GA 213

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Menschenfragen und
Weltenantworten

Dreizehn Vorträge,
gehalten in Dornach zwischen dem
24. Juni und 22. Juli 1922

GA 213

1969

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 24. Juni 1922

Ich werde heute einiges auseinanderzusetzen haben, das scheinbar etwas abliegt von den konkteteren Betrachtungen unserer Anthropo­sophie, das aber dennoch die Grundlage von vielen Anschauungen bilden muß, und auf das dann in intimeren Betrachtungen manches gebaut werden kann.

Wenn wir sprechen von dem Physisch-Leiblichen des Menschen auf der einen Seite und dem Geistig-Seelischen auf der anderen Seite, dann liegt ja für die Erkenntnis, für das Auffassungsvermögen des Menschen eine Schwierigkeit vor. Der Mensch kann verhältnismäßig leicht Vorstellungen gewinnen über das Physisch-Leibliche. Dieses Physisch-Leibliche ist ihm ja durch die Sinne gegeben. Es gehört sozusagen zu demjenigen, was von allen Seiten seiner Umgebung ihm entgegentritt, ohne daß er dazu selbst Wesentliches tut, wenigstens insofern sein Bewußtsein in Betracht kommt. Anders liegt die Sache, wenn von dem Geistig-Seelischen gesprochen wird. Das Geistig-See­lische ist ja von der Art, daß der Mensch, wenn er unbefangen genug ist, ein deutliches Bewußtsein davon hat, daß es vorhanden ist. Die Menschheit hat ja auch immer in ihre Sprachen Bezeich­nungen, Worte, Satzwendungen aufgenommen für das Geistig-Seeli­sche, und schon die Tatsache, daß solche Worte, Wendungen, Be­zeichnungen innerhalb der Sprache sich befinden, zeigt, daß für das unbefangene Bewußtsein immerhin doch etwas da ist, was den Men­schen hinweist auf das Geistig-Seelische.

Die Schwierigkeit entsteht aber sofort, wenn der Mensch die Welt des Physisch-Leiblichen und die Welt des Geistig-Seelischen in eine Beziehung bringen will. Und dieses Aufsuchen einer Beziehung bie­tet gerade für diejenigen, die sich, sagen wir, in philosophischer Weise mit solchen Fragen beschäftigen, die denkbar größten Schwie­rigkeiten. Sie wissen, daß das Leiblich-Physische im Raume ausge­dehnt ist. Sie können sogar dieses Leiblich-Physische im Raume dar­stellen. Und der Mensch bekommt verhältnismäßig leicht Vorstellungen

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davon, weil er eben dasjenige, was ihm der Raum darbietet mit seinen drei Dimensionen, verwenden kann zu den Vorstellungen über das Leiblich-Physische. Aber der Mensch findet schließlich nirgends im Raume das Geistige als solches.

Menschen, die da glauben, nicht materialistisch gesinnt zu sein, die es aber erst recht sind, die möchten sich allerdings auch das Gei­stig-Seelische im Raume vorstellen und kommen dadurch zu den be­kannten spiritistischen Verirrungen. Die spiritistischen Verirrungen sind ja materialistische Verirrungen; sie sind ein Bestreben, das Gei­stig-Seelische in den Raum hereinzubringen. Aber ganz abgesehen da­von ist es ja so, daß der Mensch sich seines eigenen Geistig-Seelischen bewußt ist. Er weiß, wie das Geistig-Seelische wirkt, denn er sagt sich, daß sein Gedanke, den er hegt, wenn er zum Beispiel sich vornimmt, im Raume eine Bewegung zu machen, sich umsetzt in die Bewegung vermittelst des Willens. Die Bewegung ist im Raume; aber von dem Gedanken kann der unbefangene Mensch nicht sagen, daß er im Raume ist. Und so haben sich gerade für das philoso­phische Denken die größten Schwierigkeiten ergeben. Man frägt: Wie kann das Seelisch-Geistige im Menschen, zu dem auch das Ich gehört, auf das Physisch-Leibliche, das im Raume ist, wirken? Wie kann ein Unräumliches auf ein Räumliches wirken?

Es sind die verschiedensten Theorien entstanden, welche mehr oder weniger alle an der Schwierigkeit leiden, das unräumliche Geistig-Seelische in eine Beziehung zu bringen zu dem räumlichen Leib­lich-Physischen. Man sagt, im Willen wirke das Geistig-Seelische auf das Leibliche. Aber zunächst kann mit dem gewöhnlichen Bewußt­sein niemand sagen, wie der Gedanke in den Willen hineinffießt, und wie der Wille, der selber eine Art Geistiges ist, nun dazu kommt, in äußeren Bewegungsformen, in äußerer Betätigung zum Vorschein zu kommen.

Auf der anderen Seite wiederum sind die Vorgänge, die zum Bei­spiel durch die physische Welt in den Sinnen, also im Leiblichen hervorgerufen werden, im Raume ausgedehnt. Sie verwandeln sich, indem sie ein Geistig-Seelisches werden, in ein Unräumliches. Der Mensch kann aus seinem gewöhnlichen Bewußtsein heraus nicht sagen,

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wie das Räumlich-Physische, das geschieht in der Sinneswahr­nehmung, eine Wirkung ausübt auf das Nichträumliche, auf das Geistig-Seelische.

Man ist ja in der neuesten Zeit zu dem Auskunftsmittel ge­kommen, das ich schon öfter erwähnt habe: man redet von «psycho­physischem Parallelismus». Das ist eigentlich das Eingeständnis, daß man nichts zu sagen weiß über die Beziehung des Leiblich-Physi­schen und des Geistig-Seelischen. Man sagt zum Beispiel: Der Mensch geht, seine Beine bewegen sich, er verändert den Ort im äußeren Raume. Das alles stellt ein Räumliches, ein Physisch-Leibliches dar.

Gleichzeitig damit, wenn in seinem Leibe etwas vorgeht, wickelt sich ein Geistig-Seelisches ab, ein Gedanklich-Gefühlsmäßig-Willens-mäßiges. Man weiß nur, so sagt man, daß wenn sich das Leiblich-Physische räumlich abspielt und zeitlich, daß sich dann das Geistig-Seelische auch abspielt. Aber wie das eine auf das andere wirkt, da­von kann man sich keine Vorstellung machen. Psychophysischer Pa­rallelismus heißt: es läuft ein psychischer, ein seelischer Prozeß ab, während ein leiblicher abläuft. Aber über dieses, möchte man sagen, also ausgesprochene Geheimnis, daß die beiden Vorgänge parallel ab­laufen, kommt man nicht hinaus. Man kommt nicht zu einer Vor­stellung, wie die beiden aufeinander wirken. So ist es dann, wenn die Menschen sich eine Vorstellung machen wollen über das Vorhan. densein, das Dasein des Geistig-Seelischen überhaupt.

Im 19. Jahrhundert, in dem die Menschen in ihren Anschauungen so sehr durchsetzt worden sind vom Materialismus, entstand ja bei Materialisten auch die Frage: Wo im Weltenraume halten sich denn die Seelen eigentlich auf, wenn sie den Leib verlassen haben? Und es hat sogar Leute gegeben, die den Spiritualismus dadurch widerlegen woll­ten, daß sie versuchten, die Unmöglichkeit ins Auge zu fassen, die darin gegeben ist, daß, da so viele Menschen sterben und so viele Menschen schon gestorben sind, in der ganzen Raumeswelt eigentlich kein Platz sei, um all den Seelen, die von gestorbenen Menschen herrühren, einen Aufenthaltsort zu geben. Diese absurde Anschau­ungsweise ist ja tatsächlich gerade im 19. Jahrhundert oftmals aufge­treten. Man hat gesagt: Der Mensch kann nicht unsterblich sein, denn

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es müßten schon alle Räume der Welt mit den unsterblichen Seelen erfüllt sein. Alle diese Dinge weisen darauf hin, welche Schwierigkei­ten auftauchen, wenn in Frage kommt die Beziehung zwischen dem deutlich im Raume ausgedehnten Leiblich-Physischen und demjenigen, was man zunächst nicht in den Raum versetzen kann, dem Geistig­Seelischen.

Nun aber ist es allmählich dahin gekommen, daß das rein intellek­tualistische menschliche Denken schroff nebeneinandergestellt hat Leiblich-Physisches auf der einen Seite und Geistig-Seelisches auf der anderen Seite. Die beiden stehen für das heutige Bewußtsein ohne alle Vermittelung nebeneinander. Ja, so wie die Menschen allmählich dazu gekommen sind, zu denken über das Leiblich-Physische auf der einen und das Geistig-Seelische auf der anderen Seite, so gibt es überhaupt keine Möglichkeit, eine Beziehung aufzufinden. Der Mensch denkt sich eben heute einfach das Räumlich-Physische so, daß das Seelische darinnen nirgends unterzubringen ist, und wiederum das Seelische so schroff geschieden von dem Physisch-Räumlichen, daß das ganz un­räumliche Geistig-Seelische nirgends dazu kommen kann, das Physi­sche zu stoßen oder dergleichen. Man hat aber erst nach und nach diesen schroffen Gegensatz herausgebildet. Man muß eine ganz andere Betrachtungsweise zugrunde legen, eine Betrachtungsweise, die erst wiederum heraufkommen kann dadurch, daß angeknüpft wird an das­jenige, was anthroposophische Geisteswissenschaft zu sagen hat. Anthroposophische Geisteswissenschaft muß zunächst den Willen be­trachten. Zunächst liefert eine unbefangene Anschauung zweifellos den Beweis, daß der Wille des Menschen seinen Bewegungen überall-hin folgt, und daß die Bewegungen des Menschen, die er äußerlich im Raume vollführt, indem er sich selber bewegt, aber auch die Be­wegungen, die in ihm vorgehen, indem seine alltäglichen Funktio­nen sich vollziehen, daß überhaupt alle Betätigung des Menschen hier in der physischen Welt räumlich dreidimensional ist. Darüber kann ja der unbefangene Mensch in keinem Zweifel sein. Alle diese Bewegungen werden begleitet vom Willen, der Wille muß also über­all hinkommen, wo die drei Dimensionen ausgedehnt sind. Darüber kann auch kein Zweifel sein.

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Wenn also vom Willen als von einem Geistig-Seelischen gesprochen wird, kann gar keine Frage sein darüber, daß dieser Wille, trotzdem er ein Geistig-Seelisches ist, ein Dreidimensionales ist, dreidimensionale Gestaltung hat. Wir müssen einfach so denken: Wenn wir durch unseren Willen, sagen wir eine Bewegung ausführen mit der Hand, so schmiegt sich der Wille in alle die Lagen hinein, welche im Räume von Arm und Hand ausgeführt werden. Der Wille geht überall mit, wo irgend­eine Bewegung eines Gliedes sich vollzieht. So daß wir vom Willen selber als von demjenigen Seelischen sprechen müssen, das eine drei­dimensionale Gestaltung annehmen kann.

Eine weitere Frage ist aber diese, ob alles Seelische eine drei­dimensionale Gestaltung annimmt. Und gehen wir da über vom Wil­len auf die Welt des Fühlens, auf die Welt des Gefühies, so wird der Mensch zunächst, wenn er einfach mit seinem gewöhnlichen Bewußt­sein über diese Dinge nachdenkt, sich ja allerdings sagen: Wenn ich, sagen wir, hier auf der rechten Seite des Gesichtes, des Kopfes, von einer Nadel gestochen werde, so fühie ich das; wenn ich auf der lin­ken Seite gestochen werde, fühle ich es auch. Er kann also mit dem gewöhnlichen Bewußtsein die Meinung haben, sein Gefühl ist in seinem ganzen Leibe ausgedehnt. Und dann wird er auch vom Fühlen im selben Sinne als dreidimensional gestaltet sprechen, wie er vom Willen als dreidimensional gestaltet spricht.

Aber da gibt er sich doch einer Täuschung hin. Es ist nicht so. Es ist vielmehr so, daß da berücksichtigt werden muß, wie der Mensch zunächst gewisse Erfahrungen an sich selber machen kann, und von diesen Erfahrungen wollen wir ausgehen. Die heutige Be­trachtung wird etwas subtil sein, aber ohne solche subtilen Be­trachtungen kann ganz gründlich doch das Geisteswissenschaftliche nicht verstanden werden.

Fassen Sie nur einmal ins Auge, ich meine ins Seelenauge, wie das ist, wenn Sie Ihre linke Hand mit der rechten Hand selber be­rühren. Dadurch haben Sie die Wahrnehmung von sich selbst. Wie Sie einen äußeren Gegenstand sonst empfinden, so empfinden Sie sich selbst, wenn Sie die rechte Hand mit der linken berühren, sagen wir durch Vermittelung der einzelnen Finger.

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Noch viel deutlicher haben Sie aber das Faktum, das da vorliegt, wenn Sie daran denken, daß Sie zwei Augen haben, und daß, wenn Sie einen Gegenstand fixieren mit beiden Augen, Sie ja den Willen zunächst anstrengen müssen. Man denkt oftmals an diese Wil­lensanstrengung nicht. Sie müssen, um zum Beispiel einen sehr nahen Gegenstand zu fixieren, wobei es eben stärker hervortritt als sonst, das linke Auge nach rechts wenden, das rechte Auge nach links, und Sie fixieren den Gegenstand dadurch, daß Sie die Sehlinien in einer ähnlichen Weise miteinander in Berührung bringen, wie Sie die rechte Hand mit der linken in Berührung bringen, wenn Sie sich sozusagen selber angreifen.

Sie können auf diese Weise sehen, wie es einfach eine gewisse Be­deutung für den Menschen hat in bezug auf seine Weitorientierung, das Linke auf das Rechte zu beziehen, das linke mit dem Rechten in eine gewisse Beziehung zu bringen.

Nun, viel weiter, als sich das hier zugrunde liegende ganz bedeu­tungsvolle Faktum durch die Berührung der Hände, durch die Kreu­zung der Sehvisierlinie zum Bewußtsein zu bringen, kommt das ge­wöhnliche Bewußtsein meistens nicht; aber man kann diese Betrach­tung weiter fortsetzen.

Nehmen wir an, daß wir auf unserer rechten Körperhälfte mit einer Nadel gestochen werden: Wir empfinden, wir fühien den Stich. Aber wir dürfen nicht ohne weiteres sagen, wo wir den Stich fühlen, indem wir etwa bei diesem Wo hinweisen auf unsere Körperober-fläche. Denn ohne daß alle einzelnen Glieder unseres Organismus mit­einander in einem Verhältnisse, und zwar in einem lebendigen Wech­selverhältnisse stehen, so daß sie aufeinander wirken, ohne das würde unser leiblich-seelisch-menschllches Wesen überhaupt nicht dasjenige sein, was es ist. Und es ist immer, auch wenn wir nicht die linke Hand durch die rechte angreifen, um so die linke Hand durch die rechte Hand zu fühlen, und auch wenn unser Organismus, sagen wir, auf seiner rechten Seite gestochen wird, eine Leitung vorhanden von der rechten Seite nach der Symmetrieebene in der Mitte, und die linke Körperhälfte muß in eine Beziehung treten zu der rechten Körper-hälfte, damit die Empfindung, das Gefühl zustande kommen kann.

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Es ist verhältnismäßig leicht, sich zu sagen: Wenn ich hier, von vorne nach rückwärts angesehen, die Symmetrieebene habe, dann be­rührt die rechte Hand die linke Hand, und das Gefühl der beiden Hände, jeder Hand durch die andere, kommt in der Symmetrieebene zustande. Das wird offenbar so gesehen, und es ist verhältnismäßig

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leicht, von der Kreuzung der Visierlinie des Auges zu sprechen. Aber es ist immer, wenn wir zum Beispiel rechts gestochen werden, eine Leitung vorhanden (rot), und die linke Körperhälfte kreuzt sich in diesen Leitungen mit der rechten Körperhälfte, sonst würde die Emp­findung nicht zustande kommen. Bei allen Empfindungs- und Ge­fühiswegen spielt die Tatsache, daß wir eine rechte und eine linke Körperhälfte haben, daß wir symmetrisch gebaut sind, eine unge­heuer bedeutsame Rolle. Wir beziehen dadurch immer dasjenige, was uns rechts geschieht, auf das Linke, indem immer, gewissermaßen unsichtbar vom Linken etwas herübergreift, um sich mit dem, was vom Rechten herüberströmt, zu kreuzen.

Dadurch allein kommt das Fühlen zustande. Das Fühlen kommt niemals im dreidimensionalen Raume zustande, das Fühlen kommt

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immer in der Ebene zustande. Die Gefühlswek ist in Wirklichkeit gar nicht dreidimensional ausgebreitet, die Gefühiswelt ist in Wahr­heit nur zweidimensional ausgebreitet. Die Gefühisweit erlebt der Mensch nur in derjenigen Ebene, die, wenn man sie als eine Schnitt­ebene vollziehen würde, den Menschen in zwei symmetrische Hälften spalten würde.

Das Gefühisleben ist nämlich eigentlich so wie ein Gemälde, das auf einer Leinwand gemalt ist> wobei man aber nicht bloß von der einen Seite malt, sondern von beiden Seiten malt. Denken Sie sich, ich spanne mir eine Leinwand auf, bemale sie von rechts nach links und von links nach rechts, und ich lasse in der Anschauung durch­einanderwirken dasjenige, was ich von vorne und von rückwärts, das heißt, von rechts nach links und von links nach rechts bemalt habe. Und das Gemälde, das da ist, das ist durchaus nur zweidimensional. Alles, was dreidimensional ist, ist, wenn ich so sagen darf, auf die zwei Dimensionen projiziert.

Sie könnten sich die Vorstellung auch noch anders bilden. Denken Sie sich, Sie wären imstande, auf einer Fläche Gegenstände, welche rechts sind, und Gegenstände, welche links sind, in Schattenbilder zu werfen. Dann würden Sie Schatten von rechten Gegenständen, von linken Gegenständen auf der aufgespannten Wand haben. So ist es mit unserer Gefühlswelt. Sie ist nicht dreidimensional, sie ist zweidimensional. Der Mensch ist im Grunde genommen ein von zwei Seiten her arbeitender Maler, indem er sich nicht einfach in den Raum fühlend hineiniebt, sondern indem er durch seinen dreidimen­sionalen Willen alles dasjenige, was ihm im Raume als Gefühiswirkung begegnet, indem er durch den Willen, der allerdings dreidimensional ist - der ist der Maler, der Wille -, alles auf eine von vorne nach rückwärts durchgehende Ebene in Schattenbildungen, in Gemälden entwirft. Der Mensch lebt fühlend in einem Gemälde, das durch seinen Leib zweidimensional gezogen ist, das nur eben von beiden Seiten bemalt wird. So daß wir, wenn wir für uns selbst, für die Menschen, im Seelischen den Übergang suchen wollen vom Willen zum Gefühl, aus dem Dreidimensionalen in das Zweidimensionale übergehen müssen.

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Damit aber haben Sie ein anderes Verhältnis zunächst desjenigen Seelischen, das sich im Fühlen ausspricht, zu dem Räumlichen, als wenn Sie einfach vom Seelischen sagen, es sei unräumlich. Die Ebene hat zwei Dimensionen, aber sie ist nicht räumlich. Sie können die Tafel eine Ebene nennen, aber sie ist in Wirklichkeit ein Körper, denn sie hat eine Dicke. Eine Ebene ist zwar im Raume drinnen, aber sie ist nicht selber räumlich; der Raum muß immer drei Dimensionen haben. Und in diesen dreidimensionalen Raum geht nur der Wille hinein. Aber das Gefühl, das geht nicht in die drei Dimensionen des Raumes hinein. Es ist zweidimensional. Aber es hat dennoch Bezie­hungen zum Raume, geradeso wie das Schattenbild Beziehungen zum Raume hat.

Ich weise Sie damit aber auch hin auf eine außerordentlich bedeu­tungsvolle Tatsache, die gar nicht so leicht durchschaut werden kann, aus dem Grunde, weil der Mensch mit seinem gewöhnlichen Be­wußtsein in der Regel gar nicht geneigt ist, das Eigentümliche seiner Gefühiswelt aufzufassen. Diese Gefühisweit ist ja immer von der Willenswelt durchsetzt. Denken Sie doch nur einmal, wenn Sie wirk­lich den Stich, von dem ich gesprochen habe, auf Ihre rechte Körper-seite bekommen, da trennen Sie ja nicht gleich das Gefühl vom Wil­len. Sie werden ganz zweifellos diesen Stich nicht sehr geduldig emp­fangen, sondern abgesehen davon, daß Sie vielleicht äußerlich dahin greifen werden, also mit Ihrem Willen sehr in den dreidimensionalen Raum hineinfahren werden, wenn Sie gestochen werden, abgesehen davon haben Sie eine nach außen nicht hervortretende Abwehr­bewegung, die sich nur in allerlei kleinen, intimen Strömungen des Blutes und des Atems zeigt. Dasjenige, was man als Abwehrbewegung macht, wenn man von einer Mücke gestochen wird und man greift hin, das ist ja eben auch nur das Grobklotzigste. Das Feinere, die Abwehrbewegung, die man eigentlich nur mit der Blutbewegung, mit der Atembewegung, mit allerlei anderem im Inneren macht, die beachtet man gewöhnlich nicht. Und so trennt man nicht dasjenige, was da der Wille tut, von demjenigen, was eigentlich Gefühisinhalt ist. Dasjenige, was Gefühlsinhalt ist, ist auch zu scheu. Dazu kann man es nur bringen in sehr, sehr sorgfältiger Meditation. Wenn Sie aber einmal

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alles, was zum Willen gehört, ausschließen können von dem Füh­len, dann schrumpfen Sie allerdings zusammen von rechts und links, und Sie werden in der Mitte die Ebene. Und dann, wenn Sie in der Mitte die Ebene sind und gewissermaßen nun bewußt als Maler Ihre Erlebnisse auf dieser Ebene abmalen, dann fangen Sie an zu begrei­fen, warum sich die Gefühisweit so außerordentlich unterscheidet von dem gewöhnlichen Erleben.

Man kann schon dieses Flächenhafte, dieses Ebenenhafte des Füh­lens erleben; aber man muß es meditativ erleben. Man muß das ganze Schattendasein der Gefühle gegenüber den robusten Erlebnis­sen im dreidimensionalen Raum haben. Man muß sich erst vorberei­ten dazu, es zu haben. Dann aber kann man es auch haben. Und dann wird man allmählich sich dieser Wahrheit nähern, daß das Fühlen zweidimensional verläuft. Und das Denken, das läßt sich ja einfach dadurch charakterisieren, daß man mit unbefangenem Gemüte sich ge­steht, wie wenig man doch sagen kann, daß ein Gedanke im Raume drinnen ist. Er ist doch nirgends eigentlich im Räume drinnen, der Gedanke. Aber eine Beziehung zum Raume muß er doch haben. Denn zweifellos ist ja das Gehirn, wenn auch nicht das Werkzeug, so doch die Unterlage des Denkens. Ohne Gehirn kann man nicht denken. Wenn aber das Denken, das also im Zusammenhange mit der Gehirn-tätigkeit verläuft, gar nichts mit dem Raum zu tun hätte, dann würde sich die kuriose Tatsache ergeben, daß, wenn man mit zwölf Jahren gut denken kann und man dann mit seinem Kopfe herausgewachsen ist über die Lage, in der man war mit zwölf Jahren, man dann aus seinem Denken herausgewachsen wäre. Das ist nicht der Fall. Indem man wächst, verläßt man das Denken nicht. Und schon das weist dar­auf hin, daß man mit dem Wachsen doch auch mit dem Denken im Raume drinnen ist.

Nun, geradeso wie man die Welt des Fühlens, die Welt des Erle­bens der Gefühle für sich selbst fühlen kann, indem man auf seine Symmetrieebene allmählich kommt, läßt sich wiederum meditativ das Denken erleben als dasjenige, das eigentlich nur die Ausdehnung oben und unten hat. Das Denken ist durchaus eindimensional, verläuft im Menschen in der Linie. Man muß also sagen: Der Wille gestaltet sich

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dreidimensional, das Gefühl zweidimensional und das Denken ein­dimensional.

Sie sehen, wenn wir im Raume differenzieren, dann kommen wir nicht zu einem so schroffen Übergang, wie es der bloße Intellekt tut. Wir kommen zu einem allmählichen Übergang. Der bloße Intellekt sagt: Das Physische ist dreidimensional räumlich ausgedehnt; das Geistig-Seelische ist gar nicht ausgedehnt, also kann man keine Be­ziehung finden, denn man kann zwischen dem Ausdehnungslosen und dem Ausgedehnten selbstverständlich keine Beziehungen finden. -Wird man aber aufmerksam, daß der Wille dreidimensional gestaltet ist, so findet man, daß der Wille überall sich hinergießt in die drei­dimensionale Welt. Weiß man, daß das Gefühl zweidimensional ge­staltet ist, dann muß man, indem man von den drei Dimensionen auf die zwei übergeht, zu etwas kommen, was zwar noch Beziehungen darstellt, was aber nur nicht mehr räumlich ist, denn die bloße Ebene, die bloßen zwei Dimensionen sind eben nicht räumlich. Aber sie sind im Raume drinnen, sie sind nicht völlig aus dem Raume draußen.

Und wiederum, wenn wir vom Fühlen zum Denken übergehen, so gehen wir von den zwei Dimensionen zu der einen Dimension über, also noch immer nicht ganz aus dem Raume heraus. Wir gehen all­mählich von dem Räumlichen in das Unräumliche hinein. Ich habe es ja öfter ausgesprochen, daß das Tragische des Materialismus darinnen besteht, daß er gerade das Materielle, das Stoffliche in seiner drei­dimensionalen Ausdehnung nicht versteht. Er glaubt es zu verstehen, aber er versteht gerade das Stoffliche nicht. Und im 19. Jahrhundert sind historisch mancherlei bedeutsame Erscheinungen hervorgetreten, die mit dem gewöhnlichen Bewußtsein heute doch nicht in ordent­licher Weise enträtselt werden können. Denken Sie doch nur an das große Aufsehen, das bei vielen denkenden Menschen das Schopen­hauersche philosophische System gemacht hat: «Die Welt als Wille und Vorstellung.» Danach hat nur die Vorstellung etwas Unwirk­liches, der Wille allein ist das Wirkliche. Ja, warum ist denn Schopen­hauer zu der Vorstellung gekommen, daß die Welt nur Wille ist? Weil er doch auch vom Materialismus angefressen war! Denn in die Welt, in der die Materie sich dreidimensional ausdehnt, da ist eben

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nur der Wille ergossen. Wer auch die Gefühle in diese Welt hinein-stellen will, der muß die Beziehung aufsuchen, die besteht zwischen einem dreidimensionalen Ding und einem zweidimensionalen Schat­tenbilde. Was wir erleben in den Gefühlen, sind Schattenbilder des­jenigen, worinnen auch unser Wille als dreidimensionale Gestaltung lebt. Und was wir erleben im Denken, das sind Gestaltungen in einer einzigen Dimension. Und erst wenn wir ganz aus den Dimensionen herausgehen, wenn wir übergehen zu dem dimensionslosen Punkte, dann sind wir bei unserem Ich angekommen. Das hat nun wirklich gar keine Ausdehnung, das ist ganz punktuell. So daß wir sagen können: Wir gehen über von dem Dreidimensionalen (weiß) zu dem Zweidimensionalen (rot), zu dem Eindimensionalen (gelb) und zu dem Punktuellen (blau).

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Aber indem wir beim Dreidimensionalen noch bleiben, haben wir in den drei Dimensionen unseren Willen drinnen. Es steckt auch das Fühlen, es steckt auch das Denken drinnen, aber nicht dreidimensional ausgedehnt. Indem wir die dritte Dimension weglassen und nur zu zwei Dimensionen kommen, haben wir den Schatten des äußeren Da­seins, in dem sich aber dasjenige Geistig-Seelische ausdehnt, das im Fühlen lebt. Wir kommen schon mehr aus dem Raume heraus. Gehen wir zum Denken, dann kommen wir noch mehr aus dem Raume her­aus, und indem wir zum Ich übergehen, kommen wir noch mehr aus

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dem Raume heraus. Da werden wir gewissermaßen Stück für Stück aus dem Raume herausgeführt. Und wir sehen, daß es einfach keinen Sinn hat, bloß zu sprechen von dem Gegensatz des Geistig-Seeli­schen und des Physisch-Leiblichen. Es hat keinen Sinn, denn man muß fragen, wenn man die Beziehung entdecken will zwischen dem Geistig-Seelischen und dem Physisch-Leiblichen: Wie verhalten sich Dinge, die im dreidimensionalen Raum ausgedehnt sind, zum Beispiel unser eigener Körper, zu dem Seelischen als Willenswesen? Wie ver­hält sich das Körperlich-Leibliche beim Menschen zu der Seele als einem Gefühlswesen? Zu der Seele als Willenswesen verhält sich das Leiblich-Physische als ein Körperliches so, daß eben einfach das Leib­lich-Physische, wie ein Schwamm vom Wasser, vom Willen nach allen Seiten, nach allen Dimensionen durchtränkt wird.

Zum Gefühl verhält sich aber das Leiblich-Physische so, wie Gegen­stände sich verhalten, die ihre Schatten werfen auf eine Wand. Und wiederum, wenn wir von dem Gefühlsmäßigen zu dem Gedanken-haften übergehen wollen, dann müssen wir gar ein eigentümlicher Maler werden. Da müssen wir auf einer Linie dasjenige wiederum extra aufmalen, was sonst in den zwei Dimensionen des Gemäldes ist.

Legen Sie sich einmal die folgende Frage vor. Das ist natürlich etwas, was einige Ansprüche stellt an das innere Anschauen, aber stellen Sie sich vor, Sie stünden, sagen wir, vor dem «Abendmahl» des Leonardo da Vinci. Sie haben es zunächst in der Fläche vor sich. Dasjenige, was in Betracht kommt, ist zweidimensional. Wir können ja natürlich von der Dicke der Farbfiecken absehen, nicht wahr; aber das, was Sie vor sich haben als Gemälde, ist zweidimensional. Nun aber denke ich mir eine Linie gezogen in der Mitte von oben nach unten, und diese Linie stelle dar ein eindimensionales Wesen. Dieses eindimensionale Wesen hätte die Eigentümlichkeit, daß, sagen wir, der Judas hier (S.22) ihm nicht gleichgültig wäre; sondern daß der Judas da ist, das empfindet dieses Wesen in einer gewissen Beziehung. Das empfindet dieses Wesen so: Da, wo der Judas den Kopf hin­überneigt, da empfindet es mehr, wo der Judas sich abneigt, da empfindet es weniger; und von allen übrigen Gestalten empfindet die­ses eindimensionale Wesen, je nachdem diese Gestalt in einer blauen,

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in einer gelben Farbe ist, anders. Alles dasjenige, was da links und rechts ist, das empfindet dieses eindimensionale Wesen. Dann ist alles das, was auf diesem Gemälde ist, lebendig von diesem eindimensio­nalen Wesen gefühlt.

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So ist aber wirklich unser Denken in uns. Unser Denken ist ein solches eindimensionales Wesen und lebt das übrige unseres mensch­lichen Wesens nur dadurch mit, daß es erstens in Beziehung steht zu dem Gemälde, das uns entzweischneidet als einen rechten und als einen linken Menschen, und daß es auf dem Umwege durch dieses Gemälde dann in Beziehung steht zu der dreifach gestalteten Wil-lenswelt.

Wenn wir von unserem geistig-seelischen Wesen, nur insoferne es wollend, fühlend, denkend ist, zunächst sogar ohne das Ich eine Vor­stellung bekommen wollen, müssen wir es eigentlich nicht vorstellen als eine Nebeiwolke, sondern indem wir innerlich-seelisch etwas voll­ziehen. Wir wollen uns also das Geistig-Seelische schematisch vor­stellen. Wir müssen gewissermaßen hinschauen: Da stellt es sich uns zunächst als eine Wolke dar. Aber das ist zunächst nur ein Willens-wesen. Das hat immerfort die Tendenz, sich zusammenzuquetschen; da wird es Gefühlswesen. Wir sehen als erstes eine Lichtwolke, dann aber eine solche Lichtwolke, die in der Mitte sich selber als eine

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Ebene erzeugt und sich dadurch fühlt. Und diese Ebene wiederum hat das Bestreben, zur Linie zu werden. Wir müssen also fortwährend uns vorstellen: Wolke, Ebene, Linie, als ein in sich lebendes Ge­bilde: etwas, was fortwährend Wolke sein will, von der Wolke aber zur Ebene sich zusammenquetschen will, zur Linie sich verlängern will. Wenn Sie sich eine Linie vorstellen, die Ebene wird, die Ebene wird wiederum dreidimensionale Wolke, wenn Sie sich also vorstellen: Wolke, Ebene, Linie - Linie, Ebene, Wolke und so weiter, dann haben Sie dasjenige, was Ihnen nun schematisch veranschaulichen kann, was Ihre Seele in ihrem innerlichen Wesen, in ihrer innerlichen Wesenhaftigkeit eigentlich ist. Sie kommen nicht aus mit einer Vor­stellung, die nur in sich ruhig bleibt. Keine Vorstellung, die in sich ruhig bleibt, gibt dasjenige, was das Seelische ist, wieder. Sie müssen eine solche Vorstellung haben, die selber eine innerliche Tätigkeit ausführt, und zwar eine solche innerliche Tätigkeit, daß die Seele, indem sie sich vorstellt, spielt mit den Dimensionen des Raumes: Sie läßt verschwinden die dritte Dimension, verliert dadurch den Willen, läßt verschwinden die zweite Dimension, verliert dadurch das Gefühl; und das Denken verliert man erst, wenn man auch die erste Dimen­sion verschwinden läßt. Dann kommt man bei dem Punktuellen an. Dann geht es erst zu dem Ich über.

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Deshalb kommt ja diese Schwierigkeit zustande. Die Menschen möchten das Seelische erkennen, sie sind aber gewöhnt, nur räumliche Vorstellungen sich zu machen. Nun machen sie sich auch, wenn auch noch so verdünnte, räumliche Vorstellungen vom Seelischen. Aber da hat man ja nur das Willenshafte. Man müßte sich das Seelische stets so vorstellen, daß man, indem man sich etwa eine Wolke vor­stellt, diese Wolke gleichzeitig fortwährend zusammengepreßt und wiederum auch eindimensional vorstellen würde. Ohne daß man das Denken innerlich beweglich macht, bekommt man überhaupt keine Vorstellung von dem Geistig-Seelischen. Einer, der ein Geistig-See­lisches sich vorstellen will und in zwei aufeinanderfolgenden Augen­blicken sich das Gleiche vorstellt, der hat sich nur ein Willenshaftes vorgestellt. Man darf sich einfach das Geistig-Seelische in zwei auf­einanderfolgenden Augenblicken nicht gleichgestaltet vorstellen. Man muß innerlich beweglich werden, und zwar nicht nur so, daß man von einem Raumpunkte zum anderen übergeht, sondern daß man von einer Dimension in die andere übergeht. Das ist dasjenige, was ge­wöhnlich dem heutigen Bewußtsein schwer wird. Das hat ja sogar dazu geführt, daß nun die gutmutigsten Menschen - gutmütig in bezug auf die Vorstellung des Geistigen - aus dem Raume schon her­aus möchten, die drei Dimensionen überwinden möchten. Dann kom­men sie zu einer vierten Dimension. Das ist ja ganz nett, vom Drei­dimensionalen zu einem Vierdimensionalen überzugehen. Solange man im Mathematischen bleibt, sind auch alle die Gedanken, die man sich darüber macht, ganz zutreffend, es Stimmt alles. Nur wenn man übergeht zur Realität, stimmt es nicht mehr, denn das Eigen­tümliche ist, daß wenn man real die vierte Dimension denkt, dann hebt sie einem die dritte au£ Durch die vierte Dimension ver­schwindet die dritte Dimension, und durch die fünfte Dimension verschwindet die zweite, und durch die sechste verschwindet die erste; dann ist man beim Punkt angekommen.

In Wirklichkeit kommt man nämlich beim Übergang von der drit­ten in die vierte Dimension in das Geistige hinein, und man kommt, indem man Dimensionen wegläßt, nicht indem man sie hinzufügt, immer mehr und mehr in das Geistige hinein. Man bekommt aber

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durch solche Vorstellungen auch Einblicke in die menschliche Ge­stalt.

Ist es denn nicht für ein künstierisches Empfinden so, daß man eigent­lich, ich möchte sagen, brutal den Menschen anschaut, wenn man ihn anschaut, wie er sich mit seinen drei Dimensionen nach allen Seiten hin in die Welt hineinstellt? Gewiß, so tut man es; aber das ist doch nicht das einzige. Man hat doch im allgemeinen ein Gefühl dafür, daß die linke und die rechte Körperhälfte im wesentlichen symmetrisch sind. Und das führt einen über die drei Dimensionen hinaus, indem man den Menschen zusammenfaßt in seiner Mittelebene. Man geht da schon über zu dieser Mittelebene; und von der einen Dimension, in der der Mensch wächst, da hat man erst dann eine recht deutliche Vorstel­lung. Künstlerisch verwendet man schon diesen Übergang von drei zu zwei zu einer Dimension. Und würde man mehr pflegen dieses künstlerische Anschauen des Menschen, dann w ürde man auch leich­ter den Übergang finden zu dem Seelischen. Sie würden niemals ein Wesen als ein einheitlich fühlendes Wesen empfinden können, das nicht symmetrisch gestaltet ist.

Wenn Sie einen Seestern anschauen, der nicht symmetrisch gestal­tet, sondern fünfstrahlig ist, so können Sie ja selbstverständlich ge­fühllos an ihm vorübergehen, aber Sie können niemals, wenn Sie sich gefühlsmäßig fragen, sich sagen, der hat ein einheitliches Gefühl. Der Seestern kann unmöglich ein Rechtes auf ein Linkes beziehen, ein Rechtes mit einem Linken umgreifen, sondern er muß fortwährend den einen Strahl mit einem oder mit zweien oder mit dreien oder mit allen vier anderen in eine Beziehung bringen. Dadurch lebt das­jenige, was wir als Fühlen kennen, überhaupt nicht im Seestern.

Wie ist es mit demjenigen - ich bitte Sie, bei diesem intimen Ge­dankengang mir zu folgen -, was wir als Gefühl kennen? Was wir als Gefühl kennen, kommt von rechts, kommt von links und hält in der Mitte die Ruhe. Wir gehen durch die Welt, indem wir uns mit un­serem Gefühl ruhend in die Welt hineinstellen. Der Seestern kann das nicht. Er kann dasjenige, was er von hier aus auf sich als Wirkung der Welt hat (roter Pfeil), nicht symmetrisch auf etwas anderes bezie­hen. Er kann es beziehen auf (rot) eins oder zwei oder auf den

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dritten oder vierten anderen StraH, er wird aber üntrier Her ein Mächtigeres haben (gelb). Daher hat der Seestern nicht innerlich das rahende FüHen, sondern wenn er gewissermaßen die Aufmerksam­keit nach der einen Seite Hnwendet, dann wird durch seine Anord­nung in ihm das Erlebnis entstehen: Du strahist dahin, du scHckst dahin einen Strahl (gelber Pfeil). Wenn er von dort empfindet, so fühlt er, als ob es scHeßen würde aus ihm. Er hat kein ruhendes Gefühl. Er hat das Gefühl, aus sich herauszuschießen. Er füHt sich als hinstrahlend in der Welt.

Wenn Sie Ihre Gefühle fein entwickeln, dann werden Sie auch beim Anschauen des Seesternes das erleben können. Gucken Sie an irgend­einen Endpunkt eines Strahles und beziehen Sie das dann auf den ganzen Seestern, dann beginnt in Ihrer Vorstellung der Seestern nach diesem einen Strahl hln sich in Bewegung zu setzen, wie wenn er dahinwanderndes, strömendes Licht wäre. Und so ist es bei anderen Tieren, die nicht symmetrisch gebaut sind, die nicht eine wirkliche Symmetrieachse haben.

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Der Mensch könnte, wenn er auf dieses feinere Fühlen nur einmal einginge, wenn er nur nicht im Laufe der Zeit dadurch, daß er ein intellektuelles Wesen geworden ist, sich bloß dem Intellektuellen über­geben würde, er könnte viel feiner sich hineinfühlen in die Welt.

So ist es auch in einem gewissen Sinne der Pflanzenwelt gegen­über. So ist es all dem gegenübe; was uns umgibt. Und wirkliche Selbsterkenntnis trägt uns auch immer weiter und weker in das Innere der Dinge hinein.

Auf das, was ich heute in einer abgelegeneren Weise, möchte ich sagen, entwickelt habe, möchte ich dann morgen und in der kom­menden Zeit einiges aufbauen.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 25. Juni 1922

Gestern habe ich mich bemüht, in einer etwas abgelegeneren Betrach­tung zu zeigen, wie man aus dem Räumlich-Physischen auch der menschlichen Leiblichkeit den Übergang finden kann zu demjenigen, was dann schon dadurch geistig gedacht werden kann, daß eben die drei Raumdimensionen gewissermaßen reduziert werden auf zwei und eine Dimension und auch auf das Punktuelle. Nun möchte ich heute gewissermaßen gegenüberstellen der gestrigen Betrachtung eine Art kosmischer Betrachtung, die Ihnen zeigen soll, wie auf der anderen Seite wiederum die Welt, die unsere Umgebung bildet, in Zusammen­hang gedacht werden kann mit dem Geistigen und Seelischen. Es ist ja dem modernen Bewußtsein recht unmöglich, die rein stofflich­physische Welt, die den Menschen umgibt, so anzusehen, daß zu ihr das Seelisch-Geistige im Menschen irgendeine unmittelbare Beziehung hat. Das muß ja durchaus in bezug auf die Erkenntnis gerechtfertigt werden, wenn der moderne Mensch nicht sagen soll, er könne sich nichts darunter vorstellen, wenn Anthroposophie behauptet, das See­lisch-Geistige, das Ich und der astralische Leib also, verlassen den physischen Leib und den Ätherleib und seien dann außerhalb dessel­ben. Wo sind sie? - frägt nun der Mensch, der aus dem heutigen mate­rialistischen Bewußtsein heraus seine Erkenntnisse holt. Daß sich irgendwo im Raume ein Seelisches aufhä lt, das kann sich natürlich der moderne Mensch nicht denken. Er kann sich höchstens noch denken, daß sich die Luft irgendwo aufhält, daß der Raum lichtdurchsetzt ist; aber daß im Raume irgendein Geistig-Seelisches vorhanden ist, das kann er sich nicht denken. Und von dieser Unmöglichkeit ist dann nur eine kurze Strecke Weges zu der anderen Unmöglichkeit, daß sich eben dieser moderne, aus dem materialistischen Bewußtsein heraus-gewachsene Mensch keine Vorstellung davon machen kann, wohin das Geistig-Seelische kommt, wenn es mit dem Tode den mensch­lichen Leib verläßt.

Gewiß, der moderne Mensch behauptet, an diese Dinge glauben zu

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können. In dem Augenblick aber, wo er sein eigentliches Denkver­mögen zu Hilfe nimmt, kommt er sogleich in Konflikte hinein. Diese Konflikte hören auf, wenn man versucht, zum Geisteswissenschaft­lichen aufzusteigen. Aber da die Ideen, die man dabei aufnehmen muß, etwas Ungewohntes sind für den Menschen der heutigen Zeit, so kann man sich ihnen eigentlich nur langsam und alimählich nähern. Und da wird es gut sein, an Tatsachen anzuknüpfen des geistig-ge­schichtlichen Lebens, an Tatsachen, die ja heute der äußeren Welt weniger bekannt sind.

Wir wissen alle, daß dasjenige, was heute die Menschen an alten, ehrwürdigen traditionellen Vorstellungen haben, die dann in die Religionen übergegangen sind, an die geglaubt wird, daß diese Vor­stellungen zurückführen auf uralte Erkenntnisse; wir wissen, daß es in alten Zeiten Mysterienstätten gegeben hat, welche Kirchen, Schulen und Kunstanstalten in einem zugleich waren, und aus denen auch alles dasjenige hervorgegangen ist, was dann sich verbreitet hat in den Menschenmassen als Erkenntnisse, aber auch als die Impulse, welche das Handeln der Menschen bestimmten.

In diesen Mysterienstätten waren die sogenannten Eingeweihten, welche durch die besonderen Vorgänge, denen sie sich unterworfen hatten, eben zu höheren Erkenntnissen gekommen waren. Durch diese Prüfungen, durch die sie hindurchgegangen waren, hatten sie aber auch ein gewisses Verhältnis zur Welt gewonnen, zum Beispiel ein solches Verhältnis zur Welt, durch das sie ablauschen konnten den Weltenvorgängen, dem Weltenverlaufe dasjenige, was sie über die Welt wissen wollten.

In der äußeren Geschichte sind ja eigentlich nur die, ich möchte sagen, schon verderbten Arten von solchen Ablauschungen gegenüber den Weltenvorgängen vorhanden. Sie alle haben gelesen, wie in grie­chischen Tempelstätten, Orakelstätten man herangezogen hat gewisse Persönlichkeiten wie zu einer Art von Medien, die dann etwa über aufsteigenden Erdendünsten in dasjenige gekommen sind, was man in der neueren Zeit bei jenen Menschen, die doch immer dilettantisch nur bleiben in bezug auf das Geistige, Trance nennt, durch die man ja etwas Wahres, etwas Wirkliches nicht gewinnen kann, sondern die

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eigentlich ein unberechtigter Hokuspokus ist. Aber in den Zeiten, in denen die ältere Art, zu der Welt sich in Beziehung zu setzen, schon in die Verderbnis gekommen war, hat man zu solchen Orakelstätten seine Zuflucht genommen. Und was dann da hereingeholt worden war in einer Art von tranceartigem Zustand, hat man als Offenbarung ge­nommen, um etwas zu wissen, sozusagen was die wirklich geistigen Mächte als Absichten hegen, die göttlich-geistigen Mächte, die hinter dem Verlaufe der Weltenerscheinungen stehen. Nach solchen Orakel­sprüchen hat man sich dann gerichtet.

Aber diese Orakeisprüche waren ja gar nicht das Ursprüngliche. Das bestand in etwas ganz anderem. Als man zu solchen Orakel­sprüchen seine Zuflucht nahm, da war es durchaus schon so, daß man die alten Fählgkeiten, welche die Eingeweihten in den Mysterien ge­pflegt haben, verloren hatte, und man zu äußerlichen Maßnahmen seine Zuflucht nahm. Ich möchte Ihnen einen der Vorgänge schli­dern, durch den in sehr alten Zeiten die Eingeweihten, die Initlierten der Mysterien, der Welt ihre Geheimnisse abgelauscht haben, diejeni­gen Geheimnisse, welche in den Absichten der hinter den Natur­erscheinungen stehenden göttlich-geistigen Wesenheiten vorhinden waren.

Solche Eingeweihte, nachdem sie ihren ganzen Menschen in langer Zeit dafür zubereitet hatten, auf die feineren Vorgänge des Lebens sorgfältig zu achten, konnten dann dahin kommen, daß sie nament­lich der aufgehenden Sonne gegenüber sich in einen besonderen Gemütszustand brachten. Das war eine Übung, welche der alte Ein­geweihte in den Mysterien immer wieder vornahm: der aufgehenden Sonne, der heraufkommenden Morgenröte gegenüber zu einer recht empfänglichen, geistempfänglichen Stimmung zu kommen. Gerade die Morgenröte und die auf ihr erscheinende Sonne war etwas, was eine ehrfürchtige, aber zugleich von allerlei hingebungsvollen inneren Stimmungen durchsetzte Seelenverfassung hervorrufen sollte bei die­sen alten Eingeweihten. Von der zum Teil aus Andacht, zum Teil aber auch aus Wißbegierde zusammengewobenen Stimmung, in die alte Eingeweihte gegenüber dem Sonnenaufgang gekommen sind, wenn sie dazu in der richtigen Weise vorbereitet waren, von dieser

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Stimmung macht man sich heute gar keinen Begriff mehr. Ich glaube, daß die letzte Empfindung aus der äußeren Welt von solchen Stim­mungen eigentlich nur noch etwas zur Vorstellung kommen kann, wenn man die wunderschönen Schilderungen liest - die aber jetzt auch schon wiederum mehr als ein Jahrhundert hinter uns liegen -, die noch Johann Gottfried Herder> der ausgezeichnete deutsche Dichter und Schriftsteller, gerade vom Sonnenaufgang gegeben hat, aber nicht etwa so, wie es triviale neuere Dichter ja auch machen können, son­dern vom Sonnenaufgang, insofern dieser eine Art Symbolum ist für alles Erwachende, Erwachende nicht nur in der Natur, sondern im Menschengemüt, in der Menschenseele. Gewissermaßen dasjenige, was hervorruft in der Menschenseele selber eine Art Morgenröte, in die dann die Sonne wie innerlich hinein aufgeht, das hat ja Herder in einer wunderbaren Weise geschildert, als er darzustellen suchte, wie die poetische Stimmung einmal in der Menschheitsentwickelung Platz gegriffen hat, und wie diese poetische Stimmung ihren Ausgangs­punkt nehmen konnte von alledem, was der Mensch erleben kann bei Morgenröte und Sonnenaufgang.

In einer noch intensiveren Weise haben die Geheimnisse der Mor­genröte und des Sonnenaufgangs Menschen wie etwa Jakob Böhme empfunden, dessen erstes Werk, wie Ihnen ja bekannt ist, «Aurora oder die Morgenröte im Aufgang» heißt. Und nicht ohne Bezug auf diese Geheimnisse des Morgenrotes sind ja Worte wie die aus Goethes «Faust»: «Auf, bade Schüler, unverdrossen, die ird'sche Brust im Morgenrot!» Je weiter wir zurückgehen in der Geschichte der Mensch­heitsentwickelung, desto wunderbarer finden wir die Stimmungen der Menschenseele bei dem ersten Hereindringen der Sonnenstrahlen des Morgens, wo sie gewissermaßen noch auf ihren Wellen hereintragen das tatige, aktive Weltenlicht. Und alte Inittierte in den Mysterien­stätten, die hatten sich dazu vorbereitet, daß sie ihre ernstesten, ihre heillgsten Fragen an die Weltengeister während des Morgenrotes ge­wissermaßen aus ihren Herzen hinaussandten in die Weiten der Welt. Sie sagten sich: Wenn die Sonne ihren ersten Strahl hereinsendet auf die Erde, dann ist den Menschenfragen der beste Weg gegeben, um hinauszudringen in die Weiten des Kosmos. Und so strahlten gewissermaßen

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die alten Eingeweihten ihre Fragen, ihre Herzens- und Menschenrätsel in die Weiten der Welt hinaus. Und dann gingen sie nicht so trivial, banal etwa an die Antwort, wie wir das heute in unserer physischen Wissenschaft gewöhnt sind, sondern sie kamen in die Stimmung hinein, in der sie sich sagten: Wir haben jetzt unsere Rätselfragen der Weite der Welt übergeben; im Weltenschoße ruhen sie, die Götter empfangen unsere Rätselfragen.

Ich schildere nur. Man mag denken wie man will über diese Dinge, sie waren einmal da, man übte sie so. Und dann haben solche Initlierte gewartet und in nächtlicher Stunde ihre Herzen bereitgemacht, etwas entgegenzunehmen. Das war jetzt auch wiederum eine hingebungs­volle, aber nicht eine, ich möchte sagen, die Frage aufwerfende Stim­mung, sondern sie gaben ihre Herzen hin einer ganz empfänglichen, einer auch andächtigen, aber empfänglichen Stimmung. Und so haben sie entgegengestellt ihre Andacht dem hereinbrechenden Schein des Vollmondes. Und da haben sie gefühlt: Jetzt bekommen sie zurück die Antwort aus dem Weltenall.

Das war in älteren Mysterien ein sehr gewöhnlicher Vorgang. Man hat zu einer gewissen Zeit seine Rätselfragen mit der Welt abgemacht, indem man sie hinausgesendet hat in die Weltenweiten, und hat sich die Antworten geholt, die vom Volimonde aus, im Scheine des Voll­mondes die Götter der Erde wiederum zugesendet haben.

So korrespondierte der Mensch einmal mit der Welt. Er war nicht so hochmütig, daß er etwa wie ein heutiger Philosoph in seinem Kopf die Fragen aufgeworfen hätte, dann auch wiederum flugs die Antwor­ten dazu gesucht hätte, er war nicht so hochmütig, zu glauben, daß man sich über ein Stück weißes Papier setzen, und daß der Menschen-kopf nun mit sich allein die großen Rätselfragen des Daseins ab­machen könne. Er war vielmehr des Glaubens, dieser alte Initilerte, daß mit demjenigen, was als göttlich-geistige Mächte die Welt durch-wellt und durchwallt, daß man mit dem zusammen besprechen müsse dasjenige, was man abmachen will über Fragen und Antworten bezüg­lich der Weltenrätsel. Er tat das aus dem Grunde, weil er wußte: Da draußen in der Welt, da sind nicht nur die physisch-sinnlichen Wahr­nehmungsinhalte, da waltet und webt überall Geistiges. Und indem

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der Sonnenstrahl zu mir dringt, kann ich ihm entgegensenden das­jenige, was der Inhalt meines Willens ist.

Dieses Geheimnis ist dem Menschenforschen ganz verlorengegan­gen. Aber es war einal ein wirkliches Wissen, eine wirkliche Er­kenntnis der Menschheit. Und einer der letzten in Europa, die eine allerdings nicht deutliche, aber doch lebendige Tradition gehabt haben von diesen Dingen, und die auch dafür kämpfen wollten, war Julian Apostata. Er war so unvorsichtig, diese Dinge noch ernst zu neh­men, und ist ja dadurch gerade ein Opfer seiner Gegner geworden.

Der heutige Mensch zeichnet - es ist nur eine schematische Zeich­nung, aber sie soll ja auch nur versinnlichen, um was es sich han­delt - die Erde und die Sonne - natürlich müßte ich es viel weiter hinauszeichnen - so, daß die Sonne ihre Strahlen zur Erde her­untersendet. Der alte Eingeweihte würde gesagt haben: Das ist ja nur physisch; das Geistige davon ist das, daß auf der Erde die Men­schen wohnen, und die Menschen entwickein auf der Erde ihren Willen (rot), und während die Sonnenstrahlen von der Sonne auf die Erde herunterkommen, kann der Mensch seinen Willen in der Richtung

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der Sonne in den Weltenraum hinaussenden (Pfeile). Gewisser-maßen auf den Wogen des Willens, der von der Erde zur Sonne hin-strahlt, sandten die alten Eingeweihten ihre Fragen in das Weltenall hinaus. Und wenn der moderne Mensch sagt: Auf der anderen Seite ist irgendwie der Mond, der seinen Schein auf die Erde hereinstrahlen läßt (gelb), so sagte der alte Eingeweihte: Das ist aber nur das Physische; in Wahrheit kommen die Gedanken auf den Wellen dieses Scheins zur Erde herein (orange). Und so übergab der alte Eingeweihte den Willens-strahlen, die von der Erde zur Sonne gehen, seine Fragen, und empfing von den Gedankenstrahlen, die vom Mond zur Erde kommen, die Antworten. Die heutige Wissenschaft kennt nur die eine Seite der Sache. Die sieht auf das Physische der Sonne und des Mondes. Der alte Eingeweihte aber sagte: Während die Sonne fortwährend ihr Licht zur Erde sendet, sendet die Erde in den Weltenraum die Willensstrah-lungen, den Willen von all den Menschen, die auf der Erde leben, fortwährend in die Welt hinaus. Und wenn der Mensch im Scheine des Mondes sich aufhält, dann werden ihm die Gedankenstrahlen aus dem Kosmos geschickt.

Die menschliche Organisation hat sich geändert. So könnte der heute nach übersinnlicher Erkenntnis Suchende nicht verfahren. Die menschliche Auffassung ist gröber geworden, als sie in alten Zeiten war. Gewiß, auch heute gehen unsere Willensstrahlen ins Weltenall hinaus. Aber der Mensch empfindet seine Fragen nicht so brennend, wie man sie einmal empfunden hat, als daß seine Willensstrahlen nun wirklich diese Fragen mit hinausnehmen würden. Wir sind als Men­schen heute zu intellektualistisch geworden, und der Intellekt, der kühlt alles Fragen ab. Von der Riesenwißbegierde, welche einmal die Menschen in bezug auf die heillgsten Fragen des Daseins entwickelt haben, haben wir heute nicht viel Empfindung. Wir sind nicht mehr so wißbegierig; wir sind eigentlich nur noch neugierig und möchten schnell alles wissen, ohne daß wir uns mit der Welt auseinandersetzen. Und im Mondenschein träumen höchstens noch die Liebenden; die Gelehrten wurden es als einen furchtbaren Aberglauben betrachten, wenn sie nun auch von dem Scheine des Mondes die Antworten auf die brennenden Rätselfragen des Daseins empfangen sollten.

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Man sieht eben durchaus die Welt entgeistigt. Man weiß nichts mehr von dem Geist, der die Welt überall durchsetzt, oder wenn man davon spricht, so spricht man in verschwommen-pantheistischer Weise, nicht in der konkreten Weise, daß man weiß, wie sich des Menschen Willensstrahlen zu den Sonnenstrahlen verhalten, wie sich des Menschen Gedankenformen zu dem Schein des Mondes verhalten.

Aber wir können auch in der modernen Initiation wiederum zu einem Verkehr mit dem Kosmos und mit dem Geist der Welt kom­men. Nur macht es die heutige Initiation anders. Die vorbereitenden Übungen zur Initiation, Sie finden sie ja geschildert in meinen Bü­chern, namentlich in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Aber das alles, das tendiert ja darauf hin, das zielt ja darauf hin, daß der Mensch wirklich dazu komme, durch solche Übungen auch heute noch Antwort zu bekommen, allerdings nicht so, wie man es im heutigen Hochmut tut, die Fragen im Kopfe zu wäl­zen und mit dem Kopfe die Antworten zu geben. Da bekommt man doch nichts anderes heraus als die Dinge, die ja sehr gescheit sind; aber Gescheitheit ist nicht etwas, was zu einer wirklichen Antwort über die Rätselfragen des Lebens führt. Durch dieses Wälzen im Kopfe schließt man sich ab von der Welt. Man muß durchaus, wenn man Antwort haben will von der Welt, aus sich herausgehen. Man muß mit der Welt in Beziehung treten. Und so ist es denn, daß der mo­derne Initijerte auch seine Fragen stellen muß und auch Geduld haben muß, wenn er nicht gleich eine Antwort erhält. Der moderne Initlierte kommt nämlich immer mehr und mehr dazu, die Außenwelt nicht bloß so anzuschauen, daß er nun seine Neugierde befriedigen läßt durch dasjenige, was als Eindruck auf seine Augen, auf seine Ohren, auf seine sonstigen Sinne gemacht wird. Gewiß, er empfängt auch diese Sinneswahrnehmungen von außen, aber indem er ebenso genau, ebenso intim sich die Blumen, die Sonne, den Mond, die Sterne, an­dere Menschen, Pflanzen, Tiere und so weiter anschaut, indem er überailhin seine Sinne richtet und dasjenige gewissermaßen durch sich hindurchgehen läßt, was er als Eindrücke von den äußeren Sinnen emp£ängt, schickt er dem eine Strömung aus sich selbst entgegen. Und das ist die Strömung, welche in ihm die Rätselfrage des Daseins bedeutet.

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Man sieht eine schöne Blume. Man sieht sie an, aber nicht bloß passiv, sondern man lenkt zum Beispiel den Blick auf das Gelb. Man läßt das Gelb auf sich einen Eindruck machen. Aber zu gleicher Zeit sendet man dem Gelb seine Rätselfrage entgegen, und man läßt untertauchen in das Gelb der Blume oder meinetwillen auch in das Morgenrot untertauchen dasjenige, was man als Rätselfragen des Da­seins zu stellen hat.

Man übergibt nun nicht einem bestimmten Eindrucke, wie der auf­gehenden Sonne, sozusagen alle Fragen seines Herzens, sondern man gießt sie aus in alle Sinneswahrnehmungen. Würde man nun wiederum erwarten, daß einem die Sinneswahrnehmungen selbst die Antworten geben, so wäre das, wie wenn der alte Eingeweihte dem Morgenrot der aufgehenden Sonne seine Rätselfragen entgegengesendet hätte, um dann von diesem auch die Antwort zu empfangen, und nicht von dem Volimonde, auf den er dann gewartet hat.

Mindestens mußte so ein alter Eingeweihter vierzehn Tage warten; denn er hat während des Neumondes der aufgehenden Sonne seine Fragen gestellt, und während des Vollmondes dann die Antworten empfangen. So lange wartet kein moderner Phliosoph, denn - we­nigstens in der Zeit, in der man noch leichter gedruckt hat - dann mußte ja das Buch schon beim Buchdrucker sein!

Nun muß man aber Geduld haben. Wenn man seine Fragen über­gibt den Sinneseindrücken, wenn man sie untertauchen läßt in alle Dinge, so darf man nicht erwarten, daß einem die Sinneseindrücke nun auch irgend etwas enthüllen, und man muß - und es gelingt einem dieses auch, wenn man lange genug die Vorbereitungen dazu ge­macht hat - nunmehr warten, bis einem dasjenige - man muß den Augenblick manchmal lange abwarten -, was man nach außen der Welt übergeben hat, von innen heraufkommt als Antwort.

Sie können ganz sicher sein: Wenn Sie die Fragen aufwerfen ins Blaue hinaus, werden Sie Zufailsantworten bekommen, die schließlich für den einzelnen eine egoistische Befriedigung gewähren können, die aber doch nicht wirkliche Antworten sind. Sie müssen unter-tauchen in Blume und Meer, in das Firmament, in die Sterne, in alles dasjenige, was von außen auf Sie als Eindruck kommt, in das müssen

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Sie untertauchen Ihre Rätselfragen, und dann müssen Sie abwarten, bis einmal aus Ihrem Inneren die Antworten auftauchen. Sie können nicht vierzehn Tage warten, Sie können nicht einmal die Zelt bestimmen, die die alten Eingeweihten bestimmen konnten. Sie müssen warten, bis der richtige Moment gekommen ist, daß das Äußere ein Inneres geworden ist, und aus Ihrem Inneren heraus die Antwort kommt.

Dann. besteht gerade die Kunst der geistigen Weltenforschung, daß man warten kann, daß man nicht glaubt, flugs die Antworten zu be­kommen. Aber man bekommt natürlich auch nicht Antworten, ohne daß man die Fragen gestellt hat. Wenn Sie sich bei solchen Menschen erkundigen, die wirklich zu Erkenntnissen im Sinne der modernen Initiation gekommen sind, so werden sie Ihnen alle erzählen: Ich war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, da habe ich diese oder jene große Rätselfrage an das Dasein ganz besonders tief empfunden; ich habe dazumal diese Rätselfrage irgendwelchen besonderen äußeren Ein-drücken übergeben, und als ich fünfzig Jahre alt geworden bin, da ging mir aus meinem Inneren die Antwort hervor.

Man muß heute in den Strom der Zeit versenken dasjenige, was man als das große Gespräch mit dem Kosmos entfalten will, wie in den Schoß des Raumes die alten Eingeweihten ihre Fragen gelegt haben, damit sie ihnen wiedergeboren werden konnten aus dem Raume heraus: das Sonnenhafte aus dem Mondenhaften. Und das Kosmische muß wiedererscheinen, wiedergeboren werden aus der Menschenseele heraus nach einer Zeit, die die kosmischen Mächte selbst bestimmen, und man muß nur dazu kommen, in der richtigen Weise zu empfin­den, wann eine wirkliche Götterantwort im Inneren da ist, nicht bloß eine Menschenantwort, auf Fragen, die man gestellt hat.

So ist in einer gewissen Weise dasjenige wieder da in einer anderen Form, was den Inhalt der alten Einweihung gebildet hat. Aber Sie sehen, auf was es in diesem Falle ankommt. Sie sehen, daß es darauf ankommt, daß der Mensch, wenn er an die großen Rätselfragen des Daseins herandringen will, sich in eine geistig-seelische Beziehung zu den geistig-seelischen Mächten des Kosmos zu setzen in der Lage ist, daß der Mensch nicht ein Eremit des Daseins bleibt, der alles mit sich selbst in egoistischer Weise abmachen möchte, sondern daß er warten

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kann, bis ihm der Kosmos dasjenige beantwortet, was er erst selbst hineingestrahlt hat in diesen Kosmos als Rätselfragen.

Nun, sehen Sie, die Sache ist ja so, daß wenn man auf der einen Seite einmal gelernt hat, das Seelische gewissermaßen hinauszustrahlen in den Kosmos und es wiederum zu empfangen, daß man dann auch in einer besseren Weise vorbereitet wird, Geburt und Tod zu verstehen. Wer einmal anfängt zu verstehen, wie das Seelische im Willenselement zur Sonne strömt, den Sonnenstrahlen entgegenströmt, wie es in all das­jenige hineinströmt, was als äußere Eindrücke uns von der Außenwelt gegeben wird, der beginnt auch zu verstehen, wie das Geistig-Seelische auf den Wogen des Geistigen des Kosmos hinausströmt in die Welt, wenn der physische Mensch dem Tode verfällt. Und er lernt auch verstehen, wie das Geistige wiederum zurückkommt vom Monden­haften, vom Scheinhaften der Welt, wenn er gelernt hat, wie er seine besten Gedanken eben auch wiederum aus dem Kosmos zurückbe­kommt, wenn das auch beim modernen Menschen so ist, daß diese Ge­danken im Inneren aufsteigen; es ist das Mondenhafte in dem eigenen menschlichen Organismus, aus dem dann die Gedanken heraufkommen.

Man lernt dann aber auch solche Übergangserscheinungen in der richtigen Weise bewerten, die, ich möchte sagen, zwischen dem rein Physisch-Kosmischen und dem Kosmisch-Geistigen mitten drinnen stehen. Der moderne Mensch, der seine Schulung bloß im materia­listischen Bewußtsein erlangt hat, der schildert ja alles auch bloß physisch. Er sagt: Es gibt Sonnenfinsternisse; eine Sonnenfinsternis kommt dadurch zustande, daß der Mond zwischen der Erde und der Sonne steht und sich vor die Sonnenstrahlen hinstellt, so daß er die Sonne verfinstert. - Eine physische Erklärung, vom nächsten Physi­schen genommen. Wenn da ein Licht steht, und da ein Auge ist, und ich halte die Hand vor, so ist das Licht verfinstert - eine rein räum­liche Erklärung. Bei dem bleibt aber das moderne Bewußtsein ste­hen. Wir müssen uns wiederum hindurchringen zu einer Erkenntnis solcher nicht jeden Tag, sondern seltener vorkommenden Dinge, die aber durchaus ihre geistige Seite haben.

Wenn eine Sonnenfinsternis da ist, dann geht unter den veränder­ten Verhältnissen desjenigen Teiles der Erde, auf den die Sonnenfinsternis

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eine Wirkung hat, doch etwas ganz anderes vor sich, als wenn die Sonnenfinsternis nicht da ist. Wenn wir wissen, daß die Sonnen­strahlen zu uns dringen und die Willensstrahlen der Sonne entgegendringen, so werden wir uns auch vorstellen können, wie eine Sonnen­finsternis auf die Willensstrahlen, die nun geistig sind, einen gewissen Einfluß haben kann. Die Lichtstrahlen hält der Mond auf, das ist ein rein physischer Vorgang. Die Willensstrahlen können durch die physi­sche Materie des Mondes nicht aufgehalten werden. Sie strahlen hin­ein in das Dunkel, und es ist einmal eine Zeit, wenn auch eine kurze, da, in welcher dasjenige, was auf der Erde willenhaft ist, anders in den Weltenraum hinausströmt, als es hinausströmt, wenn nun keine Sonnenfinsternis ist. Das Physische des Sonnenlichtes verbindet sich sonst immer mit den ausgesandten Willensstrahlen. In diesem Fall gehen die ausgesandten Willensstrahlen in einem Strahlenkegel unge­hindert in den Weltenraum hinaus. Die alten Eingeweihten haben gewußt: In einem solchen Falle bewegt sich in den Weltenraum hin-aus alles dasjenige, was der Mensch an ungezügeltem Willen, an unge-zügelten Instinkten und Trieben in sich hegt. Und die alten Ein­geweihten haben ihren Schülern erklärt: Unter gewöhnlichen Verhält­nissen wird dasjenige, was der schlechte Wille der Menschen hinaus-strahlt in den Weltenraum, von den Sonnenstrahlen in einer gewissen Weise verbrannt, so daß es nur dem Menschen selber schadet, aber nicht im Kosmos Schaden anrichtet. Wenn aber eine Sonnenfinsternis ist, dann ist die Gelegenheit dazu vorhanden, daß die Schlechtigkeit der Erde in allen Weltenhimmeln sich verbreitet. Da haben wir ein physisches Ereignis, das durchaus einen geistigen Inhalt hat.

Und wiederum, wenn Mondenfinsternis ist - nun ja, das moderne Bewußtsein sagt: Da steht die Erde zwischen Sonne und Mond, des­halb sieht man den Schatten der Erde auf dem Monde. - Das ist eine physische Erklärung. Aber wiederum wußte der alte Inittierte, daß da ein Geistiges zugrunde liegt, daß, indem der Mond verfinstert ist, die Gedanken durch die Dunkelheit hinunterströmen, daß sie also eine innigere Beziehung zu dem Unterbewußten des Menschen haben als zu dem Bewußten. Und die alten Eingeweihten sagten oftmals im Gleichnisse zu ihren Schülern - ich übersetze es in die moderne

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Sprache: Die schwärmerischen Menschen gehen bei Vollmond­schein spazieren; diejenigen Menschen aber, welche die Teufels-gedanken aufnehmen wollen aus dem Weltenall, nicht die guten Gedanken, die gehen bei Mondenfinsternis spazieren.

Da haben wir wiederum das Herankommen an ein Geistiges bei einem physischen Ereignis. Wir können nicht in der alten Form diese Dinge aufnehmen, das würde zum Aberglauben führen. Aber wir müssen wiederum dahin kommen, in einzelnen wichtigen Weltenereig-nissen auch das Geistige sehen zu können. Denn in der Tat ist es so, daß wenn in jedem Jahre sich Sonnen- und Mondenfinsternisse wieder­holen, diese gewissermaßen, ich möchte sagen, « entgegengesetzte Ventile» sind. Ventile werden ja angebracht, damit kein Schaden ent­steht, damit sie sich öffnen zur rechten Zeit, zum Beispiel den Dampf auslassen. Diese Ventile, die in den Welterscheinungen als Sonnen- und Mondenfinsternisse auftreten, sind gerade dazu da, damit dasjenige, was, wenn es sich um eine Sonnenfinsternis handelt, als Schlechtigkeit auf der Erde sich verbreitet, in lualferischer Weise in den Weltenraum hinausgetragen werden kann und dort weiteres Unheil anrichtet, während die Mondenfinsternisse dazu eingerichtet sind, daß zu den­jenigen Menschen, die ganz besonders von bösen Gedanken besessen werden wollen, die bösen Gedanken des Weltenalis kommen können. Mit vollem Wissen wird ja so etwas nicht mitgemacht, aber die Sachen sind real, wirklich ebenso real, wie die Anziehung eines Magneten auf gewisse Eisenteilchen ist. Das sind Kräfte, die im Weltenall wir­ken, geradeso wie diejenigen, die wir heute studieren in der Klinik oder im chemischen oder physikalischen Laboratorium.

Und nicht eher wird die Menschheit aus ihren Niedergangskräften herauskommen, als bis sie wiederum ein Herz und einen Sinn fassen kann für ein solches geistiges Wirken. Dann werden der Menschheit auch wiederum erblühen reale Vorstellungen über Geburt und Tod. Und diese realen Vorstellungen über Geburt und Tod, die braucht die heutige, stark in die Verfinsterung eingetauchte Menschheit. Man wird wiederum lernen müssen, was eigentlich die Sonne bedeutet, indem sie ihr Licht uns entgegensendet; denn wenn die Sonne ihr Licht uns entgegensendet, macht sie gewissermaßen den Raum um uns

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herum frei für die Wege der Seelen, die von den Gestorbenen in den weiten Weltenraum hinausdringen müssen.

Wenn die Sonne auf die Erde ihr Lcht sendet, sendet die Erde ihre Seelen in die Weltenweiten hinaus. Sie strahlen hinaus, indem die Menschen sterben, strahlen in die Weiten. Und in den Weiten machen sie Veränderungen durch. Und sie kommen wiederum zurück zu den Menschen, vom Mond her, geistig gestaltet, ergreifen wiederum einen physischen Leib, der ihnen in der physischen Vererbungsströmung zukommt. Und nicht eher werden wir wiederum in ein richtiges Ver­hältnis zum Weltenall kommen, als bis wir solche Dinge ganz real empfinden können.

Wir lernen heute Astronomie, Spektralanalyse und so weiter. Wir lernen, wie die Sonnenstrahlen hereindringen auf die Erde und glau­ben, damit fertig zu sein. Wir lernen, wie die Sonnenstrahlen auf den Mond fallen, wiederum zur Erde zurückgestrahlt werden, und sehen uns in dieser Weise physisch den Schein des Mondes an. Das be­schäftigt unseren Verstand. Aber Verstandeswissen bedeutet nicht viel. Verstandeswissen sondert den Menschen heraus aus dem Welten-all, macht ihn nicht lebendig, innerlich-seelisch nicht lebendig. See­lisch-innerlich lebendig kann er erst wiederum werden, wenn er ein wirkliches, auch geistseelisches Verhältnis zum Weltenall gewinnt. Das kann er nur gewinnen, wenn er sich zum Beispiel wieder sagen kann:

Ein Mensch ist gestorben, seine Seele strahlt entgegen der Sonne, und entgegen dem Wege der Sonnenstrahlen strömt sie hinaus in das Wel­tenall, bis sie ankommt dort, wo der Raum zu Ende ist, wo die drei Dimensionen aufhören, drei Dimensionen zu sein, wo sie übergehen in die Ebene. Da geschehen außer dem Raume und außer der Zeit Vorgänge. Dann kommt nach einiger Zeit von der entgegengesetzten Seite, von derjenigen Richtung, in der das Mondenlicht zu uns dringt, die Seele wiederum zurück, vereinigt sich mit einem physischen Men­schenieibe und kommt wiederum auf die Erde.

Wenn der Mensch wiederum lernt, zu sagen: 0 Sonne, deinem Strahl entgegen gehen die Seelen der Toten; 0 Mondenschein, mit deinem Wogen ziehen die jungen Seelen ins Erdenieben herein -, wenn die Menschen wiederum lernen, die Naturerscheinungen in dieser

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Weise konkret durchsetzt mit Geistigem zu empfinden, dann wird wiederum ein Wissen da sein auf der Erde, das zu gleicher Zeit Reli­gion ist, dann wird wieder eine Erkenntnis da sein, die zu gleicher Zeit Frömmigkeit ist. Denn dasjenige Wissen, das sich nur über das Stofflich-Materielle ergeht, das kann nimmermehr zur Religion wer­den. Und diejenige Religion, die nur aus einem Glauben, aus keiner Erkenntnis quillt, kann niemals harmonisch sich mit demjenigen ver­einigen, was der Mensch aus dem Weltenall heraus erschaut. Die Menschen sprechen heute die alten Gebete nach, und wenn man sagt, in den alten Gebeten ist ein tiefes Geistiges, wie ich es geschlidert habe zum Beispiel in dem kleinen Bücheichen über das Vaterunser, dann kommen die heutigen sehr gescheiten Menschen und sagen: Das alles ist hineingeträumt, das alles ist Phantasie. - Es ist nicht Phantasie! Es ist aus der Erkenntnis heraus gesagt, daß eben diejenigen Gebete, die von alters her in der Tradition an die Menschen herangebracht wor­den sind, aus tiefen Erkenntnissen der Weltenzusammenhänge heraus gefaßt sind. Aber wir müssen wiederum aus unserer eigenen Erkennt­nis heraus zu demjenigen kommen, was uns in ein religionsartiges Verhältnis zu allen einzelnen Erscheinungen des Weltenalis kommen läßt. Wir müssen wiederum sagen können: 0 Sonne, du scheinst mir das Licht entgegen; auf den Wegen aber, die das Licht sich bahnt von dir, 0 Sonne, zu mir auf der Erde, auf diesen Wegen, nur in entgegengesetzter Richtung, strömen die menschlichen Seelen, wenn die Menschen gestorben sind, in die Weltenweiten hinaus! 0 Mon­denlicht, du strahlst milde vom Himmel herunter zur Erde; aber auf den Wellen deines milden Lichtes kommen die Seelen herein aus den Weltenweiten, indem sie zum irdischen Dasein schreiten.

Auf diese Weise finden wir wiederum den Zusammenhang desjeni­gen, was in der Welt draußen scheint und strahlt, mit demjenigen, was in der Menschheit selber lebt und wirkt. Und wir werden nicht mehr bloß gedankenlos sagen: Da draußen ist das physische Weltenall mit seinen Stoffen, und man weiß nicht, was die Menschenseele machen soll, wenn sie sich vom Leibe trennt in diesem bloß stofflichen Wel­tenall; sondern man wird wissen, daß, indem der Sonnenstrahl ge­wissermaßen durch den Raum sich bohrt, er entgegenarbeitet der

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menschlichen Willensstrahlung, die dort ihre Wege findet, wo das Licht sie ihr zubereitet hat. Und wiederum wird man erkennen, daß das milde Mondenlicht nicht umsonst seine wellenartigen Ergießun­gen über die Welt sendet, sondern daß in diesen Mondenwellen des scheinenden milden Lichtes Geistiges durch den Raum hindurch wallt und strömt. Wenn das einmal so angesehen werden wird, dann wird einem aber auch nicht gleichgültig sein, was man erfahren kann, wenn man etwa auf die Pflanze und ihr Verhalten hinschaut des Mor­gens, wenn noch das junge Morgensonnenlicht diese Pflanze bestrahlt. Da verhält sich die Pflanze in einer ganz bestimmten Weise, da drin­gen ihre Säfte, die durch die feinen Gefäße von unten nach oben strömen, in das Blütenhafte oder in das Blätterhafte hinau£ Da machen die Strahlen der Sonne, die zur Pflanze herunterkommen, den Willens-kräften der Erde Platz. Und nicht nur strömen da die Säfte, wie unsere heutigen Physiker es schildern, durch die Pflanzen, sondern es strömen die Willenskräfte, die in den Tiefen der Erde sitzen, durch die Pflanze hindurch von der Wurzel nach der Blüte hin. Und des Abends, wenn sich die Blätter einrollen und schließen, wenn die Sonnenstrahlen keine Wege mehr den Willensströmungen, die von der Erde heraufkommen, bereiten, dann wird die Pflanze innerlich untätig, dann wird ihr Leben stillgelegt. Aber sie ist auch ausgesetzt dem milden Mondenlichte. Dieses milde Mondenlicht hat nicht nur Einfluß auf die Liebenden, sondern auch auf die stillgelegte Pflanze; denn in der stillgelegten Pflanze wirkt dasjenige, was da mit dem Mondenlichte als Welt-gedanke hinunterströmt auf die Pflanze.

Und so lernt man die Pflanze anschauen als ein Ineinander-Verwo­bensein von Erdenwillen und Weltengedanken. Man schaut jede ein­zelne Pflanzenform an, inwiefern sie zusammengewoben ist aus Wel­tengedanken und Erdenwillen. Und lernt man erkennen, wie aus dem Geiste heraus die Heilkräfte quillen in Weltengedanken und Erden-willen, dann gehen einem die heilenden Kräfte der Pflanze auf, und man lernt die Pflanze als Heilkraut erkennen. Aber man lernt die Pflanze als Heilkraut eben nur aus einer intimen Erkenntnis des Kos-mos heraus erkennen.

Das ist etwas, was wir uns wiederum erringen müssen. Und wir

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müssen uns noch mehr erringen: Wenn wir den menschlichen Kopf ansehen - er ist der Erde selber nachgebildet. Er bildet sich auch zuerst im menschlichen Embryo. Er ist der Erde nachgebildet, das andere wird gewissermaßen angesetzt. Wenn der menschliche Kopf durch-strahlt wird von dem Lichte - und er wird ja durchstrahlt von dem Son­nenlichte-, dann wird dasjenige, was im menschlichenKopfdemErden­willen ähnlich ist, besonders lebendig hinausgestrahlt in das Weltenall

Betrachten wir nun etwa eine Pflanzenwurzel, die besonders intensiv den Erdenwillen enthält, dann können wir wissen, daß diese Wurzel ja fortwährend dem Sonnenstrahl entzogen ist, daß diese Wurzel der Pflanze besonders lebendig dem Mondenlichte ausgesetzt ist, das tatsächlich, so schwach es nur herabstrahlt auf die Erde, dennoch die Erde durchdringt und bis zu den Wurzeln der Pflanze geht. Bringen wir dann das Lichthafte an die Pflanze heran, indem wir die Wurzeln verbrennen, die Wurzelasche suchen und aus der Wurzelasche ein Pulver bereiten, dann können wir durch die kosmischen Vorgänge erkennen, wie das Pulver aus dieser oder jener Pflanzenwurzel auf das menschliche Haupt, das in seinen Willenskräften ähnlich ist den Wil­lenskräften der Erde, wirken kann. Es hindelt sich darum, daß man überall, handle es sich um das kleinste Stoflteilchen oder die größte Stoffmasse, den Zusammenhang dieses Stoffes mit dem Geistigen er­gründen kann. Dann wird man können, was man heute nur in der Mathematik kann: Man wird dasjenige, was man zuerst rein geistig erfaßt, auf die ganze Natur anwenden können.

Heute ist man ja nicht weiter, als daß man weiß: ein Würfel besteht aus sechs Quadraten. Das kann man sich ausdenken, das ist ein Gedankengebilde. Geht man zum Salz, zum gewöhnlichen Koch-salz, so zeigt einem das in der Natur diesen Würfel. Da fällt dasjenige, was man denkt, das Geistige, zusammen mit demjenigen, was mate­riell draußen ist. Aber ich frage Sie: Was wissen heute die Menschen davon, wieviel in einer Pflanzenwurzel von geistigen Willenskräften, von Weltengedankenkräften, von Erdengedankenkräften, von Wil­lenskräften ist? Und dennoch, es ist derselbe Vorgang, den wir heute nur in alleräußerster Abstraktheit vollziehen, wenn wir ausdenken den Würfel und ihn wiederfinden beim Chlornatrium, beim Kochsalz.

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Dasjenige, was wir heute nur mit der Mathematik machen, das müssen wir mit alledem machen, wozu die Menschenseele kommen kann. Mit der Mathematik läßt sich nicht für viele Menschen eine fromme Stimmung erzeugen. Für so sinnlge Menschen wie für Nova­lis war selbst aus der Mathematik, die er als ein großes, wunder-schönes Gedicht empfand, fromme Stimmung herauszuholen. Das ist aber nicht für viele Menschen so. Im allgemeinen lernt man wenig Menschen kennen, die fromm werden, indem sie mathematisieren. Aber wenn man weitergeht, wenn man sich das andere Geistige her­ausholt aus dem Menschen und es hinausträgt in die Welt - wo es aber schon ist, man erkennt es nur wieder -, dann wird schon Wis­senschaft in religiöse Stimmung übergeführt, dann wird wirklich die Harmonisierung von Religion und Wissenschaft erzeugt. Das, meine lieben Freunde, wollte ich heute zu Ihren Herzen sprechen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 30. Juni 1922

Mit ein paar Worten darf ich noch einmal hinweisen auf die Ausfüh­rungen, die ich am letzten Sonntag hier gemacht habe. Sie berührten das Verhältnis des Menschen zur Welt insofern, als darauf aufmerk­sam gemacht wurde, wie dasjenige, was menschliche Willensentfaltung ist, seinen Weg hinausfindet in die Weiten der Welt, entgegen der Lichtrichtung, die von der Sonne aus zur Erde strömt. So daß man sagen kann, daß dem Lichte entgegen von der Erdenmenschheit etwas in den Weltenraum hinausströmt, das Willensentfaltung ist. Dagegen kommt gewissermaßen mit den Wellen des Mondenlichtes herein auf die Erde dasjenige, was Gedankenliaftes ist. Wir konnten dann des weiteren dazu übergehen, zu zeigen, wie dasjenige, was vom Men­schen mit der Auflösung des physischen Leibes sich verbreitert, einen willensartigen Charakter trägt, und eben dem Lichte entgegen hinaus in das Weltenall strömt, und wie dann der Mensch wiederum zurückkommt zum irdischen Dasein auf den Strömen des Gedankenelemen­tes mit den Lichtlinien und überhaupt mit alledem, was vom Monde ausgeht.

Nun muß natürlich sowohl für diese Anschauung bezüglich des Willenselementes und des Lichtelementes, des Gedankenelementes und des Mondenscheinelementes, wie auch für die Ausführungen, die ich heute weiter in diesem Stile machen möchte, ins Auge gefaßt werden, daß wenn man über diese Dinge spricht und sich gewisser­maßen des Weltengebäudes als einer Veranschaulichung bedient, da-mit eben nur eine Veranschaulichung gemeint ist. Denn man sollte nicht denken, daß in alledem, was da ausgeführt wird, unmittelbar die physische Sonne und der physische Mond etwas anderes zu tun haben, als daß sie gewissermaßen Zeichen für das sind, was geistig geschieht. Das wirkliche Verhältnis kann etwa in der folgenden Weise dargestellt werden.

Ich möchte diese Darstellung geschichtlich formulieren. Man könnte sie auch anders formulieren. Ich möchte Ihnen verständlich

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machen, was eigentlich mit solchen Ausführungen, wie ich sie jetzt mache, im genaueren gemeint ist. Sie wissen ja, daß das sich mehr an das Materielle haltende Denken den Ursprung unseres Welten-systems in einer Art Urnebel sieht, das heißt, man kommt mit dem rein an das Materielle gebundenen Denken dazu, sich vorzustellen, daß unser Kosmos, so wie wir ihn überschauen, daß unser Sonnen­system hervorgegangen ist aus einer Art Urnebel (weiß), der sich dann geballt und zusammengezogen hat zu demjenigen, was eben das Sonnensystem darstellt.

#Bild s. 47

Nun ist es Ihnen ja wohl von vorneherein klar, nach allem, was Sie auf dem Boden der Anthroposophie gehört haben, daß dies nicht eine restlose Darstellung des Vorganges sein kann. Wie sehr man diese materielle Ausdeutung des Weitgeschehens auch modifiziert, sie mit Kräften durchsetzt und dergleichen: dasjenige, was wirklich ist, kann damit nicht erschöpft sein, aus dem Grunde nicht, weil ja aus allem, was so ein Kant-Laplacescher oder ein anderer Urnebel enthält, und was er nach den Gesetzen der Gas- oder Luftmechanik aus sich her­aus entwickeln kann, niemals dasjenige sich bilden könnte, was auf

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der Erde als Tier- und Menschenseelen, ja nicht einmal was als Pflan­zen-Wachstumskräfte lebt. Wir haben es, wenn wir eine solche Aus-deutung vollziehen, eben zu tun mit einer Abstraktion, wenn diese Abstraktion auch eine materialistische Abstraktion ist. Es muß klar sein, daß dem, was da von dem materialistischen Denken als Urnebeimasse gedachtist, schon innewohnt einGeistiges (s. Zeichnung S. 49 links, rot), und daß diese Urnebelmasse nur der äußere materielle Ausdruck eines Geistigen ist. Also es muß, wenn die Vorstellung eine vollständige ist, darinnen das Weben und Wesen von Geistigem gedacht werden. So daß wir, wenn wir auf diesen Kant-Laplaceschen Urnebel hinschauen, ihn ergänzen müssen dadurch, daß wir ihn als den Leib ansehen eines Geistig-Seelischen, eines Geistig-Seelischen allerdings, das nicht jene Einheitsnatur ist, wie der Mensch sie hat, sondern das mannigfaltig, vielgestaltig ist, aber das eben doch ein Geistig-Seelisches ist.

Die bloß materialistische Denkbetrachtung, die bloß materialistische Hypothesenbildung kommt ja nicht weiter zurück als zu diesem Ur­nebel. Nun stellen wir uns einmal vor, nicht wir, sondern andere We­sen, Wesen der Zukunft würden sich einmal aus einem solchen mate­rialistischen Denken heraus Vorstellungen machen über die Entste­hung des Weltensystems, in welchem sie sind oder sein werden. Es hängt gar nichts davon ab, ob das, was ich jetzt darstelle, eine Wirk­lichkeit darstellt, es soll nur zur Verdeutlichung eines Gedankens dienen. Wir nehmen also an, es würde Wesen in einer fernen Zukunft geben, die einen solchen Kant-Laplaceschen Urnebel an dem Aus­gangspunkt der Weltenentstehung sehen. Wohin würde er in dem Zeitenlaufe fallen? Es müßte doch, wenn solche Zukunftswesen zu­rückschauen, angenommen werden, damit der Gedanke richtig ver­deutlicht werden kann, unsere Erde, das heißt unser Sonnensystem, wäre längst zugrunde gegangen, der Raum wäre gewissermaßen frei geworden, und in diesem frei gewordenen Raume würde dann ange­nommen werden müssen das Kant-Laplacesche Urnebelsystem einer zukünftigen Welt. Denn solange unser Sonnensystem da ist, könnte ja in ihrem Raum dieser Kant-Laplacesche Urnebel selbstverständlich nicht angenommen werden. Ich will das Beispiel so gestalten, daß die Wesen, die dann eine solche materialistische Zukunftstheorie ausbilden,

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ihren Kant-Laplaceschen Urnebel an die Stelle unseres Welten­systems hinsetzen. Nach dem, was wir eben gesagt haben, müßte aber auch in diesem Kant-Laplaceschen Zukunftsnebel Geistig-Seelisches enthalten sein. Er müßte nur die körperliche Ausgestaltung eines kosmischen Geistig-Seelischen sein. Woher würde dieses Geistig-See­lische kommen? Was würde es mit diesem Geistig-Seelischen für eine Bewandtnis haben? Ich will schematisch zeichnen.

Das hier (siehe Zeichnung links) wäre das Geistig-Seelisch-Physi­sche unseres Kant-Laplaceschen Urnebeis; und da wäre in einem Zukunftsmomente der Kant-Laplacesche Urnebel jener Zukunfts­wesen, von denen ich eben gesprochen habe (rechts). In diesem Kant­Laplaceschen Urnebel müßte nun auch wiederum ein Geistig-Seeli­sches enthalten sein (rot). Woher würde denn das kommen? Nun, wenn dieser Kant-Laplacesche Urnebel (rechts) gewissermaßen an der Stelle wäre, wo unser Sonnensystem gestanden hat, dann würde er sich gebildet haben; er würde ein kosmisches Geistig-Seelisches umkleidet haben. Aber dieses kosmische Geistig-Seelische wäre das­jenige, was übriggeblieben ist von dem Sonnensystem, in dem wir gelebt haben. Wir würden also unser Sonnensystem, wie wir es jetzt haben, zu Ende leben. Das würde zerstäuben im Weltenraum. Übrig­bleiben würde das Geistig-Seelische, und das würde sich verkörpern

#Bild s. 49

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in einem neuen Kant-Laplaceschen Urnebel. Mit anderen Worten: Was ich Her geschildert habe (Zeichnung S. 49 rechts), würde die Jupiter­entwickelung darstellen. Aber innerhalb dieser Jupiterentwickelung würde sich als Geistig-Seelisches dasjenige finden, was bereitet wor­den ist während des Erdendaseins der Menschheit. Und ebenso muß man eigentlich von dem Kant-Laplaceschen Urnebei der Erde wie­derum weiter zurückgehen zu dem Geistig-Seelischen, das er enthält. Und das ist von den Wesenheiten des Mondendaseins bereitet worden.

Wenn Sie also hinausschauen, das gegenwartige Sonnensystem an-schauen, so ist das gewissermaßen die äußere Körperlichkeit des­jenigen, was vom Mondendasein verschwunden ist oder sich vom Mondendasein verwandelt hat zu dem Erdendasein. Und wiederum, was wir heute hinaussenden in unseren Weltenraum, das bereitet das Jupiterdasein vor. Wir haben also, indem wir das äußere Sonnen­system anschauen, eigentlich immer etwas, was das Werk einer frühe-ren Daseinsstufe ist.

Rede ich also von dem Licht, das zu uns strömt von der physi­schen Sonne, so rede ich von etwas, was aus der Vergangenheit her-überkommt. Und rede ich von den Willensströmungen, die diesem lichte entgegenströmen, dann rede ich von etwas, was Zukunft be­reitet. So daß also gewissermaßen das Uhrwerk, das kosmische - ich nenne es so, um eine Art Ausdrucksform zu haben für das, was gei­stig geschieht -, vom Monde bereitet worden ist, und dasjenige, was ich als Geistiges schildere, das ist schon die Grundiage für das, was sich zum Jupiterdasein hinüberlebt. Sie dürfen also nicht sagen, daß die heutige Sonne, so wie wir sie mit den Augen draußen im Welten-raum sehen, den menschlichen Willen anzieht. Diese physische Sonne ist eben nur das Symbolum für jenes Sonnenhafte, dem der mensch­liche Wille zuströmt. Und ebenso ist der physische Mond nur das physische Zeichen für das Mondenhafte, das in Gedankenströmungen sich fortwährend in das Erdendasein hereinergießt.

Diese Gedanken müssen Sie schon haben, wenn Sie in der richtigen Weise verstehen wollen, was es bedeutet, wenn ich nun auch in den folgenden Ausführungen von kosmischen Zusammenhängen sprechen werde, die als Bilder wiedergeben, was als Geistiges sich abspielt durch

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die Erdenmenschheit. Und da muß zu dem schon das letzte Mal Aus-geführten noch das Folgende hinzugefügt werden. Wenn wir unser ge­samtes Sonnensystem nehmen, so haben wir, von der Erde aus be­trachtet, die Sonne, wir haben als äußere Planeten Mars, Jupiter, Saturn und so weiter - die anderen sind von geringer Bedeutung -,und wir haben näher zur Erde als zur Sonne Mond, Venus, Merkur (siehe Zeichnung). Nun halten wir uns einmal an das, was ich gesagt habe, daß von der Menschheit der Erde nach dem Weltenraum hinaus das willenhafte Element der Sonne zuströmt, und daß auch die Seele nach der Auflösung des Leibes (rot) durch dieses Willenselement sich in den Kosmos hinausbewegt. Da trifft gewissermaßen unser willenhaf­tes Element zuerst auf das Sonnendasein, auf die Sonnensphäre.

#Bild s. 51

Sie wissen nun, dasjenige, was auf diese Weise als eine Tatsache hingestellt werden muß, es ist ja gefunden worden, wie ich Ihnen das letzte Mal ausgeführt habe, durch die Erfahrungen der alten Eingeweihten. Die haben ihre Rätselfragen den Willensströmungen

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übergeben, der Sonne entgegengeschlckt' und haben dann die Antwor­ten vom Monde wiederum in Gedankenform zurückbekommen (blau), so daß einfach das, was ich hier darstelle, in dieser Form, wie ich es Ihnen eben jetzt gesagt habe, als Tatsache vorhanden ist. Und wir müssen wiederum, wenn wir das Weitere einsehen wollen, auf die Erfahrungen der alten Mysterien zurückgehen.

Nehmen Sie noch einmal diese Tatsache: Der Initilerte der alten Mysterien sendet seine Rätselfragen hinaus. Er übergibt sie jener Strö­mung, die den Sonnenstrahlen entgegengeht, wartet, und bekommt nach einiger Zeit vom Monde her seine Antworten. Er redet in dieser Beziehung mit dem Kosmos.

Nun hat aber der alte Initijerte durch diesen Vorgang nur ganz bestimmte Antworten erhalten, und das waren die Antworten, die sich bezogen auf den Bau des Weltenalis als solchen. Also, was in der alten primitiveren Wissenschaft, die aber eine hohe Weisheit, wenn auch eine träumerische, war, enthalten war, das wurde auf eine solche Weise zustande gebracht, daß man den Sonnenstrahlen in entgegen­gesetzter Richtung die Fragen übergab und dann die Antworten emp­fing. Da empfing man die Antworten auf jene Fragen, die den Bau des Weltenalis, die die Kräfte betrafen, die im Weltenall wirken und so weiter. Kurz, man bekam alles das, was sich auf physikalische An­schauung, auf astronomische Anschauung, auf die Sphärenmusik und so weiter bezog, und was innerhalb dieser Gebiete verzeichnet wurde in den alten Wissenschaften.

Nun aber sandten diese alten Initilerten auch andere Fragen in das Weltenall hinaus. Sie kannten zum Beispiel auch die Kunst, hinaus­zusenden Fragen bis zum Mars, bis zur Marssphäre (siehe Zeichnung Seite 51). Sie übergaben in der Zeit, wo der Mars am Himmel stand, den Strahlungen in entgegengesetzter Richtung ihre Fragen. Nun erwarteten sie die Antworten nicht vom Monde, sondern wenn sie zum Mars ihre Fragen schickten, dann erwarteten sie die Ant­worten, wenn die Venus in der Weise stand, daß sie gewisser­maßen den Mars anschaute; aber das Wichtige ist: Sie erwarteten die Antworten auf die Fragen, die sie zum Mars hinaufschlckten, von der Venus. Und weiter, die Fragen, die sie hinaufschickten zum Jupiter,

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die erwarteten sie vom Merkur beantwortet. Die Fragen, die sie zum Saturn schickten, die schickten sie gewissermaßen ganz in die Weiten des Weltenalis hinaus, und für diese erwarteten sie die Ant­worten nur vom Fixsternhmmel oder von dem, was ihnen in jenen alten Zeiten der Repräsentant des Fixsternhimmels war, vom Tier­kreis selber.

Aber was war denn in jenen Fragen enthalten, welche die alten Iniffierten in dieser Weise in das Weltenall hinaussandten und wofür sie dann die Antworten erwarteten? Das waren jetzt nicht die ab­strakt-wissenschaftlichen Wahrheiten, welche vom Bau des Weltenalis handelten, wie ich Ihnen das eben angedeutet habe, sondern es waren diejenigen Fragen, welche diese alten Initilerten direkt an göttlich-geistige Wesenheiten richten wollten.

So richteten sie an den Mars die Fragen, die sie an die Engeiwesen zu stellen hatten, und erwarteten die Antworten von der Venus aus. So richteten sie an den Jupiter die Fragen an die Erzengelwesen und erwarteten die Antworten vom Merkur aus; und so richteten sie an den Saturn die Fragen, die gewonnen werden sollten von den Urkräften, von den Archal, und erwarteten von dem Tierkreise die Antworten.

Also während gewissermaßen mit dem Kosmos unmittelbar in einer mehr abstrakten Form, ich möchte sagen in einer unpersönlichen Form gesprochen wurde, wurde diejenige Sprache, die ich eben jetzt charakterisiere, in der Weise geführt, daß man dabei das Bewußtsein haben konnte: Man redet mit wirklichen geistig-göttlichen Wesen­heiten und man bekommt deren individuelle Aussagen. Also von dem Chor der Engel, von dem Chor der Erzengel, von dem Chor der Archai bekam man gewissermaßen die Willensentschließungen auf diese Weise. Dasjenige, was man abwickelte als einen Diskurs zwi­schen Sonne, Mond und dem Inittierten, das war auf das Äußere des Kosmos gerichtet. Was man mit den anderen Planeten abmachte und mit dem Tierkreis, das war auf die geistigen Bewohner des Kosmos gerichtet.

Man weiß also, daß es Tatsache ist, daß eine Wechselwirkung des Menschen mit dem Kosmos, und zwar nicht nur mit seinem äußeren Bau, sondern auch mit den Bewohnern des Kosmos fortwährend vorhanden

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ist. Die alten Eingeweihten wußten, daß wenn sie zum Bei­spiel zum Mars hinaus ihre Kräfte richteten, es dann nicht etwa ge­nügte, daß sie bloße Rätselgedanken-Fragen hegten und sie hinaus­sandten in das Weltenall. Solche Rätselgedanken-Fragen gingen nur bis zur Sonne, und für solche Rätseigedanken-Fragen kamen auch nur von dem Monde Antworten zurück. Wollten die alten Eingeweihten nach dem Mars Fragen richten, so konnten sie das nicht mit dem bloßen Denken machen, sondern das mußten sie so machen, daß sie in einer bestimmten Weise Formeln bildeten, Rezitative, Mantren bil­deten, die auch wirklich ausgesprochen werden konnten. Die wurden dann hlnausgesandt, und die bildeten dasjenige, was die Marskräfte so in Bewegung setzte, daß die Antworten wiederum für eine Art inneren Hörens von der Venus aus zurückkamen. Wollte man den Jupiter fragen, so genügte auch das nicht mehr, sondern da mußten gewisse kultische Opferhandiungen vollzogen werden von einer ganz be­stimmten Form. Und was da als die, sagen wir, Weitgedanken-Form von diesen kultischen Opferhandiungen hinausströmte in das Welten-all, das kam dann wiederum in gewissen Zeichen, welche die alten Eingeweihten zu deuten verstanden, von der Venus zurück. Ließen sie sich von der Venus inspirieren, so konnten sie, wenn zum Jupiter hlnausgesandt wurde, diese Zeichen deuten; ließen sie sich vom Mer­kur inspirieren, so konnten sie auch da die entsprechenden Zeichen deuten. Es waren dies Zeichen von der verschiedensten Art. Man sah in ihnen überhaupt nichts, wenn man nicht eben gerade merkur-inspiriert war. War man merkur4nspiriert, so wußte man: Wenn das oder jenes Ereignis einem begegnet, so ist es diese oder jene Antwort auf eine durch eine kultische Handiung gestellte Frage.

So bekamen Naturereignisse und auch Geschlchtsereignisse, die sonst für den Menschen nichts anderes sind als eben Naturvorgänge und Geschichtsvorgange, einen gewissen Inhalt; sie konnten gewis­sermaßen gelesen werden. Was an den Saturn als Frage gestellt wurde, das war ganz besonders schwierig, denn das konnte nur durch lang­wierige menschliche Handlungen selber als Frage gestellt werden. Das wurde in der Regel in den alten Mysterien so gemacht, daß die Myste­rienlehrer eine gewisse Mission ihren Schülern gaben, eine Mission, die

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in der Verwendung des Lebens dieser Schüler zu diesem oder je­nem Tatinhalt bestand. Und in dem, was dann oftmals durch viele Jähre hindurch solche Schüler zu verrichten hatten, bestanden die Anfragen an das Saturndasein. Und die Antworten kamen dann vom Tierkreise zurück.

Es war wirklich ein Hineingewobensein in den ganzen Kosmos, was sich da abspielte in jenen Gebets-, Meditations-, kultischen Dien­sten und anderen Verrichtungen, die durch die alten Mysterien von den Eingeweihten und ihren Schülern gepflegt wurden. Da war auch nichts, was nur in kurzer Zeit etwa sich abspielte; sondern da war alles dasjenige, was sich im Laufe der Jahre in solchen Mysterien abspielte, fortlaufende Erkenntnishandiung oder auch Handlung zur Herbeiführung der für das menschliche Handeln richtigen Impulse.

Durch das Hineinschauen in diese Verhältnisse bekommt man auch eine Anschauung, wie die Kräf Le, die man in solchem Sinne als Sonnen-, Mars-, Jupiter-, Saturn-, Monden-, Venus- und Merkurkräfte bezeichnen kann, auf den Menschen wirken, was sie für den Men­schen für eine Bedeutung haben. Die Sonnenkräfte haben ja für den Menschen die Bedeutung - Sie können das entnehmen aus dem, was ich bisher ausgeführt habe -, daß sie gewissermaßen sein Willens­artiges an die Sonne heranziehen, daß sie ihn selbst, wenn er gestor­ben ist, in den Weltenraum hinaus und durch den Weltenraum in die geistige Welt führen. Die Mondenkräfte haben die Eigentümlichkeit, daß sie die Organisation in den Menschen hineinbringen, die das Denken, das Sinnen möglich macht; aber sie sind auch diejenigen Kräfte, die den Menschen wiederum hereintragen, wenn er, aus der geistigen Welt ankommend, durch die Äthersphäre hindurch seinen Weg finden muß zur irdischen Verkörperung.

In einer ähnlichen Weise können wir von den anderen Kräften, denen wir ihre Namen geben nach den Weltenkörpern, die sie reprä­sentieren, in bezug auf ihre Wirkung auf den Menschen sprechen. Nehmen wir zum Beispiel die Merkurkräfte. Diese Merkurkräfte sind ja nicht etwa bloß konzentriert in dem Weltenkörper Merkur. Sie er-füllen den ganzen uns zugänglichen Raum, und der physische Mer­kurkörper ist bloß die im Mineralischen konzentrierte Ausgestaltung

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dessen, was da als Merkurkräfte vorhanden ist. Stellen Sie sich vor, wir hätten unser ganzes Sonnensystem mit den Merkurkräften ange­füllt (gelb). Die gehen durch alle Körper des Sonnensystems durch, natürlich auch durch uns Menschen, nur da, wo am Himmel der Merkur ist, da sind sie physisch-mineralisch konzentriert, so daß man sie da sieht (gelber Punkt). Aber sie sind überall.

#Bild s. 56a

Nehmen Sie die Venuskräfte, so sind diese Venuskräfte wiederum überali (rot). Sie sind nur an einer bestimniten Stelle, wo man die Venus sieht, mineralisch-physisch konzentriert (roter Punkt). Und so

#Bild s. 56b

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ist es mit allen diesen Kräften. Sie sind, wenn man die Wirklichkeit nimmt, so, daß man sagen muß: Venus, Merkur, Mars und so weiter stecken ineinander, nur ihre mineralischen Konzentrationen sind auf verschiedene Orte verteilt.

Wenn man allmählich sich eine Anschauung erwirbt davon, wie der Merkur antwortet auf den Jupiter, dadurch, daß man ihn also er­kennen lernt, dann gewinnt man auch eine Erkenntnis davon, was nun für den Menschen auch im Unbewußten diese Merkurkräfte für eine Bedeutung haben. Wir müssen ja, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, wenn wir gehen wollen, gewisse Kräfte haben, durch die wir unsere Knochen und Muskeln durchdringen vom Geiste aus. Wir müssen da hinein in das Physische; wir müssen in das Feste unseres Körpers, in all das, was feste Bestandteile unseres Körpers sind, mit unserem Geistig-Seelischen hinein. Daß wir das können, das be­wirken die Merkurkräfte.

Wir können also sagen:

Erstens: Die Merkurkräfte haben die Wirkung, daß der Mensch Be­sitz ergreifen kann vom Festen seines Körpers. Wir würden fort­während außerhalb des Festen unseres Körpers sein, wenn es in der Welt keine Merkurkräfte gäbe.

Zweitens: Die Venuskräfte bewirken, daß der Mensch Besitz er-greifen kann von dem Flüssigen seines Körpers. Sie wissen ja, daß Sie zu neunzig Prozent eine Wassersäule sind. Sie würden also fort­während außerhalb dieser Wassersäule herumgehen müssen als Geist, Sie könnten nicht Besitz ergreifen von dieser Wassersäule, wenn nicht die Venuskräfte in der Welt wären.

Drittens: Die Mondenkräfte lassen den Menschen Besitz ergreifen von seinem luftförmigen Inhalt.

Diese Dinge, die kann man wissen, wenn man Kosmologie studiert. Nun kann aber das Studium weitergehen, und solche Studien haben die alten Initlierten angestellt, trotzdem sie nur ein primitives Wissen, eine Art träumerischen Helisehens gehabt haben. Sagen wir zum Bei­spiel, sie haben aus ihren kosmologischen Studien gefunden: Die Venuskräfte bewirken, daß der Mensch Besitz ergreifen kann von alle­dem, was in ihm flüssig ist. Nun haben sie probiert; sie haben gewartet,

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bis bei irgendeinem Menschen der Fall eingetreten ist, daß er schlecht Besitz ergreifen konnte von seinem Flüssigen. Dann treten bestimmte Krankheiten auf. Eine ganz bestimmte Krankheitsform tritt zum Beispiel dann auf, wenn der Mensch nur für ein Organ nicht richtig Besitz ergreifen kann von seinem Flüssigkeitsmenschen. Nun haben diese alten Eingeweihten probiert: Was muß man da fur ein Heilmittel verwenden? Wenn der Mensch nicht richtig eingeschaltet war in die Venuskräfte, wenn also die Besitzergreig von dem Flüssigen im Menschen nicht richtig fünktioniert hat, dann sahen sie, daß sie Kupfer verwenden mußten als Heilmittel. Indem sie fanden, daß das Kupfer so wirkt, daß es das Seelisch-Geistige wieder Besitz ergreifen läßt vom Körper, daß es also ganz ähnlich wirkt wie sonst die Venuskräfte, fanden sie, daß im metallischen Kupfer dieselben Kräfte stecken wie in der Venussphäre. Dadurch haben sie das Metall Kupfer in Zusammenhang gebracht mit der Venus.

Oder wenn es sich darum gehandelt hat, daß eine Krankheit auf­getreten ist, weil der Mensch nicht richtig Besitz ergreifen konnte von seinen festen Bestandteilen, dann fanden sie, daß sie Merkur oder Quecksilber anwenden mußten. Und so haben sie die Parallelisierung der Metalle mit den Planeten gefunden. Heute werden in den gang­baren Darstellungen gewöhnlich diese Dinge parallelisiert, aber kein Mensch ftägt sich: Warum entspricht der Venus das Kupfer? und so weiter. Das führt auf vollberechtigte Forschung zurück.

Wenn also aus wirklicher Erkenntnis heraus der Mensch von dem Kupfer als einem Heilmittel spricht, so hat er diese Erkenntnis aus dem Zusammenhange des Menschen mit dem Weltenall. Wenn man zum Beispiel davon sprechen soll, ob irgendein Metall, das in einer Pflanze vorkommt, nach dieser oder jener Richtung ein Heilmittel ist, dann hat man die ganze Beziehung auch dieser Pflanze zum Kosmos ins Auge zu fassen. Und aus der Beziehung der Pflanze zum Kosmos und wiederum aus der Beziehung des Kosmos zum Menschen ge­winnt man dann die Anschauung, wie das Heilmittel wirken kann.

Man kann ganz gut begreifrn, daß heute eine gewisse Abneigung vorhanden ist, diese Dinge zuzugeben. Denn heute ist das Bestreben vorhanden, auf eine allerdings etwas anfechtbare Art in vier, fünf

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Jahren alles zu lernen, was man als Heiler braucht. Weil man aber das nicht kann, sondern weil man immer weiterlernen muß und man eigentlich nach diesen vier, fünf Jahren fertig sein will und nicht zu-geben will, daß man noch viel mehr lernen muß, deshalb bilden sich eben diese Abneigungen gegen etwas, bei dem man kein Ende sieht. Aber die Welt hat eben kein Ende, nicht nur extensiv, sondern auch intensiv nicht, wie man sich das gewöhnlich vorstellt.

Bei den Marskräften handelt es sich darum, daß sie uns nicht etwa Besitz ergreifen lassen, sondern daß sie uns behüten vor demjenigen, was die Äther-Wärmekräfte, das Wärmeelement in der Welt ist.

Also viertens die Marskräfte: Sie bewahren uns vor dem Ver­fließen in dem Wärmeelemente. Würden die Marskräfte nicht in der richtigen Weise da sein, so würde der Mensch in der Wärme aus-fließen. Er würde immerfort das Bestreben haben, zu zerfließen in dem Wärmeelement. Die Marskräfte halten ihn gegenüber dem Wärmeelemente zusammen. Es ist das sogar das Wichtigste im Men­schen, denn weil er in sich mehr Wärme hat, als in seiner Umgebung vorhanden ist, ist er fortwährend in der Gefahr, im Wärmeelemente auszufließen. Das ist das Allerwichtigste. Daher müssen die Marskräfte geradezu im Menschen konzentriert sein. Und das geschieht durch das Eisen, das der Mensch im Blute hat. Das Eisen enthält Kräfte, die mit den Marskräften gleich sind und die den Menschen zusammenhalten gegenüber dem Zerfließen in der Wärme.

Die anderen, die Jupiter- und Saturnkräfte, hat er nicht in dieser materiellen Weise in sich. Sie sind auch in ihm vorhanden, nur in einer anderen Form, nicht unmittelbar nachweisbar. Allein man sollte glauben - davon will ich dann morgen reden -, daß gewisse neuere Forschungen die Menschen schon gerade mit Bezug auf diese Dinge auch aus der äußeren Naturwissenschaft heraus bedenklich machen könnten.

Fünftens die Jupiterkräfte: Sie bewahren den Menschen vor dem Verffießen in dem Lichtelemente, also in dem Lichtäther. Der Mensch würde eine Lichtwolke werden, die sich immerfort verbreitet, wenn nicht die Jupiterkräfte in der entsprechenden Weise da wären.

Sechstens die Saturnkräfte: Sie bewahren den Menschen davor, in

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dem chemischen Äther zu zerfließen. Diese Saturnkräfte' die in den Menschen hineinwirken, sind wirklich Kräfte, die eigentlich in gewis­sem Sinne mit dem Innersten der Menschennatur zusammenhängen. Man spricht ja eher in übertragenem Sinne, wenn man zum Beispiel von einem säuerlichen oder von einem süßlichen Menschen spricht. Aber die Dinge sind nicht bloß im übertragenen Sinne so, sondern ob irgendein Mensch säuerlich wirkt moralisch-physisch, das hängt schon ein bißchen mit seiner chemischen Zusammensetzung zusammen. Und an dieser chemischen Zusammensetzung haben die Saturnkräfte ihren Anteil. Wie der Saturn in einem Menschen wirkt, davon hängt es ab, wie er aus dem Organismus heraus sich auslebt. So daß in der Tat der Melancholiker dadurch Melancholiker ist, daß er ganz besonders sich hineinsetzt in seine chemische Zusammensetzung, in all dasjenige, was da gekocht wird in der Leber, in der Galle und schon im Magen; das Melancholische beruht also auf diesem Sich-Hineinsetzen in die chemische Zusammensetzung. Und das wiederum beruht darauf, daß die Saturnkräfte bei einem solchen Menschen eben ganz besonders stark entwickelt sind.

Und so können wir sagen, daß der Mensch allerdings innerhalb seiner Haut konzentriert erscheint, daß aber das eigentlich nur ein Schein ist, daß in Wahrheit der Mensch dem ganzen Kosmos ange­hört und daß man auch auf die Einzelheiten hinweisen kann, wie der Kosmos an der menschlichen Gestaltung seinen Anteil hat.

Sie sehen, die sonnennahen Planeten haben es mehr zu tun mit demjenigen, was im Menschen physische Elemente sind: das Feste, das Flüssige, das Luftförmige. Die sonnenfernen Planeten, die haben es mehr zu tun mit dem, was im Menschen Ätherelemente sind. Die Sonne selbst trennt beides voneinander. Merkur-, Venus-, Monden-kräfte bringen den Menschen heran an das Feste, Flüssige und Luft-förmige. Mars-, Jupiter-, Saturnkräfte bewahren ihn davor, daß er in das Warme, in das Lichtvolle' in das Chemisch-Wirksame ausfließt. Sie sehen, es sind polarische Wirkungen. Und zwischenhinein, damit die beiden nicht durcheinander wirken, stellt sich das sonnenhafte Ele­ment. Würden die Marskräfte ohne weiteres wirken können - die Marskräfte würden ja zum Beispiel ohne weiteres auf die Mondenkräfte

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wirken können -, würden sich nicht die Sonnenkräfte mitten hinein­stellen, so daß da gleichsam eine Scheidewand ist, die sie nicht ein­fach zusammenkommen läßt, so würden die Marskräfte, die den Men­schen im Wärmeelement verseibständigen, ihn wohl bewahren vor dem Verfließen im Wärmeelement; aber was sich da verselbständigte' müßte sogleich von der Luft Besitz ergreifen, und der Mensch würde ein Luftgespenst werden. Daß das beides getrennt vor sich gehen kann, daß der Mensch sowohl von seinem luftförmig-organisch Ge­stalteten Besitz ergreifen kann, aber auf der anderen Seite auch wie­derum im Wärmeelement selbständig leben kann, dazu müssen die beiden voneinander getrennt sein. Und da ist das Sonnenhafte da­zwischen.

Auch das war schon den alten Initüerten gut bekannt. Wenn zum Beispiel ein Mensch dadurch eine bestimmte Krankheitserscheinung hat, daß die Marskräfte zu stark wirken, so daß sie gewissermaßen das Sonnenelement durchbrechen und der Mensch dann zu stark in seinem luftförmigen Elemente lebt, weil er alsdann von dem besser Besitz ergreifen kann, dann muß man die beiden trennen. Und dazu muß man Aurum verwenden. Damit nicht die Marskräfte und die Mondenkräfte ineinander schwimmen, muß man die Sonnenkräfte ver­stärken. So kam man zu der medizinischen Wirkung des Aurum, was den Organismus wiederum harmonisiert, so daß dasjenige, was nicht zusanirnenfiießen darf, auch wirklich nicht zusammenfließt.

Aus alledem wird Ihnen durchaus ersichtlich sein, daß Welt-erkenntnis nicht ohne Menschenerkenntais und Menschenerkenntnis nicht ohne Welterkenntnis möglich ist, insbesondere auf demjenigen Gebiete nicht, wo es sich zum Beispiel um das Anwenden der Wis­senschaft in der Heilkunst handelt.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 1. Juli 1922

Was ich gestern dargestellt habe, gibt gewissermaßen die Außenseite desjenigen, was ich nun heute auseinandersetzen will.

Ich versuchte gestern zu zeigen, wie der Mensch mit dem Weltenall ein Ganzes bildet und wie im einzelnen das, was im Menschen vorhanden ist, in der verschiedensten Weise mit Vorgangen, mit Wesen­haffigkeiten des Kosmos zusammenhängt. Sie müssen nun, wenn Ihnen die heutigen Auseinandersetzungen nicht vollständig ohne Grund und Boden erscheinen sollen, sie mit demjenigen zusammenhalten, was am vorigen Sonntag und gestern hier vorgebracht worden ist.

Man kann den Menschen so betrachten, daß man ihn gewisser­maßen von außen ansieht, entweder dem gewöhnlichen Augenschein nach, oder, sagen wir, durch Anatomie, Physiologie, was ja auch ein Anschauen von außen ist. Man kann den Menschen aber auch von innen anschauen; dann zeigt er sich uns in seinen seelischen Eigen­schaften, in seinen geistigen Kräften. Wenn wir jenes Ganze, das der Mensch mit der kosmischen Welt zusammen ausmacht, betrachten, so können wir es ebenialis von zwei Aspekten aus betrachten, nur wer­den sich diese Aspekte umgekehrt verhalten wie die Aspekte beim einzelnen Menschen. Beim einzelnen Menschen reden wir von Außen und Innen. Sprechen wir von dem Weltenall und von dem Menschen nur als einem Teil im Weltenall, dann muß es ja schon das gewöhn­liche Gefühi geben, daß wir den Wortgebrauch umkehren müssen. Wir stehen, indem wir zunächst das rein räumliche Weltendasein ins Auge fassen, innerhalb dieses Weltendaseins, wir sehen gewissermaßen von unserem Gesichtspunkte aus nach außen. Also wenn wir zunächst vom menschllchen Standpunkte aus über das Weltenall sprechen, sprechen wir vom Inneren des Weltenalls. Wir stehen eben an irgend­einem Punkte im Inneren. Von diesem Punkte aus bietet uns das Weltenall seinen sinnlichen Aspekt.

Der Mensch bietet uns seinen sinnlichen Aspekt, wenn wir ihn von außen betrachten, er bietet uns seinen geistig-seelischen Aspekt, wenn

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wir ihn von innen betrachten. Das Weltenall bietet uns seinen see­lisch-geistigen Aspekt, wenn wir es von außen betrachten. Die Be­griffe, die wir da anwenden müssen, werden schwierig, denn sie sind fast völiig ungebräuchlich in der gegenwärtigen Sprache. Mit der gegenwärtigen Sprache ist eben in das geistige Gebiet nicht unmit-telbar einzudringen. Die Worte müssen überall erst in der entsprechen­den Weise geprägt werden. Geistig-Seelisches studieren wollen, indem man einfach die Worte mit ihrem gewöhnlichen Sinn anwendet, ist eine Absurdität.

Wenn wir uns das, was ich eben zu charakterisieren versuchte, ich möchte sagen, schematisch vor die Seele stellen wollen, dann müssen wir etwa so sagen: Wenn wir den Menschen haben, sprechen wir von seinem Äußeren als von dem, was sich dem Sinnenschein darstellt. Wenn wir ihn von innen betrachten, sprechen wir von seinem See­lisch-Geistigen. Beim Weltenall, beim Kosmos, müssen wir uns das Umgekehrte denken: Wir sind an irgendeinem Punkte im Inneren und da bietet sich uns der Sinnenschein dar. Wenn wir die Welt nun von außen ansehen können, dann zeigt sich uns das Seelisch-Geistige. Es frägt sich natürlich nur: Kann man die Welt von außen ansehen?

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Nun, der Mensch wechselt ja, wie wir wissen, zwischen den Zu­ständen, in denen er innerhalb von Geburt und Tod lebt, und denen, die er erlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und es ist tatsächlich der Anblick der Welt, des Weltenalls, des Kosmos von außen gegeben in den Zuständen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Wenn Sie nachiesen in meiner «Theosophie», was ich geschildert habe über die Verhältnisse, die der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchiebt, so werden Sie dort Schilde­rungen finden, in denen schon genügend angedeutet ist, wie der Wortgebrauch ein anderer werden muß.

Nun ist die Welt, in der wir uns zwischen Geburt und Tod be­finden, schon mannigfaltig genug. Sie wird aber viel mannigfaltiger, viel reicher, wenn wir sie in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt betrachten. Natürlich können immer nur, wenn eine solche Schilderung gegeben wird, einzelne herausgegriffene Dinge dargestellt werden, und ich habe mich ja stets bemüht, zu den Din­gen, die anlänglich elementar dargestellt wurden, immer Weiteres und Weiteres hinzuzufügen. Heute möchte ich sprechen von dem Geistig-Seelischen desjenigen, was ich gestern als das Sinlich-Physische dar­gestellt habe, und was also der Anblick des Kosmos von innen ist. Heute möchte ich ihn von außen darstellen, so wie er sich zeigt, wenn man ihn betrachtet von einem seelisch-geistigen Blickpunkte aus, der da liegt auf der Erlebnisstrecke zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Daß eine solche Beobachtung nötig ist, das wissen Sie ja aus den verschiedenen Auseinandersetzungen, die hier gepflogen worden sind, und daß eine gewöhnliche logische Auseinandersetzung darüber sich ganz und gar nicht mit der Wirklichkeit decken könnte, das wissen Sie auch. Es muß also einfach die Anschauung gegeben werden, die sich darbietet, wenn diejenigen Mittel angewendet werden, von denen in der anthroposophischen Literatur die Rede ist.

Nun erobert sich ja der Mensch erst nach und nach einen deut­lichen Gesichtspunkt außerhalb des sinnlich-physischen Kosmos. Hat er sich diesen Gesichtspunkt erobert, was erst eine Zeitlang nach dem Tode der Fall sein kann, dann erst lösen sich für ihn diejenigen Fragen,

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welche sich innerhalb der Intellektualität, die wir im Leibe be­tätigen, nicht lösen lassen. Innerhalb philosophischer Diskussionen haben ja immer solche Fragen wie diese eine Rolle gespielt: Ist die räumliche Welt, der räumliche Kosmos begrenzt oder unbegrenzt? Man kann noch soviel diskutieren - in dieser Beziehung hat Kants Vernunftkritik recht -, man wird über solche Fragen wie das räum­liche oder das zeitliche Weltenende niemals mit einer Diskussion zu Ende kommen, die bloß innerhalb des physischen Leibes geführt wird. Da kann man ebensogut die Begrenztheit wie die Unbegrenztheit der Welt beweisen. Die Fragen entscheiden sich erst, wenn tatsächlich der Gesichtspunkt verlegt werden kann, wenn man sich gewissermaßen die Welt von der anderen Seite zu beschauen vermag, also nicht von einem Punkt im Inneren, sondern von außen herein. In der Tat ist man wenigstens in den mittleren Stadien zwischen dem Tode und der neuen Geburt jenseits der Grenze des sinnlich-physischen Kosmos. Man kann nur sagen: Die Grenze des sinnlich-physischen Kosmos liegt eben in der Mitte desjenigen, was man hier vom irdischen Stand­punkte aus sieht, und dessen, was man sieht in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Es ist schon so, daß es auch zur Weisheit gehört, zu wissen, welche Fragen zwar innerhalb des irdischen Daseins aufgeworfen, aber nicht innerhalb dieses irdischen Daseins beantwortet werden können, weil da nur mit den physischen Grundlagen des Leiblichen gedacht wer­den kann. Solche Fragen können nur beantwortet werden, wenn der Mensch außerhalb dieses physischen Daseins, entweder durch die In­itiation oder durch den Tod, den Gesichtspunkt ändern kann.

Nun, wenn man tatsächlich diese Gesichtspunkte verändert, dann treten Erfahrungen auf, die man eigentlich zunächst nicht erwartet. Steht man hier auf irgendeinem Punkte des Erdendaseins und er­blickt man den Kosmos, so ist er ein einziger Kosmos. Er tritt einem als einziger Kosmos entgegen. Wir sprechen von unserem Sonnen­system als einer einheitlichen kosmischen Welt. Ich will jetzt die Be­trachtungen auf unser Sonnensystem beschränken. Wenn man den Standpunkt verändert, so kommt von außen gar nicht irgendein Punkt in Betracht; das punktuelle Dasein hört da, nicht für das innerliche

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Seelenieben, wohi aber für das äußerliche Räumliche, vollständig auf, der Punkt wird immer mehr zum Kreise. Wenn man da draußen ist, so hört es auf, einen Sinn zu haben, von einer Welt, also zum Bei­spiel von einem einzigen Sonnensystem zu sprechen. In dem Augen­blicke, wo wir diese Umkehrung des Lebens vollziehen, durch die wir imstande sind, im leibfreien Zustande zwischen dem Tode und einer neuen Geburt auf die Welt, in der wir hier sind, zurückzuschauen, also ihr Geistig-Seelisches von außen zu betrachten, in dem Augen­blicke hört es auf, einen Sinn zu haben, von einem Sonnensystem zu sprechen. Es sind eben unzählige Sonnensysteme, und zwar so viele Sonnensysteme, als Menschenseelen die Erde bevölkern. - Ich schildere nur die äußere Erfahrung, ich schildere nur das, was sich der Erfah­rung darbietet. Also auch dieses kehrt sich völlig um: Hier haben wir das deutliche Gefühl, wir stehen in einer physisch-sinnlichen Welt. In dem Augenblicke, wo wir diese physisch-sinnliche Welt geistig­seelisch betrachten, hat es keinen Sinn mehr, von einer Einheit zu sprechen, sondern da sind so viele solcher Welten, also auch Sonnen da, als Menschenseelen im Zusammenhange mit der Erde stehen. Aber auch noch etwas anderes ist da als eine überraschende Erfahrung. Wenn wir zurückschauen auf die Erde von außen, dann erscheint uns auch die Menschennatur, die Menschenwesenheit. Ich habe ja selbst in öffentlichen Vorträgen schon gewagt, anzudeuten, daß, wenn wir als Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt stehen, wir dann, während wir hier auf Erden hinausblicken in den Kosmos, eigentlich von außen hineinblicken; aber das, was wir da erblicken, ist das Innere des Menschen. Also, wenn wir uns wiederum nähern dem irdischen Leben, dann ist unsere Außenwelt eigentlich das orga­nische Innere, jetzt nicht das Seelische, aber das organische Innere des Menschen. Das sehen wir fortwährend, wenn wir von außen zu­rückschauen auf den Kosmos, in dem wir zwischen Geburt und Tod sind. Wir sehen auf die menschliche Natur zurück. Wir veriieren eigentlich niemals die menschliche Natur. Wenn wir sterben, bleibt uns der Anblick der menschlichen Natur, nur erleben wir sie jetzt nicht von innen; wir stecken nicht so wie zwischen Geburt und Tod in ihr drinnen, sondern wir erleben sie von außen, wir schauen

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von außen auf sie hin. Aber das Eigentümliche ist doch, daß die Mannigfaltigkeit der Menschen verschwindet, wenn wir da hinaus-kommen. Und während wir viele kosmische Gestaltungen, Kosmos-gestaltungen erblicken, so viele, als Menschenseelen mit der Erde in Verbindung stehen, sehen wir, indem wir zurückblicken auf die Erde, zeitlich und räumlich, den Menschen nur einmal. Zwischen dem Tod und einer neuen Geburt gibt es viele Welten und nur einen Menschen.

Sehen Sie, ohne dieses, das man ja eigentlich in Menschenworten nur andeuten kann, gründlich meditativ nach allen Seiten zu erwägen

- denn es ist von ungeheurer Tragweite -, kommt man eigentlich doch nicht zu einer völligen Anschauung dieses radikalen Unterschie­des, der im Weltenbilde besteht zwischen dem Erleben innerhalb von Geburt und Tod und dem Erleben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Innerhalb von Geburt und Tod erleben wir eine Welt und viele Menschen; innerhalb des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erleben wir viele Welten, die unsere jetzige Ein­heitswelt darstellen, und nur eine menschliche Natur. Wenn wir zu­rückschauen von unserem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt auf das Erdenieben, dann sind die Menschen nicht mannig­faltig da, sondern alle Menschen stecken in einer einzigen mensch­lichen Natur. Also es ist wirklich alles völlig umgekehrt, und auf diese radikale Umkehrung muß eben auch einmal aufmerksam ge­macht werden. Denn es ist durchaus notwendig, daß man sich ein­mal ganz klar vor die Seele stellt, wie unmöglich es ist, adäquate Vorstellungen zu bekommen von der geistigen Welt, ohne zu völlig umgeformten Begriffen überzugehen. Es ist eben nicht möglich, inner­halb der bequemen Methoden, durch die man gewöhnlich Vorstellun­gen über die geistige Welt bekommen will, wirkliche Vorstellungen zu bekommen. Man muß sich bequemen, seine Vorstellungen durch­aus zu metamorphosieren, ja bis zur völligen Umkehrung auszubil­den. Das wollen eben viele Menschen nicht, und daher der Kampf gegen eine wirkliche Wissenschaft vom Geiste.

Nun habe ich Ihnen gestern gezeigt, wie sich das Verhältnis des Menschen im genaueren ausnimmt einerseits zum Sonnenhaften, auf der anderen Seite zum Mondenhaften, aber auch zu den einzelnen

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planetarischen Wesen. Das alles war gesagt vom Gesichtspunkte der Erdenentwickelung aus. Ich habe Ihnen gesagt, wie der Mensch im Verhältnis steht zu dem Venuswesen, zu dem Merkurwesen und so weiter, ich habe Ihnen gesagt, daß wir durch neuere Geisteswissen­schaft in ganz selbständiger Weise wiederum auf Dinge kommen, die in einer alten traumhaften, inspirierten Weisheit in den alten Myste­rien gepflegt worden sind. Das alles, was ich Ihnen gestern dargestellt habe, ist eben die Darstellung der Sache von der einen Seite aus. So­lange wir versuchen, nur auf die Weise Kenntnisse zu erlangen, wie es innerhalb des Lebens zwischen Geburt und Tod der Initlierte der früheren Mysterien gemacht hat, oder wie man es heute macht, so lange bekommen wir zum Beispiel über unsere planetarische Welt sol­che Vorstellungen, wie ich sie gestern dargestellt habe. Aber in dem Augenblicke, wo wir nun hinauskommen, wo wir gewissermaßen außerhalb dieses Kosmos stehen, in dem wir zwischen Geburt und Tod leben, und von außen das Geistig-Seelische schauen, in dem Augenblicke zeigen uns alle die einzelnen Dinge, die wir gestern dar­gestellt haben, auch ihre anderen Aspekte, ihre Umkehrung.

Wir haben gestern gesagt: Wenn wir das Merkurhafte in der Welt betrachten - sei es stofflich, sei es planetarisch -, so haben wir das­jenige, was als Kraft das Weltenall durchflutet, so, daß es dem Men­schen dazu verhilft, mit seinem Geistig-Seelischen Besitz zu ergreifen von den festen Bestandteilen seines Organismus. Das Venushafte ist so, daß es ihn Besitz ergreifen läßt von dem Flüssigen seines Organis­mus und so weiter. In dem Augenblick, wo wir jetzt die ganze Anschauung umkehren, stellen sich uns auch alle diese EigenschafZ ten anders dar. Da bekommen wir zunächst, wenn wir, absehend von Neptun und Uranus, bei dem Äußersten unseres planetari­schen Systems, bei dem Saturn, gewissermaßen von der ande­ren Seite des Daseins, die Saturnwesen betrachten, die Mög­lichkeit, jetzt nicht das zu sehen, wovon wir gestern gesprochen haben: daß der Saturn dem Menschen verhilft, sein Geistig-Seelisches aufrechtzuerhalten gegenüber dem Chemismus - das stellt eben den Aspekt von hier, von der Erde aus gesehen dar -, sondern wenn wir es von der anderen Seite anschauen, dann lernen wir mit all den

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Fähigkeiten, die wir haben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, das wirkliche Instinktieben des Menschen kennen. Das In stinktieben im Menschen, das aus den unterbewußten Tiefen herauf-quillt, kann eigentlich seiner wirklichen Wesenheit nach nicht mit den Fähigkeiten durchschaut werden, die nur hier auf der Erde erreicht werden, sondern das muß durchschaut werden entweder zwischen dem Tode und einer neuen Geburt oder in höherer über-sinnlicher Erkenntnis, eben in Initiationswissenschaft.

Man kann also sagen: Schaut manmit geistigem Auge hier von der Erde die Saturnwesenheit an, dann bekommt man eine Vorstellung von den Kräften, die dem Menschen dazu verhelfen, daß er sich gegen den in seinem Organismus wirkenden Chemismus als selbständige geistig-seelische Wesenheit fühlen kann. Sehen wir uns dieses Saturn­dasein von außen an in seinem geistig-seelischen Aspekt, dann stellt es uns die Kräfte im Kosmos dar, die die Instinkte in die Menschen-natur hinein verlegen.

Und das Jupiterdasein (siehe Schema Seite 70) stellt uns alles das­jenige dar, was im Menschen schon auf eine mehr seelische Art ge­ft:nden wird, als die Instinkte sich darstellen, dasjenige, was als Nei­gungen, als Sympathien im Menschen vorhinden ist; denn während die Instinkte noch durchaus animalisch sind, sind die Neigungen doch schon animalisch-psychisch.

Das Marsdasein stellt alles das dar, was zwar nicht moralische Ge-. bote sind, die man sich innerlich auferlegt, was aber doch, ich möchte sagen, aus der ganzen charakterologischen Beschaffenheit des Men­schen hervorgehende Impulse sind. Ob ein Mensch mutartig ist in bezug auf sein sittliches Handeln, ob er lässig ist, das liegt in den Kräften, die man kenneniernt, wenn man die Marsordnung von der anderen Seite anschaut; also nicht die vollbewußten, moralischen Im­pulse, die ich in meiner «Philosophie der Freiheit» als im reinen Denken wurzelnd geschildert habe, sondern die noch immer mit einem starken Grad der Unbewußtheit behafteten Impulse.

So daß man, wenn man den Zusammenhang des Menschen mit diesen äußeren Planeten betrachtet, dasjenige hat, was sich mehr auf die Tugenden im Menschen bezieht, die in gewissem Sinne doch an

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den menschlichen Organismus gebunden sind. Was dann mit einem geboren wird, das stammt aus dem Kosmos, das stammt aus dem Weltenall; was sich mehr instinktartig darstellt, gewissermaßen in­stinktartig heraufsprudelt aus dem ganzen Organismus, ist saturnartig. Was heraufsprudelt als die Neigungen, als die Affekte, ist jupiterartig. Dasjenige, was an direkt aktiven initiativen Kräften heraufsprudelt, was aber an den Organismus gebunden ist, das ist marsattig.

Nun kommen wir zu den schon mehr verinnerlichten Eigenschaf­ten des Menschen. Die bieten sich uns auch dar, insoferne sie von Kräften herkommen, die eben im Kosmos sind. Da haben wir zum Beispiel dann, wenn wir zunächst das Sonnenhafte weglassen, den Merkur. Man wird gewöhnlich nicht glauben, daß die Kiugheit des Menschen auch etwas ist, was im ganzen Weltenall bodenständet. Sie tut es aber. Und wenn Sie nur einmal mit völliger Unbefangen­heit hinschauen auf die Welterscheinungen, so werden Sie sich sagen:

Was Ihr Verstand zuletzt in sich findet auf aktive Art, das ist ja verwirklicht in den Welterscheinungen. Der Verstand ist ja

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drinnen in den Welterscheinungen. Nun, die Kräfte, die dieses Verständige im Weltenall darstellen, das dann mit uns als unsere Verstandesanlagen, als unsere Klugheit geboren ist, das ist das Mer­kurhafte im Weltenall.

Das Venushafte, das haben ja die Traditionen genügend ausgebil­det, und das stellt sich eben dar in allem, was die Liebe ist. Das Mondenhafte stellt sich dar in alledem, was phantasieartige Betätigun­gen sind, auch Gedächtnis, aber nicht so gefaßt, daß es die organi­sche Tätigkeit darstellt, die der Erinnerung zugrunde liegt, sondern das Bilden der Vorstellungen. Auch die Gedächtnisvorstellungen sind ja eigentlich identisch mit den Phantasiebildern, nur sind sie eben in völliger Treue an den wirklichen Erlebnissen gebildet. Man kann also sagen: Phantasie und Gedächtnis, also die mehr innerlichen Tugen­den und Fähigkeiten, hängen zusammen mit denjenigen Kräften, als die sich die Monden-, Venus-, Jupiterwesenheit und so weiter dar­stellt. So daß man also sagen könnte: Sieht man zum Beispiel auf das Sinnlich-Physische des Jupiter, sieht man also den Jupiter vom Inneren des Weltenalls aus an, so stellt er in dem Sinne, wie ich das gestern dargestellt habe, die Konzentration derjenigen Kräfte dar, die es dem Menschen ermöglichen, daß er nicht im Lichte verrinnt, daß er sich als geistig-seelische Wesenheit im Lichte erhält. Stellt man sich die geistig-seelische Wesenheit der Jupiterkräfte, also den Jupiter von außen vor - beim Menschen müßte man für die geistig-seelischen Kräfte sagen: von innen -, dann stellt er diejenigen Kräfte dar, die der Mensch an sich trägt als Neigungen, als Affekte und so weiter. Man könnte also sagen: die Verselbständigung des Seeleniebens gegenüber dem Lichte ist das Äußere des Jupiter. Das Entsteheniassen, das Ausbilden, das Erzeugen von Neigungen, Affekten, ist das Innere, ist das Seelisch-Geistige des Jupiter. Wenn der Mensch diese Stadien durchmacht nach dem Tode oder auch in der Initiation, wie ich sie geschildert habe in meinem Buche «Theosophie», dann tritt für ihn ein bestimmter Zeitpunkt ein, in dem er zum Beispiel aufhört, die Sterne so zu sehen - seien es planetarische oder Fixsterne-, wie man sie von der Erde aus mit den Sinneswerkzeugen sieht. Das ist ja auch begreiflich, daß er aufhört, sie zu sehen; aber er hört nicht auf, von

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den Sternen zu wissen; er weiß von den Sternen. Zuerst weiß er das, was ich gestern dargestellt habe. Und von einem bestimmten Zeit­punkte an lernt er eben erkennen, was die moralische Seite des Ster­nenwesens ist. Er schaut also zurück auf den Kosmos. Aber er sieht eigentlich den Kosmos als eine moralische Wesenheit, nicht mehr als eine physische Wesenheit, und nachdem der Zwischenzustand da war, wo er dasjenige gesehen hat, was ich gestern dargestellt habe, sieht er dann von außen, insbesondere in der Mitte zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, nicht das, was man Saturn in unserem Sinne nennen könnte, sondern das wallende Instinktieben im Kosmos, das er sich dann aneignet als Mensch, wenn er wiederum durch einen Körper in das physische Erdendasein einzieht. Er sieht das webende Leben der Neigungen und so weiter. Das alles kann eine materialisti­sche Denkweise selbstverständlich ableugnen, allein das ist ebenso ge­scheit, als wenn man gegenüber dem bloßen physischen Leibe das Geistige und Seelische eines Menschen ableugnet.

Das Anschauen dessen, was nun, ich möchte sagen, der morali­sche Kosmos ist, das Anschauen der moralischen Planetenwelt, das ist etwas, was den Menschen in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt erfüllt. Er ist aber in einem gewissen Sinne in diesen Anschauungen abhängig von der Art und Weise, wie er durch die Pforte des Todes tritt. Er schaut das Instinktleben, das Nei­gungsleben, das Leben der moralischen Impulse und so weiter so an, daß er es in Gemäßheit des unbewußten Verständnisses erschaut, das er sich während der Erdeniehenszeit erworben hat.

Ein Mensch zum Beispiel, der viele Menschen im Leben kennenge­lernt hat, die in einer gewissen Weise von dem, was man die Lebens-norm nennt, abweichen, der also die anderen Menschen nicht als Phili­ster betrachtet, sondern in einer gewissen liebevollen, verständnisvol­len Art auf sie eingeht, der die Menschen mehr gelten läßt, als daß er sie kritisch abkanzelt, ein solcher Mensch erwirbt sich außer dem Ver­ständnis, das er sich schon für sein Bewußtsein erwirbt, noch eine ganze Fülle von unbewußten Impulsen; denn man hat sehr viel davon, daß man die Menschen gelten läßt, sie zu verstehen sucht, sie nicht abkriti­siert. Mit diesen Impulsen ausgerüstet, kann man dann sehr gut beobachten

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die Geheimnisse des Saturndaseins von der anderen Seite des Lebens, von derjenigen Seite des Lebens, die sich zwischen dem Tod und einer neuen Geburt darstellt. Und auf diese Art stellen sich jr' verschiedenster Weise dar diese Geheimnisse des planetarischen Da­seins. Je nachdem man sie aufzufassen in der Lage ist, verbindet man sie miteinander zu einem Ganzen und gliedert sie in sein eigenes Menschenwesen ein, wenn man wiederum zum Irdischen heruntersteigt.

Und nun fühlen Sie schon: Mit dieser Anschauung, die man hat, bildet man sich eine gewisse Erfahrung, so wie man sich ja auch hier auf Erden eine Erfahrung nach den Anschauungen bildet, die man gehabt hat. Man lernt auf Erden einen Menschen nach dem anderen kennen. Man erwirbt sich dadurch Menschenkenntnis. Nach dem, was man da von der anderen Seite des Lebens aus erschaut, erwirbt man sich auch Erfahrungen. Nur daß diese Erfahrungen, die man sich da erwirbt, dann in der zweiten Hälfte des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt schöpferisch werden, und man sie hin-einträgt in die Organisation, die man vererbt erhält. Sie werden flien, daß das mit der Gestaltung des Karma zusammenhängt, daß hier etwas sich vollzieht, was man die Technik der Karmabildung nennen kann. Die Erfahrungen, die der Mensch machen muß, damit er sich zwischen dem Tode und einer neuen Geburt sein Karma ein­bildet, gewinnt er dadurch, daß er solche Anschauungen, wie ich sie charakterisiert habe, von der anderen Seite des Lebens hat.

Ich mußte heute gewissermaßen subtiler schildern, weil es sich ja hier um subtile Dinge handelt, und weil schon einmal darauf auf­merksam gemacht werden muß, daß die Begriffe stark umgeformt werden müssen, wenn man sich das ganze Weltenall zum Verständnis bringen will. Denn in allem, was wir hier auf der Erde sehen, zu­nächst sinnlich-physisch, dann aber auch durch geistige Vertiefung, in alldem ist nur die eine Seite des Daseins gegeben. Ja, auch vom Kosmos, wenn wir hinausblicken, ist nur die eine Seite des Daseins gegeben. Die andere Seite des Daseins stellt sich eben nur dann dar, wenn wir außerhalb des Leibes in einem rein geistig-seelischen Da­sein den Kosmos betrachten können. Dann aber stellt der Kosmos sich als eine geistig-seelische, als eine moralische Wesenheit dar.

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In sehr alten Zeiten haben die Menschen noch viel mitgebracht an, ich möchte sagen, «kosmischer Erinnerung», wenn sie hereinge-treten sind in ihr physisches Erdendasein. Diese Menschen der Ur­zeiten haben ja ganz gewiß gegenüber den jetzigen Menschen mehr tierisch ausgesehen der Außenseite nach, wenn auch die ganz grobe Theorie von der Tierabstammung des Menschen nicht stimmt; aber sie haben dennoch auch im Erdendasein noch etwas von der anderen Seite des Lebens gewußt. Sie haben es hereingetragen in ihren noch unvollkommener ausgebildeten Leib. Und darin besteht die Entwicke­lung der Menschheit auf der Erde, daß der Mensch immer mehr und mehr die Erinnerung an die andere Seite des Daseins verliert, in der er zwischen dem Tode und einer neuen Geburt lebt, und indem er für das Erdenleben diese Erinnerungen verliert, ist er nur auf das angewiesen, was sich ihm an Erfahrung innerhalb des Erdendaseins darbietet. Dadurch allein kann der Mensch nun sich als Kraft einver­leiben, was er sich nirgends anders im Weltenall einverleiben kann. Das Handeln aus Freiheit, das muß hier während des Erdendaseins erworben werden, es wird erworben und bleibt dann für alle irdische und kosmische Zukunft des Menschen.

Heute muß man ja noch in populären Vorträgen, weil die Men­schen natürlich zunächst schockiert werden durch diese Dinge, in abstrakten Begriffen davon sprechen, daß, wenn der Mensch im gei­stig-seelischen Dasein verharrt, die Welt geradezu in Umkehrung, in Umwendung sich zeigt. Aber Sie sehen, man kann auch bis in die einzelnen konkreten Tatsachen unseres planetarischen Daseins -und man könnte auch weiter hinausgehen in die Sternenwelt - dar­stellen, wie der Zusammenhang des Menschen mit dem ganzen Kos­mos ist. Erst von diesen Erkenntnissen aus gibt es eine Möglichkeit, davon zu sprechen, daß der Kosmos, so wie er sich von der Erde aus darstellt, zunächst der physische Kosmos ist, die Erde mitge-rechnet, und dann der ätherische Kosmos. Sie wissen, was mit beiden gemeint ist. In unserem gewöhnlichen physischen Raume sind eigent­lich nur der physische Kosmos und der ätherische Kosmos. In dem Augenblicke, wo der Mensch durch die Pforte des Todes oder der Initiation hindurchgehend dazu kommt, sich auf rein geistig-seelische

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Art zu erleben, also das Weltenall von der anderen Seite anzusehen, hören für ihn die Vorstellungen des Raumes auf, eine Bedeutung zu haben.

Solange wir noch mit Menschenworten sprechen müssen, können wir sagen: Wir schauen von außen unser räumliches Weltenall an; da kommt es uns noch so vor, als ob das auch noch räumlich wäre, wie wir es da anschauen. Es ist aber nicht mehr räumlich, denn ich muß schon sagen: Wenn wir hier von einem Punkte aus schauen, so müssen wir uns den Punkt zerstreut denken. Der Punkt ist nicht mehr ein Punkt, er ist zerstreut. Wir fassen gewissermaßen den Raum in uns selber und sehen das Nichträumliche; wie wir hier vom Punkte aus den Raum sehen, so sehen wir, wenn wir außerhalb unse­res Leibes sind, vom Raume aus den Punkt, zurück auf den Punkt. Und damit hängt ja nun real dasjenige zusammen, was sich eben der Erfahrung nach darbietet: daß wir so viele Welten sehen, als Men­schenseelen mit der Erde im Zusammenhang stehen, und eben nur eine Menschennatur, einen Menschen. Wir sind alle ein einziger Mensch, wenn wir uns von außen ansehen. Deshalb redet man in der Wissenschaft der Initiation von dem Geheimnis der Zahl, weil eigent­lich auch die Zahl selbst nur eine Bedeutung hat von diesem oder jenem Gesichtspunkte aus. Was hier auf der Erde eine Einheit ist, der Kosmos, ist von außen angesehen eine Vielheit. Was hier auf der Erde eine Vielheit ist, die Menschen, ist von außen angesehen eine Einheit. Auch das ist Illusion, Maja, irgend etwas als Vieles oder als Einheit zu sehen. Eine Einheit kann sich von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus als Vielheit, und eine Vielheit von einem ande­ren Gesichtspunkte aus als Einheit darstellen. Das ist etwas, was eigentlich sich auch innerhalb der mathematischen Wissenschaft in ihrer Entwickelung auf Erden abgespielt hat. Ich habe darauf schon hingedeuter. Wir zählen heute so, daß wir Einheit zu Einheit fügen. Wir sagen eins, dann zwei, wir fügen eine weitere Einheit dazu, haben dann drei und so weiter. In sehr alten Zeiten der Menschheit hat man nicht so gezählt, sondern da hat man so gezählt: die Einheit eins, in der Einheit zwei, dann in der Einheit drei. Man hat nicht eins zum anderen hinzugefügt, sondern die Einheit war dasjenige, was immer

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alle Zahlen umfaßt hat. In der Einheit steckten alle Zahlen. Bei uns steckt die Einheit immer in allen Zahlen drinnen; in der uralten Mathe­matik steckten immer alle Zahlen in der Einheit drinnen. Das rührte von den anderen Denkgewohnheiten het, die eben auch mit jenen Erinnerungen einer außerkosmischen Wissenschaft verbunden waren, die noch in Urzeiten der Menschheit vorhanden war.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 2. Juli 1922

In diesen Tagen habe ich Ihnen die Beziehungen des Menschen zur Umwelt geschildert, wie sie sich ergeben, wenn wir mehr den Blick von der Erde ab nach der Sternenwelt hinauswenden, namentlich nach der Planetenwelt. Ich möchte wenigstens aphoristisch heute einige detjenigen Beobachtungen und Erfahrungen hinzufügen, die sich der.geistigen Anschauung über das Verhältnis des Menschen zu seiner unmittelbaren irdischen Umgebung ergeben. Man betrachtet ja gewöhnlich das, was uns umgibt, in einer, ich möchte sagen, durchaus gleichartigen Weise und kommt dadurch zu ganz unwirklichen Seins-begriffen. Ich erinnere an das, was ich in dieser Beziehung schon öfter zur Verdeutlichung angeführt habe, daß wenn wir zum Beispiel einen Bergkristali betrachten, wir in einer gewissen Weise von unse­rem Erdenstandpunkte aus sagen können: Das ist ein in sich be­gründetes Ding. - Wir können in der Abgeschlossenheit, in der uns der Bergkristali entgegentritt, auch immer, in einer gewissen Bezie-hung natürlich nur, etwas AbgescHossenes sehen.

Nicht so ist es, wenn wir zum Beispiel eine Rose pflücken und sie in unser Zimmer hereinbringen. Sie ist innerhalb des irdischen Da­seins, so wie sie ist als Rose mit dem Stiel, überhaupt nicht denk­bar; sie ist nur denkbar, wenn sie an dem Rosenast wächst, der Stengel und Wurzel hat. Wir dürfen also nicht, wenn wir wirklich­keitsgemäß reden, eine Rose in demselben Sinne einen Gegenstand nennen wie etwa einen Bergkristall. Denn wirklichkeitsgemäßes Spre­chen erfordert, daß man nur dasjenige erfaßt, was auch in sich we­nigstens relativ bestehen kann. Gewiß kann auch der Bergkristall von einem anderen Gesichtspunkte aus nicht als etwas für sich Bestehen­des betrachtet werden, aber das ist eben dann ein anderer Gesichts­punkt. Der Gesichtspunkt der einfachen Betrachtung des irdischen Seins liefert uns für den Bergkristall etwas ganz anderes als Seins-begriff als für die Rose. Solche Dinge werden leider viel zu wenig ins Auge gefaßt. Daher ist das Denken der Menschen ein so unwirkliches,

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und die Menschen kommen so schwer dazu, das, was aus der geistigen Beobachtung heraus gesagt werden muß, mit klaren Be­griffen zu verbinden. Man würde eben durchaus zu klaren Begrif­fen kommen, wenn man in den einfachen Dingen so beobachten würde, wie ich es eben jetzt wiederum wiederholentlich ausgeführt habe.

Nun, wenn wir unsere Erde ins Auge fassen, also die nächste Umgebung der Menschheit, dann finden wir zunächst an der Ober­fläche die verschiedenen Erdarten. Sie finden, wenn Sie Her in der nächsten Umgebung Umschau halten, eine kalkige Erdart. Gehen Sie dann mehr nach dem Süden, so finden Sie schieferige Erdarten. Ich will zunächst nur diese zwei hauptsächlichsten Erdarten anführen, das Kalkige, die Kalkformation, die Sie ja insbesondere als Jurakalk in der unmittelbaren Umgebung Her betrachten können, und die Schieferformationen, wo das Gestein, das Mineral, nicht in solcher kompakten Art in sich angeordnet ist wie bei der Kalkformation, sondern wo es schieferig ist. Denken Sie nur an den Tonschiefer, selbst an Gneis, an Glimmerschiefer und so weiter, wie sie Ihnen ja in den Zentralalpen entgegentreten. Das ist in der Tat ein sehr wichtiger Gegensatz im irdischen Dasein, die schieferige Formation und die kalkige Formation. Wenn man solche Gesteinsablagerungen, wie man sie ja auch nennt, betrachtet, so sieht man sie nach den heutigen Auffassungen so an, daß man sie eigentlich nur aus mineralisch-physischer Gesetzmäßigkeit heraus erklären will. Dabei wird keine Rücksicht darauf genommen, daß ja die Erde ein Ganzes ist. Sehen wir uns einmal an, was heute als Geologie eine Wissenschaft bildet.

Man betrachtet da die Erdarten. Man betrachtet die in den Erd­arten eingelagerten Erze, Metalle, Minerallen überhaupt. Aber man be­trachtet, indem man geologisch betrachtet, die Erde so, als wenn sie überhaupt die gegenwärtig lebende Pflanzenwelt und den Menschen gar nicht beherbergte. Eine solche Betrachtung der Erde, wie sie die Geologie anstellt, ist eigentlich so, wie wenn man ein menschliches Skelett für sich betrachten würde. Wenn Sie ein menschliches Skelett für sich betrachten, so müßten Sie eigentlich sagen: Das ist in Wahr­heit kein in sich abgescHossenes Sein. Es kann nirgends in der Welt

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so etwas wie ein menschliches Skelett für sich entstehen. Es kann das Überbleibsel sein von einem vollständigen Menschen, aber niemals könnte es entstehen, ohne daß Muskeln, Nerven, Blut und so weiter in seinem Gefolge sind. Wir dürfen also das menschliche Skelett nicht als ein abgescHossenes Sein betrachten und es etwa nur aus sich er-klären wollen.

Ebensowenig kann für denjenigen, der nicht abstrakt, sondern wirklichkeitsgemäß denkt, die Erde mit ihren Gesteinsarten erfaßt werden, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß die Erde eine Totali­tät ist, daß zur Erde das Pflanzenreich, das Tierreich, das Menschen-reich ebenso gehört wie zum menschlichen Skelett die Muskeln, das Blut und so weiter. Man muß sich also klar sein darüber, daß «geo­logisch» die Erde betrachten heißt: von vornherein verzichten dar­auf, daß man auf das Wirkliche geht. Man bekommt nichts Wirkliches. Man bekommt etwas, was innerhalb eines planetarischen Wesens nur dann vorhanden sein kann, wenn in diesem planetarischen Wesen sich die Pflanzenwelt, die Tierwelt und die Menschenwelt findet.

Wenn man nun zunächst betrachtet, was, ich möchte sagen, wie zum Erdenskelett gehörig, als Schieferformation die Erde durchzieht, so unterscheidet es sich dem äußeren Anscheine nach ganz beträchtlich von der in sich kompakten Kalkformation. Und wenn man nun die­jenigen Methoden anwendet, die in bezug auf die großen Umrisse der Erdenentwickelung angewendet worden sind in meiner « Geheim-wissenschaft im Umriß», dann muß man in der Tat den Unterschied der Schieferformation und der Kalkformation zurückführen auf das Verhältnis, das die eine und die andere Formation nun zum Men­schen, zum tierischen, zum pflanzlichen Dasein hat. Man muß sehen, wie das, was als Seelisch-Geistiges zur Erde gehört, sich verhält zu diesen Gesteinsarten.

Man versteht ein menschliches Skelett nicht, wenn man es nicht zuletzt doch aus der Willensnatur des Menschen erfaßt, und man versteht die Schieferformation, die Kalkformation nicht, wenn man sie nicht zuletzt aus den Aufgaben heraus versteht, die sie haben, diese Formationen, zu demjenigen, was innerhalb des Erdendaseins auch geistig-seelisch vorhanden ist. Und da bekommt man einen

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innigen Zusammenhang zwischen allem, was Schieferformation ist, und dem pflanzlichen Dasein, zwischen alledem, was Kalkformation ist, und dem tierischen Dasein.

Gewiß, so wie wir heute die Erde vor uns haben, so ist das Ge­stein, das sich im Schiefrigen findet, natürlich auch in den Pflanzen zu finden. Es ist das Gestein oder das Mineralische, das sich in dem Animalischen findet, in den verschiedensten Formationen seinem Ursprunge nach zu suchen. Aber darauf kommt es jetzt weniger an, sondern es kommt darauf an, daß für die geistige Beobachtung, für die geistige Erfahrung die besondere Art und Weise, wie das Pflanzen­wesen, das gesamte Pflanzenwesen zur Erde gehört, sich so darstellt, daß es eine gewisse Beziehung zu der Schieferformation hat.

Wenn ich schematisch das aufzeichnen sollte, so müßte ich etwa so zeichnen: Ich zeichne hier die Erde (weiß), dann irgendwie die Schieferformation aufgelagert (violett), ganz schematisch, und dann die aus der Erde nach dem Weltenall herauswachsenden Pflanzen (rot). Räumlich brauchen die Pflanzen durchaus nicht zusammenzu-fallen mit der Schieferformation, so wie auch zum Beispiel der Ge­danke, der seine Grundlage im Gehirtiwerkzeug hat, nicht zusammen-zufallen braucht mit der großen Zehe, wenn sie bewegt wird. Um dieses räumliche Zusammenfallen handelt es sich nicht, sondern darum, daß man nun, wenn man nicht nur durch chemische und physikalische Untersuchungen versucht, in die Schieferformation em­zudringen, sondern wenn man auch mit den Mitteln der Geistesfor­schung, wie ich sie dargestellt habe zum Beispiel in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder «Geheimwissenschaft», ein­dringt in die schieferige Formation, man die Anschauung bekommt: Wenn die Kräfte, die im Schieferigen enthalten sind, allein wirken würden auf der Erde, so würden sie im Zusammenhang mit einem Lebendigen stehen müssen, das sich geradeso entwickelt, wie sich die Pflanzenwelt entwickelt. Die Pflanzenwelt entwickelt sich so, daß sie nur physische Körperlichkeit, ätherische Körperlichkeit darstellt; das ist in den Pflanzen selber. Wenn wir aber zum Astralischen der Pflan­zenwelt gehen, dann müssen wir uns dieses Astralische der Pflanzen­welt als eine Astralatmosphäre denken, die die Erde umgibt (orange).

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Die Pflanzen haben keine Astralleiber in sich. Aber die Erde ist um­geben mit einer Astralatmosphäre. Und bei dem Vorgange der Blüten-und Fruchtentfaltung zum Beispiel wirkt diese Astralltät durchaus mit. Die ganze Pflanzenwelt der Erde hat also eigentlich einen einheit­lichen astralischen Leib, der sich nirgends hineinsenkt in die Pflanze selber - höchstens ein wenig, wenn die Blüte in die Fruktilikation übergeht -, der im wesentlichen wolkenartig über der Vegetation schwebt und sie zur Blüten- und zur Fruchtbildung anregt.

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Was sich da entfaltet, das würde in sich verfallen müssen, wenn nicht die ausstrahlenden Kräfte da wären, die von den Gesteinen der Schieferformationen kommen. Man hat also in der Schieferformation alies das, was das Bestreben hat, die ganze Erde zu einem Organis­mus zu machen. Wir müssen ja in der Tat die Pflanzen in bezug auf die Erde ähnlich betrachten wie unsere Haare in bezug auf uns Menschen, als ein Einheitliches. Und was diese Gesamtorganisation der Erde zusammenhält, das sind die Strahlungskräfte, die von den Gesteinen der Schieferformation ausgehen.

Diese Dinge werden ja auch einmal ganz naturwissenschaftlich er­härtet werden. Man wird sich zum Beispiel sagen: der Mensch hat ja auch seinen physischen Leib und seinen Ätherleib. Seiner Gesamtorganisation

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liegt zugrunde ein Pflanzendasein. Wir können ja in der Tat den Menschen als ein Pflanzenwesen betrachten, dem das, was anima­lisch und was menschlich ist, aufgesetzt ist. Wenn man nun den Men­schen im gesunden oder kranken Zustande behandeln wird mit dem Mineralischen, das der Schieferformation entstammt, dann wird man auch äußerlich am Menschen - was ich Ihnen jetzt gesagt habe, wird durch die geistige Anschauung erfahren - konstatieren können, wie die Mineralien der Schieferformationen wirken. Und insbesondere wird es bedeutungsvoll sein, zu erkennen, welche Krankheitserschei­nungen in der menschlichen Wesenheit etwa auf einer Überwuche­rung des Pflanzlichen beruhen. Eine Überwucherung des Pflanzlichen ist immer dadurch zu bekämpfen, daß man den Menschen mit Mine­ralischem aus der Schieferformation behandelt. Denn alles, was zur Schieferformation gehört, hält das Pflanzliche im Menschen ebenso im Normalzustande - wenn ich so sagen darf -, wie es auf der Erde fortwährend das Pflanzendasein normalisiert. Das Pflanzendasein würde überwuchernd in den Weltenraum hinausstreben, wenn es nicht durch die entsprechenden mineralischen Kräftestrahlungen der Schieferformation zusammengehalten würde. Man wird einmal von diesem Gesichtspunkte aus eine lebendige Geographie und Geologie der Erde zu studieren haben, wenn man einsehen wird, daß man das, was gewissermaßen das Skelett der Erde ist, nicht bloß für das Geo­logische zu studieren hat, sondern im Zusammenhange mit dem gan­zen Erdenwesen, auch mit dem Organischen und mit dem Seelisch-Geistigen der Erde.

Nun steht ja alles Pflanzendasein in einem innigen Zusammenhang mit dem Sonnenhaften, mit dem Wirken der Sonne. Die Wirkungen der Sonne sind ja nicht bloß die ätherisch-physischen der Sonnen-strahlen in Wärme und Licht, sondern eingegliedert in Wärme und Licht ist ja durchaus ein Geistig-Seelisches. Dieses Geistig-Seelische steht nun in Korrespondenz mit dem, was eingegliedert ist der Schieferformation. Daß in einer gewissen Weise alles Schieferige auf Erden verteilt ist, das hängt ja eben damit zusammen, daß das Pflan­zenwesen auf der Erde mannigfaltig gestaltet ist. Das Örtliche, wie gesagt, hat nicht die unmittelbare Bedeutung. Man darf sich zum

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Beispiel nicht vorstellen, daß nun etwa die Schleferformation da sein müsse, damit das Pflanzliche aus ihr herauswächst. Die Strahlungen der Schieferformation strömen aus, sie werden über die Erde getra­gen durch alle möglichen, namentlich magnetischen Ströme, und von diesen auf der Erde herumgetragenen Ausstrahlungen der Schiefer-formation lebt dann das Pflanzliche. Im Gegenteil, wo die Schiefer-formation an sich selbst in stärkstem Maße entwickelt ist, da kann das Pflanzliche heute nicht gedeihen, weil ja die eigentliche Kraft des Pflanzlichen zu stark ins Erdige selber haneingezogen wird und des­halb sich nicht enifalten kann. Da ist eben das, was das Pflanz­liche an das Irdische fesselt, so überwiegend, daß es zum Ausge­stalten des Pflanzlichen, zu dem ja auch die kosmischen Kräfte ge­hören, eben gar nicht kommt. Und so wird man auch nur einen Auf­schluß erhalten können über das, was innerhalb der Erde schieferig ist, wenn man zurückgehen kann in dem Sinne, wie es meine « Ge­heimwissenschaft» darstellt, in diejenige Zeit, wo die Erde selber ein Sonnendasein hatte. Da wurde innerhalb der Erde das Schieferige zubereitet, nicht etwa schon gebildet in seiner heutigen Gestalt, son­dern zubereitet. Damals, als die Erde ein Sonnendasein hatte, war das Physische der Erde überhaupt nur bis zu einem wuchernden Pflan­zenleben gekommen. Und man sollte eigentlich so sagen: Wenn man zurückschaut von der jetzigen Erdengestaltung zu der früheren Mon­den- und Sonnengestaltung der Erde - denn das sind ja ihre früheren planetarischen Stufen -, so ist das Sonnendasein nicht so, daß sich da ein gewisses pflanzliches oder auch tierisches Wesen entwickelt. Heutige Pflanzen hat es ja während des Sonnendaseins nicht gegeben, aber die Erde selber hatte eine Art Pflanzendasein, und aus diesem Pflanzendasein heraus entstand auf der einen Seite die Pflanzenwelt, auf der anderen Seite verhärtete sich dasjenige, was in der Pflanzen­welt aber auch Bildungskraft ist, zu der Schieferformation. Es ist also die Schieferformation das aus dem Pflanzenhaften der Erde heraus­geholte Erdenintellektmäßige.

Wenn wir dagegen die Kalkformation anschauen, so zeigt sie dem übersinnlichen Schauen, daß sie in innigem Zusammenhange steht mit allem, was auf der Erde das tierische Dasein - wenn ich mich so ausdrücken

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darf- mit Selbständigkeit durchdringt. Die Pflanze ist an den Boden gefesselt, sie hängt mit dem Boden zusammen wie unsere Haare mit ihrem Hautgrunde. Das Tier bewegt sich. Aber weniger mit dieser Bewegung als solcher, die eine örtliche Bewegung ist, als vielmehr mit der selbständigen Gestaltung des Tieres hängen die Ausstrahlungen der Kalkformation zusammen.

Wenn Sie eine Pflanze anschauen, so können Sie ja sehen: Sie wächst mit der Wurzel nach der Erde hin, sie senkt sich in die Erde hinein, strebt gewissermaßen dem Mittelpunkt der Erde zu und ent­faltet sich dann nach außen. In der Gestalt der Pflanze kann man erkennen, was sich aus dem ganzen Hineingeordnetsein der Pflanze in das Erdendasein ergibt. Bei komplizierterer Gestaltung muß man natürlich auch in der Beschreibung komplizierter werden, aber es ist doch im wesentlichen dasselbe. Die Pflanze ist nicht selbständig. Da, wo sie in die Erde hineingesteckt ist, zieht sie sich zusammen, ver­bindet sich mit dem Erdendasein; da wo sie herausragt, breitet sie sich aus und strahlt in Ausbreitung dem nach allen Seiten strahlenden Lichte entgegen. Diese Pflanzengestalt begreift man am besten, wenn man sie im innigen Zusammenhange mit der Stellung der Pflanze zur Erde betrachtet.

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Man wird zwar an einem gewissen, ich möchte sagen «Grundriß» der tierischen Gestalt, zum Beispiel an dem horizontal gesteliten Rückgrat, an den nach abwärts strebenden Gliedmaßen, auch etwas finden, was sich dem irdischen Dasein anpaßt; aber dabei hebt sich das Tier in seiner Gestaltung durchaus selbständig vom Irdischen ab. Man kann an jeder Tiergestalt sehen, daß sie nicht nur in Anpassung an das Irdische ist wie die Pflanze, sondern daß sie etwas durchaus Selbständiges, in sich Gestaltetes hat. Das Tier ist eben von der Erde losgerissen, auch seiner Form nach.

Es stellt sich nun für die übersinnliche Betrachtung dar: Alles das, was in dem Sinne, wie ich es in diesen Tagen dargestellt habe, von dem Mondenschein ausstrahlt, was von dem zurückwirkenden Son­nenlichte vom Monde her durch das Gestaltete auf die Erde herunter-strömt, was dann auch in unser Gedankenleben hineinströmt und in diesem als das Gestaltende wirkt, das trägt auch die tierischen Ge­staltungen heran. Im wesentlichen ist alles, was unbestimmter, ge­staltloser Wille im Tier ist, innerhalb des direkten Sonnerlichtes zu finden. Alles das aber, was dem Tier seine selbständige Gestalt gibt, die nicht dem Irdischen angepaßt ist, das ist - ja, es ist schon im ganz eigentlichen Sinne so auszudrücken - heranschwebend aus dem Scheine des Monderlichtes.

Vom Monde kommen überhaupt alle Gestaltungen zur Erde herab. Daß die verschiedenen Tiere verschieden gestaltet sind, hängt davon ab, daß der Mond den Tierkreis durchläuft. Je nachdem er im Widder oder Stier oder den Zwillingen steht, übt er in verschiedener Weise eine gestaltbildende Kraft auf das Tierische aus. Dadurch ergibt sich auch ein interessanter Zusammenhang zwischen dem Tierkreis und der tierischen Gestaltung selber, der in der alten traumhaften Weisheit geahnt worden ist. Dasjenige nun, was gewissermaßen auf die Erde herunter anzieht diese Gestaltungen, die sonst sich im Umkreise der Erde wie ein Nebel verlieren würden, das sind die aus der Kalkfor­mation ausströmenden Kräfte. Das Mineralische auf Erden strahlt nicht nur Radium aus, das Mineralische auf der Erde strahlt eben vieles aus. Und so müssen wir auf der einen Seite in der Schiefer-formation dasjenige suchen, was das Pflanzliche an die Erde heranhält,

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und in der Kalkformation das, was aus dem Mondenhaften alles das heranzieht, was nun in den speziellen tierischen Gestaltungen lebt. Und so kommen wir durch eine geistige Betrachtung dahan, einzusehen, wie die Schieferformation auf der Erde mit der Gestal­tung der Pflanzenwelt, wie die Kalkformation mit der Gestaltung der tierischen Welt zusammenhängt.

Wir müssen uns darüber klar sein, daß dasjenige, was wir in sol­cher Art zum Beispiel in der Kalkformation auffinden, in jeder Ein­zelheit des organischen Lebens wiederzufinden ist. Man kann ganz genau beobachten, wenn man sich die Mittel zu solchen Beobach­tungen verschafft, daß es zum Beispiel Menschen gibt, die gewisser­maßen stark zur Skelettbildung hinneigen. Damit meine ich nicht, daß sie ein starkes Skelett haben, sondern daß sie auch im übrigen Organismus viele Kalkablagerungen haben. Es gibt, wenn ich so sa­gen darf, kalkreichere Menschen und kalkärmere Menschen. Natür­lich dürfen Sie sich nicht vorsiellen, daß das so fiirchtbar grob ist; es ist natürlich in sehr homöopathischer Dosis zu denken, aber es hat das seine große Bedeutung. Die mehr kalkhaltigen Menschen sind in der Regel die Klügeren, diejenigen, die feine Begriffe zusammen­halten können und wieder auseinanderschälen können. Glauben Sie nicht, daß ich mit so etwas die menschliche Wesenheit materialistisch erklären will; das fällt mir natürlich nicht ein. Denn daß ein Mensch mehr Kalk ablagert als ein anderer, hängt mit seinem Karma zu­sammen. Also nach rückwärts und nach vorn hängen die Dinge schon mit dem Geistigen zusammen. Aber darin besteht gerade die wirkliche, durchdringende Erkenntnis der Welt, daß man nicht ver­schwommen redet vom Geistigen und vom Materiellen, sondern daß man weiß, wie das Geistige schöpferisch wirkt, indem es das Mate­rielle aus sich heraus gestaltet. Ein Mensch, der also durch seine früheren Erdenieben dazu veranlagt ist, in einer Inkarnation ein be­sonders kluger Mensch zu werden, zum Beispiel ein besonders guter Mathematiker, entwickelt eben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt geistig-seelisch solche Kräfte, die dann in ihm das Kalklge ablagern. Wir sind angewiesen auf Kalkablagerungen in uns, wenn wir gescheit werden wollen. Wir sind dagegen mehr angewiesen auf

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die Ablagerungen des Tonigen, dessen, was zum Beispiel in der For­mation Schiefer, Ton lebt, wenn wir mehr den Willen entwickeln wollen.

Das Materielle begreift man überhaupt nur, wenn man es in steti­gem Zusammenhang mit dem Geistigen erfassen kann. So kann man sagen, daß die Kalkformation diejenigen Strahlungen und Strömun­gen in sich enthält, welche geeignet sind, nicht nur das Animalische in seinen Gestalten auf der Erde herauszubilden, sondern auch das, was nun in uns als die materielle Gaundlage wirkt, damit wir im Inneren die Gedanken gestalten können. Draußen im Raum sind die vielen Tiergestalten. Innen in unserem Intellekt sind die Gedan­kengestalten. Sie sind ja nichts anderes als die ins Geistige umge­setzten Tiergestalten. Das gesamte Tierreich ist zu gleicher Zeit der Verstand; dieses gesamte Tierreich, nach dem Inneren des Men­schen projiziert, so daß es da in den beweglichen Gedankengestal­tungen erscheint, das ist der Verstand. Aber wie das Tierreich drau­ßen zu seiner Gestaltung die Kalkformation braucht, so brauchen wir gewissermaßen eine innere feine Kalkablagerung, also auch eine Kalk-formation, um gescheit zu werden. Es darf das natürlich nicht im übetriebenen Maße geschehen. Wenn der Mensch im übertriebenen Maße Kalk absonderte, so würde er gerade wiederum seine Klugheit von sich trennen, sie würde nicht bei ihm bleiben. Er würde ge­wissermaßen den Anlaß geben, daß sich objektiv Klugheit entwickelt, aber daß sie nicht bei seiner Persönlichkeit bleibt. Alles ist an ein gewisses Maß gebunden. Und wenn wir diese Dinge weiterverfolgen, dann kommen wir zu den interessanten Aufschlüssen darüber, wie das Mineralische eine gewisse Bedeutung hat im Leben des Menschen, des Tieres und der Pflanze. Wenn wir auf alles das sehen, was in uns wirkt als Kräfte des Kalkartigen, nun, wir haben es ja gerade gesagt, da kommen wir auf das, was nach Gestaltung ringt, was uns dazu bringt, daß wir innerlich gefestigte Menschen werden. Was aber in uns mit den Kräften namentlich des Tonigen, des Tonschlefrigen zusammenhängt, das bringt uns dazu, Menschen zu werden, die gegen dieses Feste ankämpfen, die dieses Feste nicht in sich dulden, sondern es auflösen, verflüssigen, pflanzenhaft machen. Und der Mensch ist

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eigentlich immer eine Art Zusammenwirken des Kalkhaften und des Schiefrigen, das heißt natürlich der inneren Kräfte, die in dem Kalkartigen und Schlefrigen sind.

Wir können nun das Schiefrige näher betrachten. Wir finden in vie­lem Schiefrigen das Kleselige, das Sillciumhafte, das, was wir insbe­sondere beim Bergkristali, beim Quarz finden. Die Kräfte, die im Bergkristall, im Quarz sind, sind durchaus auch in ihren Strahlungen und Strömungen im Menschen selber. Und würde der Mensch nur diese Kräfte haben, die er also schon mit dem härteren Schiefrigen in sich aufnimmt, würde der Mensch gewissermaßen nur die quarz-artigen Kräfte in sich haben, dann würde er fortwährend der Gefahr ausgesetzt sein, mit seinem Geistig-Seelischen zurückaustreben zu dem, was er zwischen Tod und neuer Geburt war, bevor er die Erde betreten hat. Das Quarzige will den Menschen immerfort aus sich herausbringen, zurückbringen zu seiner noch unverkörperlichten We­senheit. Es muß dieser Kraft, die den Menschen zurückbringen will in seine unverkörperlichte Wesenheit, eine andere entgegenwirken, und das ist die Kraft des Kohlenstoffes. Der Mensch hat den Kohlen­stoff vielfach in sich. Der Kohlenstoff wird ja natürlich von der heutigen Naturwissenschaft nur äußerlich betrachtet, nur durch physi­sche, durch chemische Methoden. In Wahrheit ist aber der Kohlen-stoff das, was uns immer bei uns bleiben läßt. Er ist eigentlich unser Haus. Er ist das, worin wir wohnen, während uns das Silicium fort-während aus unserem Haus herausführen will und uns zurückbringen will in die Zeit, in der wir waren, bevor wir in unser Kohlenstoff-haus eingezogen sind.

Und so hat das, was in uns Kohlenstoff und Kiesel ist, einen fort-währenden Kampf zu führen. Aber in diesem Kampfe liegt unser Le­ben. Würden wir nur aus Kohlenstoff bestehen - zum Beispiel die physische Pflanzenwelt ist im Kohlenstoff begründet -, dann würden wir nur an die Erde gebunden sein. Wir würden keine Ahnung be­kommen können von unserem außerirdischen Dasein. Daß wir davon wissen, das verdanken wir dem klesellgen Element in uns. Man sieht aber, wenn man das durchschaut, wiederum, welche Heilkräfte das Silicium, der Quarz oder das Kieselige in sich enthält. Wenn ein

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Mensch dadurch krank ist, daß er eine zu große Neigung zum Koh­lenstoff hat, was der Fall ist bei allen Erkrankungen, die mit ge­wissen Stoffwechselprodukt-Ablagerungen verknüpft sind, dann muß er als Heilmittel das Kieselige bekommen. Insbesondere wenn die Stoffablagerungen peripherisch oder im Kopfe sind, dann ist das Kieselige ein starkes Heilmittel dagegen.

Sie sehen also, daß wenn man diese Dinge durchschaut, sich einem aus einer Gesamterkenntnis heraus, die Naturerkenntnis und Geist-erkenntnis zugleich ist, die in allem bloß Stofflichen das Geistige sucht und in allem Geistigen das Stoffliche wiederum findet, indem das Geistige als Schöpferisches gedacht ist, erst sich das ergibt, was einem zunächst das menschliche Dasein erklärt, dann aber auch erklärt, wie man sich zu verhalten hat, wenn dieses menschliche Dasein in seinen Funktionen gestört wird.

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Von ganz besonderer Wichtigkeit ist dann, zu beachten, was als Stickstoffartiges in dem Menschen lebt, der Stickstoff selber und seine Verbindungen. Daß der Mensch Stickstoff in sich hat, das macht ihn dazu fähig, daß er immer gewissermaßen dem Weltenall offenbleiben kann. Ich kann das eigentlich auch nur wiederum schematisch zeich­nen. Nehmen wir an, das wäre der menschliche Organismus (weiß).

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Dadurch, daß der Mensch Stickstoff in sich hat, oder Körper, die den Stickstoff enthalten, spart sich gewissermaßen die Gesetz­mäßigkeit der Organisation überall aus: längs der Stickstofflinien im Körper hört der Körper auf, seine eigene Gesetzmäßigkeit geltend zu machen. Und dadurch kann die kosmische Gesetzmäßigkeit über­all herein (rot). Längs der Stickstofflinie im menschlichen Körper macht sich das Kosmische im Körper geltend. Sie können sagen: So viel in mir der Stickstoff tätig ist, so viel arbeitet der Kosmos bis zu dem fernsten Stern in mir. Was in mir an Stickstoffkräften enthalten ist, das führt die Kräfte des ganzen Kosmos in mich herein. Wäre ich nicht ein stickstoffhaltiger Organismus, so würde ich mich gegen alles verschließen, was aus dem Kosmos hereinkommt. - Und wenn sich die kosmischen Kräfte besonders entfalten müssen, wie es zum Bei­spiel der Fall ist, wenn die menschliche Befruchtung eintritt, wenn also der Menschenembryo im Leibe der Mutter sich entfaltet, der ja dem Kosmos nachgebildet ist, so ist das nur dadurch möglich, daß insbesondere die stickstoffhaltigen Substanzen den Menschen frei­machen für die Einwirkung der großen Welt, für die Einwirkung des Kosmos. Aber alles ist so eingerichtet im Weltenall und im Menschendasein, daß es nicht bis zum Extrem kommen darf. Es würde alles, wenn es allein wirken könnte, zum Extrem kommen. Würde der Stickstoff seine ganze Kraft im Menschen entfalten kön­nen, so würde der Mensch nicht bloß durch das Kieselige, wo er, ich möchte sagen, aus sich herausfallen will nach der Vergangenheit ins Geistige hinein, sondern auch durch den Stickstoff, wo er fortwäh­rend sich auch räumlich ausbreiten will - geistig -, der Mensch würde durch den Stickstoff fortwährend ohnmächtig werden. Er würde nicht in sich gehalten werden können. Er muß in sich gehal­ten werden.

Nun ist es immer interessant, daß, wenn man etwas beobachtet in der Natur oder im Menschen, wichtige Dinge eine Doppefrolle spie­len. Was auf der einen Seite dem Menschen das physische Gepräge für die Klugheit gibt, das Kalkartige, das wirkt auf der anderen Seite dieser Wirkung des Stickstoffes wiederum entgegen. So daß wir sagen können: Auf der einen Seite bilden im Menschen einen polarischen

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Gegensatz Kiesel und Kohlenstoff, auf der anderen Seite bilden einen polarischen Gegensatz Stickstoff und Kalk.

Das Kalkige im Menschen bereltet ihn so zu, daß er immer wie­derum seine eigene Organisation an die Stelle desjenigen setzt, was durch den Stickstoff an Kosmischem in ihn hereinwirken will. Durch den Stickstoff wirkt ein Kosmisches herein (rot); durch die Kalk-wirkung wird in Oszillation damit dasjenige wiederum, was vom Menschenorganismus ausgeht, dem entgegengesetzt (,,lau). So daß im Körper an den verschledensten Stellen ein Hereinwirken des Kosmos, ein Herauswerfen der kosmischen Wirkungen ist. Und das ist immer ein Hin- und Herpendeln: Stickstoflwirkung, kalkige Wirkung, Stickstoffwikung, kalkige Wirkung. Sie sehen also, wir können nicht nur den Menschen in Beziehung stellen zu der Sternen­welt, sondern ihn auch in seine unmittelbare irdische Umgebung hineinstellen.

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Ich habe in der letzten Nummer des «Goetheanum » in einem Aphorismus ausdrücklich hervorgehoben, daß der Materialismus als Weltanschauung eigentlich nicht davon herrührt, daß man die Materie zu gut kennt; man kennt sie zu schlecht. Was kennt man denn viel vom Kohlenstoff? Daß er sich in der Natur als Kohle, als Graphit

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und als Diamant findet. Man beschreibt dann diese Körper nach ihren physischen Eigenschaften. Aber man weiß nicht, daß der Kohlen­stoff dasjenige ist, was uns m uns festhält, so daß wir ein ge­schlossener menschlicher Organismus sind, und daß ihm fortwäh­rend das Kieselige entgegenwirkt, was uns uns selber nehmen will.

Man lernt erst die Materie kennen, wenn man sie auch in ihrem Geistigen kennenlernt. Denn überall, wo Materie ist, durchdringt sie der Geist. Aber man kommt natürlich zu gar nichts, wenn man beim bloßen nebulosen verschwommenen Pantheismus stehenbleibt und überall sagt: Wo Materie ist, ist Geist. - Man muß - wie man ja im Leben überhaupt nur weiterkommt, wenn man die Dinge von allen Seiten betrachten kann - nicht nur wissen: Kalk, Kieselstoff, Kohlen-stoff, Stickstoff enthalten Geist; das ist selbstverständlich, aber das genügt nicht. Man muß auch wissen, wie die einzelnen Stoffe gewis­sermaßen Verkörperungen, Verstoffllchungen von geistigen Wirkun­gen sind. Man muß sehen können, wie das Kalkige den Menschen in sich organisiert, das Stickstoffige ihn fortwährend durchsetzen will mit dem Kosmischen.

Die Pflanzen, welche immer zu dem Kosmischen in Beziehung stehen müssen, denn sie wachsen aus der Erde nach dem Kosmos hinaus, brauchen Stickstoflverbindungen zu ihrem Wachsen; und man wird das Pflanzenwachstum auch richtig studieren können, wenn man diesen Zusammenhang, den ich jetzt erörtert habe, richtig ins Auge faßt.

Diese Dinge haben erstens ihre Erkenntnisseite; wir lernen die Welt erst kennen, wenn wir diese Dinge durchschauen. Sie haben aber auch ihre praktische Seite. Und man bleibt eigentlich immer beim Allerprimitivsten stehen, wenn man nicht die Dinge in ihrem großen Zusammenhange betrachten kann. Man wird dann ins einzelne zu gehen haben und wird zu sehen haben, wie die nötigen Stickstoff-verbindungen eben in das Pflanzenwachstum hineinkommen. Nun, Sie wissen ja, daß das ohnedies ein sehr bedeutsames Studium ist; aber vollständig kann dieses Studium auch in der Agrikultur erst werden, wenn die Dinge geisteswissenschaftlich betrachtet werden. Geistes­wissenschaft ist eben erst die wahre Wirklichkeitswissenschaft.

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Sehen Sie, all das, was ich Ihnen darstelle, das muß mit den heuti­gen und sich immer weiter in die Zukunft entwickelnden Methoden der Geisteswissenschaft wieder gefunden werden. Denn eine ältere Wissenschaft hatte diese Dinge nur durch eine Art traumhaften Hell­sehens. Wir müssen ein vollbewußtes Helisehen erringen. Das habe ich ja öfter dargestellt. Wir können heute nicht wiederum diese Dinge, die einmal die Menschheit aus ganz anderer menschlicher Organisa­tion heraus gewußt hat, etwa einfach aufnehmen. Es ist natürlich ein Unfug, wenn die Menschen nur immer alte Wissenschaft studieren wollen, denn dadurch verstehen sie doch die Dinge nicht. Im Gegen­teil, man versteht auch die alten Dinge erst wiederum dann, wenn man sie in der richtigen Weise geistig beleuchten kann. Aber dennoch ist es wunderbar, wie im Grunde genommen, ich möchte sagen durch eine Art Instinkt, heute überall das Wissenschaftliche schon hin-tendiert zu dem, was einmal durch das traumhafte Hellsehen ge­funden worden ist.

Nehmen Sie einen bestimmten Fall. Nehmen Sie den Fall, daß die alten Initilerten überall im irdischen ätherischen Dasein vorausgesetzt haben Blei. Denn der Strahlung des Bleies haben sie zugeschrieben, was in der Menschengestalt von dem äußersten Ende, von oben nach unten wirkt. Sie haben in dem auf der Erde vielfach verbreiteten Blei etwas gesehen, was mit der inneren Formbildung des Menschen zu­sammenhängt, namentlich auch mit dem menschlichen Selbstbewußt­sein. Nun wird natürlich der heutige materiallstische Denker sagen:

Aber das Blei spielt ja im Menschenorganismus keine Rolle. - Da würde ihm der alte Initiierte gesagt haben: An so grob vorhandenes Blei, wie du denkst, haben wir allerdings nicht gedacht, sondern an ganz feines, nur in Kraftwirkung vorhandenes Blei. Und solches Blei ist sehr verbreitet. - So würde der alte Initlierte gesagt haben.

Was sagt der moderne Naturforscher? Er sagt: Es gibt Mineralien, welche Ausstrahlungen haben. Zu diesen Ausstrahlungen rechnet man ja die sogenannten radioaktiven Ausstrahlungen. Nicht wahr, man kennt die Ausstrahlungen des Urans, man weiß, wenn gewisse Strah-len - Alphastrahlen nennt man sie - ausstrahlen, dann ist zunächst eben das Ausgestrahlte da; dasjenige, was dann weiter noch ausstrahlen

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kann, verändert sich in einer gewissen Weise, bekommt sogar, wie man in der Chemie sagt, ein anderes Atomgewicht, kurz, es ent­stehen auch innerhalb desjenigen, was da als strahlende Materie vor­handen ist, Verwandlungen. Es sprechen ja sogar heute manche schon von einer Art Wiederaufleben der alchimistischen Stoffverwandlung. Nun aber sagen diejenigen, die solche Dinge untersucht haben: Dabei entsteht innerhalb dieses Strahlens etwas, was dann als ein Produkt auftritt, das nicht mehr radioaktiv ist, das sogenannte Radium G, und das hat die Eigenschaften des Bleies. Sie können also rein aus dem modernen Naturwissenschaftlichen heraus finden: Da sind radioaktive Substanzen; innerhalb dieser ganzen radioaktiven Strahlungen ist etwas, was seiner Kraft nach in Bildung begriffen ist. Da ist überall Blei auf dem Untergrunde enthalten.

Sie sehen, die moderne Naturforschung nahert sich in ganz bedenk­licher Weise der alten Initiationswissenschaft. Und ebenso, wie sie heute schon - ich möchte sagen mit der Nase, wenigstens mit der Nase der physikalischen Instrumente - auf das Blei gestoßen wird, wird sie auch auf die anderen Metalle gestoßen. Und dann wird sie nach und nach schon darauf kommen, was damit gemeint war, wenn man sagte, daß man in dem Saturnhaften überall das Blei findet. Sie sehen, nur mit geisteswissenschaftlichem Blick läßt sich in seiner Be­deutung auch das durchschauen, was heute selbst naturwissenschaft­lich auftritt und mit dem man ja in dem breiteren Wesen des Er­kennens nicht viel anzufangen weiß.

Nun aber, ein Wichtiges auf diesem Gebiete ist noch das Folgende:

Sie wissen, die Luft, die auch zu unserer unmittelbaren Erdenumge­bung gehört, besteht aus Sauerstoff und Stickstoff. Den Stickstoff können wir zunächst für unser physisches Leben nicht gut brauchen. Den Sauerstoff atmen wir ein. Er verwandelt sich in uns, beziehungs-weise es bildet sich in uns Kohlensäure, die wir dann ausatmen. So könnte zunächst die Frage entstehen: Was ist denn eigentlich die Hauptbedeutung des Stickstoffes, der gar nicht chemisch gebunden an den Sauerstoff ist, sondern nur in einer Art innigeren Gemisches mit dem Sauerstoff zusammen da draußen lebt? In dem Stickstoff können wir nicht leben. Zu unserem Leben brauchen wir Sauerstoff. Aber

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ohne den Stickstoff hätten unser Ich und unser astrallscher Leib, wenn sie im Schlafe außer dem physischen Leibe sind, keine Möglich­keit zu existieren. Wir würden vom Einschlafen bis zum Aufwachen zu-grunde gehen, wenn wir nicht in den Stickstoff untertauchen könnten. Unser physischer Leib und unser Ätherleib brauchen den Sauerstoff von der Luft; unser Ich und unser astrallscher Leib brauchen den Stickstoff.

Der Stickstoff ist überhaupt dasjenige, was uns in innige Beziehung zur geistigen Welt bringt. Er ist die Brücke zur geistigen Welt in dem Zustande, in dem unsere Seele während des Schlafens ist. Neh­men Sie das, was ich vorhin gesagt habe, zusammen mit dem, was ich hier vom Stickstoff gesagt habe. Der Stickstoff zieht aus der Um­gebung das Kosmische herein. Er macht uns für das Kosmische be­reit, wenn er in uns ist. Wenn er außer uns ist, läßt er das, was nicht für diese Erde ist, eigentlich in sich geistig-seelisch leben. Wir müssen also sagen: Der Luft ist wahrlich nicht umsonst der Stickstoff zum großen Teil beigemischt, er ist beigemischt, weil er das physisch Abtötende und das geistig Belebende innerhalb des Erdendaseins ist. Und wenn wir aus demjenigen, was das physisch Abtötende ist, vom Einschlafen bis zum Aufwachen herausflüchten zu einem anderen Dasein in bezug auf unser Seelisches, dann tauchen wir in das Stick­stoffelement unter, das die Brücke bildet zwischen unserem Geistig-Seelischen und dem Geistig-Seelischen des Kosmos. Wir wurzeln mit unserem irdisch-persörlichen Dasein in dem Kohlenstoff, mit unse­rem geistig-seelischen Dasein in dem Stickstoff. Kohlenstoff und Stick­stoff im Erdendasein haben dieses Verhältnis zueinander und zum Menschen, das ich eben charakterisiert habe.

Sehen Sie sich den Kohlenstoff an. Er ist in der gewöhrlichen Kohle, er ist im Graphit und im Diamanten enthalten. Das sind die drei verschiedenen Formen, in denen der Kohlenstoff vorkommen kann. Das, was Sie an Kohlenstoff in der schwarzen, rußigen Kohle und in dem Diamanten und in dem Graphit sehen, das tragen wir in einer anderen Form auch in uns. Wir sind zwar nicht viel, aber eben doch etwas Diamant. Das hält uns in unserem Erdenhause fest. Da wohnt unser Geistig-Seelisches, wenn es im Leibe wohnt.

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Der Stickstoff, der in den verschiedenen Stickstoffverbindungen, Salpetersäure und so weiter, in dem Salpeterartigen vorhanden ist, der ist dasjenige, was uns immerfort aus uns herausgehen läßt, was die Brücke bildet, wie ich sagte, zu dem Geistig-Seelischen des Kos-mos. Auch das muß durch neuere Geisteswissenschaft wiederum ge­funden werden. Es war schon einmal innerhalb der irdischen Er­kenntnis vorhanden, aber nur in einer traumhaften Weise. Im alten Helisehen ist es durch die alten Initlierten durchschaut worden.

Wir bekommen, wie ich schon öfter sagte, vor einem alten Initlier­ten erst den richtigen Respekt, wenn wir dle Dinge wiederentdecken, die nicht aus den Überlieferungen erkannt werden können. Erst dann, wenn wir sie selber finden können, können wir sie auch in den Über-lieferungen wiederum würdigen. So kommen wir auch, wenn wir diese Dinge wiederfinden, zu einer religiösen Verehrung desjenigen, was Urweisheit der Menschheit war.

Nun werde ich bei einer nächsten Gelegenheit davon sprechen, wie all dieses Wiederfinden zusammenhängt mit dem Mysterium von Golgatha. Ich brauchte dazu, ich möchte sagen, geisteswissenschaft­lich-naturwissenschaftliche Voraussetzungen, und es wird Ihnen doch manches im Welten- und Menschheitsdasein gerade durch diese Be­trachtungen durchsichtig geworden sein.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 7. Juli 1922

Ich möchte einiges, das ich in den nächsten Tagen hier vorbringen werde, heute einleiten, indem ich anknüpfe an Leben und Lehre einer Persörlichkeit, über die ich schon hie und da in den Vorträgen ge­sprochen habe, und dle ich auch ausführlicher behandelt habe im drit­ten Kapitel meiner Schrift «Von Seelenrätseln». Ich werde über diese Persönlichkeit, Franz Brentano, als einem der repräsentativen Geister aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, manches zu sagen haben, aus Gründen, die sich ergeben werden, wenn wir in unseren Betrachtungen weiterschreiten werden. Einige Andeutungen finden sich auch in der Zeitschrift Franz Brentano ist im Jahre 1917 in Zürich als neunundsiebzig­jähriger Philosoph gestorben. Es war damit ein philosophisches Leben abgeschlossen, das zweifellos zu den allerinteressantesten der Ge­schichte und vor allen Dingen der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts gehört. Nicht nur lebte in Franz Brentano ein philosophischer Lehrer, sondern es lebte in ihm eine philosophische Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, bei der philosophisches Streben aus dem ganzen Umfang und der ganzen Tiefe der Persönlichkeit hervorging.

Der Philosoph Brentano stammt aus der Familie, zu der Clemens Brentano> der deutsche Romantiker, gehört, der der Oheim des Philo­sophen Franz Brentano war. Und Clemens Brentano gehört jener Familie an, die durch Sophie La Roche und durch Maximiliane Bren­tano mit Goethe befreundet war, und die zwei, im Beginne des 19. Jahrhunderts ja vielfach miteinander zusammenhängende Geistes-strömungen auch ganz unmittelbar, ich möchte sagen, als Familie

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vereinte: Das war der Katholizismus auf der einen Seite - wir haben es in der Familie Brentano mit einer gut katholischen Familie zu tun - und der romantische Sinn auf der anderen Seite. Clemens Bren­tano hat ja wirklich schönste der deutschen romantischen Dichtungen geschaffen, und er war, aus der romantischen Atmosphäre des deut­schen Geisteslebens heraus, ein außerordentlich bedeutender Märchen­erzähler. Man möchte sagen, bei den deutschen Romantikern wandel­ten sich, indem sie erzählten, die deutschen Märchen so, daß wirklich ein Licht aus der geistigen Welt auf diejenigen strahlte, denen gerade von solcher Seite Märchen erzählt wurden. Und unser Philosoph Franz Brentano hörte noch als ganz kleines Kind Märchen erzählen von Clemens Brentano, seinem Oheim.

Für uns kommen hier zwei Momente in Betracht. Das eine ist, daß aus dieser Atmosphäre heraus im geistigen Sinn Franz Brentano erwächst. 1838 ist er geboren. 1842 ist Clemens Brentano gestorben. Und auf der anderen Seite kommt für uns in Betracht, daß dieser aus katholischem Romantizismus herausgewachsene Franz Brentano hin­einwächst in die strengste naturwissenschaftliche Auffassung, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Geistesleben der neueren Zivilisation geherrscht hat. Franz Brentano wächst so heran, daß wirklich schon als Kind frommer Sinn in seine Seele einzieht. Das religiöse Element ist ihm wie etwas selbstverständlich aus der Seele Herauskommendes. Und nicht als etwas Äußerliches zieht der Katholizismus in seine Seele ein, sondern als etwas, was Wesen und Weben dieser Seele ausmacht. Mit voller Innerlichkeit ergreift der Knabe Franz Brentano die katholische Frömmigkeit und wächst in sie hinein. Er hat in sich erweckt, heranerzogen durch den Romantizis­mus, einen mächtigen Hochsinn für das Geistige. Während in den Romantikern vom Schlage Clemens Brentanos das Geistige in der Phantasieform lebte, während sich solch ein Genius wie Clemens Brentano wenig an die Regeln der Logik hielt und im Fluge, aber im Fluge der Phantasie, die geistige Welt zu erringen und in ihr zu leben strebte, verwandelte sich dieser durchaus auch bei Franz Brentano entwickelte Hochsinn für das geistige Leben in eine besondere Be­gabung für die Ausgestaltung von strengen Begriffen.

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Dazu hatte mitgewirkt, daß es aus dem Katholizismus heraus für Franz Brentano gewissermaßen selbstverständlich war, daß er philoso­phlsch4heologische Studien zu den seinigen machte. Und seine feine Geistigkeit hatte ihn frühzeitig eindringen lassen in das Gedanken­gewebe des Aristoteles und dann auch in die strenge Begriffsschu­lung der mittelalterlichen Scholastik. In dieser mittelalterlichen Scho­lastik lebte ja auch, wie ich schon einmal hier ausführlicher dar­gestellt habe, der Aristotelismus weiter. Und man möchte sagen:

Während Franz Brentano die Veranlagung zum Hochflug ins Geistige blieb, konnte er nicht unbekümmert um die logischen Kräfre der menschlichen Seele, etwa nach der Art des Clemens Brentano, sich entwickeln, sondern er bildete gerade die strengste Logik aus, und gelangte nur auf dem Wege strengster Logik zu seiner Begriffs­gestaltung. Aber so bedeutend sich die Fähigkeiten Franz Brentanos in bezug auf logische Schulung, in bezug auf Theologisch-Philosophi­sches entwickelten, so war eigentlich in seiner frühen Jugend seine im echt katholischen Sinn gehaltene Frömmigkeit noch größer.

Es ist ja etwas Eigentümliches um die moderne scholastische Schu­lung, wie sie gerade eben Franz Brentano aus seinem Katholizismus heraus recht durchmachen konnte. Man muß immer wieder sagen:

Die wirklich strenge Logik, nicht jene oberhin huschende Logik, die heute in der Alltagsbildung enthalten ist und auch die Wissen­schaft beherrscht, sondern was wirklich strenge Logik ist, die mit dem ganzen Menschen, nicht bloß mit dem menschlichen Kopf zu­sammenhängt, die geht schon aus der Scholastik hervor. Die Scho­lastik ist im höchsten Grade die Kunst der logischen Begriffsbildung. Nur wurde diese Scholastik eben im Mittelalter und auch im Katholi­zismus bis heute lediglich dazu verwendet, die katholische Offenba­rungslehre zu stützen, in dem Sinne, wie ich das einmal dargestellt habe, indem ich den Thomismus auseinandersetzte.

Bei einem solchen Geist, wie Franz Brentano es war, entwickelte sich gerade aus katholischer Frömmigkeit und aus der strengen Schulung der Scholastik heraus eine ganz spezifische Geistigkeit. Die Möglichkeit entwickelte sich bei ihm, das Sein einer geistigen Welt einfach selbstverständlich zu finden. Indem er sich in den Katholizismus

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und in die scholastische Theologie einlehte, lebte er ja in der Geistigkeit, und er konnte gar nicht anders, als in der Geistigkeit leben. Und diese Geistigkeit erfaßte er eben, indem er sie sich in strenger Logik ausgestaltete. Er war wirklich ein wahrer Katholik. In so strengem Sinne war er Katholik, daß er, trotzdem er in sich die strengste Logik ausbildete, nie sich gestattet haben würde, bis zu einem bestimmten Punkte in seinem Leben, an der katholischen Offen­barungslehre auch nur Kritik zu üben.

Ich bitte, stellen Sie sich nur einmal einen Menschen in seiner ganzen menschlichen Tiefe vor, in dem die strengste Logik lebt, die bei so vielen neuzeitlichen Geistern die abfälligste Kritik an der katho­lischen Offenbarungslehre geübt hat. Das setzte in ihm starke Zwei­fel fest, die er aber alle ins Unterbewußte hinunterdrängte, die er nir­gends in das Bewußtsein heraufkommen ließ; denn in dem Augen­blick, wo sie im Bewußtsein auftraten> drängte er sie hinunter. Er sagte sich: Die katholische Offenbarungslehre ist ein geschlossenes System und zeigt sehr klar, daß sie aus den geistigen Welten selber, wenn auch auf den mannigfaltigsten Umwegen, wohl auch durch Menschen, auf die Erde gekommen ist. Sie zeigt ihre eigene Wahr­heit, und man muß immer voraussetzen, wenn sich Zweifel geltend machen> daß man als einzelner Mensch doch jedenfalls irren kann gegenüber dem, was als allumfassendes System von einer solchen alt-ehrwürdigen Größe auftritt, wie es der Katholizismus ist. - Da zu den Lehren des Katholizismus dieses gehört, daß über die Wahrheit der Dogmen immer nur die Konzilien haben sprechen können, so durfte Franz Brentano in seiner Seelenverfassung sich niemals ge­statten, wenn irgendwie ein Zweifel aus dem Unbewußten auftau­chen wollte, diesen Zweifel wirklich gegenüber der Offenbarungs-lehre geltend zu machen. Er drängte alles zurück, er sagte sich ein­fach: Es ist unmöglich, solch einen Zweifel wirklich anzunehmen. -Aber die Zweifel wühlten eben im Gefühl, in der Empfindung, im Unbewußten ganz furchtbar in seiner Seele. Er machte es nicht etwa wie die Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts, indem er sich diesem Zweifel hingab, sonderu er drängte solchen Zweifel immer wiederum als etwas Verbotenes hinunter.

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Da kam ein Ereignis, das einen mächtigen Umschwung in seiner Seele bewirkte. Brentano ist 1838 geboren. Er ist in den sechziger Jahren zum katholischen Priester geweiht worden, ist dann auch als katholischer Priester, aber in der Seelenverfassung, die ich Ihnen eben geschildert habe, Professor der Philosophie an der Universität in Würzburg geworden. Und so traf ihn die Bewegung für das Infalli­bilitätsdogma, für das Unfehlbarkeitsdogma, die gegen Ende der sech­ziger Jahre enifaltet wurde. 1870 sollte ja dieses Dogma erklärt wer­den. Als ein ausgezeichneter Theologe und frommer Katholik bekam Franz Brentano damals - er war ja noch ein verhältnismäßig junger Mann - von dem berühmten Bischof Ketteler den Auftrag, über das Unfehlbarkeitsdogma zu sagen, was vom Standpunkte der katholi­schen Theologie aus zu sagen ist.

Ich will zunächst die Folge der äußeren Ereignisse schildern. Kette­1er gehörte zu denjenigen deutschen Bischöfen, die sich ganz mächtig auflehnten gegen die Festsetzung des Infallibilitätsdogmas. Er ließ sich eine Denkschrift von Franz Brentano ausarbeiten, die eben von Ketteler dann auf der Bischofsversatnnilung in Fulda vorgebracht werden sollte, um von selten der deutschen Bischöfe zu beschließen, daß man sich nicht der Festsetzung des Infallibilitätsdogmas an-schließe. Ketteler hat auch die Brentanosche Denkschrift, die gegen das Dogma von der Infallibilität gerichtet war, vollinhaltlich auf der Bischofsversammlung in Fulda vorgetragen. Das ist das Äußere, zu dem nur noch hinzuzufügen wäre, daß ja die deutschen Bischöfe dann umgefallen sind, daß sie, als sie in Rom versammelt waren und das Infallibilitätsdogma nun erklärt werden sollte, zuletzt sich eben doch unterworfen und dem Unfehlbarkeitsdogma zugestimmt haben. So hat also Franz Brentano dieses Dogma im negativen Sinne als nichtkatho­lische Lehre für den Bischof Ketteler kritisiert. Und dann ist das Infallibilitätsdogma erklärt worden.

In welcher Lage war Franz Brentano als ausgezeichneter Theologe und als frommer Katholik? Er hätte sich nie gestattet, ein Dogma, in das er schon hineingewachsen war, zu kritisieren. Aber als ihn der Bischof Ketteler aufforderte, das Infallibilitätsdogma zu kritisieren, war es noch nicht Dogma, sollte erst eines werden. Da gestattete er

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sich, dieses werdende Dogma mit seinem Intellekt anzugreifen. Es war ja auch durchaus im Sinne des Bischofs Ketteler, der ja zunächst auch gegen das Infallibilitätsdogma war. Also niemals würde Franz Brentano aus seiner damaligen Stimmung heraus, Ende der sechziger Jahre, ein bestehendes Dogma angefochten haben. Aber die Infallibill­tät war noch kein Dogma, und so kritisierte er sie mit einem unge­heuren Scharfsinn. Denn, was dazumal auf der Bischofsversamm­lung in Fulda von Ketteler vorgebracht worden ist, das war eben die Brentanosche Denkschrift.

Nun wurde aber die Infallibilität rechtmäßiges katholisches Dogma. Sie sehen, nicht eine Verstandesüberlegung allein, sondern das Zu­sammengewachsensein mit einem der wichtigsten Ereignisse des neueren Katholizismus war ein entscheidender Wendepunkt für Franz Brentano. Was vielleicht durch einen bloßen Intellektschritt gar nicht eingetreten wäre: Der Abfall von der Kirche, das hat sich im Zu­sammenhang mit den Ereignissen für ihn vollzogen. Er war der be­deutendste Kritiker des Unfehlbarkeitsdogmas und mußte sich dazu­mal fragen: War der rechtgläubige Christ Franz Brentano, der durch­aus aus den Tiefen des katholischen Bewußtseins heraus vor dem Jahre 1870 das Unfehlbarkeitsdogma kritisiert hatte, noch Katholik, als nach 1870 das Infallibilitätsdogma nun ein rechtmäßiges Dogma geworden war? Sie sehen, Tatsachen sind hier, die stärker in das Leben der Menschen hineinspielen, als ein in den meisten Fällen ja wertloser intellektueller Entschluß es vermag. Und so konnte ein in seinem Gewissen so gerader, so lebendiger Mensch wie Franz Bren­tano nicht anders, als aus der Kirche austreten. Man muß nur den ganzen Zusammenhang nehmen, dann wird man sehen, wie tief eigent­lich Franz Brentano mit einer gewissen Seite des Geisteslebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengewachsen war.

So stand Franz Brentano da als Philosoph, gewissermaßen heraus­geworfen aus seiner katholischen Laufbahn. Er hatte eine ganz an­dere Schulung als die anderen Philosophen des 19. Jahrhunderts; denn diejenige Schulung, die er hatte, macht sich sonst, bei den außerklrch­lichen Philosophen, nicht geltend. Aber jetzt war er in die Reihe der außerkirchlichen Philosophen eingereiht. Dabei hatte nun die naturwissenschaftliche

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Denkungsart des 19. Jahrhunderts auf ihn den denk­bar stärksten Eindruck gemacht. Diese naturwissenschaftliche Den­kungsart war ja seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tonangebend ge­worden für das ganze Wissenschaftsleben. Und als sich Franz Bren­tano in Würzburg habilitierte, da tat er das mit der These: «In der Philosophie können keine anderen methodischen Grundsätze herr­schen, als in der wahren Naturwissenschaft.» Die Naturwissenschaft hat einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht in ihrer Methode, daß er nicht anders konnte, als sagen: Die Philosophie muß sich der­selben Methoden bedienen wie die Naturwissenschaft, wenn sie eine wirkliche Wissenschaft sein will.

Es ist wirklich nicht leicht, den seelischen Knäuel aufzulösen, in den Franz Brentano in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ver­strickt war. Betrachten wir nur einmal ganz objektiv, was da eigent­lich vorlag. Ein Mensch, der vielleicht einer der besten Kenner des Thomismus und des Aristotelismus in seiner Zeit war, ein ungeheuer scharfer Denker und Begriffsgestalter auf der einen Seite, aber das alles aus der katholischen Lehre heraus; auf der anderen Seite ein Mann, dem die naturwissenschaftliche Methode ungeheuer imponiert. Wie ist das möglich? Ja, es ist durchaus möglich, und zwar aus dem folgenden Grunde. Nehmen Sie einmal den Sinn der mittelalterlichen Scholastik. Die mittelalterliche Scholastik ist eine für das Geistige nach scholastischen Begriffen arbeitende Wissenschaft, jedoch eine Wissen­schaft, die sich selber befiehlt, nur etwas über die äußere Sinneswelt, und dann noch einige Erkenntnisse, die sich durch Schlüsse aus der Sinneswelt ergeben, zu wissen, während alles Übersinnliche der Offen­barung überlassen wird, an die sich die intellektuelle Erkenntnis nicht heranwagen soll.

Wir haben bei der mittelalterlichen Scholastik also streng geschie­den: Das Reich der Sinneserkenntnis mit einigen Schlußfolgerungen, wie zum Beispiel das Dasein Gottes oder anderen ähnlichen Schluß­folgerungen; die gehören der menschlichen Erkenntnis an. Dagegen die eigentlichen Mysterien, die Inhalte der übersinnlichen Welt kann man nur durch Offenbarung gewinnen, das heißt durch dasjenige, was die Kirche aufbewahrt hat aus den Offenbarungen von den übersinnlichen

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Welten, die zu verschiedensten Zeiten auf eine nach Ansicht der Kirche rechtmäßige Weise zu den Menschen gekommen sind.

Das aber war ja schon die Vorbereitung zu der modernen wis­senschaftlichen Ansicht. Diese moderne Naturwissenschaft will ja auch nur Sinneserkenntuis und höchstens einige Schlüsse aus der Sinnes­erkenntnis ziehen. Diese moderne Naturwissenschaft weiß gar nicht, daß sie die Fortsetzung der Scholastik ist, nur daß gewisse radikale Geister es etwas anders gemacht haben als die Scholastiker. Versinn­lichen wir uns das schematisch. Der Scholastiker sagt sich: Mit dem Intellekt und mit der gewöhnlichen Wissenschaft erlange ich die Kennt­nis der gewöhnlichen Sinneswelt und einiger Schlüsse, die sich aus ihr ergeben (gelb); dann ist eine Grenze, hinter welcher die übersinnliche Welt liegt, in die man nicht eindringen kann (rot). Nicht anders die mo­derne Naturwissenschaft! Diese sagt: Mit den menschlichen Erkennt­nissen dringt man in die sinnliche Welt ein und kann einige Schlüsse ziehen, die aus dieser Erkenntnis folgen. Die Scholastiker sagten: Darüber

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liegt die übersinnliche Welt, die man durch Offenbarung erken­nen muß. Radikale Geister der modernen Welt sagten: Man kann nur die sinnliche Welt erkennen, die übersinnliche lassen wir weg, die gibt es ja gar nicht, oder mindestens kann man sie nicht erkennen. Dadurch wurden sie Agnostiker. Das, was in der Scholastik in bezug auf die Erkenntnisse der sinnlichen Welt und einiger Schlüsse daraus gang und gäbe war, das setzte sich eben nur fort in der modernen naturwissenschaftlichen Gesinnung, so daß gerade ein Geist, der so

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ernst seine ganze Jugend hindurch die scholastische Schulung in sich aufgenommen hatte, in der modernen naturwissenschaftlichen Me­thode nichts anderes zu sehen brauchte als die Fortsetzung der scho­lastischen Anschauungen. Dafür war aber bei ihm, weil er nun auch ein frommer Katholik war, die geistige Welt wiederum eine Selbst­verständlichkeit. So daß Franz Brentano eigentlich nur konsequenter war als hundert und aberhundert andere, sowohl auf katholischer als auch auf nichtkatholischer Seite.

So wendete sich Brentano also der naturwissenschaftlichen Methode zu. Diese naturwissenschaftliche Methode aber muß sich entweder ihrer Grenzen bewußt werden, oder aber den Agnostizismus oder das Nichtvorhandensein der übersinnlichen Welt erklären. Wenn man nun dennoch die übersinnliche Welt als ein Selbstverständliches emp­findet, aber nicht mehr an der Wahrheit der Offenbarung - weil nicht mehr an der Wahrheit der Kirche - festhalten kann, wie es bei Franz Brentano der Fali war, dann ist man in einer besonderen Lage.

Ein oberflächlicher Geist kommt da leicht zurecht. Der leugnet entweder die übersinnliche Welt ab, oder er kümmert sich nicht dar­um. Das konnte Franz Brentano nicht. Aber er konnte gerade wegen seiner streng scholastischen Schulung die These aussprechen: Die wahre Philosophie darf sich keiner anderen Methoden bedienen als derjenigen der wahren Naturwissenschaft.

Nun wissen Sie ja alle: Wer, trotzdem er ja sagt zur natur-wissenschaftlichen Methodik, noch auf erkenntnismäßige Weise zu einer geistigen Welt kommen will, der muß aufsteigen von der ge­wöhnlichen naturwissenschaftlichen Methodik zu dem, was ich exaktes Helisehen oder exaktes Schauen nenne, was entwickelt wird an über­sinnlichen Fähigkeiten nach den Methoden, die ich in meinen Bü­chern geschlldert habe. Vor der Entwickelung dieses Schauens, vor der Entwickelung jeder Art einer Methodik, die über das Naturwissen­schaftliche hinausgeht und die doch erkenntnismäßig sein soll, schau­derte aber Franz Brentano zurück. Da wirkte in ihm die Stimmung, die er als Katholik gegenüber der Offenbarung hatte. In die Offen­barung ließ man die Wissenschaft nicht hinein. Dadurch konnte er

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eine narurwissenschaftliche Methode verstehen, die sich nur auf die Sinneswelt beschränkt; aber gerade wenn man damit Ernst macht, mußman die übersinnlichen Fähigkeiten entwickeln. Davor schreckte er zurück.

In dieser Stimmung wurde Frauz Brentano eben Philosoph, nun nicht mehr theologisierender, sondern einfacher Philosoph. Man kann sagen: Solch eine Persönlichkeit, bei der man alle Stürme und Kämpfe, die sich im Geistesleben der Zeit finden, sehr deutlich ausgeprägt findet, und bei der man sich doch zuletzt sagen muß: sie wurde nicht Sieger in der eigenen Seele -, eine solche Persönlichkeit ist natür­lich oftmals viel bedeutender und viel interessanter als andere, die auf eine leichte Weise, in leichtgeschürzten Begriffen mit allem mög­lichen gleich fertig werden.

In dieser Seelenverfassung wurde nun Franz Brentano nach Wien berufen, nach jenem Österreich, von dem ich Ihnen ja hier einmal neulich gesprochen habe. Ich habe Ihnen seine eigentümliche Gei­stigkeit charakterisiert, und Sie werden, wenn Sie das im Gedächtnis nachempfinden, was ich damals über Österreich gesagt habe, wohl verstehen, daß ein so gearteter Philosoph gerade in Wien einen großen Eindruck machen konnte. Und den machte Brentano auch. Er war schon in der äußeren Erscheinung als Persönlichkeit außerordentlich interessant. Er hatte einen sehr durchgeistigten Kopf, geistsprühende Augen, die wahrscheinlich etwas Ähnliches im Blicke hatten wie die Augen des Romantikers Clemens Brentano. Franz Brentano war da­durch eigentlich auffällig interessant in seiner Persönlichkeit, daß, wenn man ihn so gehen sah, wenn er zum Beispiel das Podium, das Rednerpult bestieg, er eigentlich immer etwas an sich hatte, wie wenn er in seinen physischen Leib nicht ganz hineingeschlüpft wäre. Es hatte fast jede Bewegung, sowohl das Gehen wie das Bewegen der Arme, das Mienenspiel, die Formung der Worte selbst, all das hatte im Grunde genommen etwas Unnatürliches. Man hatte immer das Ge­fühl: da schlenkert etwas mit dem physischen Leibe, wie wenn man mit Kleidern schlenkert. Und dennoch machte das Ganze einen außer-ordentlich sympathischen und vergeistigten Eindruck. Man konnte sich gar nicht des Gefühles erwehren, daß es dieser Persönlichkeit mit

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dem immer ernsten Tonfall, mit dem fortwahrenden Streben, in der strengsten Weise die Begriffe zu gestalten, die aber wiederum den Eindruck machte, als wenn sie in ihrem Denken nicht im Kopf, son­dern ein wenig über dem Kopf gelebt hätte, im Grunde genommen ganz natürlich war, sich in ihrem physischen Leibe so zu fühlen wie in einem Anzug, der einem nicht ganz angepaßt ist, der einem zu groß oder zu klein, wir können sagen, zu groß ist. Und manches, was man bei einem anderen in den Bewegungen kokett gefunden haben würde, war bei Franz Brentano interessant.

Franz Brentano bemühte sich, überall die naturwissenschaftliche Methodik zur Geltung zu bringen. Wenn er geistige Probleme be­handelte, so behandelte er sie in einer Gesinnung, die eingegeben war von der naturwissenschaftlichen Methodik. Aber ich möchte sa­gen: Der Theologe war noch da im Tonfall. Es war schon ein großer Unterschied, etwa die naturwissenschaftliche Methode von irgend­einem gewöhnlichen Naturforscher handhaben zu hören, und von die­sem aus der Theologie herausgewachsenen Philosophen.

Es ist für diejenigen, die einen Begriff hatten von Franz Bren­tano, ganz natürlich gewesen, daß er, als er 1874 nach Wien kam, zunächst im gewissen Sinne der Liebling der Wiener Gesellschaft wurde, das heißt derjenigen Gesellschaft, die solche berühmte Per­sönlichkeiten, wie Franz Brentano damals eine war, ganz besonders liebten. Insbesondere die Frauen - denn die Männer dieser Gesell­schaft beschäftigten sich ja gerade in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts weniger mit der Bildung - hatten ihren besonderen Geschmack an Franz Brentano, denn man konnte von ihm immer Geistreiches hören. Er war einem überlegen und doch wiederum war er einem nicht ganz überlegen; man war ihm doch wiederum selber auch überlegen. Wenn er kam, zog er seinen Überrock ungeschickt aus. Da konnte man ihm so gut helfen, und man konnte sich so über gewisse Seiten seines Wesens überlegen fühlen, wenn man ihm helfen konnte, wenn man ihn zum Beispiel stützen konnte, damit er nicht über die Türschwelle fiel und dergleichen, oder wenn er nicht gleich den Löffel fand, oder wenn er, was er besonders gern tat, das Fleisch so lange nach der einen und nach der anderen Seite schnitt, bis es

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nicht mehr einzelne Stücke waren, sondern etwas, was man in man­chen Gegenden Deutschlands einen Knatsch nennt. Man konnte sich also zugleich überlegen fühlen und dennoch wiederum so etwas wie die Offenbarung einer geistigen Welt durch ihn hereinscheinen sehen. Das hat dann ein Dichter, der ja manchmal außerordentlich geist­reich, aber eigentlich niemals seht empfänglich für die Tiefen der menschlichen Wesenheit war, das hat dann Adolf Wilbrandt versucht, in einer etwas schnöden Weise in seinem «Gast vom Abendstern» zu verhöhnen. Diese Novelle wurde in Wien überall als eine Verhöh­nung Franz Brentanos angesehen, aber sie ist es wirklich nur in dem Sinne, wie ich das eben jetzt charakterisiert habe.

Nun, damals, als Franz Brentano in der charakterisierten Seelenver­fassung seine Wiener Vorträge hielt, hatte er einen ungeheuren Zu­lauf für die damaligen Zeitverhältnisse. Man muß bedenken, daß die Philosophie dazumal keine sehr angesehene Sache war. Franz Bren­tano aber hatte schon in Würzburg als außerordentlicher Professor einen großen Zulauf, und zwar in demselben Hörsaal, an dessen Tür die Studenten nach dem ersten Vortrag seines Vorgängers - später waren sie nicht mehr hingegangen - «Schwefelbude» geschrieben hatten. In diesem selben Auditorium Maximum las Franz Brentano über Philosophie, und der Hörsaal füllte sich bald. Und so waren auch die Hörsäle, die er in Wien zum Vortragen hatte, immer voll.

Nun gehörte zu seinen ersten schriftstellerischen Arbeiten seine «Psychologie». Er hatte sich vorgenommen, mit wissenschaftlicher Methode eine Psychologie zu schreiben. Sie war auf vier oder fünf Bände berechnet. Im Frühling 1874 erschien der erste Band. Für den Herbst hatte er den zweiten versprochen, und so sollte es weiter­gehen. Mit naturwissenschaftlicher Methode, im strengsten Sinne des Wortes, hatte er sich darangemacht, zu untersuchen - so wie man un­tersucht, ob ein Metall sich erwärmt oder abkühlt, oder ob die Wärme von einem Metall nach dem anderen geleitet wird -, wie die eine Vorstellung sich an die andere reiht, wie die eine und die an­dere Vorstellung sich entsprechen, kurz, alle die kleineren Verhält­nisse des Seelenlebens. Weiter kam er nicht. Aber er sagte schon im ersten Band: Wissenschaft muß man auch für die Seelenkunde, für die

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Psychologie haben. Wenn man aber diese Wissenschaftlichkeit damit erkaufen müßte, daß die moderne Seelenkunde nichts zu sagen wußte über das Schicksal des besseren Teiles der menschlichen Wesenheit, wenn der Leib den Elementen der Erde übergeben wird, dann wäre wirklich für diese Wissenschäftlichkeit etwas durchaus Wertvolles dahingegeben. Für Brentano - bei dem ihm selbstverständlichen Dar-innenleben im Geistigen, das er aber natürlich nach naturwissen­schaftlichet Methode nicht beweisen konnte - war dieses Geistige kei­neswegs etwas, das er nicht als einen Gegenstand der Erkenntnis an­sehen wollte. Er wollte durchaus in die geistige Welt hinaufdringen mit der Erkenntnis, aber er wollte auch wiederum bei der Naturwis­senschaft verbleiben.

Und so ist denn dieser erste Band das einzige geblieben, was von Brentanos «Psychologie» erschienen ist. Er war ein zu wahrer, inner­lich wissenschaftlich gewissenhafter Mensch, als daß er weitergeschrie­ben hätte im Sinne eines bloßen Formalismus. Das hätte er natürlich leicht können, und solche Psychologien, wie die der anderen, hätte er immer noch zustande bringen können. Aber wenn Brentano eine Psy­chologie hätte weiterschreiben sollen, so hätte sie wahr sein müssen auf jeder Seite, wie der erste Band, wahr, selbstverständlich inner-halb derjenigen Grenze, innerhalb der der Mensch zu Wahrheiten vordringen kann. Aber Franz Brentano wollte naturwissenschäftlich bleiben. Das ergab keine Fortsetzung ins Seelische hinein. Das See­lische etwa zu leugnen, wie es diejenigen Psychologen gemacht haben, die «Seelenkunden ohne Seele» geschrieben haben, das konnte er auch nicht. Er konnte eben nur verstummen. Und so schrieb er zu seinem ersten Band keinen zweiten, noch weniger die folgenden Bände dazu.

Die Brentano-Schüler haben es nilt übelgenommen, daß ich diesen Tatbestand geltend gemacht habe in dem dritten Kapitel meines Bu­ches «Von Seelenrätsein», weil sie selber geneigt sind, die Sache viel oberflächlicher zu erklären. Aber selbst wenn man sich entschließen würde, zu sagen: Nun, vielleicht wissen es die Brentano-Schüler bes­ser, daß dies nicht der Grund war, aus dem Brentanoschen Nachlaß oder dadurch, daß sie ihm nahegestanden haben, so beweist der erste

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Band aus dem Nachlasse Franz Brentanos, der von dem Brentano­Schüler Alfred Kastil in ausgezeichneter Weise herausgegeben und ein­geleitet ist, doch wiederum dieselbe Seelenstininung bei Franz Bren­tano, welche ihn abgehalten hat, zu dem ersten Bande seiner Psycho­logie einen folgenden hinzuzufügen. In diesem ersten Bande des Bren­tanoschen Nachlasses ist im ersten Kapitel enthalten: «Die Sittenlehre Jesu nach den Evangelien»> durchaus schon geschrieben nach sei­nem Kirchenaustritt, lange nach seinem Kirchenaustritt. Im strengsten Sinne wollte er nichts gelten lassen, was nicht mit streng natur-wissenschaftlicher Gesinnung vereinbar ist. Das zweite Kapitel ist:

«Die Lehre Jesu von Gott und Welt und von der eigenen Person Jesu und Sendung nach den Evangelien.» Das dritte Kapitel ist besonders ausführlich und ist eine Kritik der Pascalschen Gedanken zur Apolo­gie des christlichen Glaubens. Dann, nach einem kurzen Einschiebsel über Nietzsche als Nachahmer Jesu, folgt noch als Anhang: Die Glau­benswahrheit in kurzer Darstellung ihres wesentlichen Inhaltes.

Es ist ungeheuer ergreifend, dieses Büchelchen über die Lehre Jesu von Franz Brentano vor sich zu haben, nachdem von allen möglichen Standpunkten im 19. Jahrhundert, von orthodoxen, halborthodoxen, freigeistigen, freisinnigen Standpunkten, von vollständig atheistischen Standpunkten aus über Jesus und seine Lehren geschrieben und ge­sprochen worden ist> wobei alles zu Hilfe genommen wurde> zum Beispiel von David Friedrich Strauß> was an Mythenkunde und so weiter da ist. Es ist ergreifend, zu sehen, wie der aus der Kirche ausgetretene, ausgezeichnete Philosoph Franz Brentano, nur sich stützend auf die Lehre der Evangelien selber, in seiner Art die Sitten­lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung charakterisiert, dann die Lehre Jesu von Gott, der Welt und Jesu eigener Sendung, dann die ganze Bedeutung der klichlichen Dogmenlehre und der Kirchenver­waltung, der Bedeutung der Kirche, wie sie, apologetisch von Pas­cal geschildert, vorliegt. Es ist ergreifend, wie da wiederum Franz Brentano in einer eindringlichen Weise als scharfsinniger Gegner Pascals auftritt und sich nun über den Katholizismus als solchen aus­spricht. Es ist deshalb ergreifend, weil wir hier den Brentano seiner Jugend vor uns haben mit all der Frömmigkeit, mit all der großen

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Fähigkeit, sich selbstverständlich in das Geistige hmeinzuleben, und doch auch wiederum den Mann der strengsten naturwissenschaft­lichen Gesinnung, der Gesinnung, die aus der naturwissenschaftlichen Methodik herauswächst, den Mann, dem zum Beispiel der sogenannte Modernismus natürlich nicht imponieren konnte, weil Brentano ein tiefer Geist ist und der Modernismus, auch der katholische Moder­rusmus, etwas Seichtes ist. Er hat sich also, trotzdem er von der Kir­che abgefallen war, nicht etwa irgendwie anerkennend über den Mo­dernismus ausgesprochen.

Es war ja im 19. Jahrhundert von Geistern, die glaubten, auf naturwissenschaftlichem Boden zu stehen, wie David Friedrich Strauß, im strengsten Sinne des Wortes die Frage gestellt worden: Sind wir noch Christen? Glauben wir noch an einen Gott? - Diese zwei Fragen hat David Friedrich Strauß, haben auch unzählige andere ge­stellt und verneint. Sie hatten eben nicht jene tiefe Schulung des Brentano. Ihr Erkenntnisleben war daher auch weniger tragisch. Sie kämpften weniger um die naturwissenschaftliche Methode, denn es wurde ihnen aus einer gewissen Oberflächlichkeit leichter, sich ihr hin-zugeben, als Franz Brentano, dem es schwer wurde, aus seiner Tiefe heraus. Dennoch hielt er diese naturwissenschaftliche Methode eben für absolut durch die Zeit geboten.

Ich stelle Ihnen dieses dar, weil ich glaube, daß man an dem Bei­spiel dieser Persönlichkeit, wenn man die reinen Tatsachen ihres inneren und äußeren Lebens nimmt, einen anschaulicheren Einblick in das Weben und Wesen der Zivilisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnen kann, als wenn ich das ganze nur abstrakt darstellen würde. Franz Brentanos Seelenverfassung ist so, daß man sagen muß, wenn man ihn zunächst als Psychologen ins Auge faßt:

Alles, was an Fähigkeiten in diesem Manne ist, tendiert eigentlich dahin, übersinnliche Erkenntnis zu entwickeln, damit das Seelische angeschaut werden kann. Hätte Brentano auch nur den zweiten Band seiner «Psychologie» schreiben wollen, so hätte er zur imaginativen Erkenntnis kommen müssen, und dann zur inspirierten und so weiter. Das wollte er nicht. Weil er das nicht wollte, unterließ er es ge­wissenhaft, den zweiten und den dritten Band zu schreiben. Er ist in

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gewisser Beziehung dennoch ein Opfer der naturwissenschaftlichen Methode geworden, ein ehrliches, gewissenhaftes Opfer. Und gerade so, wie nur übersinnliche Erkenntnis in dem Sinne, wie ich sie zum Beispiel beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?», zum wirklichen Seelenwesen vor­dringen kann, so kann auch nur solche übersinnliche Erkenntnis von dem, was die Naturwissenschaft bietet, zu demjenigen, was als all­waltende und webende geistige Welt vorhanden ist, vordringen.

Rein naturwissenschaftliche Astronomie weiß von Himmelskör­pern, die da draußen im Raume schweben. Sie analysiert höchstens mit der Spektralanalyse die Natur des Lichtes dieser Himmelskörper. Aber das alles sind ihr im Raume schwebende Kugeln. Das alles ist geistlos. Und geistlos ist der Inhalt der Zoologie, der Inhalt der Bio­logie, der Botanik, der Mineralienlehre. Die Naturwissenschaft muß vermöge ihrer Methode das Geistlose herausschälen und den Geist unberücksichtigt lassen. Geisteswissenschaft im anthroposophischen Sinne muß wiederum hinführen zum Geiste. Die übersinnliche Er­kenntnis, nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Welt überhaupt, führt zur Geistigkeit hin.

So wie Brentano nicht hat zum Seelenwesen herankommen können mit seiner streng naturwissenschaftlichen Gesinnung in seiner «Psy­chologie», ebensowenig konnte er an das Mysterium von Golgatha wirklich herankommen, als er die katholische Dogmatik verlassen hatte. Wie kann man an das Mysterium von Golgatha herankommen? Nur wenn man erfassen kann, daß die Welt durchwoben ist von einem übersinnlichen Geistigen. In diesem Übersinnlich-Geistigen ist eine Wesenheit, wie ich es Ihnen oftmals geschildert habe, der Christus, der als Christus-Wesenheit in dem Leib des Jesus von Nazareth lebte, als das Mysterium von Golgatha sich abspielte. Ohne eine Geistes­wissenschaft kommt man zu keinem anderen Verständnis als zu dem von der Persönlichkeit Jesu. Wie der göttliche Christus in dem Jesus gelebt hat, das kann nur anthroposophische Geisteswissenschaft ge­ben. Die wollte Franz Brentano nicht.

Aber so viel bewahrte er sich noch aus seinem katholischen Be­wußtsein heraus, daß der Jesus eine zentrale Bedeutung hat in der

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ganzen Erdenentwickelung. Das war ihm klar. Wie ihm klar war, daß die Seele unsterblich ist, er aber diese Unsterblichkeit erkenntnis-mäßig nicht finden konnte, so war ihm klar, daß der Jesus den Mittelpunkt der irdischen Entwickelung bildet. Aber er konnte den Übergang vom Jesus zum Christus nicht finden. Und so sehen wir, daß er gefühlsmäßig, willensmäßig in ungeheuer starker Weise er­griffen ist von der Bedeutung der Persönlichkeit Jesu und der Lehre Jesu. Nehmen Sie Sätze wie diesen: «Nicht überwunden», - wie etwa David Friedrich Strauß meint - «wenn man sie harmonisch deutet und auf ihre wesentlichen Züge achtet, ist die Lehre Jesu in der Geschichte, sondern in ihrer Vollkommenheit im Leben noch immer nicht erreicht. Es wird wegen der menschlichen Schwäche ihr noch harte Kämpfe kosten, den vollen Sieg zu erringen, aber wegen ihrer inneren Kraft unmöglich sein, daß sie jemals untergeht. Das Ge­wissen wird allezeit für das, was sie von Wahrheit und heiliger Schönheit enthält, Zeugnis geben, ja hat es schon in der vorchrist­lichen Zeit bei Heiden wie Juden und im asiatischen Orient, wie im europäischen Okzident getan, so daß die Sittenlehre Jesu nicht so­wohl dadurch einen mächtigen Fortschritt bezeichnet, daß sie ganz neue Gebote verkündete, als dadurch, daß Jesus sie durch das un­vergleichliche Beispiel, welches er in seinem Leben und Tode gab, in emer Weise veranschaulichte, die erst die Möglichkeit so erhabener Tugend voll begreiflich machte und so mit einem höheren Mut be­seelend zur Nachahmung fortriß. Für immer wird dies Beispiel vor-leuchten und keine Weissagung ist sicherer, als wenn man in diesem Sinne sagt: Jesus und kein Ende.» So der aus der Kirche ausge­tretene Philosoph, der ausgezeichnete Theologe Franz Brentano, der von dem Jesus zum Christus nur nicht kommen konnte wegen seiner naturwissenschaftlichen Gesinnung!

Vergleichen Sie diese schönen Worte über Jesus als den Mittel-punkt der Erdenentwickelung mit vielem, was von Theologen ge­schrieben ist, die in der Kirche geblieben sind, und bilden Sie sich ein Urteil darüber. Bilden Sie sich aber auch ein Urteil darüber, was es bedeutet, wenn eine Persönlichkeit von der Seelenverfassung, wie ich sie Ihnen charakterisiert habe, über die Weltanschauung Jesu das

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Folgende sagt: «Die Weltanschauung Jesu war also nicht bloß geo­zentrisch,» das heißt, nicht bloß auf die Erde hingeordnet, « sondern auch christozentrisch, und zwar in solcher Weise, daß um die Person des einen Menschen Jesus sich nicht bloß die ganze Erdgeschichte, sondern auch die der reinen Geister, der guten wie der bösen, ordnet und in jeder Hinsicht nur durch dle Zweckbeziehung zu ihm ihr Verständnis findet. Die Welt ist nicht bloß in Rücksicht auf den einen aliwaltenden Gott, sondern auch in Rücksicht auf diejenige Kreatur, die vor allen anderen sein Ebenbild ist, eine Monarchie zu nennen.»

So naht sich Franz Brentano der Persönlichkeit Jesu. - Aber den­noch, er kommt von dieser Persönlichkeit Jesu, von der er sagt, daß ihre Weltanschauung nicht bloß eine geozentrische, sondern eine christozentrische ist, von der er sagt, daß sich nach ihr richten nicht nur die Menschen auf der Erde, sondern auch höhere Geister, sowohl die guten wie die bösen, er kommt von der Persönlichkeit Jesu nicht zu der Wesenheit des Christus.

Und so klafft ein furchtbarer Widerspruch in ihm. Denn wohl fragt er sich: Wie steht es um diesen Menschen Jesus, um den sich die ganze Menschengeschichte dreht? - Es ist aber keine Idee in Franz Brentano, die in eine solche Realität auslaufen würde, daß der Chri­stus in dem Jesus wirklich erfaßt werden könnte. Denn nur der­jenige, der den Christus in dem Jesus erfaßt, kann ja daran denken, ihn in einer solchen Art zum Mittelpunkt zu machen.

Auch hier, trotzdem er aus religiösen Gründen heraus es wenig­stens zu emem schriftstellerischen Abschluß gebracht hat, den er dann aber nicht selbst mehr veröffentlicht hat, sondern den erst seine Schüler veröffentlicht haben, auch hier ist Franz Brentano nicht zum Ende des Strebens gekommen, obwohl er sozusagen unmittelbar an dem Tore stand, das er nur hätte aufzumachen brauchen, um zur Unsterblichkeit der Seele und auch zum Begreifen des Mysteriums von Golgatha zu kommen. Deshalb ist es ein so ungeheuer interes­santes Dokument, dieses Bücheichen von Franz Brentano «Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung», denn von dieser bleibenden Bedeutung hatte Franz Brentano wohl eine Vorstellung. Noch einmal, nachdem er die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung dargestellt

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hat als zweites Kapitel, noch einmal frägt er: Sind wir noch Chri­sten? Die Antwort wird davon abhängen - sagt er-, in welchem Sinne die Frage gestellt ist. - Und dann aber, nachdem er es eigentlich auf die moderne Bildung schiebt, daß eine wirkliche Christus4dee nicht ent­stehen kann, sagt er noch einmal: «Vielleicht wird einer die hier von mir ausgesprochenen Hoffnungen eitel nennen, weil der mächtige Ein­fluß, den Jesu Lehre und Beispiel auf die Menschheit geübt, wesent­lich damit zusammenhänge, daß man ihm eine göttliche Natur zuge­schrieben und so zu einem Glauben sich bekannt habe, an dem, nach meinem eigenen Zugeständnis, die Vorgeschrittensten schon heute nicht mehr festhalten.» Da kommt er, ich möchte sagen, ins Unklare hinein.

« Diese aber übersehen, daß die Möglichkeit solchen Einflusses so wenig erst mit dem Glauben an die Gottheit Jesu beginnt, daß viel­mehr gerade der Blick auf sein Beispiel, wie es in der Erzählung der Evangelien uns vorliegt, eines der kräftigsten Motive gewesen ist, die zum Glauben an das göttlich Überragende seiner Person geführt haben. Kein anderes... das ihm zur Seite gestelit werden könnte, und je mehr diese Jahrhunderte zu Jahrtausenden anwachsen, um so mehr wird dadurch etwas gegeben sein, was es auszeichnet und uns bei der eigenen Lebensführung vorleuchten läßt.»

Sie fühlen wiederum, wie nahe Franz Brentano an das Tor zur über­sinnlichen Welt herangekommen ist, und wie er zurückgehalten wor­den ist durch die mächtigste Führerin der neueren Zivilisation, durch die naturwissenschaftliche Methodik, durch die naturwissenschaftliche Gesinnung.

Und so darf man auch nach dieser Veröffentlichung aus Brentanos Nachlaß wohl sagen, was man auch nach seinen zu seinen Lebzeiten gedruckten Schriften sagen mußte: Franz Brentano steht da wie ein Geist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der mit jeder Phase seines Seelenlebens hingetrieben wird zu der Erfassung der übersinnlichen Welt, der aber sich diese Erfassung der übersinnlichen Welt durch die Naturwissenschaft hat verbieten lassen, wie er sich seinerzeit hat verbieten lassen die Kritik des Dogmas durch dieses Dogma selbst. So steht gerade Franz Brentano durch das, was er sich

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nicht hat erringen können, als eine leuchtende Persönlichkeit, als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts vor uns und lehrt uns vielleicht wie wenige andere erkennen, wie eigentlich das geistige Erbe des 19. Jahrhunderts, das in das 20. Jahrhundert hineingekommen ist, sich in seinen Wirkungen auf die Menschheitsentwickelung überhaupt verhält.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 8. Juli 1922

Ich habe in einer etwas ausführlicheren Weise von Franz Brentano gesprochen aus dem Grunde, weil ja unmittelbar die Tatsache vorliegt, daß das erste Werk dieses bedeutenden Philosophen, das die Schüler aus seinem Nachlasse veröffentlichten, ein Werk über das Leben Jesu, die Lehre Jesu war. Das gab den äußeren Anknüpfungspunkt. Aber ich wollte gerade mit der Darstellung dieses Philosophenlebens doch noch etwas Tieferes. Ich wollte an einem Menschen, der nicht bloß mit seinem Intellekt, nicht bloß mit seiner Wissenschaft, sondern der wirklich als ganzer Mensch ein Wahrheitssucher war, zeigen, wie eine so geartete Persönlichkeit sich in das geistige Leben der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinstellen mußte.

Franz Brentano ist 1838 geboren, er war also gerade in der Zeit Student, in welcher die naturwissenschaftliche Gesinnung innerhalb der modernen Zivilisation heraufkam, und Franz Brentano war Stu­dent, indem er durchaus frommer Katholik war, wie Sie gesehen ha­ben, der als frommer Katholik festhielt an der geistigen Welt, aller-dings nur so, wie das eben aus der katholischen Religionspraxis und der katholischen Theologie heraus möglich ist. Dabei ist dieser Mensch, der also auf diese Art hineingewachsen ist in ein gewisses selbstverständliches Erfassen der geistigen Welt, der Seelenunsterb­lichkeit, des Daseins Gottes und so weiter, als Wissenschafter, und zwar als der denkbar gewissenhafteste Wissenschafter hereingewach-sen in die Zeit, in der wissenschaftliches Denken alles war. So daß man mehr als bei irgendeiner anderen Persönlichkeit das Gefühl haben muß, wenn man gerade Franz Brentano kennt: In ihm hat man einen Menschen von tiefer Geistigkeit, der aber gegenüber der naturwissen­schaftlichen Gesinnung des 19. Jahrhunderts mit seiner Geistigkeit nicht aufkam, nicht durchdringen konnte bis zu einer wirklichen Er­fassung des geistigen Lebens. Ich kenne eigentlich keine Persönlich­keit der neueren Zeit, an der so charakteristisch die Notwendigkeit der anthroposophischen Weltauffassung hervortritt. Man möchte

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überall bei Franz Brentano sagen: Eigentlich brauchte er nur ein, zwei Schritte weiterzugehen, und er war bei der Anthroposophie. Er kam nicht zu ihr, weil er sich eben in dem, was naturwissenschaft­lich gang und gäbe war> halten wollte. Franz Brentano machte ge­rade durch das, was ich gestern als das Charakteristische seiner Per­sönlichkeit auch im Äußeren darstellte, durch das Würdevolle seines Auftretens, durch den Ernst, der in allem vorhanden war, was er nur aussprach, schon den Eindruck, als ob er eine Art Führerpersön­lichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte werden kön­nen.

Sie werden nun mit Recht sagen: Aber wie kommt es denn eigent­lich, daß diese Persönlichkeit in weitesten Kreisen ganz unbekannt geblieben ist? Franz Brentano ist eigentlich nur in einem engeren Schülerkreis bekanntgeworden. Alle diese Schüler sind Menschen, die die tiefgehendsten Anregungen von ihm erfahren haben. Man sieht das noch dem Wirken derjenigen an, die nun wiederum die Schüler jener Schüler sind, denn die sind es ja eigentlich, die heute noch da sind. Auf einen engeren Kreis hat Franz Brentano einen bedeuten­den Eindruck gemacht. Und ganz gewiß sind in diesem Schülerkreise die meisten ihm gegenüber so gesinnt, daß sie ihn als einen der an­regendsten, bedeutendsten Menschen für lange Jahrhunderte emp­finden.

Nun ist aber gerade der Umstand, daß Brentano in weitesten Krei­sen doch wiederum unbekannt geblieben ist, charakteristisch für die ganze Zivilisationsentwickelung des 19. Jahrhunderts. Man könnte ja manche Persönlichkeiten anführen, die nach der einen oder nach der anderen Richtung auch Repräsentanten des geistigen Lebens im 19. Jahrhundert sind. Aber eine so signifikante, eine so bezeichnende Persönlichkeit wie Franz Brentano kann man eigentlich nicht fin­den, wenn man noch so sehr sucht. Deshalb möchte ich sagen:

Gerade an Franz Brentano zeigt es sich, daß die Naturwissenschaft zwar in der Gestalt, die sie im 19. Jahrhundert angenommen hat, sich eine große Autorität verschaffen kann, daß sie aber trotz dieser großen Autorität geistige Führerschaft innerhalb des Ganzen der Kultur nicht ausüben kann. Dazu muß Naturwissenschaft erst zur Geisteswissenschaft

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heraufgebildet werden; dann hat sie alles das in sich, was wirklich mit der Geisteswissenschaft zusammen eine gewisse Führer­schaft für das geistige Leben der Menschheit antteten kann.

Um das einzusehen, müssen wir uns heute ein wenig an eine größere Perspektive halten. Wenn wir in die ältesten Zeiten der Menschheit zurückblicken, so wissen wir ja, daß da überall als allge­meine menschliche Fähigkeit eine Art traumhaften Helisehens vor­handen war, daß zu diesem traumhaften Hellsehen die Eingeweih­ten, die Initlierten der Mysterien, die höhere übersinnliche Erkennt­nis, aber auch die Erkenntnisse über die Sinneswelt dazugefügt haben

Wenn wir zurückgehen würden in sehr alte Zeiten der Mensch­heitsentwickelung, so würden wir keinen Unterschied finden in der Behandlung, ob es sich um Physisches oder um Übersinnliches han­delt. Von den Mysterienschulen, die im Grunde genommen zugleich Kirchen und Kunstanstalten waren, ist alles Geistesleben ausgegangen. Aber dieses Geistesleben hat in alten Zeiten im tiefsten Sinne alles menschliche Leben überhaupt beeinflußt, auch das staatliche, auch das wirtschaftliche Leben. Diejenigen, die im staatlichen Leben tätig wa­ren, haben sich ihre Ratschiäge bei den Mysterienpriestern geholt, aber auch diejenigen, die im Wirtschaftsleben irgendwie Impulse haben geben wollen, und eine Trennung zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Elemente hat es eigentlich in jenen alten Zei­ten nicht gegeben. Die Führer des religiösen Lebens waren die Füh­rer des geistigen Lebens überhaupt und waren auch die tonange­benden Leute in den Wissenschaften. Aber immer mehr und mehr hat sich die Entwickelung der Menschheit so gestaltet, daß diejenigen Strömungen des menschlichen Lebens, die ursprünglich eine Einheit bildeten, sich getrennt haben. Die Religion hat sich von der Wissen­schaft, von der Kunst abgesondert.

Das hat sich nur langsam und allmählich vollzogen. Wenn wir nacb Griechenland zurückschauen, so finden wir noch, daß es da nicht eine Naturwissenschaft in unserem Sffl gegeben hat und daneben etwa eine Philosophie; sondern die griechische Philosophie sprach auch über Naturwissenschaft, und eine getrennte Naturwissenschaft gab es nicht. Aber indem die Philosophie in Griechenland als etwas Selbständiges

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auftrat, hatte sich schon das eigentlich religiöse Element von dieser Philosophie abgesondert. Man holte zwar auch noch aus den Mysterien die Wahrheiten über das Tiefste; allein man kritisierte schon das, was die Mysterien gaben in Griechenland, namentlich im späteren Griechenland, von dem Standpunkte der philosophischen Vernunft aus. Aber die religiöse Offenbarung pflanzte sich doch fort, und auch als das Mysterium von Golgatha auftrat, war es im wesentlichen die religiöse Offenbarung, welche sich anschickte, dieses Mysterium zu verstehen. Was auch noch in den ersten Jahrhunderten innerhalb der europäischen Zivilisation an verständiger Theologie vorhanden war, davon machen sich ja die Menschen heute keine rechte Vorstellung mehr; sie nennen es abfällig «Gnosis» und dergleichen. Aber in dieser Gnosis war ein weitgehendes geistiges Verständnis vorhanden, und man hatte durchaus das Bewußtsein: Man muß die geistigen Angelegenheiten ebenso verstehen, wie man heute meinet­willen die Schwerkraft oder die Erscheinungen des Lichtes oder ir­gend etwas anderes physikalisch versteht. Man hatte nicht das Be­wußtsein, daß es eine Wissenschaft abgetrennt vom religiösen Leben gibt. Auch auf christlichem Boden war das durchaus die Gesinnung der ersten Kirchenväter, der ersten großen Lehrer des Christentums, daß sie das Wissen als etwas Einheitliches behandelt haben. Gewiß, die griechische Absonderung des religiösen Lebens war schon da, aber man stellte in die Behandlung aller geistigen Angelegenheiten sowohl die Betrachtung des Religiösen wie die vernünftigen Betrach­tungen des bloß Physikalischen hinein. Das wurde erst im Mittelalter anders. Im Mittelalter entstand die Scholastik, die nun eine strenge Trennung machte - ich habe gestern schon darauf hingewiesen - zwi­schen menschlicher Wissenschaft und dem, was eigentliches Wissen vom Geistigen ist. Dieses konnte nicht durch Anwendung von selb­ständigen menschlichen Erkenntniskräften errungen werden, das konnte nur durch Offenbarung, durch die Annahme der Offenbarun­gen errungen werden. Und immer mehr und mehr war es dazu ge­kommen, daß man sich sagte: Die höchsten Wahrheiten kann der Mensch durch seine eigene Erkenntniskraft nicht durchdringen, die muß er hinnehmen, so wie sie von der Kirche als Offenbarung geliefert

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werden. Die menschliche Wissenschaft kann sich nur über das, was die Sinne geben, ausbreiten und einige Schlüsse ziehen aus dem, was die Sinne als Wahrheiten geben, wie ich schon gestern sagte.

So trennte man streng eine sich über die Sinneswelt ausbreitende Wissenschaft und dasjenige, was Inhalt der Offenbarung war. Nun sind ja für die Entwickelung der neueren Menschheit in vieler Beziehung die letzten drei bis fünf Jahrhunderte außerordentlich bedeutsam ge­worden. Wenn man einem Menschen jener älteren Zeiten, wo Reli­gion und Wissenschaft eines war, davon gesprochen hätte, daß die Religion nicht auf einem Erkennen des Menschen beruhte, so hätte er das als einen Unsinn angesehen; denn alle Religionen sind ursprüng­lich aus dem menschlichen Erkennen gekommen. Nur hat man ge­sagt: Wenn der Mensch sich auf sein Bewußtsein beschränkt, wie es ihm für den Alltag gegeben ist, dann gelangt er nicht zu den höch­sten Wahrheiten, man muß dieses Bewußtsein erst zu einer höheren Stufe emporheben. Von dem alten Standpunkte aus sagte man gerade so, wie man heute gezwungen ist zu sagen, etwa gemäß dem, was ich in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teile meiner «Geheimwissenschaft im Um­riß» dargestellt habe: daß der Mensch durch besondere Behandlung seiner Seeleniähigkeiten aufsteigen muß, um die höheren Erkennt­nisse zu erringen. - So sagte man das auch in alten Zeiten. Man war sich bewußt: Mit dem gewöhnlichen Bewußtsein kann man nur das­jenige erkennen, was sich um den Menschen herum ausbreitet; aber man kann dieses Bewußtsein weiter ausbilden und kann so zu über­sinnlichen Wahrheiten kommen. Also in jenen alten Zeiten hätte man nicht davon gesprochen, daß irgendwo ohne Zutun des Menschen eine Offenbarung an ihn herangekommen wäre. Das hätte man als einen Unsinn empfunden. Und so stammen auch alle Dogmen, die in den verschiedenen kirchlichen Lehren enthalten sind, doch ursprünglich von solchen Initiationswahrheiten her. Heute sagt der Mensch leicht:

Dogmen wie die Trinität oder wie die Inkarnation, die müssen ge­offenbart sein, an die kann man nicht mit den menschlichen Er­kenntnisfähigkeiten herankommen. Aber sie sind ursprünglich doch aus den menschlichen Erkenntnlsfähigkeiten heraus entstanden.

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Und im Mittelalter war es so, daß die Menschen übergegangen waren zu einem stärkeren Gebrauch ihres Intellektes. Das ist zum Beispiel gerade bei der Scholastik das Charakteristische, daß der In­tellekt in großartigem Sinne gebraucht worden ist, aber nur auf die sinnliche Welt angewendet wurde, und daß manin diesem Entwicke­lungsstadium der Menschheit sich nicht mehr fähig fühlte, höhere Erkenntniskräfte zu entwickeln, mindestens in den Kreisen nicht, in denen sich die alten Dogmen als Offenbarungslehre fortgepflan:zt hatten. Da lehnte man es ab, dem Menschen durch höhere Erkennt­nisfähigkeiten zur übersinnlichen Welt hin den Weg zu bahnen. So übernahm man das, was in alten Zeiten gar wohl durch eine wirk­liche menschliche Erkenntnis errungen worden war, durch Tradition, durch geschichtliche Überlieferung und sagte, man dürfe es eben nicht mit menschlicher Wissenschaft untersuchen.

In diese Stellung zur Erkenntnis hatte man sich allmählich hinein-gefunden. Man gewöhnte sich nach und nach, das Glauben zu nen­nen, was einstmals ein Wissen war, zu dem man sich aber nicht mehr emporwagte; und Wissen nannte man nur dasjenige, was eben durch menschliche Erkenntnisfähigkeiten für die sinnliche Welt gewonnen wird. Diese Lehre hatte sich insbesondere innerhalb des Katholizis­mus immer stärker und stärker herausgebildet. Aber wie ich Ihnen schon gestern sagte: Im Grunde ist alle moderne naturwissenschaft­liche Gesinnung auch nichts anderes als ein Kind dieser Scholastik. Man ist nur dabei stehengeblieben, zu sagen, der menschliche Intellekt könne eben nur über die Natur Kenntnisse erlangen, und künirnerte sich nicht um die übersinnlichen Erkenntnisse. Man sagte, diese könne der Mensch nicht durch seine Fähigkeiten erringen. Aber man über­ließ es dann dem Glauben, die alten Erkenntnisse als überlieferte Dogmen anzunehmen oder auch nicht.

Nachdem schon das 18. Jahrhundert vorangegangen war in der Pro­klamierung der bloß sinnlichen Erkenntnis und dessen, was man durch Vernunftschiüsse aus ihr gewinnen kann, bildete sich besonders im 19. Jahrhundert die Tendenz heraus, eigentlich nur das als Wissen­schaft gelten zu lassen, was sich auf diese Art durch Anwendung der menschlichen Fähigkeiten auf die sinnliche Welt gewinnen läßt. Und

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in dieser Beziehung hat ja das 19. Jahrhundert ungeheuer viel ge­leistet, und es wird auch jetzt noch fortwährend durch Anwendung der naturwissenschaftlichen Methoden Großes auf dem Gebiete der naturwissenschaftlichen Forschung geleistet.

Ich möchte sagen, der letzte öffentlich hervorgetretene Aufstieg in die geistige Welt wurde um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert von jener Bewegung versucht, die man den deutschen Idealismus nennt. Diesem deutschen Idealismus war ja ein Philosoph wie Kant vorangegangen, der nun auch philosophisch die Trennung zwischen Wissen und Glauben aussprechen wollte. Dann waren jene energi­schen Denker gekommen, Fichte, £Chelling> Hegel, und diese stehen da, Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, wie letzte gewaltige Pfei­1er, weil sie noch mit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit haben weitergehen wollen als bloß bis zur Sinneserkenntnis und dem, was sich aus ihr erschließen läßt.

Fichte, Schelling und Hegel sind voneinander sehr verschieden. Fichte ging von dem menschlichen Ich aus, entwickelte eine unge­heure Kraft gerade in der Erfassung des menschlichen Ich, und suchte vom menschlichen Ich aus erkenntnismäßig sich die Welt zu erobern. Schelling entwickelte eine Art phantasievollen Aufbauens einer Welt-anschauung. Dieser Aufschwung in einem phantasievollen Gedanken-aufbauen führte ihn sogar bis nahe an das Verständnis der Mysterien. Hegel glaubte an den Gedanken selber, und er glaubte, daß im Ge­danken, den der Mensch erfassen kann, unmittelbar das Ewige lebt. Es ist ein schöner Gedanke, wenn Hegel sagte, er wolle den Geist er­kennen und ihn erobern vom Gesichtspunkte des Gedankens aus. Allein, so recht Geschmack an Hegel kann doch nur derjenige finden, der das allgemeine Streben bei Hegel auffaßt, dieses Streben nach dem Geiste hin. Denn wenn man Hegel liest - die meisten Menschen hö­ren ja bald zu lesen auf -, so ist er, wenn er seine Gedanken an­führt, trotzdem er an die Geistigkeit des Gedankens glaubt, doch ein furchtbar abstrakter Geist. Und es ist schon so, daß, obzwar der Im­puls, der in Hegel nach dem Geiste hin lebte, ein ungeheuer starker war, Hegel der Menschheit doch nichts anderes übergeben hat als ein Inventar von abstrakten Begriffen.

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Warum war das? Es ist ja etwas ungeheuer Tragisches, daß diese kernigen, gewaltigen Denker, Fichte, Schelllng, Hegel, doch eigentlich nicht bis zur Geistigkeit vordrangen.

Das liegt daran, daß in der allgemeinen Zivilisation eben die Menschheit dazumal noch nicht reif war, die Tore in die geistige Welt wirklich zu öffnen. Fichte, Schelling und Hegel kamen eben bloß bis zum Gedanken. Aber was ist der Gedanke, der im Menschen im ge­wöhnlichen Bewußtsein lebt?

Erinnern Sie sich an das, was ich vor einiger Zeit ausgesprochen habe. Wenn wir das Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tode verfolgen, so haben wir den Menschen vor uns als lebendes Wesen; Seele und Geist durchwärmen und durchleuchten das, was als physisches Wesen vor uns steht. Wenn der Mensch für die physische Welt gestorben ist, dann haben wir in der physischen Welt den Leich­nam. Wir begraben oder verbrennen diesen Leichnam. Denken Sie nur, welch ein gewaltiger Unterschied besteht für ein unbefangenes menschliches Betrachten des Lebens zwischen einem voll lebendigen Menschen und einem Leichnam. Fassen Sie diesen Unterschied nur einmal mit Ihrem Herzen auf, dann werden Sie nachfühlen können, was der Geisteswissenschafter sagen muß in bezug auf eine andere Phase des Lebens, wenn man den Menschen betrachtet zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, wie er als seelisch-geistiges Wesen in einer seelisch-geistigen Welt ist, wie er sich da entwickelt, wie er, während man hier auf der Erde alt wird, in der geistigen Welt immer jünger und jünger wird bis zu dem Momente hin, wo man den Weg herunterfindet zu einer physischen Verkörperung. Was da im Men­schen lebt, das kann man ebenso mit den höheren geistigen Kräften auffassen, wie man dasjenige, was in einem physischen Menschen lebt, auffassen kann. Und dann kann man sich fragen: Was ist denn von dem geblieben, wenn der Mensch nun geboren worden ist, was sich der Anschauung dargestellt hat in der geistigen Welt droben, bevor das Seelisch-Geistige heruntergestiegen ist? Da ist geblieben das im Menschen - wahrnehmbar -, was seine Gedanken sind. Aber diese Ge­danken, die dann der Mensch hier auf der Erde durch den physischen Leib in sich trägt, die sind der Leichnam derjenigen Gedanken, die

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dem Menschen zukommen, wenn er zwischen dem Tod und einer neuen Geburt eben in der geistigen und in der seelischen Welt lebt. Die abstrakten Gedanken, die wir hier haben, sind gegenüber dem Lebendigen, das im Menschen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt ist, durchaus ein Leichnam, gerade so, wie es der Leichnam im Physischen gegenüber dem lebendigen Menschen ist, bevor er für die physische Welt gestorben ist.

Wer nicht den Aufschwung vollziehen will zu der Belebung der abstrakten Gedanken, der läßt mit der gewöhnlichen Gedankenwelt nichts anderes in sich leben als den Leichnam dessen, was in ihm war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist. Und nur dieser Leich­nam der Gedanken lebte in Fichte, Schelling und Hegel, so großartig auch diese Gedanken sind. Man möchte sagen: In alten Zeiten, als noch Religion, Wissenschaft und Kunst eines war, da lebte in den irdischen Gedanken noch etwas fort von dem Lebendigen, das dem Menschen eignet in der geistigen Welt. Sogar noch bei Plato kann man in seinem Ideenschwung wahrnehmen, wie etwas Überirdisches fortlebte in ihm. Das wird immer weniger und weniger. Die Men­schen behalten die Kunde über das Überirdische als Offenbarung. Aber der Mensch hätte ja sonst nicht frei werden können, er hätte die Freiheit nicht entwickeln können. Der Mensch kommt immer mehr dazu, in seinem Denken nichts anderes zu haben als den Leichnam seines vorgeburtlichen inneren Lebens. Und so wie man manchmal bei gewissen Menschen, wenn sie gestorben sind, in dem Leichnam für einige Tage noch eine ungeheure Frische findet, so war es bei den Leichnam-Gedanken von Fichte, Schelling und Hegel: Sie waren frisch, aber sie waren dennoch eben jene Leichen des Übersinnlichen, von denen eine wirkliche Geisteswissenschaft sprechen muß.

Aber ich frage Sie nun: Glauben Sie, daß uns jemals ein mensch­licher Leichnam in der Welt begegnen könnte, wenn es nicht auch lebendige Menschen geben würde? Wer einem menschlichen Leich­nam begegnet, weiß, daß dieser Leichnam einmal gelebt hat. Und so wird einer, der wirklich unbefangen unser Denken, unser abstraktes, unser totes, unser Leichnam-Denken betrachtet, darauf kommen, daß

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das auch einmal gelebt hat, nämlich bevor der Mensch herunter­gestiegen ist in einen physischen Leib.

Aber auch diese Erkenntnis war dem Menschen schon verloren­gegangen, und so waren die Menschen Erleber des toten Denkens, und alles, was ihnen vom lebendigen Denken zukam, verehi:ten sie als Offenbarung, wenn sie überhaupt noch einen Wert darauf legten. Das war insbesondere auch erhärtet worden durch die großen naturwissen­schaftlichen Fortschritte, die ja dann in derjenigen Zeit kamen, von der ich Ihnen schon gesprochen habe, in der Franz Brentano jung war.

Zu mancherlei Eigentümlichkeiten Franz Brentanos muß ich heute noch zwei hinzufügen. Gestern wollte ich mehr die Persönlichkeit charakterisieren, heute will ich mehr auf die Zeitentwickelung hin-weisen. Daher muß die heutige Betrachtung etwas allgemeiner sein.

Neben all den Eigenschaften, die ich Ihnen gestern von diesem aus dem Katholizismus herausgewachsenen, dann aber zum allgemeinen Philosophen gewordenen Franz Brentano angeführt habe, war ihm eine ungeheure Antipathie gegenüber Fichte, Schelling und Hegel eigen. Er hat nicht so geschimpft, wie £chopenhauer über Fichte, Schelling und Hegel geschimpft hat, weil er wohl eine bessere Erziehung hatte; aber harte Worte, die nur eben vornehmer ausgesprochen wurden - nicht in dem manchmal wirklich abscheulichen Schopenhauerschen Ton -, harte Worte über Fichte, Schelling und Hegel hat Franz Brentano schon auch ausgesprochen. Nur muß man einsehen, daß ein Mensch, der aus dem Katholizismus zu einer neuen Anschauung herauswächst, im Grunde genommen gar nicht anders zu Fichte, Schelling und Hegel stehen kann, als Franz Brentano gestanden hat. Was etwa für Hegel höchste menschliche Erkenntniskraft, das Denken, ist, das will man ja, wenn man aus der Scholastik herausgewachsen ist, nur auf die Sinnenwelt angewandt wissen, und da ist einem dieses Denken nur ein Hilfsmittel.

Denken Sie doch nur einmal: Man kommt mit diesem Denkleich­nam an die Sinnenwelt heran, man erfaßt zunächst die leblose Natur. Die lebendige Natur kann man ohnedies nicht mit diesem Denken er­fassen. Für die leblose Natur ist dieser Denkleichnam gerade recht.

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Aber Hegel wollte die ganze Welt mit all ihren Geheimnissen mit diesem Denkleichnam umfassen. Sie finden daher irgendwelche Lehre über Unsterblichkeit oder Gott bei Hegel nicht, sondern was Sie finden, ist etwas, was Ihnen eigentlich auch schon ganz merkwürdig erscheinen wird.

#Bild s. 127

Die Logik ist ein Inventar sämtlicher Begriffe, die der Mensch ent­wickeln kann, aber nur derjenigen Begriffe, die abstrakt sind. Diese Logik beginnt beim Sein, geht zum Nichts, zum Werden. Ich weiß schon, daß, wenn ich die ganze Liste anführen würde, Sie aus der Haut fahren würden, weil Sie in all diesen Dingen nichts finden würden von dem, was Sie eigentlich suchen. Und Hegel sagt dennoch:

Das, was da im Menschen wieder auftaucht, wenn er Sein, Nichts, Werden, Dasein und so weiter als abstrakte Begriffe entwickelt, das ist der Gott vor der Erschaffung der Welt.

Nehmen Sie die Hegelsche Logik, es sind lauter abstrakte Begriffe vom Anfang bis zum Ende, denn der letzte Begriff ist der des Zweckes. Mit dem können Sie auch noch nicht viel anfangen. Von irgendeiner Seelenunsterblichkeit, von einem Dasein Gottes in dem Sinne, wie Sie es als berechtigt anerkennen, ist gar nichts da, sondern ein Inventar von lauter abstrakten Begriffen. Aber denken Sie sich diese abstrakten Begriffe nun als vorhanden, bevor es eine Natur gibt, bevor es Men­schen gab und so weiter. Das ist der Gott vor der Erschaffung der Welt, sagt Hegel. Die Logik ist der Gott vor der Erschaffung der Welt. Und diese Logik hat dann die Natur erschaffen und ist in der Natur zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen.

Also zuerst die Logik, die, nach Hegel, der Gott vor der Erschaffung der Welt ist. Dann geht sie in ihr Anderssein über und kommt zu sich selbst, zu ihrem Selbstbewußtsein; da wird sie der Menschen-geist. Und das ganze System schließt dann als Höchstes mit Kunst, Religion und Wissenschaft. Das sind die drei höchsten Ausgestaltungen

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des Geistes. So daß also in Religion, Kunst und Wissenschaft der Gott eben innerhalb der Erde weiterlebt. Nichts anderes, als was auf der Erde im gewöhnlichen Erleben ist, registriert Hegel. Er kün­det also eigentlich nur den Geist, der gestorben ist, nicht den leben­den Geist.

Das muß abgelehnt werden von solchen Menschen, die nun im neuzeitlichen Sinne Wissenschaft suchen, aus naturwissenschaftlicher Erziehung heraus. Es muß deshalb abgelehnt werden, weil, wenn man mit den toten Begriffen in die Natur hinausdringt, die Sache ja doch nicht so geht, daß man bei den Abstraktionen bleibt. Selbst wenn Sie noch so schlecht botanisch erzogen werden, so daß Sie sich alle schönen Blumen in die Zahl der Staubgeiaße, in die Beschreibung des Samens, des Fruchtknotens und so weiter verwandeln, selbst wenn Sie noch so abstrakte Begriffe im Kopfe haben und dann mit der Botani­siertrommel hinausgehen und nichts anderes zurückbringen als ab­strakte Begriffe, so sind wenigstens die welken Blumen noch da, und die sind noch immer konkreter als die abstraktesten Begriffe. Und wenn Sie als Chemiker im Laboratorium stehen, ja, Sie mögen noch so viel von allerlei Atomprozessen und dergleichen phantasieren, im­merhin können Sie doch nicht umhin, was in der Retorte vorgeht, auch zu beschreiben, wenn Sie eine bestimmte Substanz drinnen haben und darunter die Lampe, die diese Substanz zum Verdunsten, Schmel­zen und so weiter bringt. Sie müssen irgend etwas, was eine Sache ist, doch noch beschreiben. Und schließlich, wenn in der Optik Ihnen die Physiker auch aufzeichnen, wie die Lichtstrahlen sich brechen, und alles das beschreiben, was die Lichtstrahlen nach der Ansicht der Physiker noch tun, so werden Sie doch immer wieder, wenn jene schöne Zeichnung gemacht wird, die zeigt, wie die Lichtstrahlen durch ein Prisma gehen, abgelenkt werden in verschiedener Weise, Sie werden doch immer wieder an die Farben noch erinnert werden. Und wenn auch in der physikalischen Farbenerklärung alle Farbe schon längst ausgedunstet ist, Sie werden doch immer noch an die Farben erinnert. Aber wenn man mit dem ganz abstrakten Begriffs­system, mit der ganz abstrakten Logik das Geistige erfassen will, so bleibt einem eben nichts übrig als die abstrakte Logik.

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Das konnte ein Mensch wie Franz Brentano nicht als eine wirkliche Beschreibung des Geistes annehmen, übrigens auch die anderen Scho­lastiker nicht, denn die haben sie wenigstens noch traditionell als Offenbarung. Daher stand Brentano als Student in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem wirklich schier unbezähnibaren Wahr­heits- und Wissensdrang, mit einer inneren wissenschaftlichen Ge­wissenhaftigkeit sondergleichen soin seiner Zeit darinnen, daß er von denen, die noch die letzten Pliilosophengrößen der neueren Zivili­sation waren, nichts empfangen konnte. Nur von der strengen natur-wissenschaftlichen Methode konnte er etwas halten. Im Herzen trug er, was ihm der Katholizismus mit seiner Theologie gegeben hatte. Das alles brachte er aber nicht zu einer neuen Erfassung des Gei­stigen.

Aber gerade dabei ist anziehend, wie unendlich wahrhaftig dieser Mensch war. Denn - und damit komme ich auf das andere, das ich anführte - wenn wir den Menschen betrachten, wie er hereingeboren wird in die physische Welt, wie er die ersten zappelnden Bewe­gungen als Kind macht, wie wir in den ersten zappelnden Kindes-bewegungen in ungeschickter Art die Enifaltung dessen sehen, was ungeheuer weise war, bevor es heruntergestiegen ist in die physische Welt, dann sagen wir uns, wenn wir Geisteswissenschaft richtig ver­stehen: Wir sehen, wie der kindliche Hauptesorganismus geboren wird. In ihm haben wir ein Abbild des Kosmos. Nur an der Schädelbasis stemmen sich gewissermaßen die irdischen Kräfte entgegen. Wenn die Schädelbasis ebenso abgerundet wäre, wie der Kopf nach oben abge­rundet ist, so wäre das Haupt durchaus ein Abbild des Kosmos. Das

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bringt der Mensch mit. Das Haupt können wir durchaus, wenn wir es als physischen Leib betrachten, als ein Abbild des Kosmos ansehen. Das ist es wirklich.

Man hat es mir übelgenommen, daß ich auch öffentlich eine wich­tige Tatsache erwähnt habe, aber ohne daß solche Tatsachen erwähnt werden, kann man eigentlich nicht an die Weltzusammenhänge kom­men: Ich habe öffentlich dargestellt, wie im menschlichen Gehirn eine gewisse Anordnung der Furchenbildung ist, gewisse Zentren sind und so weiter. Auch bis in diese kleinsten Einzelheiten ist dieses mensch­liche Gehirn ein Abbild des Sternenhimmeis für den Zeitpunkt, da der Mensch geboren ist. Im Haupte sehen wir ein Abbild des Kosmos, den wir äußerlich sinnlich auch sehen, wenn auch die meisten Men­schen sein Geistiges nicht wahrnehmen. Im Brustorganismus, in dem, was hauptsächlich dem rhythmischen System zugrunde liegt, sehen wir, wie die Rundung des Kosmos zwar durch die Anpassung an die Erde schon etwas überwunden ist, aber wer den Brustorganismus mit seiner eigentümlichen Bildung des Rückgrates mit den Rippen verfolgt und sieht, wie dieser Brustorganismus in der Atmung mit dem Kosmos zusammenhängt, der kann, wenn auch schon sehr ver­ändert, in dem Brust-, in dem rhythmischen Organismus doch noch etwas wie ein Nachbild des Kosmos sehen. Nicht aber mehr in dem Stoffwechsel-Gliedmaßenorganismus. Da können Sie unmöglich etwas sehen, was dem Kosmos nachgebildet ist. Nun hängt die Kopfbil-dung mit dem Denken zusammen, der Brustorganismus, der rhyth­mische Organismus mit dem Fühlen, und der Stoffwechsei-Gliedma­ßenorganismus mit dem Wollen.

Warum ist denn gerade der Stoffwechsel-Gliedmaßenorganismus, der eigentlich das Irdischste an dem Menschen darstellt, der Träger des Wollens? Das hängt so zusammen: Im menschlichen Haupte haben wir ein sehr getreues Abbild des Kosmos. Da ist das Seelisch-Gei­stige in den Kopf ausgeflossen, in die Bildungskräfte hineinge­flos sen. Man möchte sagen: Der Mensch hat gelernt, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist, von den kosmischen Kräften, und hat sein Haupt darnach gebildet. Ein wenig bildet er noch den Brust-Organismus darnach, aber gar nicht mehr den Gliedmaßenorganismus.

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In diesem ist das Wollen. So daß, wenn man den menschlichen äuße­ren Organismus ansieht, das Denken dem Haupte zugeordnet wer­den muß, das Fühlen dem mittleren Menschen und das Wollen dem Stoffwechsel-Gliedmaßenorganismus. In dem, was wirklich das Nied­rigste ist, der Stoffwechsel und die Gliedmaßen, erhält sich aber auch das Geistige am besten, so daß wir in unserem Denken nur einen Leichnam dessen haben, was wir waren, bevor wir heruntergestiegen sind. In unserem Fühlen haben wir schon etwas mehr, aber das Füh­len bleibt ja auch traumhaft, wie Sie wissen, und das Wollen, das übersieht man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein gar nicht mehr. Das Wollen bleibt ganz im Unbewußten, aber da drinnen ist noch am meisten Lebendiges von dem, was wir waren, bevor wir herunter-gestiegen sind auf die Erde. Wenn wir als Kind heranentwickelt werden, ist im Wollen am meisten von unserer unsterblichen Seele.

Nun, die meisten Menschen machen sich nicht viele Skrupel, sie sagen: Der Mensch hat in sich die drei Seelenkräfte, das Denken, das

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Fühlen und das Wollen. Sie wissen ja, diese drei Seeientätigkeiten werden aufgezählt, so wie wenn sie für das gewöhnliche Bewußtsein vorhanden wären, während wir erst in der Anthroposophie darauf aufmerksam machen müssen: Eigentlich hat man ja nur das Denken als etwas vollständig Waches. Das Fühlen ist schon so, wie die Träume im Menschen, und von dem Wollen weiß der Mensch überhaupt nichts. Ich muß immer wieder betonen: Wenn wir auch nur einen Arm heben wollen - wie der Gedanke: «Ich hebe den Arm», hin­einströmt in den Organismus und zum Wollen wird, so daß dann die Armhebung wirklich stattfindet, davon weiß der Mensch nichts, das verschläft er im wachen Zustand ebenso, wie er sonst die Dinge ver­schläft vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Statt daß also die Men­schen sagen: Wir haben in uns das wache Denken, das träumende Fühlen, das schlafende Wollen -, sagen sie: Wir haben Denken, Füh­len und Wollen, die ganz gleichbedeutend nebeneinander liegen sollen.

Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der ein unendliches Wahr­heitsgefühl hat, und der mit der modernen Naturwissenschaft geht, also nur das Denken anwendet. Der moderne Naturforscher, ob er nun mikroskopiert, ob er mit dem Teleskop sich den Kosmos an-schaut, oder ob er mit dem Spektralapparat Astrophysik treibt, er wendet sich immer nur an das bewußte Denken. Daher wurde es auch für Franz Brentano wie ein Axiom, daß alles Unbewußte abge­wiesen werden mußte. Er wollte nur bei dem gewöhnlichen be­wußten Denken bleiben, und für das wollte er nicht höhere Erkennt­nisfähigkeiten ausbilden. Was könnten wir eigentlich von einem sol­chen Menschen erwarten, wenn er von der Seele spricht, wenn er als Psychologe sprechen will? Man könnte eigentlich erwarten, wenn er sich nur an das Bewußte hält, daß er in der Psychologie von dem Wollen gar nicht spricht. Man könnte erwarten, daß er das Wollen ganz ausstreicht, dem Fühlen gegenüber recht unsicher wird, und eigentlich nur das Denken richtig behandelt.

Darauf sind andere, oberflächlichere Geister nicht gekommen. Franz Brentanos Psychologie teilt die Seelenfiihigkeiten nicht in Denken, Fühlen und Wollen ein, sondern in Vorstellen, Urteilen und in die Phä­nomene von Liebe und Haß, das heißt in die Phänomene von Sympathie

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und Antipathie, das heißt des Fühlens. Wollen finden Sie über­haupt nicht bei ihm. Das richtige aktive Wollen fehlt in der Brentano­schen Psychologie, weil er eben grundehrlicher Wahrheitssucher war, und sich eigentlich hat sagen müssen: Das Wollen finde ich eben nicht.

Es hat wiederum etwas ungeheuer Ergreifendes, zu sehen, wie un­endlich aufrichtig und ehrlich diese Persönlichkeit eigentlich ist. Es fehlt das Wollen in Brentanos Psychologie, denn das Urteilen und Vor­stellen trennt er, damit er nun auch drei Glieder des Seelenlebens hat; aber Urteilen und Vorstellen fällt ja zusammen in bezug auf die See­lenfähigkeit, so daß er eigentlich nur zwei hat.

Nun denken Sie an die Folge dessen, was da bei Brentano auf-tritt. Was hat er denn in Realität nicht im Menschen? Dadurch, daß er moderner Naturwissenschafter geworden ist und auf nichts etwas gegeben hat, was sich nicht dem bewußten Denken darbietet nach der raturwissenschaftlichen Methode, dadurch schaltet er aus der mensch­lichen Seele das Wollen aus. Und was schaltet er damit aus? Gerade dasjenige, was wir als Lebendes aus unserem Zustande, bevor wir heruntersteigen in einen physischen Leib, mitbringen.

Brentano war vor eine Wissenschaft gestellt, die ihm gerade das Ewige in der Seele ausschaltete. Die anderen Psychologen haben das nicht empfunden. Er hat es empfunden, und deshalb ergab sich für ihn der ungeheure Abgrund zwischen dem, was ihm einstmals Offenba­rungslehre war, die ihm von dem Ewigen der Menschenseele sprach, und dem, was er nach seiner naturwissenschaftlichen Methode allein finden konnte, was ihm sogar das Wollen und damit das Ewige aus der Menschenseele wegstrich.

So ist Brentano schon eine Persönlichkeit, die charakteristisch ist für alles das, was das 19. Jahrhundert dem Menschen eben nicht geben konnte. Denn die Tore nach der geistigen Welt mußten geöffiiet werden. Und das ist der Grund, warum ich Ihnen gerade von Franz Brentano gesprochen habe, der 1917 in Zürich gestorben ist, weil ich in ihm den charakteristischsten aller derjenigen Philosophen des 19. Jahrhunderts sehe, die schon ein ernstes Wahrheitsstreben hatten, die aber festgehalten wurden durch die Fesseln der naturwissenschaft­lichen Gesinnung, die nicht herauf wollten zu einer geistigen Erfassung

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der Welt, dabei aber überall zeigen, daß die Zeit herangekom­men ist, wo man diese geistige Auffassung braucht. Was ist denn schließlich der Unterschied zwischen dem, was nun Geisteswissen­schaft im anthroposophischen Sinne wirklich will, und dem tragischen Streben eines solchen Menschen, wie Franz Brentano einer war? Daß F?anz Brentano mit ungeheurem Scharfsinn überall die Begriffe heran­getragen hat, die man eben aus dem gewöhnlichen Bewußtsein her­aus bekommen kann, und gesagt hat: Da muß man stehenbleiben. -Aber die Erkenntnis ist nicht vollendet; vergeblich strebt man so nach einer wirklichen Erkenntnis. Niemals aber hat er sich damit zu­frieden gegeben, immer wieder wollte er heraus. Sein Naturwissen­schaftliches ließ ihn nur nicht herauskommen. Und das ist bis zu sei­nem Tode so geblieben. Man möchte sagen: Geisteswissenschaft mußte dort anfangen, wo Brentano aufgehört hatte, mußte den Schritt wagen, von dem gewöhnlichen Bewußtsein in das höhere Be­wußtsein hineinzukommen. Deshalb ist er so außerordentlich interes­sant, eben der interessanteste Philosoph von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn an ihm war wirklich das Wahrheitsstreben etwas Persönliches. Man muß schon sagen: Will man an einem Sym­ptom studieren, was ein Mensch erleben mußte an der Wissenschafts-entwickelung, an der geistigen Entwickelung in der neuesten Zeit, so kann man diesen Neffen des Clemens Brentano, den Philosophen Franz Brentano ins Auge fassen. Er ist charakteristisch für alles, was man als Mensch suchen muß und mit der gewöhnlichen naturwissen­schaftlichen Methode eben nicht finden kann. Er ist charakteristisch dafür, weil man hinausgehen muß über das, was er mit so ehrlichem Wahrheitssinn angestrebt hat. Je genauer man ihn betrachtet, bis in seine Gliederungen der Psychologie hinein, desto mehr fällt einem dieses auf. Gerade er ist einer derjenigen Geister, die zeigen: Die Menschheit braucht wiederum ein Geistesleben, das in alles eingrei­fen kann. Von der Naturwissenschaft kann es nicht kommen. Aber diese Naturwissenschaft ist überhaupt das Schicksal der neueren Zeit, wie sie das Schicksal Brentanos geworden ist. Denn wie der richtige moderne Faust des 19. Jahrhunderts sitzt dieser Brentano zuerst in Würzburg, dann in Wien, dann in Florenz, dann in Zürich, und

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ringt mit den größten Problemen der Menschheit. Er gesteht sich zwar nicht, «daß wir nichts wissen können», aber müßte es sich eigentlich gestehen, wenn er sich seine eigene Methode voll bewußt machen würde. Eigentlich müßte er sich sagen: Die Naturwissen-schaft ist das, was mich hindert, den Weg in die geistige Welt hin-ein zu unternehmen.

Aber diese Naturwissenschaft spricht eben eine starke autoritative Sprache. Und so ist es ja auch heute im öffentlichen Leben. Die Naturwissenschaft selbst kann den Menschen das nicht bieten, was sie brauchen für ihre Seele. Die größten Errungenschaften des 19. Jahr­hunderts und die des 20. Jahrhunderts konnten den Menschen nicht geben, was eine Art führendes Geistiges darstellte. Und ein starkes Hindernis ist diese naturwissenschaftliche Gesinnung durch ihre mäch­tige Autorität, denn überall, wo Anthroposophie auftritt, stellt sich ihr die Naturwissenschaft zunächst entgegen, und obzwar die Natur­wissenschaft selber dem Menschen nichts geben kann, frägt man doch bei der Anthroposophie: Stimmt die Naturwissenschaft mit ihr über­ein? - weil auch diejenigen Menschen, die gar nicht viel von der Naturwissenschaft wissen, heute das autoritative Gefühl haben, die Naturwissenschaft hat recht, und wenn die sagt, daß Anthroposophie ein Unding ist, dann muß es stimmen. - Die Leute brauchen, wie gesagt, gar nicht viel von der Naturwissenschaft zu wissen, denn was wissen schließlich die monistischen Redner viel von Naturwissen­schaft? Sie haben ja in der Regel dasjenige von der Naturwissen­schaft an allgemeinen Dingen im Kopfe, was vor drei Jahrzehnten gegolten hat! Aber sie tun so, als ob sie aus dem vollen Geist der gegenwartigen Naturwissenschaft heraus reden würden. Daher gilt das für viele Menschen als Autorität.

Man kann schon auch an dem inneren Schicksal Brentanos das äußere Schicksal, jetzt nicht das innere, aber das äußere Schicksal der anthroposophischen Weltanschauung sehen.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 9. Juli 1922

Ich wollte diesmal an einem persönlichen Beispiel klarmachen, wie aus dem ganzen Geistesleben das, was wir gegenwärtig als Anthroposo­phie bezeichnen, herauswachsen mußte. Es ist ja der Einwand immer­hin berechtigt, der sagt: Wenn solche Dinge besprochen werden, so bewegt man sich damit eigentlich doch in einem engeren Kreise. Man betrachtet einzelne wissenschaftlich, philosophisch oder sonstwie stre­bende Menschen, die der größeren Masse der Menschheit nicht be­kanntgeworden sind, und man stellt sich eigentlich dann außerhalb dessen, was in den großen Menschenmassen lebt. Aber Sie brauchen nur etwas unbefangener hinzuschauen, so werden Sie die Sache doch nicht in dieser Weise auffassen können. Man muß nur bedenken, daß alles, was als Seeleninhalte, was auch als die Impulse alles Tuns und Lassens in den großen Menschenmassen lebt, herrührt von dem Ein­flusse gewisser führender Persönlichkeiten, die vielleicht auch noch nicht Kenntnis erhalten haben von dem, was Persönlichkeiten der Art, wie wir eine betrachtet haben, in ihrem stillen Studierkämmer­chen, wie man ja so sagt, erleben.

Aber man muß bedenken, daß in solchen Persönlichkeiten gerade die ganze Zeit mit ihrem Denken, mit ihrem Empfinden pulsiert, daß doch immerhin eine größere Anzahl von Menschen, und zwar solche, die sich eine höhere Bildung aneignen, aufnehmen, was solche Per­sönlichkeiten erleben, und es dann wieder hintragen zu denjenigen Stätten, wo sich auch die führenden Persönlichkeiten der Menschheit, die auf die großen Massen wirken, ausbilden. So daß schon, was man an dem Erleben solcher im stillen Studierkämmerchen lebender Menschen betrachtet, die Impulse ausmacht, die dann in irgendeiner Zeit auch in den großen Menschenmassen leben. Man merkt nur ge­wöhnlich die Kanäle nicht, durch die sich diese geistigen Impulse in die großen Menschenmassen ergießen. Und so kann man das, was in Wahrheit, in Wirklichkeit in der Zeitkultur lebt, dennoch zuletzt nur so betrachten, wie wir es auch in diesen Tagen wiederum getan

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haben, und es ist schon berechtigt, zu sagen, daß aus dem tiefsten geistigen Erleben des 19. Jahrhunderts so etwas wie die Anthroposo­phle allmählich entstehen mußte, weil, was Zeitbildung war, eigentlich die Menschenseelen erdrückt hat, wie wir das eben an dem hervorra­genden Beispiel Franz Brentanos gesehen haben.

Und um das, was ich eigentlich mit diesen Betrachtungen erreichen möchte, noch etwas weiter ins Allgemeine zu führen, möchte ich die Beobachtung auf einen etwas weiteren Kreis ausdehnen.

Wir finden Franz Brentano noch als einen frommen Katholiken als Lehrer der Philosophie in Würzburg. Wir können uns nach dem, was ich gestern und vorgestern ausgeführt habe, so ungefähr eine Vorstellung von dem machen, was Franz Brentano noch durchaus katholisierend, aber mit scharfem Intellekt als philosophische Pro­bleme auf seiner Lehrkanzel in Würzburg vortrug. Er suchte alles aus seinem scharfen Verstande heraus zu begründen, aber im Hinter-grunde lebte bei ihm immer, was er gläubig entgegengenommen batte aus der katholischen Theologie. Manch außerordentlich bedeut­samer Gedanke kam da zum Vorschein. So zum Beispiel lebte ja schon in Franz Brentano die Erkenntnis der neueren naturwissenschaftlichen Entwickelungslehre, die sich darauf stützt, daß das menschliche Ge-hirn dem Gehirn der höheren Affen nicht ganz unähnlich sei. Diese rein naturalistische Entwickelungslehre zog daraus den Schluß, daß eine Verwandtschaft bestehe zwischen dem Menschen und den höhe­ren Säugetieren. Franz Brentano nahm auch diese Behauptung posi­tiv auf, wie er überhaupt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht negierte, sondern positiv aufnahm. Er sagte: Nun wohl, die Naturwissenschaft kann zeigen, daß das Gehirn der Menschen von dem der Anthropoiden nicht sehr verschieden ist. Aber wenn man auf das Seelenleben der Anthropoiden und auf das des Menschen sieht, dann findet man einen gewaltigen Unterschied. Man findet vor allen Dingen den Unterschied, daß auch die höchsten Affengattungen keine abstrakten Begriffe entwickeln können. Der Mensch kann ab­strakte Begriffe entwickeln. Wenn also, so meinte Franz Brentano, das menschliche Gehirn so ähnlich ist dem Affengehirn, so muß man sagen, daß eben aus dem Gehirne die Gedanken, die der Mensch für

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sich entwickeit, nicht kommen können, denn sonst müßten sie auch aus dem Affengehirn kommen. Man muß also daraus schließen, daß der Mensch etwas hat, was eine besondere Seelensubstanz darstellt, aus der die Gedanken kommen, die die Anthropoiden nicht fassen können.

Also gerade aus der Aufnahme der naturwissenschaftlichen Er­kenntnis folgerte Franz Brentano die Selbständigkeit der Seelensub­stanz. Das war noch in den Jahren von 1866 bis 1870, als er Lehrer der Philosophie in Würzburg war, weil im Hintergrund dessen, was er philosophisch entwickelte, noch dasjenige stand, was ihm als eine Gesamtanschauung der Welt aus der katholischen Theologie geblie­ben war. Allerdings, als dann später Franz Brentano immer mehr herauswuchs aus der katholischen Theologie und immer mehr und mehr hineinwuchs in das, was ihm von Anfang an eigentümlich war, was aber zuerst noch von der katholischen Theologie durchleuchtet war, als er immer mehr hineinwuchs in ein bloß naturwissenschaftliches Erfassen auch der Seelenerscheinungen, da verlor er die Seelensub­stanz, da konnte er über die Seelensubstanz nichts mehr aussagen. Es erlahmte einfach die Fähigkeit des Erkennens in ihm, wenn er sich aufschwingen wollte von der bloßen Vergesellschaftung und Trennung der Vorstellungen zu dem Problem des inneren Seelen­lebens selber.

Nun sagte ich Ihnen schon, daß diese naturwissenschaftliche Den­kungsweise, so sehr sich auch einzelne Anhänger dagegen wehren, dennoch nichts anderes ist als eine gerade Fortsetzung des scholasti­schen Denkens. Das scholastische Denken hat es dazu gebracht, zu sagen: Die Offenbarung handelt von der übersinnlichen Welt; die sinnliche Welt mit einigen Schlüssen, die man aus der Sinnesbeobach­tung zieht, kann allein der Gegenstand der menschlichen Erkennt­nis sein. - Und was bei den Scholastikern so gepflegt wurde, daß sie auf der einen Seite nahmen, was nur der menschlichen Sinnes-erkenntnis als Wissenschaft erreichbar war, und auf der anderen Seite das, was als Wissen von der übersinnlichen Welt durch die Offenbarung vorhanden war, das entwickelte sich auch im weiteren Verlaufe durch das 16., 17., 18., 19. Jahrhundert hindurch zu einer

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solchen Anschauung, daß man eben die Naturerscheinungen nach den Grundsätzen, die eigentlich von der Schule angegeben waren, ver­folgte, und daß man einfach die Offenbarungslehre für die Wissen­schaft fallen ließ. So kann man schon die moderne Naturwissenschaft ein rechtes Kind der mittelalterlichen Scholastik nennen in dem Sinne, wie ich das eben hier ausgedrückt habe, und deshalb darf es uns nicht besonders wundern, wenn wir sehen, wie Menschen, die an der Offen­barung weiter festhalten, so wie Franz Brentano es in seiner Jugend getan hat und wie katholische Gelehrte es auch heute noch tun, die bloß auf die Sinneswelt sich beschränkende Naturwissenschaft durch­aus gelten lassen, und nur eben daran festhalten, daß man nicht eine Erkenntnis anstreben dürfe, welche auf das Übersinnliche geht; denn dieses Übersinnliche müsse Gegenstand des Offenbarungsglaubens bleiben. So kann man sich gut denken, daß Naturwissenschafter und katholische Theologen an einer Anstalt zusammenwirken, ohne daß ein Streit entsteht über den Bezirk, in dem der katholische Theologe wirken will, und den, den er dem Natutwissenschafter zugesteht. Ich möchte dafür ein Beispiel anführen.

Sehen wir uns an, wie von 1867 bis 1870 Franz Brentano Logik, Metaphysik, Ethik, Geschichte der Philosophie in Würzburg lehrt. Nun möchte ich, um Ihnen die Sache recht anschaulich zu machen, an demselben Orte zunächst verbleiben, in Würzburg, und Ihnen den Hörsaal Brentanos vergegenwärtigen, etwa um das Jahr 1869, wo er solche Lehren, wie ich sie eben charakterisiert habe, darlegte, wo er davon sprach, wie zu der Gehirn-Ahnlichkeit des Menschen mit den höheren Affen eine Seelensubstanz da sein müsse, die das gewöhn­liche Denken im Menschen aus sich hervorbringt.

Nehmen wir nun ein anderes Kapitel, das er auch damals vortrug:

Über das Dasein Gottes, über die Beweise vom Dasein Gottes. Da führte er in scharfsinniger Weise alles an, was der Verstand des Men­schen für das Dasein Gottes vorbringen kann, verwies natürlich zu­letzt darauf, daß man sich aber mit der menschlichen Erkenntnis nur an dieses Dasein Gottes annähern könne, daß die Wahrheit über das Dasein Gottes doch durch die Offenbarung gegeben werden müsse. Nun vergegenwartigen wir uns recht lebendig, wie vor einer zahlreichen

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Zuhörerschaft dazumal Franz Brentano mit kirchlich-katholi­schem Sinn seine Metaphysik, seine Philosophie vortrug, durchaus mit voller Berücksichtigung der Naturwissenschaft, wie er sozusagen überall an die höchsten Probleme des Menschen in dieser Weise her­antrat, und gehen wir von dem Hörsaal Franz Brentanos in der Uni­versität Würzburg hinüber zu dem Hörsaal des Physiologen Adolf Fick. In derselben Zeit nämlich, in der Brentano Metaphysik und Philosophie vortrug, trug Adolf Fick Physiologie in Würzburg vor.

Nun möchte ich Ihnen vergegenwartigen, was ein Hörer im Hör­saal der Physiologie bei Adolf Fick hören konnte, ein Hörer, der vielleicht eben bei Franz Brentano Philosophie gehört hatte, aus einem solchen Geiste heraus, wie ich es Ihnen eben charakterisiert habe. Da wurde etwa folgende Anschauung vorgetragen. Ich zitiere nur, denn was ich Ihnen jetzt sage, ist ungefähr wörtlich enthalten in den Vor-lesungen, die dazumal Adolf Fick an der Universität in Würzburg gehalten hat. Er sagte, was etwa in die folgenden Sätze zusammen­gefaßt werden könnte: Wir betrachten zum Beispiel die Wärme, die wir zunächst durch unsere Empfindung wahrnehmen. Wenn wir einen Körper berühren, so kommt er uns warm oder kalt vor, wir haben Wärmeempfindungen. Was aber diesen Wärmeempfindungen in der

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Außenwelt entspricht, das ist eine Bewegung der kleinsten Teile der Körper, das ist eine Bewegung, die in den Atomen und Molekülen oder auch von den Atomen und Molekülen im Raum ausgeführt wird. Wenn wir zum Beispiel ein Gas betrachten, so muß dieses Gas ja in einem allseitig geschlossenen Raum abgeschlossen sein; darin­nen aber sind dann die Atome und Moleküle des einzelnen Gases vorhanden. Die sind aber nicht in ruhigem Zustand, sondern die schwimmen hin und her, stoßen sich gegenseitig, stoßen an die Wände. Da ist alles darinnen Bewegung und Aufruhr (s. Zeichnung). Und wenn wir mit unserer Hautfläche dasjenige berühren, was dadrinnen aber nur eine Bewegung ist, so haben wir die Empfindung der Wärme.

Diese Anschauung war ja dazumal in den Naturwissenschaften gang und gäbe, es war diejenige Anschauung, die insbesondere aus dem hervorgegangen ist, was Julius Robert Mayer, was Helmholtz> was Clausius, was andere naturwissenschaftliche Geister der neueren Zeit geieistet hatten. Joule> der englische Bierbrauer, der zu gleicher Zeit Naturforscher war, hatte die Entdeckung gemacht, daß man durch eine Bewegung, zum Beispiel eines Schaufelrades, das sich im Wasser be­wegt, das Wasser erwärmen kann. Man konnte dann abmessen, wie­viel Mbeit das Schaufelrad verrichtet und wieviel Wärme entsteht, und man bekam dadurch die Möglichkeit, zu sagen: Durch Bewegung, durch mechanische Arbeitsleistung entsteht Wärme. - Diese müsse also nichts anderes sein als eine Übertragung desjenigen, was das Schaufelrad, das sich im Wasser dreht, an sichtbaren Bewegungen ver­richtet; das verwandelt sich eben in solche Bewegungen, die unsicht­bar sind, die aber dann als Wärme empfunden werden. So daß man also die Wärme durchaus als eine Art von Bewegung auffaßte.

Aber nun hatte man dazumal die Entdeckung gemacht, daß sich nicht nur Wärme in Bewegung umwandeln läßt, sondern daß sich auch andere Naturkräfte in Bewegung umwandeln lassen. Und so konnte ein Physiologe wie Adolf Fick dazumal verkündigen, daß alle Naturkräfte, Magnetismus, Elektrizität, chemische Kräfte ineinander verwandelbar sind, daß die eine in die andere umgewandelt werden kann, daß im Grunde genommen die Verschiedenheit nur darin be­steht, daß wir die verschiedenen Bewegungsformen mit unseren Sinnen

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in anderer Weise empfinden. Wenn wir also absehen von dem, was wir in uns haben als Wärmeempfindung, Lichtempfindung und so weiter, und auf dasjenige sehen, was draußen im Raume ist, so ist überall nur Bewegung. Dieser Physiologe hat dann diese Betrach­tung fortgesetzt, indem er sagte: Auch wenn wir den menschlichen Körper, den höchsten Organismus, betrachten - und da kam dann Adolf Fick in seine eigentliche Domäne hinein, in die Physiologie -, können wir nicht eine besondere Lebenskraft annehmen, die etwa die Teile, die Moleküle des menschlichen Organismus in besondere Be­wegung versetzt, sondern das, was draußen sich bewegt, wenn wir Wärme wahrnehmen, irgendwelche Spaunkräfte oder Elektrizität oder Magnetismus, das ist auch im menschlichen Körper tätig. - Nun setzte er auseinander, wie im menschlichen Körper durch die Aufnahme des Sauerstoffes Kohlenstoff zu Kohlensäure verbrennt, wie Wasserstoff zu Wasser verbrennt, wie also der Sauerstoff, der aufgenommen wird, bewirkt, daß dasjenige, was der Mensch in sich trägt, in einen Ver­brennungsprozeß kommt. Er erörterte dann, wie man bestimmen kann, wie eine gewisse Menge von Sauerstoff aufgenommen wird, wie der Mensch Wärme abgibt. Man hatte ja dazumal schon Versuche mit dem Kalorimeter gemacht, um zu ermitteln, wie groß die Wärme-abgabe bei diesem oder jenem Tier ist, hatte sie auch am Menschen schon gemacht und dabei herausgefunden, daß allerdings die Sache nicht stimmt. Aber man sagte sich, daß da eben Fehler in den Experi­menten gemacht seien, und man hatte doch annäherungsweise Zahlen gefunden, aus denen hervorging, daß das, was einer Aufnahme einer gewissen Menge Sauerstoff entsprach, dann wiederum als Wärme ab­gegeben wurde. Man nahm an, daß ein Teil dessen, was da innerlich verarbeitet wird, in die Muskelbewegung übergeht, daß also gewis­sermaßen das, was durch die Verbrennung von Kohlenstoff zu Koh­lensäure oder Wasserstoff zu Wasser sich im Menschen an Wärme ent­wickelt, solche Bewegungen im Menschen darstellt. Der Mensch atmet Sauerstoff ein. Der Wasserstoff verbrennt zu Wasser, der Kohlenstoff verbrennt zu Kohlensäure. Was da den Menschen innerlich warm macht, was er dann aber ausstrahlt, das ist nur Bewegung seiner kleinsten Teile. Nur nach der Verwandlung der Kräfte verwandeln

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sich eben Teile in das, was dann der Muskelleistung zugrunde liegt, wenn der Mensch nicht nur Wärme ausstrahlt, sondern etwa eine Arbeit mit seinen Muskeln verrichtet oder auch nur seine Glieder be­wegt. So daß man sagen kann: Der Mensch ist im ganzen eine Art komplizierte physikalisch-chemische Einrichtung, die Wärme aus­strahlt, Arbeit leistet durch den eingeatmeten Sauerstoff.

Adolf Fick fuhr etwa in der Weise fort, daß er sagte: Wenn aber die Menschen fortwährend Sauerstoff einatmen und den Sauerstoff verbrauchen, indem sie ihn als Verbrennungsaniaß benutzen, so müßte in der Entwickelungsgeschichte der Erde längst bemerkbar sein, daß der Sauerstoff weniger geworden wäre. Das ist aber nicht der Fall. Man kann sich aber auch das erklären, weil ja der Sauerstoff immer wieder erzeugt wird. Die Pflanzen werden von der Sonne bestrahlt, und indem die Pflanzen das Sonnenlicht aufnehmen, sondern sie den Sauerstoff ab. Dadurch wird der Sauerstoff wiederum frei. Der Mensch kann ihn neuerdings einatmen. Was Menschen und Tiere an Sauer­stoff verbrauchen, wird also durch die Pflanzenwelt immer wiederum erzeugt.

Weiter sagte Adolf Fick in seinen Vorträgen: Mindestens die Sonne müßte, da sie doch fortwährend Licht und Wärme ausstrahlt, kälter werden. Er führte nun an, wie man berechnen könne, um wieviel die Sonne kälter werden müßte. Julius Robert Mayer hatte ja das vor ihm berechnet und hatte auch schon gezeigt, daß eigentlich die Sonne längst abgekühlt sein müßte, daß sie, nach der Menge, die sie aus-strahlt, eigentlich gar nicht mehr Wärme ausstrahlen könnte. Daher nahm Julius Robert Mayer an, und Fick trug es in seinen Vorträ­gen vor, daß Kometenmassen, von denen ja nach Keplers Ausspruch im Weltenall viel mehr vorhanden sein müßten als Fische im Ozean, fortwährend in die Sonne hineinstürzten. Wenn nun irgend etwas einschlägt in einen Körper, so wird neue Wärme erzeugt. Durch dieses fortwährende Anfliegen wird die Sonnenwärme und damit auch das Sonnenlicht fortwährend neu geschaffen. Es war nur, wie Adolf Fick versicherte, eine Verlegenheit da, weil man ja hätte annehmen müssen, daß solche Massen immer wieder vorhanden seien. Also müßte man annehmen, daß die Massen, die da hineinfliegen in die Sonne, wieder

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hinausgeworfen werden, damit sie später wieder anfliegen könnten. Aber auch daraus fand er einen Ausweg, indem er zeigte, daß nach dem sogenannten zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorje es gar nicht nötig sei, daß die Sonnenwärme immer vorhanden sei, denn es sei ein Gesetz der Entwickelung, das man allerdings im strengsten Sinne beweisen kann - dazumal hatte ja schon Clausius den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorje veröffentlicht -, daß sich durch die Umwandlung der Kräfte fortwährend die Kräfte in Wärme verwandeln, aber die Wärme sich nicht wiederum zurück­verwandeln kann in Kräfte, so daß immer Wärme übrigbleibt, so daß zuletzt alles, was an Geschehnissen in der Welt ist, sich in Wärme-zustände verwandeln muß, die sich ausgleichen. Dann ist nichts mehr da von dem, was in der Welt geschieht, als nur der sogenannte Wärme-tod. Und in diesen sogenannten Wärmetod müsse alles einlaufen.

So also stellte Adolf Fick vor, wie sich die Erde mit alledem, was auf ihr geschieht, einschließlich des Menschen, hinentwickelt zu die­sem Wärmetod, wie also alles Geschehen in diesem Wärmetod einmal ein Ende finden werde. Eine streng physikalische Weltanschauung!

Wir können uns vorstellen, wie Adolf Fick, der Physiologe, diese Lehre als physikalische Weltanschauung vortrug, wahrend Brentano drüben in seinem Hörsaal vortrug, was ich Ihnen vorhin dargestellt habe. Aber nun möchte ich Ihnen auch zwei Schlüsse dieser beiden Vorlesungen sagen. Nehmen wir an, Brentano in seinem Hörsaal hätte einmal seine Vorlesung so geschlossen: Wenn wir die natur­wissenschaftliche Anschauung der Entwickelung der Welt betrachten, müssen wir von einem Anfangsstadium ausgehen, das sich natur­wissenschaftlich begreifen läßt. Wir kommen zu einem Endrustand, den heute sogar die Naturwissenschaft schon als den Wärmetod schil­dert. Aber das alles ist durchleuchtet und durchseelt von göttlich-geisti­gem Geschehen. Wir werden an den Anfang geführt, wo ein schöpfe­rischer Gottesakt ins Leben ruft, was dann naturwissenschaftlich angeschaut werden kann. Wir kommen zum Wärmetod, aus dem wiederum nur eine schöpferische Gottestat die Entwickelung weiter­führen kann. - Das hätte etwa Franz Brentano als Schluß eines seiner Vorträge sagen können und hat es auch gesagt.

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Nehmen wir an, die beiden Vorlesungen wären hintereinander ge­wesen, nicht gleichzeitig, und ein Student wäre, nachdem er eben das von Franz Brentano gehört hatte, hinübergegangen zu Adolf Fick, hätte sich jetzt den Schlußvortrag angehört über Physiologie. Was hätte er da gehört?

Nun, ich zitiere nur, ich spreche nur das aus, was Adolf Fick selber in diesen Jahren, etwa 1869, an derselben Universität ausgesprochen hat, an der Brentano gelehrt hat. Er sagte, nachdem er solche Be­trachtungen, wie ich sie Ihnen eben jetzt ausgeführt habe, in einer ganzen Reihe von Vorlesungen vorausgeschickt hatte: Wir kommen dazu, daß einstmals alles Geschehen, das um uns und in uns ist, in den Wärmetod, das heißt, in das Weltenende einläuft. Wenn wir aber ein solches Weltenende nach allen Regeln der Naturwissenschaft, die wir jetzt haben, annehmen können, wenn nichts vergessen ist, wenn wir ein solches Weltenende voraussetzen müssen nach der stren­gen Naturwissenschaft, dann ist es nicht anders denkbar, als daß diese Welt auch einmal einen Anfang genommen habe; denn man kann sich nicht denken, daß eine Welt, die von Ewigkeit her mit naturwissen­schaftlichem Geschehen bestände, nicht längst schon zu dem Wärme­tod gekommen wäre. Da dieser Wärmetod sich also erst nach einiger Zeit entwickeln muß, so muß diese Welt auch einen Anfang genom­men haben, das heißt, so schloß Adolf Fick, sie muß von einem schöpferischen Gottesakt ausgegangen sein.

Man konnte also in dem einen Hörsaal katholisch-theologische Philosophie von Franz Brentano hören mit dem Schluß, den ich Ihnen eben charakterisiert habe, und dann zum Physiologen hinübergehen -allerdings nicht einem von der Art des «dicken Vogt» und ähnlichen, die eben nicht zu Ende dachten, sondern zu einem Physiologen, der zu Ende dachte -, und der sagte dasselbe, indem er sich nur auf den Boden der Naturwissenschaft stellte.

Das ist eine außerordentlich interessante Tatsache. Das bedeutet, daß, wenn man nun nicht weiter ging, als von der Naturwissenschaft aus auf eine schöpferische Gottestat hinzuweisen, man durchaus im Einklange stand mit demjenigen, was im benachbarten Hörsaal aus der katholischen Theologie heraus vorgetragen wurde.

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Was konnte nun ein Hörer tun, der bei Adolf Fick diese Anschauung gehört hätte, der etwa vernommen hätte, wie die Welt physikalisch beschaffen ist, daß man aber sogar auch beweisen könne, daß sie aus einem schöpferischen Gottesakt hervorgegangen ist? Adolf Fick hätte ihm eben gesagt: Wenn du über diesen Gottesakt etwas wissen willst, so gehe hinüber in den anderen Hörsaal, wo die katholische Theologie vorgetragen wird! So hätte es ein Hörer jedenfalls empfin­den müssen.

Und nun versetzen Sie sich wiederum in die Seele von Franz Brentano. Dazumal ging es noch, daß er mit seiner naturwissenschaft­lichen Gesinnung einen solchen Endschluß unmittelbar gemacht hat, weil ihm das, was ihm über die übersinnliche Welt als sicher schien, von der katholischen Theologie kam. Zehn Jahre später ging es nicht mehr so. Zehn Jahre später konnte er, wie ich Ihnen dargestellt habe, die übersinnliche Welt nicht mehr auf die Offenbarungslehre im Sinne des Katholizismus voll basiert finden. Das heißt mit anderen Worten:

Ging nun der Hörer von der Naturwissenschaft hinüber, da, wo er die Ergänzung hören sollte, die die Naturwissenschaft selber fordert, so konnte derjenige, der nun nicht mehr an den alten Offenba­rungstraditionen festhalten konnte, ihm nichts mehr sagen. Und so war es im Grunde genommen schon, als Franz Brentano in Wien vor­trug. Da war er vor kurzem aus der Kirche ausgetreten. 1874 kam er nach Wien; 1873 war er eigentlich erst völlig ausgetreten, obwohl er schon nach dem Infallibllitätsdogma mit der Kirche innerlich zer­fallen war. Aber er hing so sehr an der katholischen Kirche, daß er sich noch jahrelang die Sache gründlich überlegte.

Jetzt können wir uns also nicht mehr vorstellen, daß, wie in den sechziger Jahren, der Student etwa hätte hinübergehen können von dem Hörsaal, nehmen wir an statt von Adolf Fick in Würzburg, etwa von Brücke in Wien oder irgendeinem anderen Physiologen, denn die sagten ja natürlich alle dasselbe, er hätte jetzt nicht zu Franz Bren­tano hinübergehen können und dort die Ergänzung finden. Denn bei Franz Brentano hörte er gewiß außerordentlich Anregendes und In­teressantes über ethische, über psychologische Probleme, aber rur­gends fand Brentano die Möglichkeit, durch die unmittelbare Erkenntnis

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zu dem Übersinnlichen überzugehen. Wir sehen gerade an diesem Beispiel die Möglichkeit hinschwinden, aus der alten Geistes-kultur heraus zu dem Übersinnlichen zu kommen, wenn man nicht wiederum zu dem alten Offenbarungsglauben zurückkehren wollte. Das ist die wichtigste geistige Kulturtatsache unserer neuesten Zeit. Denn aus den Stimmungen heraus, die durch so etwas erweckt wer­den konnten, sind die Seelen der Führernaturen erwachsen. Und durch das, was diese Führernaturen bewirkt haben, sind wir in das ganze kulturelle Chaos der Zeit hineingekommen.

Nun möchte ich Ihnen das Problem von einer anderen Seite zeigen. Unter denen, die dazumal noch studierten, als Franz Brentano seine glänzenden Kathedertaten verrichtete, war auch Richard Wahle. Richard Wahle schrieb 1894 sein Buch, das eigentlich viel bedeutender ist, als man es gewöhnlich in Philosophenkreisen nimmt: «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende, ihre Vermächtnisse an die Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik.» Wer unbefangen die Ent­wickelung des geistigen Lebens anschaut, der muß gerade auf dieses Buch als auf eine allerbedeutendste Erscheinung hinweisen. Ich möchte Ihnen kurz die Art und Weise charakterisieren, wie Richard Wahle die Welt anschaute. Denn diese Anschauung war ganz aus dem herausgeboren, was Richard Wahle zweifellos als gewaltige Anregun­gen von Franz Brentano erhalten hat, und dem, was sonst dazumal überhaupt an Geisteskultur zu erlangen war.

Richard Wahle sagt: Was wir von der Welt erleben, was ist es denn eigentlich? Nun, was wir von der Welt erleben, ist, daß vor uns «Vorkommnisse» auftreten. Ich stehe da; vor meinen Augen treten die Wände, das Helle, die Lampen, die Menschen auf. Ich muß mir durch meine Vorstellungen diese Vorkomianisse zu meinen persön­lichen Erlebnissen machen. Überall Vorkommnisse, die mir durch Vorstellungen gegeben werden. Ich trage nichts anderes in mir als die Vorstellungen der Vorkommnisse. Die Welt ist eine Summe von Vorkommnissen, die sich mir durch meine Vorstellungen repräsentie­ren. Aber betrachten wir einmal unbefangen, was wir denn da eigent­lich haben. Haben wir denn je einen Tisch vor uns? Ein Vorkommnis haben wir, das uns repräsentiert wird durch die Vorstellung des

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Tisches. Haben wir einen Menschen vor uns? Ein Vorkommnis haben wir, das uns durch die Vorstellung vom Menschen repräsentiert wird. Wir haben nichts anderes als die Repräsentanten von Vorkommnis-sen. - Es ist das außerordentlich geistreich in dem Augenblicke, wenn man von Franz Brentano so beeinflußt war, daß man wahmahan, wie dieser den Willen, wie ich es Ihnen gestern gesagt habe, wegstrich und nur das Vorstellungs- und höchstens noch das Gefühlsleben gel­ten ließ. Dieses Vorstellungsleben gibt nur subjektive Repräsentanten von Vorkommnissen. Und wie sind diese Vorkommnisse? Kraftlos sind sie, durch und durch kraftlos! Denn, habe ich das Vorkommnis -ich will ein drastisches Beispiel wählen -, daß einer einem anderen eine Ohrfeige gibt - es ist ein Vorkommnis oder eine Summe von Vorkominnissen -, was dahintersteckt, weiß ich nicht! Richard Wahle sagt in seiner Art ganz richtig: Wir haben nur die Vorkommnisse, repräsentiert durch die subjektiven Vorstellungen. Zu den Urfakto­ren können wir nicht kommen. - Er gibt durchaus zu, daß hinter dem, was wir als Menschen haben, Urfaktoren verborgen sind, aber zu denen können wir nicht kommen. Daher kommen wir überhaupt zu nichts anderem als nur zu einem Agnostizismus. Wir müssen uns gestehen, wenn da einer steht und dem anderen eine Ohrfeige gibt, daß meine Vorstellung von der sich bewegenden Hand kraftlos ist, daß die durchaus nicht auf der Backe des anderen sitzt. Mir ist nur die Vorstellung gegeben. So löst Wahle alles, was dem Menschen zugäng­lich ist, auf in die subjektiven Repräsentanten von Vorkommnis-sen. Auch das, was wir im Inneren wahrnehmen, sind Vorkomm­nisse, die nur von innen aus auftauchen, statt daß sonst Vorkommnisse von außen gegeben werden. Wiederum wissen wir nichts von den Urfaktoren, die in uns selber sind. Wir haben nicht einmal eine Vor­stellung, welche Urfaktoren dem Vorkommnis zugrunde liegen, wenn sich meine eigene Hand aus meinem Gedanken, der ja kraftlos ist, der selber dem anderen keine Ohrfeige geben kann, erhebt, um eine Ohr­feige zu geben. Was da für Faktoren zugrunde liegen, wissen wir nicht, was in uns zugrunde liegt, wissen wir nicht. Wir können aber unmöglich zugeben, daß der Gedanke, der uns allein gegeben ist, dem anderen eine Ohrfeige gibt, denn der Gedanke ist ganz kraftlos, und

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wenn wir die größten Helden der Geschichte nehmen, sie sind nur durch die subjektiven Gedanken gegeben. Denken Sie sich zum Bei­spiel Bismarck: er ist nur gegeben als subjektiver Repräsentant von Vorkommnissen. Die Inhalte seines Seelenlebens, auch von dem der größten Helden, haben nicht die Taten getan. Die Taten sind ge­schehen durch die Urfaktoren. Zu den Urfaktoren dringt aber der Mensch nicht vor.

Sie sehen bei Brentano das Herausstreben aus einer Anschauung, die noch nach der Wirklichkeit hinstrebt, aber nach einer Wirklichkeit, die nur durch den Offenbarungsglauben gegeben ist, hin zu dem rei­nen Intellektualismus des Vorstellungslebens, bei dem er stockt, so, daß er nicht einmal seine «Psychologie» über den ersten Band hinaus weiterschreiben kann. Und Sie sehen, wie Richard Wahle, der aus der­selben Zeitrichtung stammt, sich genötigt fühlt, bei den kraftlosen Vorstellungen, dem Inhalte des Intellekts zu bleiben. Alles wird kraft­los. Der Mensch bildet nur die intellektuellen Begriffe aus und merkt endlich: sie sind kraftlos.

Es war mir ein bedeutsames Erlebnis, als nach meinem ersten Wie­ner Vortrage vor kurzem Richard Wähle mir sagte: Ich habe schon auch meine Vorstellungen über die Urfaktoren, aber im Grunde ge­nommen sind wir gegenüber dem, was alte Philosophen waren, doch nur eine Art von Totengräbern. - Gerade in Richard Wahle findet man etwas außerordentlich Erschütterndes, denn er war dazu verur­teilt, in geistvollster Weise das letzte Geständnis zu machen, daß der Mensch aus der neueren Kultur heraus in seiner Seele nichts gewin­nen kann, als etwas, was kraft- und saftlos ist. Ich streifte dann leise die Namen, die dazumal, als Wahle in Wien noch Schüler war, die Lehrer waren, also Zimmermann, Franz Brentano. Da sagte er: Ja, die haben wenigstens noch etwas zu behaupten gewagt, wir können nicht einmal das noch tun.

Und sehen Sie sich an, was nun 1894 als Buch entstand: « Das Ganze der Philosophie und ihr Ende, ihre Vermächtnisse an Theo­logie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik.» Theologie! Soll denn, was theologische Überlieferung ist, wieder aufgenommen wer­den? Soll der Mensch völlig darauf verzichten, selbst zu einem Übersinnlichen

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vorzudringen? Soll einfach zurückgegangen werden zu dem, was in einer so bedeutungsvollen Weise Franz Brentano ver­lassen mußte? Wie soll sich dann der Vorgang vollziehen, daß das­jenige, was Philosophie einstmals dargeboten hat, teilweise an die Theologie als Vermächtnis übergehen soll? Wie soll, was Philosophie geboten hat, an die Physiologie als Vermächtnis übergehen?

Denken Sie nur einmal - die Physiologie im Sinne von Adolf Fick führt uns zu einer Schöpfungstat Gottes im Beginn der Ent­wickelung. Dieses Erbe würde also nicht irgendwie etwas Befriedi­gendes liefern können. Die Ästhetik würde man ja nach den Anfor­derungen der Wissenschaft in der Gegenwart jedenfalls nicht gelten lassen für das, was imstande ist, irgendwie in die Felder der Wahr­heit hineinzuführen. Und die Staatspädagogik? Nun, es ist ganz be­greiflich, daß jemand, der keine Beziehung herstellen kann zwischen sich und der geistigen Welt, an diejenigen Vorstellungen appelliert, die durch die Menschen innerhalb der menschlichen Gesellschaften gemacht werden, daß er also das, was zum Handeln führen soll, in die Staatspädagogik - im weitesten Sinne - einspannen will; daß alles das, was den Menschen, sei er Kind, sei er Erwachsener, zum Handeln hinführt, eben bestimmt werden soll durch Staatsgesetze, daß ihm ge­wisse Richtungen gegeben werden durch die Staatsgesetze. Wir sehen den Agnostizismus seine geistvollste, seine energischeste, seine ge­wissenhafteste Blüte treiben in diesem Buch «Das Ganze der Philo­sophie und ihr Ende».

Und wie hätte es denn eigentlich anders sein können? Ich will in einem Bilde aussprechen, was ich nun sagen möchte. Philosophie -Liebe zur Weisheit; man kann nur etwas lieben, was man als Leben­diges weiß. Solange man die Sophia als etwas Lebendiges gewußt hat, konnte man von Philosophia sprechen. Jetzt, wo die Sophia nur ein Aggregat von allem möglichen sein soll, das im Weltenall an Begriffen über das Leblose zusammengesucht wird, mußte auch das Philo da-hinschwinden.

Im Grunde genommen hat dieser Revolutionär Richard Wahle auf philosophischem Gebiete das Konsequenteste getan, was man nur hat tun können. Er hat einfach konstatiert, was aus der Philosophie geworden

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ist unter dem Einfluß des bloßen Intellektes. Das kann man nicht mehr lieben. Das muß in gleichgültige Dinge auseinanderfallen. Das muß «ihr Ende» erreicht haben. Nachdem die Sophia gestorben ist, kann es zu der toten Sophla keine Liebe mehr geben, höchstens in der Erinnerung. Dann aber könnte man nur eine Geschichte über die nunmehr dahingeschiedene Philosophie schreiben. Der könnte man ein gutes Andenken widmen. Philosophiegeschichte könnte na­türlich immer noch geschrieben werden. Man könnte noch immer alte Systeme galvanisieren. Das ist ja auch im Grunde genommen das Häufigste bei den neuen Philosophen geworden. Es hat Neu-Kantianer, Neu-Fichteaner, Haeckelianer gegeben; es ist alles das entstanden, was einen an die Liebe zu einer gestorbenen Geliebten erinnern kann. Und wenn wir die kraftlosen und saftlosen subjektiven Repräsentan­ten der Vorkommnisse ins Auge fassen, was allerdings die intellek­tualistischen Vorstellungen sind, dann werden wir den ganzen Gang begreifen. Dann werden wir aber auch begreifen, daß in der Tat das alte philosophische Denken zu einem Ende gekommen ist, zu einem Ende gekommen sein muß.

Deshalb habe ich in meinen «Rätseln der Philosophie», nachdem ich den ganzen Gang der Philosophie dargestellt habe, von den alten griechischen Philosophen an bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhun­derts hinein, zu zeigen versucht, wie dasjenige, was Philosophie war, übergehen muß in Anthroposophie. Das letzte Kapitel ist daher eine skizzenhafte Darstellung der Anthroposophie.

Daß man so verfahren muß, daß man bei der heutigen Geschichts­schreibung der Philosophie als letztes Kapitel die Anthroposophie haben muß, das ist nicht ein Ergebnis von subjektiven Erwägungen, das ist ein Ergebnis des objektiven Ganges der Geschichtsentwicke­lung selbst. Und gerade wenn man die charakteristischsten Persön­lichkeiten der neueren Zeit ins Auge faßt, dann zwingen einen diese, die Sache so anzusehen. Denn, nachdem die Menschheit wirklich an die saft- und kraftlosen Begriffe gekommen ist, die nichts mehr von der Wirklichkeit enthalten, nachdem die Menschheit vergessen hat, daß diese Begriffe die Leichname dessen sind, was einstmals, be­vor wir aus geistigen Welten ins irdische Dasein heruntergestiegen

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sind, Leben war, ist es notwendig, daß wir durch das, was Sie in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt finden, durch Meditation, durch Konzentration die Be­griffe, die Ideen wiederum beleben. Und man ist vor die Aufgabe gestellt, nicht so wie Franz Brentano etwa bei den naturwissen­schaftlichen Vorstellungen stehenzubleiben, sondern sie aufzunehmen, sie zu beleben durch jene innerliche Geistesarbeit, die in Meditation und Konzentration besteht. Und dann werden gerade die naturwissen­schaftlichen Vorstellungen der neuesten Zeit am sichersten in die über­sinnliche Welt hinaufführen. Dann führen sie eben zu der Entwicke­lung derjenigen Methode, die die Methode der Anthroposophie ist; dann entwickelt sich aus der Naturwissenschaft heraus die Methode der Anthroposophie. Die kann dann wiederum die saft- und kraft­losen Repräsentanten der Vorkommnisse mit Wesenhaftem, mit Le­bendigem durchsetzen, denn dieses Wesenhafte, dieses Lebendige muß für eine Menschheit, die einmal bis zum Intellekt vorgerückt ist, aus dem Intellekt selber hervorgehen.

Und ich möchte sagen: Auch in bezug auf das Intimere des Pro­blems erscheint mir wiederum Franz Brentano als ganz besonders charakteristisch. Er schrieb, als er noch ein ziemlich junger Mann war, an emen Bekannten einen Brief über die Meditation, denn er hing an derjenigen Meditation, die ihm angeschult worden war aus seinem Katholizismus heraus, die er aber nie zur selbständigen Ent­wickelung eines inneren geistigen Lebens führte. Franz Brentano schrieb ungefähr dieses über die Meditation, die er kennengelernt hatte: Ich rate Ihnen ja, lassen Sie nicht ab von der Meditation. Wer nur ein handelndes und kein betrachtendes, kein meditatives Leben führt, der lebt überhaupt nur ein Viertel des Lebens; drei Viertel des Lebens muß man leben, indem man sich meditativer Be­trachtung hingibt. Alles, was einen in Gottesnähe bringen kann, kann nur aus der meditativen Betrachtung stammen. - Dann schließt er mit dem charakteristischen Satz: « Ich würde lieber sterben, als die Meditation aufgeben.»

Aber es war eine Meditation, die herangeschult war aus altem Gei­stesleben. Und wir empfinden das Tragische einer Persönlichkeit, die

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so die Meditation liebt und dennoch, weil sie von der Naturwissen-schaft in Fesseln geschlagen ist, sich nicht zu einer freien Meditation hinentwickein kann, die sie hineinführt in ein erneuertes Ergreifen des geistigen, des übersinnlichen Lebens. Vielleicht kann man gerade an dieser Briefstelle sehen, wie Franz Brentano durch eine innere Notwendigkeit vor die Tore der Anthroposophie hingeführt worden ist, wie er sie aber nicht aufschließen konnte, weil er eben alles ab­lehnte, von dem er glaubte, daß es durch die naturwissenschaftliche Gesinnung und Denkweise abgelehnt werden müsse.

Es ist eine einfache Tatsache, daß die Naturwissenschaft gewisse Grenzen hat. Wenn sie nun nicht etwa bloß sagt: Da ist nichts mehr zu erreichen -, sondern im Sinne von Adoif Fick, dem Uni­versitätskollegen von Franz Brentano, sagen muß: Da steht ein schöpferischer Gottesakt, eine schöpferische Tat -, dann kann man auch sagen: Ebenso wie es berechtigt ist, seine Betrachtungen im ganzen Umfange des Physikallschen anzustellen, müssen auch diese Betrachtungen hier angestellt werden können. Das Physikallsche setzt nicht etwa bloß Grenzen, sondern es weist darauf hin, daß da etwas ist, was auch positiv betrachtet werden muß. Es ist wahrhaftig nicht eine subjektive Willkür, wenn man heute auf diese Dinge hinweist, wenn man auf die Notwendigkeit der Anthroposophie für die allge­meine Menschheitskultur hinweist, sondern: Wer unbefangen die Ge­schichte des Geisteslebens betrachtet, der kann gerade aus ihr heraus die Notwendigkeit der Anthroposophie einsehen.

Nehmen Sie einmal an, es würde Anthroposophie in ihrer Wissen­schaftlichkeit anerkannt werden, dann würde es einfach so sein, daß die Adolf Ficks lehren würden: So weit geht die physikalische For­schung; über das Weitere weiß ich nichts zu sagen, aber es gibt eine Fortsetzung, das ist die anthroposophische Forschung. - Allerdings dasjenige, was einmal am Ende der Weltentwickelung physikalisch vor sich gehen wird, so etwas wie der Wärmetod, das wird erst dann im richtigen Lichte gesehen werden, wenn die ganze Entwickelung so betrachtet wird wie etwa in meiner « Geheimwissenschaft im Uinriß», wo ja auch schon das Saturndasein nach rückwärts geführt wird an den Anfang, wo Sie auch das Naturdasein am Anfange nur in Wärme bestehend

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haben, und dann wiederum das Valkandasein auch in Wärme bestehend. Aber nicht etwa bloß am Anfang und am Ende wird die schöpferische Geistestat da betrachtet, sondern durch die ganze Ent­wickelung hindurch wird das Physische immer im Zusammenhang rmit den geistigen Kräften und geistigen Taten derjenigen geistigen Wesen­heiten angesehen, die keine physische Verkörperung durchmachen. So daß natürlich nicht bloß nebeneinander stehen wird, was anthropo­sophisch und was physikallsch ist, sondern beides wird sich gegenseitig durchdringen. Man wird, wenn man zum Beispiel die einzelnen physi­kalischen Tatsachen betrachtet, viel hören müssen von demjenigen, was als geistige Kräfte wirkt im sinnlich-physischen Dasein. Dann wird man nicht mehr bloß von Vorkommnissen und unbekannten Faktoren sprechen, sondern dann wird man davon sprechen, wie man in dem, was als Vorkommnisse auftritt, die unbekannten Urfaktoren nicht nur am Ende und am Anfang der Entwickelung, sondern durch die ganze Entwickelung hindurch immerwährend finden kann.

Ich möchte Ihnen das noch durch ein Bild klarmachen. Nehmen Sie an, Sie haben einen Spiegel und Sie sehen das, was ich Ihnen vorhin beschrieben habe. Wir können bei der Versinnlichung blei­ben, trotzdem sie etwas drastisch ist. Sie sehen das, was ich Ihnen be­schrieben habe, wie einer dem anderen eine Ohrfeige herunterhaut, im Spiegel. Da haben Sie den ganzen Vorgang im Spiegelbild. Da ha­ben Sie ganz gewiß Bilder, und Sie werden nicht sagen können, daß dieses Bild so kraftvoll ist, daß es dem anderen Bilde eine Ohrfeige gibt. So ungefähr muß aber der Philosoph der neueren Zeit über seine Vorstellungen denken. Sie sind kraftlos wie die Spiegelbilder. Das eine Spiegelbild kann nicht dem anderen eine Ohrfeige geben. Aber der Philosoph, Richard Wahle zum Beispiel, geht in sehr geistvoller Weise weiter. Er sagt: Wir kommen nicht bis zu den Urfaktoren, auch wenn ich gleichsam zwei Menschen vor mir habe, wovon der eine dem anderen eine Ohrfeige gibt, ich habe ja doch nur die Vor­stellung davon, und die Vorstellung des Menschen A kann nicht dem Menschen B eine Ohrfeige geben. Und zu den Urfaktoren, was da eigentlich die Ohrfeige gibt, zu dem komme ich nicht.

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Durch dieses Bild kann man sich das ganz gut versinnlichen: das Spiegelbild des A kann dem Spiegelbild des B keine Ohrfeige geben. Aber schauen Sie sich die Spiegelbilder klar an, da werden Sie allerlei Bewegungsformen sehen. Sie werden diesem Bilde hier allerdings nicht zutrauen, daß ihm die Ohrfeige besonders weh getan hat; Sie werden auch dieses Bild nicht gerade bedauern können, weil es eine Ohrfeige bekommen hat. Aber schauen Sie nur weiter an! Schauen Sie sich das Gesicht dieses Bildes nachher an, nachdem es die Ohr­feige bekommen hat, da werden Sie in diesem Gesichte etwas finden, was unerklärlich wäre, wenn bloß ein kraft- und saftloses Bild da ge­wesen wäre.

Mit anderen Worten: Die Philosophie war in Richard Wahle zu einem Standpunkt gekommen, wo sie nur noch von Vorkommnissen sprechen, aber nicht in den Vorkommnissen lesen konnte, weil alle alte atavistische Hellseherkraft, die allein das Lesen möglich gemacht hat, verlorengegangen war. Sie lesen in dem Bilde desjenigen, der die Ohrfeige bekommt, an den Formen, die das Gesicht annimmt, daß es auf Urfaktoren hinweist. Wenn Sie ein Buch aufschlagen, so lesen Sie darin, wenn Sie zu lesen verstehen, ohne daß Sie etwa sagen könnten: Ja, da sehe ich nicht die Urfaktoren. - Denn was Sie lesen, das führt Sie doch zu einem gewissen Verständnis der Urfaktoren. Wir müssen eben wiederum lesen lernen in dem, was die Phänomene, die Erscheinungen sind. Wir können gut zugeben, daß im intellek­tuallstischen Zeitalter nur die Repräsentanten der Vorkommnisse da sind; aber wenn wir mit innerer Kraft heranzugehen vermögen an diese subjektiven Repräsentanten, dann werden wir sie wiederum zu lesen verstehen. Dann werden wir nicht Kantianer werden, sondern wir werden eben Anthroposophen werden, die sich sagen: Gewiß, aus dem, was uns zunächst vorliegt an Vorstellungen, können wir nichts über die Urfaktoren gewinnen. Wenn wir aber in der Welt zu lesen verstehen, dann werden wir allmählich durch das Lesen der Vorkommnisse uns hindurchringen zu dem Verständnis der Ur­faktoren.

Das kann aber nur geschehen, wenn wir in unser Seelenleben wie­der innere Kraft hineinbringen. Und die läßt sich nur erringen auf den

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Wegen, die angegeben sind in der Meditation und in der Konzen­tration und so weiter. So dürfen wir sagen: Die neuere Philosophie hat aus sich ausgedrückt, ausgequetscht alles, was dem Vorstellen, was dem Intellekte Leben gibt. An den Menschen lag es, daß sie den Weg in die übersinnlichen Welten hinein nicht finden konnten, und an der Zeit, in der diese Menschen gelebt haben, müssen wir lernen, eine solche innere Enifaltung anzustreben, daß dieser Weg in die übersinn­lichen Welten hinein wieder gefunden werden könne.

Das wollte ich Ihnen auseinandersetzen durch eine etwas ins ein­zelne gehende geschichtliche Betrachtung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch diese Betrachtung wollte ich einiges vorbe­reiten, was ich dann in den nächsten Vorträgen ausführen werde.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 14. Juli 1922

Die Vorträge der letzten Woche sollten in einer gewissen Beziehung geschichtlich darauf hinweisen, wie gerade tiefet veranlagte Persönlich­keiten mit den Zeitströmungen des 19. Jahrhunderts zu kämpfen hat­ten, und es sollte namentlich gezeigt werden, wie die zeitgenössische naturwissenschaftliche Denkungsart gerade tiefere Naturen davon abgehalten hat, den Weg in die geistige Welt hinein zu finden. Man kann, wenn man auf das Persönliche hin gerichtete Betrachtungen anstellt, wie wir sie in bezug auf Franz Brentano angestellt haben, an den inneren Seelenkämpfen der Menschen, an dem, was sich in den Gei­stern da abgespielt hat, ja eigentlich viel intimer sehen, wie die großen Zeitkämpfe und Zeitströmungen sind, als wenn man nur im Abstrak­ten charakterisiert. Ich habe nun in der letzten Nurnrnet unserer Zeitschrift «Das Goetheanum» darauf hingewiesen, wie Franz Brentano, der, vom Katholizismus ausgehend, in die naturwissen­schaftliche Gesinnung untertauchend, sozusagen hängengeblieben ist am Physisch-Irdischen, nicht mehr den Rückweg gefunden hat in das Geistige, wie er einer anderen Persönlichkeit gegenübergestanden hat, die eigentlich - wenn auch mit einiger Veränderung - demselben Schicksal unterlegen ist. Das ist die Persönlichkeit Nietzsches.

Geradeso wie man bei Brentano nachweisen kann, wie ihn aus seinem gläubigen Katholizismus, aus seinem wirklichen katholischen Frommsein heraus die naturwissenschaftliche Weltanschauung gepackt und nicht mehr losgelassen hat, und wie man zeigen kann, wie das ganze Schicksal seines Philosophenweges dadurch zu charakterisieren ist, so kann man auch ein Ähnliches bei Nietzsche zeigen. Man kann zeigen, daß Nietzsche nun zwar nicht vom Katholizismus, sondern von einer anderen Geistesart ausgehend, auch durch die Naturwissenschaft zurückgehalten wurde innerhalb des Physisch-Sinnlichen, wie er sich ebensowenig wie Brentano in das Geistige erheben konnte, wie aber dann sein Schicksal einen zwar ähnlichen, aber doch wiederum verschiedenen Weg genommen hat.

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Brentano ist ja schon in den sechziger Jahren in die naturwissen­schaftliche Gesinnung untergetaucht, und wir haben gesehen, wie ihn das Unfehibarkeitsdogma, gewissermaßen als Schicksalswoge von außen an ihn heranschiagend, dann vollends seiner Kirche entfremdet hat. Nietzsche, der um einige Jahre jünger ist, hat einen ähnlichen Enrwickeiungsgang in den siebziger Jahren durchgemacht. Er ist nicht vom Katholizismus ausgegangen. Er ging eigentlich von einer antikisierenden, künstlerischen Weltanschauung aus, von dem, was der moderne Mensch als Weltanschauung entwickelt, wenn er rn sei­ner Jugend mehr das Griechentum, die griechische Art, die Welt an­zuschauen, in sich aufnimmt. Und man kann schon sagen: Nietzsche stand mit demselben Feuer, mit dem Brentano im Katholizismus ge­standen hat, in der griechischen Art, die Welt anzuschauen, und in einer künstlerischen Weltanschauung überhaupt darinnen. Er gkubte, in Richard Wagner und seiner Kunst eine Erneuerung des Griechen­tums zu finden. Und geradeso wie Brentano alle katholische Praxis mitgemacht hat und sich ganz eingelebt hat in alles, was der katho­lische Kultus innerhalb eines Menschen hervorrufen kann, so lebte sich Nietzsche in die Wagnersche Kunst ein, in der er eine Wieder-auferstehung dessen zu sehen glaubte, was griechische Art, die Welt anzusehen, war. So schrieb er seine ersten Schriften, und so erlebte er dann in den siebziger Jahren den Einbruch der naturwissenschaftlichen Denkungsweise in sein Seelenleben.

Vorher war er erfüllt von der Anschauung, daß dem Menschen in selbständiger Geistessphäre große Menschheitsideale gegeben sind, daß der Mensch sich diese großen Ideale, die sittlichen, die religiösen Ideale vor die Seele stellen kann, daß er in ihnen die Möglichkeit findet, sich über das Physisch-Menschliche zu erheben. Und Nietzsche findet mit außerordentlicher Begeisterung Worte hohen Schwungs, um das Einleben des Menschen in die Realität der Ideale zu schildern. Da kommt die naturwissenschaftliche Anschauung über ihn. Und er glaubt, sich immer mehr und mehr mit dem Gedanken durchdringen zu müssen, daß eigentlich das Leibliche im Menschen in seinem wei­testen Umfange auch die Ideale als Ergebnisse aus sich heraussetzt. Es wirkt erschütternd auf ihn, den alten Glauben, daß die Ideale etwas

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Selbständiges sind, etwas, das in einer selbständigen Geisteswelt wur­zelt, verlassen zu müssen, daß die Ideale eigentlich auftauchen als die Ergebnisse desjenigen, was leiblich-physische Prozesse sind. Nietzsche taucht gewissermaßen mit alledem, was in seinen Vorstellungen als Ideale lebt, unter in das Physiologische der Menschennatur. Was ihm früher als göttlich-geistig erschien, es erscheint ihm jetzt bloß als menschlich, ja als allzu menschlich. Er sah früher, wie sich der Mensch idealistischen Welten hingegeben hat, wie er sich durch die Ilingabe an diese über die niedrige Natur erhoben hat. Jetzt glaubte er zu er­kennen, daß die niedere Natur des Menschen nur eine Art von Trieb entwickelt, immer kraftvoller und kraftvoller zu werden, und daß auch das Vorhalten von Idealen nichts anderes sei als ein Mittel, die innere Intensität der Macht im Menschen zu verstärken. Kurz, Nietzsche strebte dahin, alle Ideale gewissermaßen als Scheingebilde der physiologischen Vorgänge im weitesten Sinne zu erklären. Er hat sich allerdings diese physiologischen Vorgänge im Menschen nicht so philiströs gedacht wie die heutige Naturwissenschaft; aber er wollte die Ideale als ein Ergebnis der physiologischen, der physischen Vor-gange im weitesten Sinne betrachten. Und so wurden ihm die Ideale zu etwas, wodurch sich Menschen, die die Sache nicht durchschauen, benebeln, während diejenigen, die die Sache durchschauen, sich auf-klären darüber, daß eigentlich die Ideale ebenso wie die gewöhnlichen Triebe aus den physiologischen Untergründen des Menschen hervor­gehen und nur dazu bestimmt sind, die leibliche Natur des Menschen im weitesten Sinne immer mehr zu mächtiger Geltung zu bringen.

Natürlich ist das etwas radikal und retuschiert geschildert, aber es gibt doch im wesentlichen das wieder, was gerade auf Nietzsche so erschütternd gewirkt hat, namentlich auch als er glaubte, darauf ge­kommen zu sein, daß man auch das Gewissen nur aus physiologi­schen Untergründen heraus zu erklären habe.

Es sind nur die Naturen der beiden Persönlichkeiten verschieden:

Brentano ist ein feiner Geist, auf das Vorstellen, auf das Erkennen hin gestimmt; er bildet sich gewissermaßen mit der naturwissenschaft­lichen Methode ein Instrument, mit dem er dann in einer feinsinnigen Weise das menschliche Seelenleben zergliedern will, wie die Naturwissenschaft

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das physische Leben zergliedert. Dieses Instrument wird aber stumpf in dem Momente, wo er an die wirkliche geistige Welt herangehen will. Nietzsche, als er darauf kommt, daß das Physiolo­gische nach der Meinung der Naturwissenschaft der Grund von allem ist oder wenigstens nach deren Konsequenzen, bildet sich ein Instru­ment, das nicht ein feines Analysiermesser ist, wie das Brentanos, sondern das ein Hammer ist, robust genug, um alles, was geistig ist, auch aus dem Physischen physiologisch herauszuholen. Mit diesem Instrumente, das nun robust genug ist, um das Moralische, Idealische in ein Physiologisches zu verwandeln, zermürbt er das Geistige. Er hat eine seiner Schriften betitelt: « Götzendämmerung, oder wie man mit dem Hammer philosophiert.»

Brentano zuckt gewissermaßen vor dem Geistigen zurück. Nietzsche zerschlägt das Geistige. Im Grunde genommen muß derjenige, der die innere Kulturgeschichte der neuesten Zeit betrachtet, bei aller Ver­schiedenheit eine tiefgehende Ähnlichkeit dieser beiden Persönlich­keiten finden. Und dennoch, gerade in der neuesten Schrift, von der ich Ihnen neulich gesprochen habe, hat Brentano ein kurzes Kapitel über Nietzsche, in dem er zeigt, daß er für Nietzsche gar nichts anderes hat als bloße Ablehnung. Er nennt ihn eine belletristisch schillernde Eintagsfliege. Er vergleicht ihn mit Jesus und findet, daß Nietzsche eine Karikatur von Jesus ist. Man kann nicht anders sagen als: Es ist eigentünilich, daß ein so außerordentlich feiner Mensch wie Franz Brentano nicht ein Organ entwickelt, um auch nur einiger­maßen in das einzudringen, was ein anderer Geist erlebt, der ihm im Grunde und in seinem Schicksal so ähnlich ist, wie ich es Ihnen dargestellt habe.

Das ist aber überhaupt eine Zeiterscheinung für unsere Gegenwart und drückt nur an ausgezeichneten Beispielen aus, wie die Menschen heute sind. Sie leben sich nicht ineinander, sie leben sich auseinander. Ich habe es oftmals hervorgehoben, sie gehen aneinander ohne Ver­ständnis vorbei, und das ist durchaus auch eine soziale Erscheinung unserer Zeit. Die Menschen gehen aneinander vorbei, selbst die stärk­sten Wahrheitssucher. Die anderen Menschen machen es allerdings auch so; nur kommt bei solchen ausgezeichneten Persönlichkeiten in

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bedeutungsvollen Symptomen zum Vorschein, was allgemeine Zeit­erscheinung ist. Warum gehen denn die Menschen so verständnislos aneinander vorbei? Wir bräuchten so sehr die Möglichkeit des gegen­seitigen Verständnisses! Wir bräuchten heute so sehr die Möglichkeit, daß jemand eindringt sowohl in Nietzsche wie in Brentano oder meinetwillen in Haecke4 in Daz'id Friedrich Sfrauß und so weiter, um zu zeigen, wie von den verschiedensten Gesichtspunkten aus diese verschiedenen Persönlichkeiten die Welt anschauen. Aber zu einer solchen, in die einzelnen persönlichen Standpunkte aufgehenden Be­trachtung kommt doch nur die geisteswissenschaftliche Anschauung, diejenige, die nun wirklich zum Geiste aufsteigt. Und das gerade ist der Grund, warum die Menschen einander nicht verstehen: daß sie nicht zum Geiste aufsteigen. Wir werden in der Erscheinung, daß erne Persönlichkeit wie Brentano an dem bloßen Naturwissenschaft­lichen hängen blieb, den Grund suchen müssen, warum er gar keine Brücke schaffen konnte zu einer anderen Persönlichkeit, die im Grunde genommen ein stark ähnliches Schicksal wie er selbst hatte. Erst die geisteswissenschaftliche Vertiefung wird in die verschieden­sten Standpunkte eindringen können. Dazu aber ist eben eine eindrin­gende Menschenbetrachtung, eine eindringende Menschenerkenntuis notwendig. Denn, wovor stehen im Grunde genommen solche Per­sönlichkeiten, die von der naturwissenschaftlichen Methodik des 1 9.Jahrhunderts ergriffen werden, wie Brentano, wie Nietzsche?

Sie stehen eines Tages vor der Tatsache, daß sie als ehrliche Er­kenntnissucher, als ehrliche Wahrheitssucher auf der einen Seite die physische Welt haben, die ausgezeichneten naturwissenschaftlichen Methoden, um in die physische Welt einzudringen; auf der anderen Seite eine geistige Welt. Bis zu jener Oberflächlichkeit, zu der es heute viele bringen, daß sie diese geistige Welt zunächst überhaupt gar nicht als den großen Gegensatz zu der physischen Welt sehen, konnten es Menschen wie Nietzsche und Brentano natürlich nicht brin­gen. Sie sehen also die physische Welt, sie sehen die geistige Welt, aber zwischen beiden ist keine Brücke zu schlagen. Sie sehen, was der Mensch aus seiner Naturgrundlage heraus will; sie sehen jenes Wol­len, dem die Instinkte, die Triebe zugrunde liegen, sie versuchen, aus

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der physiologischen Natur des Menschen heraus diese Triebe, diese Instinkte zu erklären, wie sie sich gewissermaßen zusammenballen zum Wollen. Dann aber merken sie, daß eine geistige Welt Ideale über ihnen aufrichtet, denen nachzustreben ist; sie bemerken gegen-über dem Wollen das Sollen, und sie finden keine Brücke zwischen dem Wollen und dem Sollen. Ein Mensch wie Brentano wird Psycho­loge, Seelenwissenschafter. Die Physiologie ist ja bis zu einem ge­wissen Grade fertig. Er will aber die Seelenerscheinungen unter­suchen. Er will es in der Untersuchung der Seelenerscheinungen der Naturwissenschaft nachmachen. Er ist zunächst einmal gar nicht sicher, ob er Seelenerscheinungen hat, weil ihm die Naturwissenschaft das in gewissem Sinne bestreitet. Brentano ist eigentlich nur deshalb sicher, daß es Seelenerscheinungen gibt, weil er so und so lange frommer Katholik war, nicht aus irgendeiner wissenschaftlichen Er­kenntnis heraus.

Dieser Zwiespalt steht furchtbar in der Seele dieser Menschen: die geistige Welt, die physische Welt, und keine Brücke zwischen beiden. Wie kommt man von einem zum anderen? Die sittlichen Ideale stehen da. Aber es ist mit der Erkenntnis nicht einzusehen, wie das, was die sittlichen Ideale wollen, die menschlichen Muskeln ergreifen kann, wie das den Menschen zum Handeln führen kann. Denn Naturwissen­schaft sagt eben bloß, wie sich nach physikalischen Gesetzen die Mus­keln und die Knochen bewegen, aber nicht, wie das Sollen einschlägt in die Bewegung der Muskeln und Knochen.

Da handelt es sich darum, daß im Grunde genommen bei aller Vollkommenheit der naturwissenschaftlichen Methode dieses natur­wissenschaftliche Jahrhundert dem Menschen gegenüber doch ganz hilflos war. Man konnte den Menschen einfach nicht untersuchen. Man konnte nicht darauf kommen, daß der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist, in der Richtung, wie ich das in den letzten Abschnitten meines Buches «Von Seelenrätseln» dargestellt habe. Man konnte nicht dazu gelangen, den Menschen zu gliedern in einen Nerven­Sinnesmenschen, der natürlich den ganzen Menschen ausfüllt, aber vorzugsweise im Haupte lokalisiert ist, in einen rhythmischen Men­schen, der wiederum den ganzen Menschen durchzieht, vorzugsweise

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aber in den Atmungs- und Zirkulationsorganen konzentriert, lokali­siert ist, dann in den Gliedmaßen-Stoffwechselmenschen, der der übrige Mensch ist. Das ist ein so tiefgehender Tatsachenbestand, daß an ihn alles angeknüpft werden muß, was zum Verständnis des Men­schen führen soll. Natürlich darf man nicht etwa sagen, die drei Glie­der des Menschen seien Kopf, Brust und Gliedmaßen. Ich habe schon gesagt, der Mensch ist überall Nerven-Sinnesmensch, nur prägt sich dieses vorzugsweise im Kopfe aus. Aber sehen Sie sich diesen Kopf an. Er ist so gebildet, daß wir immer tiefer und tiefer in die Bewunde­rung hineinkommen müssen, wenn wir den Bau, gerade den Nerven-bau dieses menschlichen Kopfes ins Auge fassen. Es ist innerhalb der physischen Erscheinungswelt nirgends ein wirklicher Grund aufzu­finden, warum das menschliche Haupt, namentlich in seinen inneren Partien, gerade so gebildet ist, wie es eben gebildet ist.

Da tritt jene Erkenntnis ein, von der ich oftmals hier gesprochen habe. Der menschliche Kopf ist schon seiner äußeren Form nach, wenn Sie von der Kopfbasis absehen, dem Kosmos nachgebildet. Er ist ja eigent­lich kugelig gebildet (s. Zeichnung S.164). Er ist herausgeholtin seiner Form aus dem Kosmos. Es wirken ja auch alle kosmischen Kräfte im Leibe der Mutter zusammen, um in der Embryonalbildung zuerst das menschliche Haupt zu erzeugen. Wenn wir geistig auf die Sache ein­gehen, so ist es so, daß dasjenige, was vom Menschen geistig-seelisch in einer geistig-seelischen Welt lebt, bevor der Mensch heruntersteigt ins physisch-irdische Dasein, sich zunächst mit den kosmischen Kräf­ten verbindet und dann erst die Vererbungskräfte ergreift. Der eigent­liche geistig-seelische Mensch bildet sich zuerst aus dem Äther der Welt heraus und geht dann erst an die physisch ponderablen Materien, die ihm im Leibe der Mutter dargereicht werden. Eigentlich ist also dieses Haupt aus dem Kosmos heraus gebildet, und das, was vom Menschen heruntergestiegen ist aus geistig-seelischen Welten auf die Erde, ist eingebildet dieser kosmischen Gestaltung. Daher versteht auch im Physischen niemand den Bau des menschlichen Hauptes, der ihn nicht im geistigen Sinne so erklärt, daß er sagt: Das Haupt des Menschen ist ein Abbild, ein unmittelbarer Abdruck des Geistigen. Diese wunderbaren Gehirnwindungen, alles, was da physiologisch im

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menschlichen Haupte zu entdecken ist, ist so, als wenn es kristallisier­ter Geist wäre, in materieller Form vorhandener Geist. Das mensch­liche Haupt ist als physischer Leib unmittelbar Abbild des Geistes.

Wenn jemand den Geist als solchen als Bildhauer darstellen sollte, so müßte er eigentlich einen durchgeistigten Menschenkopf studieren. Er wird natürlich, wenn er Modellkünstler ist, nichts Besonderes treffen; aber wenn er nicht Modellkünstler ist, sondern aus dem Gei­stigen heraus schafft, dann wird er gerade ein wunderbares Abbild der innersten Natur der kosmischen Geisteskräfte zuwege bringen, wenn er das menschliche Haupt schafft. Es ist Intuition, Inspiration, Imagination der kosmischen Geistigkeit, was im menschlichen Haupte vorliegt. Es ist, wie wenn die Gottheit selber ein Bild des Geistigen hätte schaffen wollen und dem Menschen sein Haupt aufgesetzt hätte. Es ist deshalb im Grunde genommen drollig, wenn die Menschen Bilder vom Geist suchen, während sie das beste, das großartigste, das gewaltigste Bild des Geistes, aber eben das Bitd des Geistes, nicht den Geist selbst, im menschlichen Haupte haben.

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Ganz entgegengesetzt ist es mit dem Gliedmaßenmenschen. Wenn Sie den Gliedmaßenmenschen dagegensteilen, so ist dieser nur der Erde angegliedert. Der hat nur einen Sinn als Angliederung an die Erde. Die Arme werden etwas herausgehoben aus dem Irdischen. Beim Tiere sind diejenigen Glieder, die beim Menschen die Arme sind, auch noch in die Erdenschwere eingestellt. Aber im wesent­lichen ist die Gliedmaßennatur des Menschen durchaus auf die Erden-kräfte hinorganisiert. Geradeso wie das Haupt des Menschen ein Ab­bild ist der kosmischen Geistigkeit, so zeigt uns das, was uns in den menschlichen Gliedmaßen entgegentritt, wie der Geist da gebunden ist an die Kräfte der Erde. Man studiere nur einmal die Form eines menschlichen Beines mit dem menschlichen Fuß! Will man es plastisch verstehen, so muß man die Kräfte der Erde verstehen. Geradeso wie man die höchste Geistigkeit verstehen muß, wenn man das Menschen-haupt begreifen will, so maß man, um die Form der Gliedmaßen zu begreifen, dasjenige studieren, was den Menschen an die Erde bindet, ihn zur Erde drückt, was verursacht, daß der Mensch der Erde ent­langgehen und sich im Weltall erhalten kann innerhalb der Schwere-kräfte. Das alles muß man studieren, die ganze Art, wie die Erde auf ein Wesen wirkt, das in dieser Weise sich zu ihr stellt, wie der Mensch es tut. So wie man den Geist studieren muß, um das menschliche Haupt zu verstehen, so muß man das Physische der Erde mit ihren Kräften studieren, um den Gliedmaßen- und Stoffwechselmenschen zu verstehen.

Das aber hat eine sehr bedeutsame Folge. Erst wenn man so hinein-sieht in den Menschen, wenn man hinzuschauen vermag auf das Haupt des Menschen, wie es sozusagen die zusammenkristallisierte, im ganzen Kosmos ausgebreitete wirkende geistige Welt ist, und wenn man in den Schwerelinien und wiederum in den Schwunglinien, in denen sich die Erde dreht, die Ursprünge der Formungen der menschlichen Glied­maßen sieht, wenn man so durchschaut dynamisch, in der Kräftewir­kung, die Art und Weise, wie der Mensch gestaltet und wie er gebaut ist, dann erst kann man ein Urteil darüber gewinnen, wie das Geistig-See­lische, das im Menschen selber auftritt, nun in den Menschen hinein-wirkt. Und das möchte ich Ihnen heute an zwei Beispielen sagen.

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Zwei Dinge können im menschlichen Seelenwesen eine große Rolle spielen, die sich gewissermaßen entgegengesetzt sind. Das eine ist das, was ich den Zweifel, das andere ist, was ich das Fürwahrhalten, die Überzeugung nennen möchte. Man könnte vielleicht auch andere, noch prägnantere Worte finden. Aber Sie alle werden verspüren, daß wir eine Art von polarischem Gegensatz des Seelenlebens haben, wenn wir auf der einen Seite von Zweifel, auf der anderen Seite von Über­zeugung sprechen. Stellen Sie sich einmal vor, was da geschieht, wenn in einem intensiveren Umfange den Menschen ergreift, was einerseits im Zweifel und andererseits in der Überzeugung wirkt. Versuchen Sie einmal, sich zu vergegenwärtigen, wie Sie über irgend etwas, und sei es auch nur ein Sie stark in Anspruch nehmendes Ereignis, in Zweifel versetzt sind. Es braucht gar nicht eine große Weltenwahrheit, ein großes Weltenrätsel zu sein, sondern nur eine Sie stark interessierende Angelegenheit. Sie mussen mit diesem Zweifel zu Bett gehen. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich herumwerfen, Unruhe empfinden, wie es innerllch rumort und Ihnen keine Ruhe läßt. Und versuchen Sie sich dann zu vergegenwärtigen, wie irgend etwas, was als eine wohltuende Überzeugung in Ihre Seele einfließt, eine innerliche Ruhe bewirkt, wie gewissermaßen eine Seelenwärme Sie ganz erfüllen kann. Kurz, Sie werden, wenn Sie wirklich innerlich die Sache unbefangen betrachten, sich schon die entgegengesetzten Naturen, des Zweifels auf der einen Seite, des Überzeugtseins auf der anderen Seite, vor Ihre Seele stellen können.

Worin liegt der Unterschied in bezug auf die Wesenheit des Men­schen? Das menschliche Haupt ist nachgebildet aus dem kosmischen Äther heraus dem, was wir in der geistigen Welt waren, das mensch­liche Haupt ist eine reine Nachbildung des Allermenschlichsten, näm­lich des geistigen Menschen. Zweifelnde Vorstellungen kommen an das Haupt heran, sie finden in dem Haupte keinen Platz. Das Haupt nimmt sie nicht auf Sie müssen durch das Haupt hindurchgehen bis in die Gliedmaßennatur herunter. In der Gliedmaßennatur, da ver­binden sie sich mit alledem, was körnig wird in dem menschlichen Stoffwesen, was so wird, daß es dieses menschliche Stoffwesen körnig durchsetzt, was also eine atomistische Natur annimmt. Zweifelnde

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Vorstellungen gehen, wie wenn unser Kopf für sie durchlässig wäre, durch ihn hindurch. Das Blut nimmt diese zweifelnden Vorstellungen zunächst auf, dann werden sie hinuntergetragen in den ganzen Orga­nismus, vorzugsweise vom Stoffwechsel aufgenommen, und dann erst dem Nervensystem übergeben, und sie leben in alldem, was in der menschlichen Natur atomistisch ist, was körnig, was salzig ist. Damit verbinden sie sich ganz besonders innig. Der Leib nimmt die Zweifels-vorstellungen auf, durch den Kopf gehen sie durch. Erst wenn rnan diese besondere Art des menschlichen Hauptes versteht, und daß die Materie des Hauptes nicht geeignet ist für Zweifelsvorstellungen, weil das Haupt ein Abbild der Wahrheit selber ist, aus der wir kommen, wenn wir vom Geistigen ins Physisch-Irdische heruntersteigen, dann begreifen wir: So wie das Licht durch ein durchsichtiges Glas, so gehen durch unseren Kopf die zweifelnden Vorstellungen hindurch und ergreifen den anderen Teil des Nervensystems und rumoren in unserem Stoffwechsel. Der Kopf nimmt die zweifelndenVorsteliungen nur insofern auf, als er selbst Stoffwechselnatur ist. Aber er leitet sie durch seine besondere Nervenorganisation hindurch und nimmt nur die überzeugenden Vorstellungen auf.

Die überzeugenden Vorstellungen finden überall, wenn sie in das Haupt des Menschen eindringen, verwandte Gebilde. Sie finden über­all im Nervensystem Unterkunft. Sie lassen sich gleich im Haupte des Menschen nieder und gehen in den übrigen Leib nicht durch das Blut,

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sondern durch das Nervensystem, das noch dazu in einer Art von Zer­störungsprozeß ist, so daß sie unmittelbar in ihrer Geistigkeit über­gehen an den ganzen übrigen Menschen. Aber vorzugsweise finden sie im Kopfe Unterkunft, erfüllen sie den Kopf. Und im Kopf, aus der Geistigkeit der Kopfesform, auch der inneren Formung, bekommen sie ihre für den ganzen Menschen passende Gestaltung und wirken daher so, wie wenn sie mit dem Menschen innig verwandt wären, wie wenn der Mensch selber innerlich in ihnen leben würde, wie wenn sie der Mensch selbst wären. Man möchte sagen: In den überzeugenden Vorstellungen formt das Haupt des Menschen etwas, was dem Men­schen besonders angemessen ist.

Studieren Sie den menschlichen Embryo, Sie werden sehen, zuerst bildet sich das Haupt, dann bildet sich der übrige Organismus; denn von dem Haupte gehen diejenigen Kräfte aus, die das übrige bilden. Wenn Sie überzeugende Vorstellungen ins Haupt aufnehmen, so ist es ja geistig so: die werden zunächst im Haupte geistig aufgenommen, und das Haupt sendet sie dann dem übrigen Menschen zu. Wie phy­sisch im Embryo der andere Mensch nachgebildet wird dem mensch­lichen Haupte, so wird hier das Geistige der Überzeugungen und Vor­stellungen des übrigen Menschen ausgestrahlt, und es entsteht ein Mensch daraus auf geistige Weise aus den überzeugenden Vorstellun­gen (linke Zeichnung, rot). Ein inneres Menschenbild strahlt aus in

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dem Menschen. Und mit allem, was den Menschen wie Wärme durch­zieht, verbindet sich das, was da ausstrahlt an überzeugenden Vor­stellungen im Menschen. Wie die zweifelnden Vorstellungen alles Körnige, alles Atomistische ergreifen, so ergreifen die überzeugenden Vorstellungen die den Körper durchströmende Wärme, das erste Glied des Ätherischen, das den ganzen Menschen durchzieht, und gehen nicht weiter ein in das Physische.

Versuchen Sie einmal, so sich die Gegenwart der zweifelnden und der überzeugenden Vorstellungen in der menschlichen Natur vor­zustellen, und Sie können jedesmal, wenn Sie das Wohltuende einer überzeugenden Vorstellung, das Folternde von zweifelnden Vor­stellungen nachfühlen und erleben, die Wahrheit der Sache im un­mittelbaren Leben ergreifen.

Ich habe oftmals gesagt, daß der Sprachgeist ein Geist ist, der vernünftig wirkt. Und wenn man den natürlichen Embryo der Zeugung zuschreibt (Zeichnung rechts, weiß), so ist man gar nicht weiter über­rascht, daß jene Bildung hier (links, rot) der Überzeugung zugeschrieben wird. Diese Dinge dürfen wir nicht als bloße Zufälligkeiten ansehen. Sie sind die Taten des waltenden Sprachgenlus, der durchaus mehr weiß als der einzelne Mensch. Ich weiß, daß eine heutige linguistische Wissenschaft das als eine Spielerei ansieht. Aber wenn man einmal in das Wirken und Weben des waltenden Sprachgenlus wirklich hinein­schauen wird, so wird man manches der heutigen Philologie und Linguistik als Spielerei ansehen.

Aber bedenken Sie jetzt, was das Ganze heißt. Sie bekommen ein Bild, wie zwei Seelenerlebnisse, der Zweifel und die Überzeugung, im physischen Menschen weiter wirken. Sie bekommen eine absolut begreifbare Brücke vom Seelisch-Geistigen in das Physische hinüber. Sie sagen sich, hier ist ein physischer Mensch, es schimmert und wellt durch seine physischen Körnchen im Leibe das, was er seelisch-geistig erlebt: das ist ein Skeptiker, das ist ein Zweifler. Sie sehen es der inneren Struktur seines Stoffes an, wie da der Zweifelgeist in der Seele, im Körper weiter vibriert. Sie sehen sich den anderen an, bei dem in ruhiger Weise die Wärme durch die Glieder strömt, und Sie sehen in diesem ruhigen Strömen der Wärme den physischen Ausdruck

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des den Überzeugungen Hingegebenseins. Sie sehen im Men­schen einen unmittelbaren physischen Ausdruck des Geistigen. So beginnen Sie erst das Physische zu verstehen. Der heutige Chemiker und Physiker sagt, wenn er den Menschen analysiert: Dadrinnen ist Kalk, Phosphor, Sauerstoff und Stickstoff, Kohlenstoff. - Ja, im Sauerstoff und Stickstoff und Kohlenstoff und Wasserstoff werden Sie niemals ein Geistiges finden. Da hat Du Bois-Reymond seibstverständ­lich ganz recht, wenn er sagt: Einer Anzahl von Sauerstoff- und Stick­stoff- und Kohlenstoffatomen kann es höchst gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen. - Ja, wenn man den Stoff im Leibe nur als Kohlenstoff, Sauerstoff und so weiter anschaut, da verhält es sich so. Wenn man aber weiß, wie dadrinnen ein Stoff wirkt, der für den Geist in der verschiedensten Weise empfänglich ist, der im Haupte ein un­mittelbares Nachbild von geistiger Wesenhaftigkeit ist, der im übrigen der Erde angegliedert ist, so daß dort das Irdische festhält, was als zweifelnde Vorstellungen durchgetrieben wird durch das Haupt, dann hört die Möglichkeit auf, zu denken, es sei in unserem Gehirn einer Anzahl von Kohlenstoff-, Stickstoffatomen und so weiter gleichgültig, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen. Da sehen wir, wie es dem Stoffe nicht gleichgültig ist, ob sich in ihn der Wärmestrom ergießt, oder ob in ihm die Salzbildung wirksam ist, so daß der Leib die Tendenz bekommt, die körnige Struktur zu ent­wickeln. Das sind zwei Gegensätze, die sich im Stoffe zum Ausdruck bringen, und die aus dem Geistigen herstammen. Es ist tatsächlich so, daß wir nicht deshalb einen Materialismus im 19. Jahrhundert gekriegt haben, weil man den Geist nicht gekannt hat. Den Geist in seiner filtriertesten Form hat das materialistische Zeitalter am besten ge­kannt, denn alle früheren Zeitalter haben den Geist eigentlich nicht in Reinkultur gehabt, sie haben in die Bilder des Geistes, die sie sich ge­formt haben, immer Materielles hineingemischt; es waren Bilder, in die immer Materielles hineingemischt war. Die reinen geistigen Vor­stellungen, die hat eigentlich erst das naturwissenschaftliche Zeitalter gebracht. Aber was das naturwissenschaftliche Zeitalter vernachlässi­gen mußte, das ist gerade die Kenntnis der Materie in Wirklichkeit, des Geistes in der Materie. Was uns in den Materialismus gebracht hat,

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das ist die zu geringe Kenntnis des materiellen Wesens der Welt, die Einsichtslosigkeit in das geistige Weben und Wirken im Materiellen. Materialistisch ist die Wissenschaft geworden durch Unkenntnis der materiellen Wirkungen. Dadurch, daß man nicht wußte, wie der Geist schöpferisch wirkt, stellte man sich diesen Geist immer abstrakter und abstrakter vor. Dadurch wurde das Sollen, wurden die sittlichen Ideale endlich etwas, wovon man nicht einmal fragen konnte, wo es herumfliegt im Raume, weil es nicht einmal die Materialität hatte, daß es herumfliegen konnte. Es war überhaupt nicht mehr da. Wenn man danach schnappte, war es ungefähr so, wie wenn man in einem Elemente atmen wollte, das nicht da ist. Wie wenn ein Mensch unter dem Rezipienten einer Luftpumpe atmen wollte, so kommen einem die Menschen des 19. Jahrhunderts vor! Wenn sie zum Beispiel nach den sittlichen Idealen schnappen - sie sind nicht da; sie möchten sie haben, aber sie sind nicht da, weil man keinen Begriff entwickeln wollte von dem Wirken des Geistig-Seelischen im Physisch-Leib­lichen. Daher kamen all die kuriosen Theorien auf von der Wechsel­wirkung des Physisch-Leiblichen mit dem Seelisch-Geistigen, die alle Gespinste waren, während eine wirkliche Erkenntnis nur durch ge­naues Eingehen auf den Tatbestand gewonnen werden kann.

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Lernt man so kennen, wie der Zweifel, wie die Überzeugung die Menschennatur durchwallen und durchweben, dann ist man imstande, dasjenige, was man am Menschen kennengelernt hat, nun auch wiederum an der Welt kennenzulernen. Wir haben in der Welt die Sphäre des materiellen Schaffens. Wir sehen zum Beispiel, wie sich draußen in der Welt die Materie körnig gestalten muß, wie sie sich kristallisiert. Haben wir erst kennengelernt, wie der Zweifel in uns das Körnige im Organismus ergreift, dann lernen wir draußen den Zwei­fel schauen. Wir schauen auf den Berg (weiß), der sich mit seinem körni­gen Gestein bildet; aber wir finden zu gleicher Zeit, wie diesen Berg das­selbe durchzieht, was wir in uns als Zweifel kennenlernen (rot), und wir lernen die schöpferische Kraft des Zweifels kennen. Der Zweifel in uns macht uns körnig, weil wir eben Menschen sind und nicht Natur. Der Zweifel draußen in der Natur, der wirkt das Richtige. Wenn das, was draußen in der Natur wirkt, in uns einzieht, so bewirkt es das Unrichtige. Indem Sie auf die Felsen treten, treten Sie auf die physische Ausgestaltung dessen, was die Gottheit als Zweifel aussendet, damit die Welt körnig werden könne. Und wiederum, wenn Sie Ihre Über­zeugungen studieren mit dem warmen Durchdrungensein, dann be­finden Sie sich in demjenigen, was schöpferisch entsteht. Wenn Sie sich also denken, daß im Grunde genommen in der Wärme der Schoß der schöpferischen Weltenkräfte zu suchen ist, dann finden Sie, daß aus der warmen Materie heraus das wirkt, was kosmische Über­zeugung ist.

Lernen Sie diese Dinge erst in Wahrheit in sich kennen, dann lernen Sie auch die Agenzien draußen im Kosmos in der richtigen Weise beurteilen. Wenn Sie dasjenige, was draußen abbröckelt und abbröselt, so daß wir gewissermaßen schon die erste Vorbereitung für das Zerstäuben unseres Irdischen im Weltenall vor uns haben, als Ausstrahlungen des Weltenzweifels ansehen, dann lernen Sie vieles im kosmischen Dasein begreifen. Und umgekehrt, wenn Sie das Über­zeugende ins Kosmische hineinzuschauen vermögen, dann lernen Sie vieles von dem Schöpferischen kennen. Doch das sind Dinge, durch die ich Ihnen nur andeuten wollte, wie man erst den Menschen kennen muß, um überhaupt eine Aussicht zu haben, das Weltendasein zu kennen.

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Nun, sehen Sie, für Brentano waren in den sechziger Jahren, für Nietzsche in den siebziger Jahren die naturwissenschaftlichen Metho­den da; die fanden Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, etwas Schwefel und so weiter im Gehirn. Darin war wirk­lich kein Geistiges zu erkennen. Und wenn man die Methode, die zu diesem geführt hatte, nun auf den Geist anwandte, so konnte man natürlich zu nichts kommen als entweder zu der geistigen Ohnmacht, zu der Brentano gekommen ist, oder zu dem Zermürben des Geisti­gen, wozu Nietzsche, der mehr Willensnatur war, gekommen ist. Aber beide unterlagen eben dem Schicksal, daß sie nicht vom Physischen zum Geistigen hinkommen konnten, weil sie im Physischen eben das Geistige nicht finden konnten, und daher auch den Geist nicht als etwas empfanden, was mächtig genug ist, um das Physische aus sich hervorzubringen.

So standen solche Geister vor einer physischen Natur, die eigentlich keinen Sinn hatte, weil sie nirgends etwas Geistiges enthält, und vor einer geistigen Natur, die keine Kraft, keine Macht hat. Das ist das Schicksal der bedeutendsten Geister, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Beginn des 20. Jahrhunderts vor der Materie ohne Sinn, vor dem Geist ohne Kraft standen.

Die Historiker haben von Ideen in der Geschichte gesprochen. Das ist Geist ohne Kraft. Den Ideen können Sie wahrhaftig keine Kulturinstrumente in die Hand geben, durch die die Kultur entsteht, oder durch die überhaupt historische Ereignisse entstehen; Ideen als Abstraktes sind kraftlos, das ist Geist ohne Kraft. Demgegenüber steht die Natur, die man nur in ihrer ungeistigen Materie studiert:

Materie ohne Sinn.

Niemals wird man die Brücke finden, wenn man auf der einen Seite das Unding erfindet: Materie ohne Sinn, und auf der anderen Seite den Ungeist: Geist ohne Kraft. Erst wenn man im Geist die Kraft findet, in der Überzeugung die Kraft, die Wärme durch den Körper hindurchzutreiben, weil der Mensch so und so organisiert ist, wenn man in dem Zweifel die Kraft findet, sich durch den Kopf hindurchzudrängen, weil in ihm keine Verwandtschaft mit dem Kopf besteht, und den übrigen Menschen innerlich zu zermürben, so daß

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er in körnige Strukturtendenz zerfällt, also erst wenn man in dem Geiste dasjenige findet, was Kraft hat, sowohl aufzulösen die körnige Struktur durch die Wärme, wie sie zu bilden in dem Salzbildungs-prozeß, dann findet man eine Materie, in der Sinn ist, weil dann der kraftvolle Geist so wirkt, daß eben dasjenige, was in der Materie einem vor Augen tritt, sinnvoll dasteht. Und so haben wir die Materie mit Sinn und den Geist mit Kraft zu suchen.

Das ist es, worauf ganz besonders solche Geister, wie Brentano und Nietzsche, in ihrem tragischen Schicksal, auch in ihren Persönlich­keiten hinweisen.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 15.Juli 1922

Es ist ja immerhin etwas, das berücksichtigt werden sollte, daß vor einiger Zeit von den Gegnern der auf dem Wiener anthroposophischen Kongreß vorgebrachten Dinge eine Versammiung einberufen worden ist, in welcher von den verschiedensten Rednern aus dem materialisti­schen Sinn der Gegenwart heraus gesprochen wurde, und daß zum Schluß ein besonders materialistisch gesinnter Arzt die verschiedenen Reden in ein Schlagwort zusammenfaßte, das eine Art Devise dar­stellen sollte für die Gegner anthroposophisch orientierter Geistes­wissenschaft, in das Schlagwort: Kampf gegen den Geist. - Es ist eben tatsächlich so, daß es heute Menschen gibt, welche den Kampf gegen den Geist als eine wirkliche Devise anschauen.

Wenn solch ein Wort ertönt, so wird man doch immer wieder daran erinnert, wie viele Menschen, gutgeartete, gutmeinende Menschen, es in der Gegenwart gibt, die gegenüber dem, was in der zivilisierten Welt waltet, eigentlich in einer Art von Schlafzustand befangen sind, die nicht vernehmen wollen, wohin die Dinge steuern. Man hältDinge, die von allergrößter Bedeutung sind, für unbedeutende Zeiterschei­nungen, für die Meinung von dem einen oder anderen, während es in der Tat so ist, daß sich heute ein im wirklichen Fortgang der mensch­heitlichen Entwickelung vorhandenes Streben deutlich geltend macht. Und eigentlich müßten alle diejenigen, welche ein Verständnis für eine solche Sache aufbringen können, auch in der intensivsten Weise mit ihrem Herzen dabei sein, um es wirklich aufzubringen.

Ich habe nun in Anknüpfung an zwei Persönlichkeiten zu zeigen versucht, wie gerade tiefere Naturen in die neueren Geistesströmungen hineingestellt waren. Ich habe diese zwei Persönlichkeiten kontrastiert, Franz Brentano und Nietzsche> um an ihnen zu zeigen, wie von den verschiedensten Seiten her Menschen, die zunächst durchaus nach dem Geistigen hin orientiert sind, gewissermaßen in der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Denkungsart untergehen. Wenn man Persön­lichkeiten, denen das, was ich angedeutet habe, Schicksal ist, ins Auge

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faßt, dann kann man vielleicht doch noch tiefer ergriffen werden, als wenn solche Dinge nur in abstrakter Charakteristik vorgebracht werden.

Bei Brentano wollte ich anschaulich machen, wie eine Persönlich­keit, die in einer ganz aus dem Katholizismus heraus gestalteten Er­ziehung aufgewachsen ist, sich auf der einen Seite lebenslänglich be­wahrt hat, was das katholische Christentum an Hinneigung zur geisti­gen Welt in ihre Seele verpflanzt hatte. Gerade in Franz Brentano, der 1838 geboren ist, also gerade in die Zeit hinein gelebt hat, in welcher die naturwissenschaailche Denkungsweise des 19. Jahrhun­derts alies Forschen und Geiststreben der Menschen überflutete, ge­rade in einer solchen Persönlichkeit zeigt sich, was fortlebt aus sehr alten Weltanschauungsströmungen.

Wenn wir den jungen Brentano ansehen, der in den fünfziger, sechziger Jahren in katholischen Priesterseminarien studierte, so fin­den wir, wie seine Seele sich mit zweierlei erfüllte, das ihn zunächst in einer sicheren Weise leitete. Das eine ist die katholische Offenbarungs-lehre, zu der er in einer solchen Stellung stand, wie eben die Theo­logen der katholischen Krrche seit der Zeit des Mittelalters standen. Die katholische Offenbarung über alies Geistige wird traditionell auf-genommen. Man findet sich hinein in eine Art von durch Gnade dem Menschen zuteil gewordenen Erkenntnis von den übersinnlichen Wel­ten. Damit verband sich dann für Brentano das andere Element, durch das er zunächst verstehen wollte, was er so durch die kathollsche Offenbarungslehre empfangen hatte. Das war die aristotelische Philo­sophie, jene Philosophie, welche also noch im alten Griechenland aus­gebildet worden ist. Und bis in die Mitte der sechziger Jahre, vielleicht noch etwas länger, lebte in Brentano ein Seelenleben, welches sich ganz im Sinne eines mittelalterlichen Scholastikers sagte: Man muß das, was der Mensch von übersinnlichen Welten wissen soll, so entgegen­nehmen, wie die Kirche es offenbart, und man kann das Denken zum Forschen über Natur und Leben anwenden nach der Anleitung des größten Lehrers für dieses Forschen, nach der Anleitung des griechischen Philosophen Aristoteles.

Diese zwei Dinge, Aristotelismus und katholische Offenbarungs-erkenntnis, haben ja die mittelalterlichen Scholastiker in ihrem Seelenleben

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miteinander verbunden, haben sie als vereinbar angesehen. Das lebte in Franz Brentano fort. Er wurde nur erschüttert in einer solchen Anschauung durch das, was ihm als die naturwissenschaftliche Me­thode dann entgegentrat, so stark erschüttert, daß er, als er seine Privatdozentur in Würzburg antrat, als eine Hauptthese den Satz auf­stellte, es müsse in aller Philosophie so verfahren werden wie in der Naturwissenschaft. Und er wollte dann eine Psychologie, eine Seelen-lehre begründen, in der das Seelenleben so betrachtet wird, wie die Naturwissenschaft die äußeren Naturerscheinungen betrachtet.

Man kann also schon sagen: Ein ganz radikaler Umschwung ist bei diesem Menschen eingetreten. Er wollte die Offenbarungserkennt­nis und die nur auf das Irdische beschränkte Vernunfterkenntnis in­einanderfügen, also die Forderung: Wissenschaft kann nur sein, was nach dem Muster der naturwissenschaftlichen Methodik gebildet ist. Man sollte sich gefühlsmäßig so recht vor die Seele stellen, was ein solcher radikaler Umschwung eigentlich bedeutet.

Worauf ich nun zunächst Ihren Sinn lenken möchte, das ist, daß bis zu diesem Umschwung noch die mittelalterliche scholastische An­schauung in eine außerordentliche Persönlichkeit hereinscheint. Die wirkt fort, wie sie ja heute in vielen Zeitgenossen, die in ehrlicher Art im Katholizismus stehen, fortwirkt, wie sie im Grunde genommen, wenn auch in einer etwas anderen Form, in vielen ehrlichen Be­kennern der evangelischen Bekenntnisse vorhanden ist. Wenn ich Nietzsche angeführt habe, so war es aus dem Grunde, weil ja Nietzsche allerdings nicht in seiner Seele ein Fortleben der mittelalterlichen Scholastik hatte, aber etwas anderes lebte in seiner Seele fort, näm­lich das, was dann während der Renalssance wie eine Art Reaktion auf die Scholastik zutage getreten ist. Nietzsche hatte eine Art grie­chischer Kunstweisheit, die die Grundiage bildete für seine ganze Weltauffassung. Er hatte sie so, wie sie etwa die Renalssancemenschen hatten. Aber diese Renalssancemenschen hatten keineswegs schon den Drang und die Neigung, das Geistige in seiner Realität nicht anzu­erkennen. Sie verspürten, sie fühlten noch die Realität des Geistigen. So daß auch in Nietzsche etwas aus uralter Zeit herüberlebte in seiner Seele. Und auch er, wie ich Ihnen gestern gesagt habe, mußte in die

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naturwissenschaftliche Anschauung des 19. Jahrhunderts untertauchen und verlor vollständig, was seine Seele mit einer geistigen Welt ver­band.

In dem, was damit angedeutet wird, liegen ungeheuer bedeutende Rätselfragen für den wirklichen Wahrheitssucher der Gegenwart. Nehmen wir einmal die zwei in das Seelenleben hereindringenden Geistesströmungen, wie sie in der mittelalterlichen Scholastik liegen. Veranschaulichen wir uns einmal, was da eigentlich vorliegt. Ich möchte es auf folgende Weise tun. Wir haben innerhalb der mittel­alterlichen Scholastik eine Anzahl von, sagen wir, Lehrsätzen über die übersinnliche Welt, zum Beispiel über die Tritütät der geistigen Urwesenheit, über die Inkarnation des Christus in dem Leib des Jesus von Nazareth, also eine ganze Reihe von Lehrsätzen, von denen gesagt werden muß, daß sie sich nicht auf die sinnliche, sondern auf die übersinnliche Welt beziehen, die in sehr alten Zeiten einmal von Menschen gefunden worden sind, die damals Initiierte, Eingeweihte waren. Denn man darf sich natürlich nicht vorstellen, daßso etwas wie der Lehrsatz von der Trüiität oder der Inkarnation einfach von irgend jemand erfunden worden ist, um die Menschen zu betrügen. Diese Lehrsätze sind vielmehr die Ergebnisse von Erfahrungen, von Erlebnissen einstiger Eingeweihter. Daß man sie als eine übernatür­liche Offenbarung ansah, das ist erst eine spätere Anschauung. Solche Lehrsätze sind ursprünglich auf dem Wege der Einweihung gefunden worden. Man gab später nur nicht mehr zu, daß man eine solche Einweihung durchmachen kann und selber zum Beispiel zu der An­schauung der Trinität kommen könnte.

Dogma wird ja etwas erst dadurch, daß man seinen Erkenntnis-ursprung nicht mehr hat. Wenn jemand ein Eingeweihter ist und die Tritütät schaut, so ist sie für ihn kein Dogma, sondern eine Erfahrung. Wenn irgendwo behauptet wird, man könne so etwas nicht schauen, sondern es werde geoffenbart und müsse dann geglaubt werden, dann ist es ein Dogma. Die Verachtung der Dogmen als solcher ist natürlich nicht berechtigt, sondern bloß eine gewisse Stellung der Menschen zu den Dogmen, das ist es, was anfechtbar ist. Wenn man die Dogmen, die einen tiefen geistigen Gehalt haben, zurückverfolgen kann bis zu

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derjenigen Form, in der sie einmal ein Initiierter ausgesprochen hat, dann hören sie auf, Dogmen zu sein. Aber diesen Weg, den der Mensch durchzumachen hat, um hinzukommen zu dem Orte, wo man die Dinge schaut, machte man eben im Mittelalter nicht mehr. Man hatte alte Lehrsätze, die einmal Initiationsweisheit waren. Sie waren Dog­men geworden. Man sollte sie jetzt bloß glauben. Man sollte sie als Offenbarungserkenntuis hinnehmen. Das war also die eine Strömung, die Offenbarungserkenntnis. Die andere Strömung war nun die Ver­nurrr:erkenntnis, das, worüber sich ja der mittelalterliche Scholastiker unterrichten ließ im Sinne der aristotelischen Lehre. Aber man dachte darüber so: Man kann durch diese Vernunfterkenntnis die Natur bis zu einem gewissen Grade erforschen. Man kann auch logische Schlüsse aus dieser Naturerkenntnis ziehen, zum Beispiel den Schluß, daß es einen Gott geben müsse. Die Trinität kann man nicht finden, aber man kann den Vernunftschluß finden, daß es einen Gott geben müsse, daß die Welt einen Anfang genommen hat. Das war dann Vernunlt­erkenntnis.

Es gab durchaus solche Schlüsse, die der mittelalterliche Schola­stiker der Vernunfterkenntnis zugestand, die bis an das Übersinnliche herantippte; nur gab man die Anschauung des Übersinnlichen nicht zu. Aber Vernunftschlüsse gab man zu, durch die man zwar nicht die wirklichen Erkenntnisse der Offenbarung verstehen könne, aber durch die man doch herantippen kann an so etwas wie das Dasein Gottes oder den Anfang des Weltendaseins. Präambula fidei nannte man diese Wahrheiten, die durch die Vernunft gefunden werden konnten, und die dann eine Grundlage bilden konnten, um durchzudringen zu dem, was durch keine Vernunft erkundet werden konnte, sondern was der Inhalt der Offenbarung sein sollte.

Nun versetzen wir uns, nachdem wir diese beiden Geistesströmun­gen, Erkenntnisströmungen nebeneinandergestellt haben, in das Ge­müt eines Menschen, der sie in seiner eigenen Seele nebeneinander-stellte. In der Zeit, in der die Scholastik geblüht hat - ich habe das seit vielen Jahren oftmals ausgesprochen -, war das, was da in einem Scholastiker lebte, durchaus nicht jenes Schlimme, von dem heute unverständige Leute erzählen, sondern es war zu einer bestimmten

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Zeit der mittelalterlichen Entwickelung einfach das, was durch die Entwickelung der Menschheit das Gebotene war. Man konnte in einer gewissen Zeit keine andere Anschauung haben. Heute sind die Dinge natürlich überholt. Heute müssen andere Wege zur Erkenntnis und zur menschlichen Seelenbetätigung gefunden werden, als sie in der Scholastik zuhause waren. Aber deshalb sollte man sich doch be­mühen, mit Verständnis auch in diese Scholastik einzudringen. Und das kann man nur, wenn man sich jetzt frägt: Wie stand in der Seele eines ehrlichen Scholastikers die Offenbarungserkenntnis neben der auf die Naturerscheinungen und auf einseitige Vernunftschlüsse aus den Naturerscheinungen gerichteten Vernunfterkenntnis? Wie stan­den diese beiden Dinge nebeneinander?

Was wollte eigentlich solch ein Scholastiker und mit ihm ja alle seine Gläubigen, alle, die in ehrlicher Weise im Katholizismus drinnen standen, wenn er sich in diejenige Seelenstimmung versetzte, die nach der Offenbarung hin ging, wenn er sagte: Was die Dogmen geben, darf man nicht anschauen, das Anschauen ist nicht möglich; man muß es als eine Offenbarung hinnehmen? Der Scholastiker ver­suchte eine gewisse Seelenstimmung gegenüber der übersinnlichen Welt hervorzurufen. Er war völlig durchdrungen davon, daß diese übersinnliche Welt vorhanden ist und in einer innigen Beziehung steht zu dem, was im Menschen als Seele lebt. Aber im Menschen suchte er keinen Erkenntnisweg, um zu dem, was da als übersinnliche Welt in einer innigen Beziehung zum Menschen steht, unmittelbar durch die eigene Persönlichkeit zu kommen.

Vergegenwärtigen Sie sich diese Stimmung. Es war die Stimmung gegenüber einem, ich möchte sagen, bekannten Unbekannten, gegen­über einem unbekannten Bekannten, gegenüber einem solchen, das man anbeten und verehren soll, dem man aber doch scheu gegenüber­stehen soll, so daß man gewissermaßen nicht zu ihm die Augen auf-schlägt.

Daneben stand die Vernunfterkenntnis. Die scholastische Vernunft war eine außerordentlich scharfsinnige, etwas, was später nicht wieder erreicht worden ist. Man möchte wünschen - ich habe es auch hier öfter ausgesprochen -, daß die Leute, die heute Naturwissenschaft

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cder überhaupt Wissenschaft treiben, nur wirklich so scharf denken lernen möchten, wie die Scholastiker haben denken können. Es war eine Vernuntterkenntnis, die sich nur selber versagte, über gewisse Grenzen hinauszugehen: Offenbarungserkenntnis auf der einen, Ver­nunfterkenntnis auf der anderen Seite. Aber wenn wir nun einmal die Offenbarungserkenntnis und die Vernurtterkenntnis der Scholastiker mit ähnlichen Gebilden von heute konsequent vergleichen, dann zeigt sich da ein großer Unterschied.

Der Scholastiker sagte zu sich selber: Du darfst mit deiner Er­kenntnis in das Gebiet nicht eindringen, aus dem du nur Offenbarun­gen haben sollst. Du darfst nicht etwa in ein Schauen der Trinität, in ein Schauen der Inkarnation eindringen. - Aber in der Offen­barung, die er durch seine Kirche empfing, waren doch Ideen von der Trinität, Ideen von der Inkarnation gegeben. Sie wurden beschrieben. Man sagte sich: das Erkennen dringt nicht vor bis zu diesen Dingen, aber denken kann man sie, wenn man sich eben die Gedanken über diese Dinge im Sinne dessen macht, was geoffenbart ist. Sie können von den mittelalterlichen Scholastikern nicht sagen, sie hätten ein bloßes dunkles mystisches Gefühl von dem Übersinnlichen gehabt. Das war es nicht. Es war schon ein in plastischen Ideen ausgebildetes Denken, das den Inhalt der Offenbarung urnfaßte. Man dachte über die Trinität, man dachte über die Inkarnation. Aber man dachte eben nicht so, wie die Gedanken sind, zu denen man selber kommt, sondern wie man Gedanken denkt, die einem geoffenbart werden.

Sehen Sie, auch das entspricht noch einem gewissen Faktum der höheren Erkenntnis. Es gibt ja heute noch immer Leute, welche ge­wisse atavistisch-hellseherische Anschauungen, wie man es nennen kann, welche traumhafte Imaginationen haben. Es gibt durchaus Menschen, die können sich zum Beispiel in solchen atavistisch-hell­seherischen Imaginationen bis zu der Anschauung der atlantischen Vorgänge erheben. Das gibt es noch heute. Glauben Sie nur ja nicht, daß in dem, was solche Menschen als hellseherische Imaginationen haben, keine Gedanken leben. Solche Hellseher haben oftmals viel plastischere Gedanken als unsere sonderbaren Logiker, die aus der heutigen Schulung heraus das Denken lernen. Manchmal möchte man

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über die Logik derjenigen, die aus der heutigen Schulung heraus das Denken lernen, verzweifeln, während man über die Logik, die sich einfach atavistisch-hellseherisch offenbart, nicht zu verzweifeln braucht; denn die ist oft eine sehr streng entwickelte.

Man kann also heute noch immer nachweisen, wie in dem, was übersinnlich wirklich geoffenbart ist für das menschliche Anschauen, schon Denken drinnen lebt. So auch in der mittelalterlichen Scholastik. Das ist ja erst eine Anschauung der neueren Zeit, daß man mit der Erkenntnis auch die Gedanken ausmerzen soll aus dem Offenbarungs-inhalte, so daß der Glaube heute nicht nur die Erkenntnis, sondern auch das Denken aus seinem Inhalt herausdestillieren will. Das haben die mittelalterlichen Scholastiker nicht gemacht. Die haben zwar die Erkenntnis herausdestilliert, nicht aber das Denken. Wenn Sie daher die Dogmatik der mittelalterlichen Scholastik nehmen, so herrscht darin ein sehr stark ausgebildetes Denksystem.

Das lebte weiter in einem solchen Menschen wie Franz Brentano. Daher konnte er denken. Er konnte Gedanken fassen. Das sieht man selbst in den Rudimenten seiner Seelenkunde, in der er es nur bis zum ersten Band gebracht hat. Da sieht man es noch, daß er eine gewisse innere Plastik der Gedankenbildung hat, wenn er sich auch fortwährend in einer furchtbaren Weise selber auf die Fuße tritt und dadurch nicht vorwärtskommt. Sobald er irgendeinen Gedanken über ein Seelen-gebilde hat - und er hat solche -, so verbietet er es sich gleich, über die Dinge zu denken. Dieses Verbieten ist heute ja etwas Außerordent­liches. Ich habe Ihnen erzählt, wie ein außerordentlich geistvoller Mann, der das bedeutende Buch «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende» geschrieben hat, mir in Wien selber vor kurzem sagte: «Ich habe meine Gedanken über das, was hinter den bloßen Vorkonunnissen als die Urfaktoren steht.» Aber wissenschaftlich verbietet er sich, diese Gedanken zu haben. Man könnte sich ganz gut denken, hypothetisch natürlich, daß ein naturwissenschaftlich geschulter Mensch heute durch ein Wunder plötzlich hellsichtig würde, und daß er die Hellsichtigkeit bei sich selbst in der schlimmsten Weise bekämpfen würde. Das könnte man sich hypothetisch ganz gut denken, weil die Autorität des am Äußerlichen festhaltenden Erkennens eine ungeheure ist.

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Das war also das eine, was in der Seele des mittelalterlichen Scho­lastikers lebte: ein konkret gestalteter Offenbarungsinhalt. Auf der anderen Seite stand eine Vernunfterkenntnis, die auf die Natur ging, die aber auch noch nicht so war, wie unsere heutige Naturerkennt­nis. Schlagen Sie, um sich das zu erhärten, nur einmal ein natur-geschichtliches Buch, zum Beispiel von Albertus Magnus auf; da wer-den Sie Naturobjekte, wie sie heute beschrieben werden, wohl auch finden - sie sind alierdings anders beschrieben, als man sie heute be­schreibt -, aber neben dem finden Sie noch alierlei Elementar- und Geistwesen. Da lebt in der Natur noch Geist, und es ist nicht so, daß man nur den ganz trockenen sinnlichen Augenschein als Natur­geschichte und Naturwissenschaft beschreibt. Diese zwei Dinge leben also nebeneinander, ein Offenbarungsinhalt, demgegenüber man sich die Erkenntnis verbietet, den man aber doch denkt, so daß der menschliche Geist ihn immer noch in seinen Gedanken erlangt, und ein Vernunfterkenntnis-Inhalt, der aber noch Geist hat, der jedoch auch noch etwas hat, was man anschauen muß, wenn man es in seiner Wirklichkeit vor sich haben will.

Die Naturerkenntnis hat sich durchaus aus der mittelalterlichen Scholastik herausentwickelt. Der eine Ast der Scholastik, die Vernunftetkenntnis,

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hat sich fortentwickelt und wurde zu der modernen Naturanschauung. Aber was ist dadurch geschehen? Stellen Sie sich die Naturerkenntnis-Gedanken eines Scholastikers recht lebhaft vor. Da sind noch geistige Inhalte drinnen. Wovor schützen denn diese geistigen Inhalte den scholastischen Naturforscher des Mittelalters?

Vielleicht darf ich das schematisch so darstellen. Nehmen Sie an, dies hier war solch ein mittelalterlicher Scholastiker mit seiner Sehn­sucht nach Offenbarungserkenntnis nach oben, Sehnsucht nach Natur-erkenntnis nach unten. Aber er hat in der Naturerkenntnis Geistiges. Ich lasse da etwas Rot durchgehen. Er hat in den Offenbarungserkenntnissen

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das Denken drinnen. Da lasse ich etwas Gelb durch­gehen. Wohin will denn eigentlich diese Vernunfterkenntnis? Sie will ja hinaus zu den Objekten, zu den Gegenständen um uns herum. Die Gedanken, die man sich macht, die wollen bei den Gegenstän­den einschnappen. Sie werden nicht irgendeine Pflanze erkennen wollen, sich einen Begriff machen wollen von der Pflanze, ohne daß Sie darauf rechnen: der Begriff schnappt da ein, er will einschnap-pen. Aber beim Scholastiker hindert ihn der geistige Inhalt, der noch

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seine Vernunfterkenntnis durchsetzt, so recht da unten einzuschnap­pen. Das schnappt nicht vollständig ein, das wird gewissermaßen etwas zurückgeworfen. In was schnappt es nicht hinein? Wenn näm­lich die heutige intellektualistische Vernunfterkenntnis in die äußere Natur einschnappt, wenn sie voll einschnappt, so schnappt sie näm­lich voll in das Ahrimanische ein. Was bedeutet also die Geistigkeit des mittelalterlichen Scholastikers in bezug auf seine Vernunfterkennt­nis? Daß er im Grunde genommen wie an etwas, was so ein bißchen brennt, mit dieser Vernunfterkenntnis heran will. Aber er spürt das Brennen und zuckt immer wieder zurück: Natur ist Sünde! - Er hütet sich vor Ahriman! Das hat nun aber die weitere Entwickelung gebracht: Sie hat im 19. Jahrhundert alles Geistige hinausgeworfen aus der Vernunfterkenntnis, und damit schnappte die Vernunft-erkenntnis in das Ahrimanische ein.

Und was sagt denn diese in das äußere Ahrimanische einge-schnappte Vernunfterkenntnis? Sie sagt: Die Welt besteht aus Ato­men, Atombewegung wird aller wissenschaftlichen Erkenntnis zu-grunde gelegt. Sie erklärt die Wärme, das Licht für Atombewegun-gen, sie erklärt alles in der Außenwelt für Atombewegungen, denn das befriedigt unser Kausalitätsbedürfnis.

1872 hielt Du Bois-Reymond in Leipzig seine berühmte Rede über die Grenzen der Naturerkenntnis. Es ist die Rede, in der die Ver­nunfterkenntnis der Scholastik so weit vorgedrungen ist, daß alies Geistige herausgeworfen wurde; und mit der Devise «Ignorabimus» sollte der Geist des Menschen in das Ahrimanische einschnappen. Und Du Bois-Reymond schildert sehr anschaulich, wie ein Menschen-kopf, der nun eine Übersicht hat über alies das, was da an Atomen im Weltenall wirbelt, nicht Grün und nicht Blau, überhaupt keine Far­ben sieht, sondern nur überall Atombewegungen wahrnimmt. Er spürt keine Wärme, aber überali, wo Wärme ist, fühlt er jene Bewegung, von der ich Ihnen vor acht Tagen hier gesprochen habe. Er sug­geriert sich alles ab, was da an Farben, an Wärmezuständen, an Ton und so weiter ist. Er füllt seinen Kopf mit einer Erkenntnis der Welt an, die nur aus Atomen besteht. Stellen Sie sich einmal vor:

Die ganze Welt stellt ein solcher Kopf vor als aus Atomen bestehend.

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Er hat im Kopfe: Schon in dem Momente, wo Cäsar den Rubikon überschritten hat, da gab es in unserem Kosmos diese be­stimmte Konstellation von Atomen. Jetzt braucht er nur die Diffe­rentialgleichung aufstellen zu können, und so, indem er weiterrechnet, findet er die nächste Konstellation, wieder die nächste und so weiter.

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Er kann die fernste Zukunft berechnen. Das nannte Du Bois-Rey­mond, weil es auch ein Ideal von Laplace war, den Laplaceschen Kopf. Da hätten wir also, 1872, einen Intellekt geschildert, der uni­versell die Welt begreift, der da begreift, alles ist Atombewegung, und man braucht bloß die Differentialgleichungen zu kennen und sie dann zu integrieren, und man bekommt die Weltenformel.

Was hat man dadurch aber eigentlich erreicht? Man hat dadurch erreicht, daß man so denken gelernt hat, wie Ahriman denken kann, wie das ahrimanische Ideal des Denkens ist. Die ganze Bedeutung von dem, was in der Zeit geschieht, lernt man erst erkennen, wenn man weiß, was es eigentlich ist. Man wird die Ignorabimusrede hinstellen in der Geschichte der neueren Geistesentwickelung, aber man wird das, was sie wert ist, was sie für eine Bedeutung hat, erst erkennen, wenn man in die Lage kommt, zu zeigen, daß da wirklich der eine Ast der scholastischen Geistesströmung in das Ahrimanische einge-schnappt hat. Sehen Sie, der Scholastiker hielt gewissermaßen seine Erkenntnis in der Schwebe. Sie kam nicht so ganz an das heran, was da draußen ist. Er zog sich stets mit seinem Erkennen vor Ahriman zurück. Dadurch hatte er es ja so notwendig, wirklich scharfsinnige

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Begriffe auszubilden; denn scharfsüinige Begriffe müssen noch durch menschliche Tüchtigkeit ausgebildet werden. Experimente machen, nun, da braucht man die menschliche Tüchtigkeit nur, um die Appa­rate zusammenzustelien und so weiter, aber ein so scharfsianiges Den­ken, wie es die Scholastik gehabt hat, gehört nicht dazu.

Das bedeutete einen ganz wichtigen Wendepunkt, als man einmal eingeschnappt war in das Ahrimanische. Denn das, was Sie draußen sehen als die sinnlichen Erscheinungen der Welt, als Ihre sinnliche Umgebung, das ist ja nur so lange da, als die Erde da ist. Das geht mit unserem Erdenplaneten zugrunde. Was fortlebt, das sind die Ge­danken, die draußen einschnappen. Wenn so etwas gedacht wird wie das, was im Laplaceschen Denken liegt, oder was Du Bois-Reymond als ein Ideal des naturwissenschaftlichen Denkens hingestellt hat, so bedeutet das nicht bloß, daß es gedacht wird, sondern das sind Realgedanken, die draußen einschnappen. Und wenn alles, was wir mit unseren Sinnen überblicken auf der Erde, zugrunde gegangen ist, diese Gedanken können fortleben, wenn sie nicht vorher aus-getilgt werden. Daher ist durchaus die Gefahr vorhanden, daß, wenn so etwas allgemeine Denkweise wird, unsere Erde sich in einen solchen Planeten verwandelt, wie er den Vorstellungen der Materialisten entspricht. Der Materialismus ist nur so lange eine bloße Lehre, als er nicht Realität gewinnt. Aber darnach streben die ahrimani­schen Mächte, daß die Gedanken des Materialismus so stark und ver­breitet werden, daß das, was zunächst von der Erde übrigbleibt, die Atome sind.

Wenn wir heute sagen, wir müssen alles aus Atomen erklären, so ist das ein Irrtum. Wenn aber alle Menschen anfangen zu denken, es müsse alles aus Atomen erklärt werden, wenn alle Menschen sich Laplace­sche Köpfe aufsetzen, dann wird die Erde wirklich so, daß sie aus Atomen besteht. Nicht von Urzeit an ist dies richtig, daß die Erde aus Atomen und ihren Bestandteilen besteht, aber die Menschheit kann das bewirken. Das ist das Wesentliche. Der Mensch ist nicht bloß daraufhin veranlagt, falsche Ansichten zu haben, sondern die falschen Gedanken schaffen falsche Realitäten; wenn die falschen Gedanken allgemein werden, dann entstehen Realitäten.

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Diese ahrimanische Gefahr hat sich heute schon gezeigt. Die an­dere Gefahr in der Offenbarungserkenntnis, die suchte der mittelalter­liche Scholastiker zu vermeiden, indem er die Offenbarungserkennt­nis noch im Gedankenkleide hatte. Konkrete Gedanken waren es, die den Offenbarungsinhalt erfaßten. Die Dogmen wurden allmählich so wenig durchdacht, daß die Menschen dazu kamen, sie überhaupt im allgemeinen fallenzulassen. Man soll ja Unverstandenes fallenlassen, das ist auf der einen Seite voll berechtigt, und wenn die Menschen nicht mehr die Dogmen bis zum Schauen verfolgen können, so ist es selbstverständlich, daß sie sie fallenlassen. Wozu kommen sie aber dann? Dann kommen sie zu den allerabstraktesten Gedanken einer Abhängigkeit von irgendeinem ganz unbestimmten Ewigen oder Unendlichen. Dann werden nicht mehr Gedanken plastisch aus­gebildet, die den Offenbarungsinhalt in sich tragen, sondern dann wird nur irgendeine Abhängigkeit von irgendeinem Unendlichen dunkel mystisch gefühlt. Dann verschwlndet der Gedankeninhalt. Dieser Weg ist in der neueren Zeit auch gemacht worden. Er ist der, der zum Luziferischen hinführt. Und ebenso sicher, wie der Weg der Vernunfterkenntnis in der neueren Zeit zum Ahrimanischen geführt hat, ebenso sicher kann der andere Weg ins Luziferische hineinführen.

Und nun sehen Sie sich noch einmal in dem Sinne, wie ich es geschildert habe, solch einen Geist wie Franz Brentano an. Franz Brentano kommt ganz mit dieser Stimmung an die Natur heran: Nur ja nicht Ahriman berühren! - und an die übersinnliche Welt: Nur ja nicht Luzifer berühren! - Also nur ja nicht atomistisch werden, nur ja nicht Mystiker werden, mit dieser Stimmung kommt er an die Na­turwissenschaft heran, die eine so mächtige Autorität ist, daß er sich ihr unterwirft. Er schildert die Seelenerscheinungen im Sinne der naturwissenschaftlichen Methode. Wäre er von einem oberflächliche-ren Ausgangspunkt hergekommen, wie etwa viele von den heutigen Psychologen, dann hätte er eben eine ahrimanische Seelenlehre ge­schrieben, so eine Psychologie, eine «Seelenlehre ohne Seele». Das konnte er nicht. Daher ließ er den Versuch nach dem ersten Bande sein, schrieb die folgenden Bände - vier hätten es werden sollen -

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nicht mehr, weil etwas in ihm steckte, was ihn gar nicht den Gedan­ken fassen ließ, ganz ins nur Ahrimanische hineinzusausen.

Und nehmen Sie Nietzsche. Nietzsche wurde ebenso von der Na­turwissenschaft ergriffen. Aber wie nahm er die Naturwissenschaft auf? Er kümmerte sich eigentlich nicht viel um die einzelnen Me­thoden, sondern er sah nur die naturwissenschaftliche Denkungsweise im allgemeinen an. Er sagte sich: Alles Seelische ist im Physiologi­schen begründet, ist ein «Menschliches, allzu Menschliches». Was eigentlich göttlich-geistige Ideale sein sollten, ist eine Äußerung, eine Offenbarung des Menschlichen, des Allzumenschlichen. Er lehnte ge­rade diejenige Art der Erkenntnis ab, die bei Brentano zu finden ist:

Vernunfterkenntnis. Er ließ den Willen rege werden in sich. Und, wie ich schon gestern sagte, er zermürbte die Ideale, er zermürbte das Geistige. Das ist die andere Erscheinung, wo eine Persönlichkeit gewissermaßen bis an das Ahrimanische herankommt, aber an das Ahrimanische anschlägt. Statt einzuschnappen, schlägt er an. Er möchte auch den Atomismus ausbilden, aber er schlägt an wie gegen eine Wand.

Und so sehen wir, wie solche Geister im 19. Jahrhundert ihre be­sondere Seelenstimmung ausbilden, weil sie so unendlich nahe an das herankommen, was als ahrimanische Mächte in unsere Erkenntnis hereinspielt. Das ist das Schicksal solcher Geister im 19. Jahrhundert, daß sie an Ahriman so unglaublich nahe herankommen. Und dann kommen sie entweder in die Lage wie Brentano, daß sie sich gerade an der Grenze scheu zurückziehen und überhaupt nicht weitergehen mit ihrer Erkenntnis, oder daß sie anfangen herumzuschlagen wie Nietzsche. Aber es ist die ahrimanische Macht, die ihre Wogen gerade im 19. Jahrhundert an die Erkenntnis herangebracht hat, was dann herüberwirkt in das 20. Jahrhundert. Und das soll man einsehen. Und die originellen Geister, die im 19. Jahrhundert diese noch halbver­mummte Begegnung mit Ahriman persönlich erlebten, hatten das als ein tragisches Schicksal hinter sich stehen. Aber die Schüler, die be­kamen nun schon die zubereiteten Gedanken. Diese Gedanken leben in ihnen. Da hat schon die ahrimanische Macht die Gedanken aus­gebildet. Die ersten originellen Geister zuckten zurück; die Schüler

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bekamen die unvollständigen ahrimanischen Gedanken. Die wirken jetzt in ihnen: Das muß man heute als einen wirklichen Zusammenhang über­blicken. Das lebt heute als eine Zeitstimmung, als eine Seelenverfas­sung. Sie muß man verstehen, damit man wirklich darauf kommt, wie notwendig es ist, eine wirkliche spirituelie Weltanschauung gel­tend zu machen, in all den verschiedenen Kulturformen, in denen sich eine solche Weltanschauung ausleben muß.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 16. Juli 1922

Ich mußte während der letzten Betrachtung wiederholt darauf auf­merksam machen, wie in der Blütezeit des Mittelalters innerhalb der europäischen Zivillsation zwei Geistesströmungen durch die besten Seelen gehen, jene beiden Geistesströmungen, die ich gestern ge­nauer charakterisierte als die Offenbarungserkenntnis und die Ver­nunfterkenntnis innerhalb der Scholastik. Nun mußten wir ja beto­nen, daß die Offenbarungserkenntnis in dem Sinne, wie sie innerhalb der Scholastik auftritt, durchaus nicht irgend etwas mystisch oder abstrakt Unbestimmtes ist, sondern daß sie ein Erkenntnisinhalt ist, der in scharf konturierten, scharf geformten Begriffen auftritt. Nur daß man diesen Begriffen nicht zugesteht, daß sie unmittelbar in menschlicher Erkenntnis gefunden werden können, sondern darauf aufmerksam macht, daß sie von jedem einzelnen, der in ihren Besitz gelangen soll, aus der Überlieferung der Kirchen genommen werden müssen, die eben in ihren Überlieferungen und in ihrem kontinuier­lichen Fortbestand das Recht haben, solchen Erkenntnisinhalt gewis­sermaßen aufzubewahren.

Der zweite Erkenntaisinhalt war dem menschlichen Forschen, dem menschlichen Streben freigegeben; aber es mußten diejenigen, die nun wirklich innerhalb der wahren scholastischen Richtung drinnenstan­den, anerkennen, daß mit diesem Vernunfterkenntnis-Inhalt keinerlei Erkenntnis aus der übersinnlichen Welt erlangt werden kann.

Damit ist also in der geistigen Blüte des Mittelalters zugegeben, daß gewissermaßen dasjenige historisch erhalten werden mußte an Erkenntnis, was den Menschen für die damalige Gegenwart nicht mehr zugänglich war. Ich habe aber auch schon angedeutet, daß es nicht immer so war. Wenn wir weiter zurückgehen, das Mittelalter hindurch bis in die ersten christlichen Jahrhunderte, dann finden wir, daß dieser besondere Charakter der Offenbarungserkenntnis nicht schon in gleich scharfer Weise betont wird, wie das im späteren Mit­telalter der Fall war. Und wenn man etwa einem Griechen, sagen wir

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der athenischen Philosophenschule, so etwas vorgehalten hätte wie eine Trennung der Erkenntnis nach einer bloßen Vernunfterkenntnis und einer nur durch Offenbarung gegebenen Erkenntnis - die Offen­barung in dem Sinne genommen, wie sie im Mittelalter genommen worden ist -, so würde der griechische Philosoph das eben gar nicht verstanden haben. Er hätte keinen Begriff damit verbinden können, daß, wenn einmal durch außerweltliche Macht dem Menschen ein Erkenntnisinhalt über das Übersinnliche mitgeteilt worden ist> der dann bleiben sollte, er nicht neuerdings wiederum mitgeteilt werden könnte. Der Grieche verstand, daß man nicht durch die gewöhnliche Erkenntnismethode zu dem höheren geistigen Inhalte kommen könne; allein er verstand es so, daß man von den Erkenntnisfähigkeiten, die man nun einmal als Mensch hat, durch geistige Schulung, durch den Weg der Initiation aufsteigen kann zu höheren Erkenntnisfähigkei­ten. Dann tritt man eben in diejenige Welt ein, in der man zu schauen vermag, was für das Übersinnliche die Wahrheit, die Er­kenntnis ist.

Und gerade mit Bezug auf diese Sache ist für das ganze abendlän­dische Zivilisationsleben eine Wendung eingetreten zwischen dem, was in den Jahrhunderten vorhanden war, in denen die griechische Philosophie in Plato, in Aristoteles noch geblüht hat, und dem, was dann aufgetreten ist etwa am Ende des 4. nachchristlichen Jahrhun­derts. Ich habe ja die eine Seite dieser Sache schon öfter betont. Ich habe betont: Das Ereignis von Golgatha ist in einer Zeit geschehen, in welcher noch viel von alter Initiationsweisheit, alter Initiations­erkenntnis vorhanden war. Und wahrhaftig, genügend viele Leute ha­ben die alte Initiationsweisheit angewendet, um aus ihrer Initiation heraus das Golgatha-Ereignls mit den Mitteln der übersinnlichen Er­kenntnis zu begreifen. Initilerte bemühten sich, alles, was sie zusam­mentragen konnten an Initiationserkenntnis, aufzuwenden, um zu ver-stehen, wie eine solche Wesenheit wie der Christus, der vor der Zeit des Golgatha-Mysteriums nicht mit der irdischen Entwickelung ver­einigt war, sich mit einem irdischen Leib verbindet und nun mit der menschlichen Entwickelung vereinigt bleibt. Was das für ein Wesen ist, wie diese Wesenheit sich verhalten hat, bevor sie heruntergestiegen

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ist in das Irdische, alles das waten Fragen, zu deren Beantwor­tung man höchste Initiationsfähigkeiten auch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha anwendete.

Nun aber sehen wir, daß die alte Initiationsweisheit, die in Vorder­asien, in Nordafrika, auch innerhalb der hellenischen Kultur durchaus vorhanden war und sich auch nach Italien herüber, sogar weiter noch nach Europa herein erstreckte, daß diese Initiationsweisheit vom 5. nachchristlichen Jahrhundert an überhaupt immer weniger und we­niger verstanden wird. Man redete dann von einzelnen Namen so, daß man die Träger dieser Namen innerhalb der christlichen Zivillsation des Abendlandes als ziemlich verächtliche Persönlichkeiten hinstellte, mindestens als Persönlichkeiten, mit denen sich ein richtiger Christ nicht befassen sollte. Man bestrebte sich aber auch, möglichst die Spuren alles früheren Wissens von dem, was eigentlich in solchen Persönlichkeiten war, zu verwischen.

Es ist merkwürdig, daß eine Persönlichkeit wie Franz Brentano aus seiner mittelalterlichen Tradition heraus für seine eigene Seele noch durchaus den Haß gegen alles das erbte, was damals in Persönlich­keiten wie zum Beispiel Plotin lebte, von dem ja auch außerordentlich wenig gewußt wurde, der aber als ein Philosoph angesehen wurde, mit dem sich ein richtiger christlicher Bekenner nicht befassen sollte. Brentano teilte diesen Haß auf Plotin. Er hat ihn auf sich vererben lassen. Er hat eine Abhandlung geschrieben: «Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht», und er meinte damit Plotin, den Philoso­phen des 3. nachchristlichen Jahrhunderts, der in jenen Geistesströ­mungen drinnen stand, die eigentlich mit dem 4. Jahrhundert dann vollständig versiegten und an die man in der späteren christlichen Entwickelung keine Erinnerung bewahren wollte.

Was in den gebräuchlichen Geschichtsphiiosophien über sehr her­vorragende Geister jener Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte ge­sagt wird, das ist ja zumeist nicht etwa nur das Notdürftigste, son­dern es ist so, daß nicht im geringsten eine zusammenhängende Vor­stellung über diese Geister daraus gewonnen werden kann. Es ist ja natürlich, daß es auch in der Gegenwart noch große Schwierigkeiten bereitet, sich über die drei oder vier ersten christlichen Jahrhunderte

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eine ordentliche Vorstellung zu machen. So zum Beispiel über die Art und Weise, wie das, was bei Plato und Aristoteles vorhanden war, fortgewirkt hat, und was ja ohnedies schon in einem gewissen Sinne entfremdet war der tieferen Weisheit der Mysterien, in deren Besitz aber solche Persönlichkeiten, wie ich sie meine, in den ersten drei bis vier christlichen Jahrhunderten noch waren. Es ist ja heute eigent­lich kaum eine ordentliche Plato-Erkenntnis in den gebräuchlichen Geschichten der Philosophie vorhanden. Wenn Sie sich dafür interes­sieren, so schlagen Sie sich doch zum Beispiel das Kapitel über Plato in der Geschichte der griechischen Philosophie von Paul Deussen auf, wo Deussen davon spricht, wie eigentlich Plato über die Idee des Guten im Verhältnisse zu den anderen Ideen gedacht hat. Da kön­nen Sie Sätze finden wie diesen: Plato nahm einen persönlichen Gott nicht an, sonst wären die Ideen, die er annahm, ja nicht durch sich selbständig gewesen; Plato konnte einen wesenhaften Gott nicht an­erkennen, weil die Ideen selbständig sind. - Allerdings, sagt Deussen, setzt Plato wiederum die Idee des Guten über die anderen Ideen. Allein das soll nicht heißen, daß die Idee des Guten als irgend etwas wesenhaft Selbständiges über den anderen Ideen stehe; denn, was die Idee des Guten ausdrücke, das sei nur eine gewisse Famillenähulichkeit, die in allen Ideen vorhanden sei.

Bitte, setzen Sie sich jetzt einmal ordentlich auf Ihre Stühle und schauen Sie sich Deussens Logik, diese Logik eines hervorragenden Philosophen der Gegenwart, genauer an. Da hat Plato die Ideen. Die sind selbständig. Jetzt hat Plato auch noch die Idee des Guten. Die darf aber nicht irgend etwas sein, was die anderen Ideen dirigiert, sondern die Ideen haben untereinander eine Famillenähnlichkeit. Durch die Idee des Guten wird nur die Familienähnlichkeit ausge­drückt. Ja aber, woher kommen denn Fanilienähnlichkeiten? Wenn irgendwo eine Famillenähnlichkeit ist, so kommt sie doch von der Abstammung von einem Übergeordneten mindestens, wenn man den Ausdruck gebrauchen wollte. Die Idee des Guten, die weist auf eine Familienähnlichkeit; also müßte man ja erst recht an den Stammvater herankommen!

Ja, das steht in hervorragenden Philosophiegeschichten der Gegenwart!

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Die Menschen, die so etwas schreiben, werden Autoritäten in der Gegenwart. Die Leute lernen das und merken nicht, daß es der reine Unsinn ist. Man kann natürlich jemandem, der solch einen Un­sinn redet über die griechische Philosophie, auch nicht zutrauen, daß er sehr viel über die indische Weisheit zu sagen hat. Aber dennoch, wenn Sie heute irgendwo etwas Autoritatives über die indische Weis­heit suchen, so wird auf Paul Deussen gedeutet. Die Dinge sind schon schlimm.

Ich wollte damit nur sagen, daß gegenwärtig auch für das Auf­fassen der Platonischen Philosophie selbst nicht viel Sinn vorhanden ist. Der gegenwartige Intellektualismus ist eben dazu sehr wenig im­stande. Daher kann auch so etwas nicht verstanden werden, was im­merhin wenigstens noch zu den Überlieferungen gehört. Das ist, daß Plotin, der neuplatonische Philosoph - so nennt man ihn ja immer -, ein Schüler war des Ammonius Sakkas, der im Beginne des 3. nach-christlichen Jahrhunderts gelebt hat, aber nichts geschrieben, son­dern nur einzelne Schüler unterrichtet hat. Geschrieben haben die hervorragendsten Geister gerade dieser Zeit überhaupt nichts, weil sie der Meinung waren, daß der Weisheitsinhalt als ein Lebendiges da sein müsse, daß er nicht übertragen werden könne durch die Schrift von dem einen auf den anderen, daß er nur von Mensch zu Mensch im unmittelbaren persönlichen Verkehr übertragen werden müsse. Nun wird von Ammonius Sakkas noch eines erzählt, dessen Bedeutung den Leuten wiederum nicht klar wird. Es wird erzählt, daß er sich bemühte, gegenüber den schrecklichen Streitereien der An­hänger des Aristoteles und der Anhänger Platos Einigkeit zu er­zielen, indem er zeigte, wie eigentlich Plato und Aristoteles durchaus in Harmonie miteinander stehen.

Ich möchte Ihnen einmal nur in wenigen Strichen charakterisieren, wie dieser Sakkas etwa über Plato und Aristoteles gesprochen haben könnte. Er charakterisierte seinerseits: Plato gehörte noch demjenigen Zeitalter an, in welchem viele Menschen ihren unmittelbaren Seelen-weg hinauf in die geistige Welt fanden, mit anderen Worten, in wel­chem die Menschen das Initiationsprinzip noch gut kannten. Aber in älteren Zeiten, so mag etwa Ammonlus Sakkas gesagt haben, war das

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logisch-abstrakte Denken gar nicht entwickelt. Davon sind nur die ersten Spuren jetzt vorhanden - ich meine «jetzt» im Beginne des 3. nachchristlichen Jahrhunderts. Gedanken, von Menschen ausgebil­det, gab es eigentlich auch noch zu Platos Zeiten nicht. Aber wäh­rend ältere Init iierte alles das, was sie den Menschen zu geben hatten, nur in Bildern, in Imaginationen gaben, war Plato einer der ersten, welcher die Imaginationen umwandelte in abstrakte Begriffe. Wenn man sich den mächtigen Bildinhalt vorstellt (rot), zu dem auch Plato den Menschen hinaufschauen lassen wollte, so war es durchaus so, daß sich für ältere Zeiten dieser Bildinhalt eben bloß in Imaginationen ausdrückte (orange), aber für Plato schon in Begriffen (weiß). Aber diese Begriffe strömten gewisserrnaßen aus dem göttlich-geistigen Inhalt herunter (Pfeile). Plato sagte: Die unterste Offenbarung, gewis­sermaßen die verdünnteste Offenbarung des göttlich-geistigen Inhal­tes, sind die Ideen. Aristoteles hatte nicht mehr eine so intensive Möglichkeit, sich zu diesem geistigen Inhalt hinaufzuheben. Daher hatte er gewissermaßen nur das, was unterhalb des Bildinhaltes war, er hatte nur den Ideengehalt. Aber den konnte er noch als einen geoffenbarten auffassen. Es ist kein Unterschied zwischen Plato und

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Aristoteles, so sagte etwa Sakkas, als allein der, daß Plato höher hinaufschaute in die geistige Welt, und Aristoteles weniger hoch hinaufschaute in die geistige Welt.

Damit glaubte Ammonius Sakkas die Streitigkeiten hinwegzufegen, die unter den Anhängern des Aristoteles und des Plato vorhanden waren. Und wenn sich auch der Weisheitsgehalt schon unter Plato und Aristoteles dem intellektualistischen Auffassen näherte, so wa-ren immerhin in jenen alten Zeiten noch Möglichkeiten vorhinden, daß der eine oder der andere Mensch auch wirklich in persönlicher Erfahrung sehr weit in die Region des geistigen Schauens hinauf kam. Und so muß man sich schon vorstellen, daß solche Menschen, wie Ammonlus Sakkas und sein Schüler Plotin, in der Tat noch voll von inneren unmittelbaren Geist-Erlebnissen waren und vor allen Dingen solche Geist-Erlebnisse hatten, daß bei innen die Anschauung über die geistige Welt einen vollkonkreten Inhalt hatte. Man hätte natür-lich solchen Menschen nicht von einer äußeren Natur sprechen kön­nen, wie man es heute tut. Solche Menschen haben in ihren Schulen von einer geistigen Welt gesprochen, und die Natur unten, die heute vielen als das Ein und Alles gilt, war nur der unterste bildliche Aus-druck für das, was ihnen als geistige Welt bewußt war. Wie solche Menschen sprachen, davon kann man eine Vorstellung geben, wenn man einen der Nachfolger des Sakkas betrachtet, der noch tiefe Einsichten hatte und diese in das 4. Jahrhundert hinübertrug: Jambli­chos.

Stellen wir einmal das Weltbild des Jamblichos vor unsere Seele. Er hat etwa in der folgenden Weise zu seinen Schülern gesprochen. Er sagte: Will man die Welt verstehen, so darf man nicht auf den Raum schauen, denn im Raume ist nur der äußere Ausdruck der geistigen Welt vorhanden. Man darf auch nicht auf die Zeit schauen, denn in der Zeit spielt sich bloß die Illusion von dem ab, was wirklicher, wahrer Weltenitihalt ist. Man muß aufschauen zu denjenigen Mächten in der geistigen Welt, welche die Zeit und den Zusammenhang der Zeit mit dem Raum gestalten. Man schaue hinaus in das ganze Weltenall. All-jährlich wiederholt sich der Kreisgang, der sich sichtbarlich äußer­lich in der Sonne ausdrückt. Aber diese Sonne kreist durch den Tierkreis,

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durch die 12 Sternbilder. Das soll man nicht nur anglotzen. Denn in dem wirken und weben 360 himmlische Mächte, und sie sind es, die alles das bewirken, was im Laufe eines Jahres an Sonnen­wirksamkeit ausgeht für die ganze den Menschen zugängliche Welt, und sie wiederholen den Zyklus in jedem Jahre. Wenn sie allein re­gierten, so wurde das Jahr 360 Tage haben -, so etwa hatte Jambli­chos seinen Schülern gesagt. Aber da bleiben 5 Tage übrig. Diese 5 Tage sind von 72 unterhimmlischen Mächten, den Planetengeistern, dirigiert. Ich zeichne dieses Fünfeck in den Kreis, weil ja 72 zu 360 sich verhält wie 1 zu 5. Die 5 übrigbleibenden Weltentage des Jahres, in denen also gewissermaßen die 360 himmlischen Mächte eine leere Zeit lassen würden, die werden dirigiert von den 72 unterhimmli­schen Mächten. Nun wissen Sie ja, daß das Jahr nicht bloß 365 Tage, sondern noch einige Stunden mehr hat; für diese Stunden sind nach Jamblichos 42 irdische Mächte da.

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Weiter sagte Jambllchos zu seinen Schülern: Die 360 himmlischen Mächte hängen zusammen mit allem, was menschliche Hauptesorgani­sation ist. Die 72 unterhimralischen Mächte hängen zusammen mit allem, was Brustorganisation, Atmungs- und Herzorganisation ist, und die 42 irdischen Mächte hängen zusammen mit all dem, was im Menschen die rein irdische Organisation der Verdauung, des Stoff­wechsels und so weiter ist.

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So wurde der Mensch hineingestellt in ein geistiges System, in ein geistiges Weltsystem. Heute beginnen wir unsere Physiologien damit, daß wir auseinandergesetzt bekommen, wieviel der Mensch an Koh­lenstoff, an Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel, Phosphor, Kalk und so weiter aufnimmt. Wir setzen den Menschen in Beziehung zu dem, was leblose Natur ist. Jambllchos wurde in seinen Schulen den Men­schen dargestellt haben, wie er zu den 42 irdischen, zu den 72 zwi­schenhimmlischen oder planetarischen und zu den 360 himmlischen Mächten steht. Wie heute der Mensch dargestellt wird als etwas, was aus den. Stoffen der Erde zusammengesetzt ist, so wurde der Mensch dazumal dargestellt als etwas, was herunterfließt aus den Kräften, aus den Agenzien des geistigen Weltenalls. Man kann nur sagen, es war eine ungeheure, eine hohe Weisheit, welche damals in diesen Schulen vertreten worden ist. Man kann begreifen, daß Plotin, der erst im achtundzwanzigsten Lebensjahre dazu gekommen ist, ein Zuhörer des Ammonlus Sakkas zu werden, sich wie in einer anderen Welt fühlte, weil er fähig war, etwas von dieser Weisheit aufzunehmen. Und diese Weisheit wurde noch an vielen Stätten in den ersten vier Jahrhunderten nach dem Mysterium von Golgatha gepflegt. Mit dieser Weisheit versuchte man auch zu verstehen, wie der Christus heruntergekommen war zum Jesus von Nazareth. Man versuchte zu verstehen, wie der Christus sich in diese ganze mächtige Welt gei­stiger Hierarchien, in dieses geistige Weltengebäude hineinstellt.

Und nun will ich noch ein Kapitel der Jarublichos-Weisheit, die er in seinen Schulen vortrug, behandeln. Er sagte: Da sind also 360 himm­lische Mächte, da sind 72 planetarische Mächte und 42 irdische Mächte. Da sind also im ganzen 474 göttliche Wesenheiten der ver­schiedensten Rangordnungen. Ihr könnt nun, so sagte Jamblichos zu seinen Schülern, nachschauen im fernsten Osten, da werdet ihr sehen, daß es dort Völker gibt, die euch ihre Götternamen nennen. Dann geht ihr zu den Ägyptern, die nennen euch wiederum ihre Götternamen, zu anderen Völkern, auch diese nennen euch ihre Göt­ternamen. Dann geht ihr zu den Phöniziern, dann zu den Hellenen, wiederum findet ihr Götternamen. Und geht ihr hinüber zu den Rö­mern, wieder findet ihr Götternamen. Wenn ihr die 474 Götternamen

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nehmt, so sind alle diese verschiedenen Götter der verschiedenen Völker darinnen: Zeus, Apollo, auch Baal, Amon, der ägyptische Gott, alle Götter gehören zu diesen 474. Daß die Völker verschie­dene Götter haben, das liegt nur daran, daß das eine Volk sich von den 474 Göttern 12 oder 17 herausgenommen hat, das andere 20 oder 25, das andere Volk 3, 4 und so weiter. Aber wenn man diese verschiedenen Gottheiten der verschiedenen Völker richtig versteht, dann bekommt man 473 heraus. Und der höchste, der vornehmste, derjenige, der in einer bestimmten Zeit zur Erde niedei;gekommen ist, das ist der Christus.

Es war gerade in dieser Weisheit eine tiefe Tendenz, Frieden zu stiften unter den verschiedensten Religionen, aber nicht aus einem unbestimmten Gefühl heraus, sondern indem man erkennen wollte, wie eben für den, der aus dem Weltengebäude heraus die 474 Götter wirklich kennenlernte, die verschiedenen Gottheiten der verschiede­nen Völker sich einreihten in ein großes System, und man hat den ganzen Götterolymp aller Völker der alten Zeit so verstehen wollen, daß das alles in dem Christentum gipfelte. Gekrönt werden sollte dieses Gebäude davon, daß eben verstanden werden sollte, wie der Christus im Jesus von Nazareth seinen Platz zu seiner Erdenwirksam­keit gefunden hatte.

Wenn man so hineinschaut in jene allerdings heute nicht mehr gültige Geisteswissenschaft - denn heute mussen wrr auf eine andere Weise Geisteswissenschaft betreiben -, dann bekommt man eine un­geheure Achtung vor dem, was da gelehrt worden ist über das über-sinnliche Weltenall, über den übersinnlichen Kosmos. Aber abhängig machte man die Erkenntnis dieses Weltenalis davon, daß immer die Weisheit übertragen werden sollte durch unmittelbare Schülerschaft gegenüber den älteren Eingeweihten; daß die Weisheit nur demjeni­gen übertragen werden sollte, den man zuerst in bezug auf seine Er­kenntnisfähigkeiten wirklich bis zu der entsprechenden Stufe vorbe­reitet hatte, auf der er die Wesenheit des einen oder des anderen Gottes begreifen mußte.

Man kann sagen: Überall, in Griechenland, in Ägypten, in Vorder­asien wurde das innerhalb derjenigen Kreise, auf die es ankam mit

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Bezug auf die geistige Kultur, so angesehen, nicht aber innerhalb der römischen Welt. Diese römische Welt hatte ja allerdings auch noch Überreste jener alten Weisheit. Plotin selber lehrte lange Zeit in Italien, innerhalb der alten römischen Welt. Aber in die alte römische Welt war ein abstrakter Geist eingezogen, ein Geist, der nicht mehr im früheren Sinne den Wert der menschlichen Persönlichkeit verstehen konnte, den Wert des Wesenhaften überhaupt. Der Geist des Begrifflichen war ein­gezogen im Römertum, der Geist der Abstraktion; zwar noch nicht so wie in der späteren Zeit, aber weil er erst in seinen elementaren Formen war, wurde er, ich möchte sagen, um so energischer festgehalten.

Und so sehen wir denn, als das 4. nachchristliche Jahrhundert beginnt, auf dem Boden von Italien eine Art von Schule, welche den Kampf gegen das alte Initiationsprinzip aufnimmt, welche überhaupt den Kampf aufnimmt gegen das Präparieren des einzelnen Menschen zur Initiation hin. Eine Schule sehen wir entstehen, welche alles das sammelt und sorgfältig registriert, was von den alten Initiationen überliefert ist. Diese Schule, die aus dem 3. in das 4. Jahrhundert noch herüberwächst, geht darauf aus, das römische Wesen selber zu ver­ewigen, an die Stelle des unmittelbaren individuellen Strebens jedes einzelnen Menschen die historische Tradition zu setzen. Und in die­ses römische Prinzip wächst nun das Christentum hinein. Verwischt werden sollte gerade von dieser Schule, die am Ausgangspunkte jenes Christentums steht, das erst etwa im 4. nachchristlichen Jahrhundert beginnt, verwischt werden sollte namentlich alles, was man innerhalb der alten Initiation immerhin noch hat finden können über das Woh­nen des Christus in der Persönlichkeit des Jesus.

In dieser römischen Schule hatte man den Grundsatz: So etwas, wie es Ammonlus Sakkas gelehrt hat, wie es Jamblichos gelehrt hat, darf nicht auf die Nachwelt kommen. - Geradeso wie man dazumal im breitesten Urnfange darangegangen ist, die alten Tempel zu zer­stören, die alten Altäre auszumerzen, zu vernichten, was vom alten Heidentum übriggeblieben war, so ging man in einer gewissen Weise geistig daran, alles, was die Auffindungsprinzipien der höheren Welt waren, auszulöschen. Und so setzte man, um ein Beispiel herauszu-greifen, an die Stelle dessen, was man noch von Jamblichos und

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Ammorijus Sakkas gewußt hatte: daß der einzelne Mensch sich hin­aufentwickeln kann, um zu begreifen, wie der Christus im Leibe des Jesus Platz nimmt -, an die Stelle dessen setzte man das Dogma von der einen göttlichen Natur oder den zwei Naturen in der Persönlich-keit des Christus. Das Dogma sollte voll bewahrt werden, und die Einsicht, die Einsichtsmöglichkeit sollte verschüttet werden. Inner­halb des alten Rom ging die Umwandlung der alten Weisheitswege in die Dogmatik vor sich. Und man bemühte sich, alle Nachrichten, alles, was an das Alte erinnerte, möglichst zu zerstören, so daß von solchen Leuten wie Ammonlus Sakkas, wie Jamblichos, nur die Namen ge­blieben sind. Von zahlreichen anderen, die als Weisheitslehrer in den südllchen Gegenden Europas waren, sind nicht einmal die Namen geblieben. So wie all die Altäre gestürzt worden sind, wie all die Tem­pel ausgerottet, bis auf den Boden verbrannt worden sind, so ist auch alte Weisheit ausgetilgt worden, so daß die Menschen heute nicht ein­mal ahnen, was in den ersten vier Jahrhunderten nach dem Myste­rium von Golgatha noch im Süden Europas an Weisheit gelebt hat.

Von dem aber, was da vorgegangen ist, erreichte die Kunde doch immerhin auch die anderen Menschen, die sich für solche Dinge inter­essierten, die da sahen, wie allerdings in rasendem Tempo das alte Römertum zugrunde ging, wie das Christentum sich ausbreitete. Aber nachdem man das, was, ich möchte sagen, an glorreichem Empfang dem Mysterium von Golgatha bereitet worden war, ausgelöscht hatte, konnte man ja die Vereinigung des Christus mit dem Jesus nur noch in einem Dogma sehen, das dann durch die Konzilien mehr oder we­niger abstrakt aus romanisch-römischem Geist heraus festgelegt wor­den ist. Ausgelöscht wurde die lebendige Weisheit, und die Abstrak­tion, die dann als Offenbarungsinhalt weiterwirkte, trat an ihre Stelle.

Die Geschichte von diesen Dingen ist ja wie ausgelöscht, aber da-zumal, in den ersten christlichen Jahrhunderten, gab es zahlreiche Menschen, die sagten: Ja, es leben solche Eingeweihte, wie Jambli­chos einer war. Das sind diejenigen, die von dem wirklichen Chri­stentum erzählten. Für die ist der Christus der «Christus». Aber was haben die Römer immer mehr und mehr gemacht? Die Römer haben aus dem Christentum gemacht, was man nur «Die Galiläer» nennen

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kann. Das war eine Zeitlang, als das 3., 4. Jahrhundert begann, ein Ausdruck, der gebraucht wurde, um ein großes Mißverständnis zuzu-decken. Als das Christentum immer weniger und weniger verstanden wurde, sprach man immer mehr und mehr von den Galiläern; immer weniger wußte man von dem Christus, immer mehr gab man auf die menschliche Persönlichkeit des «Galiläers».

Aus diesem geistigen Milieu heraus ist dann Julianus, der sogenannte Apostat, erwachsen, der noch vieles von Schülern des Jamblichos auf­genommen hat, der noch etwas davon wußte, daß ein geistiges Wel­tenall da ist, das herunterreicht bis in die einzelnen Naturdinge hin­ein. Von den Schülern des Jamblichos hat Julianus der Apostat noch gehört, wie bis in das einzelne Tier, in die einzelne Pflanze hinein die Kräfte wirken von den 360 himmlischen Mächten, den 72 Zwi­schenmächten, den planetarischen Mächten, den 42 irdischen Mächten. Man verstand in der damaligen Zeit noch so etwas, wie es sich wun­derbar ausdrückt in einer Legende, die in bezug auf die Persönlich­keit des Plotin erzählt wird und die eine tiefe Bedeutung hat. Diese Legende lautet: Es gab schon viele, welche nicht mehr glauben woll­ten, daß jemand mit dem göttlichen Geist inspiriert sein könnte, und die sagten, daß jemand, der selber behauptet, er wisse etwas von der göttlich-geistigen Welt, von einem Dämon besessen sei. Deshalb wurde Plotin vor den ägyptischen Isistempel geschleppt, wo sich ent­scheiden sollte, welcher Dämon den Plotin von sich besessen gemacht hätte. Und als die ägyptischen Priester kamen, die noch eine Kenntnis von diesen Dingen hatten, und, vor dem Isisaltar, mit all den Kul­tushandlungen, die dazumal möglich waren, den Plotin prüften, siehe, da kam statt eines Dämons die Gottheit selbst zum Vorschein! - Es gab also in jenen Zeiten immerhin noch die Möglichkeit, wenigstens zuzugeben, daß man prüfen könne, ob irgend jemand in sich den guten Gott oder einen Dämon trüge.

Von solchen Dingen hörte Julian der Apostat noch. Aber auf der anderen Seite klang in seinen Ohren auch noch so etwas wie jene Schrift, die viel in den ersten christlichen Jahrhunderten im Römer-reich herumging und die man eine Predigt des Apostels Petrus nannte, die aber eine Fälschung war. In dieser Schrift wurde gesagt: Seht hin

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auf die gottlosen Hellenen, die sehen in jedem einzelnen Natur­wesen ein Göttlich-Geistiges. Das ist gottlos, das dürft ihr nicht! Ihr dürft in der Natur, in dem Tier, in der Pfiaa:e nicht irgend etwas Göttlich-Geistiges sehen, ihr dürft euch nicht erniedrigen zu dem Glauben, daß im Sonnengang oder im Mondengange irgend etwas Göttliches enthalten sei. - So klang es an Julianus den Apostaten heran, von der einen und von der anderen Seite her. Und er faßte eine tiefe Liebe zu dem Hellenentum. Er wurde zu der tragischen Persönlichkeit, welche in dem Sinne des Jamblichos über das Christen­tum reden wollte.

Es ist gar nicht auszudenken, was etwa in Europa geschehen wäre, wenn nicht das Römertum, sondern das Christentum Julians des Apostaten gesiegt hätte, wenn gesiegt hätte sein Wille, die Initiations-schulen wiederum aufzubauen, so daß die Menschen selber hätten Einsicht nehmen können, wie der Christus in dem Jesus gewohnt hat und wie der Christus zu den anderen Volksgöttern stand. Julian Apostata wollte nicht die heidnischen Tempel Zerstören. Er wollte sogar den Tempel zu Jerusalem, den Judentempel wieder herstellen. Er wollte die heidnischen Tempel wieder herstellen, und er nahm sich auch der Christen an. Nur eben Wahrheit wollte er haben. Er wurde vor allen Dingen durch jene Schule des alten Rom gestört, von der ich gesprochen habe, die das alte Initiationsprinzip auslöschen wollte und auch in Wirklichkeit ausgelöscht hat und die bloß die Traditio­nen, die registrierten alten Initiationsweisheiten an deren Stelle setzen wollte.

Und man wußte es ja einzurichten, daß Julian im richtigen Mo­mente von einer persischen Lanze getroffen wurde. Dazumal fiel das Wort, das seither niemals, auch nicht von Ibsen verstanden worden ist, das aber aus der damaligen Tradition heraus verstanden werden kann: Leider nicht der Christus, der Galiläer hat gesiegt! - Denn in diesem Todes-, in diesem Sterbemomente stand vor Julian Apostatas prophetischem Blick die Aussicht, daß nun immer mehr und mehr die Anschauung von dem göttlichen Christus schwinden werde, und der «Galiläer», der nur aus dem Galliäerstamm heraus stammende Mensch, allmählich wie ein Gott verehrt werden wird. Die ganze Entwickelung,

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die dann immer weiter heraufkam, bis in der neueren Zeit, im 19. Jahrhundert, die Theologie den Christus in dem Jesus vollständig verloren hatte, sie sah, mit einem ungeheuren Seherblick dazumal, in seinem dreißigsten Lebensjahre, Julian der Apostat voraus. Apostat war er in bezug auf das, was eigentlich erst kam. Der Apostat war eigentlich ein Apostel in bezug auf das, was ein Erfassen des Mysteriums von Golgatha im Geiste war und wieder werden muß.

Neuere geologische Schichten bedecken immer die alten, und man muß erst durch die neueren Schichten hindurch, wenn man zu den alten hinunterkommen will. Man möchte vielleicht nicht glauben, wie dick die Schichten sind, die historisch abgelagert sind im Menschen-werden. Denn, was sich da vom 4. Jahrhundert ab unter dem Ein­fluß des Romanismus als Schlchten gelegt hat über die ersten Auf­fassungen des Mysteriums von Golgatha, das ist sehr dick. Aber wir müssen wiederum die Möglichkeit finden, durch ursprüngliche Gei­steserkenntnisse diese Schichten zu durchdringen, um auch das Alt­ehrwürdige, das als Geistiges ebenso hinweggefegt worden ist wie die alten heidnischen Altäre, wiederzufinden.

Die ägyptischen Priester haben noch konstatiert, daß Plotin nicht einen Teufel, einen Dä mon, sondern einen Gott in sich trug. Im euro­päischen Westen konstatierte man aber, daß er jedenfalls einen Dä­mon in sich hatte. Lesen Sie die Dinge nach bis herauf zu der Rede von Brentano «Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht», dann werden Sie finden: Die ägyptischen Tempelpriester konstatierten, daß in dem Plotin, in dem Philosophen des 3. nachchristlichen Jahrhun­derts, nicht ein Dämon, sondern ein Gott lebte; Brentano konstatierte, daß nicht ein Gott, sondern ein Dämon in ihm lebte.

Und das ist es, was nun auch geschah im 19. Jahrhundert: daß die Götter für Dämonen und die Dämonen für Götter angesehen wur­den, daß man nicht mehr unterscheiden konnte im Weltenall zwischen Göttern und Dämonen. Das aber lebt dann in dem Chaos unserer Zivi­lisation weiter.

Ja, es macht schon nachdenklich, wenn man diese Dinge sach­gemäß ins Auge faßt. Ich wollte Ihnen nur ein Kapitel Geschichte

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heute vortragen, ganr: objektiv, denn selbstverständlich mußte alles sein, was geschichtlich geworden ist. Aber auch das muß wiederum sein, daß, wenn es notwendig war, daß die Menschen ein gewisses Zeitalter hindurch über gewisse Dinge unaufgeklärt blieben, sie dann nachträglich wiederum aufgeklärt werden und diese Aufklärung auch wirklich entgegennehmen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 21. Juli 1922

Die letzten Vorträge hier waren wesentlich gewidmet einer Auseinan-dersetzung über die Art und Weise, wie man sich das gegenwärtige Zeitbewußtsein zu denken hat. Ich habe dann das letzte Mal versucht, in frühere Zeiträume zurückzugreifen und darauf aufmerksam zu machen, wie dasjenige, was jetzt in den Seelen lebt, sich eigentlich innerhalb der abendländischen Zivilisation seit sehr langer Zeit vorbe­reitet hat. Heute möchte ich aus der unmittelbaren Gegenwart episo­disch herausheben einiges von dem, das Sie aufmerksam machen könnte darauf, wie sich aus dem allgemeinen Zeitbewußtsein mit Not­wendigkeit - einfach aus der in der Menschheitsentwickelung liegen­den Notwendigkeit - ein spirituelles Leben gestalten muß. Wir kön­nen ja sagen: Wo wir auch schließlich den Menschen beobachten, ob im Westen der gegenwärtigen Zivilisation, in der Mitte oder im Osten, überall bei einer intimeren Zeitbetrachtung kann uns klarwerden, wie es ohne das Einsetzen eines spirituellen Impulses einfach nicht mehr weitergeht.

Wir wollen heute gewissermaßen durch die Charakteristik des An­fanges und des Endes, um anderes für morgen und übermorgen vor­zubereiten, die letzten fünfzig Jahre mitteleuropäischer geistiger Ent­wickelung ins Auge fassen. Ich will das symptomatisch tun. Ich wrn es so tun, daß ich einiges charakterisiere für den Anfang und für das Ende dieser letzten fünfzig Jahre.

Wenn wir etwa in den Beginn der siebziger Jahre zurückgehen, so finden wir mannigfache geistige Erscheinungen, welche darauf hin-weisen, wie dazumal die Verfassung der Menschenseele war. Ich will aus diesen geistigen Erscheinungen einiges hervorheben. Da haben wir, sagen wir 1872, 1873 ein aufsehenerregendes Romanwerk, das mit den Tendenzen der damaligen Zeit innig zusammenhängt. Für die jüngeren Leute in unserer Zeit sind diese Dinge eigentlich vergessen, aber das Romanwerk, das ich meine, ist tatsächlich ein solches, das vor fünfzig Jahren etwa in einer außerordentlich einschneidenden

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Weise die Geister ergriffen hat. Ich meine Paul Heyses « Kinder der Welt». Paul Heyse, der in der datirligen Zeit berühmte Novellen­schreiber, wollte mit diesem seinem Roman eine Anzahl von Persön­lichkeiten in ihrem Leben darstellen, die alle von einer gewissen un-bestimmten Religiosität schon durchzogen sind, die aber zu gleicher Zeit abgefallen sind von irgendwelchen religiösen Bekenntnissen. Also den Kindern Gottes, die, ich möchte sagen, Paul Heyse mit alther­gebrachter Terminologie etwa sah in dem, was irgendeiner Konfession angehörte, wollte er gegenüberstellen die Kinder der Welt, die keiner Konfession angehörten, die, wie man dazurnal sagte, konfessionslos waren, die aber dennoch einen bestimmten Zug nach dem Ergreifen eines Religiösen hatten. Nun will ich nicht über diesen Roman selbst allzuviel sprechen, sondern ich möchte aufmerksam machen, wie ein solches Werk, das also Menschen hinstellt, die konfessionslos sind, in der damaligen Zeit Eindruck machte.

Ich habe ja öfters vor Ihnen meinen alten Freund und Lehrer Karl Julius Schröer erwähnt Er hatte die Eigentümlichkeit, daß er die gei­stigen Erscheinungen so verfolgte, wie sie ihre Wirkung taten im brei­teren sozialen Leben. Und so charakterisierte Karl Julius Schröer die Wirkung von Paul Heyses « Kinder der Welt» dadurch, daß er sagte, es sei außerordentlich merkwürdig, wie dieser Roman dazumal, also heute vor fünfzig Jahren, durch alle Hände ging, überall interessierte, wie die Leute eigentlich durch diesen Roman erst darauf kamen, worüber sie früher niemals nachgedacht hatten: daß sie einem posi­tiven Religionsbekenntnis fernstehen, daß sie auch mit ihrem reli­giösen Suchen nicht innerhalb irgendeines Religionsbekenntnisses ste­henblieben. Und Schröer machte dazumal die außerordentlich interes­sante Bemerkung, daß Menschen, die bis dahin an den Kultushand­lungen ihrer Kirche durchaus teilgenommen hatten, die also aus Ge­wohnheit ihre alten Kultushandiungen, die Gebräuche ihrer Kirche mitgemacht hatten, daß solche Menschen sagten, dieses Werk spreche eigentlich ihre innerste Überzeugung aus. Und daran schließt dann Schröer den Satz, der eigentlich interessant ist, daß gegenüber einer solchen Erscheinung religiöse Streitfragen wie ein Anachronismus er­scheinen, wie etwas, was eigentlich nicht mehr in die Gegenwart

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paßt - er meint die Gegenwart vom Anfange der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts -, weil die Menschen schon in ihrem Denken darüber hinaus seien. Aber wie gesagt, trotzdem das alles gilt, müssen wir doch sagen: Die Leute, die da geschildert werden, die haben jeden Zusammenhang mit einem der bestehenden Bekenntnisse ver­loren, aber es liegt in ihnen ein bestimmter Zug, irgendeine Art von Religiosität zu finden. Sie können sie nur nicht finden. Sie gehen konfessionslos durch die Welt, finden nicht einen Zusammenhang mit einer geistigen Welt durch religiöses Empfinden.

Wenn wir von einer solchen Erscheinung, die sich mehr innerhalb des belletristisch-literarischen Lebens abspielte, nun in die Hörsäle hin­einschauen, so finden wir, daß es ungefähr dieselbe Zeit ist, in der die Überzeugung von außerordentlich vielen Leuten, die innerhalb der Wissenschaft standen, ausgesprochen wurde von Du Bois-Reymond mit den schon von mir häufig genannten «Grenzen des Naturerkennens». In diesem berühmten Vortrage, den Du Bois-Reymond 1872 gehal­ten hat, wird ausgesprochen, daß eine sichere Erkenntnis nur möglich ist, wenn man die äußeren Naturerscheinungen durch Versuch und Beobachtung verfolgt und vordringt zu einer Art mathematisch-me­chanischen Denkens über das Weltengebäude, zu einer Art von Me­chanismus, von atomistischem Mechanismus des Weltgebäudes. Über ein solches Erfassen der Welt komme die Wissenschaft nicht hinaus, alles übrige müsse einem Glauben überlassen werden. Wenn man aber die Menschen, die im Beginne der siebziger Jahre so sprachen, wie etwa Du Bois-Reymond in seinen «Grenzen des Naturerkennens », gefragt hätte: Wie sollen sich die Menschen nun den Weg in geistige Welten hinein auch auf eine religiöse Weise suchen? - so würde keine Antwort gekommen sein. Es würde nur eine Äußerung gekommen sein, ganz ähnlich wie die Äußerung, die etwa alle diejenigen Men­schen tun, die in Paul Heyses «Kinder der Welt» als konfessionslose Menschen geschildert sind.

Nun muß man sagen, daß alle diejenigen Menschen, die teilge­nommen haben an dem Leben, das man das gebildete nennt, die etwas von wissenschaftlicher Anschauung in sich aufgenommen ha­ben, die etwas übernommen haben von sonstigen Anschauungen, die

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in der Zeit lebten, daß die eigentlich alle mehr oder weniger in einer gewissen Stimmung waren. Denn ob sie ihre alten Religionsbekennt­nisse weiter praktiziert haben oder nicht> das hing ja im wesent­lichen von alten Lebensgewohnheiten, von allerlei Vorurteilen und dergleichen ab> das hing nicht ab von einem straffen> strammen Gel­tendmachen dessen, was eigentlich das Zeitbewußtsein den Seelen ge­geben hätte. In einem unbestimmten, wankelmütigen Wesen gegen­über der geistigen Welt lebten in diesen letzten fünfzig Jahren eigent­lich die Menschen. Aber wir köhnen so etwas Unbestimmtes auch auf anderen Gebieten finden. Ein paar Jahre bevor Heyses «Kinder der Welt», Du Bois-Reymonds « Grenzen des Naturerkennens» erschie­nen sind, da erschienen von dem berühmten Kunstschriftsteller Her­man Grimm die «Unüberwindlichen Mächte», auch ein Roman. Als un­überwindliche Mächte wurden da dargestellt die in der abendländi­schen Zivilisation die Menschen beherrschenden Standesvorurteile und Standesunterschiede. Und es wird in einer interessanten Weise in diesem Roman mit den Standes-, Klassenunterschieden innerhalb der abendländischen Zivilisation kontrastiert dasjenige, was sich aus ge­wissen, ich möchte sagen> geschichtslosen Ungewohntheiten in Amerika als ein neues Leben entwickelte, als ein Leben> das nicht in derselben Weise mit Standesunterschieden und Standesvorurteilen zu kämpfen hatte. Und es ist interessant> wie Herman Grimm Ende der sechziger Jahre, also auch etwa vor einem halben Jahrhundert, schil­dert, wie der europäische Mensch trotz allem seinem Liberalismus, trotz allem seinem Humanismus nicht die Kraft hat> wirklich über die Standesunterschiede hinauszukommen. Das sind für ihn unüber­windliche Mächte.

Wenn man tiefer gehen und sich fragen will: Warum sind solche Dinge für den europäischen Menschen unüberwindliche Mächte? - so kann man doch keine andere Antwort bekommen als diese: Weil das Denken> das bei ihm einen gewissen passiven Charakter angenommen hat> das Denken> das ich Ihnen charakterisiert habe, als ich zum Bei­spiel über Richard Wahk sprach> das sich nur auf «Vorkommnisse» erstreckt und in die Urfaktoren nicht hinein will, das also nicht Kräfte ergreifen will, sondern nur Erscheinungen ergreifen will, weil dieses

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Denken gerade die maßgebenden Menschen in den letzten fünfzig Jahren beherrscht hat. Mit einem solchen Denken> das in sich keine Kräfte hat, das eigentlich nur ein Denken, möchte man sagen> in kraftlosen Gedankenbildern ist, mit einem solchen Denken kann man das, was sich in der Realität ergeben hat als Standesunterschiede und Standesvorurteile> eben einfach nicht überwinden. Dazu gehörte ein wirklichkeitsgetränktes Denken> ein von Realität durchzogenes Den­ken. Und dieses von Realität durchzogene Denken, das einstmals die Standesunterschiede geschaffen hat, das einstmals überhaupt alles sozial Reale geschaffen hat> dieses dynamische Denken> im Gegensatz zu dem bloß anschaulichen Denken, das ging in den letzten fünfzig Jahren eigentlich innerhalb der europäischen Zivilisation den Men­schen ganz ab. Es ging ihnen ab in der Wissenschaft> daher fußten sie überall nur auf Beobachtung und Experiment; es ging ihnen aber auch ab im Leben> daher pflanzten sie fort> was in alten Gewohnheiten aus den alten Standesvorurteilen sich ergeben hatte. Sie pflegten nicht weiter darüber nachzudenken. Denn hätte man darüber nachdenken wollen> dann hätte man eben ein aktives Denken gebraucht. Und als die Klasse der Proletarier anfing, die Klassenunterschiede, die Stan­desunterschiede ins Auge zu fassen, da wurde dieses kraffiose Den­ken, das keine Dynamik enthält> vollends abgesetzt. Da sagte man:

Diese Standesunterschiede kommen überhaupt nicht aus Kräften, die innerhalb des menschlichen Denkens gelegen hätten, sondern nur von wirtschaftlichen> physischen Kräften. Da wurde einfach eine Konse­quenz gezogen.

Da haben Sie dasjenige> was am Ausgangspunkte unseres neuzeit­lichen Geisteslebens vor fünfzig Jahren stand. Und nun will ich vor Sie ein Werk hinstellen, das vor kurzer Zelt erschienen ist und das nun wiederum für unsere Zeit charakteristisch ist> nämlich den «Spie­gelmenschen» von Werfel. Da haben Sie etwas, was nun geradeso aus gewissen Kräften unserer Zeit heraus geboren ist> wie die «Kinder der Welt» oder wie die « Unüberwindlichen Mächte» aus der Zeit von vor fünfzig Jahren herausgeboren sind.

Nun, vor welcher Situation stehen Menschen wie etwa heute Wer­fel? In den letzten Jahrzehnten hat dieses kraft- und saftlose Denken

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gewirkt. Man hat irgendwie etwas von einem religiösen Zusam­menhang, von einem Zusammenhang mit einer geistigen Welt ge­sucht, aber es ergab sich nichts. Die menschliche Natur aber kann eigentlich nicht auf die Dauer einseitig bleiben. Sie kann es in der weitgeschichtlichen Entwickelung etwa fünfzig Jahre lang, dann aber beginnt doch wiederum eine Reaktion der Menschennatur. Sie will in gewisser Weise hinstreben nach etwas Kraftvollerem - wenn wir bei den letzten fünfzig Jahren bleiben -, als das kraft- und saftlose Den­ken eben war. Nun, für dieses Hinstreben nach einem kraftvolleren Erfassen der Wirklichkeit zeugen eigentlich schon recht viele Werke der Gegenwart, aber besonders anschaulich dieser « Spiegelmensch» von Werfel.

Dieser « Spiegelmensch» von Werfel nötigt einen, etwa so über die Gegenwart zu sprechen: Lange genug haben die Menschen in einer unbestimmten, saft- und kraffiosen Weise ihren Weg gesucht zu etwas, was den Menschen erst zum vollen Menschen macht. Jetzt macht sich ein unbestimmtes innerliches Gefühl geltend auf den We­gen, die in den letzten fünfzig Jahren eingeschlagen worden sind und die eigentlich keine Wege sind, sondern glitscherige Gänge, auf denen man fortwährend ausrutschte. Auf diesen glitscherigen Gängen läßt sich eigentlich nichts erreichen; man muß wieder etwas Eisen in das Blut bekommen. Aus einem solchen Zeitstreben ist dann so etwas her­vorgegangen wie dieser «Spiegelmensch». Skizzieren wir mit nur ganz wenigen Strichen, was in diesem « Spiegelmenschen» dargestellt wird. Es ist nicht meine Absicht, gegen das Kunstlerische zu sündigen, m­dem ich Ihnen charakterisiere, was an diesem Spiegelmenschen ist. Aber darum handelt es sich auch gar nicht, sondern wir werden gleich nachher sehen, daß mit dem, was ich nun sagen werde, auch durchaus das Künstlerische getroffen ist.

Wir sehen da einen halb herangereiften Menschen, der über­drüssig geworden ist des äußeren Lebens, wie es heute geführt wer­den kann. Er nimmt Abschied von diesem äußeren Leben und will nun eigentlich erst Mensch werden. Denn er gesteht sich, innerhalb des gewöhnlichen Lebens, wie wir es heute treiben, sowohl in der asiatischen wie der europäischen wie der amerikanischen Zivilisation,

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kann man ja nicht eigentlich Mensch werden. Man steht morgens auf, man frühstückt und tut eben etwas, wodurch man sich inner­halb der sozialen Ordnung erhält, man ißt Mittag oder empfängt seine Gäste und redet Dinge, die vielleicht auch nicht geredet zu werden brauchten, die schließlich nicht viel anderes bezwecken, als daß sich die Lippen bewegen, daß die nicht untätig sind; man geht mit seinen Gästen spazieren oder was man eben sonst heute macht. In solcher Gemeinschaft kann man ja nicht Mensch werden - ich erzähle nicht wörtlich, ich charakterisiere nur. Da ist notwendig, daß man sich auf einem anderen Wege versucht, wenn man Mensch werden will. Und da versucht denn dieser «Held» - um den alten Ästhetikerstil zu ge­brauchen -, auf die Weise Mensch zu werden, daß er die Aufnahme in einem Kloster sucht. Da wird ihm aber bedeutet, daß das etwas außerordentlich Schwieriges ist. Ich will die Einzelheiten nicht cha­rakterisieren, sondern nur auf das hinweisen, worauf es mir heute an-kommt. Es wird ihm also bedeutet, daß das etwas außerordentlich Schwieriges ist, und daß er vor allen Dingen sich klar sein müsse, daß er durch drei Erkenntnisstufen durchaugehen habe. In der ersten Erkenntuisstufe würde er sich klarwerden müssen über die Stellung des Menschen zur Welt, insofern diese Stellung beschlos­sen ist in dem menschlichen Ich selber. Also dieses Leben in dem Ich und dieses Streben nach Überwindung des Ich als erste Er­kenntnisstufe. Die zweite Weltenschau würde darin bestehen, daß man, nachdem man das Ich in einem gewissen Sinne anrängt abzü­streifen, die Welt nun nicht mehr von seinem vorurteilsvollen Stand­punkte aus sieht wie früher, als man das Ich noch nicht einmal ange­fangen hatte abzustreifen. Und die dritte Schau würde die sein, wo der Mensch wirklich eindringen würde in die Welt und ihre Wirk­lichkeit, nicht so, wie sie der in seinem Ich lebende Mensch sieht. Das wird ihm gesagt. Und er wird in der entsprechenden Weise gemahnt, nicht allzu stürmisch eine solche Menschwerdung zu wol­len. Er wird eben auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Er steht aber nicht davon ab.

So wird er in der entsprechenden Weise eingeführt. Die Einfüh­rung geschieht dadurch - ich will nur das Wesentliche erwähnen -,

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daß er für die Nacht in die Einsamkeit geführt wird, in ein Zimmer, wo nur ein Mönch über ihn wacht. Und da, nachdem er sich zunächst seinen Gedanken überlassen hatte, verfallt er in einen kurzen Schlaf, von dem er sehr bald aufzuwachen glaubt. Und nun befindet er sich in dem Zimmer, dessen eine Wand einen Spiegel trägt. In diesem Spiegel sieht er sich, und er ist erstaunt darüber, was da gemeint ist. Es ist das gemeint, daß, wenn man nach einer Gedankensamm­lung und nach einem so starken Entschlusse, wie ihn dieser Mensch gepflogen hat, vor sein eigenes Spiegelbild tritt, man da doch in einer anderen Weise sich selber sieht. Es wird also eigentlich darauf auf­merksam gemacht, daß der Mensch nun erst beginnt, sich selber zu sehen. Das Spiegelbild sieht so ähnlich aus wie er, aber doch wie­derum etwas anders. Und indem er dasjenige tut, was aus einer sol­chen überraschenden Erfahrung folgen muß: indem er in den Spiegel schlägt, glaubt, sich selber verwundet zu haben, tritt ihm aus dem Spiegel heraus der Spiegelmensch entgegen, also dasjenige von ihm, was in gewisser Beziehung er selbst und doch wieder nicht er selbst ist.

Jetzt ist der Mensch auf der ersten Stufe der Erkenntnis angekom­men. Er muß sich daran gewöhnen, nicht nur als ein Ich-Mensch -dennoch ohne das Ich-Bewußtsein - durch die Welt zu gehen; son­dern er geht durch die Welt, indem dasjenige, was er selbst und doch nicht ganz er selbst ist, sein Spiegelmensch, ihn begleitet. In der Be­gleitung dieses Spiegelmenschen, der ihn nun zu allem möglichen ver­führt, was er in der äußeren Welt tut, liegt das Zusammenkommen mit den Welterscheinungen, mit seinen eigenen Taten in einer neuen Weise, indem er sich eben seinem eigenen Ich gegenüber befindet.

Nun, ich will die Einzelheiten nicht erzählen. Der Betreffende liegt in Wirklichkeit im Bette, aber er geht durch dasjenige hindurch, durch das er eben nach seinen bisherigen Erfahrungen an äußeren Welt-erlebnissen, an äußeren Taten, hindurchgehen kann. Die sind nicht im­mer sehr schön. Aber wie jemand so etwas schildert, das hängt ja von seinem eigenen Geschmack ab. Man kann an dem, wie der Autor die Dinge schildert, sehen, wie er in einem solchen Fall gesinnt ist. Die Menschen machen ja auch nach ihrem Geschmacke die Welterlebnisse

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durch. Wir werden also durch die Welterlebnisse durchgeführt. So wie im «Faust» der Mephisto etwas vom Treibenden hat, ist dieser Spie­gelrnensch jetzt immer die treibende Wesenskraft, und er wird von Er­eignis zu Ereignis geführt, wird dazu gebracht, rnanches Unrecht zu tun. Alles erscheint ihm in einem neuen Lichte, denn er hat ja in den Spiegel geschaut und sich selbst gesehen. Er sieht jetzt eins ums an­dere in der Welt. Er sieht die Dinge zuweilen, wie sie ihm erschei­nen, indem er Ich-Mensch ist, zuweilen, wie sie ihm erscheinen, nachdem er schon sein Spiegelbild ins Auge zu fassen vermag. Er lebt sich. weiter in die Welterscheinungen ein. Er kommt dabei aus seinem Ich immer mehr und mehr heraus. Der Spiegelmensch, der zuerst ziemlich schmächtig ist, wird immer fetter und fetter. Das ist eme polarisch-parallele Erscheinung, die ja nicht uninteressant darge­stellt ist. Und so lebt sich dieser Mensch nun durch die Welt hin-durch, indem er dasjenige, was er früher hätte erleben können, jetzt nach dem Anschauen seines eigenen Ich in einer anderen Art erlebt. Und zum Schluß hat er sich so in die Welterlebnisse verstrickt, daß er sein eigener Richter werden muß, sich selber zum Tode verurteilt, was wiederum sehr charakteristisch ist. Er findet, daß er eigentlich innerhalb der Welt nicht leben kann.

Als er in das Kloster ging, war bei ihm die Einsicht vorhanden, daß es sich innerhalb der heutigen Gesellschaft nicht leben läßt, wenn man Mensch werden will. Das ist so gesteigert, daß er jetzt, wo er zu sei­nem eigenen Richter avanciert, sich selber zum Tode verurteilt. Und nun erwacht er. Gewissermaßen aus dieser Vollstreckung des eigenen Todesurteils heraus erwacht er. Er ist ja wiederum in demselben Raume, wo er war. Jetzt schaut er wieder nach dem Spiegel hin. Aber indem er jetzt hinschaut, merkt er zum Beispiel, daß der Spiegel einen Zug von Mönchen, der vorübergeht, nicht spiegelt. Früher, als er in den Spiegel hineingeschaut hatte, spiegelte er sich selbst und alles das, was vor dem Spiegel war. Aber jetzt geht ein Zug von Mönchen vorüber und spiegelt sich nicht. Er merkt daran, daß er jetzt nicht vor einem Spiegel steht, sondern daß der Spiegel zu einem Fenster geworden ist. Er sieht hindurch und sieht hinaus in die weite Welt, sieht da die Landschaft. Er hat die dritte Schau errungen.

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Jetzt nämlich sieht er die Welt, nachdem er anfänglich nur das­jenige gesehen hatte, was der Spiegel gibt. Dadurch, daß er den Spiegelmenschen an seine Seite bekommen hatte, sah er dasjenige, was er früher gesehen hatte, in anderer Weise. Jetzt aber sieht er ge­wisserniaßen durch die Oberfläche der Dinge hindurch - so wird es dargestellt - ins freie Wirkliche hinaus. Es wird natürlich angedeu­tet, daß er jetzt auch ins geistige Wirkliche hinaussieht.

Wir haben also eine Trilogie vor uns: Das erste ist der Spiegel, das dritte ist, sagen wir das Fenster. Der Spiegel ist zum Fenster geworden. Da haben wir also die zwei polarisch einander entgegen­gesetzten Anschauungen der Welt. Zuerst sieht jeder in dem anderen das eigene Spiegelbild, sieht nur das in dem anderen, was er selber schon in sich getragen hat, wo er in seinem Ich befangen ist, sieht also in seinem Nächsten oder in irgend etwas in der Natur An­geschautem überall nur sein Spiegelbild. Zuletzt, nachdem er den Spiegel durchstoßen hat, sieht er nicht mehr den Spiegel, sondern durch die Oberfläche der Dinge hinein ins Geistige. Und dazwischen liegt das, wo die zwei ineinanderschwimmen: eins ins andere.

1. Der Spiegel

2. Eins ins andere

3. Das Fenster

Nun, ich möchte zunächst auf zwei charakteristische Dinge hinwei­sen in diesem Drama. Das eine ist das: Wir sehen, es ist die Sehn­sucht vorhanden, einen Menschen in dem Aufstieg zu einem gewissen religiösen Sich-Verbinden mit einer anderen Welt darzustellen. Daß der erste Teil, der Spiegel, kurz ist, das kann man immerhin ver­zeihen, weil es sehr interessant ist zu sehen, wie der Mensch sich da hineiniebt in eine Anschauung des eigenen Ich, so daß ihm dieses Ich so gegenständlich wird, daß es ihn nun durch die Welterlebnisse begleitet. Der mittlere Teil ist recht ausführlich, und da werden wirk­lich recht viele Erlebnisse geschildert. Um diese überhaupt anspre­chend zu finden, muß man schon einen Geschmack, man könnte so­gar manchmal sagen, Ungeschmack, dafür haben. Aber wie gesagt, das

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muß eben jeder so machen, wie es nach seinem Geschmack ist. Jeden­falls aber ist dieser Teil, wo man in die Erlebnisse der Welt hin­einschaut, sehr lang. Der dritte Teil ist aber recht kurz, und was da draußen gesehen wird, das ist eigentlich nur, ich möchte sagen, sym­bolisch angedeutet, indem man durch das Fenster durchschaut; da kommt eigentlich nichts Rechtes zur Anschauung. Der ist recht kurz, dieser dritte Teil. Das ist die eine Eigentümlichkeit, die ich hervor-heben möchte. Die andere Eigentümlichkeit aber ist diese: Man muß anerkennen, hier ist in schönster Weise das Streben vorhanden, ein­mal Kraft und Saft in das Denken hineinzugießen. Aber man sieht auch, daß der moderne Mensch von der Art, wie Werfel einer ist, das zunächst gar nicht kann. Warum? Ja, es ist sehr eigentümlich. Als ich dieses Drama zu Ende gelesen hatte - und ich las mit aliergrößtem Interesse, das muß ich schon sagen, weil es mir symptomatisch außer­ordentlich bedeutsam ist für unser gegenwärtiges Geistesleben in sei­ner Vertretung durch einzelne Persönlichkeiten -, da mußte ich mir das Folgende sagen: Der Gang ist so: 1. Der Spiegel; 2. Eins ins andere; 3. Das Fenster. Man könnte aber das ganze ja auch von rückwärts nach vorne lesen. Man müßte es natürlich umschreiben, aber man könnte das ganze auch von rückwärts nach vorne lesen. Denn warum? Es ist nämlich durchaus möglich, daß man die Sache auch so auffaßt, daß man sich sagt: Wie der Mensch zunächst zur Welt steht, so erscheinen ihm die Dinge. Er unterscheidet sich gar nicht von den Dingen. Er ist nicht zu seinem Ich-Bewußtsein erwacht. Er steht vor dem Fenster, schaut hinaus in die Welt. Nun könnten wir sagen, daß der alte Mönch, zu dem er nun gekommen ist und zu dem er sagt, er halte es nicht mehr aus, da nur immer alles dadrinnen sei, was er durch das Fenster sieht, er wolle sich selber finden -, daß da der Alte ihm nun sagt: Ja, da sind drei Anschauungen durchzumachen. Die erste Schau, die gibt die Welt, ohne daß wir unser Ich drinnen finden. Wir verlieren uns an die Welt. Die zweite Schau, die läßt uns schon etwas von dem Ich gewinnen, und da tritt uns allmählich aus der Welt eine Summe von Wesenheiten entgegen. Die Welt wird be­lebt, durchgeistigt. Wir haben sie früher geistlos gesehen, jetzt wird die Welt durchgeistigt. Überall, aus jedem Wesen, aus Pflanze, Tier,

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Wolke und so weiter, tritt etwas Geistiges uns entgegen. Viele gei­stige Wesenheiten treten uns entgegen in diesem zweiten Teil. Im dritten Teile wachen wir au£ Wir treten vor das Fenster, wir schauen hinaus. Wir sehen aber alies neu> indem wir jetzt erst die wirkliche Welt sehen. Das Fenster hat sich in einen Spiegel verwandelt, der Mensch ist zu sich selber gekommen. Er vereinlgt alle diese Spiegel­wesen, die dadrinnen in der Welt aus Pflanzen, Tieren, Wolken ihm ent­gegengetreten, sie sind in seinem einzigen, ihm kosmisch gewordenen Ich. Und jetzt sieht er, indem er sich selber erkennt eigentlich in Wahrheit erst den Kosmos.

Man könnte ganz gut das ganze von hinten nach vorne um­schreiben, den letzten Teil der Trilogie zuerst, dann den mittleren Teil, dann den Teil, mit dem es angefangen hat. Das ist außer­ordentlich interessant, denn gerade dadurch ist dieses Drama ganz be­sonders charakteristisch für die Gegenwart. Was ist denn die Eigen­tümlichkeit des Intellektualismus?

Ja, die Eigentümlichkeit des Intellektualismus ist diese, daß man mit dem Gedanken überall anfangen kann und überall aufhören kann, und man kann das eine behaupten, und man kann das andere behaupten - ich habe das oftmals hervorgehoben. Gedankenmäßig kann man irgend etwas beweisen, gedankenmaßig irgend etwas wi­derlegen. Der Intellektualismus, der eben nichts anderes ist als das System der saft- und kraftlosen Gedanken, der laßt einen überall irgendwo anfangen, bis zu einem gewissen Punkte kommen, dann hört man auf. Man kann aber auch bei diesem letzteren Punkte an­fangen und nach der anderen Seite gehen.

Man kann heute schon ein ganz gescheiter Mensch und gröbster Materialist sein, denn der Materialismus ist ganz gut intellektuall­stisch zu beweisen, und man kann, wenn man bloß intellektuell ist, in der Weise, wie es nach unserem anthroposophischen Kongreß in Wien nach einer Versammlung geschehen ist, man kann von dem Standpunkte des heutigen Monismus aus ganz intellektuell den Kampf gegen den Geist führen. Man kann ganz gut beweisen, daß der Ma­terialismus recht hat. Man kann aber auch gut Spiritualist sein wol­len und dieses ebenso beweisen. Alle diese Dinge, solange man nur

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im Intellektuellen lebt, lassen sich durchaus beweisen, und sie haben den Schein von einer ungeheuren Beweiskraft, diese intellektualisti­schen Diskussionen.

Und so ist es ja in unserer Zeit. Die Menschen ahnen nicht, indem sie sich einspinnen in Spiritualismus, Materialismus, Realismus, Idea­lismus, daß sie sich mit dem intellektuallstischen Geist einspinnen. Sie fühlen mit Recht: Das laßt sich stramm beweisen. Sie sind das Ge­schöpf des Intellektualismus. Weil das ja richtig ist, daß sich die Dinge beweisen lassen, deshalb ist es ja so trostlos, wenn man heute genötigt ist, im Ernste etwas aus der Wirklichkeit auseinanderzu­Setzen, und dann «freie Diskussion» angesetzt wird. Da redet der eine dies, der andere das, der dritte jenes. Im Grunde genommen kann man, wenn man nur ein wenig ein aufgeweckter Kopf ist, sagen:

Sie haben alle recht. Sie haben natürlich ebensogut alle unrecht. - Die ganze Rederei hat ja im Grunde genommen höchstens den einen Zweck, daß der eine oder der andere doch sieht, was es für eine un­geheure Prellerei des eigenen Seibstes ist, im Intellektualismus zu leben, denn mit dem Intellektualismus laßt sich eben einfach alles be­weisen. Da kommt es nur darauf an, daß man sich lange genug ein­gelebt hat in irgendeine Richtung oder Strömung, in irgendeine Sekte oder Partei oder in irgend etwas anderes, dann kann man durchaus mit vollstem Rechte sagen: Ja, das ist doch alles klar; der andere, der das Gegenteil behauptet, ist doch ein Esel. - Gewiß, aber der andere kann ebenso beweisen, daß nun der erste wiederum ein Esel ist und seine eigene Behauptung richtig. Das ist heute durchaus möglich bei der Konfiguration, die das intellektuelle Geistesleben erlangt hat, das ist heute eine Selbstverständlichkeit. Und so ist es eine Selbstverständ­lichkeit, daß man heute ein solches Stück schreiben kann, ohne an eine wirkliche Geisteserkenntnis heranzukommen. Denn daß Werfel nicht herankommt, das beweist, daß da durch das Fenster nichts Erheb­liches gesehen wird; die Geisteserkenntnis würde ja erst beginnen, wenn man durch das Fenster etwas Erhebliches sehen würde. Wenn man aber bloß drei Stufen schildert, und dann, nachdem man ge­schildert hat, wie er aufgewacht ist und herausschaut, nicht schildert, was er sieht, wenn man so viele Konzessionen an das allgemeine

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Bewußtsein macht, daß man einen solchen «Spiegelinenschen» schrei­ben und dennoch gegenüber etwas Vernünftigem wie etwa der «Ge­heimwissenschaft im Umriß» oder «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder dergleichen sagen kann: Wenn man das akzeptiere, da sei man nicht bei Sinnen -, wenn man also nur immer sagen kann: Ja, beim Fenster ist der Betreffende angekommen, aber ich hüte mich davor, zu sehen, was man da sieht, wenn man durchs Fenster hinausschaut -, dann ist man eben noch nicht 50 weit, sich ins wirkliche Geistesleben hineinzuleben, dann ist man eben im Intellek­tualismus vollständig steckengeblieben.

Das ist es, warum ich so sprechen durfte. Natürlich hätte man einem Kunstwerke gegenüber nicht das Recht, eine philosophische Kritik abzugeben. Ich habe aber gar keine philosophische Kritik ab­gegeben; was ich gesagt habe, ist ebensogut eine künstlerische Auf­fassung. Denn da passiert es einem, man liest eine Trilogie, liest sie mit allerhöchstem Interesse. Nachher, wenn man fertig ist, steht man plötzlich auf dem Kopf! - Das ist ein unbehagliches Gefühl, und, um wiederum auf die Beine zu kommen, müßte man die ganze Ge­schichte von hinten nach vorn umschreiben. Es würde sehr lange dauern, bis man sich da endlich wiederum auf seine Beine, auf seine Fußstellung durcharbeiten würde. Ja, es ist schon durchaus so, daß man auch künstlerisch geprellt wird, indem man gewahr wird: Da-drinnen ist das sich drehende Rad des Intellektualismus, während das Kunstwerk in der Tat einen schönen Eindruck machen muß. Das kann man nicht umkehren. Versuchen Sie einmal, den Goetheschen «Faust» umzudrehen, von hinten angefangen nach vorne zu schrei­ben. Das können Sie nicht! Ein Kunstwerk kann nicht umgedreht werden. Hier bei diesem Werke können Sie es, weil das Intellektuali­stische überwiegt, weil gar nicht bis zum wirklichen Anschauen durchgedrungen worden ist. Der Intellektualismus hat zwar das un­bestimmte, unbewußte Gefühl bekommen, in die Gedanken müsse Saft und Kraft hinein, in Wirklichkeit sind aber nicht Saft noch Kraft hineingekommen, ist nichts drinnen. Es ist wiederum nur ein Schema von einem realeren inneren Erleben darinnen. Und so sehen wir gerade an so etwas, was ja nun wirklich voller Geist ist, was ganz

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außerordentlich bedeutend ist mit Bezug auf das, was unsere Zeit aus sich hervorbringen kann, wohin der Weg gehen muß.

Seit fünfzig Jahren ist es so, daß die Menschen zwar eigentlich das Gefühl haben: Es muß nach etwas Geistigem hingehen; aber den wirklichen Weg möchten sie vermeiden. So nehmen sie aus allerlei alten Überlieferungen so etwas auf wie den dreigeteilten Weg und dergleichen. Aber charakteristisch ist da ja doch, daß man heute diesen dreigliedrigen Weg aufnimmt; man kann ihn in allen mög­lichen Schmökern finden, die irgendwelche alten atavistischen hell­seherischen Wege schildern.

Solange man darauf verzichtet, das anzunehmen, was man da sieht, wenn man durchs Fenster schaut, kann ja diese Geschichte vom « Spie­gel» und « eins ins andere» und «durchs Fenster» sehr leicht noch drinnenstehen im Geistesleben. Sie ist leicht zu schildern, wenn man nur so allgemeine Begriffe davon hat. Solange man aber dabei stehen-bleibt, kommt man eben dennoch nicht aus dem Intellektualismus hinaus, der mit einem ungeheuren Zauber die Menschen der Gegen­wart gefangenhält.

Es ist von mir ja in der allermannigfaltigsten Form auf dieses in­tellektualistische Element in unserer Zeit hingewiesen worden. Habe ich doch darauf hingewiesen, wie man in der Theosophischen Ge­sellschaft in alle möglichen Zweige kommen konnte, und da waren große Schemen aufgespannt, Rassen und Runden, ganze Weltsysteme und alles mögliche waren in wunderbar intellektualistischen Formen aufgebaut - alles intellektualistisch! Wiederum, wenn es sich darum handelte, die Gliederung des Menschen zu charakterisieren, ein Schema: Physischer Mensch: dicke physische Materie; Ätherkörper:

feinere Materie; astralischer Leib: noch feiner; Kama Manas:

noch feiner; Manas: noch feiner, immer feiner und feiner. Ja, aber eben aus der Intellektualität begriffen! Dieses Dünnerwerden hörte gar nicht mehr auf! Aber es ist eben bloß intellektualistisch. Geradeso wie man ein Rad immer drehen kann, kann man ja, wenn man bloß beim Intellektualistischen bleibt, die Materie auch immer dünner und dünner werden lassen. Und so haben wir eine intellektualistische Theosophie gehabt, und so haben wir hier eine intellektualistische

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Dichtung, die sogar ins Mystische hineingeht und die ganz gewiß von einer großen Reihe von unseren Zeitgenossen, und zwar sogar mit Recht, bewundert wird, weil man eben an solcher Dichtung sieht, wie immerhin das Streben unserer Zeit wiederum nach etwas Geisti­gem geht.

Aber mein Urteil ist doch nicht ein unkünstlerisches. Indem ich diesen Spiegelmenschen betrachte, der den Helden sein ganzes Evolu­tionsleben hindurch begleitet, da ist dieser Spiegelmensch doch etwas ganz anderes als der Mephisto gegenüber dem Faust. Im Faust ist Leben. Sie wissen, ich habe einmal dargestellt, wie schließlich der Mephisto auch nur die andere Seite des Faust ist, wie Wagner auch. «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.» Du gleichst dem Wagner, du gleichst dem Mephlsto und so weiter. Aber da ist Le­ben drinnen. Es ist aber noch kein Leben, wenn aus dem Spiegel das Selbst herausspringt, zuerst schmächtig ist und dann immer fetter und fetter wird, indem der Mensch selber immer mehr und mehr aus dem Leben herauswächst.

Kurz, das Unlebendige, das Abstrakte mit anderen Worten, das ist es, was hier vom Anfang bis zum Ende herrscht. Das Abstrakte läßt sich immer umdrehen. Und indem man künstlerisch nirgends eine volisaftige, intensive Anschauung fühlt, sondern überall eigentlich nur zu Bildern aufgebauschte Gedankenschablonen, fühlt man ein Un­künstlerisches. Und es ist merkwürdig, daß in der Gegenwart gerade so etwas häufig damit verteidigt wird, daß raan sagt: Anthroposophie, ja, da wird nur nach Ideen gestrebt, und das ist etwas Unkünstleri­sches. - Aber in der Anthroposophie wird nach Anschauung ge-strebt, nur muß man für diese Anschauung wirklich vorbereitet sein. Man muß durch ein Fenster schauen und etwas sehen. Aber hier nennt man das eigentlich Künstlerische etwas, das nicht so recht aus dem Ei gekrochen ist, was soeben erst daran ist, aus dem Ei zu kriechen, aber sich dabei bescheidet, im Ei zu bleiben. Sie wissen ja, wie ich es meine, daß das Huhn nicht wirklich aus dem Ei kriecht, um sich in die Welt hineinzuleben. Es ist schon so, als ob der Mensch beginnen wollte mit einem Erkenntnisweg, aber trotzdem die geistige Welt meiden würde in all ihrer Konkretheit und Bestimmtheit. Ich

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will nicht sagen, wie es dem Ei geht, wenn das Huhn eben nicht richtig zum Auskriechen kommt! Aber nicht wahr, so ist es eben trotzdem mit solchen Gelstesprodukten, die nicht wirklich zum Aus-kriechen kommen.

Damit will ich gar nichts gegen den Wert solcher Dinge gesagt haben. Ich sehe eigentlich im Sinne der Gegenwart etwas von aller-erstem Range in diesem Spiegelmenschen. Aber von einem höheren Standpunkte aus muß das durchaus so charakterisiert werden und so hingesteilt werden in das Geistesleben, in das ganze Kulturleben der Gegenwart, wie ich es skizzenhaft versucht habe.

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DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 22. Juli 1922

Ich möchte heute eine etwas weitergehende Betrachtung über das kos­mische Anschauen in unsere Betrachtungen einfügen. Wir müssen uns als Menschen durchaus bewußt sein, daß wir in der Zeit, die da ver­läuft zwischen der Geburt und dem Tode, auf der Erde stehen, und daß wir alles, was im engeren und weiteren Sinne auf uns einen Ein­druck macht, mit unseren Sinnen und auch mit unserem Intellekt doch nur vom Gesichtspunkte unseres irdischen Aufenthaltes betrachten. Wir werden uns oftmals bewußt, wie sehr wir mit der äußeren physi­schen Körperlichkeit gebunden sind an diesen irdischen Aufenthalt. Wir lernen ja heute schon in der Schule, wie der Mensch nur leben kann, wenn er die Luft einatmet, die ihn umgibt und die aus einer bestimmten Mischung von Sauerstoff und Stickstoff besteht. Der Mensch ist ganz und gar abhängig in seinen Lebenserscheinungen von dieser Luft. Wir brauchen uns nur zu überlegen, wie anders unser physisches Leben wäre, wenn zum Beispiel der uns umgebenden Luft mehr Sauerstoff zugemischt wäre, als es wirklich der Fall ist.

Nehmen wir einmal an, es wäre mehr Sauerstoff der Luft zuge-mischt, dann würden wir schneller leben, das heißt, wir würden eine nach Jahren berechnet weit kürzere Lebensdauer auf der Erde haben. Die Zeit würde gewissermaßen zusammengezogen werden, und unsere Lebensdauer müßte kürzer sein. Das ist im Grunde genommen nur etwas ganz Grobes. Wir können uns bei jeder Sache, die in unserer Um­bung auf uns Einfluß hat, wenn sie nur ein wenig abgeändert würde, vorstellen, daß unser ganzer menschlicher Organismus anders wäre. Solch eine Betrachtung wird ja auch heute öfter angestellt. Man wird sich bewußt der physischen Abhängigkeit des Menschen von seiner Umgebung. Allein, man ist sich heute höchstens ganz im Abstrakten klar bewußt, daß der Mensch auch ein seelisch-geistiges Wesen hat, und von diesem geistig-seelischen Wesen hat man im Grunde genom­men niemals so genaue Vorstellungen, wie man sie von dem physisch-körperlichen Wesen hat. Das Physisch-Körperliche unserer Organisation

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kennt man so genau, daß man sagen kann, wie anders reich­licher Sauerstoff in der Luft auf den Menschen wirken würde. Be-züglich des geistig-seelischen Wesens macht man sich nicht so viele Gedanken, Gedanken, die etwa dahin gehen würden: Wenn nun die­ses geistig-seelische Wesen etwas anders wäre, als es ist, könnte es dann gerade zwischen Geburt und Tod auf der Erde sein?

Geradeso ninlich wie unser Leib angepaßt ist der Sauerstoffmenge der Luft, wie vieles andere in unserem Leibe angepaßt ist den Ver­hältnissen, die gerade in der Nähe der Erdoberfläche sind, so ist auch unser Geistig-Seelisches zwischen Geburt und Tod durchaus ange­paßt demjenigen, was unmittelbar an der Erdoberfläche ist. Und wenn man sich dessen ganz voll bewußt wird, dann wird man sich auch sagen können: So wie der Mensch leiblich als Erdenmensch nicht da draußen leben könnte, nur einige Meilen von der Erdoberfläche ent­fernt, so würde auch unter anderen als den irdischen Verhältnissen die Menschenseele mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen, so wie sie in der Erdumgebung lebt, eben nicht leben können. Sie würde anders-wo in anderer Lage zur Erde eben auch wiederum als seelisch-geistiges Wesen anders organisiert sein müssen. Geradeso wie der menschliche Leib nichts hätte von seiner Lunge, wie sie einmal organisiert ist, wenn er meilenweit von der Erdoberfläche entfernt wäre, so würde die menschliche Seele unter anderen als den irdischen Verhältnissen mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen, so wie es sich im Erdenleben ausbildet, eben nichts anfangen können.

Man könnte nun überhaupt von diesen Dingen keine klaren Vor­stellungen bekommen, wenn es nicht möglich wäre, daß diejenigen Menschen, die eine innere seelische Entwickelung suchen, doch zu an-deren seelischen Erlebnissen kommen, als es im gewöhnlichen Den­ken, Fühlen und Wollen der Fall ist. Sie wissen alle aus den Darstel-lungen in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», daß man zu solchen anderen Seelenstimmungen, Seelenver­fassungen, daß man zu einem ganz anderen Seeleninhalt kommen kann. Man kann zu einem Seelerinhalt kommen, der nicht nur das gewöhnliche Denken hat, sondern der Imagination hat, der also statt in Gedanken in Bildern lebt. Man kann weiter dazu kommen, Inspiration

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zu haben. Also, wie unsere Lunge mit der Luft ihre Einatmung vollzieht in bezug auf das Physische der Luft, so kann man das Geistig-Seelische, die Substanz des in der Welt ausgebreiteten Geistig-Seelischen, gewissermaßen inspirieren, einatmen. Und so wie die Lunge, wenn sie den Sauerstoff einatmet, von diesem Sauerstoff ihr Leben hat, wie der ganze menschliche Leib sein Leben hat von die­sem Sauerstoff, so hat auch die menschliche Seele dann ihr Leben von den Inspirationen, die vollzogen werden, wenn solche höhere Er­kenntnis erworben wird. Und ebenso ist es dann mit der weiteren Erkenntnisstufe, mit der Intuition.

Da also erhebt sich die Seele zu einem ganz anderen inneren Inhalt. Da erlebt sie dann etwas wesentlich anderes. Aber dieses andere Er­leben ist verbunden, wie Sie wissen, mit dem, was man ein seelisches Herausgehen aus dem Körper, aus dem Leibe nennen kann. Wir füh­len uns, wenn wir zur Imagination, Inspiration und Intuition aufstei­gen, nicht mehr so innerhalb unseres Leibes, wie wir uns fühlen, wenn wir im gewöhnlichen Erdenleben sind. Es ist dann mit dem geistig-seelischen Wesen gerade so, wie wenn etwa die Lunge zu einem Or­gan umgestaltet würde, das statt Luft Licht einatmet. Dann könnte sie ja wohl einige Meilen außerhalb des Irdischen leben mit dem Organismus, dem die Lunge zugehört. Nun, das ist ja im Physischen zunächst nicht möglich, wenigstens nicht dem Menschen, aber dem Geistig-Seelischen in uns ist es möglich, wenn wir aus unserem Leibe herausgehen und in unserer Seele dann die Imagination, Inspi­ration, Intuition erleben, daß wir tatsächlich auch den irdischen Ge­sichtspunkt verlassen, daß wir schon zu demjenigen Gesichtspunkt kommen, den wir gehabt haben, bevor wir heruntergestiegen sind in einen physischen Leib. Wir kommen dadurch, daß wir aufsteigen zu der Imagination, Inspiration und Intuition, tatsächlich aus einem irdi­schen Anschauen der Welt zu einem kosmischen Anschauen der Welt. Wir sind eben einfach nicht mehr auf der Erde, sondern wir schauen von einem anderen Gesichtspunkte aus das Irdische an.

Das hat keine sehr große Bedeutung, wenn es sich um das An-schauen von Menschenseelen handelt. Das hat aber eine sehr große Bedeutung, wenn es sich um das Kennenlernen des Geistigen im Kosmos

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selbst hindelt. Ich will Ihnen das in einer schematischen Zeich­nung klarmachen. Denken Sie sich einmal, hier sei die Erde, der

#Bild s. 227

Mensch auf der Erde. Der Mensch sieht in seiner irdischen Umgebung die Elemente. Wir können sie nennen das Feste, das Flüssige, das Luftförmige. Er nimmt wahr das Feurige, das Warme. Dann aber hört das, was unmittelbar der Erdoberfläche angehört, auf. Mit dem Wahrnehmen des Feurigen, des Warmen, erhebt sich der Mensch schon zu der Wahrnehmung des Umkreises der Erde. Er kommt in das Lichtvolle hinein, in das, was wir den Lichtäther nennen. Es ist ja unsere besondere Eigentümlichkeit, daß wir durch unser Schauen, unser Sehen, den Lichtäther wahrnehmen können. Wenn aber im Men­schen das imaginative Wahrnehmen auftritt, dann fühlt er sich nicht anf der Erde hier stehend und die Blicke etwa hinausschweifen lassend in den Lichtäther, sondern dann fühlt er eigentlich so, als ob er das Ganze von außen wahrnehmen, anschauen würde (Zeichnung S.228, rot).

Gerade in bezug auf das, was ich hier auseinandersetze, kann man ziemlich bestimmt davon sprechen, wie das geschieht. Wenn Sie irgendwo auf der Erde stehen und Ihren Blick frei in den Kosmos hinausschweifen lassen, dann schauen Sie ja bei Tag überall in das Licht hinein. Sie schauen in der Nacht den Sternenhimmel. Da be­dienen Sie sich, wenn ich so sagen darf, der wahrnehmenden Kraft Ihres Auges. Aber auf diese wahrnehmende Kraft Ihres Auges geht auch fortwährend die Willenskraft. Diese Willenskraft gebrauchen Sie

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#Bild s. 228

eigentlich beim irdischen Sehen nur zu der Einstellung des Auges. Wenn Sie aber zum imaginativen Erkennen aufsteigen, dann bildet sich diese Willenskraft gerade für die einzelnen Sinne immer mehr und mehr aus. Sie fühlen, wie Sie gewissermaßen durch Ihre Augen hin­aussteigen in den Raum und kommen immer mehr dazu, sich den Kos­mos von außen anzuschauen.

Sie müssen nicht glauben, daß das, was ich Her schlidere, darin be­steht, daß Ihr Auge riesig groß wird, und daß es dann ganz hinüber­wächst, und daß Sie dann von außen so den Kosmos anschauen, wie Sie jetzt von innen den Kosmos anschauen. Eben nicht durch die wahrnehmende Kraft erringen Sie sich das, sondern gerade dadurch, daß der Wille helisehend wird. Es ist ein Erleben in dem sich aus­breitenden Willen, in dem Sie aber selber darinnen sind. Sie schauen in diesem Falle auch die Sterne von außen an, wie der Mensch, wenn er als Seele in der geistigen Weit ist, sich ebenfalls die Sterne von außen anschaut, von dort, wo schon gar keine Sterne mehr sind,

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nicht vom Äthergebiet aus, sondern vom astralischen Gebiete aus, von dem man sagen kann, es ist noch Raum da, und von dem man auch sagen kann, es ist kein Raum mehr da. Es hat nicht mehr viei Sinn, von dem, was ich da angedeutet habe, so zu sprechen, als ob das noch Raum wäre. Man fühlt aber so, als ob man den Raum selber in sich hatte. Dann aber sehen Sie keine Sterne. Sie wissen, Sie schauen auf die Sterne hin, Sie sehen aber keine Sterne, sondern Sie sehen Bilder. Sie sehen tatsächlich innerhalb des Sternenraumes über-all Bilder. Es wird Ihnen jetzt plötzlich klllr, warum in alten Zeiten, wenn die Menschen Sphären dargestellt haben, sie nicht bloß Sterne, sondern Bilder hingemalt haben.

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Aber nun stellen Sie skh vor, Sie schauen durch diese Bilder hin-durch. Dann werden Sie gewahr: Von all diesen Bildern strahlen Kräfte herunter auf die Erde; nur daß diese Kräfte zusammenstrah­len. Wenn Sie von Her aus, von der Erde, auf einen strahlenden Stern schauen, dann haben Sie das Gefühl, die Strahlen gehen auseinander.

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Wenn Sie das von draußen anschauen, so haben Sie das Ge-fühl, die Strahlen, die Lichteffekte, die von den Bildern ausgehen -es sind nicht nur Licht-, sondern es sind auch Krafteffekte -, die gehen zusammen. Sie gehen bis zu der Erde hin, diese Krafteffekte. Und was tun sie da? Ja, sehen Sie, die bilden zum Beispiel die Form der Pflanzen. Und derjenige, der imaginativ schaut, der sagt: Die Lilie ist eine auf der Erde befindliche Pflanzenform, die von dieser Sterngruppe aus in dieser Form, in dieser Gestalt geschaffen ist. Eine andere, eine Tulpenform, ist von einer anderen Sterugruppe aus ge­schaffen.

Und so sehen Sie dasjenige, was auf der Erde als Pflanzendecke ist (grün), gleichsam real hingemalt vom Sternenhimmel aus. Das ist so, daß tatsächlich die Form des Pflanzenkörpers von dem Kosmos aus be-stimmt wird, geschaffen wird. Und Sie werden jetzt leicht begreifen:

Wenn Sie da weiter hereinschauen, wenn Sie da draußen die Fix­sterne sehen, dann sehen Sie näher zur Erde die Planeten Saturn,

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Jupiter, Mars und so weiter. Die bewegen sich. Die Fixsterne zeigen Ihnen ruhende Sternbilder, welche den Pflanzen die Form geben. Aber die sich bewegenden Planeten, die senden Bewegungskräfte her­unter. Die sind es, welche die Pflanzen zunächst aus der Wurzel her­ausziehen, dann immer höher und höher wachsen lassen und so wei­ter. Geradeso wie die Form der Pflanzen aus dem Firsteruhimmel hereingebildet ist, so ist die Bewegung gebildet aus der Bewegung der der Erde näheren Himmelskörper. Nur was in der Pflanze selber vorgeht, dieser Stoffwechsel, daß zum Beispiel die Pflanze Kohlen-saure emsaugt, assimiliert, wie man sagt, und die Kohle absondert, so daß sie ihren Kohlenleib bildet, das ist von den Kräften der Erde selber. Wir können also sagen: Wenn wir die Pflanze in ihrer Ganz­heit betrachten, ihre Form ist von dem Sternenhimmel, ihr Wachstum ist von der Planetenbewegung, und ihr Stoffwechsel ist von der Erde.

Das sind Dinge, welche heute von denen, die sich richtige wissen­schaftliche Geister nennen, wie eine Narrheit angesehen werden, die aber doch eben die wahre Wirklichkeit sind. Denn derjenige, der die Pflanze in ihrem Wachstum und in ihrer Form so betrachtet, wie man das heute tut, der gleicht einem - ich muß hier ein Gleichnis ge­brauchen, das ich schon öfter angewendet habe -, der eine Magnet-nadel ansieht, die mit der einen Seite nach Norden, mit der anderen Seite nach Süden weist, und der nun sagt: Das ist in der Magnetuadel begründet, daß die eine Spitze nach Norden, die andere nach Süden zeigt. - Es ist eben nicht in der Magnetnadel begründet, sondern da nimmt natürlich die Naturforschung an, daß die ganze Erde ein großer Magnet ist, daß sie die eine Spitze anzieht nach Norden, die andere nach Süden. Da nimmt man in der Naturforschung schon die ganze Erde zu Hilfe, wenn man die Richtung der Magnetnadel erklären will. Geradeso muß man aber, wenn man die ganze Form der Pflanze erklären will, das ganze Weltenall zu Hilfe nehmen. Die Pflanze ist aus dem ganzen Weltenall heraus gebildet. Es ist einfach eine furcht­bare Absurdität, daß dieselben Menschen, die zum Beispiel für die Magnetnadel die ganze Erde zu Hilfe nehmen, um nur ihre Richtung zu erklären, die Pflanze bloß aus ihren Zellen und deren Kräften her­aus erklären wollen. Geradeso wie die Magnetnadel nur verstanden

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werden kann, wenn man sie in den ganzen magnetischen Erdenzu­sammenhing hineinstellt, so kann man die Pflahzen nur begreifen, wenn man sie in den ganzen kosmischen Zusammenhang hineinstellt, wenn man dazu kommt, sich zu sagen: Hier gehe ich über eine Ge­gend, sagen wir, des mittleren Europa; für dieses mittlere Europa haben in der Zelt des Blütenwachstums ganz besonders diese Stern­bilder ihre Bedeutung; daher wachsen hler die Pflanzen dieses Ge­bietes, denn der Himmel läßt auf der Erde bestimmte Pflanzen auf einem Gebiete wachsen.

Wenn man von diesem Gesichtspunkte aus die Pflanzen betrachten will, wenn man also bis zu der Form geht, dann muß man eigentlich den ganzen Kosmos zu Hilfe nehmen. Bei den Tieren braucht man nur bis zu den Sternbildern des Tierkreises zu gehen. Darüber habe ich ja schon gesprochen. Auf die Tiere haben die außerhalb des Tier-kreises befindlichen Sterne keinen Einfluß. Das Tier ist also schon selbständiger geworden, hängt nicht mehr in seiner organischen Bil­dung von dem ganzen Kosmos ab, sondern nur von dem, was im und unter dem Tierkreis ist.

Der Mensch ist noch selbständiger geworden, denn auf ihn haben zunächst, nicht insofern er Seele ist, aber insofern er ein physischer Organismus ist, nur die Planeten Einfluß. Nur da, wo es ins Morali­sche, ins Seelische übergeht, da mussen wir dann über den Planeten-einfluß hinausgehen, wie es in den älteren, wirklich guten Anschauun­gen über Astrologie geschehen ist, nicht in den heutigen lalenhaften und dilettantischen, die noch zurückgeblieben sind. Aber aus alledem können Sie ersehen, daß man schon in einer gewissen Weise sagen muß, aber immer nur, insofern man das Äußere in Betracht zieht:

dies gilt für die Pflanze. Für das Tier gilt, daß die Form zusammen­hängt mit dem Tierkreis, daß das Wachstum zusammenhängt mit der Planetenbewegung und der Stoffwechsel mit der Erde.

Gehen wir zum Menschen herauf, dann können wir seine Form nicht mehr zuerteilen irgendwelchen Sternbildern, sondern nur dem ganzen Weltall als solchem, wir können nur sagen: der Sphäre; nicht den ein­zelnen Sternbildern, sondern der ganzen Sphäre. Ich habe deshalb einmal gesagt - ich habe es ja auch schon drucken lassen -, daß

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das menschliche Gehirn in einer gewissen Beziehung ein Abbild des ganzen Sternenhirnrnels ist, nicht einer einzelnen Sterngruppe. Also da ist die Sphäre für die Form. Für das Wachstum allerdings auch in einer gewissen Beziehung Planetenbewegung, aber jetzt die gesamte Planetenbewegung, nicht einzelne Planeten, wie es für die Pflanze, für das Tier ist; und für den Stofiwechsel wiederum die Erde.

Form, Sternenhimmel

Pflanze: Wachstum, Planeten Stofiwechsel, Erde

Form, Tierkreis

Tier: Wachstum, Planeten Stoffwechsel, Erde

Form, Sphäre

Mensch: Wachstum, Planeten Stoffwechsel, Erde

Worin bestand denn der Fortschritt in der Erkenntnisentwickelung? Im Grunde genommen hat bis in die Zeit des Mysteriums von Gol­gatha herein kein Mensch, der in bezug auf die Erkenntnis in Be­tracht gekommen ist, an diesen Dingen, die ich jetzt gerade auseinan­dergesetzt habe, gezweifelt. Wenn auch diese alte Erkenntnis nicht die vollbewunte Erkenntnis war, die wir heute etwa durch Anthroposo­phie anstreben, so war doch eine Art traumhafter, aber hellseherischer Erkenntnis in jenen alten Zeiten vorhanden, namentlich bis zu dem Mysterium von Golgatha. Und diejenigen Menschen, von denen man anerkannt hat, daß sie etwas von der Welt verstehen, die haben gar nicht daran gezweifelt, daß, wenn sie eine Pflanzenblüte anschauten, sie diese in Beziehung zu irgendwelchen Konfigurationen im Sternen-himmel zu setzen hatten. Und so auch bei anderem.

Dann ist diese Erkenntnis immer mehr und mehr dahingeschwun-den in den ersten vier Jahrhunderten nach dem Mysterium von Gol­gatha, und dann sind ja nach der großen Ausrottung der alten Er­kenntnisse - diese Ausrottung habe ich ja öfter dargestellt - nur noch

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diejenigen Erkenntnisse übriggeblieben, die dann ins Mittelalter her­ein übertragen worden sind, die vielfach verbalihorut worden sind, die jetzt in alten Schmökern verzeichnet werden und an denen sich jetzt noch manche Leute erlaben, die nicht zu der neuen Erkenntnis ihre Zuflucht nehmen wollen, sondern die immer wiederum ins Alte zurückschauen wollen.

Die Erkenntnis, zu der wir uns heute wiederum in vollem Bewußt­sein aufringen, die kosmische Erkenntnis auch desjenigen, was als Gebilde hler auf unserer Erde auftritt, diese kosmische Erkenntnis, die wir heute anstreben, war allerdings nicht in einer bewußten Hell-sichtigkeit, aber doch in einer gewissen Weise vorhanden. Sie wurde immer mehr und mehr abgedämmert. Und dann, nachdem der Mensch sich eine Zeitlang mehr demjenigen gewidmet hatte, was aus semem Inneren heraus als künstlerisches Gestalten des Wortes in der Dra­matik, des Gedankens in der Dialektik, des Lautes und Wortzusam-menhanges in der Rhetorik, der Anschauung der Zahl in der Arith­metik, der Anschauung der Form in der Geometrie, nachdem sich der Mensch einige Jahrhunderte hindurch diesem künstlerischen Aus­bilden der menschlichen Seelenkräfte gewidmet hatte, kam diejenige Weltanschauung herauf, die nun nicht mehr da draußen im Weltenall sucht, die nicht mehr fragt: Was ist da draußen, damit auf der Erde eine Lilienblüte, eine Tulpenblüte entstehen kann? Sondern es kam eine Weltanschauung herauf, die nur die gegenwärtige Stellung der Sterne, die Größe der Sterne berechnet, die nur die Mathematik gelten läßt, die höchstens die Mechanik und die Physik als Astrophysik gelten läßt, wenn die Sternenwelt, wenn das Außerirdische in Betracht kommt.

Wenn hier die Erde ist und hier ein Maulwurf in der Erde, so hat der Maulwurf ein gewisses Weltbild. Aber viel Sonnenhaftes ist in die­sem Weltbilde nicht darinnen. In der neueren Zeit haben die Men­schen die Möglichkeit verloren, hinauszuschauen von der Lilienblüte, von der Tulpenblüte in den Sternenhimmel, so wie der Maulwurf nicht die Möglichkeit hat, hinauszuschauen über das Finstere der Erde. Und da stecken ja die Menschen bloß in Erde, Wasser, Luft und Feuer darinnen. Höchstens schauen sie so hinaus in das Licht wie der

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Regenwurm, wenn er einmal bei Regen herauskommt und vielleicht irgend etwas Spärliches von dem Licht da draußen wahrnimmt. Es ist tatsächlich mit Bezug auf die geistige Welt ein Maulwurfdasein ge­worden, in das sich die Menschheit nach und nach eingesponnen hat. Denn nur was der Mensch maulwurfsartig in seinem eigenen Inneren finden kann, die mathematischen Zusammenhänge, die sucht er drau­ßen im Kosmos; nicht aber sucht er das Konkrete und Geistig-Wirk­liche draußen im Kosmos. Man könnte ja sagen: Das Erlebnis der Freiheit konnte dem Menschen nur dadurch kommen, daß er ein­mal eine Weile dieses Maulwurfsdasein geführt hat, daß er hinge-schaut hat auf die Lilie und nicht mehr weiß, daß sich in der Lilie ein Himmelsbild abbildet; daß er hingeschaut hat auf die Tulpe und nicht mehr weiß, daß sich abbildet in der Tulpe ein Himmelsbild. Da­durch hat er seine Kräfte mehr auf ein Inneres gewendet, und er ist zu dem Erlebnis der Freiheit gekommen. Aber wir sind heute an dem Punkte angelangt, wo wir notwendigerweise das geistige Weltenall wiederum ins Seelenauge fassen müssen. Es muß wiederum dasjenige, was Jahrhunderte nur als mathematisches, mechanisches Gefüge des Raumes erschienen ist, als ein durchgeistigter Kosmos vor das seeli­sche Auge treten. Man kann geradezu sagen: Durch Jahrhunderte hindurch hat die Menschheit der zivilisierten Welt ein geistiges Maul­wurfsdasein geführt, allerdings zur Heranzüchtung der menschlichen Freiheit; denn Sinn hat alles, was im Fortschritt der Menschheit er­lebt wird. Aber man muß diesen Sinn durchschauen, man muß nicht stehenbleiben bei einer Entwickelungsetappe, sondern man muß mit der Entwickelung mitgehen und muß sich heute klar sein: Nachdem die Menschheit das Erlebnis der Freiheit im irdischen Maulwurfs-dasein entwickelt hat, muß es wieder hinausgehen zum Anschauen des Geistigen, der spirituellen Welt, nicht nur der mathematischen Welt.

Aber stellen Sie sich recht lebhaft vor, was ich jetzt auseinander­gesetzt habe. Es ist wirklich so, wie wenn es in seelischer Beziehung mit den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten finster geworden ware, wie wenn früher die Menschen hlnausgesehen hätten und im Kosmos - bildlich gesprochen - das Licht des Geistes geschaut hätten.

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Es war gerade noch Zeit, weil dieses Seelenschauen noch vier Jahr-hunderte nach dem Mysterium von Golgatha angehalten hat, wenn es auch immer stumpfer und stumpfer geworden ist, daß in den ersten Jahrhunderten das Ereignis von Golgatha, das Christus-Ereignis noch geistig hat angeschaut werden können. Man hat nur die Literatur, die sich auf diese geistige Anschauung des Christus-Ereignisses be­zieht, auch ausgerottet. Es ist ja von dieser Literatur nichts anderes vorhanden, als was die Gegner geschrieben haben. Dem Mysterium von Golgatha steht der Mensch so gegenüber, daß er außer den ein­fachen, scheinbar einfachen Darstellungen der Evangelien nicht die großen Darstellungen hat, die die Spirituallsten der ersten vier Jahrhun­derte noch gegeben haben. Er hat nur die Darstellungen der Gegner. Von den größten Darstellungen des Mysteriums von Golgatha haben wir ungefähr so viel, wie die Nachwelt von der Anthroposophie hätte, wenn sie nur die Schriften von Kully lesen würde. Ich denke> man würde da nicht gerade ein sehr adäquates Bild bekommen. Das muß man ja immer bedenken, wie diese vier ersten Jahrhunderte gearbeitet haben im Ausrotten gerade der intensivsten Erkenntnisse, die noch vorhanden waren, als man hinausgeschaut hat in den Kosmos und wußte, daß aus einem geistigen Kosmos der Christus auf die Erde ge­kommen ist. Man mußte ja den geistigen Kosmos verstehen, um ver­stehen zu können, wie eben aus der geistigen Welt der Christus auf die Erde gekommen ist und in einem Menschen sich verkörpert hat. Dann blieb eben nichts weiter, weil die Menschheit in das nur Irdische ein-tauchte, als die Erinnerungen an das Mysterium von Golgatha. Die Erinnerungen pflanzten sich von Generation zu Generation fort. Und was als Erinnerung sich fortpflanzte, nannte man Offenbarung, suchte es zu begreifen mit dem Intellektualismus, der immer mehr herauf­kam.

Was ist es denn, was uns heute als Aufgabe zusteht gegenüber die­sen Dingen? Das steht uns als Aufgabe zu, wiederum hinaus schauen zu lernen in das Weltenall und Geist überall sehen zu können, nicht bloß indem wir uns in uns selber versenken und da das Geistige er­leben wollen, sondern indem wir den Geist in allen Gebilden gerade des Kosmos draußen erleben können. Das steht uns zu, das muß wieder

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geschehen. Wir müssen wiederum eindringen in den lichten Geist des ganzen Kosmos, dann werden wir auch das Mysterium von Gol­gatha wieder in einem neuen Lichte sehen.

Ich habe Ihnen dargestellt, wie im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts dieses bloß konfessionelle Festhalten an das Mysterium von Golgatha eigentlich schon nicht mehr vorhanden war. Ich habe Ihnen gesagt, daß ein Geist wie Karl Julius Schröer schon im Anfange der siebziger Jahre gesagt hat: Die religiösen Streitfragen sind eigent­lich ein Anachronismus. Die Menschen streben schon - so meinte er - nach etwas ganz anderem hin, nach einer anderen Frömmigkeit, nach einem anderen Verbundensein mit der geistigen Welt. - Aber es hat noch im wesentlichen diese letzten fünfzig Jahre gebraucht, damit nur solche schwachen Versuche gemacht werden wie der, den ich Ihnen angeführt habe in dem «Spiegeimenschen» von Werfel. Aber jetzt sieht man, einzelne Menschen drängt es hin, ihren Zusammen­hang mit der geistigen Welt wiederum zu finden. Nur glauben Sie nicht, daß dieser Zusammenhang mit der geistigen Welt leicht gefun­den werden kann. Er kann aus dem Grunde nicht leicht gefunden werden, weil ja heute eine furchtbare Autorität hat, was rnan Wissen­schaft nennt, was überall getrieben wird als offizielle Wissenschaft. Das aber ist eben hervorgegangen aus diesem Maulwurfstreiben. Ich meine das gar nicht in einem abträglichen Sinne. Ich bitte Sie nur, ja nicht zu denken, daß ich etwa hier die Zeit kritisieren will, indem ich sage « Maulwurfsdasein ». Ich will nur charakterisieren, ich will wirk­lich gar nicht etwas Abträgliches sagen, denn im Grunde genommen ist seit dem 15. Jahrhundert recht Großes geleistet worden von die­sen kosmischen Maulwürfen, die man die Menschen nennt.

Wenn Sie das nicht glauben, so studieren Sie einmal vom geistes-wissenschaftlichen Standpunkte aus die Geographie der Maulwürfe oder Regenwürmer. Das ist zwar eine geträumte, aber es ist eine groß­artige Geographie; sie ist nur just nicht dem Menschen angemessen. Und wenn Sie erst die Geographie der Pflanzen studieren würden! Die Pflanze bringt es nicht einmal zum Träumen in ihrem Atherleib, aber das, was im Atherleib entdeckt werden kann, das ist wahrhaftig großartiger als was heute an einer Fakultät gelernt werden kann.

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Also, ich meine das durchaus nicht abträglich, wenn ich sage: ein Maulwurfsdasein, weil ich es aufs höchste schätze.

Aber die Welt ist eben in Entwickelung, und es ist jetzt einmal die Zeit, wo wir wieder einrücken müssen in das seelische Erfassen, in das Schauen der Geistigkeit. Der Mensch kann nicht weiterleben, ohne daß er sich einlebt in dieses seelisch-geistige Schauen der Geistigkeit. Und nun muß man sich ganz klarwerden, wie in den letzten fünfzig Jahren diese Dinge eigentlich gewirkt haben. Und da möchte ich wiederum eine charakteristische Persönlichkeit vorführen. Man kann manchmal an Persönlichkeiten viel genauer noch studieren, wie die Dinge sich entwickeln in bezug auf die Menschheitskulturen und ihren Fort­schritt, als wenn man mehr unpersönlich und abstrakt schildert.

Ich habe Sie in diesen vergangenen Betrachtungen hier auf Brentano und Nietzsche hingewiesen, um Ihnen zu zeigen an dem, was Men­schenseelen durchgemacht haben, wie eigentlich die Entwickelung war. Heute möchte ich Ihnen mehr von der anderen Seite etwas zei­gen, wie ein Mensch aufgefaßt worden ist von seinen Mitmenschen.

Da ist in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, am 22. Juli 1822 - wir feiern heute seinen hundertsten Geburtstag -, ein gewisser Gregor Mendel geboren. Ich habe ihn neulich erwähnt, als ich sagte, während wir in Wien waren, erschienen überall die Artikel über Gregor Mendel, weil sich sein hundertster Geburtstag jetzt nähert. Dieser Gregor Mendel ist als ein Bauernsohn in einem schlesischen Ort geboren, hat mit großer Mühe und sehr gutem Fortschritt stu­diert und ist dann mit vierundzwanzig Jahren in Mähren zum Prie­ster ordiniert worden. Er wurde also katholischer Priester. Gregor Mendel war als Gymnasiast und auch noch auf dem Priesterseminar ein außerordentlich, wie man so sagt, braver Schüler. Es war dazu­mal in Österreich so üblich - es war in den vierziger oder fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts -, daß besonders braven, fleißigen Schülern von ihren Klöstern Stipendien gegeben wurden. Sie wurden dann auf die Universität geschickt, um zu Mitteischullehrern, zu Gym­nasial- und Realschullehrern vorbereitet zu werden, denn fast alle Stellen in den Gymnasien und Realschulen - ich habe das neulich, als ich Ihnen unsere Wiener Reise beschrieben habe, auch erwähnt -

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waren von Mönchen oder Priestern besetzt. Die Priester waren in Österreich Lehrer an den Schulen, die man hier die höheren Schulen nennt, bis an die Universitäten hinau£

Er wurde nach Wien geschickt, um dort die Mathematik und die exakten Naturwissenschaften zu studieren. Dann mußte man, nachdem man drei Jahre studiert hatte, in der damaligen Zeit die Lehramts-prüfung machen. Mendel stellte sich zur Lehramtsprüfung, dachte offenbar, weil er früher immer so ausgezeichnete Zeugnisse bekom­men hatte: Jetzt geht das auch so einfach. Schließlich ist er durch-geplumpst bei der Lehramtsprüfung, mußte sie wiederholen, plumpste wieder durch, so daß er sie ein drittes Mal nicht wiederholen konnte; denn wenn man zweimal bei einer so wichtigen Sache durchgeplumpst ist, so geht es nicht mehr weiter.

Durch alle möglichen Umstände, wie es im alten Österreich ein­mal war, hat ein Schuldirektor irgendwo in Mähren dann einmal gesagt: Nun, einen anderen, der durchgekommen ist, der ein gutes Zeugnis bekommen hat, den haben wir nicht; wir brauchen aber einen Lehrer, da stellen wir doch eben den Gregor Mendel an. Und er wurde dann fünfzehn Jahre lang Realschullehrer. Es ist nicht zu leugnen, er ist es dennoch geworden, also einer von denjenigen Real-schullehrern, die eben als Priester hineingeschickt worden sind in diese höheren Schulen.

Dann hat er aber seine Liebe zur Naturwissenschaft ganz besonders ausgelebt, hat eine große Anzahl von Versuchen gemacht über die Art und Weise, wie die Vererbung geschieht, namentlich bei den Pflanzen. Er hat Pflanzen gesammelt, gepflanzt, solche, sagen wir, die eine rötliche Blüte, und solche die weißliche Blüten haben. Dann hat er diejenigen, die rötliche Blüten haben, befruchten lassen von denen, die weißliche haben, hat dann Pflanzen bekommen mit lauter rötlichen Blüten, die Tochterpflanzen waren. Aber in der zwei­ten Generation war es anders. Da war eine bestimmte Anzahl von rötlichen Blüten, weißlichen Blüten, scheckigen Blüten, und so ging es weiter. Kurz, Gregor Mendel hat sich gesagt: Ich muß die Atome, das eigentlich Atomistische suchen in der Pflanzenwelt, in der organi­schen Welt überhaupt. - Wer die Entwickelung des geistigen Lebens

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kennt, der weiß, wieviel man dazumal nachgedacht hat über die Ver­erbung. Es gibt ungeheuer viele Vererbungstheorien. Aber Gregor Mendel hat sich nicht viel gekümmert um diese Vererbungstheotien, sondern er hat seine Erbsenpflanzen gepflanr:t und nachgeschaut, wie da die Vererbung geschieht, wenn er eine weiße von einer rötlichen Erbse hat befruchten lassen, er hat geschaut, ob er eine rote, weiße oder schecklge Erbse kriegt, und so hat er durch Generationen fest-gestelit, wie sich zum Beispiel da die Farbe gestaltet, wie sich die Ver­erbung überhaupt unter verschiedenen Bedingungen, Größenverhält­nissen und dergleichen bei den Erbsen gestaltet.

Ich beschrieb Ihnen gestern die Zeit - es war in den sechziger Jahren -, wo alles das heraufkam, was ich geschildert habe, was in Herman Grimms «Unüberwindlichen Mächten», in Paul Heyses «Kin­der der Welt», in Du Bois-Reymonds « Grenzen des Naturerkennens »und so weiter von den verschiedensten Seiten her wirkte. Bei Mendel wirkte es so, daß er die Vererbungsverhäitnisse festgestellt hat.

Die Herren Examiatoren bei den beiden Lehramtsprürungen, die haben sich doch wenigstens so viel um Gregor Mendel gekümmert, daß sie ihn zweimal haben durchplumpsen lassen, daß sie ihm also zweimal das Zeugnis ausgestellt haben: Gänz:lich unbrauchbar, um Gymna-siasten oder Realschülern irgendwelche Wissenschaft beizubringen! -Die anderen Leute dann, die späteren, haben sich überhaupt nicht mehr um Gregor Mendel gekümmert. Die Bücher, die er geschrieben hat über die Vererbungsgesetze, die sind zienl!ich verschimmelt in den Bibliotheken. Es hat sich niemand mehr darum gekümmert.

Aber seit etwa zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, da können Sie finden, daß sich die Leute immer mehr und mehr um Gregor Men­del kümmerten. Da gruben sie seine Vererbungsgesetze aus. Denn jetzt stehen wir ja vor einer ganz besonderen Phase der Wissenschaft. In jener Epoche, wo Herman Grimm zeigen wollte, wie der mensch­liche Intellekt nicht Standesvorurteile überwinden kann, weil er nicht kraftvoll ist, in der Epoche, in der Du Bois-Reymond sein «Ignora-bimus» ausgesprochen hat, in der Paul Heyse seine «Kinder der Welt» geschrieben hat, also in der Epoche, wo der Verstand, der Intellekt immer kraft- und saftloser geworden ist, wo aber doch bei den konfessionslosen

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Leuten überall ein Hang zu einer neuen Frömmigkeit da war, der jetzt fünfzig Jahre gewirkt hat, in derselben Zeit, wo man überall sich bemüht hat, den Atomismus zum Entseelen in der Wissenschaft zu entwickeln, da bemühte sich auch Gregor Mendel darum, den botanischen und zoologischen Atomismus zu entdecken. Er bemühte sich, jede Pflanze ihrer Vererbung nach zusammenzu-setzen aus roten und weißen Blüten, aus großen und kleinen, aus dicken und dünnen Blüten, nachzusehen, wie dicke und dünne, rote und weiße Blüten, wenn sie einmal da sind, so unveränderlich blei­ben, wie die Atome unveränderlich bleiben. Dazumal haben die Leute zum Beispiel gesagt: In der Kohlensäure haben wir Kohlenwasser-stoff; Kohlenwasserstoff ist etwas ganz anderes als Kohlensäure, aber in beiden ist Kohle darinnen. Die Atome, die da als Kohle darinnen sind, die sind in der Kohlensäure, sind im Kohlenwasserstoff die­selben.

Mendel hat gesagt: Da habe ich eine rote Erbsenblüte, da habe ich eine weiße Erbsenblüte. Jetzt kriegen die Kinder, die sind viel­leicht rot. Aber jetzt kriegen die wieder Kinder, da sind einige dar­unter rot, einige darunter sind aber weiß, einige scheckig, rotweiß ge­sprenkelt. Und nun geht es wieder weiter: Die kriegen wieder Kinder, und da sind nun wiederum rote, weiße und scheckige darunter und so fort. - Jetzt hat man die atomistische Betrachtungsweise in bezug auf die Pflanzen. Wenn wir nur die Farbe betrachten, rot und weiß, da hat sich, wo die Erbsen rot sind, nur das Weiß verborgen; es ist auch drinnen, nur verborgen. Aber bei den weiteren Kindern, da kommt es wieder heraus, gerade so, wie der Kohlenstoff in der Koh­lensäure und im Kohlenwasserstoff ist, in Stoffen, die voneinander ganz verschieden sind. Das ist ja das Wesentliche in den Atomen, der Kohlenstoff ist hier und ist da; das ist überall dasselbe, die festen, die ewigen Atome. Die ewigen Atome bei der Pflanze, die durch die Vererbung durchgehen, das sind die Farben, aber auch zum Beispiel, ob die Pflanze dick oder dünn, groß oder klein ist; aber das Weiß erhält sich, es ist nur manchmal verborgen. Wie in dem Wasser der Sauerstoff, so ist hier das Weiß in den roten Kindern verborgen und kommt wiederum zum Vorschein, wenn es Gelegenheit dazu hat.

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Gregor Mendel war wirklich ein großer Mann, denn er hat im Sinne seiner Zeit das, was man damals als das der Zeit Angemessene gefunden hat, den Atomismus für die leblose Welt, aufgesucht, und zwar an der richtigen Stelle, für die Pflanzenwelt. Auch für die Tier­welt hat er von da ausgehend sehr interessante Bemerkungen ge­macht, trotzdem er zweimal durchgefallen ist bei der Lehramtsprü­fung. Er hat das alles gemacht, aber damals haben sich die Leute nicht darum gekümmert.

Dann kam die Zeit, in der durch die Entdeckung des Radiums und so weiter der Atomismus in der leblosen Welt gesprengt wurde. Neu­lich ist in Berlin eine Rektoratsrede gehalten worden, die das sehr schön auseinandergesetzt zu haben scheint: man kann heute nicht mehr an der alten Atomistik festhalten. Aber die Leute kriegen nicht gleich so schnell Atem. Nun sind sie in einer Art von Atemverlieren, wenn sie keinen Atomismus mehr haben. In der Physik geht es nicht mehr, in der Chemie geht es auch nicht mehr recht. So sind denn, nachdem der Gregor Mendel nun lange Zeit verstaubt war, seine Vererbungs­gesetze ausgegraben worden, und heute können Sie überall finden, daß man von dem Mendelismus spricht, daß der Mendelismus etwas von allererstem Range in bezug auf die Vererbungslehre genannt wird, hundert Jahre nach seinem Geburtstag. Überall in den gelehrten Akademien werden jetzt die Jahrhundertfeiern für Gregor Mendel begangen.

Es ist ein interessantes Leben: Der Priester, der ganz unbeachtet während seines Lebens geblieben ist, der zweimal durchgefallen ist bei der Lehramtsprüfung, hat doch etwas zustande gebracht, was heute eine große Anzahl von Akademien über den ganzen Erdkreis hin als eine allererste geistige Tat feiern. Ich habe Ihnen bei Brentano den Menschen von innen gezeigt, wie er die Welt angeschaut hat, wie er über das Vatikanum, über das Infallibilitätsdogma gedacht hat. Bei Nietzsche habe ich Ihnen etwas Ähnliches zu zeigen versucht. Bei Gregor Mendel wollte ich Ihnen mehr zeigen, wie die anderen ihn an­geschaut haben. Denn es ist ja immerhin interessant, daß die gelehrte Körperschaft ihn zweimal hat durchfallen lassen bei der Lehramts-prüfung, daß er dann ganz unbeachtet geblieben ist und jetzt die

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Welt beherrscht in bezug auf die sogenannten Vererbungsgesetze. Was ist das? Das ist im Grunde genommen auch nichts anderes als das Herausbilden der letzten Phase des Intellektualismus und allerdings noch anderes, von dem ich dann erst morgen reden möchte. Aber das Herausbilden des Intellektualismus, die letzten Atemaüge des Intellek­tualismus, der ja so verknüpft ist mit dem Atomismus, das können wir wahrnehmen in diesem Verhältnis, in dem die Welt zu Gregor Mendel gestanden hat und auch heute steht.

Wahrhaftig, ich habe gar nicht etwa das Bedürfnis, Gregor Mendel von seinem Ruhm das allergeringste zu nehmen. Im Gegenteil, ich habe die Gelegenheit heute ergriffen, um Ihnen einen wirklich großen Mann nahezubringen, damit Sie auch hier an diesen großen Mann denken. Er ist ein großer Mann. Aber gerade an großen Männern und ihren inneren und äußeren Schicksalen kann man die Weiterentwickelung der Mensch­heit studieren. Nicht an den kleinen, an den großen muß man das studieren, und Gregor Mendel ist ein großer Mann, und Sie können versichert sein, ich freue mich mehr darüber, daß er heute in allen möglichen wissenschaftlichen Akademien gefeiert wird, als daß ich mich etwa darüber freute, daß er zweimal durchgefallen ist. Das können Sie sicher glauben. Aber das Schicksal von Gregor Mendel ist schon außerordentlich interessant. Und ich möchte sagen: Dieses jetzt Sich-Anklammern an den Atomismus in der organischen Welt, das ist ungeheuer charakteristisch für unsere Zeit und gehört eigent­lich zu all den Erscheinungen, die ich Ihnen in diesen Tagen beschrei­ben wollte, die ich gestern von einem anderen Gesichtspunkte aus beleuchtet habe und die ich Ihnen heute darstellte von dem Gesichts­punkt des Mendelismus aus, zu der Jahrhundertfeier von Johann Gregor Mendel.

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HINWEISE

Die in diesem Band gesammelten Vortrage erscheinen erstmals in dieser Zusammen-stellung. Die Vortrage waren von Rudolf Steiner nicht zum Druck bestimmt und er hat sie selbst nicht durchgesehen. Deshalb stammen auch der Titel des Bandes sowie die Titel der einzelnen Vorträge nicht von ihm. Der Titel des Bandes stammt von Marie Steiner, die ihn fur die Erstveröffentlichung des Vortrages vom 25. Juni1922 gewählt hatte. In Zeitschriften waren folgende Vorträge abgedruckt:

24. Juni 1922 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» (Beilage zu «Das Goetheanum», auch «Nachrichtenblatt» genannt) 4. Jg. 1927, Nr.27-28.

25. Juni 1922 in «Das Goetheanum» 6. Jg. 1927, Nr.13-15.

30. Juni, 1., 2. Juli1922 in «Das Goetheanum» 15. Jg. 1936, Nr.19-27.

7., 8. Juli 1922 in «Das Goetheanum» 13.Jg. 1934, Nr. 35-40, und in «Blätter für Anthroposophie» 9. Jg. 1957, Heft 9 u. 10.

9. Juli 1922 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» 10. Jg. 1933, Nr.43-46, «Das Goetheanum» 20. Jg. 1941, Nr.31-34, «Blätter für Anthroposophie» 9. Jg. 1957, Heft 11.

14. Juli 1922 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgent» 10.Jg. 1933, Nr.49-51, «Blätter für Anthroposophie» 9.Jg. 1957, Heft 12.

15.Juli 1922 in «Das Goetheanum» 13.Jg. 1934, Nr .41-43, «Blätter für Anthropo­sophie» 10.Jg. 1958, Heft 1.

16. Juli 1922 in «Das Goethesnum» 9. Jg. 1930, Nr.1-2, «Blätter für Anthroposophie»

10.Jg. 1958, Heft 2.

21.Juli 1922 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» 18.Jg. 1941, Nr.42-44.

22. Juli 1922 in «Das Goetheanm» 8. Jg. 1929, Nr.28-30.


Zu Seite

19 Arthur Schopenhauer, 1788-1860. «Die Welt als Wille und Vorstellung», Rudolstadt 1819.

31 Herder über die Morgenröte: Johann Gotffried Herder, 1744-1803. «Vom Geist der Ebräischen Poesie» sowie «Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes », 1. Teil IV: «Unterricht unter der Morgenröte», Riga 1774.

Jakob Böhme, 1575-1624. «Aurora oder die Morgenröte im Aufgang», Amsterdam 1682.

aus Goethes « Faust»: «Auf bade Schüler...», «Faust» I. Teil: Nacht, Zeile 445/446.

33 Julian Apostata, 332-363. Römischer Kaiser 361-363.

36 wenigstens in der Zeit: Der Vortrag wurde in der Zeit einer schweren Wirtschafts­krise gehalten.

42 Büchelchen über das Vateru,aser: « Das Vaterunser. Eine esoterische Betrachtung», Sonderdruck aus Bibl.-Nr. 95, Dornach 1968.

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91 Aphorismus über den Materialismus: Psychologische Aphorismen, in «Das Goethe-anum». 1.Jahrg. 1921/22 Nr.47; siche «Der Goethcanumgedanke», Gesamt-ausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 36.

96 bei einer nächsten Gelegenheit: VgL dazu «Das Verhältnis der Sternenwelt aum Measehen und des Menschen zur Sternenwelt. - Die geistige Kommunion der Menschheit», Bibl.-Nr. 219, Gesamtausgabe 1966.

97 Franz Brentano, 1838-1917. «Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung.» Herausgegeben aus seinem Nachlasse von Alfred Kastil, Leipzig 1922.

Andeutungen in der Zeitschrift «Das Goetheanum»: «Die Lehre Jesu» von Franz Brentano / Das Verstehen der Menschen (Brentano und Nietzsche). in: «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturlerisis der Gegenwart». Bibl.-Nr. 36. Gesamtausgabe 1961.

Clemens Brentano, 1778-1842, Dichter der romantischen Schule. Seine Mutter Maximiliane, 1757-1793, war eine Tochter der Schriftstellerin Sophie La Roche, 1731-1807.

99 Thomismus: «Die Philosophie des Thomas von Aquio», drei Vorträge. Dornach 22.-24. Mai 1920, Bibl.-Nr. 74. Gesamtausgabe 1967.

101 Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, 1811-1877, seit 1850 Bischof von Mainz.

103 These van F. Brentano: «Vera phiiosophiae methodus nullaaliz nisi seientize naturalis est», in Übersetzung abgedruckt in «Über die Zukunft der Philosophie», aus dem Nachlasse herausgegeben von Kramer, Leipzig 1929.

106 von dem ich Ihnen mulich gesprochen habe: Am 18. Juni 1922 in Wien, in: «Westliche und östliche Weltgegensätzllchkeit», Dornach 1950.

108 Adolf Wilhrandts «Gast vom Abendstern»: Adolf Wilbrandt (1837-1911) Vgl. dazu das in Rudolf Steiners Bibliothek enthaltene Werk: OskarKraus «Franz Brentano.-Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre», München 1919, S. 13 f

109 Seelcnkunde ohne Seele: Der Ausdruck stammt von Friedrich Albert Lange in seiner «Geschichte des Materialismus», Reclam-Ausg. 2.Bd. S.474 (Kritik an Herbart und seiner Schule).

110 Brentano, Werk aus dem Nachlaß: Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung, mit einem Anhange: Kurze Darstellung der christlichen Glaubenslehre, Leipzig 1922.

David Friedrith Strauß, 1808-1874, protestantischer Theologe und Schriftsteller.

111 Modernismus: Reformbewegung in der katholischen Kirche zwecks Ausgleich zwischen katholischem Glauben und modernem Leben am Ende des 19.Jahr-hunderts. Wurde durch Leo XIII. (1899) und Pius X. (1907) aufs strengste verpönt.

6nd die Fragen gestellt worden: Sind wir noch Chfisten? - Haben wir noch Reli­gion? = Titel des i. und 2. Kapitels seiner Schrift «Der alte und der neue Glaube. -Ein Bekenntnis», 1872.

113 Zitat Brantanos: Aus «Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung». Leipzig

1922, S. 19.

114 Desgleichen, S. 37 und 39.

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123 Kant, der auch philosophisch die Trennung zwischen Wissen und Glauben aussprechen wollte: In der Vorrede zur 2. Ausgabe der «Kritik der reinen Vernunft»: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.»

Es ist ein schöner Gedanke, wenn Hegel sagte (wörtlich): «Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unend­lichen, der Sprung der mit der Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht werde, alles dieses ist das Denken selbst», in: «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß», L Teil § 50.

126 harte Worte Brentanos über Fichte, Schelling, Hegel: «Vielleicht ist auch die jüngst-vergangene Zeit eine solche Epoche des Verfalles gewesen, in der alle Begriffe trüb ineinander schwammen, und von sachentsprechender Methode nicht eine Spur mehr zu finden war. Der rasche Auf- und Niedergang entgegengesetzter Systeme wird in diesem Falle uns nicht mehr befremden können», in: «Über die Grunde der Entmutigung auf philosophischem Gebiete», Wien 1874, S. 18.

127 Und Hegel sagt dennoch: «Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrucken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist», in: «Wissenschaft der Logik», Einleitung.

130 daß ich auch öffentlich eine wichtige Tatsache erwähnt habe: In «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», Bibl.-Nr. 15, Gesamtausgabe 1963.

140 Adolf Flck, 1829-1901, Physiologe. «Die Naturksäfte in ihrer Wechselbeziehung.» Populäre Vorträge. Würzburg 1869.

141 Julius Robert Mayer, 1814-1878. Begründer der mechruischen Wärrnetheorie.

Hermann von Helmholtz 1821-1894, Naturforscher.

Rudolf Clausius, 1822-1888, Physiker.

James Prescott Joule, 1818-1889, Physiker.

145 Ich zitiere nur A. Fick selber: Siehe Hinweis zu S. 140, vgl. 6. Vorlesung: «Schluß-folgerungen über das Schicksal des Weltganzen».

146 Ernst Wilhelm von Brücke, 1819-1892, Physiologe.

147 Richard Wable, 1857-1935, Philosoph. «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende. -

Ihre Vermächtnisse an die Theologie, Ästhetik und Staatspädagogik», Wien 1894.

Zitat vgL S. 538 (Abschluß).

149 Erster Wiener Vortrag: «Anthroposophie und Naturwissenschaft», i. Juni 1922.

152 Brentano über Melitation: «Erinnerungen an Fr. Brentano von Carl Stumpf», in «Franz Brentano - zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre», von Oskar Kraus, München 1919; im Anhang I S. 93 heißt es: «Wer nicht betrachtet», schrieb mit Brentano nach Göttingen Silvester 67, «scheint mir kaum zu leben, und ein Philosoph, der die Betrachtung nicht pflegt und übt, verdient den Namen nicht, er ist kein Philosoph, sondern ein wissenschaitlicher Handwerker und unter den Philistern der philiströseste. Lasen Sie sich um Gottes willen durch nichts in Ihrem Entschlusse wankend machen, täglich eine kleine Zeit der Betrachtung zu

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weihen. Die Untreue gegen die Vorsätze, die Ihnen Gott einflößt, wurde sich bitter rachen. Für inimer würde Ihnen vielleicht die schönste Blüte des Lebens, erst halb erschlossen, verwelken. Könnte ich Ihnen nur aussprechen, wie unermeßlich dieser Verlust sein wurde ! Ich kann es nicht, aber das eine sage ich mit Wahrheit, daß ich lieber allen meinen gelehrten Kram in den Wind streuen, ja daß ich lieber sterben würde, als daß ich auf die Betrachtung verzichte.»

157 Letzte Nummer unserer Zeitschrift: «Das Goctheanum», I. Jahrg. Nr.49, siehe Hinweis zu S. 97/2.

Friedrich Nietzsche, 1844-1900. «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der

Musik», 1872; «Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen», 1873, ein

Fragment; «Ilichard Wagner in Bayreuth», 1876, u. a.

160 «Götzendämmeweg eder Wie man mit dem Hammer philosophiert », 1889.

170 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896. «Über die Grer'en des Naturerkennens. -Ein Vortrag in der 2. öffentl. Sitzung der 45. Versammlung deutscher Natur­forscher und Ärzte zu Leipzig am 14.August 1872», 1.Aufl. 1872; das Zitat auf S. 26 lautet wörtlich: «Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- und so weiter Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.»

175 Wianer Kongreß: Zweiter internationaler Kongreß der anthroposophischen Be­wegung in Wien vom I. bis 12. Juni 1922.

Versammlung von Gegne"n: Einige Wochen nsch dem West-Ost-Kongreß in einem Sasl des Wiener Rathauses. Es fand eine Diskussion zwischen Gegnern und An­hängern der Anthroposophie statt (gem. Bericht von Dr. H. E. Lauer, der an der Versasumlung teilnahm).

183 Alhertus Mag«us, 1193-1280, Dominikaner, genannt Doctor universalis.

Naturgeschichtliches Buch: Gemeint ist wohl das Werk «De vegetabilibus».

186 Das nannte Du Bois-Reymond den Leplaceschen Kopf: Im oben angeführten Vortrag,

s. Hinweis S. 170, heißt es S. 13 f.:

193 Platin, 205-270, Philosoph.

Brentano über Plotin: «Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht», Wien 1876.

194 Paul Deussen, 1845-1919, Philosoph, Indologe. «Die Philosophie der Griechen»,

2. Aufl. Leipzig 1919, S. 272: «Für einen persönlichen Gott als Weltschöpfer ist im platonischen System kein Platz, denn die Ideen sind, wie wir gesehen haben, , sie wurden es aber nicht mehr sein, und das ganze System müßte einen andern Aufbau zeigen, wenn es von einem persönlichen Gott als oberstem Prinzip ausginge. Daß alle Ideen von der Idee des Guten ahbängig sind, tut ihrer Selbsthetrlichkeit keinen Abbruch, denn die Idee des Guten ist. wie wir oben S. 263 gezeigt haben, nichts anderes als die allen Ideen als gemein­samer Familientypus eigene Zwecltmißigkeit, welche dem Platon als eine be­sondere, alle andern beherrschende Idee erscheint.» S. 263: «...dieser oberste Gipfel der Ideenwelt ist die Idee des Guten. Platon vergleicht sie mit der Sonne...»

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195 Ammonius Sakkas, 175-242, alexndrinischer Philosoph.

197 Jamblichos, 4. Jahrhundert.

203 jene Schrift, die man eine Predigt des Apostels Petrus na,'nte: Sogenannte Missions-

predigt des Petrus. Vgl. «Neutestamentliche Apolcryphen» herausgegeben von

Edgar Hennecke, Tübingen 1924, S. 145.

204 Henrik Ibsen, 1828-1906. «Kaiser und Galilaer», 2 Teile, 1873.

208 Paul Heyse, 1830-1914. «Kinder der Welt», 3 Bde, 1873.

Karl Julius Schröer, 1825-1907, Literatur- und Sprachforscher. Lehrer Rudolf Steiners an der Technischen Hochschule in Wien, vgl. «Mein Lebensgang».

210 Herman Grimm, 1828-1901. «Unüberwindliche Machte», 3 Bde, 1867.

211 Franz Werfe4 1890-1945. «Der Spiegelmenseh. Magische Trilogie», 1920. Vgl. dazu auch Rudolf Steiners Aufsatz in «Das Goctheanum», 30. Juli 1922, jetzt in:

«Der Goetheanumgedanke...», Bibl.-Nr. 36, Gesamtausgabe 1961.

222 «Du gleichst dem Geist...»: «Faust» I.Teil: Nacht (Erdgeist), Zeile 512.

233 Gehirn... Abbild des Sternenhimmeh: In «Die geistige Führung des Menscheri und der Menschheit», Bibl.-Nr. 15, Gesamtausgabe 1963.

236 Max Kully, 1878-1936, katholischer Pfarrer von Arlesheim, Verfasser von Schnah­schriften gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie.

238 Gregor Mende4 1822-1884. Sogenannte Mendelsche Regeln = Kreuzungsversuche von Erbsenrassen. Schriften: «Versuche über Pflanzenhybriden», 1865; «Über einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieraeium-Bastarde», 1869.

242 Rektoratsrede in Berlin: Walther Nernst, 1864-1941. «Zum Gültigkeitsbereich der Naturgesetze», Berlin 1921. 243 von dem ich erst morgen reden möchte: Vgl. Vortrag I in «Das Geheimtüs der Trinitä t», Bibl.-Nr. 214, Gesamtausgabe 1969.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.