlt gewissen Sätzen, die in jenem Buche ausgesprochen sind, in­haltlich einverstanden sein möchte, so braucht er doch nicht ein sol­ches Buch ernst zu nehmen, schon aus dem Grunde nicht, weil das Buch ein schauerliches Machwerk ist, und weil man doch nicht ein schauerliches Machwerk ernst nimmt, weil man nicht wünschen kann, daß selbst das Wahre in schauerlicher Weise im schlimmsten Affekte und in ungebildeter Art ausgesprochen werde. Ich wollte solch ein Beispiel nur charakterisieren aus dem Grunde, weil ich darauf auf­merksam machen möchte, daß es auf vieles, vieles ankommt, wenn der Geisteswissenschafter suchen soll, sich ein Urteil über die Welt zu bilden.

Wenn es wirklich möglich war, weil man den Standpunkt eines Buches hat, inhaltlich ein Buch für gut zu halten, auch wenn es ein Schauerroman ist, stllistisch, künstlerisch, inhaltlich, so bezeugt man dadurch auch, daß man zu wenig lebendig gemacht hat das geistes-wissenschaftliche Fühlen in seinem Herzen, in seiner Seele. Gewiß nicht, um irgendwie etwas anderes auszudrücken, als aufmerksam zu machen auf die Art und Weise, wie Geisteswissenschaft wirklich in einschneidendstem Sinne unser Fühlen und Denken lebendig durch­dringen muß, werden auch auf diesem Gebiet konkrete Beispiele an­geführt. Und es ist schon notwendig, daß solche konkrete Impulse in unseren Seelen gesucht werden. Ich muß gestehen, was einen bisher ganz besonders befriedigen durfte, wenn man so durch Deutschland reist, das war dasjenige, daß nach großen Siegen selbst auf den Stra­ßen furchtbarer Jubel in dieser Zeit gewöhnlich nicht zu bemerken

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war. Man merkte schon etwas, daß in jeder Seele zugleich der Schmerz über die ungeheuren Verluste ist. Ich glaube, es ist so ; ich glaube, es ist eine würdige Stimmung zu bemerken, und zum Beispiel nach Sie­gen nicht bloß eitler Siegesjubel. Denn diese unsere schicksalschwe-ren, schicksaltragenden Tage, sie fordern nicht nut viele Opfer, son­dern sie reißen ungeheuer viele Wunden, auch geistige Wunden, wenn man das Verhalten vieler Menschen ins Auge faßt. Und deshalb ist es schon notwendig, daß wir uns zuweilen erinnern, gerade wenn wir Wichtiges aus dem Gebiete der Geisteswissenschaft betrachten, welche Verantwortlichkeit unseren Seelen auferlegt ist ; wie wir her­beisehnen müssen Zeiten, in denen sich wirklich begegnen können die Wirkungen der jungen, unverbrauchten Ätherleiber und der See­len, die noch unten in den Leibern der Menschen sind und hinauf senden können die Empfindungen und Fähigkeiten der Seele.

Es wird eine Zeit kommen, nach diesem Kriege, wo die unver­brauchten Ätherleiber derer wirken werden, die durch die Pforte des Todes gegangen sind und die Kräfte entwickelt haben aus den Op­fern, die sie gebracht haben ; die sie nun hinuntersenden könnten zur Spiritualisierung der Menschheit. Aber unten werden Seelen sein müs­sen, die das empfangen können, die in lebendigem Glauben aufschauen werden zu demjenigen, was von den frühzeitig durch den Tod Ge­gangenen hinaufgegangen ist in die geistige Welt, um herunterzustrah­len die Kräfte zur Spiritualisierung der Menschheit.

Da möchte ich, daß es uns vor die Augen trete im Sinne der Worte, die ich am Schlusse dieser Betrachtung auch wieder sprechen möchte :

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DIE ERKENNTNISGEMÄSSE ÜBERWINDUNG DES TODES - VORGEBURTLICHE UND NACHTODLICHE SEELENERLEBNISSE - UNSERE VERBINDUNG MIT DEN TOTEN Köln, 19. Juni 1915

Vorgestern haben wir durch unsere Düsseldorfer Zweigbetrachtung ein wenig hingesehen auf dasjenige, was man im Zusammenhang des Lebens nennt den Durchgang des Menschen durch die Todespforte. Das ist es ja, worauf es ankommt, daß die abendländische Geistes-entwickelung nach und nach mit einer Erkenntnis durchdringe, die gewissermaßen erkenntnisgemäß den Tod überwindet, überwindet dadurch, daß sie ihn als eine Verwandiung des Lebens selber erkennt.

Es ist selbstverständlich, daß gerade in unserer von materialistischen Anschauungen durchzogenen Zeit der Tod immer mehr und mehr wie eine Grenze der Welt, die der Mensch durchlebt, erscheinen muß. Wir können uns leicht vorstellen, daß dies in älteren Zeiten wesent­lich anders war; selbstverständlich anders war deshalb, weil, wie wir wissen, die Menschen in diesen älteren Zeiten durchaus noch eine Art von Überbleibsel von altem traumhaftem Heilsehen hatten. Dieses traurnhafte Hellsehen war verbunden mit einem Darinstehen in der geistigen Welt. Und da in jenen Zeiten, in denen unsere Seelen in solchen Leibern verkörpert waren, durch die noch ein heilsichtiges Darinstehen in den geistigen Welten möglich war, unsere Seelen mit der geistigen Welt zusammenhingen, so war ihnen damals der Tod kein bedeutungsvolles, kein so abschließendes Phänomen, wie er in unseren Zeiten ist. Aber das würde immer stärker werden, wenn in unsere Zeit nicht nach und nach diejenige Erkenntnis hereinkommen würde, die durch die Geisteswissenschaft erschlossen werden soll. Denn man soll nur ja nicht glauben, daß diese Geisteswissenschaft, die wir uns aneignen, nicht schon als Geisteswissenschaft selbst für das ganze Erleben des Menschen die allergrößte Bedeutung hat.

Gewiß, viele von uns werden sagen: Wir erstreben auf unserem Wege durch die geisteswissenschaftliche Bewegung zweierlei. Er­stens: Dasjenige vernunftgemäß, verständig zu durchdringen, was uns

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die Geisteswissenschaft gibt. Zweitens: Dadurch, daß wir die geistes­wissenschaftlichen Methoden auf unsere Seele anwenden, wie sie uns skizziert sind zum Beispiel in dem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?», streben wir selber ein Hereinkommen in die Wahrnehmung der geistigen Welt schon während unserer physi­schen Verkörperung an. Aber es werden manche sagen: Ganz sicher nur einigen, nur ganz wenigen wird durch ihr Karma zugeteilt, in dieser Inkarnation vollbewußt in die geistige Welt hineinzukommen. Zwar käme in gewissem Sinne jeder und kommt auch jeder hinein, der diese Regeln nur anwendet; aber das zu bemerken, daß man dar­innensteht, das Aufmerksamsein darauf ist schwieriger als das Hinein-kommen selbst. Und da hindert gar manchen, wenn er auch schon wirklich darinsteht in der geistigen Welt, die Unmöglichkeit, jene feine, intime Aufmerksamkeit anzuwenden auf das, was er nun er­lebt, um sich wirklich bewußt zu sein, wie er darinsteht. Man möchte sagen, für jeden, der die Regeln anwendet, die in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gegeben sind, tritt nach verhältnismäßig kurzer Zeit das ein, daß er in der geistigen Welt mit seinem Selbst darinsteht, aber - er bemerkt es nicht. Gerade einer solchen Erwägung gegenüber muß immer wieder und wiederum be­tont werden, daß das vernünftige Verständnis desjenigen, was in der Geisteswissenschaft gegeben wird, gar nicht davon abhängt, ob man selber in die geistige Welt hineinschaut. Wir haben oft gesagt: Zum Hinstellen der Tatsachen der geistigen Welt gehört natürlich die gei­steswissenschaftliche Anschauung. Wenn das Gefundene aber ge­geben wird, kann es jeder verstehen, wenn er nur wirklich in unbe­fangener Weise seinen gesunden, nicht durch Vorurteile der äußeren materialistischen Welt getrübten Verstand anwendet. Wir müssen uns klar sein, daß es nicht schon genügt, wenn wir uns vornehmen oder einreden, wir seien ganz hinaus über die Vorurteile, welche das mate­rialistische Zeitalter gibt. Gewiß, unserem Willen nach, unserer Sehn­sucht nach werden wir über diese Vorurteile der materialistischen Zeit hinaus sein, wenn wir uns überhaupt im Ernst in die geisteswissen­schaftliche Bewegung hineinbegeben. Denn im Grunde genornmen wird sich niemand ehrlich und aufrichtig zu dieser geisteswissenschaftlichen

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Bewegung bekennen, der nicht im tiefsten Inneren von der Sehnsucht durchdrungen ist, über die materialistischen Vorurteile hin-auszukommen. Aber in unseren Denkgewohnheiten haften sie ja so gründlich, diese materialistischen Vorurteile, und haftet besonders gründlich dasjenige, was nun nicht direkt materialistisches Vorurteil ist, was mit dem materialistischen Vorurteil aber zusammenhängt. Es hängt mit dem materialistischen Vorurteil, mit der ganzen materia­listischen Weltanschauung zusammen, daß der Mensch in einer ge­wissen Weise kein umfassendes Denkvermögen entwickeln kann. So sehr unsere Zeit auch auf den Verstand und die Logik aus ist, so wenig ist eigentlich in unserer Zeit ein scharfer Verstand, eine scharfe Logik gerade das Eigentum derjenigen, die vielleicht an der Spitze der wissenschaftlichen oder sonst kulturellen Bestrebungen unserer Zeit gehen wollen.

Die ganze Klarheit des Denkens strebt man in unserer Zeit gar nicht an. Würde man nämlich die Klarheit des Denkens voll anstreben, dann würde man auch schon die Geisteswissenschaft wirklich voll verstehen können. Wer ganz klar denkt, findet nirgend etwas einzu­wenden gegen das, was Geisteswissenschaft vorzubringen hat - natür­lich im großen und ganzen; denn in den Einzelheiten kann der Geistes-wissenschafter ja irren, wie der Mensch überhaupt irren kann. Es könnten unzählige Beispiele vorgebracht werden, welche uns zeigen, wie wenig gerade unsere Zeit geneigt ist, klares, scharfes Denken an­zuwenden.

Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel aus unseren Tagen angeben. Man hat es immer wiederum lesen können als ein sehr gebräuchliches Urteil eines wirklich großen Mannes, eines sehr bedeutenden Men­schen. Dieses Urteil ist nachgesprochen worden, und einer der deut­schen Publizisten hat sich ganz besonders groß damit getan, daß er dieses Urteil immer wieder vorgebracht hat. Ein großer Mann hat also einmal gesagt, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Und das kommt manchem Denker, der gerade so recht im Sinne unserer Zeit denkt, so unendlich logisch vor: Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik. Selbstverständlich soll gegen die Größe des Mannes, der den Ausspruch getan hat, nichts eingewendet werden.

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Er meint damit, die Völker untereinander führen eine gewisse Politik, dadurch ordnen sie ihre Angelegenheiten untereinander; wenn diese Politik nun an einem Punkte angekommen ist, wo sie so­zusagen nicht mehr weiter kann, dann - nun ja, was dann? - dann setzt eben der Krieg die Politik fort. In diesem Sinne kann das Urteil aller Menschen berechtigt sein und unmittelbar anerkannt werden. Aber wenn man ein wenig denkt, so kommt man darauf, wie einseitig zumeist ein solches Urteil ist. Denn dieses Urteil ist ja ganz gleich­lautend damit, daß man zum Beispiel sagt: Da sind zwei Leute, die befreundet sind oder in einem andern Verhältnis sind, die sich immer gut vertragen haben, sich vielleicht unendlich geliebt haben, und die dann anfangen, sich zu zanken. Dann könnte man auch sagen: Der Zank ist die Fortsetzung der Liebe. Äußerlich betrachtet ist der Zank die Fortsetzung der Liebe. Aber über das Wesen des Zankes wird man nichts Besonderes ausgemacht haben, wenn man das weiß, daß dieser Zank die Fortsetzung der Liebe ist. So hat man selbstverständ­lich nichts ausgerichtet, man hat nicht das Allergeringste ausgesagt über den Krieg, wenn man ihn so ansieht, daß man sagt: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik. Es ist tatsächlich so, daß unserer heuti­gen Zeit Urteile ungeheuer bedeutsam erscheinen können, die doch eigentlich recht einseitige Urteile sind. Manches Urteil wird heute sehr geschätzt, das über das Wesen der betreffenden Sache nichts Beson­deres ausmacht. Trotzdem braucht ein solches Urteil aber nicht immer fruchtlos zu sein. Es kann sogar eine sehr fruchtbare Bedeutung haben. Aber diejenigen, die sich zu unserer Weltanschauung beken­nen, sollen ein wenig den Schleier der Maja auch mit Bezug auf das äußere Leben durchdringen. Selbstverständlich soll nicht im geringsten irgendwie gegen das Urteil, das nun heute in jeder dritten Zeitungs spalte steht, etwas eingewendet werden, denn es ist ein fruchtbares Urteil, aber mit der Richtigkeit des Urteils würde man doch sonderbare innere Erfahrungen machen, wenn man ihn mit einem klaren Denken prüfen wollte. So ist es auch, wenn heute fast in jeder Zeitungsspalte steht: Wir werden siegen, weil wir siegen müssen! - Wie gesagt, gegen die Berechtigung dieses Urteils, gegen die Fruchtbarkeit und den Wert dieses Urteils soll nichts eingewendet werden; aber wenn

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jemand, der vor einem Strom steht und über den Strom hinüber muß, sagt: Ich werde schwimmen, weil ich schwimmen muß -, so hängt die Richtigkeit des Urteils davon ab, daß er schwimmen kann. Und man kann in diesem Falle durchaus mit einem klaren Denken die Richtigkeit des Urteils eines Nichtschwimmers bezeugen: Ich will hin­überschwimmen, weil ich schwimmen muß. Was hat solch ein Urteil für einen Wert? 0 es hat einen großen Wert, denn es gibt Kräfte, es gibt Mut und Zuversicht, es durchdringt den Willen; es ist ein den Wil­len anspornendes Urteil. Es ist nicht ein Urteil, das etwas erkennt, son­dern wodurch der Wille gestählt wird. Dadurch ist das Urteil bedeut­sam und wichtig. Mißverstehen Sie solche Dinge nicht. Sie sollen angeführt werden, um zu zeigen, daß ein klares, die Dinge durch­schauendes Denken doch noch etwas anderes ist als dasjenige, was so oft geltend gemacht wird dafür. In unserer Zeit sind die materiali­stischen Denkgewohnheiten einmal außerordentlich groß und stark.

Am meisten aber wird unser Urteil dann getrübt, wenn wir uns darauf einiassen sollten, dasjenige zu prüfen in unserem Urteil, was der Geisteswissenschafter sagt. Es ist einmal so, daß alles dasjenige, was der Geisteswissenschafter sagt, auch wenn man nie einen Blick in die geistige Welt gemacht hat, eingesehen werden kann, wenn man ein wirklich gesundes, richtiges Denken anwendet. Es gibt keinen Menschen, der, auch ohne hellsichtig zu sein, wenn er nur ein gesun­des Urteil hat, Gegner der Geisteswissenschaft sein müßte. Gegner der Geisteswissenschaft zu sein, dafür gibt es tatsächlich ganz andere Gründe in der Natur des Menschen, der Seele des Menschen. Einer dieser Gründe ist vor allen Dingen der folgende.

Wenn der Mensch in der physischen Welt mit seinem Wahrnehmen darinsteht, dann kommt ihm zu diesem Wahrnehmen in der physi­schen Welt immer zu Hilfe die Unterstützung seines physischen Lei­bes, seines Atherleibes, auch seines astralischen Leibes. Diese - der physische Leib, der Ätherleib, der Astralleib - sind lange im Weltengang darinnen gewesen, durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, und sind aus den Kräften der göttlichen Hierarchien dem Menschen auferbaut worden. Sie sind heute das, was sie in der Vergangenheit geworden sind. Der Mensch wird hineinversetzt, wenn er sein physisches

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Dasein in der Welt betritt, in dasjenige, was ihm durch lange Zeiten hindurch vorbereitet worden ist. Das alles unterstützt ihn, wenn er in der physischen Wahrnehmung darinsteht. Jedesmal, wenn wir eine Wahrnehmung machen, eine Vorstellung uns bilden, wird nänilich ein Abdruck in unseren physischen Leib gemacht. Wir wis­sen nichts davon, aber dieser Abdruck im physischen Leibe geschieht. Und daß er geschieht, das ist der Grund, warum wir während des physischen Lebens ein Gedächtnis haben. Man muß sich diese Sache nur richtig vorstellen. Stellen wir die Frage: Warum haben wir ein Gedächtnis im physischen Leben? - da müssen wir sagen: Jedesmal, wenn wir eine Vorstellung bilden, wird ein Eindruck auf den physi­schen Leib gemacht. Dieser Eindruck ist sogar mehr oder weniger menschenähnlich. Jede Vorstellung, die wir uns bilden, macht nicht nur, wie der materialistisch-phantastisch Denkende meint, da oder dort im Gehirn einen Eindruck, sondern auf den ganzen Menschen macht jede Vorstellung einen Eindruck. Und mit Bezug auf eine Art Nachformung des Kopfes und noch sogar des oberen Teiles der Brust des Menschen, liefert wirklich jede Vorstellung, die wir uns bilden, einen Abdruck. Es ist wirklich war: Wenn ich jetzt zu Ihnen spreche, in der Minute vielleicht hundert Silben, so haben Sie während dieser Minuten rasch hintereinander innfzig Menschen in sich gebildet, je­doch fünfzig Menschenbildet rasch weggeschafft, das eine wechselt rasch mit dem andern ab. Nun, Sie können sich denken, wie viele solche Menschenbilder Sie in sich gebildet haben, wenn die Stunde der Betrachtung vorüber ist. Diese Menschenbilder sind mehr oder weniger gleich in ihrer äußeren Gestalt, aber doch wiederum un­gleich; keines ist dem andern vollständig gleich. Jedes ist von dem andern verschieden, wenn auch eben nur etwas verschieden. Es ist eine kindliche Vorstellung, wenn etwa jemand glauben wollte, daß, wenn er jetzt einen Eindruck der Außenwelt hat und sich morgen daran erinnert, dieser Eindruck in irgendeiner Form in ihm gesessen habe. Er hat gar nicht gesessen, sondern ein Bild, das menschenähn­lich ist, ist in dem Menschen geblieben. Wirklich, von jedem Eindruck der Außenwelt bleibt ein Bild, das menschenähnlich ist. Und wenn Sie sich morgen wieder an den Eindruck erinnern, dann versetzen Sie

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Ihre Seele in dieses Menschenbild, das in Ihnen ist. Und der Grund, warum Sie morgen nicht dieses Menschenbild sehen, sondern sich an den Eindruck erinnern, ist der, daß Sie in Ihrem Astralleib lesen. Es ist eine richtige Lesetätigkeit, eine unterbewüßte Lesetätigkeit; ge­radeso wie wenn Sie irgend etwas aufschreiben und später lesen wol-len, Sie nicht die Buchstaben beschreiben, sondern das, was die Buch­staben bedeuten, so ist es morgen, wenn Sie sich an das heute Erlebte eriunern. Sie schauen nicht das Bild an, das in Ihnen entstanden ist, das Menschenphantom, das da in Ihnen lebt, sondern Sie deuten es. Sie versetzen sich in der Seele in dieses Menschenphantom, und Ihre Seele erlebt etwas ganz anderes als dieses Menschenphantom. Sie er­lebt dasjenige, was sie gestern erlebt hat, noch einmal. Gar so sehr zu wundern braucht sich der Mensch darüber nicht, denn wenn Sie heute Goethes «Faust» lesen - was haben Sie in ihm vor sich? So und so viel bloßes Papier und Druckerschwärze in einer beliebigen Form. Das ist äußerlich materiell der ganze «Faust». Und Sie würden niemals den Goetheschen «Faust» haben, wenn Sie nicht seelenhaft irgend etwas hantieren könnten mit dem, was Sie an Papier und Druckerschwärze vor sich haben. Wenn Sie das nicht entziffern könnten, so wäre es eben Papier und Druckerschwärze. Mit Bezug auf die äußere Welt debattieren fortwährend die Materialisten, daß dasjenige, wovon der Geisteswissenschafter sagt, daß es auch da ist, eben nicht da sei. Aber diese Materialisten sind so gescheit, wie ein Mensch gescheit wäre, der sagen würde: Was redest du uns da vor von dem Goetheschen «Faust», er ist gar nicht da, da ist ja nur Papier und Druckerschwärze!

- Dieses Urteil über den «Faust» ist ganz das gleiche wie das Urteil, das heute die Materialisten über die Welt fällen. Aber so ist es auch mit unseren Erinnerungen. Morgen ist nichts da in unserem Menschen-wesen von einem Eindruck von heute als das Phantom, das Abbild, und alles übrige muß die Arbeit der Seele an diesem Phantom besor­gen. Und so wie aus dem Papier und der Druckerschwärze in unserer Seele das ganze Gewebe des Goetheschen «Faust» herauftaucht, so taucht aus dem, was als Phantom in uns geblieben ist, dasjenige her-auf, was eine Wiederbelebung des heutigen Eindrucks ist, wenn wir uns morgen daran erinnern.

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Aber diese Tätigkeit, die ausgeführt werden muß, damit wir uns erinnern können, führt für uns dasjenige aus, was durch Saturn-, Son­nen- und Mondenzeit vorbereitet ist, die führt unser so wunderbar gestalteter physischer Leib, dann unser ätherischer Leib aus. Sie ge­stalten, sie tun das für uns. Und das verspürt, das empfindet der materialistisch denkende Mensch. Nun denken Sie, die geistigen Wahr­heiten, die gewonnen werden, werden ja ohne diese Hilfe so gewon­nen, daß die Hilfe des äußeren physischen Leibes nicht in Anspruch genommen wird. Da müssen die Kräfte, die sonst im äußeren Leibe arbeiten, vom Inneren der Seele herkommen; da muß aus dem Seeli­schen heraus gearbeitet werden. Wenn man eine geistige Anschauung hat, die nicht durch die äußere Welt zustande gebracht ist, dann kön­nen wir nicht, wenn wir uns an sie erinnern wollen, uns in ein inneres Phantom versetzen, das geblieben ist; das ist ja im Leibe. Da müssen wir durch eine viel stärkere Kraft, ohne diese Unterstützung, die ganze Sache vom Inneren heraus wiederum erarbeiten, richtig er­arbeiten. Also auch das ist nichts besonders Wunderbares. Denn den­ken Sie einmal bloß an den Unterschied, wie er die Sache, die ich jetzt meine, im Kleinen abspiegelt. Nehmen Sie an, jemand liest heute ein Gedicht, und dieses Gedicht, das er heute gelesen hat, hebt er sich gedruckt bis morgen auf. Dann kann er es morgen wieder ablesen, übermorgen wieder. Aber nehmen wir an, er hebt es sich nicht auf, dann muß er es aus dem Gedächtnis wiederum sagen. Sie sehen den Unterschied: Das eine Mal tun wir gewissermaßen etwas, womit wir nichts zu tun haben; was wir sonst tun müßten, trägt von der einen Zeit in die andere das äußere Papier herüber; wir haben eine Stütze an dem Papier. Wir müssen uns mehr anstrengen, wenn wir das Ge­dicht aus der Seele wieder konstruieren. So muß sich derjenige, der in der geistigen Welt lebt, innerlich mit seinem Willen mehr anstren­gen als der, welcher sich auf die Unterstützung seines Leibes verläßt. Das aber hängt damit zusammen, daß alles dasjenige, was im Geistes-wissenschaftlichen errungen wird, ja, was nur verstanden werden soll, überhaupt ein großes seelisches Anstrengen fordert. Man kann viel träger, fauler sein, wenn man Materialist ist, als wenn man Geistes-wissenschafter ist. Und dieses ist der Grund, warum die Menschen

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Materialisten sind, oder wenigstens einer der Gründe. Sie sind nicht Materialisten aus dem Grunde, weil sie ihrerseits durch eine Logik dazu gezwungen werden, sondern sie sind Materialisten aus Furcht, aber auch aus Trägheit, weil sie wollen, daß alles dasjenige, was da sich abspielt in der Seele, sich nicht durch die inneren Kräfte der Seele abspielt, sondern sich abspielt durch das, was im Leibe geschrie­ben ist, was da aufgezeichnet wird. Das sind Dinge, die wir durchaus bedenken müssen, wenn wir die Gründe einsehen wollen, warum so mancher ein Gegner der Geisteswissenschaft ist. Vor allen Dingen aber ist es schwierig, mit dem Denken dann ganz zurechtzukommen, wenn etwas erreicht werden soll, was der Mensch dennoch erreichen muß, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet.

Ich habe schon vorgestern darauf hingedeutet, was das Wesentliche für das Durchschreiten der Todespforte ist: Das ist die Selbsterkennt­nis. Nun ist selbstverständlich diese Selbsterkenntnis keineswegs et­was so ganz Leichtes. Einige von Ihnen haben ja schon gehört, wie ich darüber gesprochen habe, wie selbst mit Bezug auf die äußere Ge­stalt die Menschen sehr häufig dem größten frrtum unterliegen. Da ist ein jetzt oftmals genannter Philosoph, der in Wien gelebt hat, Mach> ich meine nicht den Hamburger Theosophiebeschimpfer Maack, sondern Ernst Mach, den ernst zu nehmenden Philosophen. Der hat eine «Analyse der Empfindungen» geschrieben. Darin sagt er mit großer Naivität das Folgende: Ich ging einmal auf der Straße; plötz­lich mußte ich einhalten, denn es begeg.nete ruir ein Mensch, und ich dachte: Das ist aber ein Mensch mit einem sehr unsympathischen Ge­sicht, ja, mit einem unerträglichen Gesicht. Und siehe da, ich ent­decke, daß ich an einer Spiegeischeibe vorübergegangen war, und die Spiegel hingen so, daß ich mich selbst gesehen hatte. Da wurde ich darauf aufmerksam, wie wenig ich mit meiner eigenen Gestalt be­kannt war. - Als er sich selbst sah, hielt er sich also für einen unsym­pathischen Menschen mit einem unerträglichen Gesicht. Das ist ein Philosophieprofessor, ein berühmter Professor der Gegenwart. Und um dasjenige, was ihm so passiert ist, noch zu bekräftigen, fügt er noch etwas anderes hinzu: Als er schon lange Professor war, fuhr er eines Tages mit der Eisenbahn, kam sehr müde in einer Stadt an und

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bestieg dort einen Omnibus. Da sah er auf der andern Seite auch einen Mann einsteigen, und er dachte: Da steigt aber ein herabgekommener Schulmeister ein! - Dann sah er aber, daß auf der Gegenseite wieder ein Spiegel hing, und er entdeckte, daß er sich selbst als herabgekom­menen Schulmeister bezeichnet hatte. Er macht darauf aufmerksam, daß er, wie er sagt, den Gattungstypus genauer kannte als seine Spezialgestalt.

Nun, ist es schon so schwierig, sich selber zu erkennen in bezug auf das Äußere des Menschen - bei Damen ist es vielleicht leichter, weil sie öfter in den Spiegel schauen -, so ist es noch ganz anders, wenn es auf das Seelische ankommt. Da gibt es kaum eine andere Möglichkeit für unseren Zeitenzyklus, sich selbst zu erkennen, als sich die Erkenntniskräfte durch dasjenige zu schärfen, was wir in der Geisteswissenschaft aufnehmen können. Die Begriffe, die Vorstellun­gen, die wir durch die Geisteswissenschaft aufnehmen, sind gerade im besten Sinne geeignet, unsere Selbsterkenntnis zu schärfen. Auf das Selbsterkennen im allgemeinen ist ja im Grunde genommen alles ver­aniagt, was wir durch das Buch «Die Geheimwissenschaft im Um­riß» in uns aufnehmen. Alle die Vorstellungen, die wir durch dieses Buch aufnehmen, laufen eigentlich darauf hinaus, uns selber zu er­kennen, zu wissen, was der Mensch eigentlich ist. Indem wir studie­ren, wie der menschliche physische Leib, der Ätherleib, der Astral­leib nach und nach durch Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung geworden sind, lernen wir das kennen, was in uns ist. Und dadurch, daß wir so im allgemeinen kennenlernen, was in uns ist, werden unsere Vorstellungskräfte geschärft, um uns auch im Speziellen viel besser, als es sonst irgend möglich ist, zu erkennen.

Inwiefern hat nun diese Selbsterkenntnis eine Bedeutung für den Moment des Todes? Solange wir hier im physischen Leibe verweilen, ist Selbsterkenntnis eben Erkenntnis. Wenn wir aber durch die Pforte des Todes gehen, verwandelt sich alles, was wir uns als Selbsterkennt­nis angeeignet haben, in Willenskräfte. Je besser wir uns selbst er­kennen, desto stärker wird eine Art von Willenskraft gerade dann, wenn wir den physischen Leib abgelegt haben. Nehmen wir zum Bei­spiel einmal an, wir haben hier eingesehen, wir waren in bezug auf

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gewisse Dinge, sagen wir, ein heftiger Mensch. Nun, Sie wissen, wie schwierig es ist, uns im physischen Leben ganz und gar umzuformen, etwa die Heftigkeit, wenn wir sie auch einsehen, wirklich abzulegen. Aber in dem Augenblick, wo wir den physischen Leib ablegen, wo wir nur wissen: Du warst heftig -, wird das zum Willen. Und dieser Wille richtet sich darauf, aus unserem Wesen die Heftigkeit auszu­schalten. Jedes Erkenntnisurteil wird, indem wir durch die Pforte des Todes gehen, ein Willensurteil; es wird eine Willenskraft. Und da tritt dann etwas sehr Bedeutsames ein, das wir in gewissem Sinne nen­nen können die Umkehrung von etwas, was vor der Geburt des Men­schen erlebt wird, was aber vergessen wird, weil der Mensch nicht zurückschauen kann in die Zeiten, die er vor seiner Geburt durch­gemacht hat. Denken wir uns aber, der Mensch könnte jetzt schon dasjenige, was er im Jupiterdasein entwickeln wird: Wenn er sich aus der geistigen Welt heraus allmählich anschickt, wiederum zu einer Inkarnation zu kommen, so würde er in höchst merkwürdiger Weise etwas erleben wie ein Hinblicken auf seine künftige Gestalt, sein künf­tiges Leben. Er würde wirklich auch etwas von seiner physischen Gestalt schauen. Aber gerade das eine würde er niemals durchdringen in dieser physischen Gestalt, was ihm darin wie zwei Punkte vor­kommen würde. Denken wir uns, wir würden, wenn wir zur Geburt schreiten, gleichsam wie in einem Nebel unsere physische Gestalt vor uns schwindend haben. Wir würden es wie Licht sehen, aber da darin würden wir undurchdringliche, finstere Punkte, finstere Kugeln sehen, auch noch manches andere, aber eben auch diese finsteren Kugeln. Lange bevor der Mensch seiner physischen Geburt zuschreitet, sieht er - gleichsam in der Zeit, nicht im Raume - vor sich: Das wirst du! Und er sieht gewissermaßen schon, wie aus dem Wesen der Geister der Form heraus sich seine Physis formt. Diese erscheint ihm mehr oder weniger als eine Lichtgestalt, aber darin wie schwebend zwei finstere Kugeln. Wenn der Mensch nun entgegenlebt dem physischen Leben, dann tut er dies teilweise schon im Leibe der Mutter; da nimmt er gewisse Kräfte aus dieser Umgebung auf, die dann die Mut­ter bildet. Er fühlt sich allmählich verbunden mit dieser Lichtgestalt, und dann fühlt er, als ob er insbesondere in diesen zwei Kugeln darinstecken

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würde. Vorher sind sie ihm wie undurchdringlich erschienen, jetzt ist er selbst darin und fühlt dann die Kräfte, die ihm von allen Seiten her kommen, die gehen in ihn hinein. Dann durchsticht er diese zwei Kugeln, den Raum der Kugeln; der Raum verliert seine Un­durchdringlichkeit. Und das sind die Stellen, wo dann später die Augen sind. Wenn man sich so der physisch-irdischen Inkarnation nähert, so ist dasjenige, was man gerade nicht sieht, was aber bewirkt, daß wir sehen, die Augen. Sie sind wie undurchdringliche Kugeln, denen wir entgegenleben. Dann durchdringt man sie in der letzten Phase, bevor man die physische Welt betritt. Würde man das bewußt durchieben, so wäre das eigentlich ein wunderbares Phänomen. Den­ken Sie sich, wie man sich, herauswandelnd aus der geistigen Welt in die physische Welt hinein, sagt: Jetzt gehst du mit deiner Seele dieser physischen Gestalt entgegen. Du wirst da zwei finstere Kugeln finden. Die kannst du mit deinem jetzigen Seelensehen nicht 4urchschauen; das ist ganz voll von geistiger Substanz! - Dann bekommt man die Kraft, das zuerst geistig Undurchsichtige durchsichtig zu machen. Und wenn man dann, wie man sagt, «das Licht der Welt erblickt», dann sind diese Räume, die undurchsichtig waren, gerade der Grund, warum man sieht. Die Augen kann man nicht selber sehen; würde man sie sehen, so wurde man die Welt nicht sehen.

Wenn man nun durch die Pforte des Todes schreitet, dann ist hin­terher der Anblick des Todes auch deshalb eine so wunderbare Er­scheinung im geistigen Menschenleben nach dem Tode, weil mit dem ganzen Menschen etwas Ähnliches vorgeht, was hier mit den Augen vorging. Nur wird dasjenige, was jetzt mit dem ganzen Menschen vorgeht, bewußt durchgemacht. Man muß nach dem Tode im inner­lichen Erlebnis das Gefühl bekommen: Da bist du herausgegangen aus der Welt. Bisher hatte man im Auge die physische Welt als ein physisches Erlebnis, dasjenige, was gerade als Tableau der ätherische Leib zuletzt noch zeigt. Nun kommt man mit dem, was man als Selbst­erkenntnis erworben hat, durch die Pforte des Todes, und das wird dann Willenskraft. - Nun denken Sie, hier wäre der Tote. Er läßt zu­rück seine physischen Erlebnisse. Er strahlt seine Willenskraft aus, diese Willenskraft, die er sich durch Selbsterkenntnis erworben hat.

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Diese strahlende Willenskraft, die durch Selbsterkenntnis erworben ist, schafft dasjenige weg, was uns hindert, in die geistige Umwelt hineinzuschauen. Wie wir beim Hineingehen in die Geburt sozusagen die Durchtrübung des Auges fortschaffen, so schaffen wir das, was uns hindert, in die geistige Welt hineinzuschauen, durch diese Wil­lenskraft weg. Wir machen uns nach dem Tode durchsichtig. Das ist das bedeutsame Ereignis.

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Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, dann ist es ja, solange er den Ätherleib noch an sich hat, so, daß er wie in einem mächtigen Tableau übersieht sein ganzes Leben. Das steht vor ihm. Aber jetzt bekommt er auch das Gefühl: Du siehst dich! Das bist du, als du zwischen Geburt und Tod lebtest, das bist du alles selbst! -Nun regt sich in ihm alle Kraft der Selbsterkenntnis, die er sich er­worben hat, und durchsticht es gleichsam so, wie ich es geschildert habe; dadurch geht der Ätherleib weg. Dann ist es, wie wenn ein Schleier fiele, und das, was dahinter ist, kommt erst zum Vorschein, und das ist die geistige Welt. Es ist das ein ungeheures Erlebnis, durch die Pforte des Todes zu gehen und dadurch, daß der Ätherleib frei geworden ist, das ganze letzte Leben vor sich zu haben und das Gefühl zu bekommen: Dieses letzte Leben ist ein Schleier, der dir eine ungeheure Welt zudeckt, die du während des Lebens nicht hast sehen können. Nun kämpft gegen diesen Schleier, ihn beseitigend, die aus der Selbsterkenntnis hervorgegangene Willenskraft an. Und indem der Schleier zerreißt, erscheint die geistige Welt dahinter.

Man braucht nicht ängstlich zu sein etwa aus dem Grunde, weil

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sich jemand sagen könnte: In unserer gegenwärtigen Zeit haben doch so viele Menschen gar nichts getan, um zu einiger Selbsterkenntnis zu kommen. Man kann ja nach dem Urteil vieler Leute schon kaum ge­scheiter und intelligenter sein als ein gegenwärtiger Universitätspro­fessor der Philosophie; das ist doch das Ideal der Intelligenz in der Gegenwart. Und man kann doch so wenig veranlagt sein zur Selbst-erkenntnis wie ein so berühmter Mann, noch sogar ein Philosoph, Ernst Mach, der wirklich ein bedeutender Mensch ist! Es könnte also jemand kleinmütig werden und sagen: Um die Selbsterkenntnis steht es doch schlecht. - Freilich, wenn die Sache so läge, daß die Men­schen darauf angewiesen wären, nur diejenige Willenskraft aus der Selbsterkenntnis zu haben, welche aus dem Leben der Gegenwart folgt, dann stünde es recht schlimm um die Menschen! Die Menschen in der Gegenwart sind ja sehr stolz auf die ungeheuren Erkenntnis-fortschritte, die erreicht worden sind, von einer gewissen Seite her auch mit Recht. Denken Sie nur, wie ein Arzt der Gegenwart, der alles das kennt, was jetzt Arzneimode ist, stolz herabblickt auf die­jenigen, die noch vor gar nicht langer Zeit Ärzte waren. Das waren ja alles Toren, denkt er selbstverständlich. Mit Bezug auf die äußeren Erkenntnisse haben die Menschen im Laufe der letzten Jahrhunderte Mannigfaltiges gewonnen und erfahren über die äußere Welt, wie die äußerlichen Erscheinungen zusammenhängen und so weiter. Darin sind große Fortschritte gemacht worden. Aber mit Bezug auf Selbst­erkenntnis waren die älteren Zeiten, die wir in früheren Inkarnationen durchgemacht haben, der Gegenwart weit voran; so weit voran eigentlich, daß der gegenwärtige Mensch, wenn er materialistisch denkt, gar keine Vorstellung hat, was er mit dem, was aus alten Zeiten stammt, anfangen soll. Denn, was die Menschen heute als alte Vor­urteile ansehen, war im Grunde alles, indem es von den Seelen älterer Zeiten erlebt wurde, Selbsterkenntnis. Und was aufgezeichnet ist, das sind nur die letzten Reste der Selbsterkenntnis.

Nun ist es ja für das Erdenleben so, daß der Mensch mit dem ge­wöhnlichen äußeren Bewußtsein von seinen früheren Inkarnationen nichts weiß. Wir wissen zwar, daß es unter den Theosophen Men­schen gibt, die nach verhältnismäßig kurzer Zeit anfangen, furchtbar

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viel von ihren früheren Inkarnationen zu wissen. Ich lernte einmal in einer Stadt Europas eine Gesellschaft kennen, da saßen an einem Kaf­feetisch zusammen Seneca, Friedrich der Große, Kaiser Joseph, der Herzog von Reichstadt, Madame Pompadour, Marie-Antoinette und noch einige. Aber abgesehen von denen, die über ihre frühere In­karnation so viel wissen, nachdem sie ein wenig Theosophle gelernt haben, wissen die Menschen bekanntlich durch die gewöhnliche äußere Erkenntnis nicht sehr viel oder gar nichts von ihrer früheren Inkar­nation. Denn, so wahr es ist, daß der Mensch durch das, was ihm eben der gegenwärtige Menschheitszyklus gibt, nichts von der vor­hergehenden Inkarnation weiß, so wahr ist es, daß er für seine Wil­lensentfaltung nach dem Tode alles hat, was ihrn aus früheren Leben geblieben ist. Da ist es nämlich anders, zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Während zwischen der Geburt und dem Tod hier die Menschen nichts wissen von ihren früheren Inkarnationen, haben sie im Leben zwischen Tod und neuer Geburt alle Kräfte ihrer früheren Inkarnationen in sich, aber auch dasjenige, was immer durchlebt wor­den ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Wenn der Mensch also durch die Pforte des Todes geht, hat er nicht nur jene Willens­kraft, die aus der Selbsterkenntnis kommt, welche die Menschen heute meistens nicht haben, sondern alle Willenskräfte, die nicht aus der Selbsterkenntnis in diesem Leben kommen, sie kommen aus der Selbsterkenntnis, die der Mensch in früheren Zeiten durchgemacht hat. So daß es dem Menschen, wenn er. durch die Pforte des Todes geht, eben an der Willenskraft nicht fehlt, die dieses Gewebe weg-schafft, das durch das eigene Leben geflochten ist. Wenn der Mensch aber im Laufe der nächsten Jahrtausende sich neue Willenskräfte er­werben will, würde in dem gegenwärtigen Zeitenzyklus auch diese Selbsterkenntnis aus alten Zeiten immer mehr geschätzt werden. Da­her muß eben für die weitere Menschheitsentwickelung die Geistes­wissenschaft auftreten. Denn es ist der Gang der Menschheit so, daß die Willenskraft des Menschen zwar heute noch ausreicht, daß aber jetzt auch die Zeit beginnt, wo während der Erdenentwickelung diese Willenskraft dadurch gestärkt werden kann, daß der Mensch sich mit der geistigen Welt bekanntmacht.

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Einer Gefahr würde die Erdenentwickelung der Menschheit aus­gesetzt sein, wenn die Menschen sich etwa bis zum Ende der Erden­entwickelung von jetzt ab selber in jeder Beziehung sträuben würden, etwas von Geisteswissenschaft aufzunehmen. Dann würde der Mensch allerdings immer mehr und mehr daz:ukommen, drüben in der geisti­gen Welt wenig wahrnehmen zu können von den geistigen Dingen und Ereignissen. Er würde dies weniger und weniger können. Er würde immer weniger den Schleier, von dem ich sprach, durchdringen können. So sehen Sie, welche Bedeutung die zur Willenskraft um­gewandelte Selbsterkenntnis hat. Hier ist diese Erkenntnis Selbst­anschauung, drüben ist sie Selbstwillen, der darauf gerichtet ist, den Schleier von der geistigen Welt hinwegzuziehen. Gerade an den­jenigen, die durch die Pforte des Todes gehen, nimmt man wahr, wie wichtig es für sie ist, daß sie sich selber stärken in der Willenskraft, wie sie jetzt gekennzeichnet worden ist, in der Willenskraft, die aus der Selbsterkenntnis kommt. Daher ist es recht bedeutsam, daß der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geht, durch diese ver­schiedenen Stadien sich beschäftigt mit demjenigen, was in ihm ist, was in seinem Selbst ist, was er war während des irdischen Lebens. Und wenn jemand Gemeinschaft hat mit einem Toten, dann ist von einer großen, einer wesentlichen Bedeutung, diese Gemeinschaft auch dadurch noch besonders fruchtbar zu machen, daß man dem Toten, der hinwegging, zu Hilfe kommt in der Stärkung seines Selbstbewußt­seins, in der Erfüllung dieses Selbstbewußtseins. Das ist konkret so gemeint: Denken wir etwa, irgend jemand, der hier im physischen Leben mit uns war, ginge durch die Pforte des Todes. Indem wir mit ihm gelebt haben, wissen wir, wie er war, wissen wir, was er beson­ders gern getan hat und so weiter. Wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, dann hat er notwendig, dringend notwendig, gewisser­maßen alles dasjenige, was er will, durch starke innere Kräfte aufzu­bringen. Das muß ja herausffießen aus seiner Rückschau. Und wir können ihm zu Hilfe kommen, wenn wir so an ihn denken, wie er uns im Leben erschienen ist; wenn wir uns damit beschäftigen, ihm die Gedanken zuschicken, welche ihn selber charakterisieren. Neben den verschiedenen Dingen, die schon gesagt worden sind über unsere

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Beschäftigung mit den Toten, die von uns hinweggegangen sind, können wir den Toten auch dadurch zu Hilfe kommen, daß wir ihnen gleichsam das Bild von ihrem Wesen entgegenbringen. Damit neh­men wir ihnen eine gewisse Anstrengung ab in der Entfaltung jenes Willens, der den charakterisierten Schleier zerreißen muß. Daher kam es, daß sich mir nun das andere ergeben hat, von dem ich schon vor­gestern zu Ihnen gesprochen habe. Ergeben hat sich mir, als ich bei der Bestattung von Freunden vor kurzer Zeit zu sprechen hatte, daß ich mich in die Notwendigkeit versetzt fühlte, dasjenige, was in den Freunden lebt als ihr Wesen, gerade bei der Bestattung auszuspre­chen. Da ist nicht aus der Erinnerung heraus gesprochen worden, sondern es ist so heraus gesprochen worden aus meiner eigenen Seele, daß diese Seele sich ganz in die andere Seele versetzt hat, nachdem diese schon durch die Pforte des Todes geschritten war.

Wenn man es mit einer Seele zu tun hat, die schon durch die Pforte des Todes geschritten ist, dann handelt es sich darum, daß man sich in diese Seele versetzt. Hier in der physischen Welt ist der Gegenstand da, man schaut ihn von außen an. Im Geistigen ist es so, daß man mit seinem ganzen Wesen in diesem Geistig-Seelischen selber darin ist. Und da verhält es sich in dem einzelnen Falle, von dem ich vorgestern sprach, so, daß es eben möglich war, sich hineinzuversetzen in die Seele dieser Persönlichkeit, die da durch die Pforte des Todes gegan­gen war und die von mir also charakterisiert worden ist als eine Per­sönlichkeit, die sich durch lange Jahre vor ihrem Tode viel mit dieser unserer Weltanschauung beschäftigt hat, die ganz darin lebte, so daß sie ihren eigenen Inhalt, das, was sie als Wesen dadurch war, daß sie sich in Geisteswissenschaft eingelebt und gewisse Kräfte aufgenom­men hatte, nun in Worte fassen konnte, solange sie noch in ihrem Ätherleibe war. Das gelang mir aufzufangen von der Toten, die durch die Pforte des Todes gegangen war, und das mußte ich bei der Be­stattung sprechen.

In andern Fällen war es dann anders. Als ich zu sprechen hatte bei der Bestattung unseres lieben Fritz Mitscher, der ja den Mitgliedern unseres Zweiges hier besonders teuer sein muß, war es so, daß ich die Notwendigkeit fühlte, mich auch in diese Seele, die durch die Pforte

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des Todes gegangen war, voll zu versetzen. Aber nun ergab sich die Notwendigkeit, das, was diese Seele im Leben war für diejenigen, die mit ihr befreundet und um sie herum waren, auch als Mitglieder unserer anthroposophischen Bewegung, es ergab sich die Notwendig­keit, das in Worte zu fassen, um mit dieser Seele zusammen nach dem Tode das durchindenken und gemeinschaftlich zu durchleben, was Anspornung und Vergrößerung jenes Willens ist, der aus der Selbst­erkenntnis folgt. Da ergab sich dann die Notwendigkeit, gerade bei dieser Bestattung Dinge zu sagen, welche zusammenklingen mit dem, was unser lieber Freund Fritz Mitscher in den Zeiten seiner Entwicke­lung, nachdem er in unsere geisteswissenschaftliche Bewegung her­eingekommen war, durchanachte, was er sich angeeignet hat, wie ihn da sein inneres Karma getrieben hat. Und die Worte, die ich da zu sprechen hatte, sind ja, wie gesagt, nicht meine Worte, sie sind aus den Kräften seiner eigenen Seele hervorgegangen, aber so geformt, daß sie das Wesentliche der Jahre ausdruckten, die seinem Tode vor­ausgegangen sind. Ich mußte das sagen - nicht: ich wollte das sagen, was ich da zu sagen hatte. Natürlich ist es nicht etwas, was unmittelbar seine eigenen Worte waren; die betreffende Seele würde dies niemals von sich selber im Leben gesagt haben. Es ist dasjenige, was doch die andere Seele empfunden hat, die aber dann verbunden ist mit der Seele des Abgeschiedenen, so wie man nur mit einer Seele empfinden kann, die schon entkörpert ist. Ich will Ihnen diese Worte, die ich bei der Bestattung zu sprechen hatte, mitteilen:

Eine Hoffnung, uns beglückend:

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten,

Durch die Kraft des Seelenseins,

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Lautrer Wahrheitliebe Wesen

War Dein Sehnen urverwandt;

Aus dem Geisteslicht zu schaffen,

War das ernste Lebensziel,

Dem Du rastlos nachgestrebt.

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Deine schönen Gaben pflegtest Du,

Um der Geist-Erkenntnis hellen Weg

Unbeirrt vom Welten-Widerspruch

Als der Wahrheit treuer Diener

Sichern Schrittes hinzuwandeln.

Deine Geistorgane übtest Du,

Daß sie tapfer und beharrlich

An des Weges beide Ränder

Dir den Irrtum drängten

Und Dir Raum für Wahrheit schufen.

Dir Dein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Dir im Innern machtvoll strahle,

War Dir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten Deine Seele kaum,

Weil Erkenntnis Dir als Licht,

Was dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

Eine Hoffnung, uns beglückend:

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Ein Verlust, der tief uns schmerzt,

So entschwindest Du dem Feld,

Wo des Geistes Erdenkeime

In dem Schoß des Seelenseins

Deinem Sphärensinne reiften.

Fühle, wie wir liebend blicken

In die Höhen, die Dich jetzt

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Hin zu andrem Schaffen rufen.

Reiche den verlaß'nen Freunden

Deine Kraft aus Geistgebieten.

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Eine Hoffnung, uns beglückend,

Ein Verlust, der tief uns schmerzt:

Laß uns hoffen, daß Du ferne-nah,

Unverloren unsrem Leben leuchtest

Als ein Seelen-Stern im Geistbereich.

Wenn diese Worte nicht so genommen werden dürften, daß sie etwa von der Seele selbst gesprochen werden, so sind sie doch in solcher Gemeinschaft mit der Seele gesprochen gewesen, daß nach verhältnis-mäßig ganz kurzer Zeit sich von dieser Seele etwas offenbarte, was aber jetzt nur von der Seele kam; also nun gar nicht von meiner Seele, sondern nur von der Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen war. Und das klang dann so, und wiederholt seit jener Zeit her klin­gen mir immer wiederum diese Worte:

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten,

Daß die Seelen-Sonnenkraft

Mir im Innern machtvoll strahle,

War mir Lebenssorg' und Freude.

Andre Sorgen, andre Freuden,

Sie berührten meine Seele kaum,

Weil Erkenntnis mir als Licht,

Das dem Dasein Sinn verleiht,

Als des Lebens wahrer Wert erschien.

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Und als ich zum erstenmal, seither ist es öfter geschehen, diese Worte von dieser durch den Tod gegangenen Seele hörte, da kam ich erst darauf - denn dasjenige, was da vorgelesen worden ist, ist wirklich wortwörtlich so geschrieben, wie es gehört worden ist im Zusammen­hang mit der andern Seele -, da kam ich erst darauf, daß ein Zwie­gespräch entstehen konnte. Bei der Einäscherung war gesagt worden:

Dir Dein Selbst zur Offenbarung,

Reinen Lichtes zu gestalten ...

Dir und Dein, das kommt in diesen Strophen vor. Aber es war nicht irgendwie gemacht von mir. Ich merkte erst, als die Worte zurück-kamen aus der verstorbenen Seele, daß diese Worte so geformt waren, daß man sie eben auch in der ersten Person zurückgeben könne:

Mir mein Selbst zur Offenbarung

Reinen Lichtes zu gestalten...

Sie sehen da ein über das Grab hinausreichendes Zwiegespräch, eine Art Verständigung.

Ich möchte an dieses anknüpfend von etwas sprechen, was in unse­rer geisteswissenschaftlichen Bewegung ja oftmals erwähnt wird, wo­von man aber nicht oft genug sprechen kann. Sie finden in den Stro­phen, die an eine durch die Pforte des Todes gegangene Seele ge­sprochen worden sind, etwas anklingend, das am bedeutsamsten da ausgesprochen ist, wo gesagt wird:

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier im Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Nehmen Sie eine solche Sache nicht als bloße Worte. Das spricht von etwas, was im tiefsten Sinne bedeutungsvoll mit dem ganzen Wesen unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung zusammenhängt.

Wenn eine Seele so gestrebt hat wie diejenige, von der hier die Rede ist, so daß sie das, was sie sich aneignen konnte an Wissen, an Erfahrungen,

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durchdringen wollte mit den geisteswissenschaftlichen Im­pulsen, und sie geht so frühzeitig durch die Pforte des Todes, dann ist es wirklich so, daß solch eine Seele ein treuer Mitarbeiter bleiben kann. So war es etwas wie eine Bitte, wenn ich dieser Seele diese Worte nachgerufen habe, daß sie Helfer werde für dasjenige, was wir wollen müssen in die Erdenzukunft hinein. Denn das können Sie als ganz sicher betrachten: Die Kluft zwischen den Lebenden und den Toten muß im Laufe der Erdenentwickelung durch unsere Geistes­wissenschaft wirklich lebendig überbrückt werden. Wir müssen ler­nen, ebenso wie wir mit den im physischen Leibe Lebenden zusam­men sind, die Toten nicht als Tote, sondern als unter uns Lebende zu betrachten, als mit uns Lebende und Schaffende. Diejenigen, welche die sogenannten Toten sind, wirken dann mit uns mit jenen Kräften, die ihnen zur Verfügung stehen.

Wir müssen lebendig und nicht als Theorie das zu erfassen trachten, was die Geisteswissenschaft in uns an Impulsen schaffen und umsetzen soll in das lebendige Leben, das wir gerade der Kulturentwickelung aus dem Geiste heraus einfügen wollen. Und man muß wahrhaftig sagen: Man wird nach der Beschaffenheit unserer äußeren Kultur in der Zukunft die Hilfe derjenigen brauchen, die in den geistigen Wel­ten droben sind. Diejenigen, die hier auf Erden der geisteswissen­schaftlichen Bewegung wirklich Eingang verschaffen, die werden die toten Seelen brauchen. Daher wurde das gesagt, daß wir zum Erden-werke der Kraft aus Geisteslanden bedürfen, die wir toten Freunden danken. Es ist gleichsam ein bittender Auftrag, daß diese weiterarbei­tenden Seelen mit den Kräften, die gestärkt werden durch das, was sie hier aufnahmen, und durchdrungen von dem, was sie in Geistes-landen aufgenommen haben, mit uns wirken sollen auf Erden; daß sich diese durchdringen mit dem, was von derselben Art ist mit dem, was wir wollen.

Ach, es kommt ja so manchmal symptomatisch heraus, welche Schwierigkeiten und Herrunisse dasjenige, was wir unser anthropo­sophisches Erdenwerk nennen, findet. Unter mancherlei, was sich immer wieder beobachten läßt, sei jetzt nur das eine hervorgehoben. Da erschien in einer süddeutschen Zeitschrift vor einigen Jahren ein

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Artikel, der Aufsehen machte, weil die Kunde herumgetragen wurde, er rühre von einem sehr bedeutenden Philosophen her. Derjenige, der die Zeitschrift redigiert, heißt Karl Muth. Jener Karl Muth hat dazu­mal einen vielseitigen Artikel aufgenommen; als meine «Geheimwis­senschaft im Un:riß» erschienen ist, hat er diesen Artikel gebracht, eben in Anknüpfung an dieses Buch «Die Geheimwissenschaft». Es wäre mir vielleicht gar nicht so besonders schwierig gewesen, wenig­stens das Schlimmste, das in dem Artikel stand, die törichtsten Be­hauptungen, etwas auszumerzen. Denn mit der Wahrheit jenes gro­ßen Philosophen verhält es sich ja folgendermaßen: Er gilt vielen wirklich als ein großer Philosoph. Aber manchen, denen er im Leben nahegetreten ist - er braucht ihnen gar nicht besonders nahe getreten zu sein, ihnen nur einmal gegenübergesessen zu haben -, denen er­scheint er wie eine Art Klette, die sich anhängt. Und so erschien er mir, und ich habe mich seiner zu erwehren gehabt. Aber nachdem er mir Postkarte nach Postkarte, Brief nach Brief geschrieben hatte, schickte er mir auch als Manuskript diesen Artikel. Ich konnte mich nicht entschließen, den Artikel zu lesen, weil er schon zu töricht an­fing. Da hieß es zum Beispiel: Geheimwissenschaft nenne Steiner das, was er da in seinem Buche schrieb. Aber eine geheime Wissenschaft könne es gar nicht geben, denn das sei das Wesen der Wissenschaft, daß sie nicht geheim, sondern öffentlich sei. - Also, eine Geheim-wissenschaft widerspricht dem Wesen der Wissenschaft selbst! So fing es an. Und wo man blätterte, kam rnan auf solche unverschämten Torheiten, daß es mir fatal war, weiterzulesen, das Manuskript zu lesen. Es liegt immer noch irgendwo da. Es ist eine Torheit, dieses von der « Geheimwissenschaft», denn man braucht bloß deutsch zu können, um diese Torheit zu empfinden. Es ist das gerade, als wenn jemand sagte: Natürliche Wissenschaft gibt es nicht. Es gibt aber Naturwissenschaft! Eine geheime Wissenschaft gibt es freilich nicht, aber eine Geheimwissenschaft gibt es. Es war also zu töricht, aber der Herausgeber der Zeitschrift fand, daß es ein besonders bedeutender Artikel sei. Der Artikel ist viel gelesen worden, und es galt als etwas sehr Gescheites, was über die Geisteswissenschaft geschrieben wor­den ist, wo sie ja in Grund und Boden hinein kritisiert worden ist.

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Jetzt ist der Krieg gekommen. Jener Philosoph ist kein Deutscher, sondern er rechnet sich jetzt zu den ärgsten Feinden Deutschlands. Und nun schreibt er eine Anzahl von Briefen an denselben Karl Muth, der dazumal - verzeihen Sie den trivialen Ausdruck - sich die Finger abgeleckt hat, daß er den Artikel von dem berühmten Philo­sophen bekommen hat. Es ist schon viel an Gift und Galle über Deutschland und das deutsche Volk ausgeschüttet worden, aber so giftig, so schaurig wie dasjenige, was dieser berühmte Philosoph in Briefen an Karl Muth schrieb, ist eigentlich wenig verfaßt worden. Da finden sich wirklich die gräßlichsten Urteile und Kritiken über das Deutschtum und deutsches Wesen. Das Folgende kann nun sogar als ein gutes Zeichen betrachtet werden. Der betreffende Philosoph schrieb, nachdem er Gift und Galle gespuckt hat, leider nicht mit «geheimer Wissenschaft», weil die Zensur es gar nicht hinderte, über die Grenze zu gehen, so daß es sogar in München ankam, und Muth den Mut fand, diese Gift und Galle wieder abzudrucken; jetzt aber nicht, um den «bedeutenden Aufsatz eines bedeutenden Mannes» ab­zudrucken, sondern - nach Jahren druckt derselbe Karl Muth diese Schrift über die Deutschen ab und schreibt: Selbstverständlich müsse man einen Mann, der so schreibe, sich so vorstellen, daß er ins Narren­haus gehöre! - Sie sehen, für Karl Muth bedurfte es dieser Schrift über das deutsche Wesen, um darauf zu kommen, daß der Mann ein Narr ist. Vor einigen Jahren aber hat er denselben Narren auf unsere Geisteswissenschaft losgelassen. Ein vernünftiger Mensch konnte das schon dazumal wissen, aber Narren gelten oftmals auch als berühmte Philosophen; darauf kommt es nicht an! Aber Sie sehen daraus, wie die Dinge stehen, welchen Fährlichkeiten Geisteswissenschaft eigent­lich ausgesetzt ist. Wäre der Krieg nicht gekommen und Karl Muth darüber belehrt worden, daß eigentlich der gute Mann, dieser Pro­fessor Wincenty Lutoslawski, ein Narr ist, so würde er bei Gelegenheit wiederum einen die Geisteswissenschaft vernichtenden Artikel aus der Feder dieses «berühmten Philosophen» angenommen haben.

Daraus ersehen Sie auch, wie in unserer Zeit die Menschen oft nicht geneigt sind, durch ihre Urteilskraft darauf zu kommen, welchen Standpunkt sie der Geisteswissenschaft gegenüber einzunehmen haben.

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Das führe ich nur an, um an emem Beispiel zu zeigen - man könnte ja viele solche Beispiele anführen -, welchen Hindernissen unsere geisteswissenschaftliche Bewegung ausgesetzt ist; daß sogar diejeni­gen, die später als Narren angesehen werden müssen, gegen sie los­gelassen werden. Dann darf vielleicht auch das Urteil berechtigt sein, daß auch manches andere, was gegen diese Geisteswissenschaft gesagt wird, nicht gescheiter ist. Denn, wo es einmal recht eklatant bewiesen werden konnte, da ist es ja bewiesen worden.

Das müssen wir uns schon klarmachen, daß wir zum Lebendig-machen dessen, was die geisteswissenschaftlichen Impulse sind, auch die Kräfte gerade derjenigen brauchen, die durch des Todes Pforte gegangen sind, und die, bevor sie durch diese Pforte schritten, das­jenige aufgenommen haben, was im Lichte der Geisteswissenschaft enthalten ist. Die Kluft zwischen Lebenden und Toten muß vor allen Dingen zuerst auf unserem geisteswissenschaftlichen Felde selbst hin-weggeräumt werden. Darum muß immer wieder und wiederum etwas wie eine Ermahnung auftauchen: Das Bewußtsein, daß wir nahe­stehende Seelen hatten, solange sie im physischen Leibe unter uns wandelten, das wollen wir bewahren, ganz so wie es war vorher, nur eben entsprechend gerichtet nach der andern Lebensform; das wollen wir bewahren, auch wenn die betreffenden Seelen durch die Pforte des Todes gegangen sind. Denn zu dem Schönsten, zu dem Bedeut­samsten, was wir uns aus der Geisteswissenschaft erringen können, wird es gehören, wenn wir diejenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, ansehen können wie unter uns Lebende, wie uns Be­gegnende; ganz so, wie uns diejenigen begegnen, die im physischen Leibe leben. Und das wird eine wesentliche Unterstützung finden da­durch, daß jetzt so viele Seelen auf den Feldern, wo Neues sich vor­bereitet aus Blut und Tod heraus, in frühen physischen Lebensaltern durch die Pforte des Todes gehen und unverbrauchte Ätherleiber der geistigen Welt überliefern.

Der Ätherleib des Menschen ist ja so zubereitet, daß er bis in das höchste Alter hinein den Menschen mit Lebenskraft versorgen kann. Geht der Mensch nun im jugendlichen Alter durch die Pforte des Todes, so bleiben die Kräfte unverbraucht, die hier noch hätten verwendet

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werden können, wenn der Mensch ein höheres Alter erreicht hätte. Und wir können jetzt hinaufschauen in die geistige, die äthe­rische Welt, wo der Mensch noch einige Zeit bleibt, wenn er den physischen Plan verlassen hat; da sind von denen, die auf den Feldern der Ereignisse gefallen sind, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, eben viele jugendliche Ätherleiber vorhanden, die sich nicht gleich auflösen, sondern die bleiben, zusammenhaltend und die Kräfte enthaltend, die lange Zeit noch hätten Lebensverhältnisse versorgen können.

Diese Ätherleiber aber, sie werden da sein, sie werden Kräfte sein, die dann den Menschen zu Hiife kommen können, wenn diese mit dem Bewußtsein der Geisteswissenschaft sehnend hinaufschauen, da­hin, wo dasjenige sein wird, was in unverbrauchten Ätherleibern ent­halten ist. Jene Kräfte von oben werden sich verbinden denen, die sich bewußt verbinden wollen mit diesen Kräften aus dem geistes-wissenschaftlichen Bewußtsein heraus. Dieses fühlend und empfin­dend, sollen wir uns zu ihnen wenden. Wir sollen uns bekennen zu der geistigen Welt in lebendiger Weise. Wir sollen uns sagen können:

Menschen muß es geben gerade in der Zukunft, in der Zeit, die auf diesen Krieg folgen wird, hier auf dieser unserer Erde, welche Seelen in sich tragen, die so in die geistige Welt hinaufschauen können, daß ihnen diese unverbrauchten Ätherleiber Realitäten sein werden; daß ihnen das zur Realität wird durch die Erkenntnis der geistigen Welt. Dann wird Geisteswissenschaft sich als gewachsen zeigen dem, was nicht nur Erkenntnis ist, sondern reales Leben; reales Leben auch durch die schicksahragenden Ereignisse unserer Zeit. Und dann wird man sagen können: Dadurch, daß Seelen vorhanden sein werden in der Welt, die aufblicken zu den Ätherleibern da oben, die unver­braucht ihre Kräfte entwickeln, dadurch werden jene Menschenseelen auf der Erde aufnehmen können diese Kräfte und um so stärker wir­ken können. Und fruchtbar für die Erdenseelen in der Zukunft wer­den diese unverbrauchten Ätherleiberkräfte derjenigen sein, die heute auf den Feldern von Blut und Tod ihre Opfer dargebracht haben.

Aus diesem Grunde wollen wir auch heute wiederum gedenken jenes Zusammenwirkens, das entstehen kann zwischen den Seelen, die

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künftig durchseelt und durchgeistigt von geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen hlnaufblicken zu dem, was aus diesem Kriege von den Ätherleibern zurückbleibt, was entstehen kann aus diesem inneren seelischen Zusammenwirken. Wir wollen auch heute wiederum jene Worte in unsere Seelen schreiben, die ich jetzt gerne am Ende unserer Zweigbetrachtungen spreche, aus dem ganzen Zusammenhang der Zeitereignisse heraus:

Aus dem Mut der Kämpfer,

Aus dem Blut der Schlachten,

Aus dem Leid Verlassener,

Aus des Volkes Opfertaten

Wird erwachsen Geistesfrucht -

Lenken Seelen geistbewußt

Ihren Sinn ins Geisterreich.

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HINWEISE

Die in dem vorliegenden Band gesammelten Vorträge erscheinen erstmals in dieser Zusammenstellung. Abweichend von der ersten vorläufigen Planung wurden aus den unter Bibliographie-Nr. 159 und 160 vorgesehenen beiden Bänden die sieben in Stutt­gart und München gehaltenen Vorträge ausgegliedert, die in der Gesamtausgabe nun­mehr in einem anderen Zusammenhang erscheinen, während die verbleibenden fünfzehn Vorträge zu einem Band zusammengefaßt wurden. Auf diese Weise ergab sich eine stärkere thematische Geschlossenheit.

Die von Rudolf Steiner in verschiedenen Vorträgen verlesenen Sprüche für verstorbene Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft wurden stets im Text wiedergegeben, da andernfalls der innere Duktus der Vorträge beeinträchtigt worden wäre.

Von dem Vortrag Bremen, 21. Februar 1915, lag nur eine sumarisch gehaltene Nachschrift vor; gleichwohl wurde der Vortrag in den chronologischen Aufbau einbezogen.

Die Quellennachweise zu Ernst Mach, Seite 64, Michael Berruays, Seite 74, Emille Vedel, Seite 77, Haeckel, Seite 84 und 141, und Lutowslawski-Muth, Seite 199, stam­men von C. S. Picht, der die Herausgabe der Vorträge Leipzig, 7. März 1915 und Linz, 18. Mai 1915 als Einzelausgaben besorgt hat.

Folgende Vorträge wurden im «Nachrichtenblatt», Beilage zur Wochensehrift «Das Goetheanum», veröffentlicht:

Zürich, 31. Januar 1915 «Nachrichtenblatt» 1925, 2. Jg. Nrn. 2023

Nürnberg, 13. März 1915 (gekürzt> «Nachrichtenblatt» 1948, 25. Jg. Nrn. 4347

Wien, 7. Mai 1915 «Nachrichtenblatt» 1946, 23. Jg. Nrn. 1-5

Wien, 9. Mai 1915 «Nachrichtenblatt» 1946, 23. Jg. Nrn. 23-25

Elberfeld, 13. Juni 1915 «Nahlurichtenblatt» 1940, 17. Jg. Nrn. 35-38

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle inner-halb der Gesamtausgabe erschienen. Siche die Übersicht am Schlusse des Bandes.

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9 Sibyl Colazza: Siche Rudolf Steiner «Unsere Toten», Ansprachen, Gedenkworte

und Meditationssprüche 1912-1924, Bibl.-Nr. 261, Gesamtausgabe Dornach 1963,

S. 116 ff.

Fritz Mitscher: a.a.O. S. 122ff.

25 Gieroano Bruno, 1548-1600. Nach seiner Lehre ist unser Sonnensystem nur eine

von unzihlburen Welten, die Teile des nach Rautn und Zeit unendlichen Alls

sind «Dell' ininnito, universo e mondi», London 1584, deutsche Übersetzung

von Ludwig Kuhlenbeck «Vom Unendlichen, dem All und den Welten», Berlin

1893.

26 Wenn Sie nachlesen den Zykle,s: «Christus und die geistige Welt - Von der Suche

nach dem heiligen Gral», 6 Vorträge Leipzig, 28. Dezember 1913 bis 2. Januar

1914. Bibl.-Nr. 149, Gesamtausgabe Dornach 1960, 6. Vortrag.

32 gestern im öffentlichen Vortrag: «Die verjungenden Kräfte der deutschen Volks­

seele». Siehe den gleichnamigen Vortrag Berlin, 4. März 1915 in «Aus schicksal­

tragender Zeit», 14 Vorträge Berlin, Nürnberg, München, 29. Oktober 1914 bis

28. November 1915. Bibl.-Nr. 64, Gesamtausgabe Dornach 1959.

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36 im ktzten Mysteriendrama: «Der Seelen Erwachen. Seelische und geistige Vor-gange in szenischen Bildern», Sechstes Bild, in «Vier Mysteriendramen». Bibl.-Nr.14, Gesamtausgabe Dornach 1962; Einzelausgabe Dornach 1956.

38 durch rin Brispiel erläutern: Linz Grosheintz-Rohrer. Siehe Hinweis zu S.9, S. 108 ff.

41 Theo Faiß: a.a.O. S. 101ff.

51 die Legende von Olaf Asteson: «Welten-Neujahr. Das Traumlied vom Olaf Asteson », Vortrag Hannover, 1. Januar 1912. Einzelausgabe Dornach 1958; Gesamtaus­gabe Bibl.-Nr. 158.

58 Wenn man mit dem Verstand die äußeren Ursachen erforscht: Die Nachschrlft ist ins­besondere an dieser Stelle und im folgenden Absatz lückenhaft.

die normannischen Stämme: Die Normannen, auch Wikinger genannt, unternahmen von Skandinavien und Dänemark aus kühne Eroberungszüge. In Franlcreich setz­ten sie sich unter ihrem Führer Rollo an der Seinemündung fest; das ihnen ab­getretene Gebiet wurde unter dem Namen Normandie französisches Herzogtum. Ein Nachkomme Rollos, Wilhelm der Eroberer, unterwarf 1066 England.

59 Im Osten rücken die normannischen Menschen hinunter: Nach der ältesten russischen

Quelle, der Nestor-Chronik, beriefen die Nowgoroder Slawen 862 die drei Bruder

Rurik, Sineus und Truwor aus dem normannischen Warägerstanirn zu ihren Für-

sten. Der Name Ros oder Rus (raßj), wahrscheinlich verwandt mit der finnischen

Bezeichnung Ruotsi für Schweden, ging später auf die Ostslawen über.

der Name Rurik: almordisch Hrörekr. Das von ihm abstammende Hertscher­geschlecht der Rurikiden erlosch mit dem Moskauer Zaren Feodor L (t 1598).

eine der russischen Volksseele völlig fremde Religien: Vgl. «Geschichtliche Symptoma­tologie», 9 Vorträge, Berlin, 18. Oktober bis 3. November 1918. Bibl.-Nr. 185, Gesamtausgabe Dornach 1962, 3. Vortrag vom 20. Oktober 1918.

60 Als wir unsere geistige Bewegung begannen: Siehe «Die Geschichte und die Bedingun­gen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft», 8 Vorträge, Dornach, 10.-17. Juni 1923. Bibl.-Nr. 258, Gesamt­ausgabe Dornach 1959.

Daher die groteske Idee: Der Inderknahe Krishnam'rrti wurde von Annle Besant und ihren Anhängern als der wiedergeborene Christus propagiert.

62 im Wiener Zyklus: «Inneres Wesen des Menschen und Leben Zwischen Tod und neuer Geburt», 8 Vorträge, Wien, 6.-14. April 1914. Bibl.-Nr. 153, Gesamt­ausgabe Dornach 1959.

63 In einem sokheu Fall: Die folgenden Ausführungen, die sich auf Fritz Mitscher beziehen, fehlen in der Nachschrift.

64 Ein groteskes Beispiel: «Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes, widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich erkannte, daß es mein eigenes sei, welches ich, an einer Spiegel-niederlage vorbeigehend, durch zwei gegeneinander geneigte Spiegel wahrgenommen

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hatte. - Vor nicht langer Zeit stieg ich nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. , dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber hing ein großer Spiegel... Der Klassenhabitus war mir also viel geläufiger als mein Spezialhabi­tus.» Ernst Mach, «Beiträge zur Analyse der Empfindungen», Jena 1886, S. 3.

64 Ferdinand Maack, 1861-1930, Arzt, Verfasser abwegiger okkultistischer Schritten.

69 am 25.Juli 1914: Ablehnung des österreichischen Ultimatums durch Serbien.

70 Einkreisung durch den vorigen englischen König: Eduard VII., 1841-1910, war führend

an der deutschfeindlichen Bündnispolitik Großbritanniens beteiligt.

die schon im Jahre 860 begonnen hat: Vgl. Hinweise zu Seite 58 und 59.

73 nach einem sehr schönen Ausspruch Goethes: Gespräch mit Eckermann am 1. September

1829.

schrieb Goethe: Brief an Zelter vom 20. Februar 1828.

74 Es ist einem deutschen Philologen gelungen: Michael Bernays, «Schriften zur Kritik und Literaturgeschichte», I. Bd. «Zur neueren Kulturgeschichte», Stuttgart 1895, S. 70ff.

75 in meinen Mysteriendramen die Sprache so gewählt: Vgl. Rudolf Steiner «Über die

Mysteriendramen und ,

Vortrag vom 19. Dezember 1911. Einzelausgabe Dornach 1964, Gesamtausgabe

Bibl.-Nr. 127.

77 namentlich die französischen Übersetzungen: Als Beispiel nennt C. S. Picht die Über-

setzung von Emille Vedel, Paris 1913: «C'est le charme éternel de la femme qui

nous éléve aux cieux». - Siehe hierzu Rudolf Steiner «Geisteswissenschaftlichc

Erläuterungen zu Goethes , Bd. I «Faust, der strebende Mensch». Bibl.-

Nr.272, Gesamtausgabe Dornach 1967, Vortrag Straßburg, 23. Januar 1910.

80 Ladwig Feuerbach, 1804-1872. Seine Schrift «Gedanken über Tod und Unsterb­lichkeit», Nürnberg 1830, wurde von der Zensur beschlagnahmt. Zu dem folgen­den Zitat siehe «Sämtliche Werke», Stuttgart 1903-1911, Bd. I, S. 46f.

81 Hegel hat gesagt: «Die Gesetze der absolut freien Bewegung sind bekanntlich von Kepler entdeckt worden; eine Entdeckung von unsterblichem Ruhme. Bewiesen hat Kepler dieselbe in dem Sinne, daß er für die empirischen Data ihren allgemei­nen Ausdruck gefunden hat (§ 227). Es ist seitdem zu einer allgemeinen Redensart geworden, daß Newton erst die Beweise jener Gesetze geflinden habe. Nicht leicht ist ein Ruhm ungerechter von einem ersten Entdecker auf einen anderen über­gegangen... Es ist nichts als der Unterschied zu sehen, daß das, was Kepler auf eine einfache und erhabene Weise, in der Form von Gesetzen der himmlischen Be­wegung ausgesprochen, Newton in die Reflexionsform von Kraft und Schwere, und zwar de'selben, wie im Falle das Gesetz ihrer Größe sich ergibt, umgewandelt hat.» Hegel, «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften». Zweiter Teil: Natur-philosophie, § 270.

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vergeblich hat der dentsche Philosoph daver gewarnt: «Wie z.B. von England, dessen Verfassung darum als die freieste angesehen wird, weil die Privatpersonen eine überwiegende Teilndrue an dem Stautsgeschafte haben, die Erfahrung zeigt, daß dies Land in dcr bürgerlichen und peinlichen Gesetzgebung, dem Rechte und der Freiheit des Eigentums, den Veranstaltungen für Kunst und Wissenschaft usf., gegen die anderen gebildeten Staaten Europas am wcitesten zurück und die ob-jektive Freiheit, d. i. vernüaftiges Recht, vielmehr der formellen Freiheit und dem besonderen Privatinteresse (dies sogar in den der Religion gewidmet sein sollen­den Veranstaltungen und Besitztümern) aufgeopfert ist.» Hegel, a.a.O. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, § 544.

82 gestern im öffentlichen Vertrag: «Die tragende Kraft des deutschen Geistes». Siehe den gleichnamigen Vortrag Berlin, 25. Februar 1915 in <(Aus schicksaltragender Zeit» (vgl. Hinw. zu S. 32).

83 ah ich das erste Mal nach Lnnsbn gekommen bin: am 4. Jull 1903 zur Versammlung der Föderation der Europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft.

Georg' R. S. Mend, 1863-1933, der letzte Privatsekretär von H.P. Blavatsky. Im

Zusammenhang mit dem Ausschluß der Deutschen Sektion im Jahre 1913 trat

Mead später aus der Theosophischen Gesellschaft aus. Vgl. «Geschichtliche

Symptomatologie» (vgl. Hinw. zu S. 59), 6. Vortrag vom 27. Oktober 1918.

84 wenn Haeckel sich hinstellt vor die Welt: Siehe Ernst Hasekel, «Ewigkeit. Welt­kriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre», Berlin 1915, S.65 und 114; «Englands Blutscbuld am Weltkriege», Eisenach 1914.

85 «Jur Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg»: Johann Gottlieb Fichte, «Reden an die deutsche Nation», Berlin 1908, Erste Rede.

in Fichtes Reden am Schluß: Vierzehnte Rede: ... außer dem rechtmäßigen Ent­schlusse, in Sachen des Gewissens durch äußere Gewalt uns nicht gebieten zu lassen, trieb uns noch ein höherer Geist, der uns niemals sich ganz enthüllte. Euch ist er enthüllt, dieser Geist, falls ihr eine Sehkraft habt für die Geisterwelt, und blickt euch an mit hohen klaren Augen. Das bunte und verworrene Gemisch der sinnlichen und geistigen Antriebe durcheinander soll überhaupt der Welt­herrschaft entsetzt werden, und der Geist allein, rein und ausgezogen von allen sinnlichen Antrieben, soll an das Ruder der menschlichen Angelegenheiten treten. Damit diesem Geiste die Freiheit werde, sich zu entwickein und zu einem selb­ständigen Dasein emporzuwachsen, floß unser Blut. An euch ist's, diesem Opfer seine Bedeutung und Rechefertigung zu geben, indem ihr diesen Geist einsetzt in die ihm bestimmte Weltherrschaft.»

87 Wiener Zyklns: Vgl. Hinweis zu Seite 62.

90 Ernst Mach: Siehe Hinweis zu Seite 64.

102 das Wort des Paulus: Galater 2, 20.

114 «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt»: Siehe Hinweis zu Seite 62.

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121 Zyklus über die Missien der Volksseelen: «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der gernunisch-nordischen Mythologie», 11 Vorträge Kristiania (Oslo), 7.-17. Juni 1910. Bibl.-Nr. 121, Gesamtausgabe Dornach 1962.

122 Was oftmals erzählt wird: Siehe Hinweis zu Seite 59.

125 Fazit der Barfafler'eltanschauung: Das folgende Zitat aus der dramatischen Dichtung von Maxim Gorki «Das Nachtasyl» entstammt Dtnitrij Mereschkowski, «Der Anmarsch des Pöbels», übersetzt von Harald Hocrschelmann, München und Leipzig 1907, S. 70.

134 Das Herdersche Wort: «Die Kette der Bildung allien macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Men­schengeist unsterblich und fortwirkend lebet... Immer verjüngt in seinen Ge­stalten, blüht der Genius der Humanität auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen weiter.» Herder, «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch­heit», Neuntes Buch I.

141 daß Ernst Haeckel in seiner ganzen Weltanschauung... absolut Engländer ist: «Ich per­sömich habe die großartigen Verdienste, welche sich das kleine britische Insel­reich - dank den kostbaren Vorzügen seiner insularen Selektion und seinen geo-graphischen Verbindungen - um die menschliche Kultur erworben hat, stets bereitwillig anerkannt. Außerdem bin ich dabei durch meine Arbeiten über den Darwinismus (seit 50 Jahren), durch den persönlichen Verkehr mit Darwin und Huxley, mit Lyell und John Murray, sowie mit zahlreichen anderen berühmten Naturforschern in England und Schottland in die angenehmsten und fruchtbar­sten persönlichen Beziehungen getreten.» Haeckel, «Ewigkeit. Weltkriegsgedan­ken über Leben und Tod...» (vgl. Hinweis zu S. 84), S. 114.

den Satz übersetzen, der urdeutsch ist: Siehe hierzu «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens», Bibl.-Nr. 7, Gesamtausgabe Dornach 1960.

142 das urhegeliche Diktum: «Jedermann hat eine Vorstellung vom Werden und wird ebenso zugeben, daß es Eine Vorstellung ist; ferner daß, wenn man sie analysiert, die Bestimmung vom Sein, aber auch von dem schlechthin Anderen desselben, dem Nichts, darin enthalten ist; ferner daß diese beiden Bestimmungen ungetrennt in dieser einen Vorstellung sind; so daß Werden somit Einheit des Seins und Nichts ist.» Hegel, «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften», Erster Teil:

Die Wissenschaft der Logik, § 88, 3.

145 wenn Fichte sagt: «...was an Geistigkeit und an die Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei, und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun.» «Reden an die deutsche Nation», Siebente Rede.

146 eine Art geistigen Vorspieles: Vgl. Hinweise zu Seite 60.

in meinem ersten Mysteriendrama: «Die Pforte der Einweihung», Erstes Bild. Bibl.-Nr.14, Gesamtausgabe Dornach 1962.

in einer englischqheosophischen Zeitschr'ft: «The Theosophist», London 1914, Vol. XXXVI, Nr.3.

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147 Und enige Monate vor dem Kriegsausbruch: Siehe Rudolf Steiner «Die Entstehung und Entwickelung der Eurythmie», Bibl.-Nr. 277a, Gesamtausgabe Dornach 1965, S. 173.

Emile Dalcroze, 1865-1950, begrundete eine rhythmische Gymnastik.

151 Wort des Paalus: i. Kot. 15, 14.

153 gestern im öffentichen Vortrag: «Die übersinnliche Erkenntnis und ihre stirkende Seelenkraft in unserer schicksaitragenden Zeit». Entsprechende Angaben ent­halten die Vortetge Berlin, 16. und 23. April 1915 in: «Ans schicksaitragender Zeit», Bibl.-Nr. 64, Gesamtausgabe Dorinach 1959

169 Die Legende von Olaf Asteson: Siehe Hinweis au Seite 51.

186 Jakob Böhme, 1575-1624.

188 Angelus Silesius, 1624-1677. Wörtlich lautet der Spruch:

Ich sterb und Ich auch nicht,

Gott selber stirbt in rnrr,

Und was ich leben soll,

Lebt er auch für und für.

Giordano Bruno: Vgl. Hinweis au Seite 25.

Ren< Descartes, 1596-1650.

189 John Locke, 1632-1704.

David Hnme, 1711-1776.

James Mill, 1773-1836.

Herbert Spencer, 1820-1903.

Wlaoimir Solowjow, 1853-1900. «Ausgewählte Werke». Aus dem Russischen über­tragen von Harry Köhler. Vier Bände, Stuttgart 1921-1922, Bd. m mit einer Einführung von Rudolf Steiner. -

190 Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, 1821-1881. Seine Reisen nach Westeuropa be­atirkten ilin in der Üherseugung, das Streben nach Macht habe den Westen dem Christentum entfremdet. Die zitierten Gedanken finden sich in dem «Tagebuch eines Schriftstellers», auerst 1873 in der Petersburger Wochenschrlft «Grashda­nin» veröffentlicht.

Slawophilen: nennt man eine Reihe russischer Philosophen des 19. Jahrhunderts, die im Gegensatz au den «Westlern» die Emanzipation der russischen Kultur vertraten.

Panslawismus: ursprünglich eine wissenschaftliche Bezeichnung für die Verwandt-schaft der slawischen Sprachen. Der Volkstumgedanke der Slawophilen führte zu der Forderung, alle slawischen Völker unter russischer Herrschaft zu vereinen.

191 bis er auf das Richtige kam: Siehe Solowjow a.a.O. Vierter Band, «Die nationale Frage in Rußland», II. Teil, S. 315ff

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191 Joseph- Marie Comte de Maistre, 1753-1821, trat in seiner Staatsphilosophie für den Absolutismus und &C feudale Gesellschaftsordnung ein. Im Katholizismus und im päpstlichen Primat sah er die Grundlage des staatlichen und sozialen Lebens.

deutsches Buch aus dem 19. Jabrhsotdert: Gemeint ist Heinrich Rückert, «Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Entwkklung», 1857. Beim Abdruck des Vor­trags im «Nachrichtenblatt» 1946, Nr. 24, wurde hier ein Fehler in der Nach-schrift übernommen.

192 in dem öffentliche>' Vortrag: «Das Schicksal des Menschen im Lichte der Erkenntnis geistiger Welten», Wien, 8. Mai 1915. Bibl.-Nr. 70, Gesamtausgabe.

195 Schrifisteller der materialistischen Zet: Daniel Defoe, 1660-1731, «The life and strange surprising adventures of Robirson Cn:5oe of York», 1719.

die Brüder Grimm: Jakob Grimm, 1783-1863, und Wilhelin Grimm, 1786-1859, gaben von 1810 an die «Kinder- und Hausmirchen» heraus. Siche hierz'u den Vortrag Berlin, 6. Februar 1913 «Märehendichtungen im Lichte der Geistes-forschung» in: «Ergebnisse der Geistesforschung», 14 Vorträge, gehalten zwi­schen dem 31. Oktober 1912 und 10. April 1913 in Berlin. Bibl.-Nr. 62, Gesamt-ausgabe Domach 1960.

196 Es ist jetzt 35 Jahre her: 1882 wurde Rudolf Steiner die Herausgabe von Goethes Natuuwissenschaftlichen Schrlften in Kürschners «Deutscher National-Literatur »übertragen. Band I, Schriften über die Bildung und Umbildung organischer Naturen, erschien 1883. Die Einleitungen und Erläuterungen von Rudolf Steiner au den vier Bänden erschienen als Sonderausgabe unter dem Titel: Rudolf Steiner «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», Domach 1926, deutsche Lizenz-ausgabe Freiburg 1949. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. i. - Siehe hierzu den Brief-wechsel zwischen Karl Julius Schröer, Joseph Kürschner und Rudolf Steiner in «Blätter für Anthroposophie», 13. Jg. Nr.2 Februar 1961.

der englischste Naturforscher in Deutschla>'d: Vgl. Hinweise au Seite 84 und 141.

199 Ein auftehenerregender Artikel: Wincenty Lutoslawski, «Rudolf Steiners sogenannte » in «Hochland», 8. Jg., i. Heft Oktober 1910, S. 45-58. Der Herausgeber der Zeitschrift, Prof. Karl Muth, bezeichnet Lutoslawski in einer redaktionellen Bemerkung im 7. Heft des gleichen Jahrganges als einen «Autor, der als Mensch und Denker hervorragt». In «Kriegshefte der Süddeut­schen Monatahefte», München, Februar 1915, S. 623-631 schreibt Muth unter Bezugnahme auf seinen Briefwechsel mit Lutoslawaki u. a.: «Lutoslawski hat im nebst mehreren kleinen Beitragen drei Hauptartikel veröffentlicht über die Theosopbie Rudolf Steiners, über Wifiensühungen und über seine Be­kehrung [aur Katholischen Kirche], die alle viel brachtet wurden. Die Aufzeich­nungen enthalten merkwürdige biographische Aufschlüsse... Wo in ganz Deutsch­land fände sich auch nur ein Mensch - außerhalb der Irrenhäuser -, der so von allen guten Geistern verlassen und einer großen weltgeschichtlichen Situation wie der gegenwärtigen so verblendet und ideenarm gegenüberstünde, wie dieser Lektor der Philosophie an der Genfer Universität! Denn nicht genug, sich das überreizte Gehirn in einem brieflichen Ergusse entlastet zu haben, wünscht er, daß auch dieser Brief in die Öffentlichkeit komme.»

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229 in einer suddeutschen Monatsschr'ft: Vgl. Hinweis zu Seite 199.

235 im gestrigen öffentlichen Vortrag: «Die übersitliche Erkenntnis und ihre stärkende Secienlrraft in unserer schicksaitragenden Zeit». Vgl. Hinweis zu Seite 153.

237 erst im 19. Jahrhundert: Bis 1822 standen Werke, die von der Bewegung der Erde um die Sonne handelten. aaf dem Index der von der katholi8chefl Kirche verbote­nen Bücher.

240 tragische Figur wie Ernst Haeckel: Vgl. Hinweise zu Seite 84 und 141.

Seit 1884 bemühe ich mich: Vgl. Hinweis zu Seite 196.

244 Herman Grimm sagt einmal: «Längst hatte schon in meiner Jugend die große La Place-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergang der Erdkugel Platz gegriffen... Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zu­kunft gedacht werden als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aask'uochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes, appetitliches Stück im Ver­gleich zu diesem letzten Schöpfimgsexktement, als welches unsere Erde schließ­lich der Sonne wieder anheimiiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Gene­ration dergleichen aafrlmmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kninket Phan­tasie, die als ein historisches Zeitabänomen zu erklären die Gelehrten künftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.» Herman Grimm, «Goethe­Vorlesungen», II. Bd., Stuttgart und Berlin 1913, S. 171 f.

250 gestern im öffentlichen Vortrag: «Die übersinnliche Erkenntnis und ihre stärkende Seelenkraft in unserer schicksaltragenden Zeit». Vgl. Hinweis zu Seite 153.

254 Legende von Olaf Astesen: Siche Hinweis zu Seite 51.

257 Natur macht keine Sprünge: in dieser Form zuerst bei Karl von Linné, «Philosophia botanica», Stocltholm 1751, Nr.77.

263 in verschiedenen Vortragszyklen: Siehe insbesondere «Die spirltuellien Hintergründe

der äußeren Welt - Der Sturz der Geister der Finsternis», 14 Vorträge, Dornach,

29. September bis 28. Oktober 1917. Bibl.-Nr. 177, Gesamtausgabe Dornach

1965.

im ersten meiner Mysteriendramen: Siehe Hinweis zu Seite 146.

französisch-rnssische Bündnis: 1897 zwischen Präsident Faure und Zar Nikolaus II. verabredet.

265 Houston Stuart Chamberlain, «Neue Kriegsaufsätze», München 1915, S. 36

269 «Friedensgesellschaft»: Gemeint sind die Haager Friedenakonferenzen von 1899 und

1907, die beide auf Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. einberufen wurden.

270 Seit den achtziger Jahren bemühe ich mich: Vgl. Hinweis zu Seite 196.

271 Ernst Haickel: Vgl. Hinweise zu Seite 84 und 141.

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272 Robert Hamerling, 1830-1889. Vergl. Rudolf Steiner «Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1886-1902», Bibl.-Nr. 32; ferner «Vom Menschenrätsel», Bibl.-Nr. 20, Gesamtausgabe Dornach 1957; «Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28, Gesamtaus­gabe Dornach 1962; «Robert Hamerling, ein Dichter und ein Denker und ein Mensch», Dornach 1939.

Bartbolomäus Ritter von Carneri, 1821-1909. Vergl. Rudolf Steiner «Carneri, der

Ethiker des Darwinismus» in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie

1884-1901», Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961; ferner «Vom Menschen-

rätsel» und Anten Bruckner, 1824-1896.

274 in einer silddeutschen Zeitschrift: Siche Hinweis zu Seite 199.

310 Alexander Iwanowitsch Herzen, 1812-1870, wegen Teilnahme an einem Moskauer Studentenzirkel verbannt, lebte seit 1846 in Paris, später in London, Genf und Brüssel. «Vom anderen Ufer», Hamburg 1850, russisch erst 1858.

313 im öffentlichen Vortrag: «Warum nennen sie das Volk Schilliers und Fichtes ein Bar. barenvolk?». Siehe den Vortrag Berlin, S. November 1914, in: «Aus schicksal­tragender Zeit», vgl. Hinweis zu Seite 32.

die Haupt- und Zentralidee Solowjows: zu den folgenden Ausführungen «Ausgewählte Werke», vgl. Hinweis zu Seite 189, Bd. I, i, Die geistigen Grundlagen des Lebeus, S. 68 ff.; Bd. I, 2 Sonntags- und Osterbriefe, S. 45 ff.

315 dieser Paulus-Spruch: Vgl. Hinweis zu Seite 151.

316 mit dem Ausspruch: Matth. 28, 20.

Paulinischer Ausspruch: Vgl. Hinweis zu Seite 102.

343 ein's Buches..., das im Auslande erschien'n ist: «J'accuse. Von einem Deutschen»,

3. Aufl. Lausanne 1915. 348 der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mil andern Mitteln: Abgewandeltes Zitat aus dem Werk des preußischen Generals Karl von Clausewitz «Vom Kriege», 1832. 354 Er"st Mach: Siehe Hinweis zu Seite 64. 368 ein Artikel, der Auftehen machte: Siehe Hinweis zu Seite 199.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.