GA 180

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Mysterienwahrheiten
und Weihnachtsimpulse

Alte Mythen und ihre Bedeutung

Sechzehn Vorträge,
gehalten in Basel am 23. Dezember 1917
und in Dornach vom 24. Dezember 1917
bis 17. Januar 1918

GA 180

1966

Inhaltsverzeichnis

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ERSTER VORTRAG Basel, 23. Dezember 1917

Der Sinn, der verbunden ist mit der Kraft des menschlichen Sehnens, wie sie viele Jahrhunderte hindurch in den menschlichen Herzen Platz gegriffen hat mit dem Feste, dessen Symbolum in der neueren Zeit der Weihnachtsbaum geworden ist, dieser Sinn ist auszudrücken in den Worten, die da ertönen seit dem Beginn der Zeitrechnung, welche vom Mysterium von Golgatha ausgeht, und die sich in die Entwicke­lung des Erdenwesens weiter hineinverpflanzen sollen. Dieser Sinn, der durch diese Zeit hindurchleuchtet, ist verbunden mit den Worten: «Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine.»

Man darf sagen, ein großer Teil der neueren Menschheit wird mit den Worten «Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine» ebensowenig Bedeutung verbinden wie mit dem Auferstehungs-mysterium der Osterzeit. Man darf gewissermaßen sagen, so unwahr­scheinlich es dem nicht mehr der spirituellen Welt zugewandten neue­ren Sinn erscheint, das Mittelpunktsmysterium des Christentums in der Auferstehung vom Tode zu sehen, ebensowenig erscheint es dem­selben Denken, demselben Empfinden wahrscheinlich, die geistige Tatsache anzunehmen, die mit dem Weilmachtsmysterium verbun­den ist: die Fleischwerdung, die Verkörperung aus der jungfräu­lichen Geburt heraus. Ja, man kann wohl sagen, ein großer Teil der neueren Menschheit wird dem Naturforscher, welcher das Mysterium der jungfräulichen Geburt genannt hat «eine freche Verhöhnung der menschlichen Vernunft», mehr zustimmen als demjenigen, der im spirituellen Sinne dieses Mysterium ernst nehmen will.

Und dennoch, in dem christlichen Sinne ist das Mysterium von der Inkarnation vom Heiligen Geiste aus Maria der Jungfrau heraus geltend seit dem Mysterium von Golgatha. In einem andern Sinne war es gültig bereits vor dem Mysterium von Golgatha. Diejenigen, welche dem in der Krippe liegenden Kind dargebracht haben die Symbole, oder besser gesagt die symbolischen Gaben Gold, Weih­rauch, Myrrhen, sie haben in den Sternen gelesen im Sinne der alten

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Wissenschaft seit Jahrtausenden das Mysterium von der jungfräu­lichen Geburt, also das Weihnachtsmysterium. Und sie, die Magier mit dem Golde, dem Weihrauch, den Myrrhen, sie sind gekommen, weil sie die Zeichen der Zeit geschaut haben. Was waren das für Zeichen der Zeit? Die Magier mit dem Golde, dem Weihrauch, den Myrrhen, sie waren in dem Sinne, in dem die alte Weisheit dies verstand, Astrologen; sie waren bekannt mit jenen geistigen Vorgängen, die sich im Kosmos abspielen, wenn sich gewisse Zeichen am Himmel zeigen.

Ein solches Zeichen war für sie, daß in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember - in dem Jahre, das wir heute als das der Geburt des Christus Jesus bezeichnen - die Sonne, das große Weltensymbolum des Weltenerlösers, herfunkelte vom Himmeisgewölbe, herfunkelte aus dem Sternbilde der Jungfrau. Sie sagten, wenn die Konstellation am Himmel eintreten werde, daß die Sonne in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember in dem Sternbilde der Jungfrau stehen werde, dann wird mit der Erde eine wichtige Verwandlung vor sich gehen. Dann ist die Zeit gekommen, wo wir das Gold, das heißt das Symbolum unserer Erkenntnis der göttlichen Weltenlenkung, die wir bisher in den Konstellationen der Sterne allein gesucht haben, darbringen wer­den jenem Impuls, der sich einfügt der irdischen Menschheitsentwickelung; wo wir den Weihrauch, den Opfersinn, der zu gleicher Zeit symbolisiert die höchste menschliche Tugend, so hinzuopfern haben, daß wir uns zur Verrichtung dieser höchsten menschlichen Tugend verbinden mit der Kraft, die von dem Christus ausgeht, der inkarniert werden soll in derjenigen menschlichen Persönlichkeit, der wir den Weihrauch als symbolische Gabe darbringen; und als drittes die Myrrhen als das Symbolum desjenigen, was ewig ist im Menschen. Was wir verbunden gefühlt haben durch die Jahrtausende mit den Kräften, die aus den Sternenkonstellationen herunter sprechen, wir suchen es im weiteren, indem wir es als Gabe darbringen Dem, der der Menschheit ein neuer Impuls werden sollte. Wir suchen unsere Unsterblichkeit dadurch, daß wir unsere Seele verbinden dem Impulse des Christus Jesus. Wenn aus der Jungfrau das kosmische Symbolum der Weltenkraft, der Sonnen-Weltenkraft, herunterleuchten wird, dann wird eine neue Erdenzeit beginnen.

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So war es geglaubt, so war es angesehen durch Jahrtausende hin­durch. Und als sich die Magier veranlaßt fühlten, die Weisheit vom Göttlichen, den menschlichen Tugendsinn, die Erfühlung der mensch­lichen Unsterblichkeit - symbolisch ausgedrückt in Gold, Weihrauch und Myrrhen - hinzulegen vor dem göttlichen Kinde, da wiederholten sie als in einem geschichtlichen Ereignisse dasjenige, was in unzähligen Mysterien, in unzähligen Opferhandlungen durch die Jahrtausende eben symbolisch dargestellt worden ist, indem man wie eine prophe­tische Hinweisung auf das Ereignis, das eintreten sollte, wenn die Sonne um die Mitternacht vom 24. auf den 25. Dezember aus der Jungfrau vom Himmel herunterscheint, dem symbolischen Götterlälnde, das in den alten Tempeln als der Repräsentant der Sonne aufbewahrt wurde, in dieser Weihnachtsnacht opferte Gold, Weihrauch, Myrrhen. So spricht auf christliche Weise das «Incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine» seit bald zwei Jahrtausenden, so spricht dasselbe Incarnatus seit Menschengedenken auf der Erde. Die Zeit, in der wir leben, ihr gegenüber stellen wir die Frage: Wissen die Menschen noch so recht, wozu sie eigentlich aufschauen sollen, wenn sie ihr Weih­nachtsfest feiern? Ist in der Gegenwart ein volles Bewußtsein vor­handen davon, daß aus kosmischen Höhen, unter kosmischen Zeichen erschienen ist eine Weltenkraft durch jungfräuliche Geburt, im spiri­tuellen Sinne erfaßt, und daß die Weihnachtslichter in unser Herz gießen sollen ein Bewußtsein davon, daß die menschliche Seele ver­bunden ist, durch ihre innigsten Bande verbunden ist mit dem, was da nicht nur als ein irdisches Ereignis, was als ein kosmisch-irdisches Ereignis erschaut werden kann?

Die Zeiten sind ernst, und es ist wohl auch angemessen, in solchen ernsten Zeiten Fragen wie die eben aufgeworfenen in heiligen Stun­den sich ernst zu beantworten. Und so wollen wir denn einmal zu­nächst eine kleine Umschau halten bei Gedanken von besten Mit­gliedern der Menschheit im abgelaufenen 19. Jahrhundert, um zu sehen, ob die Idee des Christus Jesus so lebte in der neueren Mensch­heit, daß wir finden können: das Weihnachtsmysterium hat seinen Sinn dadurch, daß die Menschheit ein Ewiges feiern will unter dem Schein der Weihnachtslichter.

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Wir wollen uns einige Stimmen bester Persönlichkeiten des 19. Jahr­hunderts vergegenwärtigen. Zunächst seien Worte einer Persönlich­keit angeführt, die sich viel beschäftigt hat mit der Ergründung des Wesens Jesu, die versucht hat, ein Bild von dem Christus Jesus zu geben aus dem Bewußtsein des 19.Jahrhunderts heraus: Ernest Renan. Ernest Renan richtete seinen Blick in echt realistisch-materialistischer Weise mit äußeren physischen Augen auf die Stätten von Palästina. Wieder auferwecken will er aus der unmittelbar materiellen Anschau­ung in seiner eigenen Seele ein Bild derjenigen Persönlichkeit, die durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch genannt worden ist der Weltenerlöser. Wir hören von Ernest Renan aus dem «Leben Jesu»:

«Eine reizende Natur trug dazu bei, jenen, wenn ich sagen dart, monotheistischen Geist zu schaffen, der allen Träumen Galiläas eine idyllische und reizende Prägung gab. Der traurigste Landstrich der Welt mag vielleicht die Umgebung Jerusalems sein. Galiläa dagegen war ein sehr begrüntes, sehr schattiges und sehr lachendes Gefilde, die rechte Heimat des Hohenliedes und der Lieder des Vielgeliebten. In den Monaten März und April ist dieses Gebiet ein Blumenteppich von unvergleichlicher Farbenfrische. Die Tiere sind hier klein, aber sehr zahm. Zierliche, lebhafte Turteltauben, blaue Amseln, so leicht, daß sie sich auf einen Halm setzen, ohne ihn niederzudrücken, Hauben-lerchen, die sich fast vor den Füßen des Wanderers niederlassen, kleine Bachschildkröten mit lebendigen, sanften Augen, Störche mit gravitä­tischen, ernsten Mienen lassen den Menschen ganz nah an sich heran­kommen, ja sie scheinen ihn sogar zu rufen.»

Und Ernest Renan wird nicht müde, so recht zu schildern dieses von der großen Weltgeschichte so vollständig abgelegene Idyll von Galiläa, damit sich in diesem Idyll, in dieser anspruchsloser Land­schaft mit den Turteltäubchen und Störchen, dasjenige habe abspielen können, was die Menschheit durch die Jahrhunderte in Verbindung bringt mit dem Weltenerlöser.

Der Sinn der Erde, dasjenige, wozu die Menschheit durch Jahr­hunderte hat auf blicken wollen, ist für den Denker des 19. Jahr­hunderts nur dann reizend, wenn er es schildern kann als ein Idyll mit Turteltäubchen und Störchen.

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«So ist denn die ganze Geschichte der Entstehung des Christen­tums» - sagt Ernest Renan weiter - «eine köstliche Idylle geworden. Ein Messias beim Hochzeitsgelage, den die Courtisane und der gute Zacchäus zu seinen Festen gerufen, die Stifter des göttlichen Reichs wie ein Zug Brautführer - das ist es, was Galiläa gewagt hat, was es zur Annahme gebracht hat.»

Dies eine der Stimmen. Hören wir daneben aus dem weiteren Chor der Stimmen des 19. Jahrhunderts eine andere Stimme, die Stimme John Stuart Mills, der sich auch zurechtfinden will aus dem Bewußtsein des 19. Jahrhunderts mit derjenigen Wesenheit, in welcher die Mensch­heit durch Jahrhunderte und der prophetische Sinn der Menschheit durch Jahrtausende vorher den Weltenerlöser gesehen hat.

«Was immer sonst» - sagt John Stuart Mill - «die Vernunftkritik am Christentum zerstören mag, Christus bleibt uns: eine einzig dastehende Gestalt, seinen Vorgängern so unähnlich wie allen seinen Nachfolgern, sogar denen, die sich des Vorteils seiner persönlichen Unterweisung erfreuten. Dieser Schätzung tut es keinen Eintrag, wenn man sagt, der Christus der Evangelien sei nicht historisch, und daß wir nicht wissen können, wieviel von dem, was bewunderungs­würdig an ihm ist, von seinen Anhängern hinzugefügt worden sei... [Denn] wer unter seinen Jüngern oder den von diesen Bekehrten ist imstande gewesen, die Jesus zugeschriebenen Reden zu ersinnen oder ein Leben auszudenken und eine Persönlichkeit zu gestalten, wie sie uns aus den Evangelien entgegentritt? Sicherlich nicht die Fischerleute aus Galiläa, und ebensowenig St. Paulus, dessen Charakter und Neigungen von ganz anderer Art waren; am wenigsten jedoch die ersten christlichen Schriftsteller. Was von einem Schüler hinzugefügt und eingeschoben werden konnte, läßt sich aus den mystischen Teilen des Evangeliums Johannes ersehen, welche dem Philo und den alexandrinischen Platonikern entlehnt und dem Heiland in den Mund gelegt werden, und zwar in langen Reden über sich selbst, wovon die anderen Evangelien nicht die leiseste Spur enthalten... Der Orient war voll von solchen Männern, die jede beliebige Menge von solchem Zeug gestohlen haben konnten, wie es die vielerlei Sekten der orienta­lischer Gnostiker später taten. Aber dem Leben und den Reden Jesu

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ist der Stempel des Tiefsinns und eine so persönliche Originalität aufgeprägt, daß sie - wenn wir der müßigen Erwartung entsagen, wissen­schaftliche Genauigkeit da zu finden, wo es auf etwas ganz anderes abgesehen war - den Propheten von Nazareth, selbst in der Schätzung derer, welche an seine Inspiration nicht glauben, in die erste Reihe der erhabensten Männer stellen, deren unser Geschlecht sich rühmen darf. Da dieser außerordentliche Geist außerdem noch mit den Eigen­schaften des wahrscheinlich größten Reformators und Märtyrers aus­gestattet war, der je auf Erden gelebt hat, so kann man nicht sagen, daß die Religion eine schlechte Wahl getroffen habe» - eine Wahl getroffen! Man wählt ja im 19. Jahrhundert! - «daß die Religion eine schlechte Wahl getroffen habe, indem sie diesen Mann als idealen Vertreter und Führer der Menschheit aufstellte; auch jetzt würde es, selbst für einen Ungläubigen, nicht leicht sein, eine bessere Über­tragung der Tugendregeln vom Abstrakten ins Konkrete zu finden, als so zu leben, daß Christus unser Leben guthieße. Berücksichtigt man schließlich noch, daß sogar für den Skeptiker immerhin die Mög­lichkeit bestehen bleibt, daß Christus wirklich das war, wofür er sich selbst ausgab - nicht Gott, denn der zu sein hatte er nie den leisesten Anspruch erhoben; auch würde er in einem solchen Anspruch wahr­scheinlich eine ebenso große Gotteslästerung erblickt haben wie die Männer, die ihn verurteilten -: wohl aber der von Gott ausdrücklich mit der einzigen Mission, die Menschheit zur Wahrheit und zur Tugend zu führen, betraute Mann, so dürfen wir sicherlich schließen, daß die Einflüsse der Religion auf den Charakter, die verbleiben werden, nachdem die Vernunftkritik ihr Äußerstes gegen die Beweise der Religion getan haben wird, der Erhaltung wohl wert sind, und daß, was ihnen im Vergleiche mit denen eines andern, besser be­gründeten Glaubens an direkter Beweiskraft abgeht, durch die größere Wahrheit und Richtigkeit der Sittlichkeit, die sie sanktionieren, mehr als aufgewogen wird.»

Da haben wir das Bild, welches die Philistrosität des 19. Jahr­hunderts, indem sie Geist von ihrem Geiste nahm, dem Wesen aufprägte, das die Menschheit durch Jahrhunderte den Weltenerlöser genannt hat.

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Sehen wir uns noch eine andere Stimme an eines in gewissem Sinne internationalen Geistes, Heinrich Heines:

«Christus ist der Gott, den ich am meisten liebe - nicht weil er so ein legitimer Gott ist, dessen Vater schon Gott war und seit undenk­licher Zeit die Welt beherrschte: sondern weil er, obgleich ein ge­borener Dauphin des Himmels, dennoch, demokratisch gesinnt, keinen höfischen Zeremonialprunk liebt, weil er kein Gott einer Aristokratie von geschorenen Schriftgelehrten und galonierten Lanzenknechten, und weil er ein bescheidener Gott des Volkes ist, ein Bürgergott, un bon dieu citoyen. Wahrlich, wenn Christus noch kein Gott wäre, so würde ich ihn dazu wählen, und viel lieber als einem aufgezwungenen absoluten Gotte würde ich ihm gehorchen, ihm, dem Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl...»

«Nur solange die Religionen mit anderen zu rivalisieren haben und weit mehr verfolgt werden als selbst verfolgen, sind sie herrlich und ehrenwert, nur da gibt's Begeisterung, Aufopferung, Märtyrer und Palmen. Wie schön, wie heilig lieblich, himnllisch süß war das Christentum der ersten Jahrhunderte, als es selbst noch seinem gött­lichen Stifter glich im Heldentum des Leidens. Da war's noch die schöne Legende von einem hlmrlllischen Gotte, der in sanfter Jüng­lingsgestalt unter den Palmen Palästinas wandelte und Menschenliebe predigte und jene Freiheits- und Gleichheitslehre offenbarte, die auch später die Vernunft der größten Denker als wahr erkannt hat, und die, als französisches Evangelium, unsere Zeit begeistert.»

Nun haben wir dieses Heine-Bekenntnis, worinnen derjenige, den die Menschheit durch Jahrhunderte den Weltenerlöser genannt hat, gelobt wird, weil man ihn nach demokratischer Weise jetzt wählen würde, wenn er nicht schon dastehen würde, und weil er dasselbe Evangelium, das dann am Ende des 18. Jahrhunderts gepredigt wor­den ist, auch schon gepredigt hat. Er war also brav genug dazu, schon so groß zu sein wie diejenigen, die dieses Evangelium verstehen können!

Nehmen wir einen andern Geist des 19. Jahrhunderts. Sie wissen, daß ich Eduard von Hartmann sehr schätze. Ich führe nur diejenigen an, die ich schätze, um an ihnen zu zeigen, in welchem Sinne sich die

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Gedanken über den Christus Jesus im 19. Jahrhundert bewegt haben.

«Man sieht» - sagt Eduard von Hartmann, der Philosoph -, «daß ohne den Zauber einer imponierenden und gewinnenden Persönlichkeit Jesus durch seine geistigen Fähigkeiten nicht wohl solche Erfolge hätte erzielen können. Diese Persönlichkeit äußerte sich zunächst in einer ungewöhnlichen oratorischen Begabung. Es muß aber auch seine stille Hoheit und hingebende Weichheit etwas ungemein Fesseln­des für die sich ihm Anschließenden gehabt haben, nicht bloß für Männer, sondern auch für Weiber, deren viele sich ihm anschlossen, Pro stituierte (Luc. 7,37), verheiratete Frauen höherer Stände (Luc. 8,3) und ehrbare Jungfrauen ohne Unterschied. Meist waren es exaltierte Personen, Epileptische, Hysterische und Wahnsinnige, zum Teil viel­leicht solche, die sich von ihm geheilt glaubten. Bekanntlich sind solche Frauen immer am leichtesten geneigt, ihre religiöse Schwärme­rei auf einen anziehenden männlichen Gegenstand zu konzentrieren und zu individualisieren und diesen mit einem Kultus zu umgeben. Es kann nichts näherliegen, als daß diese Frauen es auch gewesen sind, die in Jesus die Idee seiner Messianität wo nicht geweckt, so doch genährt haben und durch ihre vergötternden Huldigungen haben Wurzel schlagen lassen. Nach unseren heutigen psychologischen und psychiatrischen Ansichten kann auf solchem krankhaften Boden eine gesunde Religiosität nicht erwachsen, und wir würden heute einem religiösen Reformator oder Propheten den Rat geben, solche Bestand­teile aus seinem Gefolge nach Möglichkeit auszuscheiden, da sie ihn und seine Sache allzu leicht kompromittieren können.»

Noch eine andere Stimme möchte ich anführen, die Stimme einer der Hauptpersönlichkeiten in einem Romane, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts großen Einfluß gewonnen hat auf die Urteile der sogenannten gebildeten Menschen eines weiten Gebietes. In Paul Heyses «Die Kinder der Welt», findet sich das Tagebuch der Lea. In diesem Tagebuch der Lea ist ein Urteil über den Christus Jesus ent­halten, und derjenige, der die Welt kennt, der weiß, daß das Urteil, das die Lea in den «Kindern der Welt» über den Christus Jesus fällt, dasjenige ist, das unzählige Menschen im Lauf des 19. Jahrhunderts gefällt haben. Paul Heyse läßt Lea schreiben:

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«Ich habe vorgestern zu schreiben aufgehört, weil es mich plötzlich trieb, einmal wieder im Neuen Testament zu lesen. Ich hatte es nicht wieder aufgeschlagen, seit so mancher unbegreifliche, drohende und verdammende Spruch darin mein Herz befremdet und ganz auf sich selbst zurückgewiesen hat. Jetzt, da ich die kindische Furcht verloren, als erschalle darin die Stimme eines unfehlbaren Geistes, eines Allwissenden, seit ich die Geschichte eines der edelsten und wunderbarsten Men­schen darin erblicke, jetzt habe ich viel darin gefunden, was mich sehr erquickt hat. Nur die gedämpfte Stimmung des Ganzen hat mich zuletzt wieder beklommen gemacht. Was haben wir Menschen Be­freienderes, Holderes, Tröstlicheres als die Freude, die Freude an der Schönheit, an der Güte, an der Heiterkeit der Welt! Und während wir diese Schrift lesen» - sie meint also das Neue Testament - «wandeln wir immer im Halbdunkel der Erwartung und Hoffnung, das Ewige ist nie erfüllt, sondern soll erst anbrechen, wenn wir uns durch die Zeit hindurchgerungen haben, nie erglänzt ein voller Schein der Fröhlich­keit, kein Scherz, kein Lachen - die Freude dieser Welt ist eitel - wir werden in eine Zukunft verwiesen, die alle Gegenwart wertlos macht, und die höchste Erdenwonne, uns in einen reinen, tiefen und liebe­vollen Gedanken zu versenken, soll uns auch verdächtig werden, da nur derer das Himmelreich sein soll, die arm an Geist sind. - Ich bin es, aber es macht mich unselig, daß ich es fühle und zugleich fühle, wenn ich diese Beschränkung durchbrechen könnte, würde ich nicht mehr die sein, die ich bin, also meiner Erlösung und Beseligung doch nicht gewahr werden. Denn was über mich hinausgeht, ist doch nicht mehr mein.

Und dann, daß dieser sanfte, gottbewußte Mensch, um der ganzen Menschheit anzugehören, mit so seltsamer Härte sich von den Seinigen abwandte, daß er familienlos wurde - es hat wohl sein müssen -, aber es erkältet meine Empfindung. Alles Große, was ich sonst liebgewonnen habe, war traulich, heiter, mitten in der Majestät durch die Fäden menschlicher Bedürftigkeit mit meinem Wesen verbunden.»

Nun, da haben Sie es, wie das Neue Testament sein müßte, wenn es solch einer Repräsentantin des 19. Jahrhunderts hätte genügen sollen! Denn sie sagt, daß alles Große, was sie sonst liebgewonnen,

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traulich, heiter, mitten in der Majestät durch die Fäden menschlicher Bedürftigkeit mit dem eigenen Wesen verbunden sei. - Weil das Neue Testament nun doch eine Kraft enthält, die man nicht gerade bezeichnen kann so, daß man sie sanft liebzugewinnen hat, daß sie traulich ist, heiter, mitten in der Majestät durch die Fäden mensch­licher Bedürftigkeit mit dem eigenen Wesen verbunden ist, so taugt das Evangelium für einen Menschen des 19. Jahrhunderts nicht mehr so recht.

«Wenn ich Goethe's Briefe lese - Schillers enge Häuslichkeit - von Luther und den Seinigen - von Ältern noch, bis zu Sokrates' böser Frau - immer spüte ich einen Hauch von dem Mutterboden, aus dem die Pflanze ihres Geistes gewachsen ist,» - also selbst von der seligen Xanthippe fühlt sich die gute Lea noch mehr angezogen, als von den Gestalten des Neuen Testaments! - «der auch meinen so viel ge­ringeren nährt und trägt. »

So ist dasjenige, was die Meinung von Tausenden und aber Tausen­den von Menschen des 19. Jahrhunderts ist.

«Aber die Weltlosigkeit ängstigt und entfremdet mich, und zur Entschuldigung dafür habe ich freilich nicht den guten Glauben, daß das alles, als bei einem Gott, ganz in der Ordnung sei.»

Es geziemt sich wohl, in dieser ernsten Stunde zu fragen: Was ist also eigentlich der Gehalt in der Seele, den heute die Menschheit den Weihnachtslichtern entgegenbringt? Denn dieser Gehalt in den Seelen setzt sich zusammen aus solchen Stimmen, wie wir sie jetzt ver­nommen haben und wie wir sie vermehren könnten ins Hundert­fache, ins Tausendfache. Und es geziemt sich nicht, in ernster Stunde leichten Sinnes hinwegzusehen über dasjenige, was in bezug auf das größte Mysterium des Erdenwesens gesagt worden ist. Es geziemt sich vielmehr, heute zu fragen: Was vermochten die offiziellen Ver­treter des Christentums aller Konfessionen zu tun, um hintanzuhalten eine Entwickelung, die also hinweggeführt hat von einem wirklich innerlich wahrhaftigen und ehrlichen Sich-Bekennen zu demjenigen, was hinter den Weihnachtslichtern steht? Denn, kann eine Menschheit ein solches Fest als etwas anderes denn als eine umfassende Lüge feiern, wenn sie die eben vorgebrachten Gedanken in ihren besten

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Repräsentanten an diejenige Wesenheit anknüpft, welche durch das Weihnachtsmysterium geschaut werden soll als der Impuls, der sich aus dem Kosmos heraus mit dem Erdengeschicke verbunden hat?

Was wollten die Magier aus dem Morgenlande, als sie göttliche Weisheit, Tugend und Unsterblichkeit hintrugen zu der Krippe, nach dem Ereignisse, das sie in dem Zeichen des Erscheinens der Sonne aus dem Sternbilde der Jungfrau geschaut hatten in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember, im ersten Jahre unserer Zeitrechnung? Was wollten die Magier aus dem Morgenlande? Sie wollten damit den großen geschichtlichen Beweis liefern, daß sie verstanden haben, daß dasjenige, was an Kräften aus dem Kosmos auf die Erde herunter­strömte bisher, nicht in derselben Weise - durch bloßes Hinauf­blicken zum Kosmos, zu den Konstellationen der Sterne - in der Zukunft für die Menschen erreichbar ist. Sie wollten zeigen, daß not­wendig ist, daß die Menschen nunmehr beginnen, den Blick hinzu­wenden selbst auf dasjenige, was innerhalb des geschichtlichen Wer­dens, des sozialen, des sittlichen Werdens in der Erdenmenschheit selbst geschieht, daß der Christus heruntergestiegen ist aus den Regionen, aus denen die Sonne aus der Jungfrau erscheint, aus denen alle Sternkonstellationen mit ihren Kräften kommen, die den Mikrokosmos als ein Nachbild des Makrokosmos erscheinen lassen. Daß dieser Geist, daß dieses Wesen eingezogen ist in die unmittelbare Erdenentwickelung, daß die Erdenentwickelung selber fortan mit sol­cher innerer Weisheit nur durchschaut werden kann, wie früher die Sternkonstellationen durchschaut worden sind, das wollten die Magier aus dem Morgenlande sagen. Und dessen muß man heute noch immer eingedenk sein.

Der Mensch sieht heute auf die Geschichte so hin, als ob immer nur das Frühere die Ursache des Späteren wäre, als ob, wenn wir die Er­eignisse des Jahres 1914, 1915, 1916, 1917 betrachten wollen, wir einfach zurückgehen müßten auf 1913, 1912, 1911 und so weiter, um das geschichtliche Werden so zu betrachten, wie man auch das natür­liche Werden betrachtet, wo man von der Wirkung aus auf das An­stoßende geht, um in diesem Anstoßenden die Ursache zu finden. Aus dieser Gesinnung heraus hat sich jene Fable convenue gebildet,

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die heute unserer Jugend zu deren Unheil als «Geschichte» eingeimpft wird.

Wahres Christentum und insbesondere ehrliches und aufrichtiges Durchschauen des Weihnachts- und Ostermysteriums ist der schärfste Protest gegen diese ins Naturwissenschaftliche verkarikierte Welt­geschichte. Das Christentum hat die Weltgeheimnisse in Zusammen­hang gebracht mit dem Jahreslauf. Es läßt in der Zeit, die immer erinnern soll an die Urkonstellation vom Jahre 1, vom 24. auf den 25. Dezember, vom Erscheinen der Sonne aus dem Sternbilde der Jungfrau, es läßt diese Zeit jedes Jahr als das Weihnachtsfest feiern. Die christliche Anschauung hat das Weihnachtsfest unter diesem Gesichtspunkt festgesetzt. Sie läßt dann Ostern feiern, indem sie eine gewisse Himmelskonstellation nimmt; wir wissen, der Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang ist der festgesetzte Tag - der heute schon von der materialistischen Gesinnung bestritten wird -, der festgesetzte Tag für die Feier des Osterfestes.

In der Zeit von Weihnachten bis zu Ostern schaut als einen Teil desselben im Jahreslauf derjenige, der in ehrlicher und aufrichtiger Weise seinen Sinn verbinden will mit dem Mysterium von Golgatha, ein Bild des dreiunddreißigjährigen Christus-Lebens. Vor dem Myste­rium von Golgatha, zu dem ich auch das Weihnachtsmysterium rechne, wiesen die Magier auf den Himmel, wenn sie irgendwelche Geheimnisse, auch über die Menschheitsentwickelung, behandeln wollten. Auf die Konstellationen wiesen sie hin. Wie ein Stern sich zum andern stellt, in dem erschauten sie, was hier unten auf der Erde vor sich gebt. In dem Augenblicke aber, als sie geschaut haben, was auf der Erde vor sich ging, aus dem Zeichen des Standes der Sonne in der Jungfrau vom 24. auf den 25. Dezember, da sagten sie: Es muß nun auch die Sternenkonstellation in den menschlichen Handlungen auf der Erde selbst in unmittelbarer Weise geschaut werden.

Ist Sternenkonstellation in den menschlichen Handlungen? Meine lieben Freunde, lesen können, das ist die Anforderung; lesen können dasjenige, was gemeint ist mit der wunderbaren Anleitung zum Lesen, die in den Jahresmysterien des Christentums gegeben ist, welche Jahresmysterien nur wiederum aufgebaut sind auf den sämtlichen

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andern Jahresmysterien aller Völker des Erdenlebens. Dreiunddreißig Jahre sind gemeint für die Zeit von Weihnachten zu Ostern. Das muß verstanden werden, das muß ins Auge gefaßt werden. Dreiunddreißig Jahre, so ist die Meinung, sollen vergehen zwischen Weihnachten und Ostern.

Was folgt daraus? Daraus folgt, daß das Weihnachtsfest, das wir dies Jahr feiern, erst gehört zu dem Osterfeste, das in dreiunddreißig Jahren kommen wird, und daß das Osterfest, das wir in diesem Jahre [1917] feierten, zu dem Weihnachtsfeste gehört vom Jahre 1884. 1884 feierte die Menschheit ein Weihnachtsfest, welches zu dem dies­jährigen Osterfest gehört. Und das Weihnachtsfest, das wir in diesem Jahre feiern, das gehört nicht zu dem Osterfeste des nächsten Jahres, das gehört zu dem Osteffeste, das dreiunddreißig Jahre darauf folgen wird. Eine vollständige Menschheitsgeneration ist die Zeit von drei­unddreißig Jahren, so rechnet man. Eine Menschheitsgenerationszeit muß vergehen zwischen dem zusammengehörigen Weihnachts- und Osterfeste. Dies ist die Anleitung, um die neue Astrologie zu lesen, jene Astrologie, welche auf die Sterne, die in der geschichtlichen Menschheitsentwickelung selber glänzen, das Augenmerk hinlenkt.

Wie kann das erfüllt werden? So kann das erfüllt werden, daß der Mensch das Weihnachtsfest dazu anwendet, um sich bewußt zu wer­den: Dasjenige, was ungefähr - man kann natürlich von diesen Dingen nur sagen ungefähr - in dieser Zeit geschieht, weist im historischen Zusammenhang so zurück, daß es seinen Geburtsausgang genommen hat vor dreiunddreißig Jahren, daß es selber wiederum der Geburtsausgang ist für dasjenige, was sich im Lauf der nächsten dreiunddreißig Jahre abwickelt.

Im einzelnen persönlichen Leben, im individuellen Dasein, waltet unser Karma. Da ist jeder für sich selbst verantwortlich; da muß aber auch jeder dasjenige, was in seinem Karma liegt, hinnehmen. Da muß er erwarten, daß ein unbedingter Zusammenhang besteht im karmi­schen Sinne zwischen dem Vorangehenden und Nachfolgenden.

Wie ist es mit dem geschichtlichen Zusammenhange? Mit dern geschichtlichen Zusammenhange ist es so, daß für unseren gegenwärti­gen Menschheitszyklus wir nicht verstehen können, wir nicht begreifen

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und richtig empfinden können ein Ereignis, das sich heute, 1917, vollzieht, wo sein Osterjahr ist, wenn wir nicht zurückschauen bis in die Zeit, da sein Weihnachtsjahr war, wenn wir nicht zurück­schauen in das Jahr 1884. Für das Jahr 1914 ist also zurückzuschauen in das Jahr 1881. Was die Generation, die vorher an der Geschichte mitgetan hat, für Impulse hineingeworfen hat in den Strom des geschichtlichen Werdens, das hat eine Lebenszeit von dreiunddreißig Jahren; dann ist sein Osteranfang, dann ist seine Auferstehung. Wann wurde der Keim gelegt zu jenen Ostern, die die Menschheit nun durch Jahre, seit dem Jahre 1914 hat? Vor dreiunddreißig Jahren.

Zusammenhänge in Intervallen von dreiunddreißig zu dreiund­dreißig Jahren, das ist dasjenige, was Verständnis bringt in dem fort­laufenden Strom des geschichtlichen Werdens. Und eine Zeit muß kommen, wo der Mensch in der Weihezeit, die ihren Anfang nimmt mit der Weihenacht vom 24. auf den 25. Dezember, sich darauf be­sinnt: Was du - so möge er sich sagen -, was du jetzt tust, das wird fortwirken und erst auferstehen und erst äußere Tat werden, nicht im persönlichen, im geschichtlichen Sinne, nach dreiunddreißig Jahren. Ich verstehe dasjenige, was jetzt geschieht, wenn ich zurückblicke - selbst im äußeren Geschehen verstehe ich dasjenige, was jetzt ge­schieht - auf die Zeit, die sich jetzt nach der Regel der dreiund­dreißig Jahre erfüllen muß.

Als im Beginne der achtziger Jahre der Aufstand des mohammedani­schen Propheten, des Mahdi, auftrat, als er damit endete, daß die englische Herrschaft sich über Ägypten ausdehnte, als in demselben Zeitalter von französischer Seite Hinterindien sogar durch einen Krieg mit China für die europäische Herrschaft erobert werden mußte, als die Kongo-Konferenz gehalten worden ist, als die andern Ereignisse von dieser Art stattfanden - studieren Sie alles, was jetzt, 1917, eine dreiunddreißigjährige Erfüllung hat! -, da wurde die Ursache gelegt zu demjenigen, was jetzt geschieht. Damals hätten die Menschen sich fragen sollen: Welche Aussichten für das Ostern nach dreiunddreißig Jahren verspricht das Weihnachten von diesem Jahre? - Denn alle Dinge im geschichtlichen Werden erstehen nach dreiunddreißig Jahren in verwandelter Gestalt aus dem Grabe, durch eine Gewalt, die zusammenhängt

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mit dem Heillgsten und Erlösendsten, das die Mensch­heit durch das Mysterium von Golgatha bekommen hat.

Aber das Mysterium von Golgatha will nicht nur sentimental beschwätzt werden. Das Mysterium von Golgatha will verstanden wer­den mit den höchsten Weisheitskräften, die dem Menschen zugänglich sind. Das Mysterium von Golgatha will empfunden werden mit dem Tiefsten, was der Mensch in seiner Seele erregen kann, wenn er das, was die Weisheit in ihm entzünden kann, in den Untergründen der Seele selber sucht, wenn er von Liebe nicht bloß redet, sondern diese Liebe entflammt dadurch, daß er seine Seele verbindet mit dem, was als Weltenseele wallt und strömt durch der Zeiten Wende, wenn er sich aneignet Sinn und Verständnis für die Geheimnisse des Werdens. Denn so, wie einstmals zu den alten Magiern sprach der Sternen­himmel, wie sie ihn fragten, wenn sie irgend etwas vollbringen wollten im sozialen Menschenwerden, so hat derjenige, der in der heutigen Zeit irgend etwas im sozialen Menschenwerden vollbringen will, hinzuschauen auf die Sterne, die auf- und untergehen im geschichtlichen Werden. Und wie berechnet worden ist die Umlaufszeit der Sterne um die Sonne, so ist berechnet in der wahren geschichtlichen Men­schenweisheit die Umlaufszeit der geschichtlichen Ereignisse. Und diese Umlaufszeit ist von einem Weihnachten zu einem Ostern, das dreiunddreißig Jahre nachher liegt. So regeln die Geister der Um­laufszeiten dasjenige, in dem die Menschenseele lebt und webt, indem sie nicht bloß eine persönliche Wesenheit ist, indem sie eine in das geschichtliche Werden hineinverwobene Wesenheit ist.

Wenn wir in dieser Zeit uns versenken in das Weihnachtsmysterium, tun wir es dann am besten, wenn wir uns bekanntmachen mit den Geheimnissen, die enthüllt werden sollen gerade in unserer Zeit, um die bereichert werden soll der Strom der christlichen Überliefe­rung, wie sie sich anschließt an das Mysterium von Golgatha und an dasjenige, was durch das Weihnachtsmysterium ausgedrückt wird. Der Christus sprach zu der Menschheit: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten.» Diejenigen, die sich heute seine Jünger nennen, die sprechen aber oftmals davon, daß die Offen­barungen aus der geistigen Welt wohl da waren zur Zeit des Christus

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Jesus selber, daß sie aber aufgehört haben, und daß heute derjenige etwas Ruchloses vollbringt, der behauptet, daß jetzt noch immer in wunderbarer Weise aus der geistigen Welt heraus die spirituellen Offenbarungen geschehen können. So ist in vieler Beziehung das­jenige, was sich heute offizielles Christentum nennt, eine Bestrebung geworden zur Verhinderung der christlichen Entwickelung.

Dasjenige aber, was geblieben ist, die heiligen Symbole - und eines der heiligsten ist dasjenige, das aus dem Weihnachtsmysterium spricht -, sie sind selber ein lebendiger Protest gegen die Unter­drückung des wahren Christentums, wie sie oftmals durch das offi­zielle Christentum verkündet wird.

Zeugnis geben will anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft - unter manchem andern, was sie will - von der Bedeutung des Myste­riums von Golgatha, von der Bedeutung des Weihnachtsmysteriums. Und es gehört zu ihrer Aufgabe, Zeugnis von dem zu geben, was der Erde Sinn, und Bedeutung gibt dem Menschenleben. Und wenn der Weihnachtsbaum in der neueren Zeit - er ist ja kaum mehr als einige Jahrhunderte alt - zum Symbolum der Weihnachtsfeier geworden ist, so möge derjenige, der heute unter dem Weihnachtsbaum steht, sich fragen: Ist es noch eine Wahrheit für dich, was über dem Weihnachtsbaum geschrieben steht? Geschrieben steht durch das Zeugnis der Geschichte: «Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine.» Ist es noch eine Wahrheit für dich? - Daß es Wahrheit ist, das zu erkennen, dazu braucht man spirituelle Erkenntnis. Und keine Natur­forschung kann Antwort geben auf die Fragen nach der jungfräu­lichen Geburt und nach der Auferstehung, sondern jede Natur­forschung muß ablehnen die jungfräuliche Geburt und die Auf­erstehung. Verstanden werden können sie nur aus einem Gebiete heraus, in dem da nicht waltet Geburt in der Art, wie sie in der Sinneswelt waltet, und nicht der Tod waltet, wie er in der Sinneswelt waltet. Wie der Christus Jesus so durch den Tod gegangen ist, daß dieser Tod eine Maja ist und die Auferstehung die Wahrheit - was das Ostermysterium enthält -, so ist auch der Christus Jesus durch die Geburt gegangen, so daß diese Geburt eine Maja ist, und die Wahrheit eine Verwandlung des Wesens innerhalb der geistigen Welt ist. Denn

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in der geistigen Welt gibt es nicht Geburt und Tod, sondern nur Ver­wandlung, wie wir wissen, nur Metamorphose.

Nur wenn die Menschheit geneigt sein wird, aufzublicken zu der­jenigen Welt, wo Geburt und Tod im sinnenfälligen Sinne ihren Sinn verlieren, werden Weihnachtsfest und Osterfest ihren würdigen Inhalt bekommen. Dann, aber auch nur dann wird sich auch unser Herz, wird sich unsere Seele erfüllen mit jener Wärme des Tones, mit der ausgerüstet wir wiederum hintreten können vor diejenigen, vor die wir hintreten sollen, um ihnen schon in der allerfrühesten Kindheit zu sprechen von dem Kinde, das in der Krippe gelegen hat, und von den Magiern des Morgenlandes, und wie von ihnen jenem Kinde Weis­heit, Tugend und Unsterblichkeit dargebracht worden sind. Den Kindern gegenüber müssen wir davon reden können. Denn, was wir zu dem Kinde von dem Weihnachtsmysterium heute sagen, das wird in dem Kinde das Osterfest feiern, auferstehen, nachdem das Kind dreiunddreißig weitere Jahre durchgemacht hat.

Im geschichtlichen Werden ist die Menschheit so mit Verantwort­lichkeit durchtränkt, daß die vorhergehende Generation in den Weih­nachtsimpuls nur legen kann, was die nachfolgende Generation als Osterimpuls zu empfangen hat. Werde man sich bewußt, daß eine Generation zu der nachfolgenden so hinzuschauen hat, daß sie zu gedenken hat: Im Weihnachtssterne lehre ich dich pflanzen in deiner Seele als Geburt dasjenige, was auferstehen wird im Ostersterne nach dreiunddreißig Jahren. Weiß ich diesen Zusammenhang zwischen dieser und der folgenden Generation, dann habe ich gewonnen - so kann sich jeder sagen - einen Impuls in aller Arbeit, der hinausreicht über den Tag. Denn die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern dauert nicht nur die Wochen, die verlaufen zwischen Weihnachten und Ostern; sie dauert in Wahrheit dreiunddreißig Jahre, so lange als umläuft ein Impuls, den ich in die Seele eines Kindes versenkt habe als einen Weihnachtsimpuls, der nach dreiunddreißig Jahren auf­erstehen wird als ein Osterimpuls.

Solche Dinge sind nicht allein für theoretisches, eitles Wissen. Solche Dinge gewinnen einen Wert allein, wenn sie praktische Tat werden, wenn unsere Seele sich erfüllt mit der Überzeugung von ihnen

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also, daß sie gar nicht anders kann, als in ihrem Lichte handeln. Dann aber ist die Seele voll von Liebe zu denjenigen Wesen, an denen die Taten in diesem Lichte getan werden sollen. Dann ist die Liebe eine konkrete, dann ist die Liebe eine solche, welche mit der Weltenwärme verbunden ist, und hat nichts von jener sentimentalen Liebe, die heute auf allen Lippen ist und die zum größten Hassesimpuls in der Menschheit in unserem katastrophalen Zeitalter geführt hat.

Diejenigen, die lange Zeit die Liebe im Munde führten, die haben kein Recht, weiter zu sprechen von dieser Liebe, die sich in Haß um­gedreht hat; sie haben vielmehr die Pflicht, sich zu fragen: Was haben wir mit unserem Liebesgerede, mit unserem Weihnachts­-Liebesgerede unterlassen, daß also eine Saat des Hasses daraus werden konnte? - Zu fragen aber hat die Menschheit: Was haben wir zu suchen in den geistigen Welten, damit wir wieder finden können das­jenige, was verloren ist: die Liebe, welche durch alle Wesen wärmend wallt und lebt, aber Liebe nur ist, wenn sie herausquillt aus dem lebendigen Verständnis des Seins. Denn lieben ein Wesen heißt, dieses Wesen verstehen. Lieben heißt nicht, sein Herz mit egoistischer Wärme so zu erfüllen, daß der Mund in sentimentalen Reden über­sprudelt; lieben heißt, die Wesen, an denen man Taten tun soll, so in sein Auge fassen zu können, daß man sie bis ins Innerste hinein versteht, versteht nicht nur mit dem Intellekt, versteht mit dem ganzen Wesen seines menschlichen Seins.

Daß solche Liebe, die aus spirituel-innigstem Verständnis quellen kann, in der Menschheit Platz greife, daß nach solcher Liebe Sehn­sucht ist, daß es Wille werde, solche Liebe zu pflegen, das möge sich jetzt in dieser ernsten Zeit der Mensch sagen, der nachfolgen will den Magiern aus dem Morgenlande zur Krippe von Bethlehem hin. Er möge sich sagen: So wie die Magier aus dem Morgenlande Ver­ständnis suchten, um zu finden den Weg, den Weg der Liebe zu der Krippe von Bethlehem hin, so will ich suchen den Weg, der mir den Einblick eröffnet in jenes Licht, unter dem die wahren Taten der Menschenliebe getan werden.

Wie die Magier aus dem Morgenlande die äußeren Sternenkonstellationen als nicht mehr maßgeblich hielten, sondern hintrugen das

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Wissen von diesen Sternenkonstellationen, den Opfersinn für diese Sternenkonstellationen, die Verbindung der Unsterblichkeit mit diesen Sternenkonstellationen vor das Christus-Kind der Weihnachtsnacht, so trage die neuere Menschheit dasjenige, was sie an tiefsten Impulsen in ihrer Seele aufbringen kann, hin vor dasjenige, wofür das Weih­nachtsfest der symbolische Jahresausdruck ist! In solchem Bewußtsein werden wiederum würdige Weihnachtsfeste, ehrliche, aufrichtige Weihnachtsfeste von der Menschheit gefeiert werden. Denn in dem Feiern wird liegen nicht eine Ableugnung, sondern ein Wissen von dem Wesen, dem wir die Weihnachtslichter anzünden.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 24. Dezember 1917

In bedeutungsvoller Weise stellt der christliche Kalender das Fest von Adam und Eva auf den 24. Dezember, das Fest der Geburt des Christus Jesus in die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember. Unmittelbar zusammengerückt werden dadurch nach christlicher Anschauung der Weltenanfang, das heißt der Anfang unseres unmittelbaren Erd­geschehens, und das größte Ereignis des Erdgeschehens, jenes, wel­ches der Erdenentwickelung Sinn gibt; unmittelbar aneinandergerückt aus dem Grunde, weil dadurch angedeutet werden soll, wie die Art und Weise des Verhaltens des Menschen zum geistigen Weltenall durch den Eintritt des Mysteriums von Golgatha einen so bedeutungsvollen Umschwung erfahren hat, daß alles das, was ihm vorangegangen ist, zwar wichtig ist zur Erkenntnis dieses Myste­riums selber, aber für das unmittelbare christliche Bewußtsein mit Bezug auf die Aufnahme der Willensimpulse zunächst außer Betracht bleiben kann.

Der größte Umschwung in der Enrwickelung des Erdendaseins -uns ist es ja bewußt - ist eingetreten durch das Mysterium von Golgatha. Es steht so vor der Seele desjenigen, der es versteht, daß durch sein Verständnis der Sinn der Erdenentwickelung erschlossen ist. Man kann sagen: Wenn man hinblickt auf die Art und Weise, wie sich zur Weltenweisheit als einem Impuls für den Menschen selbst in der Zeit, bevor der Christus in die Menschheitsentwickelung auf Erden eingetreten ist, die Alten verhielten, und dieses Verhalten der vorchristlichen Zeit vergleicht mit der Art und Weise, wie das christ­liche Bewußtsein sich zur Weltenweisheit als einem Impuls des menschlichen Handelns verhält, so bekommt man, wenn man dann in der Lage ist auszugestalten den entsprechenden Gedanken, einen tief eindrucksvollen Sinn.

Man braucht sich nur an eine Gestalt zu erinnern - an welche zu erinnern man gerade Veranlassung hat, wenn das Fest eintritt, das gewissermaßen unter der Devise steht: «Et incarnatus est de spiritu

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sancto ex Maria virgine» -, an das aus dem Altertum heraufragende Bild der jungfräulichen Pallas Athene, der Göttin der Weisheit im alten Griechenland, welche die Tochter des Zeus selber ist, und der Göttin, die man angesehen hat als die Göttin der Klugheit. Zeus, der Herr des Blitzlichtes, des erhellenden Lichtes, des im Erdendasein arbeitenden Lichtes, zeugt mit der Klugheit die jungfräuliche Pallas Athene, die Bewahrerin der menschlichen Weisheit vor dem Myste­rium von Golgatha.

Ein tiefer Sinn liegt in der Ausdichtung dieser Gestalt der jung­fräulichen Pallas Athene. Sie ist als Weisheitsgöttin selber jungfräulich. Was heißt dieses eigentlich im höheren Sinne? Was meinten die griechischen Mysterienführer, wenn sie von der jungfräulichen Pallas Athene sprachen? Sie meinten die Weisheit, durch welche der Mensch wirkt im geschichtlichen Weltenzusammenhange. Diese Weisheit ist in dem vierten Zeitraum, in den die griechische Kulturentwickelung eben eingetreten ist, herausgeboren aus dem, was nicht Welt selbst ist, sondern Spiegelbild der Welt. Fassen wir das wohl auf: Spiegelbild der Welt, Maja. In den vorhergehenden Zeiträumen war die Weisheit von den Mysterienpriestern nicht als eine jungfräuliche Macht hingestellt worden, weil sie als Menschenweisheit im ersten, zweiten, dritten nachatlantischen Zeitraum immer befruchtet war von der alten atavistischen Hellseherkraft. Erst im vierten nachatlantischen Zeit­raum ist die Möglichkeit eingetreten, auch etwas zu wissen aus dem bloßen Hinschauen auf das, was nicht getrieben wird von jenen Kräften, die dem atavistischen Hellsehen zugrunde liegen, von den Affekten, von den Leidenschaften, von alldem, was als Feuer in der menschlichen Wesenheit glimmt, sondern von dem jungfräulichen, von atavistischem Hellsehen unbefruchteten Spiegelbilde der Welt. Von der Maja stammt diejenige Weisheit, die gemeint ist, wenn ihre Repräsentantin hingestellt ist: die Pallas Athene.

Auch die Pallas Athene ist eine Maja, eine Maria; aber die Pallas Athene ist jene Maja, welche aus sich selbst heraus die Weisheit dem Menschen offenbar werden läßt. Der große Fortschritt besteht dar­innen, daß diese selbe Maja, diese selbe Maria befruchtet wird von dem Kosmos, und geboren wird nun eine neue Weisheit. Die Pallas

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Athene war die Repräsentantin der Weisheit. Der Christus-Impuls ist der Sohn der Maja, der Maria, der jungfräulichen Weisheitsreprä­sentantin und der kosmisch-göttlichen, der kosmisch-intelligenten Weltenmacht. Daher war die alte Weisheit, wie sie repräsentiert ist durch Pallas Athene, wohl geeignet, die Welt des Mineralischen bis herauf zum Pflanzlichen zu zergliedern, zu begreifen, aber noch nicht geeignet, den Menschen selber zu erfassen, den Menschen selber in seiner Persönlichkeit zu begreifen.

Wollte man den Menschen in seiner Persönlichkeit begreifen in der damaligen Zeit, so konnte man das in den Mysterien auch, aber man mußte dann in den Mysterien zum atavistischen Hellsehen gelangen. In dem, was mit Pallas Athene, mit der jungfräulichen Repräsentantin der Weisheit gemeint ist, wird ein Anfang bezeichnet, der als solcher geeignet war, den Umkreis der irdischen Welt zu begreifen. Aber erst durch den Eintritt des Mysteriums von Golgatha, erst dadurch, daß sich die göttliche intelligente Liebekraft verbunden hat mit der Kraft der Maja, mit dem Spiegelbild der Welt, ist hingestellt vor die menschliche Entwickelung der Menschengott, der Gott, der nun nicht mehr bloß erreichbar ist, wenn überschritten wird der physische Plan, sondern der Gott, der in seiner Wesenheit auf dem physischen Plane selbst zu finden ist. Derjenige Fortschritt in der Menschheits-entwickelung, der durch das Weihnachtsmysterium gemeint ist, stellt sich vor die menschliche Seele hin, wenn man die richtige Legende von der Pallas Athene zusammenstellt mit alldem, was in wahrer Gestalt erfaßt werden kann über die Natur der jungfräulichen Maja, aus der der Christus-Impuls für die Erdenentwickelung hervorgeht.

Im Zusammenhange mit solchen Einblicken in das Menschen-geschehen, mit solchen Anforderungen an die menschlichen Willens-impulse, wie wir sie auseinandergesetzt haben, um das Weihnachts-mysterium zu erfassen, geziemt es unserer so ernsten Zeit - dieser Zeit, der dies so dringend notwendig wäre - Gesichtspunkte zu ge­winnen, welche im Sinne des dreiunddreißigjährigenUmkreises liegen, von dem gestern gesprochen worden ist. Wie die Alten versuchten, die Sterne zu enträtseln und aus ihren Konstellationen bestimmten, was sie hier auf der Erde tun wollten, so sollte der Mensch sich bewußt

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werden, daß er eintreten muß nunmehr in ein Zeitalter, welches nur Not und Elend und Unglück unter die Erdenmenschheit bringen muß, wenn sie sich nicht entschließt, die Konstellationen der Zeitensterne zu lesen im Werdegang der Menschheit. Mit dem, worauf das materialistische Zeitalter so stolz ist, wird sich in Hinkunft nichts anderes im Erdendasein erreichen lassen als dasjenige, was schon erreicht ist in dieser katastrophalen Zeit. Den Mut muß die Mensch­heit gewinnen, solches Gelöbnis der eigenen Seele als heiliges Weih­nachtsgelöbnis zu tun: den Blick zu wenden nach den in unserer Zeit sich hereindrängenden spirituellen Wahrheiten. Den Mut muß unsere Zeit finden, unbehelligt durch Schwachmütigkeit hineinzuschauen in das, was ist. Neuen Wahrheitssinn muß sich unsere Menschheit an­eignen, wenn sie wieder folgen will den Spuren Desjenigen, den sie feiern will durch das Weihnachtsfest in seiner Geburt, der aber nicht verstanden wird, wenn seine Worte nicht tief genug gefaßt werden: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.»

Dazu gehört, daß man in solch ernster Zeit nicht bloß das Ver­langen danach trägt, wohltuende Reden zu führen über das Friedens-fest, wie es ganz gewiß in diesen Zeiten von vielen Kanzeln aus getan wird; dazu gehört, daß man in ernster Zeit wenigstens den Gedanken zu fassen vermag, wie wenig schöpferisch unsere Zeit eigentlich ist. Denn dem Großen, was in sie herein will, kann nur gedient sein, wenn die Menschen in der eigenen Seele Schöpferkraft entwickeln. Das überlege man sich einmal: Gewiß, hereingedrungen in die Menschheitsentwickelung ist das Mysterium von Golgatha im Beginne unserer Zeitrechnung; aber hätte es nicht spurlos vorübergehen kön­nen, wenn nicht die Menschen jener Zeit in der eigenen Seele Schöpfer­kraft gehabt hätten, um es aufzufassen, um es in Begriffe, in Vor­stellungen zu bringen, um davon überhaupt zu reden? Äußerlich be­trachtet ist in einer unbekannten Provinz des Römischen Reiches eine Persönlichkeit geboren worden, von der die Evangelien sprechen. Schöpferkraft haben die Menschen jener Zeit gehabt, um aufzufassen, was in dieser Persönlichkeit lebte. Das ist es, was dazugehört, wenn die größten göttlichen Kräfte sich mit dem Menschheitsgeschehen vereinigen, daß die Menschen den Willen zur Schöpferkraft in sich

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aufbringen können. Deshalb sollte gestern die Frage aufgeworfen werden: In welcher Weise war dieses 19. Jahrhundert, dieses hoch­mütige 19., 20. Jahrhundert befähigt, Schöpferkraft zu entwickeln, um dasjenige, was nun schon durch Jahrhunderte von der Menschheit als der Inhalt der Erlösungsidee anerkannt worden ist, zu verstehen?

Fügen wir - wir könnten Hunderte und Tausende von Beispielen anführen - noch einige Stimmen aus diesem 19. Jahrhundert dazu, wie es versucht hat, von dem Christus Jesus zu reden. Ich sagte, die besten, die tiefdenkendsten Leute wollte ich anführen, um zu zeigen, was in deren Seelen gesessen hat. Es kommt mir nicht so sehr darauf an, die Frage zu beantworten: Welchen Einfluß haben solche Leute wie die­jenigen, deren Stimmen über den Christus Jesus ich Ihnen angeführt habe? - sondern es kommt mir darauf an, zu zeigen, wie die Zeit wirkt auf die Besten. Denn das sind die Ideen, von denen die Gemüter ge­rade der Ehrlichsten beherrscht sind. Die andern reden zwar von dem Christus Jesus, aber ohne auch nur in ihrer Empfindung an den Wahr­heitsimpuls wirklich heranzukommen. Fügen wir noch einiges hinzu.

In der Zeit, als man anfing im 19. Jahrhundert freigeistige Ideen zu entwickeln, da war einer derjenigen, die bis zum krankhaften Tiefsinn versuchten, diese neuen Ideen im Gemüt aufzunehmen, Karl Gutzkow. In seiner Schrift «Wally, die Zweiflerin» hat er aufgenommen so un­gefähr die Ideen, die ihm gekommen sind über den Christus Jesus:

«Jesus war Jude. Er dachte nicht daran, eine neue Religion zu stiften. Es war bei ihm weder von einer Aufhebung, noch von einer Erweiterung des Judentums die Rede. Da war auch nicht eine einzige neue Lehre, welche Jesus brachte. Was bleibt demnach im Munde Jesu übrig? Eine Moral, welche allerdings veredelnde Kraft hat, aber nie mehr gibt und geben will, als: das lautere Judentum. Die Moral Jesu hält sich immer dicht bei den Gebräuchen des Zeremonial­gesetzes und ist nur darin charakteristisch, daß sie für den äußeren Ritus innerlich entsprechende Gesinnung forderte. Jesus lehrte: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! So lehrte schon Moses; aber der Stifter einer neuen Religion mußte sagen: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst.» So korrigiert Karl Gutzkow den Christus Jesus! «Daraus schließt man, daß Jesus eine Erscheinung war. die einzig und

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allein der Geschichte, keineswegs aber der Religion oder Philosophie angehörte.»

Eine noch charakteristischere Stimme, weil eine Stimme, welche hervorgegangen ist aus der Seelenwissenschaft unserer Zeit, ist die folgende. Es ist eine Zusammenfassung des Inhaltes der Schrift «Jesus. Eine vergleichende psychopathologische Studie» von Emil Rasmussen, eine dänische Schrift. Der Inhalt kann in der folgenden Weise zusammengefaßt werden:

Weder die Apostel noch die drei synoptischen Evangelien sahen Jesus für Gott an. Er selbst hielt sich für den (Daniel VII, 13) an­gekündigten «Menschensohn» und meinte, ohne sich je für den Messias auszugeben, einen Teil der ihm besonders wichtigen Weis­sagungen zu erfüllen. Der Nazarener gehört in die Kategorie der Propheten. Die religiösen Heroen oder Verkünder, alias Propheten, sind Abirrungen vom normalen Typus der Rasse. Denn ihre inneren Erlebnisse oder Erfahrungen können sich dem Grade und der Art nach nur mit den Paroxismen des Epileptikers oder Hystero-Epilep­tikers vergleichen. Die «Männer Gottes» bieten ein Krankheitsbild, das der Psychiater genau als epileptische Geisteskrankheit zu diagno­stizieren vermag; die Stigmata sind: Halluzinationen oder Augentäuschungen, Tobsuchtsanfälle, krampfartige Lustigkeit, Abwesen­heit des Geistes (Absence), Stupor, Dämmerzustand oder traumhaftes Unterbewußtsein, Redestörungen, Delirien, Schwermut, plötzliche Stimmungsumschläge, übertriebene Religiosität, die Vorstellung, für andere zu leiden und die Welt reformieren zu müssen, Größenwahn, Zwangsvorstellungen, der Wahn romanhafter Stammtafeln, vagabun­denhafte Unstetigkeit, abnormes Geschiechtsleben, sei es nach der Seite der Ausschweifung oder der Askese. An einer Reihe hervor­ragender religiöser Sehergestalten alter und moderner Zeit, wie Hese­kiel, Paulus, Muhamed, Sören Kierkegaard und so weiter läßt sich die Probe aufs Exempel machen, wobei wieder gemeinsame Eigentüm­lichkeiten festzustellen sind, wie die schrecklichen Drohungen und Verwünschungen, die mannigfachen Formen und Verschieierungen des Grausamkeitsgefühis, die Wutparoxysmen, das eingebildete Lei­den für die Menschheit, Askese, Auferstehungsgedanke und anderes.

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Alle diese bei den alten und modernen Propheten beobachteten Symptome zeigt auch Jesus: Er hat eine Angsterfahrung ohne­gleichen, verfällt bei der Tempelaustreibung in Tobsucht, leidet an Halluzinationen, offenbart in seinem widerspruchsvollen Charakter unmäßiges Selbstgefühl und anormales Leben der Sinne, huldigt dem Wahn, für die Menschheit zu leiden und sie entsühnen zu können und liefert durch seine Gewaltsamkeit, Unstetigkeit und die zunehmende Verengung seines Geistes, der keine neuen Vorstellungen mehr auf­nimmt und bearbeitet, neue Bestätigung seiner Wahlverwandtschaft mit dem Prophetentypus, der sich zu allen Zeiten und unter allen Himmelsstrichen gleichgeblieben ist. Seine Ethik, die darauf ausgeht, die Familie zu hassen, von Almosen und im alleinseligmachenden Glauben zu leben, ist von der Menschheit nicht akzeptiert worden. - Wenn man unter Genie einen Neuschöpfer versteht, so muß man Jesus gegenüber auch diese Position aufgeben, da er, wie die wissen­schaftliche Forschung festgestellt hat, in dem Inhalt wie in der Form seiner Lehre nur ein Nachahmer ist. Seine Verheißung, die ihm den Weltsieg eingetragen hat, nämlich seine Wiederkunft, hat vollständig versagt. Jesus ist ein tiefer Trauer würdiger Mensch gewesen, der in seinem tragischen, großartigen Schicksal unser inniges Mitleid ver­dient.

Solche Stimmen könnte man verhundertfachen, vertausendfachen, und daß man sie in dieser Weise vorbringen kann, das ist noch nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist etwas ganz anderes, nämlich dieses, daß Menschen, die so sprechen, wirklich und richtig im Sinne der gegenwärtigen Wissenschaft sprechen, und daß man von dem Gesichtspunkt der gegenwärtigen Wissenschaft aus nicht anders sprechen kann, wenn man ehrlich und aufrichtig ist; und daß man sich die Frage zu stellen hat: Hat man Mut und Willen zum Wollen genug, um dieser Wissenschaft ihren Spiegel vorzuhalten, der nur von der Geisteswissenschaft vorgehalten werden kann? - Jene feigen Kompromisse, welche immer wieder und wiederum tagtäglich hun­dertfach geschlossen werden zwischen der materialistischen Wissen­schaft und zwischen den religiösen Traditionen, die sind das Un­ehrliche, die sind die Versündigung gegen dasjenige, was die Menschen

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vorgeben, zu feiern im Weihnachtsmysterium und im Oster­mysterium. Das ist das, um was es sich handelt.

Es gibt in der Gegenwart ein Entweder-Oder: Entweder Be­kenntnis zum spirituellen Leben, oder Fortgang desjenigen Lebens, das zu den Ereignissen von 1914/17 und so weiter geführt hat. Was da zugrunde liegt, das muß jeder als seine Christus-Erkenntnis in seinem Herzen selber aufgehen lassen, aufgehen lassen auch den Willen zum Wollen, den Impuls zum Mut, nicht in Teilkompromissen irgendein Heil zu suchen, sondern geradenwegs den Weg zu gehen, der ge­gangen werden muß: den Weg, der durch die Erkenntnis des spiri­tuellen Lebens der Menschheit gewiesen werden muß. Konkrete Impulse anzuknüpfen an so etwas wie das Weihnachtsmysterium, das muß mit diesem Willen verbunden sein.

Was gesagt worden ist von der dreiunddreißigjährigen Umlaufszeit der Ereignisse - so, wie die Erkenntnis, daß unter gewissen Verhältnissen sich Sauerstoff und Wasserstoff verbinden und man nicht anders das Wasser erkennen kann als durch Elektrolyse, die da chemisch untersucht das Verhalten des Sauerstoffs und Wasserstoffs, so sollte sich das Bewußtsein einfinden, daß man soziale Gesetze nur finden kann, wenn man solche Konstellationen im Zeitenlauf zu durch­schauen vermag. In den Tag hinein zu denken, dasjenige nur zu sehen, was unmittelbar um uns herum liegt, das ist das, was als das Heilsame die Menschheit in den letzten vier Jahrhunderten allmählich zu betrachten gelernt hat. Aber solcherart das Werden zu erkennen, daß man sich sagt: Was jetzt geschieht, wird auferstehen nach dreiunddreißig Jahren, es obliegt mir das Jetzige unter der Verantwortung, die aus dieser Idee quillt, zu tun, - das ist das, was verlangt werden muß fernerhin von denjenigen, die in das Leben eingreifen wollen von irgendeinem Gesichtspunkte des Lebens aus.

Die alten Phrasen vom Weihnachtsfeste nachzuschwätzen, sollte unsere Zeit sich vollständig abgewöhnen. Die Römer haben den Mut gefunden, da sie dem Kriege einen Gott gesetzt haben - den Janus -, den Janustempel nur dann zu schließen, wenn Friede ist. Er wurde in der Zeit von Numa Pompilius, unter dessen Regentschaft er ganz geschlossen war, durch die ganzen 724 Jahre bis zum Kaiser Augustus

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nur zweimal geschlossen. Aber die Römer haben den Mut gehabt, zu unterscheiden bei ihrem Dienste für einen der obersten der Götter zwischen Krieg und Frieden. Man frage sich, ob die heutige Zeit den­selben Mut aufbringen würde, vielleicht zu schließen die Friedensstätten, die Stätten, die dem Frieden dienen sollten da, wo die ganze Welt von Krieg entbrannt ist? Man würde erst dann von Mut sprechen können, wenn so viel Schöpferkraft in der Gegenwart wäre, daß man einen rechten Unterschied bemerken könnte an den Stätten, wo von Frieden geredet wird, wenn dies in solchen Zeiten geschieht, wie es die gegenwartigen sind.

Es ist schon sehr lehrreich, zurückzublicken im Sinne des dreiund­dreißigjährigen Umlaufes: 1914 begannen die katastrophalen Ereig­nisse, in deren Zeichen wir heute stehen. Ich habe schon einige Ereig­nisse angeführt, die verbunden sind mit den drei- bis vierjährigen katastrophalen Ereignissen nach dem dreiunddreißigjährigen Zyklus. Man könnte noch vieles anführen. Man braucht nur daran zu denken, daß dreiunddreißig Jahre vot 1914, das ist also 1881, die Regierung in Petersburg antrat Alexander III., jener Zar, unter dem die Ver­folgungen begonnen haben in den Ostseeprovinzen, jener Zar, der die Inkarnation von so viel europäischem Unglück ist. Man könnte auch auf mehr innere Ereignisse hinblicken, ich meine jetzt nicht seelisch «innere». Wenn Sie die Rolle studieren, welche just Gambetta 1881 gespielt hat während seiner zweimonatigen Präsidentschaft in der da­maligen Zeit, so werden Sie darinnen geradezu die Signatur finden für dasjenige, was sich vorbereitet in dem Augenblicke, in dem diese katastrophalen Ereignisse hereinbrachen und was jetzt, wie ich schon einmal hier sagte, seinen symptomatischen Ausdruck findet in der Stimmung zwischen Nord- und Südrußland, in der Entfesselung der russisch-ukrainischen Feindschaft, ein Symptom, das viel bedeutungs­voller leuchtet, wenn man die Ereignisse nimmt, die sich vorbereiten, als alles dasjenige, was die Menschen heute so gern in ihrer Bequem­lichkeit als wichtige Ereignisse hinnehmen möchten.

Vieles könnte in dieser Weise angeführt werden. Die Frage kann aufgeworfen werden: Wie soll es der Mensch machen, wenn er an wichtigen Stellen steht, um zu solchen Entschlüssen zu kommen, die

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nach dreiunddreißig Jahren aufgehen können? Er soll nur einmal probieren, unter dem Einflusse einer solchen Idee die Ereignisse, die dreiunddreißig Jahre zurückliegen, zu verstehen, und aus dem wirk­lichen Verständnis wird ihm entspringen das, was er in der Gegenwart zu tun hat: dann wird es in würdiger Weise in dreiunddreißig Jahren aufgehen können, auferstehen können. Daß solches vergeblich sei, das dürfte erst dann behauptet werden, wenn es geschehen wäre. Aber wo ist es geschehen? Wo wird heute draußen im exoterischen Leben die Weltenentwickelung nach ihrer inneren Gesetzmäßigkeit betrachtet? Offizielle Vertreter desjenigen, was sich heute oftmals Christentum nennt, die lieben insbesondere immer und immer wieder gegen anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft einzuwenden, daß ja zu Christi Zeiten Offenbarungen aus der geistigen Welt möglich waren, aber daß «die verhängnisvolle Gnosis» nicht wiederum auftauchen darf. Mit Nachsicht darf auf solche Dinge nicht gedeutet werden. Daß diese Leute das Beste meinen, das ist etwas, was nur leider allzuoft auch in unseren Kreisen immer wieder und wieder als ein verhängnis­volles Wort auftritt. Gerade die Wahrheit ins Auge zu fassen, das ist es, um was es sich in Wirklichkeit handeln sollte. Und vor allen Dingen sollen wir den Willen und den Mut dazu haben, Front zu machen gegen alles das, was sich heute aus der Schwachmütigkeit heraus gegen Geisteswissenschaft so leicht geltend macht.

Eine Eigenschaft der Geisteswissenschaft liebt man ganz besonders nicht. Das ist: daß sie ein konkretes, wirkliches geistiges Tatsachenmaterial bringt, daß sie von den geistigen Welten spricht als von wirk­lichem geistigem Tatsachenmaterial. Wie oft hört man demgegenüber die Worte: Ja, das ist schwer zu verstehen, da kann man sich schwer hineinfinden. - Begreiflich kann solche Rede noch sein bei dem, der eben unter dem Einfluß des gegenwärtigen Schulwesens nicht hat denken lernen können, aber unbegreiflich muß die Rede bei den­jenigen sein, welche Anspruch darauf machen, überhaupt wissen­schaftlich ernst genommen zu werden. Allerdings, nach und nach ist etwas Wissenschaft geworden, was möglichst geringfügige Ansprüche an das menschliche Denken stellt. Man kann heute ein absolvierter Akademiker sein mit allen möglichen Diplomen und die einfachsten

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Dinge mit seinem Verstande nicht aufzufassen in der Lage sein, so­gleich zu ermüden, wenn wirklich gedacht werden soll. Da liebt man es heute noch immer mehr, wenn in wäßriger Weise geredet wird von allerlei allgemeinen geistigen Dingen, Panidealismus und all dem Zeug. Das befreit einen davon, die Mühe aufwenden zu müssen, an konkrete geistige Tatsachen heranzutreten. Geisteswissenschaft muß allerdings Anforderungen stellen an diejenigen, die zu ihr kommen. Der gute Wille muß da sein, etwas mehr zu verwenden von seinem Geiste, als notwendig ist, um allgemeine Redensarten von Panidealismus und dergleichen mit seinem verwässerten Herzensgefühl weiter zu ver­wässern. Zu schwelgen in allen möglichen «Panen» und in allen mög­lichen allgemeinen gefühlsduseligen Redensarten, das ist nicht mehr an der Zeit. An der Zeit ist heute, ernst sich den konkreten geistigen Tatsachen entgegenzustellen. An der Zeit ist heute, den Willen auf­zubringen, wirklich zu denken. Deshalb müssen Worte zur Einleitung dieser Weihenacht gesprochen werden, die in unserer heutigen Zeit auch ernst klingen. Denn wir werden unsere Seelen um so mehr ver­binden mit dem, was als Christus-Impuls in die Erdenentwickelung eingetreten ist, je mehr wir den Willen haben, dies in ernster, in würdiger, in eindringlicher Weise zu tun.

Durch Jahrtausende hindurch hat die Menschheit den Raum als das angesehen, was zu verehren ist, den Inhalt des Raumes, nicht des Erdenraumes, des Himmelsraumes. Hinauf hat sie gerichtet die Blicke nach den Sternenkonstellationen, um in den Sternen zu lesen, was hier auf der Erde zu geschehen hat. Sie wußte, diese Menschheit: Die Toten lesen und müssen lesen in den Sternen, die Toten müssen mit­wirken an dem Erdengeschehen. - So muß der Mensch auch lernen, jene Schrift zu lesen, die die Schrift ist, welche die Toten unausgesetzt lesen müssen. Was hier auf der Erde geschieht, man sah es in diesen alten Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha so an, daß man sagte:

Da oben, da stehen Sonne, Mond und Widder; oder Sonne, Mond und Stier; oder Sonne, Mond und Zwillinge; oder Zwillinge und Venus oder dergleichen, in einer solchen Konstellation. Es ist ein Zeichen dafür, daß aus dem Kosmos gewisse Impulse hereinkommen. Wenn diese Impulse da sind, dann muß gerade dieses oder jenes

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gemacht werden; denn was hier geschieht, es geschieht in der Zeit, und die Zeit liefert die Maja, die Zeit liefert den Verlauf der großen Täuschung. - Diese Täuschung war es in diesem Sinne nur bis zu dem Mysterium von Golgatha. Aus dieser Maja heraus wurde der Christus-Impuls geboren, wie ich das im Eingang erörtert habe, aus der jung­fräulichen Maja heraus das, was nicht mehr befruchtet ist von altem atavistischem Hellsehen, was sich unmittelbar gegenüberstellt den von der Erde unberührten Weltenmächten.

Die Verehrung desjenigen, was in der Zeit verläuft, die Erkenntnis desjenigen, was in der Zeit verläuft, wird zur Pflicht, ebenso wie in alten Zeiten als Pflicht angesehen worden ist, die Konstellationen im Raume zu sehen. Der alte Magier, dessen Repräsentanz erschienen ist vor dem Kindlein in der Krippe, sah hinauf zu dem Golde des Him­mels, zu den Sternen, und er sagte sich: So wie die Sterne stehen, ist darinnen zu lesen, was hier auf der Erde zu geschehen hat; denn was in die Sterne geschrieben ist, ist das Ergebnis der Vergangenheit. In dem Golde der Sterne ruht, was der Alte der Tage mit seinen Heer­scharen durch die ganze Vergangenheit hindurch geschrieben hat, daß es geschehen soll in der Gegenwart. Die Gegenwart hat auszuführen, was aus dem Golde der Sterne zu ersehen ist; die Gegenwart, die ver­geht in dem Momente, wo sie entsteht. Die Gegenwart ist das fort­währende aufflammende Feuer, repräsentiert durch den Weihrauch; die Gegenwart in der Imagination des Weihrauches. Und es ruht in der von der Vergangenheit befruchteten Gegenwart die Zukunft unter der Imagination der Myrrhe.

Die Geheimnisse der alten Magier waren die, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhängen. Aber in dieser Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft sahen sie den Schleier der Maja, den Schleier der Pallas Athene selber, der nur spiegelte die Konstellationen der Sterne. Und jene drei Magier, die vor der Krippe er­schienen, sie verstanden es, daß aus dem Inhalte der Zeit, desjenigen, was das Spiegelbild der Raumeskonstellation ist, aus der Zeitmaja heraus sich entwickeln muß ein Neues, zu dem man hinzutragen hat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Gold, Weihrauch und Myrrhen. Einsicht in das Göttlich-Geistige: Gold; Opferdienst,

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menschliche Tugend: Weihrauch; Verbindung der Menschenseele mit dem Ewigen, Unsterblichen: Myrrhen.

So gewaltig ist der Einschnitt, der da liegt zwischen der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha und der Zeit nach demselben, daß man sagen kann, das Heiligste, das vorher lag, stieg herab, verband sich in Liebe mit der Maja und gebar den Impuls, der weiterhin die Erdenentwickelung zu tragen hat: den Christus Jesus. Den Christus Jesus verstehen - wie die göttlich-kosmische Liebe aus dem Schoße der Maja den Christus empfangen hat -, heißt verstehen einen Weltengott, der alle jene Differenzierungen hinwegschafft, welche notwendigerweise aus dem Aufblick zu den bloßen Raumeskonstellationen hervor­gehen müssen. Die Sternenkonstellation ist für einen Fleck der Erde eine andere als für einen andern Fleck. Die alten Sagen stellen es auch dar, wie die eingeweihten Heroen herumziehen, wie die verschieden­sten Erdengebiete verschiedenste Aufblicke zu Göttern haben. So geht das, was als Verehrungswürdiges aus dem Raume stammt, in die Zeit über. Dann ist die Zeit für alle menschlichen Erdenkinder die­selbe, dann wird ein universalistischer Gott, ein Gott, demgegenüber keine engere Gemeinschaft ein Recht hat, ihn für sich in Anspruch zu nehmen, keine menschliche Gemeinschaft für ihre Interessen sagen darf, sie tue es in seinem Namen, sondern nur die Gemeinschaft sämt­licher Menschen.

Dies sind Gedanken, durch die wir hinwenden können in dieser Weihnacht unsere Seele zu der Erfassung des Aus spruches «Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine»: «Und verleiblicht ward es durch den Heiligen Geist aus der jungfräulichen Maja heraus.» Mit den Stimmen derjenigen, die da im physischen Leibe leben, ver­einigen sich die Stimmen derjenigen, die in diesen Zeiten durch die Pforte des Todes gehen, die da wissen, wie zusammenhängen die Zeitenkonstellationen im heutigen Sinne, ebenso wie im alten Sinne die Raumkonstellationen.

Zu dem mancherlei, was gesagt werden konnte, um die Brücke zu schlagen zu den Seelen, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt leben, sei auch dieses hinzugefügt, denn in denjenigen Ge­danken, die sich anknüpfen an das Mysterium von Golgatha, verstehen

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sich sogenannte Lebende und sogenannte Tote am allerbesten. Denn der Christus ist wirklich vom Himmel auf die Erde herab­gestiegen und muß seither auf der Erde gesucht werden. Hier lernt der Mensch sein Geheimnis im fleischlichen Leibe kennen, wie der Christus selber im fleischlichen Leibe seine Mission auf der Erde gesucht hat. Der Tote schaut aus dem Geisterland heraus auf das, was er hier erlebt hat als Grundlage zu seinen Impulsen für das Myste­rium von Golgatha. Am besten verstehen sich Seelen, die hier auf dem physischen Plan, und Seelen, die auf dem geistigen Plan leben, in alle­dem, was anknüpft an das Mysterium von Golgatha. Aber an das Mysterium von Golgatha knüpft an nicht nur dasjenige, was dieses Mysterium von Golgatha bei jeder Gelegenheit im Munde führt, sondern alles das, was im Sinne des Wortes geforscht ist: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeit.» Derjenige, dessen Geburt wir feiern im Glanze der Weihnachtskerzen, der ist es wirklich, der nicht allein sich offenbaren sollte einmal, um dann in bequemer Weise die Grundlage abzugeben zum Nachplappern ihrer Reden bei denen, die nichts Neues lernen wollen und alles Neue zurückweisen, sondern Derjenige, der unter dem Scheine der Weihnachtskerzen allein ge­feiert werden darf, das ist der, der sich offenbaren wollte den Men­schen in der ganzen Zeit, die da folgt auf das Mysterium von Gol­gatha.

Fassen in dieser Zeit unter den Zeichen, die heute so bedeutungsvoll am geistigen Horizont erscheinen, genug Menschen den Entschluß, den Christus Jesus zu verstehen, dann ist dies ein Weihnachtsgedanke, ein die Nacht weihender Gedanke, der in guter Art auferstehen wird nach dreiunddreißig Jahren, der leben wird als Kraft der Menschheit in der Zeit von heute bis zu seiner Auferstehung. Fassen wir starke, fassen wir mutvolle, fassen wir weisheitserfüllte Weihnachtsgedanken und durchdringen wir uns mit diesen für diese Weihenacht, dann wer­den wir sie in würdiger Weise durchleben.

Das sei es, was ich Ihren Seelen als einen Weihnachtsgruß heute überbringen möchte. Und ich weiß, daß dieser Weihnachtsgruß im Sinne desjenigen Impulses gelegen ist, den man allein wahrhaft und würdig im Zeichen der Weihnachtslichter feiern darf.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 25. Dezember 1917

Es wird Ihnen allen wohl der Gedanke naheliegen, der in eine Frage gekleidet werden kann: Wie ist es denn eigentlich zugegangen, daß im Gefolge der Ereignisse, wie wir sie betrachtet haben, die materiali­stische Denkungsart der Menschen gerade die Form angenommen hat, die wir heute als alle menschlichen Impulse durchdringend bemerken können? Man muß unbefangen betrachten das, was als Ingredienzien hineingeflossen ist in das Geistesleben der neueren Zeit, unbeeinflußt durch das, was die landläufige Geschichtsauffassung historische Not­wendigkeit nennt. Man muß die Blicke gerade auf diejenigen Ereig­nisse lenken, welche lichtbringend und aufklärend sind für das, was erlebt wird.

Nun können wir sagen, daß zu all den wichtigen Umschwüngen, die sich in der neueren Zeit vollzogen haben, auch der gehört, der in gewisser Beziehung eine Art Nachzügler älterer Umwälzungen ist: daß mit dem letzten Drittel des 18.Jahrhunderts eigentlich der europä­ischen Menschheit alles Verständnis für das Mysterienwesen verloren­gegangen ist. Ich habe schon im Laufe dieser Betrachtungen flüchtig darauf hingedeutet, daß ins 18. Jahrhundert noch hineinragt die Vor­stellungsweise Saint-Martins, dessen Anschauung durch ihn und durch den allgemeinen Zeitimpuls im 18. Jahrhundert eine breitere Wirkung hatte, daß aber Saint-Martins Anschauungen und Vorstellungsarten im 19. Jahrhundert ganz zurückgegangen sind. Man braucht sich nur an eines zu erinnern mit Bezug auf die Vorstellungsart Saint-Martins, so wird man sogleich bemerken den radikalen Unterschied einer sol­chen Vorstellungsweise von alldem, was zum Beispiel die Gegenwart zu denken und zu empfinden imstande ist. Saint-Martin spricht in seinem bedeutsamen Werke von den Irrtümern und der Wahrheit, «Des erreurs et de la vérité», unter anderem auch von einem Ereignis in der Erdenentwickelung, das sich aber zugetragen hat, bevor der Mensch zur physischen Menschwerdung gekommen ist. Saint-Martin spricht gewissermaßen rückblickend von einem bedeutsamen, man

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möchte sagen kosmischen Vergehen der Gesamtmenschheit, bevor der Mensch in die physische Menschwerdung gekommen ist. Bedeut­sam ist dieses deshalb, weil man daraus sieht, daß Saint-Martins Gesinnungs- und Vorstellungsgenossen den weiten Blick noch hatten, über die physische Menschenwelt hinauszusehen auf Geistiges, wo­durch dann die Möglichkeit geboten wird, auch zu sprechen über das­jenige, was mit der Entwickelung der Menschheit einen andern Zu­sammenhang hat als das, was bloß im Physischen beschlossen ist. Saint-Martin, der in gewisser Beziehung ein Nachfolger Jakob Böhmes war, hatte zwar einige Jünger, über die ganze gebildete Welt verbrei­tet auch im 19. Jahrhundert, und hat sie bis in die neueste Zeit gehabt. Aber man kann nicht sagen, daß das Zeitbewußtsein im 19. Jahrhundert noch beeinflußt gewesen wäre von solchen Impulsen, wie sie bei Saint-Martin gefunden werden, und man kann durchaus sagen, daß solche Ausblicke nach der geistigen Welt, wie sie noch bei Saint-Martin zu sehen sind, dem 19. Jahrhundert abhanden gekommen sind.

Nun sind solche Dinge, wie sie Saint-Martin geboten hat, die aller­letzten Überreste alter Mysterienweisheit. Will man dasjenige äußer­lich historisch verstehen, was zurückgedrängt hat solches Vorstellen, wie es bei Saint-Martin sich findet, dann muß man nicht die Frage so stellen: Welche Persönlichkeit hat denn Lehren verbreitet, die ge­eignet waren, Saint-Martins Vorstellungsarten zurückzudrängen? - sondern man muß die Frage so stellen: In welcher Persönlichkeit drückt sich denn jene Summe von Impulsen am charakteristischsten aus, durch die die Menschheit des 19. Jahrhunderts so materialistisch geworden ist? - Und man findet dann eine Persönlichkeit an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, die für diesen letzten größeren Um­schwung in der äußeren Geistesentwickelung ganz besonders charak­teristisch ist. Man muß aber, um zu verstehen, was da eigentlich vor­geht, sich eben gegenwärtig halten, daß durch diesen letzten Um­schwung das Verständnis für das Mysterienwesen der Menschheit völlig abhandengekommen ist, so daß das 19. Jahrhundert eigentlich nur in wenigen Persönlichkeiten, in wenigen Seelen noch etwas weiß von der tiefen Bedeutung und dem Einflusse des Mysterienwesens. Die Persönlichkeit, die ich meine, die so mehr der Ausdruck des allgemeinen

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Zeitgeistes von der Wende des 18. zum 19.Jahrhundert ist, ist Dupuis, und die wichtige Schrift, durch welche gewissermaßen dem Verständnisse für das Mysterienwesen der Todesstoß gegeben worden ist, ist die Schrift «Origine de tous les cultes» vom Jahre 1794. Im 19. Jahrhundert denkt man, wenn man die Anschauungen der Men­schen überblickt, gewöhnlich an den naturwissenschaftlichen Materia­lismus. Allein ich möchte sagen, dieser naturwissenschaftliche Materia­lismus hat ja schon den Charakter angenommen, den das 19. Jahr­hundert mehr oder weniger allen menschlichen Impulsen aufgedrückt hat, den wir am deutlichsten ausgesprochen fanden in dem «bon dieu citoyen», als welchen Heinrich Heine den Jesus Christus begrüßt. Das 19. Jahrhundert hat auch den Materialismus in das Fahrwasser der Philistrosität getaucht, und das wesentlichste Charakteristikon des Materialismus des 19. Jahrhunderts ist, daß er philiströs ist.

Will man den eigentlichen Grundnerv dieses 19. Jahrhunderts ver­stehen, so muß man den Impuls der Philistrositat uberall aufsuchen. Der Materialismus Dupuis' war in gewissem Sinne noch nicht philiströs, hatte noch etwas Großes, Freies, etwas weit über die Philistrosität Hinausreichendes. Der Materialismus Dupuis' war in gewissem Sinne ein himmlischer Materialismus. Dupuis hatte noch den Mut zu einem durchgreifenderen materialistischen Gedanken als die gelehrten und genialen Philister des 19. Jahrhunderts. Dupuis kam auf gewisse Dinge, wenigstens glaubte er auf gewisse Dinge zu kom­men. Und die Art, wie er darauf kam, ist außerordentlich interessant. Man darf, wenn man auf diesen Mann zurückblickt, nicht außer acht lassen, daß er eine geniale Persönlichkeit war. Er hat sich zum Beispiel bereits in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts eine Art Privattelegraph eingerichtet, durch den er telegraphierte von seinem Hause aus zu seinem ziemlich weit entfernten Freunde Fortine. Als dann die Revolution ausbrach, fürchtete er, daß man seine Telegraphenverbin­dung irgendwie anrüchig finden könnte. Da zerstörte er die ent­sprechenden Maschinen, und dadurch wurde die ganze Sache ver­gessen. Ich sage natürlich nicht, daß er einen elektrischen Telegraphen gehabt hat, aber das Prinzip des Telegraphen war da vollständig ausgeführt.

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Dupuis war auch Kommissar des öffentlichen Unterrichts am Ende der achtziger Jahre in Frankreich. Er verließ, als die Revolution aus­brach, Paris, wurde aber sehr bald darauf in die Nationalversammlung gewählt, ging wieder nach Paris zurück und spielte eigentlich eine ziemlich große Rolle sowohl im Konvent, wie nachher im Rat der Fünfhundert, gehörte in der Regel den gemäßigten Parteien an. Man muß sich vorstellen, daß dasjenige, was in ihm lebte, eigentlich ein Impuls war, der von ihm aus auf viele Seelen überging. Aber noch wichtiger ist, daß dieser selbe Impuls, von dem die Zeit besessen war, gerade bei ihm in der charakteristischsten Weise zum Ausdruck kam.

Dupuis kam nämlich auf das Folgende. Er studierte alte Sagen und Mythen, sagen wir die Herkulessage, Oder die Sage von Isis und Osiris, oder die Sage von Dionysos; also er studierte die alten Mythen, welche exoterische Verkleidungen der Mysterienwahrheiten sind, wie wir ja wissen. Nehmen wir die Herkulesmythe heraus. Er bemerkte, daß Herkules zwölf Arbeiten verrichtete, und indem er die Erzählung der einzelnen Arbeiten des Herkules verfolgte, kam er darauf, daß gewisse Dinge, die da vorkommen in den Erzählungen von diesen Arbeiten des Herkules, rechtfertigen, einen Zusammenhang fest­zustellen zwischen dem Durchgang des Herkules durch seine zwölf Arbeiten und dem Umschwung der Sonne durch die zwölf Zeichen des Tierkreises. Diese Dinge studierte dieser Mann ganz gewissenhaft und sorgfältig, und er bildete sich aus diesem Studium die folgende Ansicht. Er sagte: Im Altertum gab es also gewisse Leute, Mysterienpriester. Diese Leute hatten das Ziel, die weite Masse der Völker mög­lichst ruhig zu halten, so daß man sie leicht lenken kann. Deshalb er­zählte man einzelnen dieser Völkermassen solche Mythen von einem Herkules, der einmal gelebt hat, dem man nachstreben soll, an dessen Persönlichkeit man solche Arbeiten knüpft. Man erzählte andere Mythen, von Isis und Osiris und dergleichen. Bei sich selber, inner­halb der Mysterien, wußten aber die Mysterienpriester, daß das alles Wischiwaschi ist, daß es niemals äußerlich eine solche Persönlichkeit gegeben hat, wie den Herkules oder den Osiris oder die Isis, sondern daß alles, was auf der Erde vorgeht, von den materiellen Himmelskörpern und ihren Konstellationen bewirkt wird. Die Mythen sind

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nur Umkleidungen der Vorgänge am Himmelsgewölbe. Was hier auf der Erde vorgeht, das hängt ab im Sinne der alten Mysterienpriester, sagte Dupuis, von dem Durchgang der Sonne durch die zwölf Zeichen des Tierkreises, von dem Durchgang des Mondes durch die zwölf Zeichen des Tierkreises. Und dasjenige, was auf der Erde dadurch bewirkt wird, wußten die Priester; sie wußten, daß das materielle Geschehen, das sich ausdrückt in den Sternenkonstellationen, dieses im Kosmos vor sich gehende materielle Geschehen die Ursache ist vom Pflanzenwachstum, die Ursache auch ist vom Menschheitsfort­schritt, der Menschenbefruchtung und so weiter. Das wußten die Priester. Denen fiel es gar nicht ein, daran zu glauben, daß da irgend­wie andere geistige Mächte im Spiele seien, sondern die waren aufgeklärt genug, bloß zu glauben an das Spielen der materiellen Kräfte im materiellen Himmelsraume. Aber dem Volke kleidete man die Astronomie in Mythen, weil man glaubte, daß zur Täuschung des Volkes solches notwendig sei, daß man das Volk nur dadurch lenken könne.

So waren für Dupuis die Mysterien große Lügenfabriken, veranstaltet zu dem Zwecke, um das, was die Priester wußten - daß die materiellen Vorgänge des Himmels wieder andere materielle Vorgänge hier auf Erden bewirken -, in entsprechender Weise für das «dumme Volk», das leichtgläubig ist, einzukleiden. In dem Werke «Origine de tous les cultes» findet sich zum Beispiel folgender Satz: Die Wahrheit kennt keine Mysterien, sie gehören alle dem Irrtum und dem Betruge an. - Oder: Man muß ihren Ursprung, nämlich den Ursprung der Mysterien, außerhalb der Grenzen der Vernunft und der Wahrheit suchen; als Kinder der Nacht scheuen sie das Licht.

Gewiß, nur eine kleine Minderheit von Menschen hat selbstverständlich solche Dinge gelesen. Aber darauf kommt es ja allein nicht an, sondern darauf, daß solche Dinge wirken, daß solche Dinge da sind. Wenn ein Mensch wie Dupuis sie ausspricht, so bedeutet das nur, daß er die besondere Fähigkeit hat, diese Dinge zu formulieren. Wirk­sam wurden diese Dinge vom Ende des 18. Jahrhunderts und durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch.

Nun muß man einiges von der wirklichen historischen Wahrheit

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dem entgegenhalten, worauf Dupuls in genialischer Weise gekommen ist, indem er gegründet hat diesen - wie man mit Recht sagen kann - himmlischen Materialismus. Nicht wahr, die philiströse Wissenschaft des 19. Jahrhunderts sucht die materiellen Vorgänge in den Atomen. Sie bleibt beim Irdischen. Dupuis war kühn genug, einen himm­lischen Materialismus zu begründen, alles dasjenige, was aus dem Kosmos herein wirkt, noch als materialistische Wirkung der Gestirne zu denken, und alles das, was geistig sein soll, füt Wischiwaschi zu halten, Nachklang von Priestertrug aus den Mysterienzeiten her. Dupuis hat vor allen Dingen dann in seinem berühmten, bedeutenden Buche den Schluß gezogen: Alle diese großen Gestalten sind eigent­lich nichts anderes, als für das Volk zusammengeschweißte, ver­kleidete Angelegenheiten der Astronomie. Herkules ist die Sonne, seine zwölf Arbeiten der Durchgang der Sonne durch die zwölf Sternbilder des Tierkreises; Isis ist der Mond, dasjenige, was von ihr erzählt wird, der Durchgang des Mondes durch den Tierkreis; Dio­nysos wird dargestellt in dem großen, achtundvierzig Gesänge um­fassenden Gedichte des Nonnos als Sonne, durchgehend durch die Zeichen des Tierkreises und so weiter. Die Christen haben dann ein­fach an die Stelle des Herkules, des Dionysos, des Osiris den Christus gesetzt, und der Christus ist auch nichts anderes als die Umkleidung der Sonne. Die Priester haben gut gewußt, daß das Reale, das in Betracht kommt, die Sonne ist. Aber für das Volk brauchte man die Erzählung des Nazareners Christus Jesus, der Sonne des Neuen Testa­ments, im Gegensatz zu Herkules, Dionysos, Osiris, den Sonnen des Alten Testaments. - Eine radikale Zerstörung jedes religiösen Ge­dankens enthält das Buch «Origine de tous les cultes ou religion uni­verselle» von Dupuis.

Das allgemeine Bewußtsein bleibt in der Regel zurück, schließt sich nicht den radikalen Umschwüngen an. Daher kam es, daß man im 19. Jahrhundert wenig bemerkte, daß diese Gedanken - wenn ich mich des trivialen Ausdruckes bedienen darf - in der Luft liegen. Aber man hat sie in der Luft liegen lassen. Zu der klaren Folgerung von Dupuis haben sich natürlich wenige aufgeschwungen, obwohl in dem geistigen Bewußtsein von allen Gebildeten diese Gedanken enthalten

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waren. Aber unter dem Druck dieser Gedanken hat das ganze Theo­logenunwesen des 19.Jahrliunderts gewirkt. Denn nichts anderes liegt da zugrunde, als daß Dupuis diejenigen, die seiner Gesinnung waren, darauf hingewiesen hat: Ebensowenig wie es einen Herkules oder einen Osiris als menschliche physische Persönlichkeiten gegeben hat, so wie dies Sonnen sind, so ist Christus auch nie eine physische Persön­lichkeit gewesen, sondern Sonne. - Unter dem Druck dieses Gedan­kens ist dann den Theologen des 19. Jahrhunderts allmählich der Christus ganz zerflattert. Dann haben sie sich alle Mühe gegeben, den «bon dieu citoyen» von Nazareth auszustaffieren. Die liberalen Phili­ster machten so einen humanen Moralprediger aus ihm, die Sozial­demokraten machten einen Sozialdemokraten aus ihm, die Psychiater einen Wahnsinnigen, einen Epileptiker, und so hat sich ihn jeder unter dem Druck solcher Gedanken ausgebildet.

Wenn Sie zu dem, was ich jetzt sage, die andere große Wahrheit nehmen, daß eigentlich das historische Werden geträumt wird, so werden Sie eine Vorstellung sich verschaffen können, daß solche Ge­danken, die nicht radikal ausgesprochen werden, doch in den Träu­men der Menschen ihre Rolle schon spielen.

Nun muß man die wirkliche historische Wahrheit mit dem Ganzen zusammenhalten. Blickt man zurück auf die alten Mysterien, auf jene Mysterien, die noch ihren Ursprung in der dritten nachatlantischen Periode hatten, so sieht man bei diesen Mysterien überall: es gab esoterische und exoterische Dinge, die vertreten wurden. Was war - diese Frage muß man aufwerfen gerade bei diesen Mysterien, die ihren Ursprung zurückführen auf die dritte nachatlantische Zeit -, was war bei diesen esoterisch und was war exoterisch? Esoterisch war bei den alten Mysterien, die ich also jetzt meine, alles dasjenige, was sich auf die physische Wissenschaft, alles dasjenige, was sich auf die Hantierungen der Wissenschaft bezieht. Religionswissenschaft war in diesen alten Zeiten nie esoterisch. Man gibt sich einem ganz falschen Glauben hin, wenn man meint, daß die Vorstellungen über Gott und Götter esoterisch gewesen wären in den alten Mysterien. Esoterisch haben die alten Mysterien das gehalten, was man dazumal über Dinge gewußt hat, die heute in den chemischen Laboratorien, in den Kliniken

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erforscht werden. Was sich auf die äußere physische Wissenschaft bezieht, das war im wesentlichen esoterisch gehalten, und das war, was die Esoteriker für gefährlich gehalten haben. Niemals hat man in diesen Zeiten in den Mysterien irgendeine religiöse Wahrheit für irgendwie gefährlich gehalten. Was die Leute religiös vertreten haben, haben sie auch nach außen verkündet. Das, was wir heute Chemie, Physik, Mathematik nennen, das war in jenen Zeiten so gehalten, daß man gewissermaßen die Hände darüber hielt und es nur pflegen wollte innerhalb derjenigen, die sich verpflichteten, die Sache innerhalb der Mysterien zu halten, sogar eidlich verpflichteten, unter scharfen Eiden.

Dann kam die Zeit, in welcher die Mysterien in einem gewissen Sinne ihre Politik änderten, aber in einem gewissen Sinne nur. Das ist der Fall bei all jenen Mysterien, die vorzugsweise ihren Ursprung zurückführen bis in die vierte nachatlantische Zeit. Das geht also bis ins 15. Jahrhundert herein. In dieser Zeit war Sitte, in den Mysterien nun nicht die physische Wissenschaft zu sekretieren, sondern in einer Art symbolischer Weise eine gewisse Seite der mathematischen, über­haupt der intellektuellen Wissenschaften zu sekretieren: alles das, was mit gewissen Dingen zusammenhängt, wie mit Kreis, Dreieck, Wasser­waage, kurz, alles das, was mechanisch, mathematisch ist, was intellek­tuelle Wissenschaft ist. Das wurde versucht, so zu halten, daß man es innerhalb gewisser Brüderschaften hielt und die Mitglieder verpflichtete, die Dinge, die sie da lernten über Kreis, Dreieck, Wasserwaage, Senkblei und so weiter, nicht zu verraten. In den andern Dingen wurden die Sachen so gehalten, daß man alimählich lässiger wurde im Esoterischlialten der physischen Wahrheiten. Die drangen allmählich aus den Mysterien heraus in das öffentliche Bewußtsein.

Sie können sagen: Ja, aber was hatten denn schließlich die alten Mysterien des dritten nachatlantischen Zeitraums viel geheimzuhalten? Da war ja die Wissenschaft in den Kinderschuhen; da hat man ja noch keine Chemie gehabt, da wußte man ja von der ganzen Welt nichts, die man sich so glorreich erobert hat in der neueren Zeit. - Wenn Sie so urteilen, dann sprechen Sie halt das nach, was man heute allgemein sagt. Aber schon die gewöhnliche äußere Geschichte könnte Sie

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stutzig machen in dem Bilden solcher Urteile. Nachdem die Europäer das Pulver erfunden hatten als Ergebnis der äußeren Wissenschaft, waren sie natürlich stolz darauf. Warum sollte man nicht stolz darauf sein! Aber es stellte sich sehr bald heraus, daß die Chinesen das Pulver schon in alten Zeiten gehabt haben, die Buchdruckerkunst schon in alten Zeiten gehabt haben und so weiter. Man könnte viele solche Beispiele, bei denen eine bestimmte Sache ruchbar geworden ist, an­führen. Die Wahrheit ist aber einfach diese, daß in alten Zeiten auch Dinge bekannt waren - sagen wir zum Beispiel das Prinzip des Luftschiffes, das Prinzip des Unterseebootes und so weiter, um gleich etwas Radikales zu sagen -, nur wurden diese Dinge eben als Inhalt der physischen Wissenschaft streng sekretiert. Man enthielt sie der allgemeinen Bevölkerung vor, man ließ sie nicht hinaus aus den Myste­rien, was gleichbedeutend war. Man wandte dasjenige, was durch diese Wissenschaft erreicht werden konnte, nicht auf die allgemeine soziale Menschenordnung an. Es ist eine ganz dilettantische Vor­stellung, wenn man den esoterischen und den exoterischen Begriff bei den Mysterien der dritten nachatlantischen Zeit nicht auf diese Dinge bezieht, sondern wenn man glaubt, daß da über rein geistige An­gelegenheiten in den Mysterien gerade dieser Zeit ganz besonders geheimnisvolle Dinge noch vorhanden gewesen wären.

Im Mittelalter wiederum war die Sache so, daß man versuchte, eine gewisse Seite des Mathematischen, des Mechanischen zurückzuhalten, nicht unter die allgemeine Bevölkerung kommen zu lassen. Diese Dinge hatten in alten Zeiten ihre gute Bedeutung, hatten ihren rechten Wert. Sie verlieren ihren Wert allmählich, indem die neuere Zeit heranrückt. Ich habe es ja oft ausgesprochen, daß in demselben Sinne das Mysterienwesen nicht fortgesetzt werden kann, wie es früher ge­trieben worden ist. Im jetzigen fünften nachatlantischen Zeitraum ist es schon in vieler Beziehung eine nicht mehr erlaubte Sache - ich meine vor den höheren geistigen Mächten nicht mehr erlaubte Sache -, gewisse Dinge ganz esoterisch zu halten. Jetzt würden als Esoterik in Betracht kommen gewisse seelische Wahrheiten. In ganz alten Zeiten waren es physische Wahrheiten, dann sind es intellektuelle Wahrheiten geworden, jetzt würden es seelische Wahrheiten sein. Solche seelischen

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Wahrheiten halten heute unter Schloß und Riegel nur solche Brüder­schaften, wie diejenigen sind, von denen ich Ihnen gesprochen habe, indem ich Ihnen die allgemeine Weltenlage der Gegenwart charakte­risierte als ausgehend von gewissen dunkeln Brüderschaften, deren Ursprung ich ja damals, im vorigen Jahre, charakterisierte.

Nun entsteht die Frage: Warum haben denn die alten Mysterienpriester zurückgehalten das, was man physisches Wissen nennen kann? Das hängt wirklich zusammen mit der Entwickelung der Menschheit. Ich habe ja oft darauf hingewiesen: die Menschheit hat eben eine Ent­wickelung durchgemacht, sie ist von Form zu Form gegangen, von anderer Form zu anderer Form. Und die Zeit, in die das Mysterium von Golgatha gefallen ist, ist die größte Übergangszeit der Erdenentwickelung, was natürlich die äußere Geschichte gar nicht weiß. Sie weiß auch nicht alle die Dinge, die mit diesem Umschwunge in Zu­sammenhang stehen. In den alten Zeiten, im wesentlichen in den­jenigen Zeiten, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen sind, da bekam der Mensch, wenn er so vierzehn, fünfzehn Jahre alt wurde, zu den Kräften, die schon die Kindheit hat bis zu diesen Jahren, ganz besondere Kräfte. Mit dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre be­kam der Mensch Kräfte in jenen alten Zeiten, die sich verloren seit dem Mysterium vön Golgatha, die nicht mehr da sind seit dem Myste­rium von Golgatha, nur atavistisch in nachzüglerischer Weise da sind, aber nicht mehr normale Kräfte der allgemeinen Menschennatur sind. Die Kräfte, die der Mensch bekam, wenn er so vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, die einfach dadurch da waren in seiner Umgebung, daß der Mensch selber da war, das waren solche Kräfte, die sich verbinden konnten mit den Vorgängen der physischen Hantierung. Wenn man heute Sauerstoff und Wasserstoff verbindet, verbindet man halt Sauer­stoff und Wasserstoff zu Wasser; da verbindet sich nichts, was vom Menschen ausströmt, damit. In jenen alten Zeiten verband sich damit etwas, was vom Menschen ausströmte; da machte der Mensch mit. Da wurden die Verrichtungen des Laboratoriums Magie durch diese Kräfte, die sich beim Menschen im vierzehnten, fünfzehnten Jahre entwickelten.

Aus diesem Grunde mußten die Mysterienpriester die äußeren Verrichtungen

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geheimhalten, weil diese äußeren Verrichtungen einfach durch die allgemeinen Menscheneigenschaften der damaligen Zeit zu magischen Verrichtungen geworden wären, Magie würde sich überall ausgebreitet haben und wäre selbstverständlich leicht zur sogenannten schwarzen Magie geworden. Dazumal also war es notwendig, über gewisse Dinge der physischen Wissenschaft tiefstes Geheimnis zu breiten, wegen der allgemeinen Menschennatur. Diese Kräfte, die da der Mensch erhalten hat mit dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre, die haben sich eben nach und nach verloren, sind fast ganz verschwunden mit dem 15. Jahrhundert. Und damit hängt es auch zusammen, daß Dinge, die vor dem 15. Jahrhundert geschrieben sind, heute gar nicht mehr verstanden werden können, wenn man sie nicht mit Geisteswissenschaft versteht. In dem Augenblicke nämlich, wenn in solchen alten Zeiten der Mensch darangegangen ist, physische Verrichtungen vorzunehmen, wie wir sie heute ganz gewöhnlich im Laboratorium machen, in dem Augenblicke gab der Mensch Veranlassung, daß gewisse luziferische Elementarwesen mitentstanden, konnte wenig­stens Veranlassung geben. Und diese luziferischen Elementarwesen waren wirksam, hätten also mitgewirkt im sozialen menschlichen Zu­sammensein, wenn man die Dinge nicht verborgen gehalten hätte.

Von den Angelegenheiten der wirklichen Menschheitsentwickelung hat ja am allerwenigsten eine solche Zeit wie das Ende des 18. und der Anfang des 19. Jahrhunderts eine blasse Ahnung. Daher ballte sich zusammen alles das, was aus der Ahnungslosigkeit kam, zu solchen Behauptungen wie diese: «Die Wahrheit kennt keine Mysterien, sie gehören alle dem Irrtum und dem Betruge an.» - Man mußte gewisser­maßen die Menschen vor der unmittelbaren Erkenntnis der physischen Geheimnisse bewahren. So, wie man sie bewahren mußte vor den physischen Hantierungen, die heute allgemein im Laboratorium ge­macht werden, so mußte man sie zum Beispiel auch bewahren vor der reinen physischen Erkenntnis der Astronomie. Man gab daher das geistige Gegenbild in Form der Mythe, in Form der Sage. Das war eine notwendige Anforderung.

Aber die Zeiten sind recht stark andere geworden. Den luziferischen Elementarwesen, von denen man in solchem Zusammenhange sprechen

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kann, ist ja die Menschheit heute nicht ausgesetzt. Dafür ist sie gewissen ahrimanischen Elementarwesen sehr stark ausgesetzt. Diese ahrimanischen Elementarwesen entstehen heute mit einer ähnlichen Notwendigkeit, wie die geschilderten luziferischen Elementarwesen im Altertume entstanden sind. Nur entstehen sie in einer andern Art. Sie entstehen aus ganz andern Kräften und Impulsen der Menschennatur heraus. Heute gibt es - ich meine jetzt nicht bloß in bezug auf die menschliche Wissenschaft, sondern in bezug auf das soziale Leben, das ja alle Menschen angeht, nicht bloß diejenigen, die zu den sogenannten Gebildeten gehören -, heute gibt es wirksam im sozialen Leben eine große Anzahl von Dingen, die deshalb da sind, weil man gewisse rein technisch-mechanische, physikalische, chemische und ähnliche Gedanken hat, weil man einen gewissen Umfang der physischen Wissen­schaft hat. Man kennt heute, benützt heute Maschinen, man benützt ein gewisses maschinelles Vorgehen auch in der Finanzgebarung der Welt. Man denkt mechanisch über die ganze Welt hin. Ich meine jetzt nicht bloß die mechanische Weltanschauung, sondern ich meine das, was jeden Menschen angeht, den einfachsten Bauern in der letzten Alphütte angeht, denn er weiß natürlich nichts von mechanischer Wissenschaft. Aber worinnen er lebt, das ist durchzogen von diesen Gedanken. Darauf kommt es ja an.

Wie im Altertum diese mechanischen, chemischen, physischen Verrichtungen sich mit luziferischer Kraft vermischten, so vermischen sie sich heute, wo sie nicht mehr hintangehalten werden können, mit ahri­manischen Kräften, und zwar durch einen ganz gewissen Umstand. Es ist ein Gesetz, daß alles das, was herstammt aus maschineller, mechanischer, chemischer, physischer Denkweise, in einer eigentüm­lichen Weise befruchtet werden kann von dem, was aus partieller Menschennatur stammt, in der folgenden Weise: Diese Gedanken­summen, die sich auf Chemisches, Physikalisches, Mechanisches, Technisches beziehen, Finanzielles beziehen, die werden heute gedacht von Menschen, welche zum Beispiel - es kommen auch noch andere Dinge in Betracht - noch in nationaler Denkweise drinnen sind; aber damit vertragen sie sich nicht. Denkt man das, was heute physikalisch, mechanisch, chemisch ist, so, daß gleichzeitig dasselbe Hirn, das diese

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Dinge denkt, von nationaler Gesinnung durchdrungen ist, dann wirkt durch die nationale Gesinnung auf diese Dinge, die man denkt in bezug auf Physikalisches, Chemisches, Mechanisches, Technisches, dann wirkt Ahriman befruchtend, und es entstehen durch die Ver­bindungen von nationaler Gesinnung mit internationaler physischer Wissenschaft heute ahrimanische Elementarwesenheiten in unserer Umgebung. Denn verträglich sind Gedanken und Verrichtungen, wie sie die heutige Chemie, Physik, Mechanik, Technik, Finanzgebarung, die kommerzielle Gebarung hat, verträglich sind sie nur mit nicht-nationaler Denkweise.

Das ist ein bedeutsames Geheimnis, das man kennen muß, wenn man das Gefüge des Lebens in der Gegenwart verstehen will. Es liegt nicht in der Zeitmöglichkeit, diese Dinge auf eine andere Weise hintan­zuhalten als durch Erkenntnis. Die alten Mysterienführer suchten durch Sekretierung der Erkenntnisse die Dinge hintanzuhalten. Heute muß das Gegenteil eintreten: durch möglichst weite Verbreitung der entgegengesetzt wirkenden geistigen Erkenntnisse muß das Übel ge­bannt werden. In dieser Beziehung hat die Menschheit einen voll­ständigen Umschwung erfahren. Dazumal mußte man durch die Schranken der Mysterien etwas zurückhalten über die physischen Wissenschaften; heute muß man geistige Wissenschaft so viel ver­breiten, als möglich ist, weil nur dadurch allmählich dasjenige, was in der Richtung wirkt, die eben geschildert worden ist, ausgetrieben werden kann. Die Menschheit hat ja heute vielfach gar keine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn man auf der einen Seite national gesinnt ist und auf der andern Seite internationale Physik treiben will. Diese Dinge begegnen sich aber in der Menschennatur und befruchten sich in der Menschennatur und führen, wie sie im Altertum geführt haben zu luziferischen Bildungen, in der Gegenwart zu ahrimanischen Bil­dungen. Die Menschheit hat ja keine andere Alternative, als entweder alles, was Physik, Chemie und dergleichen ist, zu lassen, oder inter­national zu werden in der Denkweise.

Daß es solche Gesetze gibt, die innig zusammenhängen mit dem allgemeinen Leben, das ahnen ja die Menschen der Gegenwart noch nicht. Und doch ist es eine Wahrheit, die unmittelbar an die Türe

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unserer Gegenwartsentwickelung klopft und eingelassen werden muß zum Heile der Gegenwartsentwickelung. Die dem Menschenfort­schritt am meisten feindlichen Mächte widerstreben solchen Dingen gerade und verführen heute die Menschen dazu, die Nationalitätsidee zum besonders radikalen Ausdruck zu bringen. Es müßte schon auf solche Dinge heute hingewiesen werden, denn sie enthalten dasjenige, was wahr ist, und sie sind vielleicht allein in der Lage, weil sie die lautere und wirkliche Wahrheit enthalten, die Menschen zu heilen vor solchem Zeug, wie es gegenwärtig in den Köpfen figuriert. So un­glaublich es aussieht, es gibt doch viele Menschen in der Gegenwart, die in Theoretischem und Praktischem imstande sind, nicht ein­zusehen, daß von den widerstrebenden Mächten der Gegenwart der Kniff gebraucht worden ist, zum Beispiel den Unsinn zu inkarnieren und ihn - Woodrow Wilson zu nennen. Es hängt nicht nur das, was ich gesagt habe, sondern auch manches andere mit diesem Genannten und Charakterisierten sehr wesentlich zusammen.

Wer sich alle vor dem Mysterium von Golgatha berechtigten Religionssysteme durch den Kopf gehen läßt, sie wirklich in ihren Tiefen erkennt, der weiß, daß diese Religionssysteme alle einen be­stimmten Impuls haben: die Menschen zu bewahren vor der Berührung mit jenen Mächten, welche so wirken, wie ich es charakterisiert habe, wenn sie nicht bekämpft werden. Das war im wesentlichen mit einer der Impulse der alten Religionssysteme, die Menschen zu be­wahren vor den schädlichen Wirkungen der Kräfte, die mit dem vier­zehnten, fünfzehnten Jahre auftreten in bezug auf die äußeren physi­schen Hantierungen. Daß man berechtigt war dieses zu tun, das konn­ten die alten Mysterienpriester aus einer ganz bestimmten Tatsache entnehmen. Wenn diese alten Mysterienpriester in die heiligen alten Mysterien eingeweiht wurden und dadurch in die Lage kamen, mit den Toten zu verkehren, dann waren sie imstande, jene Dankbarkeit kennenzulernen, welche der Mensch nach dem Tode hat für solche Vornahme: die Toten erwiesen sich vor allen Dingen dankbar dafür, daß sie, bevor sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, bewahrt worden sind vor der Berührung mit diesen Kräften.

Das Analogon existiert auch jetzt. Derjenige, der kennenlernt das

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Leben der Menschenseele zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, der weiß, wie der Tote dankbar ist dafür, wenn er bewahrt werden kann im Leben vor den alleräußersten Ausschreitungen des Menschen, dem Separatismus in Gruppen, dem Einschnüren des Menschen zum Beispiel in nationale Gruppen oder dergleichen. Alle alten Religionen bezogen sich darauf, gewisse Kräfte hintanzuhalten, zu regeln, gesetz­mäßig zu gestalten, die mit dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre auf­traten. Mit dem Mysterium von Golgatha tritt die Christus-Kraft in die Menschheitsentwickelung ein. «Im Urbeginn war der Logos, und der Logos war bei Gott, und ein Gott war der Logos.» Auf das Wort wird gedeutet, auf den inkarnierten Logos, der unter andern Impulsen auch den hat, zu überwinden jeden Speziallogos, alles das, was von der Menschennatur aufsteigt in dem menschlichen Kehlkopf, in dem Worterzeuger, und durch den Worterzeuger den Menschen spaltet über die Erde hin. So, wie die alten Götter die andern Kräfte zu über­winden hatten, so hat die Kraft des Logos zu überwinden die Spezialkräfte, welche mit der Entwickelung des Wortes, das heißt der Sprache zusammenhängen. Es kam denjenigen Menschen, die viel weiter im Augenblicke waren als die späteren, die den Christus-Impuls charak­terisierten, nicht auf ein Wort an, und wenn sie ein Wort anwendeten, so wendeten sie es an mit einem ganz bestimmten Ziel. Daß der Schreiber des Johannes-Evangeliums just das Wort «Wort» gebraucht hat, das war mit diesem Ziele getan, das ich eben jetzt charakterisiert habe.

Alle diese Dinge hängen mit der Entwickelung der Menschheit innig zusammen, denn die Entwickelung der Menschheit muß eben aus ihren tieferen Kräften heraus erkannt werden. Das ist schon ein­mal die Aufgabe der Gegenwart. Deshalb wollen wir solche Dinge, die in dieser bedeutsamen Weise zusammenhängen mit jenem großen Umschwunge, der zur Zeit des Mysteriums von Golgatha inauguriert worden ist für die Menschheit, der manche spätere Umschwünge, kleinere Umschwünge in der Folge gehabt hat, vorzüglich jetzt betrachten.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 26. Dezember 1917

Gestern bemühte ich mich zu zeigen, wie die Entwickelung im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit herein in der Tat diesen Lauf genommen hat, das Wissen, die Erkenntnis der übersinnlichen Im­pulse in der Weltentwickelung immer mehr und mehr auszumerzen. Ich versuchte dies an dem Beispiele zu zeigen, das gerade für uns von besonderer Wichtigkeit sein kann, an der Verkennung der Mysterien. Wir haben gesehen, wie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Grunde genommen vorhanden war ein deutliches Bewußtsein davon, daß hinter der Welt der sinnlichen Dinge, namentlich derjenigen Wesen­heiten, die der Mensch mit seinem gewöhnlichen, für den Alltags­gebrauch gerichteten Verstand erreichen kann, daß hinter dieser sinn­lichen Wesenheit eine übersinnliche Wesenheit ist; und daß es not­wendig ist - davon hatte man ein Bewußtsein bis zum Ende des 18. Jahrhunderts -, die Menschenseele in irgendeine unmittelbare Ver­bindung zu bringen mit dieser übersinnlichen Welt.

Ich habe auf den großen Gegensatz hingewiesen, der besteht zwi­schen einer Vorstellungsweise wie der von Saint-Martin und der von Dupuis. Bei Saint-Martin findet man noch ein Bewußtsein alter Mysterienwahrheiten, was möglich war dadurch, daß er in einem ge­wissen Sinne ein Schüler und Nachfolger Jakob Böhmes war. Bei Saint-Martin, dessen Vorstellungsart noch im 18. Jahrhundert großen Einfluß hatte, finden wir also die untergehende Seite des Bewußtseins des 18. Jahrhunderts. Bei Dupuis finden wir die aufgehende Seite, die Seite des Vorstellungswesens des 18. Jahrhunderts, welche überzeugt ist davon, daß alles dasjenige, was Mysterienoffenbarung war, im Grunde genommen auf Irrtum oder auf Betrug beruhe, und daß der Mensch nur dann ein wirklich aufgeklärtes Wesen ist, wenn er alles das abtut, was mit diesen Mysterienwahrheiten zusammenhängt, wenn er sich darauf beschränkt, eine Wissenschaft zu begründen, welche rein auf die Sinneswelt gebaut ist und auf den von dieser Sinneswelt abhängigen Verstand. Wir sagten, daß im Gegensatze zu dem Materialismus,

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der dann im 19. Jahrhundert begründet worden ist, der im Grunde genommen ein philiströser Materialismus ist, der Materia­lismus Dupuis' noch etwas hat von Größe, von Unbefangenheit, von Nichtphilistrosität.

In gewissem Sinne stand dann die ganze Entwickelung des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Zeit hinein unter dem Einflusse dieser Abweisung alles Übersinnlichen. Denn, was versucht worden ist von der einen oder andern Seite hineinzutragen an Zusammenhängen der Menschenseele mit dem Übersinnlichen, das ist entweder beschränkt geblieben auf engste Kreise, oder aber es waren immer Versuche mit veralteten oder sonstigen unzulänglichen Mitteln. Das 19. Jahrhundert mußte eben einen gewissen Fonds rein materialistischer Wahrheiten ausbilden, mußte diesen Fonds rein materialistischer Anschauungen, Empfindungen, Willensimpulse sammeln. Und der Mensch der Gegen­wart hat nun einmal die Aufgabe, dieses sich klarzumachen, um daraus die notwendige Folgerung zu ziehen: Der Zusammenhang rein mate­rialistischer Anschauungen mit dem, wozu diese Anschauungen ge­führt haben, lehrt, daß wiederum der Weg genommen werden muß von rein materialistischem Anschauen - oder man könnte auch sagen von rein verstandesmäßigem Anschauen - zu spirituellem An­schauen.

Wenn man in dem Sinne, in dem gestern davon gesprochen worden ist, den Grundnerv des alten Mysterienwesens vergleicht mit dem, was nun spirituelle Wissenschaft sein muß, so kann man sagen, diese alte Mysterienweisheit hatte vorzüglich die Menschheit davor zu be­hüten, gewisse Kräfte, von denen wir gestern gesprochen haben, im Sinne einer verderblichen magischen Verrichtungsweise zu gebrau­chen. Und wir haben ja auch schon erwähnt, daß im Gegensatze dazu die spirituelle Weisheit der neueren Zeit die Aufgabe hat, die Mensch­heit gerade aufmerksam darauf zu machen, wie die Verbindung ge­wisser Gesinnungen mit dem schon einmal für die neuere Zeit not­wendigen materiellen Wissen in ähnlicher Weise dem Menschenheile schädliche Kräfte hervorrufen muß, wie nach einer andern Seite da­mals jene Kräfte, von denen gestern gesprochen worden ist. Ich sagte, daß es nun schon einmal ein inneres Weltengesetz ist, daß, wenn jene

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Gedanken, die notwendig die Gedanken der neueren Zeit sein müssen, die Gedanken der physikalischen, der chemischen, der national­ökonomischen Wirksamkeiten im Sinne der neueren Zeit, der inter­nationalen Finanzgebarung und so weiter, wenn die Gedanken, die auf dieses alles verwendet werden und verwendet werden müssen über die ganze Erde hin in gleicher Weise, sich in den Menschenseelen ver­binden mit rein nationaler Gesinnung, mit nationalem Empfinden, daß dann durch die Verbindung des National-Gesinntseins, des natio­nalen Pathos könnten wir auch sagen, mit den internationalen Ge­danken der Physik, der Chemie, der Nationalökonomie, des inter­nationalen kommerziellen Elementes, der Finanzgebarung und so weiter, ahrimanische Elementarwesen entstehen. Und diese Elementar­wesen ahrimanischer Art müssen immer mehr und mehr die Menschen hineintreiben in Dinge, welche notwendig entgegenwirken müssen der heilsamen Entwickelung des Menschengeschlechtes in den letzten drei Kulturperioden, die die Erde noch zu absolvieren hat.

Im rechten Sinne wird man das Mysterium von Golgatha sehen, wenn man in ihm dasjenige erkennt, was notwendigerweise aus­gleichen muß die schädliche Kraft, die von der eben bezeichneten Seite her kommt. Alles, was das Mysterium von Golgatha bewirken kann, wirkt dem entgegen, was von den eben charakterisierten Kräften kommt. Die eben charakterisierten Kräfte können nicht anders in der richtigen Art paralysiert werden, als durch ein verständnisvolles Sich-Hingeben an das Mysterium von Golgatha. Das bloße Erzählen, daß im Beginne unserer Zeitrechnung dieses Mysterium von Gol­gatha stattgefunden hat, das bloße Nachreden des Evangeliums, so wie man das Evangelium nun einmal in den gebräuchlichen Kirchen auslegt, das tut es nicht; denn das würde voraussetzen das Vorurteil, daß nur im Beginne unserer Zeitrechnung eine Offenbarung möglich war. Aber die Offenbarung dauert fort. Der Christus Jesus ist immer da. Und diese Gesinnung, die den Christus Jesus als einen fortdauernd Gegenwärtigen erkennt, ist diejenige christliche Gesinnung, die durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gewonnen wer­den kann. Aber das effordert, daß man sich mit den einzelnen wirk­lichen Impulsen bekanntmacht, die mit dem Mysterium von Golgatha

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zusammenhängen, daß man dasjenige erkennen lernt, was im besonderen hinter dem Mysterium von Golgatha steckt.

Auf eine solche Wahrheit habe ich schon aufmerksam gemacht, daß dasjenige, was der Mensch unternimmt, nicht insoweit sein individuelles, persönliches Karma in Betracht kommt, sondern was er unternimmt im Zusammenhange des sozialen, sittlichen, geschicht­lichen Wirkens, einer gewissen Gesetzmäßigkeit im historischen Werde­gang unterliegt; daß das, was in einem bestimmten Jahre geschieht, gewissermaßen, wenn es als Gedanke entspringt aus dem Men­schen, den Weihnachtscharakter hat und nach dreiunddreißig Jahren den Ostercharakter hat. Das bezieht sich auf die Wirkung unserer Handlungen im sozialen Zusammenhang, wie gesagt, nicht auf das persönliche Karma. Wenn ich ein Paar Schuhe fabriziere, so liegt in dem Fabrizieren dieses Paares Schuhe selbstverständlich etwas, was gewissermaßen zurückstrahlt auf mein persönliches Karma. Das ist eine Strömung für sich. Aber ich mache dem andern ein Paar Schuhe; da wirke ich schon sozial. Das ist ein sehr elementarer Vor­gang. Von diesem Elementarvorgang bis hinauf zu den großen politi­schen und sozialen Maßnahmen ist ein weiter Weg, aber alles, was auf diesem Wege liegt, gehört in das Gebiet des also nach dreiunddreißig Jahren recht wirksam Werdenden. Und dann, wenn gewissermaßen ein solcher Keim, der gelegt worden ist, ausgereift ist, dann wirkt er weiter. Eine Menschengeneration von dreiunddreißig Jahren reift einen Gedankenkeim, einen Tatenkeim aus. Ist er dann ausgereift, so wirkt er durch sechsundsechzig Jahre weiter noch im geschichtlichen Werden. Man erkennt die Intensität eines Impulses, den der Mensch ins geschichtliche Werden hineinlegt, auch in seiner Wirksamkeit durch drei Generationen, durch ein ganzes Jahrhundert hindurch.

Die Festlegung der beiden Grenz-Feste des Christentums, des Weihnachtsfestes und des Osterfestes, ist sehr sinnvoll vorgenommen wor­den. Das Weihnachtsfest ist ein sogenanntes unbewegliches Fest; es fällt einfach ungefähr auf die Wintersonnenwende. Das Osterfest ist ein bewegliches Fest. Das Weihnachtsfest ist festgelegt, weil es der Ausdruck ist, wie wir wissen, für eine ganz bestimmte kosmische Tat­sache. Diese kosmische Tatsache kann man sich nicht oft genug vor

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die Seele rufen. Es ist ja ein Vorurteil, daß unsere Erde dasjenige ist, was die Geologie, die Physik, die Mineralogie, Geophysik und so weiter anerkennen wollen. Unsere Erde ist ein mächtiger Geistorganis­mus. Wir leben in der Tat nicht bloß auf einer mineralischen Erde, die von einem Luftkreise umgeben ist. Wir leben innerhalb des mächtigen Geistorganismus Erde, und dieser Geistorganismus hat in gewisser Beziehung ein auf- und absteigendes Leben. Dieser Geistorganismus schläft im Sommer. Er hat seinen tiefsten Schlaf dann, wenn das Sommersolstitium eingetreten ist, zur Zeit der längsten Tage und kürzesten Nächte für uns. Beim Menschen richtet sich der Schlaf nur nach der Zeit; bei der Erde richtet sich der Schlaf auch nach dem Orte. Die Orte schlafen verschieden; doch das ist nur zu berühren. Im Winter hat die Erde ihre eigentliche Wachezeit. Da ist das, was man den Intellekt der Erde nennen kann, am allertätigsten. Daran zu erinnern, daß, wenn die kürzesten Tage, die längsten Nächte da sind, dann die Erde am wachsten ist für den Ort, wo das zutrifft, daran zu erinnern ist der tiefere Sinn des Weihnachtsfestes. Suchen soll der­jenige, der das Weihnachtsfest anerkennt, den Erdenintellekt, wie er in den Tiefen der Erde gefunden werden kann, so wie das Christkind verborgen im Stalle gefunden wird, oder in einer Höhle, oder in einer Grotte, je nach den verschiedenen Anschauungen. Ein unbewegliches Fest ist dieses Weihnachtsfest.

Ein bewegliches Fest, festgelegt nach dem Stande von Sonne und Mond, ist das Osterfest. Damit ist das Osterfest zum Sinnbilde ge­macht von Vorgängen im außerirdischen Kosmos. Das Osterfest ist gewissermaßen ein geistiges, ein himmlisches Fest. Materialistisch den­kende Menschen - ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht - haben ja ihren Ansturm geltend gemacht gegen das Bewegliche des Oster­festes, weil in die Philisterordnung des 19. und 20. Jahrhunderts diese Beweglichkeit des Osterfestes Unordnung hineingebracht hätte. Ich habe selber viele Diskussionen mitgemacht, die besonders von Astro­nomen gepflogen worden sind, in denen immer wieder und wiederum erörtert worden ist, daß das Osterfest rein pedantisch schematisch an irgendeinem Tage, zum Beispiel dem ersten Sonntag im April wenig­stens, damit es nicht ganz so beweglich sei, festgelegt werde. Es sind

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selbstverständlich viele Gründe vom Gesichtspunkte des 19. Jahr-hunderts aus für diese Unbeweglichkeit des Osterfestes anzusetzen. Man denke sich nur, daß ja die Beweglichkeit des Osterfestes ganz im Sinne des Weltenbuches, des Neuen Testaments ist, wenigstens im Sinne des Geistes des Neuen Testaments.

Aber im 19. Jahrhundert, vorbereitend früher auch, ist ja ein anderes Buch wichtiger geworden, viel, viel wichtiger geworden als das Evan­gelium. Die Leute geben es zwar nicht immer zu, daß ein anderes Buch viel wichtiger geworden ist als das Evangelium, allein es ist doch so. Das Buch, das im 19. Jahrhundert viel wichtiger geworden ist als das Evangelium, das ist das Buch, auf dessen erster Seite steht: Mit Gott. - Aber es stehen bloß die ungöttlichsten Sachen selbstverständ­lich immer darinnen, es stehen bloß die Zahlen unter der Rubrik Soll und Haben darinnen. Das ist das kaufmännische Kontobuch, das auf der ersten Seite, wenigstens so viel mir bekannt ist, immer die Auf­schrift «Mit Gott» trägt, aber so eingerichtet ist, wie eben erwähnt. Dieses Buch kommt natürlich sehr in Unordnung, wenn jedes Jahr das Osterfest an einem andern Tag liegt. Es würde viel leichter in Ordnung zu halten sein, wenn das Osterfest auch ein festgelegtes Fest wäre. Daher hat man solche Vorschläge gemacht. Dieser Vorschlag ist nichts anderes als der Ansturm des Materialismus gegen ein äußeres letztes Bollwerk des Spiritualismus, das Einrichten des Osterfestes nach der Himmelskonstellation von Sonne und Mond.

Es liegt aber noch ein tieferer Sinn darinnen, die Zeit von Weih­nachten zu Ostern für die einzelnen Jahre verschieden zu machen. Wir wissen ja, daß das Weihnachtsfest eigentlich zusammengehört mit dem Osterfest, das dreiunddreißig Jahre später liegt. Diese Zeit ist allerdings, insofern sie die Zeit ist für die Auswirkung weltgeschicht­licher Keime, fest. Aber etwas anderes ist nicht fest und das ist das Folgende: Es geschehen gewisse Impulse - nennen wir sie Weih­nachtsimpulse - in einem bestimmten Jahre, andere im nächsten Jahre, andere im weiteren nächsten Jahre und so weiter. Die aufeinander­folgenden Weihnachtsimpulse sind keineswegs von gleicher Stärke im geschichtlichen Werden, sondern die einen wirken stärker, die andern wirken schwächer. Es kann zum Beispiel sein, daß in einem

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bestimmten Jahre die Impulse, die gelegt werden, von geringerer Durchschlagskraft in den nächsten dreiunddreißig Jahren sind als die Impulse des nächsten Jahres für die nächsten dreiunddreißig Jahre und so weiter. Dies wird angedeutet dadurch, daß die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern länger oder kürzer ist. Also auch diese Be­weglichkeit des Osterfestes weist auf etwas hin, was der Mensch gar wohl studieren soll, wenn er wirklich verstehen will, wie die Ereig­nisse im geschichtlichen Werden wirken.

Sie können die Frage aufwerfen: Ja, wie soll denn der Mensch einen Begriff davon bekommen, wie stark seine Impulse wirken in die näch­sten dreiunddreißig Jahre hinein? Soll er denn überhaupt einen Begriff davon bekommen, ob seine Impulse im günstigen oder im ungünsti­gen Sinne wirken? - Gewiß, die Antwort auf eine solche Frage ist der heutigen Zeit ungeheuer schwer, denn die heutige Zeit leidet eben an der Abstraktheit wie an einer furchtbaren, schleichenden Krank­heit. Die heutige Zeit will nichts anderes, als mit ein paar abstrakten Begriffen womöglich das ganze Weltenall verstehen. Diese Zeit will so fern wie möglich sein von einem Auffassen der Ereignisse mit dem vollen, ganzen Menschenwesen; diese Zeit will so entfernt wie mög­lich sein von einem wirklichen Miterleben der Zeit und der Zeitenströmungen. Natürlich, wenn man als Himmelswissenschaft nichts anderes gelten läßt als dasjenige, was die heutigen Astronomen mit ganz abstrakter Mathematik berechnen, dann kann man unmöglich Herz und Sinn für dieses mit abstrakter Mathematik Berechnete aufbringen. Aber das muß eben die Menschheit wiederum entwickeln. Die Menschheit muß wirklich nicht nur ihren Verstand mitgeben, wenn sie irgend etwas tut, sondern sie muß mit jeder Tat, die verrichtet wird, und sei sie die alltäglichste, das Herzblut verbunden wissen. Das kann geschehen, wenn man es aufrichtig und ehrlich meinen will mit der Geisteswissenschaft, mit dem, was Geisteswissen­schaft ist und was sie sein kann. Wenn der Mensch allerdings mit dem­jenigen, was über den engsten Kreis seiner egoistischen oder Familieninteressen hinausgeht, nur durch den abstrakten Verstand verbunden sein will, dann wird er den Weg nur schwer finden, das Herzblut zu verbinden mit dem, was man will und tut. Aber eben, gerade dazu ist

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Geisteswissenschaft so recht berufen, den Horizont der Seele zu er­weitern, über weiteres den Interessenkreis auszuspannen, als er gerade unter dem Einflusse der materialistischen Abstraktheit des 19. Jahrhunderts ausgespannt worden ist.

Was die Menschheit braucht, ist eben diese Erweiterung des Interessenkreises. Die kann nur dadurch erworben werden, daß die Men­schenseele sich immer wieder und wieder durchdringt mit der Er­kenntnis, die heute erweitert werden kann - wie wir gerade durch diese Betrachtungen jetzt schon seit Wochen her gesehen haben - über die Grenze hinaus, welche gezogen ist durch die Sinne und durch den Verstand, der an die Sinne gebunden ist, und durch das Leben zwischen der Geburt und dem Tode: über diese Grenze hinaus, hinein in das All, das wir, in der Weise wie wir es charakterisiert haben, gemeinschaftlich haben mit den Menschenseelen, die sich in dem Gebiete zwischen dem Tod und einer neuen Geburt befinden. Man kann diese Menschenseele nur ganz kennenlernen, wenn man auch diese ihre andere Seite kennenlernt, die sie zu durchleben hat zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Gedanken über das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt lagen allerdings der philiströsen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts so ferne wie nur irgend möglich. Dieses Zeitalter glaubte das Heil nur darinnen sehen zu müssen, in kombinierendem Verstande das zusammen­zufassen, was die Sinne darbieten.

Geisteswissenschaft steht von diesem Gesichtspunkte aus allerdings im schärfsten Gegensatz zu dem, was das Ideal des 19. Jahrhunderts war. Geisteswissenschaft muß ebenso energisch die Hinlenkung der menschlichen Seele zum Geist betonen, wie das 19. Jahrhundert die Ablenkung der menschlichen Seele vom Geist betont hat. Und ich habe ja im Verlauf dieser Tage schon darauf aufmerksam gemacht, wie die zwei Grundsäulen der christlichen Weltauffassung - die un­befleckte Geburt des Christus Jesus und die Auferstehung des Christus Jesus - dem naturwissenschaftlichen Zeitalter nur ein Unsinn sein können. Dafür aber allerdings muß gerade Geisteswissenschaft sich zu diesen zwei Grundsäulen der christlichen Weltauffassung wiederum hinwenden.

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Die katholische Kirche hat sich eine gewisse Redeweise angewöhnt, durch die sie hinwegführt über manche gewichtige Probleme, die eigent­lich im Schoße ihrer Entwickelung liegen. Die katholische Theologie spricht natürlich auch zum Beispiel von der «unbefleckten Empfäng­nis Mariä», aber sie wird sich nicht darauf einlassen, solche geistigen Kräfte der Seele zu suchen, wodurch diese Tatsache der unbefleckten Empfängnis Mariä begreiflich werden könnte. Wenn man sich an die aufgeklärten Theologen der katholischen Kirche wendet mit Bezug auf das Dogma von der «Conceptio immaculata», so wird man nicht eine Diskussion erwarten dürfen, wie sie wiederum in Fluß kommen muß durch die Geisteswissenschaft, sondern dann wird man etwa das Folgende hören: Man habe sich zu erheben von der Vorstellung des Weibes Maria zu dem, was eigentlich das Weib Maria geworden ist im Laufe der Entwickelung, zu der Kirche. Die Kirche ist eigentlich die Repräsentanz der jungfräulichen Maria. - Dann aber gebiert diese jungfräuliche Maria, diese Kirche, selbstverständlich auch immerwährend den Christus. Sie muß immerwährend durch den Heiligen Geist den Christus empfangen, das heißt, sie steht unter fortwährender Inspiration des Heiligen Geistes, und was sie zu offenbaren hat, ist das Wort, der Logos. Das ist auch durchaus richtiger katholischer Glaube. Der inspirierende Heilige Geist entfacht in der katholischen Kirche dasjenige, was das fortlaufende Wort ist, was im Anfange da war und was durch die Kirche, die jungfräuliche Mutter, fortwährend geboren wird.

Dies ist durchaus geläufige katholisch-theologische Vorstellung. Sie werden sagen, man höre nicht viel reden von dieser Vorstellung. Es war auch gut für das 19. Jahrhundert, daß nicht viel geredet wurde davon. Aber um so wirksamer war diese Vorstellung bei all den­jenigen, die noch entzogen werden konnten den Impulsen des Materia­lismus. Die drei: inspirierender Geist, jungfräuliche Mutter und der Logos oder das Wort, sie sind freilich durchaus festzuhalten; sie müssen auch gesucht werden durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. In imaginativer Weise versuchte ich in diesen Tagen bei der Besprechung des Übergangs von den alten Mysterien zu den neuen Mysterien auf diese Dinge hinzuweisen. Ich sagte, das

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Altertum mit seinen Mysterien ist nur so weit gekommen, daß in der Pallas Athene die jungfräuliche Weisheit verehrt werden konnte. In der Pallas Athene hat man auch solch eine jungfräuliche Persönlich­keit; aber diese Weisheit gebiert innerhalb der alten Zeit nicht den Logos.

Das ist gerade das Charakteristische, daß zum Beispiel das Griechen­tum bei der jungfräulichen Weisheit stehenbleibt, daß aber die neuere Zeit übergeht zu dem Sohne der jungfräulichen Weisheit, zu dem Logos, der auf dem physischen Plane durch seine Repräsentanz existiert: das menschliche Wort, die menschliche Sprache. Denn diese menschliche Sprache darf durchaus in ihrem Zusammenhange mit der Weisheit betrachtet werden. Die Weisheit im irdischen Menschen­leben lebt sich eben aus durch das menschliche Denken. Die Luft, die durch unseren Kehlkopf ausgeatmet wird, diese durch unseren Kehl­kopf und seine Bewegungen konfigurierte Luft wird vermählt mit der Weisheit, die in unseren Gedanken liegt. Und dasjenige, was wir aus­zudrücken haben, der Inhalt, der ist der inspirierende Geist. Jedesmal, wenn Sie sprechen, so profan auch der Impuls Ihres Sprechens sein mag, haben Sie ausgedrückt den irdischen Repräsentanten der Drei­faltigkeit: den Gedanken in Ihrem Kopfe, die konfigurierte Luft, die durch Ihren Kehlkopf streicht, die vermählt werden, verbunden wer­den unter dem Einfluß des Geistes, also für das Aussprechen von der sinnlichen Welt durch die Wahrnehmung. Das ist die irdische Repräsentanz der Dreifaltigkeit.

Dasjenige, was dahinter zu stehen hat, das ist die göttliche, die geistige Dreifaltigkeit, das ist die umfassende Weisheit, die zur Lehre wird für die Menschheit und die den Weltinhalt ausdrückt. Anthropo­sophisch orientierte Geisteswissenschaft kann sich allerdings nicht zu einer irdischen Institution bekennen, denn eine irdische Institu­tion würde mit ihren Ansprüchen bloße Machtansprüche entfalten. Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nimmt die jung­fräuliche Weltenweisheit ernst. Wenn man denkt im Sinne der anthro­posophisch orientierten Geisteswissenschaft, sieht man in dem, was der Inhalt ist des von dieser Wissenschaft Vorgebrachten, nicht bloß eine Summe von Abstraktionen, eine Summe von abstrakten Vorstellungen,

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sondern ein Lebendiges, das uns erfüllt, das uns wirklich auch in der Seele mit Impulsen erfüllen kann und das dann zum Worte, zur Lehre wird; nicht nur im schulmäßigen Sinne, sondern in dem Sinne, daß diese geisteswissenschaftliche Weisheit sozial dienlich wird, wie das Wort sozial dienlich wird, der ausgedrückte Inhalt, der dann aus übersinnlichen Welten in die sinnliche Welt eingeführt wird, der unse­ren Impulsen dadurch zugrunde liegt; das ist der inspirierende Geist.

Ich möchte sagen: Wir suchen die Pallas Athene, wir suchen die jungfräuliche Weisheit, die jungfräuliche Weisheit vom Kosmos. Aber wir suchen auch den Sohn, der von ihr stammt, der sich dadurch aus­drückt, daß in allem, was wir tun und wollen im sozialen Leben, diese Weisheit mitwirkt und uns dasjenige gibt, was die Richtung ausbildet für das, was wir wollen und tun. Dann drücken wir aus den Geist, und zwar den Heiligen Geist, der übersinnlich ist, in den sinnlichen Handlungen, die sich auf dem physischen Plane abspielen. Das aber läuft darauf hinaus, daß die Wissenschaft, welche im Sinne der Geistwissenschaft gesucht werden soll, in gewissem Sinne einen jungfräu­lichen Charakter tragen muß.

Vielleicht werden Sie fragen: Hat denn das nun überhaupt einen Sinn? Ist das nicht vielleicht eine bloße Rederei? - Es hat einen sehr bedeutsamen, einen wichtigen, einen gewaltigen Sinn. Es hat nämiich den folgenden Sinn: Der Mensch richtet seine Sinne nach der Außen­welt; das ist seine Aufgabe, dazu ist er in die Welt gesetzt. Was die Sinne als solche empfangen, das kann nur naiv und unschuldig sein; es empfangen es auch die Tiere, bei denen man von einem Sollen oder Nicht-Sollen nicht sprechen kann. Aber der Mensch muß weiter­gehen: er kombiniert über dasjenige, was er sieht, was er wahr­nimmt; er kombiniert. Was hat es mit diesem Kombinieren für eine Bewandtnis? Darauf antwortet heute schon die physische Wissen­schaft, nicht die Gelehrten der physischen Wissenschaft.

Der kombinierende Verstand, das, was der Mensch ausdenkt über die Eindrücke der Sinne, über die Wahrnehmungen, das ist etwas, was aus seinem eigenen Inneren, und zwar aus dem untergeordneten Inneren aufsteigt. Der Mensch ist eigentlich furchtbar stolz auf sein Gehirn, besonders auf die vorderen Partien. Aber vor einer wirklichen

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Wissenschaft sind die vorderen Partien dieses Gehirnes viel weniger wert als die weiter zurückliegenden Partien, denn diese vorde­ren Partien des Gehirnes sind im wesentlichen eigentlich doch nur das umgewandelte Geruchsorgan. Und im Sinne der physischen Wissen­schaft gescheit sein, heißt eigentlich: als Mensch die Geruchsnerven soweit umgebildet zu haben, daß gute Assoziationsnerven daraus ge­worden sind, die Werkzeuge sein können - wenn ich das Wort ge­brauchen darf - für das Kombinieren der sinnlichen Vorstellungen. Gescheit sein im Sinne des materialistischen Gescheitseins, heißt eigentlich, denjenigen Teil seines Gehirns gut umgebildet zu haben, der bei den niederen Wesen, den Tieren, der Nase angehört. Es heißt eigentlich nur, einen kombinierenden guten Spürsinn zu haben.

Diejenigen Menschen, welche in gesunder Weise so etwas zu empfinden, zu durchschauen vermochten, haben schon in der einen oder in der andern Weise auf solche Dinge hingewiesen. Denn denken Sie doch nur einmal, wenn man in einer gesunden Weise so etwas emp­findet und fühlt, so muß man doch eigentlich sagen: Für den physi­schen Plan scharfsinnig sein, heißt eigentlich, einen besonderen, ins Menschliche umgesetzten, ausgebildeten Geruchssinn zu haben, heißt eigentlich, die Dinge besonders beschnüffeln zu können in wirklichem Sinne; so daß in gewissem Sinne die physische, auf kombinatorischem Wege entstandene Wissenschaft das Ergebnis der menschlichen Schnüffelei auf dem physischen Plane ist, ganz im wörtlichen Sinne zu verstehen. Zu sagen, daß, was man durch solches Schnüffeln herausbekommt, allerlei Kombinationen über atomistisches Geschehen, aller­lei, was man herausbringt auf diesem Wege als chemische, physika­lische Gesetze und so weiter, zu sagen, daß das irgend etwas besonders Hohes ist, das geht sehr an der Wahrheit vorbei. Das ist nur das Ergebnis des ausgebildeten Geruchssinnes. Das bezeugt schon die physische Wissenschaft. Sie können dies aus der Physiologie und Anatomie lernen, was ich jetzt berührt habe. Nur reicht noch nicht der umgewandelte Nasensinn der Gelehrten aus, um auch diese Konse­quenz zu ziehen; so muß schon die Schnüffelei so weit noch getrie­ben werden, daß auch diese Folgerung, diese Konsequenz gezogen werden kann.

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Einer derjenigen, die in gesunder menschlicher Weise über diese Tatsache empfanden, ist Goethe. Und Goethe hat von diesem Ge­sichtspunkt aus etwas ungeheuer Bedeutsames gesagt. Goethe hat -ich habe das durch viele Jahre hindurch in der verschiedensten Weise dargestellt - eigentlich eine ganz andere Richtung der Naturforschung gefordert, als diejenige ist, die dann im 19. Jahrhundert und für unsere Zeit noch entstanden ist. Goethe wollte nämlich aus der Natur­forschung etwas ausgemerzt haben, was ja für das gewöhnliche Leben eine Berechtigung hat, aber aus der Forschung wollte er es ausgemerzt haben. Immer wieder und wiederum kommt er darauf zurück, dieses Bestimmte aus der Forschung auszumerzen. Das, was er ausmerzen wollte, das war nämlich das Kombinieren, das Interpretieren der Tat­sachen, die sinnlich wahrgenommen werden. Er wollte, daß nur die Tatsachen, die sinnlich wahrgenommen werden, ihrer eigenen Natur nach als Phänomene beschrieben werden; er wollte die sinnlichen Phänomene auf ihre Urphänomene zurückführen, aber nicht kombi­nieren mit dem Verstande: Was liegt da oder dort zugrunde? - Einen wunderschönen Ausspruch, der über die ganze Goethesche Welt­anschauung hinleuchtet, hat Goethe getan, indem er sagte: Die Bläue des Himmels ist selber schon Theorie, man suche nur nichts hinter ihr.

Das reine Anschauen, das ist dasjenige, was Goethe gesucht haben will. Und den Verstand wollte er nur dazu benützt haben, um die Phänomene so zusammenzustellen, daß sie selbst ihre Geheimnisse aussprechen. Goethe wollte eine hypothesenfreie, eine von Ver­standeskombination freie Naturforschung haben. Das liegt auch seiner Farbenlehre zugrunde. Man hat gar nicht verstanden, um was es sich bei diesen Dingen handelt. Denn Goethe wollte, daß der kombinie­rende Verstand sich zurückhalte von dem Kombinieren über Sinnes­wahrnehmungen, daß er einen andern Weg nehme. Goethe wollte mit andern Worten den menschlichen Verstand, den kombinierenden Verstand auch für die Naturforschung jungfräulich machen; er wollte ihm das Unkeusche, nur ein umgewandeltes Geruchsorgan zu sein, nehmen, das er im Grunde genommen dadurch hat, daß er den Sündenfall begangen hat. Denn der eine Teil des Sündenfalls ist der, den man in den alten Zeitraum verlegen kann, den ich Ihnen oftmals

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geschildert habe. Aber eine Folge dieses Sündenfalles ist, daß immer wieder und wiederum bei der Weiterentwickelung die menschlichen Organe gewissermaßen eine tiefere Lage bekamen, als sie haben sollten. Und so ist denn der kombinierende Verstand des Menschen, insofern er sich betätigt in der äußeren physischen Welt, dem Sünden­fall unterworfen.

Für die äußere physische Welt ist das ganz berechtigt. Dieser physische Verstand muß genau ebenso an die umgewandelten Geruchsorgane gebunden sein, wie für die äußere physische Welt die physische Sexualität und Fortpflanzung da sein muß. Aber in der Wissenschaft soll gesucht werden die Jungfräulichkeit des Verstandes. Losgerissen ist der Verstand von den Verrichtungen, die er vollzieht, wenn er als bloß umgewandelter Geruchssinn sinnliche Objekte kom­biniert. Die Bläue des Himmels soll nicht im Sinne der physischen Wissenschaft, im Sinne der Newtonschen Physik gedeutet werden, wie Sie es heute in jedem Physikbuch lesen können, sondern die Bläue des Himmels ist selbst Theorie im Sinne Goethes. Und Goethe richtig verstehen heißt auch auf diesem Gebiete, in ihm diejenige Persönlich­keit zu sehen, welche ganz in dem Geiste wirken wollte, der auch der Geist der Geisteswissenschaft ist. Bis in die Naturforschung hinein hat Goethe konsequent gedacht. Und indem er nur solche Theorien in der Naturwissenschaft gefordert hat, die bis zu dem Urphänomen gehen, die nicht allerlei Atomtheorien, Iontheorien, Elektrontheorien, Gravitationstheorien und so weiter kombinieren aus den Phänomenen, wies er in der Tat gerade auf physikalischem Gebiete auf dasjenige hin, was ich andeuten wollte, indem ich auf Pallas Athene als die Repräsen­tantin der Weisheit hinwies. Dadurch allein aber beginnt man schon auf dem Gebiete der Naturforschung sich zu dem Sohne hinzuwenden, daß man die Mutter entreißt der Kombinatorik und sich hinwendet zu der Anschauung des reinen, jungfräulichen Urphänomens.

Damit sehen Sie, welch tiefer Ernst, welche tiefe Bedeutung in dem eigentlich steckt, was Goetheanismus genannt werden kann. Ich wollte Ihnen damit nur eben andeuten, wie - unberücksichtigt von der all­gemeinen sogenannten Bildung - auch die Impulse nach der andern Seite im 19. Jahrhundert schon da waren. Dessen seien wir nur auch

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eingedenk. Dann werden wir die Forderungen der gegenwärtigen Zeit in richtigem Sinne deuten und werden die richtigen Impulse aus diesen Forderungen der Gegenwart schöpfen.

Wir leben in einer katastrophalen Zeit. Es wäre natürlich durchaus falsch, wenn man glauben wollte, daß dasjenige, was im Weihnachts­sinn katastrophal ist, auch im Ostersinn katastrophal sein müßte. Aus dem Katastrophalen von heute kann sich allerdings gerade das Um­gekehrte, das Größte des Menschenschaffens ergeben, wenn die Menschheit Mittel und Wege findet, um von dem zu lernen und mit geradem Sinne hinzuschauen auf dasjenige, was eingetreten ist.

Wenn ich solche Vorstellungen vorbringe, die vielleicht von manches Freundes Denken fernab liegen, so ist es, um immer wieder und wiederum auf die gewichtige Tatsache hinzuweisen, daß man in unserer Zeit sich bemühen muß, nicht in bequemer Weise mit den alten Begriffen und mit den alten Anschauungen zu arbeiten, sondern daß man in unserer Zeit streben muß nach neuen Begriffen, nach neuen Anschauungen.

Was liegt denn einer solchen Tendenz wie der Goetheschen eigentlich zugrunde: den kombinatorischen Verstand nicht zu verwenden auf das äußere Phänomen, sondern dieses in seiner Jungfränlichkeit anzuschauen? Dem liegt zugrunde, daß gerade, wenn man dies tut, wenn man nicht diesen Verstand in den Sündenfall kommen läßt durch allerlei Kombinationen über Atome und Atomgruppen und Atomzusammenhänge und Ione und Elektrone und Gravitation und so weiter, wenn man dem Verstande erspart, daß er sich vermischt mit der äußeren Sinnlichkeit, um materialistische Theorien zu bilden -, dann dieser Verstand nach der andern sich wendet, nach der spiri­tuellen Seite hin; und er gebiert den Sohn: die geisteswissenschaftliche Lehre, die zuletzt zum wirklichen Verständnis des Menschen, des ganzen Menschen führt. Das sagte ich ja in diesen Tagen: Nur bis zu einer gewissen Grenze führte die alte Weisheit, die Weisheit der mittleren Zeit, die Weisheit der vierten nachatlantischen Periode; der Mensch war gewissermaßen nicht mitbegriffen. Heute haben wir die Aufgabe, aus der Erfassung der geistigen Tatsachen heraus den Men­schen zu verstehen.

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Nach neuen Begriffen, nach neuen Ideen müßte eigentlich die Menschheit lechzen. Das muß man sich voll zum Bewußtsein bringen. Und wenn man heute fragt: Welche Gedanken werden denn die besten Weihnachtsgedanken sein? Welche werden nach dreiunddreißig Jahren die besten Früchte tragen? - Diejenigen werden es eben sein, die davon ausgehen, in ehrlicher und aufrichtiger Weise wirklich nach neuer Erfassung der Welt, nach neuer Erfassung der Wirklichkeit zu suchen. Sehnsucht entwickeln nach dem, was die Welt in neuem Sinne zu offenbaren hat, das sind die besten Weihnachtsgedanken; nicht stehenbleiben wollen bei demjenigen, was das Alte ist. Das ist ein heute noch durchgreifender Impuls der Menschheit: stehenzubleiben bei dem, was das Alte ist, weil sich die Menschheit so schwer aufraffen kann, das wirklich aus dem Innersten des Seelenwesens zu holen, was bekannt werden soll durch die Lippen. Der Mensch kann heute nur dann seine Aufgabe als Mensch recht er­füllen, wenn er den Willen entwickelt, bis zum Zentrum seines Wesens hinein echt und wahr zu sein, indem er nicht nur versucht, über die alten Dinge nachzudenken, sondern das Neue, das geholt werden muß aus den Tiefen des Wesens, zum Inhalte seines Bekenntnisses und auch seines Tuns macht.

Man braucht in dem gedankenlosen Nachsprechen nicht gleich so weit zu gehen wie jener Politiker, welcher, um eine große politische Manifestation im Jahre 1917 loszulassen, eine alte politische Annunzia­tion aus dem Jahre 1864 vornahm und sie fast wörtlich abschrieb! Da braucht man ja allerdings nicht viel zu denken, wenn man als maß­gebender Politiker von 1917 eine alte brasilianische Urkunde hernimmt und Satz für Satz abschreibt, um das der Welt als eine große Offenbarung hinzustellen! Man braucht, wie gesagt, nicht so weit zu gehen, wie dieser Woodrow Blechschmied - pardon, wollte sagen Wilson, der in der Tat es zustande gebracht hat, die «bedeutende Manifesta­tion», die er vor einiger Zeit erlassen hat, dadurch zu fabrizieren, daß er fast wörtlich eine Manifestation des Königs von Brasilien aus dem Jahre 1864 abgeschrieben hat.

Aber es ist notwendig, die Dinge, auch wenn sie solche klägliche Einzelheiten sind, in ihrer wahren Gestalt zu schauen. Denn man kann

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sagen: Man möchte vor Mitleid überfließen mit der armen Mensch­heit, die heute Dinge ernst nimmt, die im wahren Lichte gesehen eigentlich etwas Furchtbares darstellen an Unwahrhaftigkeit und an Verlogenheit, die durch die Welt gehen. - Das ist nicht gesagt, um irgendwie anzuklagen, nicht einmal, um zu kritisieren, sondern nur um den Sinn anzuregen, wirklich die Augen aufzumachen und mit offenen Augen dasjenige zu sehen, was geschieht. Zuweilen wird heute als etwas Großes dasjenige angebetet, was nicht mehr ist als lächerlich. Aber in diese Dinge muß eben hineingesehen werden. Entwickelt man den Willen zu solchem Hineinsehen, dann entwickelt man schon Weih­nachtsgedanken, welche die rechten Ostergedanken sein werden. Dann kann man vielleicht in einer etwas paradoxen Weise sogar sagen: Je leidvoller diese Gegenwart ist, desto größere Früchte kann sie für die Zukunft tragen. - Aber gerade eine solche Zeit wie die unsrige hat es nötig, daß sich nicht erfülle an ihr das dichterische Wort von dem Finden eines kleinen Geschlechtes von seiten einer großen Zeit.

Leidvoll ist unsere Zeit. Groß kann sie dennoch sein, aber sie muß in gewisser Beziehung Menschen finden, die auch groß denken können. - Die Wilsonianer werden es nicht sein!

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 29. Dezember 1917

Im christlichen Bewußtsein der Gegenwart sind noch - oder könnten wenigstens noch angesehen werden - zwei Pole, welche gewissermaßen die äußersten Enden der Weltanschauung darstellen: das Weih­nachtsgeheimnis und das Ostergeheimnis. Wenn Sie nur äußerlich zunächst vergleichend anschauen das Weihnachtsgeheimnis und das Ostergeheimnis, so kann Ihnen auffallen, daß das Weihnachtsgeheim­nis eigentlich das Geburtsgeheimnis ist. Es stellt dar die Geburt des Christus Jesus. Damit knüpft es an das Geburtsgeheimnis überhaupt an. Das Ostermysterium knüpft in ebensolcher Weise an das Todesgeheimnis an, indem es festlich sich anlehnt an den Tod des Christus Jesus. Geburt und Tod aber begrenzen ja das menschliche Leben, insofern es verläuft im physischen Leib. Und man kann in der Tat sagen, gegenüber dem, was dem Menschen vorliegt als Sichtbares seines Wesens, verschleiern ihm Geburt und Tod das Unsichtbare seines Wesens. Gewissermaßen sind auch Geburt und Tod die beiden Tore zur unsichtbaren Welt.

Dadurch, daß diese beiden Tore zur unsichtbaren Welt zur Grundlage des christlichen Jahres gemacht worden sind, indem in dieses christliche Jahr eben das Weihnachts- und das Osterfest hineingestellt werden, dadurch knüpft in der Tat die christliche Weltanschauung an das Mysterienwesen der ganzen Welt an. Denn, wo wir Umschau halten nach den Mysterien, unter den verschiedensten Völkern, auf den verschiedensten Gebieten der Erde, wir finden überall, daß die Mysterien entweder anknüpfen an das Geheimnis der Geburt oder an­knüpfen an das Geheimnis des Todes. Allerdings, so offen, daß die Anknüpfungen immer gleich sichtbar werden, liegt die Sache nicht vor, denn in mehr mittelbarer, indirekter Weise knüpften gewisse Mysterien - ich spreche jetzt natürlich nur von der nachatlantischen Zeit - an das Geburtsgeheimnis an. Es waren insbesondere diejenigen Mysterien, welche in den Mittelpunkt ihres Mysterienwesens das stellten, was die profane Welt das Heilige Feuer nennt. Aber dieses

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Heilige Feuer ist eben durchaus etwas anderes, als was die profane Welt verstehen kann.

Dieses Heilige Feuer ist eigentlich der Mensch, wie er als übersinn­licher Mensch dem sinnlichen Menschen zugrunde liegt. Das, was durch die Geburt heruntersteigt aus den geistigen Höhen, um sich auszugestalten in einem physischen Leibe, dieser unsichtbare Mensch, aber für das alte atavistische Hellsehen eben wahrnehmbare über­sinnliche Mensch, ist eigentlich dasjenige, was die profane Welt unter dem Heiligen Feuer, man könnte auch sagen, unter der Heiligen Wärme versteht, wenn sie das Symbolum dieses Menschen, das Feuer verehrt. Das ist dasjenige Mysterienwesen, welches also ausgeht von dem übersinnlichen Menschen, der dem sinnlichen Menschen zu­grunde liegt, so daß er durch die Geburt sich mit der sinnlichen Hülle umkleidet. Das ist das Mysterium, welches dann übergegangen ist in das Weihnachtsgeheimnis, das Mysterium, das also eigentlich das Mysterium der Geburt ist.

Noch verhüllter ist das andere Mysterienwesen, welches mit dem Geheimnis des Todes zusammenhängt. Denn dieses Mysterienwesen knüpft an das Licht an, so wie das andere an das Feuer anknüpft. Aber mit diesem Lichte ist etwas anderes gemeint, geradeso wie mit dem Feuer. Mit dem Licht ist gemeint das, was zu den Menschen spricht, wenn der nächtliche Sternenhimmel seine Lichtsprache zu den Men­schen sendet. Die Mysterien des Lichtes in alten Zeiten, in den Zeiten, bevor das Mysterium von Golgatha gekommen ist, waren eigentlich im Grunde alle astrologische Mysterien. Nur müssen wir uns wieder­um klarmachen, daß diese alte Astrologie nicht mit der abstrakten Mathematik betrieben worden ist, wie das heute geschieht, sondern mit atavistischer Hellseherkraft, daß der Mensch nicht bloß die mine­ralisch-physikalische Sternenwelt über sich beobachtete, sondern daß er in diesen ältesten Zeiten ein Organ hatte, die Geheimnisse der Sternenkonstellationen zu erschauen.

Insbesondere war es in diesen alten Zeiten eine gebräuchliche Kunst gewisser Mysterien, den Mond zu beobachten, wie er durch die ver­schiedenen Sternbilder des Tierkreises hindurch sich seine Stellungen schafft. Man wußte, wenn der Mond aus der Gegend her scheint, in

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der die Plejaden stehen, wenn der Mond aus der Stiergegend her scheint, so bedeutet das etwas anderes, als wenn der Mond aus einer andern Himmelsgegend her scheint. Und so brachte man auch die andern Planeten in ihren Konstellationen in das Bewußtsein des Men­schen herein, aber in ein anderes Bewußtsein als dasjenige, das für das materialistische Zeitalter noch geblieben ist, und man war sich klar darüber, daß mit dem, was sich da ausspricht durch die Sternenkonstellationen, zusammenhängt das Mysterium des menschlichen Todes.

In dem ganzen wechselnden Zusammensein der Fixsterne mit den Planeten sah man gewissermaßen den Ausdruck einer Sprache, welche sich der im Leibe Lebende von der Erde aus anhört, und welche der Tote von der andern Seite her vernimmt. Und so hatte man ein deut­liches Bewußtsein davon: Wenn man sich der Sternensprache hingibt, so lebt man in demjenigen Elemente, das den Menschen aufnimmt, wenn er durch die Pforte des Todes tritt. Die Geburt hat man in alten Zeiten gewissermaßen angesehen wie eine Art von Frage, und die alte Mystik, das Erleben des unsichtbaren, des übersinnlichen Menschen, sollte die Antwort auf diese Frage sein. Was die Sterne sprechen durch ihre Konstellationen, das hat man nicht als eine Tatsache angesehen, nicht als irgend etwas, das man so zusammenfaßt, wie man es heute zusammenfaßt, sondern die Sternenkonstellationen hat man eigentlich in älteren Zeiten, in den Zeiten der alten Mysterien, der Sternenmysterien, der Lichtmysterien, als Frage angesehen und den mensch­lichen Tod als die Antwort auf diese Frage. So, wie die Geburt zu­sammengebracht wurde mit dem übersinnlichen Menschen, so wurde der Tod zusammengebracht mit den Sternenkonstellationen. Da­her kann man auch die Mysterien des Feuers die Mysterien der Ge­burt, die Weihnachtsmysterien nennen; man kann die Mysterien des Lichtes oder die Sternenmysterien auch nennen die Ostermysterien, die Mysterien des Todes. Man kann sagen: Die Mysterien, die dann in das Weihnachtsgeheimnis übergegangen sind, liegen hauptsächlich zu­grunde alldem, was die Menschheit in den Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha in Indien, in Ägypten als Mysteriengeheimnisse gehabt hat. Dagegen in Chaldäa und Vorderasien war mehr der Boden

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für die Ostermysterien, war mehr der Boden für die Sternenwissenschaft.

Diese Sternenwissenschaft hat gerade in Vorderasien bei den sogenannten iranischen Völkern der dritten nachatlantischen Periode vorzugsweise ihre ganz besondere Ausbildung erfahren. Nur muß man sich eben vorstellen, daß in ältesten Zeiten ebenso auf der einen Seite eine genaue übersinnliche Anschauung vorhanden war von dem, was sich bei der Geburt mit dem physischen Leib umhüllt, wie auf der anderen Seite eine anschauliche Erkenntnis der Sternensprache vor­handen war. Wenn alte Sternkarten allerlei Wesen auf den Himmel zeichnen, um die Sterne zu verbinden, so sind das - und ich habe das schon öfter gesagt - nicht Ausflüsse der menschlichen Phantasie, son­dern es sind Abbildungen desjenigen, was das alte atavistische Be­wußtsein tatsächlich am Himmel gesehen hat. Denn dieses alte atavi­stische Bewußtsein hat wirklich den Menschen im ganzen Zusammen­hang gesehen mit dem Weltenall. Es hat dieses alte Bewußtsein tat­sächlich das in sich aufgenommen, daß der Kosmos ein Organismus ist, und daß man in diesem Organismus drinnen webt und lebt als Mensch.

Dieses Bewußtsein ist natürlich verlorengegangen. Es muß im Laufe des fünften nachatlantischen Zeitraumes von der Menschheit wiederum erworben werden, und zwar im wesentlichen dadurch, daß die beiden getrennten Strömungen der Sternenweisheit und der Mystik sich wiederum finden. In alten Zeiten konnten sie gewisser­maßen getrennt als zwei verschiedene Pole auftreten. In dieser unserer Zeit muß das Weihnachtsmysterium mit dem Ostermysterium ver­bunden werden können, die beiden müssen als die zwei Seiten eines Wesens gesehen werden können. Wenn wir uns zurückversetzen in Zeiten früherer menschlicher Erkenntnis, so finden wir ein deutliches Bewußtsein davon, daß nicht nur da droben am Himmel der Tierkreis zu finden ist, sondern daß auch der Mensch dieselbe Gesetzmäßigkeit in sich trägt, die zum Beispiel der Tierkreis, also im weitesten Um­fange die Fixsternwelt darstellt. Sie wissen ja, daß in älteren Zeiten nicht nur gewisse Orte am Himmel: Widder, Stier, Zwiffinge, Krebs, Löwe und so weiter genannt worden sind, sondern daß auch die

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menschliche Wesenheit gegliedert worden ist nach: Kopf als Widder, Hals als Stier, die beiden seitlichen symmetrischen Teile als Zwillinge, der Brustkorb als Krebs, das Herz als Löwe und so weiter, so daß der Mensch in der Tat mikrokosmisch die verschiedenen Orte in sich trägt, welche auch die Grundorte des Himmels sind. Diesen Zusam­menhang des Makrokosmos und Mikrokosmos betrachtete man als etwas Wichtiges und Wesentliches in alten Zeiten. Und wie der Mensch gewissermaßen den Fixsternhimmel in sich trug durch seinen Repräsentanten im Tierkreis, wurde er zum Beispiel auch so ange­sehen, daß man sagte: Wenn der Mensch sich seines Kehlkopfes be­dient zur Sprache, so tönt aus ihm derselbe Weltenstrom, welcher herabfließt aus dem Kosmos, wenn der Mond aus den Plejaden scheint. - Man fühlte die Verwandtschaft des Lichtes und desjenigen, was das Licht herabträgt, wenn der Mond aus der Plejadengegend her scheint, die Verwandtschaft dieses makrokosmischen Stromes mit dem, was aus dem Menschen kommt, wenn er sich seines Kehlkopfes bedient.

Ähnlich mit der Sonne. Ebenso fühlte man innerlich den Menschen durchdrungen von derselben Gesetzmäßigkeit, welche im Planetensystem wirkt. Nur war man sich bewußt, daß, während das Fixstern­system im Menschen entspricht fixen Stätten: der Widder dem Kopf, der Hals dem Stier und so weiter, während man also fixe Teile der menschlichen Wesenheit mit dem Fixsternhimmel zusammenbrachte, brachte man diejenigen Organe, welche im Menschen gewissermaßen das bewegliche Element darstellen, dasjenige, welches die Säfte durch den ganzen Organismus schickt, mit dem Planetensystem in einen richtigen Zusammenhang. So wie der Mensch gewissermaßen ein Fixsternhimmel ist, so trägt er auch ein Planetensystem in sich. Damit war für die ältesten Mysterien in der Tat eine enge Beziehung gedacht zwischen dem Menschen und dem ganzen Kosmos.

Nun müssen wir das Folgende bedenken, wenn wir die ganze Tragweite ins Auge fassen wollen. Im Menschen haben wir doch gewisser­maßen die Sternbilder als fixe Orte: Widder als Kopf, Stier als Hals und so weiter. Dadurch steht der Mensch in einer gewissen Beziehung, in einer individuellen, in einer ganz besonderen Beziehung zum Sternenhimmel. Denn nehmen Sie einmal an, ein Mensch ist heute

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in der Frühlingszeit geboren, wo die Sonne aufgeht in den Fischen, dann wirkt dasjenige, was ganz besonders bestimmt ist durch seine inneren Fixsterne: Fische. Das ist, Fische werden in Zusammenhang gebracht mit den Füßen, das heißt aber mit alledem, was der Mensch durch seine Füße erlebt. Es wird also der Mensch dadurch, daß er zur Frühlingszeit geboren ist, wenn die Sonne in den Fischen aufgebt am Morgen, gewissermaßen mit demjenigen Teil seines Wesens geboren, das gerade dieser Sonnenkonstellation entspricht. Wird er zu einer andern Jahreszeit geboren, so stimmt seine Konstellation mit der kosmischen Konstellation weniger zusammen.

Heute wird dieses Zusammenstimmen oder Nichtzusammenstim­men des Menschen nach gewissen Schemen bestimmt. In den alten Mysterien empfand man eine solche Sache sehr lebendig. Man emp­fand das eigentümliche Zusammentönen der menschlichen Konstella­tion nach der Geburt mit der Himmelskonstellation. Aber nun be­denken Sie, daß eine besondere Konstellation im Widderzeitalter gerade im Mysterium von Golgatha vorhanden war. Da war gewisser­maßen die ganze Menschheit mit dem Teil ihres Wesens, das gerade dem Kopf entspricht, zusammenstimmend mit der Widderkonstella­tion des Frühlings. Das war aber ein weiterer Grund, daß die Kenner der Mysterien in diesem eigentümlichen Zusammenstimmen der menschlichen Konstellation des Kopfes mit der Konstellation des Kosmos etwas ganz Besonderes empfanden. Durch den Kopf steht der Mensch nicht mit der Erde, sondern mit dem Kosmos in Be­ziehung; da ist er besonders geeignet, die Kräfte des Kosmos zu empfangen. Er streckt seinen Kopf, das heißt seinen Widder, in den Kosmos hinaus. Welche Konstellation muß also die günstigste sein von denen, die sein können in dem Zyklus von 25920 Jahren, in dem wir jetzt leben? Diejenige, in der die Widderkonstellation ist bei der aufgehenden Sonne im Frühling. - Kurz, ich will damit nur andeuten: man studierte die Art und Weise, wie der Mensch in seinem Wesen zusammenklang mit dem Makrokosmos. Und man studierte dieses insbesondere, weil man ein Bewußtsein davon hatte, was abhängig ist für das Erdengeschehen selber von diesem Zusammenklingen des Menschen mit dem Makrokosmos.

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Die Menschen kamen hinter die verschiedensten Geheimnisse dieser Sternenkonstellation und wußten immer, daß mit jedem Geheimnis einer Sternenkonstellation auch ein menschliches Geheimnis zusammenhängt. Sie haben gewissermaßen gesucht immer mehr aus­zudrücken, wie ein Sternengeheimnis mit einem inneren menschlichen Geheimnis zusammenhängt. Es ist merkwürdig, wie weit die Men­schen durch eine alte Wissenschaft in dieser Richtung gekommen sind. Das zeigt ja, was die Pyramiden lehren. Ganz roh die Pyramiden be­trachtet, zeigt schon, daß in diesen Pyramidenbauten allerlei Geheim­nisse stecken. Wenn man die Länge der vier Grundlinien, welche die Grundfläche der Pyramiden bilden, bei gewissen Pyramiden nimmt, sie mit der Höhe vergleicht, so entspricht das genau der Länge des Durchmessers eines Kreises zu dem Umfange, auf eine große Anzahl von Dezimalen.

Aber nicht nur so etwas, sondern es gibt gewisse Einteilungen in den Pyramiden, die den Einteilungen des Makrokosmos in bezug auf den Tierkreis entsprechen. Das Gewicht der Pyramiden - es ist ja nur annähernd berechnet worden - ist ein gewisser Teil des Erden-gewichtes. Gewisse Abmessungen an den Pyramiden, wenn man sie multipliziert mit einer Potenz von achtzehn, geben die Entfernung der Erde von der Sonne. Kurz, die Abmessungen der Pyramiden sind solche, daß sie nur stammen können aus einer intimen, wunderbaren Erkenntnis der Verhältnisse des Sternenhimmels. Diese Pyramidenbauten haben nicht eigentlich die Ägypter gemacht, sondern immer, wenn Eroberer aus iranischen Gegenden, aus Vorderasien nach Ägyp­ten gekommen sind, haben diese die Pyramidenbauten aufgeführt. Die Ägypter haben die Pyramiden erst bauen gelernt von solchen Völkern, welche Sternenmysterien gehabt haben, während die Ägypter selber nicht Sternenmysterien, sondern eine Art Weihnachtsmysterien gehabt haben.

Diese Betrachtung der Pyramiden hat im Laufe des 19. Jahrhunderts immerhin doch dazu geführt, daß einzelne Menschen, wie zum Beispiel Carus, gesagt haben: Einfach die Betrachtung der Pyramiden weist darauf hin, daß es in Urzeiten eine Wissenschaft gegeben hat, die ver­lorengegangen ist und deren Betrachtung geeignet ist, die Menschheit

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der Gegenwart schamrot werden zu lassen. - Das sind nicht meine Worte, sondern es sind Carus' Worte! Das glaubt der heutige Mensch ja wirklich recht wenig, daß es in Urzeiten der Menschheit eine auf etwas andere Art erworbene Wissenschaft gegeben hat, aber eben eine Wissenschaft, welche in tiefe Geheimnisse des Weltenalls hineinleuchten konnte. Und das Bedeutende ist nicht einmal bloß das, daß diese Mysterienweisen so weite Abmessungen des Weltenalls kannten, daß sie das Geheimnis in den Bau der Pyramiden hineingelegt haben, sondern das Bemerkenswerte ist eben doch etwas ganz anderes noch. Es war nicht ein abstraktes Wissen, das man von der Beziehung des Menschen zu dem Sternenkosmos hatte, sondern es war wirklich ein ganz konkretes Wissen, ein Wissen, durch das sich der Mensch drin­nenstehend erfühlte im Kosmos. Der Mensch wußte: er steht mit seinem Haupte, das er frei hinausrichtet in den Kosmos, in unmittel­barer Beziehung zum Fixsternhimmel. Alles dasjenige also, was der Mensch als die Geheimnisse seines Hauptes betrachtete, betrachteten diese Mysterienweisen als Geheimnisse des Fixsternhimmels. Das Haupt des Menschen wird in der Tat ausgebildet vom Fixsternhimmel. Es ist ja nur ein heutiges materialistisches Vorurteil, daß alles von den Vorfahren geerbt wird, daß alles aus dem Keime stamme. Der Keim selbst wird, insofern er Haupteskeim ist, in der menschlichen Mutter vom Fixsternhimmel ausgekraftet.

Wie der Mensch mit dem Fixsternhimmel nach seinem Haupte zusammenhängt, wie das Haupt ein Abbild des Fixsternhimmels ist -von einem andern Gesichtspunkte können Sie darüber nachlesen in meiner kleinen Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», wo ich die Sache auch berührt habe -, so ist auf der andern Seite der übrige menschliche Organismus zugeteilt alldem, was mit dem Geheimnisse der Sonne zusammenhängt. So daß der Mensch eigentlich - das wußten die alten Mysterienweisen, welche Sternenmysterien, Ostermysterien pflegten - zwiefacher Natur nach dieser Richtung schon ist: sein Haupt ist dem Fixsternhimmel zugeteilt, der übrige Organismus mit dem Herzen als Mittelpunkte ist der Sonne zugeteilt.

Nun wußten diese alten Astronomen - oder nennen Sie sie meinetwillen

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Astrologen - auch noch etwas anderes. Sie wußten: Wenn man die Sterne beobachtet in ihrem Verhältnis zur Sonne, so bleibt die Sonne gegenüber den Fixsternbewegungen nach und nach immer etwas zurück; dadurch erscheint ja der Frühlingspunkt immer an einem andern Punkt, die Sonne bleibt immer etwas zurück. Scheinbar gehen die Sterne schneller als die Sonne in der Jahresbewegung. Das Merkwürdige - was aber für die alten Astronomen nicht etwas Merk­würdiges, sondern ein bedeutsames Mysterium war - ist, daß nach zweiundsiebzig Jahren die Fixsterne der Sonne in ihren Bewegungen gerade um einen Tag vorangeeilt sind, um einen Tag in zweiund­siebzig Jahren. Dieses, auf den Menschen übertragen - für die alten Astronomen hatte es Sinn, für die gescheiten Leute der Gegenwart ist es selbstverständlich Unsinn -, bedeutet, daß wir unter mancherlei anderem in uns selbst auch diese zwiespältige Fixstern- und Sonnennatur haben, daß wir mit unserem Haupte voraneilen unserem übrigen Organismus. Und wenn wir zweiundsiebzig Jahre gelebt haben, natür­lich sind die Dinge approximativ zu betrachten, dann ist unser Haupt um einen Sternentag unserem übrigen Organismus vorangegangen, und daher ist das menschliche Leben durchschnittlich, ich habe es von andern Gesichtspunkten aus auch schon erörtert, ein zweiundsiebzig­jähriges. Es kann natürlich viel länger sein, auch viel kürzer sein, aber durchschnittlich ein zweiundsiebzigjähriges. Das hängt zusam­men mit der Zwiespältigkeit des Lebensverlaufes im menschlichen Haupte und im menschlichen übrigen Organismus, die genau ent­spricht der Zwiespältigkeit der Bewegungen am Fixsternhimmel und der Sonne. So steht der Mensch drinnen als ein Mikrokosmos im Makrokosmos. In jenen alten Zeiten war man eben in der Lage, sich selber so im Makrokosmos drinnen zu fühlen, wie jetzt der kleine Finger sich am ganzen Organismus fühlt, also als ein Glied des Ganzen sich zu fühlen.

Und weil man dieses als das Wichtigste betrachtete, daraufzukommen, wie das menschliche Leben zusammenhängt mit dem Geheimnis der Sterne, so kamen insbesondere zusammen das Mysterium des Todes, das Ostermysterium, mit dem Sternenmysterium. Die christ­liche Weltanschauung hatte die Aufgabe, die beiden miteinander zu

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verknüpfen. Und in der Ausbildung der christlichen Weltanschauungen nach der konkreten Seite hin muß gewissermaßen das liegen, daß das Geburtsmysterium, das Weihnachtsmysterium, das Mysterium vom übersinnlichen Menschen nach der Geburtsseite hin, wiederum ver­knüpft wird mit dem Todes-, mit dem Ostermysterium, mit dem Mysterium des übersinnlichen Menschen nach der Todesseite hin.

Mit der Geburt befaßt sich dasjenige, was man heute vorzugsweise Wissenschaft nennt, mit dem Tode dasjenige, was man vorzugsweise Religion nennt. Der Religion von heute fehlt die Hinneigung zum übersinnlichen Menschen. Sonderbar gesagt, nicht wahr! Aber daß die Religion auch vom übersinnlichen Menschen spricht, ist kein Beweis, daß sie eine besondere Neigung hat, sich irgendwie mit dem übersinnlichen Menschen auch zu befassen. Mit dem übersinnlichen Menschen kann man sich nur befassen, wenn man anknüpft an das­jenige, was insbesondere empfunden worden ist in den Weihnachtsmysterien, wenn man anknüpft an die Geburt und durch die Geburt zur Präexistenz kommt. Daher haben die Geburtsmysterien auch vor­zugsweise die Präexistenz, das Vor-der-Geburt-Existieren des über­sinnlichen Menschen betont. Die andern Mysterien, die dann im Ostermysterium gipfelten, haben insbesondere die Postexistenz, die Existenz des Menschen über den Tod hinaus betont. Die Religionen haben sich dieser letzteren Seite mehr zugewendet. Aber sie haben die Wissenschaft, die damit in Verbindung steht, die Sternenweisheit, abgelehnt, so wie die Wissenschaft der heutigen Zeit selber, die sich ja mit der Abstammung befaßt, mit alledem, was zur Geburt gehört, abgelehnt hat dasjenige, was zum übersinnlichen Menschen, zum Er­leben des übersinnlichen Menschen, zur Mystik führt.

Und so ist die Wissenschaft, indem sie abgelehnt hat den übersinn­lichen Menschen, auf der einen Seite materialistisch geworden, und die Religion, indem sie es abgelehnt hat, den übersinnlichen Menschen zu betrachten, ist wissenschaftslos geworden. Beide stehen ohne Brücke nebeneinander in der Gegenwart. Und über nichts werden Menschen mehr aufgeregt - welche scheinbar die Religion vertreten, in Wahrheit aber nur mehr oder weniger ihre Pfründe verwalten wollen, die Menschen, die sich offizielle Vertreter der Religionsgemeinschaften

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nennen -, als wenn man von der Präexistenz der Seele, das heißt von dem übersinnlichen Menschen in Wirklichkeit redet.

Das alles, was ich sagte, war ja natürlich aphoristisch gemeint, aber es sollte hinweisen darauf, daß wieder gesucht werden muß eine Erweiterung des menschlichen Blickes über das unmittelbar in der physischen Welt Vorhandene hinaus. Und indem wir auf die beiden Mysterienrichtungen hingewiesen haben, eröffnen sich ja auch Aus-blicke auf die Richtungen, in denen die Sinnenwelt überschritten werden muß: Auf der einen Seite, indem wieder gesucht werden muß der innere Mensch, welcher in uns gefunden werden kann auf dem Wege, der beschrieben ist in dem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?». Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist diese, in der neuen Form zu suchen, was uns die Sterne sagen können. Das werden wir allerdings in der neuen Form nur finden, wenn wir dasjenige, was im Menschen selbst ist, wiederum in un­mittelbare Beziehung zu bringen vermögen zu dem Makrokosmos. Nach diesem ist solch ein Buch wie meine «Geheimwissenschaft im Umriß» konstruiert. Da ist wiederum gesucht, die Brücke zu schlagen zwischen dem Menschen und dem Makrokosmos, indem dasjenige, was im Menschen gefunden werden kann, die Evolution des Men­schen, angeknüpft ist an dasjenige im Makrokosmos, wozu diese Evolution gehört, indem bestimmte Entwickelungsstadien des Men­schen geknüpft sind an gewisse Vorgänge im Makrokosmos. Damit ist in unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ein Anfang genommen nach den beiden Richtungen hin: zu suchen so­wohl wiederum nach dem übersinnlichen Menschen wie nach den Geheimnissen des Makrokosmos.

Damit aber wird auch wiederum eine Brücke geschlagen zwischen Religion und Wissenschaft. Die Religion ist wissenschaftslos geworden. Das kann ja jeder, der es will, bemerken. Noch mehr kann man bemerken, daß die Wissenschaft der Gegenwart religionslos ge­worden ist, daß beide ganz unvermittelt nebeneinander stehen in der sogenannten Kultur unserer Zeit. Nur aus diesem Grunde konnten jene eigenartigen Irrtümer entstehen, die ich Ihnen durch diese Betrachrungen

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versuchte zu charakterisieren; jene Irrtümer, von denen ein besonderes Beispiel die scharfsinnigen Unternehmungen von Dupuis sind, der geglaubt hat, daß in den alten Mysterien, die er überhaupt für Betrug und Irrtum hält, nur um das Volk zu täuschen, ge­wisse Erzählungen erfunden worden sind, während man eigentlich nichts in Aussicht gehabt hätte als nur Bewegungen der Sterne. Dupuis macht eben nur den Fehler, daß er glaubt, dasselbe, was ein heutiger Astronom am Sternenhimmel sieht, habe auch der alte bloß gesehen. Aber der heutige Astronom sieht ja am Sternenhimmel dasselbe, was ein heutiger Anatom vom Menschen sieht; und so wenig der Leich­nam der Mensch ist, so wenig ist der Inhalt der heutigen Astronomie der Sternenhimmel.

Die naturwissenschaftliche Astronomie steht im Anfange. Sie hat es heute zu nicht weiteren Ergebnissen gebracht, als rein mechanisch-mathematisch zusammenzufassen dasjenige, was da draußen im Weltenall vor sich geht. Studieren Sie heute dasjenige, was Ihnen die Astronomie gibt: Sie können nur mathematisch-mechanische Ver­hältnisse finden, nur den Ausdruck einer großen Himmelsmaschinerie. Dagegen sucht der Naturforscher alles dasjenige, was hier auf der Erde vorgeht, mit Ausnahme der gröbsten physikalischen Vorgänge, auf der Erde selbst. Wenn irgendeine Pflanze entsteht, ein Tier geboren wird, ein Mensch geboren wird, so soll das alles auf Vererbung be­ruhen, weil selbstverständlich aus dem, was det heutige Astronom in den Sternen findet, man nicht irgendeine Anwendung auf den Men­schen machen kann. Aber die Tatsache liegt vor, daß fortwährend ein Wechselverhältnis besteht zwischen dem Sternenhimmel und der Erde, daß kein Keim, weder ein Pflanzen-, noch ein Tier-, noch ein Menschenkeim auf der Erde entsteht, ohne daß dieser Keim von dem ganzen Makrokosmos angelegt wird. Man muß schon festhalten: Was tut der heutige Naturforscher? Er hat hier die Henne und in dieser das Ei. Selbstverständlich stammt von diesem Ei eine neue Henne, wiederum ein Ei, daraus eine neue Henne. So geht er von Henne zu Henne hinauf. Während die Sache in Wahrheit so ist: Hier ist der Sternenhimmel, hier ist die Henne, und der ganze Sternenhimmel sendet seine Kräfte aus den verschiedenen Konstellationen in die

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Henne hinein, und der Keim in der Henne ist der Ausdruck des ge­samten Sternenhimmels.

Auf diese Weise sieht man, daß dasjenige, was heute Wissenschaft vom Himmel ist, was ja in einer gewissen großartigen Weise mit Kopernikus, Kepler, Galilei einen Anfang genommen hat, eben nur ein Anfang ist, und daß von da aus wiederum gewonnen werden muß ein Wissen, das jetzt nicht nur mechanischer Natur ist, das nicht nur von einer großen Himmelsmaschinerie handelt, sondern das gesamte Weltenall als Organismus, aber auch als Seele und Geist zu fassen imstande ist.

Man blickt da in einer merkwürdigen Weise in den Gang der Ent­wickelung zurück. Eine alte Wissenschaft, die schon da war - schamrot könnte sie die Menschen machen -, ist zugrunde gegangen. Man muß sich bewußt sein: Man lebt noch immer im Zeitalter der zu­grunde gegangenen Wissenschaft. Die ersten Wissenschaften sind in einer neuen Form angelegt; sie müssen ausgebildet werden. Dasjenige, was so bewundert wird von dem Fortschritt der Wissenschaft in den letzten vier Jahrhunderten, darf nur dann bewundert werden, wenn es als ein Anfang angesehen wird. Erst wenn die Brücke geschlagen sein wird von diesem Anfang zum Weihnachts- und Ostermysterium, wenigstens für die menschliche Empfindung, wird einiges getan sein.

Diesen Gedanken sollte man in seiner Seele so recht lebendig machen, denn er ist der Gedanke, der gewissermaßen allein dazu ge­eignet ist, seelisch den gegenwärtigen Menschen an das Weltenall anzuknüpfen: Jeglicher Keim ist an den Makrokosmos gebunden, auch die Geistkeime sind an den Makrokosmos gebunden. Und so bindet sich der Mensch an den Makrokosmos, wenn er versucht, eine makrokosmische Wissenschaft wenigstens in der Idee zunächst, in der Intention in seine Seele aufzunehmen. Es müßte in alle Zweige des Lebens hineingetragen werden dieses Bewußtsein von makrokosmi­schen Zusammenhängen des Menschen mit der Erde. Weit, weit ent­fernt ist im Grunde genommen die Gegenwart von einem solchen Bewußtsein. In dieser Beziehung ist ja die Gegenwart auch gewisser­maßen in einer umgekehrten Lage als eine gewisse Zeit der Ver­gangenheit. Man kann fragen: Wie konnte denn eigentlich ein Urwissen

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der Menschheit von so weittragender Art, daß die Gegenwart schamrot werden könnte, verlorengehen?

Nun, man braucht sich nicht sehr zu verwundern, daß es verlorengegangen ist. Man denke nur einmal daran, daß in der Menschheits­entwickelung ganz sicher das Positive mit dem Negativen zusammen­hängt. Wir haben ja oft gesprochen von dem Fortschritt, den die Menschheit gemacht hat durch das Verbreiten des Christentums. Aber vergessen wir nicht, daß die Ausbreitung des Christentums geknüpft ist als das Positive an die negative Seite, die Zertrümmerung einer alten Kultur. Man vergesse nicht, daß Zehntausende und aber Zehntausende von Werken der alten Kultur vernichtet wurden, wäh­rend das Christentum ausgebreitet worden ist, daß Tausende und aber Tausende Symbole, welche alte Weisheit fortgepflanzt hatten, ver­nichtet worden sind. Von jenem Zerstörungswerk, das seinen Ab­schluß gefunden hat im 3., 4. Jahrhundert der Zeitrechnung, davon macht man sich ja gegenwärtig nur wenig einen Begriff. Julian der Apostat wollte - es war nicht an der Zeit - noch ein wenig abhalten dieses Zerstörungswerk. Er konnte es nicht.

Was alles zugrunde gegangen ist in diesen Jahrhunderten, sollte schon auch von der Menschheit gewußt werden. Aber gerade an solchen Dingen kann man lernen, daß die sogenannte Evolution eben nichts Einfaches ist. Denken Sie einmal, es wäre das Christentum nicht als ein furchtbarer Vernichter und Zertrümmerer durch die Welt gezogen - die Menschheit hätte in ihrer alten Unfreiheit bleiben müssen. Denn die Erwerbung der Freiheit ist doch nur möglich durch jenen Impuls, der auch der Impuls des Mysteriums von Golgatha ist. Aber auf der anderen Seite darf die negative Seite nicht überhand­nehmen. Es gibt eine gewisse Gesinnung, welche sich mehr die negative Seite des Christentums bewahrt hat. Heute tritt diese Ge­sinnung in der Form auf, daß sie alles dasjenige, was zur Wiedereroberung der alten Weisheit auftritt, nun seelisch zerstören will. Dies dürfte nicht geschehen. Wenn heute immer wieder und wiederum vorgebracht wird, wo man nur kann, von sogenannten offiziellen Vertretern des Christentums: Ja, zu Christi Zeiten, zu der Apostel Zeiten, da gab es eben Offenbarungen; heute darf es das nicht geben,

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heute ist das Sünde, heute ist das Schwindel, heute ist das Betrug - dann ist dieses anti-, ist dieses widerchristlich. Und auf diesem Gebiete klar zu sehen, gehört auch für den Menschen, der nach Wahrheit strebt, in gewissem Sinne schon zu den Aufgaben der Gegenwart. Zu den Aufgaben der Gegenwart gehört die Sehnsucht nach Klarheit. Und mit Bezug auf alles übrige ist nach und nach die Klarheit zu­gedeckt durch alle möglichen Mitempfindungen, die man mit der bloßen Phrase verbindet so, daß Empfindung für die Wahrheit wohl nur auf dem Wege des Geistes noch gesucht und gefunden werden kann.

Die Worte werden ja heute in der furchtbarsten Weise mißbraucht. Was tönt alles durch die Welt, und was wird namentlich durch die Welt tönend genommen, als ob etwas in den Worten enthalten wäre! Auf diesem Boden ist Geisteswissenschaft als Erzieherin ebenso wichtig als durch ihren unmittelbaren Inhalt. Sie kann nicht, wenn sie wirkliche Geisteswissenschaft sein will, mit bloßen Worten die Men­schen abfertigen. Warum nicht? Nun, aus dem sehr einfachen Grunde, weil man heute über alles reden kann, wenn man bei Worten stehenbleibt. Sie können reden über Naturwissenschaft, wenn Sie bei Worten stehenbleiben. Sehen Sie an, wie Fritz Mauthner in seinem «Wörter­buch» Ihnen beweist, wie die Naturwissenschaft da, wo sie zur Wissenschaft werden will, wo sie nicht bloße Tatsachen notifiziert, eine Wortwissenschaft ist. In der Geschichtswissenschaft redet man überhaupt nur mit Worten, denn das andere wird ja verträumt, wie ich Ihnen erzählt habe. Und so auf andern Gebieten. In der Politik, da würde man wahrscheinlich überhaupt, wenn man aufrichtig und ehr­lich zu Werke ginge, noch weniger hinter den Worten finden als auf den übrigen Gebieten des Lebens. Wenn man sich an Worte hält, kann man heute über die Natur reden, kann über Geschichte, über Politik, über Nationalökonomie reden. Nur kann man nicht, wenn man sich an Worte hält, über den Geist reden; denn der Geist liegt heute nirgends in den Worten. Das ist ganz ernsthaft gemeint. Dafür ist aber auch umgekehrt Geisteswissenschaft eine Erziehung, um über das heutige Hängen an Worten hinauszukommen.

Es ist die vorzüglichste Aufgabe des heutigen Bekenners der Anthroposophie,

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von den Worten überzugehen zu den Sachen, und da die Sache der Geisteswissenschaft der Geist ist, zum Geiste. Das wird Frucht bringen, es wird neue Ziele geben auf allen Gebieten des Lebens. Vor allen Dingen eine Frucht wird es bringen: Die Men­schen, die es wollen, freizumachen vom Autoritätsglauben, frei­zumachen von jenem Aberglauben, der in der heutigen Menschheit so verbreitet ist und den die heutige Menschheit gar nicht einmal be­merkt. Es wird allerdings noch mancherlei notwendig sein an Erfah­rungen für diese arme Menschheit der Gegenwart, um einigermaßen sich auf den Weg zu begeben, der hier gemeint ist. Denn diese arme Menschheit der Gegenwart ist stolz auf dasjenige, was sie am aller­wenigsten hat, ist stolz auf ihre Freiheit vom Autoritätsglauben, ihre Freiheit vom Götzendienst.

Mancher Götze der Vergangenheit ist mehr wert in den Augen des Geistkenners als die Götzen der Gegenwart. Die Götzen der Gegenwart: Der bewußte Mensch hat sich die Gebete abgewöhnt, der un­bewußte betet diese Götzen der Gegenwart um so inbrünstiger an. Alle diese Woodrow Wilsons sind in den Augen dessen, der die Weltenentwickelung durchschaut, weit gefährlichere Götzen des Aberglaubens, als die verachteten Götzen der Vorzeit waren. Die Menschheit der Gegenwart hängt viel mehr an diesen Götzen und an diesem Aberglauben, als eine Vormenschheit gehangen hat. Selbst die deutlichsten Zeichen werden der Menschheit der Gegenwart kaum viel nützen, weil sie außerordentlich schwer gerade in solchen Sachen auf die Bahn der Wahrheit zu bringen ist.

Es fordert schon der Ernst der Gegenwart, daß man auch in weite Perspektiven blickende Dinge immer wieder und wiederum in solche Bemerkungen auslaufen läßt. Denn Geisteswissenschaft soll eben auch durchaus dem Leben dienen. Dasjenige aber, was heute dem Leben dienen will, dient am allerwenigsten dem Leben.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 30. Dezember 1917

Heute möchte ich noch von einer gewissen andern Seite her die Zusammenhänge betrachten, die da bestehen zwischen dem Menschen als einem mikrokosmischen Wesen und dem ganzen Makrokosmos der Welt, zu der der Mensch gehört, von der er gewissermaßen ein Glied, ein Organ ist. Man kann diese Dinge von den allerverschieden­sten Gesichtspunkten aus betrachten, und dabei werden die mannig­faltigsten Verhältnisse zur Anschauung kommen, die sich manchmal scheinbar widersprechen; allein die Widersprüche bestehen darinnen, daß eben die Sache immer von verschiedenen Seiten angesehen werden muß.

Sie haben aus bestimmten Betrachtungen, die wir in diesen Tagen angestellt haben, ersehen, daß eigentlich der Mensch, so wie er sich zur Welt ringsherum stellt, in die Weltbetrachtung etwas von sich einmischt, daß er die Sinneswelt eigentlich nicht so nimmt, wie sie ist; daß er, wie ich es versuchte drastisch zum Ausdruck zu bringen, in seine Weltbetrachtung etwas einmischt, was von innen aufsteigt, was von innen heraus gebildet ist und was eigentlich eine Art Umwand­lung des Geruchssinnes ist. Es ist dasjenige, was der Mensch sich über die Welt in der mannigfaltigsten Weise kombiniert, was heraus­kommt, wenn er seinen gewöhnlichen, durch seinen Leib ihm zu­kommenden Scharfsinn, wie man das nennt, anwendet; Spürsinn könnte man es ja auch nennen. Was anderes wäre dann dem Menschen gegeben, wenn er überhaupt leicht den Versuch machen könnte - er kann es gar nicht einmal leicht, denn er kann seinen Spürsinn nicht leicht ausschalten -, wenn der Mensch die Sinneswelt einfach so nehmen würde, wie sie sich ihm darbietet, ohne seinen Verstand, seinen kombinierenden Verstand in alles mögliche gleich einzu­mischen.

Hier berührt man ein Thema, das ja vielleicht dem Verständnis einlge Schwierigkeiten macht. Allein, Sie können sich eine Vorstellung machen von dem, was eigentlich gemeint ist, wenn Sie bedenken, wie

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Ihnen die Natur, die Wesenheit namentlich eines Sinnes entgegentritt. Bei den andern Sinnen ist es zwar ebenso, aber die Sache tritt für die äußere Beobachtung nicht mit derselben Schärfe zutage, nicht so scharf, wie wenn man das, was eigentlich hier gemeint ist, für den Sinn des Gesichts, für das Auge in Betracht zieht. Bedenken Sie, dieses Auge als ein physikalischer Apparat liegt ja eigentlich als ein ziemlich selbständiges Organ im menschlichen Schädel drinnen und ist eigent­lich nur durch die Anhänge, die Anhänge der Blutadern, die Anhänge der Nerven, nach rückwärts in den menschlichen Leib hinein ver­längert. Man kann sagen: Dieses ist das menschliche Auge, hier ist die

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Verlängerung (siehe Zeichnung); aber als Auge liegt es hier in der knöcherigen Schädelhöhle mit einer großen Selbständigkeit drinnen, insoweit es physikalischer Apparat ist, hier die Linse, der Einfall der Lichtstrahlen, der Glaskörper, also alles das, was physikalischer Appa­rat ist, ist eigentlich sehr selbständig. Nur durch den Sehnerv, die Aderhaut, die sich hinein nach dem Leibe verlängert, verlängert sich eben das Auge selbst nach dem Leibe, so daß man sagen kann, dieses Auge als physikalischer Apparat, also insofern es aufnimmt die äußere Sinneswelt in ihrer Sichtbarkeit, ist ein selbständiger Organismus, bis zu einem gewissen Grade wenigstens.

So ist es eigentlich für jeden Sinn, nur für die andern Sinne ist die Sache nicht so scharf ins Auge fallend. Jeder Sinn als Sinn ist im Grunde genommen etwas Selbständiges, so daß man schon sprechen

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kann von einer Sinneszone. Man wundert sich eigentlich, daß das Studium der Sinne nicht hinreicht, um die betreffenden Gelehrten zu einiger Spiritualität zu treiben. Denn gerade diese Selbständigkeit der Sinne könnte die Gelehrten zu einiger Spiritualität treiben. Warum? Sehen Sie, dasjenige, was miterlebt wird durch den Sehnerv, durch die Aderhaut, das wurde - und man könnte das schon mit der gewöhn­lichen Wissenschaft leicht nachweisen -, das wurde nicht hinreichen, um dem Menschen zum Bewußtsein zu bringen dasjenige, was er in seinen Sinnen erlebt. Das Merkwurdige bei den Sinnen ist nämlich das, daß in diesen rein physikalischen Apparat, und er ist ein rein physikalischer Apparat, hineinragt der Ätherleib. Wir haben es bei allen Sinnen zu tun mit etwas, das vom Organismus ausgespart ist, und das nur durchlebt wird vom Ätherleib. Sie wurden nicht das, was in Ihrem Auge durch das Hereinfallen des Lichtes bewirkt wird, mit Ihrem Bewußtsein vereinigen können, wenn Sie nicht den Sinn des Auges, und so auch die andern Sinne, durchziehen würden mit Ihrem Ätherleib.

Ein Lichtstrahl fällt in das Auge. Dieser Lichtstrahl wirkt im Auge genau ebenso physikalisch, wie der Lichtstrahl wirkt in einer Camera obscura, in einem photographischen Apparat. Und nur dadurch kommt Ihnen das zum Bewußtsein, was da vorgeht in dieser Naturkamera des Auges, daß Ihr Ätherleib auskleidet das Auge und auf­fängt das, was im bloßen physikalischen Apparat nicht aufgefangen wird durch einen Ätherleib. Im bloßen physikalischen Apparat, im bloßen photographischen Apparat geht eben nur der physische Vor­gang vor sich; so daß der Mensch in der Gesamtheit seiner Sinne wirklich eine Art Fortsetzung hat der Außenwelt. Als physikalische Apparate sind die aufnehmenden Sinne, wenigstens die größte Zahl der aufnehmenden Sinne, mehr zur Außenwelt gehörig als zum Men­schen. Ihr Auge gehört viel mehr der Außenwelt an als Ihrem eigenen Leibe.

Beim Tiere gehört das Auge viel mehr dem Leibe an als beim Men­schen. Dadurch ist der Mensch über das Tier als Sinneswesen erhaben, daß er Sinne hat, die weniger mit dem Leibe in Verbindung stehen als die Sinne der Tiere. Bei gewissen niederen Tieren kann das schon

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anatomisch nachgewiesen werden. Da finden sich allerlei organische Fortsätze; zum Beispiel der Fächer ist dadrinnen bei niederen Tieren. Das sind sehr komplizierte Ausgestaltungen zum Teil des Nervs, zum Teil der Blutkörper, die die niederen Tiere vollkommener haben als die höheren Tiere und vor allem als der Mensch.

Daß beim Menschen der physische Leib so wenig Anteil nimmt an seinen Sinnen und den Anteil sehr stark dem Ätherleib überläßt, das ist dasjenige, was beim Menschen macht, daß er ein verhältnismäßig so vollkommenes Wesen ist. So daß wir sagen können: Der Mensch ist erstens dieser innere leibliche Mensch, physisch betrachtet, und ihm sind überall die Sinne eingefügt, die aber eigentlich - wie ich einmal in einem öffentlichen Vortrage in Zürich gesagt habe - wie Golfe sind, die von der Außenwelt hereinragen. Man würde viel richtiger schema­tisch so zeichnen. Statt daß man zeichnete: Da ist ein Sinn, und da ist ein Sinn, und da ist ein Sinn (siehe Zeichnung), würde man viel richtiger so zeichnen: Da ist der menschliche Leib, und da baut sich die menschliche Welt, zum Beispiel das Auge oder das Geruchsorgan,

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ihre Fortsetzung in die Außenwelt hinein, baut sich ihre Golfe durch die Sinnesorgane. Die Außenwelt ragt durch Sinne, Auge und so weiter herein, und von innen kommen wir nur mit dem Ätherleib ent­gegen und durchziehen das, was uns die Außenwelt hineinschickt, mit unserem Ätherleib. Er nimmt dadurch Teil an der Außenwelt.

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Dadurch sind wir darauf angewiesen, dasjenige, was die Außenwelt uns hereinschickt, mit unserem Ätherleib innerlich gewissermaßen zu übergreifen.

Daß man das nicht weiß, was ich jetzt gesagt habe, das hat bewirkt, daß die Philosophie seit mehr als hundert Jahren über nichts tolleres Zeug redet als über die Art und Weise, wie der Mensch durch seine Sinne die Außenwelt wahrnimmt. Sie können sich einen Überblick verschaffen über all das im Grunde genommen tolle Zeug, wenn Sie das Kapitel «Die Welt als Illusion» in meinen «Rätseln der Philo­sophie» lesen. Weil der Glaube besteht, daß die Sinne eigentlich nur von innen heraus zu begreifen sind, vom Leibe aus, so kommen die Menschen nicht dahinter, wie der Mensch eigentlich durch seine Sinne etwas von der Welt wissen kann. Sie reden immer so davon: Die Welt macht Eindruck auf die Sinne, dann aber muß das, was in den Sinnen bewirkt wird, die Seele auffassen. - Die Wahrheit ist, daß die Außenwelt selber in uns hineinbaut, daß wir also richtig die Außenwelt am Zipfel anfassen, mit unserem Ätherleib die Außenwelt am Zipfel anfassen, wenn wir als Menschen mit unseren Sinnen die Außenwelt wahrnehmen. Alles das, was Locke, Hume, Kant, die Neu­kantianer des 19. Jahrhunderts, Schopenhauer, Helmholtz, Wundt und wie sie alle heißen, alles das, was die Leute geredet haben über die Sinneswahrnehmung, das ist mit Ausschluß der Erkenntnis der wahren Verhältnisse gesprochen. Wie gesagt, Sie können in dem Kapitel «Die Welt als Illusion» in meinem Buche «Rätsel der Philosophie» die Sache nachlesen. Da werden Sie, philosophisch ausgesprochen, sehen, welche Kalamität das bewirkt hat, daß, mit Ausschluß der spirituellen Erkenntnis der Sache, eigentlich ein Riesenkohl als Sinnesphysiologie im 19. Jahrhundert Platz gegriffen hat.

Nun handelt es sich darum, wirklich ganz gut zu verstehen, was ich eben sagte. Wenn Sie das, was ich eben einen Riesenkohl genannt habe, einigermaßen auf seine Wahrheit prüfen wollen, so ist es inter­essant, daß in einem gewissen Sinne doch gilt, was Locke, Hume, Kant, Helmholtz, Wundt und so weiter über die Sinne gesagt haben; aber kurioserweise gilt es für die Tiere. Der Mensch des 19. Jahrhunderts kommt durch seine Wissenschaft, indem er den Menschen

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begreifen will, nicht über das Begreifen der Verhältnisse in der Tier­welt hinaus. Gar kein Wunder, daß er auch bei der Abstammung des Menschen bei der Tierwelt stehenbleibt! Das aber hängt zusammen mit viel komplizierteren Verhältnissen. Denn der Ätherleib, sagte ich, faßt das, was man sinnliche Außenwelt nennt, bei einem Zipfel an. Aber was ist der Ätherleib zuletzt? Der Ätherleib ist zuletzt dasjenige, was der Mensch nun hereinbekommt aus dem Kosmos, aus dem Makrokosmos. So daß, indem der Mensch seinen Ätherleib aus dem makrokosmischen Verhältnisse abschnürt, der Makrokosmos in dem Menschen durch die Sinne sich selbst ergreift. Wir können uns fühlen als Sohn des Makrokosmos, indem wir ein Ätherleib sind, und er­greifen die irdische Sinneswelt mit unserem makrokosmischen Teil.

Daß dieses erst verhältnismäßig spät so geworden ist, das kann wiederum mit äußerer Wissenschaft, ich möchte sagen, haarscharf nachgewiesen werden, nur daß diese äußere Wissenschaft die wirk­lichen Verhältnisse nicht sehen kann, wenn sie nicht orientiert wird durch Geisteswissenschaft. Ich habe schon darauf aufmerksam ge­macht, daß die griechische Sprache eigentlich gar nicht den Ausdruck dafür hat, den wir haben, wenn wir sagen: Ich sehe einen Mann kom­men, der uns entgegentritt. - Wir sagen so: Ich sehe einen Mann kom­men. - Der entsprechende griechische Ausdruck wurde heißen: Ich sehe einen kommenden Mann. - Man versetzt sich da viel mehr in die Tätigkeit hinein, weil im griechisch-lateinischen Zeitalter noch viel mehr das Gefühl dafür vorhanden war, daß man schon etwas tut, wenn man sieht oder hört, daß man da mit seinem Ätherleib etwas erfaßt, wenn man in der Sinneswelt ist. Dieses tätige Element, das hat die schläfrige Menschheit der neueren Zeit nicht. Die schläfrige Menschheit der neueren Zeit will eigentlich die Weltvorgänge am liebsten ganz verschlafen, das heißt, sie als Träume an sich heran­kommen lassen, will nicht das Bewußtsein entwickeln, mitzutun, wenn die Sinneswahrnehmungen zustande kommen. Deshalb versteht man das griechische Wesen heute schon recht schwer, denn der Grieche hatte einen viel aktiveren Begriff vom Menschen. Er fühlte sich viel mehr tätig selbst bei dem, was man heute die Passivität der Sinneswahrnehmungen nennt. Der Grieche würde daher auch nicht

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die unvollkommene, einseitige Theorie erfunden haben, daß der Mensch schläft, weil er müde ist; sondern er wußte, daß der Mensch müde wird, wenn er schlafen will, daß das Schlafen von wesentlich andern Impulsen herbeigeführt wird und daß dann nur die Müdigkeit eintritt aus dem Impuls des Schlafenwollens.

Aber nicht diese Schlafenstheorie allein ist es, welche eigentlich erfunden ist aus der Bequemlichkeit des modernen Menschen heraus. Der moderne Mensch will möglichst passiv sein, möglichst wenig ein aktives Wesen sein. Er kann das machen, und in einem gewissen Sinne hat sich die neuere Menschheit dazu erzogen, ein passives Wesen zu sein. Und mit dieser Passivität hängt das zusammen, was ich gestern vielleicht etwas abrupt als den Aberglauben, den Götzen­dienst der modernen Zeit vorgeführt habe.

So ragt also aus der Außenwelt in uns, ich möchte sagen, der vorderste Posten dieser Außenwelt herein. Zeichnen wir das noch einmal schematisch. Nehmen wir einmal an, hier würden wir den menschlichen Leib zeichnen (siehe Zeichnung), so ragt der vorderste Posten der Außenwelt in unseren Leib herein; wir übergreifen das mit unserem Ätherleib (rot und blau).

Sie wissen, wir haben in Wirklichkeit zwölf Sinne; diese zwölf Sinne sind also zwölf verschiedene Arten des Hereinragens der Außenwelt in unseren Leib. Was ragt da eigentlich herein? Das ist die große Frage. Was ragt in unseren Leib eigentlich herein?

Wir sehen eigentlich von dem, was hereinragt, nur die eine Seite; wir können uns ohne Hellsehen nicht wenden und von der andern Seite schauen. Der Mensch empfängt mit seinem Ätherleib den herein­fallenden Lichtstrahl oder die hereinfallende Tonschwingung. Aber er läuft nicht von außen dem Tone nach ins Ohr hinein; er läuft nicht dem Lichtstrahle nach von außen ins Auge hinein. Würde er das tun, würde der Mensch mit der Tonwelle, mit dem Lichtstrahl, mit der Wärmeevolution von außen in seine Sinnesapparate hineinlaufen, so weit, als die Sinne von außen hineinragen, so wurde der Mensch bei diesem Laufen in einem bestimmten Gebiete sein. Und dieses Gebiet ist das Gebiet der Exusial, der Geister der Form.

Also wenn Sie sich so wenden könnten, daß Sie mit dem, was hier

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hineinragt in den Sinnen, mitlaufen könnten (Pfeile), so würden Sie im Gebiete der Exusiai, der Geister der Form sein. Sie sehen das innige Ineinandergreifen der Weltenwesen. Wir schreiten hin als Menschen durch die Welt, öffnen unsere Sinne und tragen eigentlich in uns die Exusiai, die Geister der Form, die sich uns offenbaren, indem wir unsere Sinne der Außenwelt erschließen. Diese Welt der Exusial, die geistige Welt, verbirgt sich also hinter dem Schleier der Sinneswelt. Aber diese Welt der Exusiai, die sich hinter dem Schleier der Sinneswelt verbirgt, die sich in den Menschen hineinoffenbarende Welt, sie hat, indem sie den Kosmos durchdringt, auch ihre universelle kos­mische Seite. Dasjenige, was in unsere Sinne eindringt, das vibriert, das wellt in dem ganzen Kosmos. So daß wir sagen können, dieses Gebiet, das da in unsere Sinne hineinragt, das ist nicht nur da bei den Sinnen, sondern das hat auch seine Ausgestaltung draußen in der Welt. Was ist es denn da? Da sind es die Planeten, die zu unserem Sonnensystem gehören.

Wahrhaftig, der Zusammenhang der Planeten unseres Sonnensystems bildet einen Körper, der zu einem Geistwesen gehört, und

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dieses Geistwesen schließt die Exusiai ein, die sich eben in den Offen­barungen unserer Sinne kundgeben und die ihre objektive Seite draußen im Universum haben, in den Planeten. Und eingebettet in alles das, was so nun ist, eingebettet also gleichsam in diesen ganzen Strom des Exusiai - Wirkens sind andere Wesen. Die liegen hinter diesen Exusiai. Ich möchte sagen, nicht so weit, wie die Exusiai vordringen, dringen andere Wesen vor. Die sind da draußen in demselben Gebiete, aber sie kommen nicht an uns heran (siehe Zeichnung): das sind die Wesen der Hierarchie der Archai, der Archangeloi, der Angeloi.

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Die sind schon alle auch in dem drinnen, was sich in unseren Sinnen offenbart, aber der Mensch kann das nicht in sein Bewußtsein auf­nehmen. Es wirkt auf ihn, aber er kann es nicht in sein Bewußtsein aufnehmen. So daß Sie sagen können: Wir stoßen durch unsere Sinne an eine Welt - das Gebiet der Exusiai mit dem Planetensystem (rot, blau, orange, siehe Zeichnung S.97), und in dieses ganze Gebiet ist auch eingebettet die Hierarchie der Archai, der Archangeloi, der Angeloi. Diese sind gewissermaßen die Diener der Exusiai. Aber der Mensch nimmt von alledem nur die Außenseite wahr: er nimmt eben nur den vor ihm ausgebreiteten Sinnesteppich wahr.

So ist es mit dem, was außer uns ist. Wiederum anders ist es mit dem, was in uns ist, jetzt auch leiblich in uns ist. Sie können ja, nach­dem Sie jetzt gehört haben, was da angrenzt an unsere Sinne, hingehen und können fragen: Was ist unmittelbar hinter unseren Sinnen nach innen zu gelegen? - Wir haben gesehen: Es setzt sich fort das Auge im Sehnerv nach innen. Alle Sinne setzen sich fort in ihrem ent­sprechenden Nerv nach innen. Wenn sich so die Sinne nach innen fortsetzen, so bekommen Sie von den zwölf Sinnen nach innen einen

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wunderbaren Bau. Es ist sehr kompliziert. Man könnte es sich ver­einfachen, indem man sagte: zwölferlei Stränge nach dem Innern, zwölferlei Sinnessphären; also außen die Sinneszone, daran anschließend dasjenige, was die Sinne nun nach innen schicken.

Das ist ein sehr komplizierter Bau. Woher rührt der, wenn wir den Menschen als makrokosmisches Wesen betrachten? Das, was da hinter den Sinnen nach innen liegt, das kommt von den Dynamis, von den Geistern der Bewegung. So daß weiter nach innen gehend hier sich an die Sinne anschließen die Taten der Dynamis, der Geister der Be­wegung (siehe Zeichnung S.97). Sie könnten nicht denken, wenn die Geister der Bewegung nicht an den Denkapparaten, welche die Fort­setzung der Sinnesapparate sind, arbeiten wurden. Wenn Sie nach außen sehen, sehen Sie die Exusial die Naturordnung machen. Sie sehen diese Exusiai an den Menschen herankommen mit ihren Die­nern, den Archai, den Archangeloi, den Angeloi. Aber wenn Sie an Ihr Inneres denken, dann müssen Sie denken, daß Sie dieses Innere verdanken den Geistern der Bewegung, die Ihnen den Denkapparat als Fortsetzung Ihres Sinnesapparates nach innen zubereiten; nicht den Kombinierungsapparat, der ein bloß umgestalteter Geruchs­apparat ist, sondern den Denkapparat, den der Mensch im gewöhn­lichen physischen Leben gar nicht gebraucht. Denn der Mensch ge­braucht den Geruchsapparat, den bloß umgewandelten Geruchs­apparat. Er hat sich schon abgewöhnt, die Sinnessphäre zu benützen; er würde ganz anders denken, wenn er die zwölf nach innen gehenden Fortsetzungen der Sinnessphäre wirklich benützen könnte.

Im Gehirn liegt zum Beispiel hinter der Vorderhirnsphäre, die im wesentlichen umgearbeitetes Geruchsorgan ist, die Sehsphäre. Die benützt der Mensch kaum, denkt nur gewöhnlich durch die Geruchssphäre. Umgearbeitet benützt er sie, indem er kombiniert. Würde er sie unmittelbar benützen, würde er sein Vorderhirn ausschalten, dieses nur für die äußere sinnliche Welt zubereitete Vorderhirn ausschalten und denken mit der unmittelbaren, mit der Vierhügelpartie, mit der Sehpartie, da wo sie einmündet in das Gehirn, dann würde er Imagina­tionen haben.

So ist es auch mit den andern Sinnen. Der Mensch hat schon

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Imaginationen auch in der physischen Welt, weil immer eine Welt in die andere hineinragt. Aber diese Imaginationen, die der Mensch in der physischen Welt hat, die erkennt er nicht als wirkliche Imagina­tionen an: es sind nämlich die Geruchsimaginationen. Was der Mensch riecht, das ist eigentlich für das gewöhnliche sinnliche Leben das einzige imaginative Gebiet. Aber ein viel edleres imaginatives Gebiet würde zum Beispiel aus der Sehsphäre stammen können und aus andern Sinnessphären.

Nach innen zu gesehen sind die Geister der Bewegung da. Und weiter nach innen zu kommen wir zu den Gebieten, die nun nicht das Denken beherrschen, sondern das Fühlen nach innen zu beherrschen, die Organe des Fühlens, was zumeist drüsige Organe sind in Wirklich­keit. Diese Organe sind die Taten der Geister, die wir nennen die Kyriotetes, die Geister der Weisheit. Fühlende Wesen sind wir als Menschen dadurch, daß die Geister der Weisheit an uns arbeiten. Wollende Wesen sind wir dadurch, daß die Geister des Willens, die Throne an uns arbeiten. Noch weiter nach innen gelegen, arbeiten die Throne, die Geister des Willens an den Organen unseres Wollens (siehe Zeichnung S.97).

So wie nun makrokosmisch die Exusial, die Geister der Form, in den Planeten ihren Leib haben, der gewissermaßen die äußere sicht­bare Seite uns zuwendet für das gewöhnliche Bewußtsein, so haben die Geister der Bewegung - sonderbarerweise, aber es ist so - ihre Außenseite in den Fixsternen. Ihre Innenseite sieht nur der Tote zwischen dem Tod und einer neuen Geburt; das ist die geistige Seite, von der andern Seite gesehen. Dagegen die Geister der Weisheit und die Throne haben äußere Sichtbarkeit überhaupt nicht mehr; sie sind geistiger Natur. Man kann vergleichsweise sagen, sie liegen hinter den Planeten und hinter den Fixsternen. Und indem der Tote herunterschaut auf dasjenige, was am Menschen wirkt im menschlichen Fühlen und im menschlichen Wollen, schaut der Tote fortwährend hin auf die Kyriotetes, auf die Throne. Was ich Ihnen gesagt habe, daß der Tote mit den Menschen, mit denen er karmisch verbunden ist, einen Zu­sammenhang hat, das wird ihm vermittelt durch die Kyriotetes und durch die Throne. Der Tote schaut herein in die Sphäre, die auf unsichtbare

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Weise draußen in der objektiven Welt wirkt und eigentlich sichtbar nur wird in ihrem Geschöpf, in dem menschlichen Fühlen und in dem menschlichen Wollen. Zu dem Toten glänzt hinauf dasjenige, was hier die Menschen fühlen und wollen, und der Tote sagt: Im Leibe der Dynamis, im Leibe der Kyriotetes, im Leibe der Throne erglänzt Denken, Fühlen und Wollen der Menschen. - Wie wir hinauf­sehen zu den Sternen, sieht der Tote in die Erdensphäre herunter, in die Menschensphäre. Nur, wir blicken das Mineralische an den Sternen an, das äußere Physische; der Tote sieht nicht das äußere Physische der Drüsen, der Bewegungsorgane, also auch des Blutes, sondern der Tote sieht dafür die geistige Seite, die Kyriotetes, die Throne. Wie wir zum Himmel aufblicken, seinen sichtbaren Sinn von außen schauen, schaut der Tote nieder, um das Firmament der Menschheit zu schauen. Das Geistige dieses Firmaments erscheint ihm hinauf Das ist des Toten Geheimnis.

Sie sehen, welche Gegenseitigkeit da herrscht im Weltenall. Erkennt man diese Gegenseitigkeit, dann gewinnt die menschliche Wesenheit ein merkwürdiges Antlitz! Kurioserweise gewinnt sie das Antlitz, daß man sich sagt: Wir blicken hinauf zu den Sternen, suchen die Geister der Form in ihrer Außenseite in den Planeten, die Geister der Bewegung in den Fixsternen; dann entschwindet uns das in den fernen Perspektiven in den Geist hinein. Aus dieser Sphäre schaut der Tote hinunter, blickt auf dasjenige, was der Mensch hier verträumt, verschläft. In dem aber sieht er sein Jenseits; da glänzen ihm die Geiststerne hinauf in seine Welt hinein. Und der Mensch ist ein­gebettet in dieses Wesen.

Da bekommt dasjenige, was in den ersten Szenen des Mysteriums «Die Prüfung der Seele» gesagt ist, eine eigentümliche Beleuchtung. Lesen Sie sich diese ersten Szenen der «Prüfung der Seele» durch, die Worte des Capesius, und Sie werden sehen, daß von der ethischen Seite aus dort alles gesagt ist, was jetzt gewissermaßen von seiten der Himmelskunde aus gesagt wird. Die Art und Weise, wie sie im Be­wußtsein der Menschen wirken kann, diese Himmelskunde, auf das ist aufmerksam gemacht in den ersten Szenen in der «Prüfung der Seele».

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Und dann kommen die höheren Welten, wenn man das Wort «höheren» anwenden will, dasjenige, was über dem Menschen und diesem Weltenall draußen liegt. Ich werde versuchen, schematisch das ein wenig darzustellen; aber ich muß dabei ein bißchen an Ihren guten Willen des Begreifens appellieren. Wir können sagen, wenn hier

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eine Art Grenze ist (siehe dazu auch die Zeichnung auf S.97, gelb), so verliert sich die Welt der Planeten, die Welt der Fixsterne bier ins Geistige hinein - von der andern Seite kommt es wiederum. So daß wir hier die Wollenssphäre der Menschen haben, die Gefühlssphäre, da erscheinen die Geister der Weisheit. Da haben wir diese Ordnung. Nun können Sie sich aber eine Ordnung, die beiden gemeinschaft­lich ist, denken, wo Mensch und Weltenall drinnen ist, wo wir so ein­gebettet sind, daß auf der einen Seite wir, die wir hinaufglänzen zu den Toten, und auf der andern Seite der Sternenhimmel, der hinunter-glänzt zu uns, darin eingebettet sind. Da kommen wir schon zu den Hierarchien, die, wenn man das Wort gebrauchen will, höher stehen als die Throne: zu den Cherubim und Seraphim. Sie können sich denken, daß von diesem Gesichtspunkte aus, der jetzt angeführt wor­den ist, man nicht von physischen Außenseiten der Cherubim und

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Seraphim sprechen kann, weil sie natürlich noch höhere Geister sind; aber sie sind schon so geistig - hier muß ich eben wirklich an Ihren sehr guten Willen zum Verständnis appellieren -, sie sind schon so geistig, diese Cherubim und Seraphim, daß ihr Auswirken von einer andern, ganz unbekannten Seite wiederum herauf kommt.

Nicht wahr, die Exusiai, die Geister der Form, sind direkt sinnlich wahrzunehmen in den Planeten; das ist einfach ihre Seite, die sie uns zuwenden. Die Geister der Bewegung sind direkt wahrzunehmen in den Fixsternen; das ist die Seite, die sie uns zuwenden. Aber die Cherubim und Seraphim, die sind so nicht sinnlich wahrnehmbar, daß sie uns gewissermaßen ihre andere Seite zuwenden. Aber sie sind so stark unwahrnehmbar - ich bitte, das eben hinzunehmen und etwas darüber nachzudenken -, daß die Unwahrnehmbarkeit schon wieder­um wahrnehmbar wird. Also dasjenige, was in der Welt lebt durch Cherubim und Seraphim, das ist in so hohem Grade unwahrnehmbar, daß die Unwahrnehmbarkeit schon wiederum wahrgenommen wird. Es entzieht sich das so stark dem menschlichen Bewußtsein, daß der Mensch dieses Dem-Bewußtsein-Entziehen merkt.

So kann man sagen: Die Cherubim, die kommen schon wiederum zum Vorschein, wenn auch eben sich das gerade auf die Weise dokumentiert, daß sie so tief verborgen sind, daß man ihre Verborgenheit merkt. Die Cherubim erscheinen nicht nur symbolisch, sondern ganz objektiv in dem, was sich in der Gewitterwolke zuträgt, in dem, was sich zuträgt, wenn ein Planet beherrscht wird von vulkanischen Kräf­ten. Und die Seraphim kommen in dem, was als Blitz aus der Wolke zuckt, oder in dem, was als Feuer in den vulkanischen Wirkungen zutage tritt, wirklich so zum Vorschein, daß eben ihre Unwahrnehm­barkeit in diesen gigantischen Wirkungen der Natur wahrnehmbar wird.

Daher haben in alten Zeiten, wo man solche Dinge durchschaut hat, die Menschen auf der einen Seite hingeblickt zum Sternenhimmel, der ihnen das Mannigfaitigste geoffenbart hat: die Geheimnisse der Exu­siai, die Geheimnisse der Dynamis. Dann haben sie die höheren Ge­heimnisse zu enthüllen versucht in dem, worüber sich der Mensch heute lustig macht: aus dem Inneren der menschlichen Leiber - wie

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man trivial sagt -, aus den Eingeweiden. Dann aber waren sie sich dessen bewußt, daß die größten Wirkungen, die wirklich dem Sonnen­system gemeinschaftlich sind, von einer ganz umgekehrten Seite her sich in den Feuer- und Gewitterwirkungen, in den Erdbeben und vul­kanischen Wirkungen ankündigen. Das Schöpferischste, das in den Seraphim und Cherubim liegt, kündigt sich an durch seine zerstöre­rischste Seite, kurioserweise. Es ist eben die Kehrseite, es ist das absolut Negative, aber das Geistige ist so geistig stark da, daß eben schon seine Unwahrnehmbarkeit, sein Nichtdasein, wahrgenommen wird von den Sinnen.

Da haben Sie den Menschen wieder hineingestellt in den Makrokosmos. Und gleichzeitig können Sie einsehen, daß in diesem ganzen Makrokosmos etwas ist, was bei den Cherubim beginnt und nach oben zu ihnen selber hingeht, und das sich nur, ich möchte sagen, abspiegelt, abschattet in den gigantischen Wirkungen, die wir zuletzt angeführt haben. Das gibt Ihnen die Perspektive auf eine Natur­wissenschaft, die zu gleicher Zeit Geisteswissenschaft ist; es gibt Ihnen die Perspektive auf eine Wissenschaft, welche das ganze Welten­all wirklich als Geistall schaut, welche sich nicht begnügt bei dem verschwommenen Pantheismus und bei andern «Panen», sondern welche auf dasjenige wirklich eingeht, was als Geistiges dem Weltenall zugrunde liegt.

Diese Dinge werden Ihnen auch verständlich machen, daß der Mensch nach einer gewissen Seite hin eine Zwienatur haben muß. Nehmen wir den Menschen, wie er lebt vom Aufwachen bis zum Einschlafen; er lebt in seinen Sinnen darinnen, in der sinnlichen Um­gebung, wenn man die Außenseite so wahrnimmt, wie ich das an­gedeutet habe. Aber von dem Menschen lebt zwischen dem Ein­schlafen und Aufwachen der andere Teil. Der ist nur im gegenwärtigen Menschheitszyklus so unvollkommen, daß der Mensch sich nicht bewußt wird dessen, was er während des Schlafens erlebt. Aber wäh­rend des Schlafens, da erlebt der Mensch sein Zusammensein mit dem Kosmos, mit dem außerirdischen Kosmos, ebenso wie er während des Wachens sein Zusammenleben mit dem irdischen Kosmos mit den Sinnen erlebt. Nur bleibt das andere, das Zusammenleben mit dem

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außerirdischen Kosmos, ihm unbewußt. In dem Augenblicke, wo Sie einschlafen, machen Sie die Bewegungen des Kosmos geistig mit, gehen Sie in eine ganz andere Sphäre hinein. Sie machen sich fix, wenn Sie aufwachen; Sie machen sich beweglich gegenüber dem Kosmos, indem Sie einschlafen. Sie leben das Leben des Kosmos mit, indem Sie einschlafen; Sie reißen sich heraus aus dem Kosmos, indem Sie auf­wachen. So daß Sie sagen können: Der Mensch kann anerkennen in seiner eigenen Natur, in seiner eigenen Wesenheit einen Teil, der im Kosmos schwimmt, der im Kosmos mitlebt. Wenn daher der alte Astrologe in dem Sinne, wie das in den letzten Betrachtungen ge­meint war, den Kosmos mit seinen Geheimnissen erforschte, so er­forschte er das, worinnen der Mensch mitschwimmt mit dem Teil seines Wesens, der schläft. Da schwimmt der Mensch mit dem mit, was der Astrologe zu erforschen versucht, der wirkliche Astrologe, nicht der bloß rechnende, mathematische der neueren Zeit.

In dem Augenblicke, wo der Mensch das sieht, was er mit dem Teil seines Wesens erlebt, der schläft, in dem Augenblicke steht er vor dem, was man ungefähr bis in das 15. Jahrhundert herein in Wirklich­keit die Natur genannt hat. Das hat man die Natur genannt, was da der Mensch erlebt. Die Griechen nannten dasselbe, was man im Mittelalter die Natur nannte, Proserpina, Persephone. Natürlich beschrieb man die Mysterien der Persephone anders in Griechenland, anders im Mittelalter. Aber Sie können sich überzeugen, daß das Mittelalter diese Dinge kannte, wenn Sie solche Beschreibungen der Natur und ihrer Geheimnisse lesen, wie Sie sie bei Bernardus Silvestris finden. Da beginnt, in dem Werke «De mundi universitate» von Bernardus Silvestris, die Schilderung der Erlebnisse, die der Mensch hat, wenn er für den Teil erwacht, der den Kosmos mitmacht, der sonst ver­schlafen wird.

Insbesondere großartig sind diese Dinge geschildert bei Alanus ab Insulis, aus dem Gebiete heraus, das wir öfter erwähnten; denn mit der «Insel» ist bei Alanus ab Insulis Irland gemeint, Hybernia. Sie finden in seinem Werke «De planctu naturae» und in seinem «Anticlaudia­nus» parallelisiert den Proserpinamythus und dasjenige, was er über die Natur zu sagen hat. Und Sie finden, daß alles wiederum aufersteht

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bei dem großen Lehrer des Dante, den ich einmal hier angeführt habe, bei Brunetto Latini. Sie finden die Lehren des Brunetto Latini über­gegangen in Dantes eigene Anschauungen. Lesen Sie die Partien der «Göttlichen Komödie», in denen Dante schildert die Matelda, die Partie, die wirklich wie ein Ei dem andern dem Proserpinamythus gleicht, was auch schon die äußere Wissenschaft bemerkt hat, so werden Sie sich ein Bewußtsein davon aneignen - aus Bernardus Silvestris, aus Alanus ab Insulis, aus Brunetto Latini und aus Dante können Sie sich ein Bewußtsein aneignen, aus vielem andern auch -, wie bis in die Zeiten, wo die neue Epoche aufgegangen ist, bei den Menschen ein Bewußtsein vorhanden war von jener andern Welt des Zusammenlebens des Menschen als Mikrokosmos mit dem Makro­kosmos.

Man unterschied auf der einen Seite die Natur, das Miterleben des Menschen mit dem Kosmos, was das Mittelalter Natura nannte, was das Altertum Proserpina nannte. Man personifizierte, unterschied dieses wiederum von der Urania, welche ebenso die Himmelssphäre beherrscht, wie die Natur dasjenige beherrscht, was der Mensch mit­erlebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Und ein tiefes Geheimnis glaubten diese mittelalterlichen Menschen zu sehen, wenn sie sprachen von der Vermählung der Natur im Menschen mit dem Nus, mit dem Verstande, mit dem Intellekt im Menschen. Und in richtiger und un­richtiger Weise wurde von diesen Menschen versucht, zu erleben im Menschen die Vermählung der Natur mit dem Nus, mit dem Ver­stande oder Intellekt, als mystische Hochzeit, der gegenüberstand die alchimistische Hochzeit, so wie ich das in dem Aufsatze beschrieben habe, der der erste ist über den Christian Rosenkreutz.

Das sind Dinge, welche gar nicht so unendlich weit hinter uns Liegen. Und Dantes eindringliches Werk - das auf der einen Seite mit ebensoviel Erhabenheit, wie auf der andern Seite mit Humor die Welt und den Menschen, die menschlichen Geheimnisse schildert -, es ist wie das Werk, welches aufbewahren wollte dasjenige, was man durch Jahrhunderte und Jahrtausende über den Zusammenhang des Men­schen mit dem Makrokosmos gewußt hat. Bei Brunetto Latini findet sich dasselbe, was Dante in seiner Art dichterisch schildert, vom

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Standpunkte der Initiation, vom Standpunkte der Einweihung geschildert, auch an ein äußeres Ereignis angegliedert.

Das Bewußtsein vom Zusammenhang des Menschen mit diesen geistigen Geheimnissen mußte eine Zeitlang gewissermaßen ver­borgen werden, damit sich entzündete in dem Menschen dasjenige, was der Mensch erleben kann herausgegliedert aus dem Weltenall, gewissermaßen auf sich angewiesen. Wir leben ja jetzt in dem Zeit­alter, in welchem auf der einen Seite der Mensch ausgesetzt ist den Strahlungen, die ihn durchdringen von den Fischen her, auf der andern Seite jedoch ausgesetzt den Strahlungen des anders wirkenden, des entgegengesetzten Sternbildes der Jungfrau. Dieses Zeitalter muß aber den Weg finden, aus der geistigen Unfruchtbarkeit herauszutreten. Gewiß, wir können nicht mehr einfach herübernehmen dasjenige, was einmal die Menschheit gewußt hat, denn das war Wissen in einer Form, wie es für die alte Menschheit brauchbar war. Dantes «Gött­liche Komödie» ist, wenn auch eine große Offenbarung, so doch mehr ein Testament einer verflossenen Zeit. Eine neue Zeit braucht die Offenbarungen des geistigen Weltenalls von anderer Seite her.

Aber es ist eines möglich. Wenn man es, ich möchte sagen, eigentlich so handgreiflich hat, daß die Menschen geistige Geheimnisse bis vor wenigen Jahrhunderten gewußt haben, ist das auf das Gemüt des Menschen so wirkend, daß es ihn anfeuern kann, in der neuen Art wiederum den Weg zu suchen zu diesen Geheimnissen. Deshalb kön­nen wir schon auch aus der geschichtlichen Betrachtung Impulse holen; nur müssen wir diese geschichtliche Betrachtung so nehmen, daß wir auf das wirklich Geschichtliche zurückgehen. Denken Sie, was sind alle die äußeren Ereignisse, die in der Geschichte erzählt werden - in dieser Geschichte, womit jammervollerweise unsere Schuljugend bis zu den Ältesten hinauf aufgepäppelt wird -, was sind diese Geschichten, die als Geschichte verzeichnet werden, gegenüber den Tatsachen, daß solche Leute, wie Bernardus Silvestris, Alanus ab Insulis, Brunetto Latini, Dante und so weiter, Pico de Mirandola, Fludd, auch noch Jakob Böhme, Paracelsus, wenn wir eine gewisse Sphäre der Weisheit nehmen, ja selbst bis zum 18. Jahrhundert herein könnten wir den Schüler Jakob Böhmes anführen, den Saint-Martin -

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was ist es, was sind die gewöhnlichen in der Geschichte notifizierten Ereignisse gegenüber den Tatsachen, daß es Menschen gegeben hat, die solches kosmisches Wissen in sich trugen und mit solchem kosmi­schen Wissen immerhin wirkten! Ja, die Gegenwart ist vielfach stolz auf dasjenige, was sie errungen hat. Diese Intelligenz der Gegenwart - ich habe es ja anläßlich der Weihnachtsspiele heute angeführt -, gegen den Geistgehalt hat sie sich immer ziemlich ablehnend verhalten; sogar als diese Intelligenz, wie in Oberufer, wo die Weihnachtsspiele bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeführt wurden, in einer einzigen Per­sönlichkeit bestand, dem Schulmeister, der zugleich Dorfnotar, also die juristische Persönlichkeit und zu gleicher Zeit Bürgermeister war. Er war die Intelligenz, er war der einzige Feind für all die Weih­nachtsspiele. Die waren nach seiner Ansicht dumm, blödsinnig. Das hat Schröer noch erfahren, daß diese Intelligenz von Oberufer sich ab­lehnend verhalten hat gegen dasjenige, was in den Weihnachtsspielen war. Die Intelligenz ist es sehr häufig, die sich gegen das eigentlich Fruchtbare in der Menschheitsevolution ablehnend verhält.

Es handelt sich darum, dasjenige, was man den Enthusiasmus der Geschichte nennen kann, anzufeuern dadurch, daß man wirkliche Geschichte betrachtet, wirklich sich in das einlebt, was Geschichte ist. Zu der Geschichte gehört eben der geistige Teil des Geschehens, und der verläuft anders als der äußere physisch-materielle Teil.

Man muß immer wieder und wiederum versuchen, gerade in dieser harten Gegenwart die geistigen Impulse etwas anzuregen dadurch, daß man sich selber aufmerksam macht, wie Geist gewaltet hat in dem geschichtlichen Werden der Menschheit. Ob Sie nun in den Einzelhei­ten an den Fingern herzählen können: So wirken die Dynamis, so wir­ken die Exusiai -, darauf kommt es viel weniger an, als dieses Gesamt-bewußtsein zu erwecken, wie es den einzelnen Menschen mit dem Geiste der Menschheit zusammenbringen will. Denn in der Erweckung die­ses Bewußtseins liegt schon dasjenige, was Heil in die Menschheits­entwickelung hineinbringen soll. Manchmal ist es gut, sich klarzumachen, wie weit ab das steht, was heute als über die Welt gehende Meinung die menschlichen Seelen, ich kann nicht sagen, bewegt, aber zu bewegen scheint. Dadurch ist oftmals gar kein Gefühl vorhanden

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für das Gewicht der einzelnen Tatsachen. Der Geist wiegt uns die Tatsachen richtig ab.

Wichtiger als vieles andere für die Beurteilung der Gegenwart -denken Sie nur darüber nach mit Hilfe von dem, was Sie hier gehört haben -, wichtiger als manches andere ist eine Nachricht, die in den letzten Tagen kam, daß die amerikanische Staatsverwaltung die Eisen­bahnen in Selbstverwaltung genommen hat. Denn das liegt in einer gewissen Richtung von Symptomen, die deutlich hinweisen auf die Dinge, die man versucht vorzubereiten, um die Menschheit möglichst von dem Fahrwasser abzubringen, in dem sie nur erhalten werden kann, wenn sie voll bewußt wird, daß ohne Geist die Wirklichkeit nur eine ersterbende Wirklichkeit sein kann. Man kann ja das Sterben wählen; dann muß sich das Leben aus den Gebieten, für die man das Sterben wählt, eben in andere Gebiete flüchten. Das Gebiet der Wahr­heit trägt schon den Sieg davon. Aber man blickt auf ein Gebiet, wo gewissermaßen der, der tiefer in die Welt hineinsieht, auch solchen Mächten eines Links und Rechts gegenübergestellt wird, wie Dante beim Ausgangspunkte seiner Schilderung seiner «Göttlichen Ko­mödie», oder wie Brunetto Latini im Beginne seiner Initiation.

Ach, es wäre der Welt so notwendig, im weitesten Umfange Ge­danken der Geistigkeit zu fassen! Statt dessen, es ist schon wahr, stehen wir nur vor der Notwendigkeit, immer wieder betonen zu müssen, daß zum Geiste hingeblickt werden muß. Immer wieder und wiederum steht man vor der Sehnsucht, den Ernst der Sache genügend betonen zu können. Die Menschen wollen ja nicht dorthin sehen, wo Keime liegen, sondern sie wollen passiv sein, möglichst die Dinge an sich herankommen lassen, möglichst den Weltenlauf verschlafen. Würden nicht viele Menschen so schlafen, wie die Gegen­wart gewohnt ist die Ereignisse zu verschlafen, dann würde man schon sehen, daß hinter dem, was jetzt in so unwahrer Weise durch die Welt schwirrt, eine merkwurdige Tendenz liegt. Es darf ja wohl nachgesagt werden, da sich der Universalgötze der neueren Zeit, der jetzigen Zeit, der Gegenwart, Woodrow Wilson, selbst solcher Dinge gerühmt hat, daß vier Fünftel der Menschheit einem Fünftel gegen­überstehen. Dieser auf den Altar gehobene Götze der modernen

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Menschheit, der viel mehr auf den Altar gehoben ist, als man denkt, hat sich ja dessen selbst gerühmt.

Man wird schon sagen müssen, es wäre schade, wenn die Menschheit verschlafen wollte das, was in solchem Ideale wie dem Ideale dieses Göt­zen liegt, dessen Schlagworte, auch diejenigen, die nicht wie seine letzte Manifestation von dem braven Don Pedro von 1864 abgeschrieben sind, sondern in dem eigenen Hohlraum - pardon, ich will sagen Kopfgewachsen sind, zurückgehen auf dasjenige, was eigentlich als Ten­denz drinnen liegt. Was ist es dann? Man strebt an, daß einmal auf der Erde werde gesagt werden können: Vor Jahrhunderten hat es eine sagenhafte Menschheit inmitten von Europa gegeben; es ist gelungen, sie auszurotten. Man mußte sie ausrotten, weil sie furchtbar hoch­mütig war. Sie leitete sich von den Göttern ab und nannte sogar den Hauptdichter Goethe, um anzudeuten, daß sie direkt von den Göttern einen Geist gesendet bekommen hat. - Man wird sich zwar nicht in so spiritueller Weise ausdrücken; aber es wird in dem, was als Keim, als Tendenz hinter dem Wilsonianismus liegt, dieses schon zu bemerken sein. Es wird sich nur darum handeln, ob dies der Weg der Menschheit sein kann, ob dies der zukünftige Erdenweg sein kann, oder ob man nicht doch darüber nachdenken muß, wie die Erde er­rettet werden kann vor den sogenannten Idealen des Wilsonianismus und ähnlichen Dingen. Man braucht mit solchen Dingen nur nicht irgendwie in Nationalismus oder Antinationalismus zu verfallen. Die Phrasen von Völkern und Völkerfreiheiten, die kann man ja auch in der neueren Zeit dem Wilsonianismus überlassen. Aber man kann nicht ernst genug auf dasjenige hinweisen, was hinter dem Götzen, der da gemeint ist, eigentlich steckt.

Ich weiß schon, daß die Menschheit der Gegenwart solchen Dingen nicht viel Glauben entgegenbringen wird, aber ich weiß auch, daß manche Stimme in der Zukunft mit dem übereinstimmen wird, was hier gesagt worden ist. Möge nur auch dann immer in der Zukunft zu solchen Stimmen die andere hinzugefügt werden können: Die Menschheit ließ sich durch einen sonderbaren Götzen auf allerlei Wege führen; es sei den Weltengeistern gedankt, daß die Ziele dieses sonderbaren Menschheitsführers sich nicht erfüllten, der das Groteske

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seines Seins ja auch dadurch so ein bißchen vor die Welt hinstellt, daß er theoretisch mit großen Worten die Republik als das Alleinselig­machende verkündet und von dem brasilianischen Kaiser von 1864 seine eigenen republikanischen Marifeste abschreibt. - Daß man hier eigentlich vor einer grotesken Erscheinung steht, das ist ja etwas, was wohl innerhalb geschlossener Wände gesagt werden kann. Draußen ist ja heute nicht die Wahrheit das Höchste, sondern sie wird an der politischen Waage gewogen. Man darf nicht sagen, was wahr ist oder nicht wahr ist, sondetn dasjenige, was Vorschrift ist. Bis zum 15. März durfte man in den verschiedenen Ländern nur ja nichts gegen den Zarismus sagen; seit dem 15. März darf man selbstverständlich alles dagegen sagen.

Die Wahrheit ist leider nicht der höchste Maßstab. Doch damit berührt man eben diejenigen Verhältnisse, die sich heute in die Seele hineinzuschreiben schon einmal notwendig ist. Es liegt nahe, großen Ausblicken in den Kosmos dasjenige anzufügen, was an recht kleinen Gedanken - die aber leider große Tatwirkungen haben - die passive Menschheit, die schläfrige Menschheit heute aufbringt. Denn die Menschheit muß erwachen, und der Geist muß Wecker sein.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, Silvester 1917

Als wir vor einem Jahre hier versammelt waren, waren wir gewissermaßen noch mit den Gedanken beschäftigt, die unter der Absicht verliefen, welche dazumal bestand, einigermaßen Aufklärung zu ge­winnen über die Grundlagen, über die zugrunde liegenden Kräfte der gegenwärtigen katastrophalen Ereignisse. Es war einige Zeit vorher, als mehrere unserer Freunde den Wunsch aussprachen, daß doch einiges mehr gesagt würde, als bis dahin gesagt war, über konkrete, tiefere Kräfte, die zu diesen katastrophalen Ereignissen mitgewirkt haben. Und wir haben uns dazumal vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus beschäftigt mit den Absichten, mit den Bestrebungen gewisser Kreise, welche ihre Intentionen, man könnte schon sagen, in verborgener Weise in die Welt einfügen, einzuführen suchen, welche ausgehen von gewissen Zielen, die, wie wir gesehen haben, keineswegs allgemein menschliche Ziele sind, sondern die gruppenegoistischen Ziele gewisser engerer Kreise, welche aber zu rechnen wissen in dem Sinne, wie in der Welt eben gerechnet werden muß, wenn man gewisse Dinge durchführen will, welche zu rechnen wissen mit großen Zeiträumen.

Wir haben zurückverweisen können auf Bestrebungen, die zu ver­folgen sind, sie sind noch weiter zurückzuverfolgen, aber zunächst in kontinuierlichem Fortgange zu verfolgen sind bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, Bestrebungen, die gerechnet haben mit den in der gegenwärtigen Kulturwelt sich geltend machenden Tendenzen, Kräften. Und wir haben vielleicht aus diesen Betrach­tungen heraus doch einiges Verständnis über den Gang der Ereignisse gewinnen können, einiges Verständnis, das unabhängig ist von dem, was heute alle Welt beherrscht, unabhängig ist von den zu so traurigen Konsequenzen führenden nationalen und sonstigen gruppenegoisti­schen Bestrebungen. Wir haben vielleicht eine Ansicht gewinnen können, welche unabhängig ist von engen Gesichtskreisen, wie sie heute fast alle Menschen beherrschen, und wir haben uns, wenn das

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auch vielleicht weniger ausgesprochen worden ist, in unserem Innern gewisse Anschauungen von dem bilden können, was zum Heile der Menschheit in der gegenwärtigen Zeit notwendig ist.

Von dem, was in der gegenwärtigen Zeit notwendig ist, gingen ja auch die andern Bestrebungen aus, die versucht wurden, gegenwärtig auf dem Boden unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft geltend zu machen. Insbesondere im letzten Jahre hatten ja auch meine öffentlichen Vorträge, wie die Freunde vielleicht wohl bemerkt haben werden, ein gewisses Grundgepräge. Sie hatten das Grundgepräge, aufmerksam zu machen auf gewisse wichtige, ver­borgene Seiten der menschlichen Natur. Überall, wo ich vortragen konnte in diesem Jahre, war ich bestrebt, von diesem Gesichtspunkte aus ein tieferes Verständnis über den Menschen zu erwecken, insofern der Mensch drinnensteht in dem gesamtmenschlichen Prozesse der Weltenordnung. Wir brauchen nur zurückzublicken auf die öffent­lichen Vorträge, die Her in der Schweiz im Laufe der letzten Monate gehalten worden sind. Es war das Bestreben überall, auch in den aus­führlicheren Betrachtungen, die ich in Zürich halten konnte, zu zeigen, wie der Mensch als menschliche Persönlichkeit, als menschliches Individuum, in sich die Kräfte trägt, welche eigentlich verschiedenen Bewußtseinsverhältnissen angehören, wie er nicht nur die Kräfte in sich trägt, die seinem Wachbewußtsein angehören, sondern andere Kräfte, die im Unterbewußten bleiben, welche Kräfte aber durchaus nicht bedeutungslos sind, sondern ihre Rolle spielen in der geschicht­lichen Entwickelung der Menschheit, die ihre Rolle spielen im sozia­len, im ethischen Leben. Durch solche Bestrebungen sollte die Idee erweckt werden, wie notwendig es in der Gegenwart ist, ein tieferes Verständnis der Menschennatur anzustreben. Eingestreut wurde in diese Vorträge immer, sogar in die öffentlichen Vorträge, ganz ab­sichtlich der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen den sogenann­ten Toten und den Lebendigen. Wenn auch in öffentlichen Vorträgen solche Hinweise noch subtil vorkommen müssen, so sind sie doch gerade in der letzten Zeit in eindringlicherer Weise versucht worden.

Dadurch sollte ein Grundton innerhalb dieser Vorträge an­geschlagen werden, welcher entstammt der, wie ich glaube, berechtigten

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Einsicht, daß ein Heil in die Entwickelung der Menschheit in der Gegenwart nur dann kommen könne, wenn diese Menschheit gewisse geisteswissenschaftliche Impulse wirklich aufnimmt. Und in den öffentlichen Vorträgen wurde ja versucht, die Brücke zu ziehen zwischen dem, was die Menschheit jetzt zu glauben beliebt, und dem, was in Gebiete tieferer Wahrheit hineinführt. Es wurde diese Brücke so zu schlagen versucht, daß man sehen kann daraus, daß ein Weg sich schon finden ließe, wenn guter Wille angewendet wurde, von dem, wozu nicht die einzelnen Wissenschafter drängen, wohl aber die Wissenschaft der Gegenwart als solche. Es wurde zu zeigen versucht, daß eigentlich die Wissenschafter der Gegenwart mit den Ergebnissen ihrer Wissenschaft in Zwiespalt sind, daß die Wissenschaft selber die direkte Perspektive hinein eröffnet in geisteswissenschaftliche Wahr­heiten. Und namentlich wurde versucht zu zeigen, wie diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten ihre bedeutsamen Konsequenzen haben für das praktische menschliche Leben, für alle verschiedenen Zweige dieses praktischen menschlichen Lebens. Der Ton bei diesen Betrachtungen, auch den öffentlichen, wurde so genommen, daß, wenn guter Wille zum Verständnisse da war, wenigstens ein solches Verständnis erzielt werden konnte, daß man sich sagte: Es muß in bezug auf das menschliche Verstehen der Welt etwas geschehen; es muß zu einer Art Umkehr von gewissen Richtungen, die eingeschlagen worden sind, der gute Wille vorhanden sein.

Daß Anregungen da und dort auf einen nicht ganz unfruchtbaren Boden gefallen sind, das hat sich ja gezeigt. Allein es ist heute noch im weitesten Umkreise ein gewichtiges Hindernis vorhanden gegenüber dem Einschlagen einer neuen Richtung. Und dieses Hindernis kommt namentlich von der heute so maßgebenden menschlichen Denkbequemlichkeit, von der selbstgewollten Schwierigkeit, die viele Menschen darinnen finden, von alten Gedanken loszukommen, die viele Menschen darinnen finden, wirklich ihr Denken aktiv zu machen, gewisse eingewurzelte Vorurteile zu bannen, zu verbannen aus den Seelen und gewisse neue Begriffe, die einmal notwendig sind im weiteren Verlaufe für die menschliche Entwickelung, gewisse Be­griffe, gewisse Ideen, vor allen Dingen in die Wirklichkeit eingreifende

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Ideen aufzunehmen. Der Ton wurde so genommen bei den Betrach­tungen dieses Jahres, daß eben uberall diese notwendige Hinwendung zur Wirklichkeit, zur wahrheitdurchtränkten Wirklichkeit betont, be­sonders hervorgehoben wurde.

Man hätte vielleicht schon glauben können, daß außerhalb unserer Kreise sich da oder dort eine größere Anzahl von Menschen finden würde, welche, angeregt durch solche Betrachtungen, zu der Frage gekommen wären: Welche Wege hat man auf diesem oder jenem Gebiete einzuschlagen? - daß Menschen sich gezeigt hätten, welche fühlen, daß das Denken der Gegenwart den Zusammenschluß mit der wahren Wirklichkeit verloren hat.

Davon hat sich ja allerdings nicht allzuviel gezeigt. Das Denken, das Fühlen, das Empfinden der Menschen der Gegenwart ist lässig, ist bequem, ist träge, ist auch hochmütig, ist auch selbstzufrieden mit dem, was hergebracht ist. Man sieht es daran, daß wenig die Frage entsteht: Was läßt sich lernen durch die Ereignisse der letzten Jahre? - Wie viele, viele Menschen finden es heute noch selbstverständlich, daß sie auf denselben Grundsätzen, die sie Ideale nennen, bauen, deren Zusammenbruch durch diese katastrophalen Ereignisse sie ja deutlich sehen könnten. Man deklamiert heute noch immer Theorien und Anschauungen, von denen man wissen könnte, daß sie durch die Ereignisse der letzten Jahre Schiffbruch erlitten haben. Strömungen setzen sich fort unter denselben Prinzipien, unter denen sie früher ge­arbeitet haben, trotzdem man sehen könnte, daß diese Strömungen in ihren Prinzipien eben weit abliegen von den Kräften, welche die Wirklichkeit beherrschen, und welche die Wirklichkeit dann ver­nichten, wenn der Mensch sich nicht anschickt, die Art und Weise dieser wirksamen Kräfte auch in sein Vorstellungsvermögen, in sein Anschauungsvermögen aufzunehmen.

Solche Dinge sagt man nicht aus dem Grunde, um zu tadeln. Solche Dinge sagt man auch nicht aus dem Grunde, um irgend­welchen Pessimismus zu erzeugen, sondern solche Dinge sagt man aus dem Grunde, weil es eben nicht oft genug betont werden kann, daß das Notwendigste in der Gegenwart ist Verständnis für die wahre Wirklichkeit, abkommen von strohernen, weseniosen Abstraktionen,

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welche die Welt ins Unglück gestürzt haben! Solche strohernen, wesenlosen Abstraktionen beherrschen heute die Welt. Und Einkehr der menschlichen Seele nach dieser Richtung ist dringend notwendig.

Wie selbstverständlich findet es heute zum Beispiel mancher, wenn die ganz gescheiten Leute immer wieder und wiederum deklamieren, auf die Menschen komme es nicht an, sondern auf die tragenden Ideen, auf die Ideen, die in der Welt verbreitet werden. Solch ein Ausspruch ist deshalb verderblich, weil er eine starke Versuchung ist. In der wirklichen Welt kommt nämlich alles auf die Menschen an, und die besten Prinzipien, die besten Grundsätze können keine Be­deutung haben, wenn sie von Menschen vertreten werden, die in sich nicht die Kraft haben, dasjenige zu verwirklichen, was nun einmal nach der Natur der Zeit verwirklicht werden muß, die in sich nicht die Kraft haben, mit ihrem eigenen Herzen, mit ihrem eigenen Gemüt den Anschluß an die Wirklichkeit zu finden. Wirklichkeitsfremd, das ist das Wort, das man gebrauchen kann für fast alles, das mit hoch­trabenden Worten der Welt als Ideal oftmals verkündet wird. Und eine Morgenrote, wie sie die Menschheit doch erleben muß, kann erst heraufkommen, wenn immer wieder und wiederum Neujahrsbetrach­tangen kommen, welche auf der einen Seite ablehnen den Impuls der Wirklichkeitsfremdheit und welche den Versuch machen, den Men­schen in seiner Seele mit der Wirklichkeit zusammenzuschließen.

Es ist fast trivial, zu sagen, und dennoch in der Gegenwart not­wendig: Die Menschheit hat sich begeben unter den Einfluß der wesenlosen Wortklänge, unter den Einfluß der wesenlosen Prinzipienphrase. Die Menschen sind wenig geneigt, nachzusehen, wenn sie dies oder jenes hören, von wo dies oder jenes kommt, und dadurch kom­men sie in einen ungeheuren Mißklang mit dem, was wirklich und wesentlich ist. Denn die Welt wird nicht von den Worten, die ge­sprochen werden, in der richtigen Weise beherrscht, wenn diese Worte nicht gesprochen sind aus dem Herzen der Wirklichkeit heraus, wenn diese Worte nur entlehnt sind dem Wort- und Vorstellungs­schatz, der ja heute auf der Oberfläche des menschlichen Daseins strömt, seinem Inhalte nach nachgesprochen werden kann, ohne ver­standen zu werden. Wenn man von den leider mit diesem Charakter

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die Welt heute verderbenden Dingen absieht, und auf etwas - was ja dem großen Weltereignisse gegenüber vielleicht unbedeutend, aber doch charakteristisch ist, weil es sich in dem großen Weltereignisse wiederholt -, wenn man auf so etwas aufmerksam machen will, so kann man sagen: Es ist heute beim gegenwärtigen Menschheitszyklus ganz selbstverständlich, daß zahlreiche Menschen gute Gedichte machen, weil solche gute Gedichte einfach aus dem in den Sprachen, in den Umgangsverhältnissen der Menschen begründeten Impulse schon liegen. Man braucht gewissermaßen nur dasjenige, was schon da ist, zusammenzustellen, und es wird im alten Sinne Gutes heraus­kommen. So in den andern Künsten, so auch auf den übrigen Ge­bieten des Lebens.

Es ist aber heute viel mehr notwendig, achtsam sein zu können auf dasjenige, was als Neues vielleicht lallend und unvollkommen zum Vorscheine kommt, als auf das Gefällige, Schöne ein Auge haben zu können. Dasjenige, was Zukunftsmöglichkeiten in sich trägt, wird vielleicht recht unvollkommen zutage treten; aber das Bedeutsame wäre, in dem Unvollkommenen den impulsiven Keim für die Zukunft zu entdecken. Würde man sich nach dieser Richtung Mühe geben, würde man versuchen, das zur allgemeinen Methode zu machen, was wir ja insbesondere beim Bau dieses Dornacher Gebäudes hier zu unserem Grundsatz gemacht haben: mit dem Alten zu brechen, selbst auf die Gefahr hin, im Neuen recht unvollkommen zu sein - würde das zur allgemeinen Methode werden, dann würde schon einiges Heil für die Menschheit aus einer solchen Sache ersprießen.

Was vor allen Dingen notwendig ist, ist das Loskommen von dem Festgeprägten, denn dieses Festgeprägte ist ein Absterbendes. Es gibt eben Absterbendes und Auflebendes im geschichtlichen Leben der Menschheit. Und nicht ohne Bedacht habe ich in diesen Zeiten ge­sagt: Schon in dem Gebrauch der Worte selbst liegt etwas Gefähr­liches. Man braucht ja nicht so weit zu gehen wie Fritz Mauthner, der in seiner «Kritik der Sprache», in seinem «Philosophischen Wörterbuch» unzählige Sünden aufzählt, welche die Menschen da­durch begehen, daß sie überall den Kultus des Wortes betreiben. Gewiß wird da bei Fritz Mauthner ein richtiger Gedanke bis zum

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Unfug getrieben, wenn man zum Beispiel die Behauptung findet, daß das Christentum in Europa eigentlich im wesentlichen eine Sammlung von zwanzig bis dreißig Lehnwörtern sei, das heißt, es habe sich so entwickelt, daß die Menschen sich verliebt haben in zwanzig bis dreißig Worte, an die sie sich hängen und die sie für Wirklichkeiten halten. Gewiß, man braucht nicht so weit zu gehen. Man kann auch nicht völlig mit Fritz Mauthner übereinstimmen, wenn er eigentlich das Wesentlichste in der Herbeiführung dieser katastrophalen Ereig­nisse darin sieht, daß die Menschen den Götzendienst mit Worten getrieben haben, obwohl es durchaus wahr ist, daß Götzendienst mit Worten getrieben worden ist.

Dieses ist etwas, was aufhören muß. Das Wort ist nach und nach zu etwas geworden, das an der Oberfläche des menschlichen Lebens schwimmt und an das man sich hängt. Das Wort ist nach und nach etwas geworden, das man wie etwas Festes hinnimmt. Wenn man versucht, intimer kennenzulernen dasjenige, was heute vielfach das Den­ken und die Denkgewohnheiten beherrscht, dann erinnere ich mich zum Beispiel, wenn ich das sehe, an einen Streit, der mir während meiner Knabenzeit bis zu meinem zwanzigsten, fünfundzwanzigsten Jahre von Jugend-, von Knabenfreunden oftmals begegnet ist: Da wurde ich oftmals von dem oder jenem gefragt - verzeihen Sie das vielleicht etwas anzügliche Thema, das dabei zur Sprache kommt -, was denn eigentlich für ein Unterschied sei im Verkehre zwischen jungen Männern und jungen Frauen zwischen Liebe und Freund­schaft. Und man legte einen großen Wert darauf, möglichst genau zu umgrenzen die Begriffe «Liebe» und «Freundschaft». Das sollten gut eingeschachtelte Begriffe sein. Ich hatte dazumal wirklich - ich kann es ohne Albernheit sagen - schon das Bestreben, nicht auf solche Abstraktionen zu sehen, sondern auf die Wirklichkeit zu sehen, und sagte immer: Ich sehe in dem Fall A eine Beziehung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Individuum, im Falle B auch; das sind alles konkrete Beziehungen der verschiedensten Art. Ob man das «Liebe» oder «Freundschaft» nennt, das ist mir ganz egal, denn auf das Sachliche kommt es an.

Gegenüber dem, was unter Menschen namentlich in sozialer Beziehung

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als das Sachliche leben muß, tritt nun allerdings ein anderes Interesse ein. Es tritt das Interesse der Kodifizierung ein, und da braucht man selbstverständlich dann eingeschachtelte Begriffe, eingeschachtelte Worte. Wie könnte man denn Gesetze machen, ohne sich an Worte zu halten! Aber die Alternative kann nicht so liegen, daß man sagt: Also keine eingeschachtelten Worte, sondern unmittelbares menschliches Leben! - Solche Alternative wäre ungefähr so gescheit, als es gescheit ist, das Ideal zu erheben, auf dem physischen Plan ein Paradies einzurichten. Der physische Plan ist aber nicht geeignet, ein Paradies einzurichten. Man kann die Forderung erheben, aber man kann sie nie erfüllen.

Man kann ja auch andere Forderungen erheben. In der neueren Zeit wird vielfach die Forderung erhoben nach einer zwischenstaat­lichen Organisation. Die Forderung kann man erheben; man kann auch solche Forderungen kodifizieren; es kann ja selbstverständlich zustande kommen. Aber was die Wirklichkeit nach zehn Jahren zu dem gesagt haben wird, das ist eine andere Frage! Die Wirklichkeit nimmt eben die Wege, die man nur erkennt, wenn man sich auch in seinem Erkennen mit der Wirklichkeit auseinandersetzen will. Grund­sätze aufstellen, Prinzipien vertreten, das bringt man bald zusammen. Vereine gründen, Programme in diesen Vereinen haben, menschen­beglückende Programme, schöne, bewunderungswürdige Programme, gegen die sich gar nichts einwenden läßt - man kann sie aufstellen. Es ist sogar ein recht undankbares Geschäft, darauf aufmerksam ma­chen zu müssen, daß das ja ganz leicht geht. Im einzelnen kommt man sogar - lassen Sie mich das in Parenthese sagen - manchmal in recht herbe Kollisionen, wenn man keine Neigung hat zu solcher Kodifi­zierung.

So zum Beispiel hat es der Berliner Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft, an dem ich selbst etwas mitbeteiligt bin, seit fünfzehn Jahren noch zu keinen Statuten gebracht, weil wir immer das wirk­liche Leben für wichtiger gehalten haben als die Statuten, als das kodifizierte Leben. Die schönsten Statuten kann man närulich haben, wunderbare Statuten kann man haben. Sie können auch ganz gut sein, aber nur zu dem Zwecke, daß man sich mit gewissen außenstehenden

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Mächten auseinandersetzen kann. Zum inneren Leben einer Sache haben sie ja keine Bedeutung. Eine wirklich lebendige Sache widerstrebt in Wahrheit Statuten und Prinzipien. Ich kritisiere nicht das Statutenmachen, aber trotzdem kommt mir das Statutenmachen, das Vereinegründen mit großen Idealen oftmals ungefähr ebenso gescheit vor, als wenn ein Vater und eine Mutter ein Kindlein haben von ein paar Monaten und für dieses kleine Kindlein in allen Einzelheiten ein Lebensprogramm aufstellen. Da haben Sie schon das Zusammen­stoßen des Lebens mit der Kodifizierung, das Zusammenstoßen des Lebens mit den abstrakten Grundsätzen. Die Welt wird nicht auf­hören, ein lebendes Wesen zu sein, auch wenn eine Anzahl von -sagen wir, um ihnen nicht wehe zu tun - Idealisten jetzt allerlei weltbeglückende Programme von zwischenstaatlichen Organisationen aufstellt.

Geisteswissenschaft sucht eben nicht nach abstrakten Idealen, nach unwirklichen Ideen, sondern Geisteswissenschaft strebt, aus dem Be­reiche des Lebens die wirklichen Impulse zu suchen, dasjenige, was ist, zu erkennen, weil soziale Grundsätze auch nur auf Grundlage dessen, was ist, wirklich in die Welt gesetzt werden können. Dazu ist Unbequemlichkeit notwendig, um solche Dinge überhaupt nur in sein Herz aufzunehmen, eine Unbequemlichkeit ist notwendig. Es ist bequem, wenn sich sieben, acht Menschen heute zusammensetzen, um einen weltbeglückenden Verein mit großartigen Statuten zu be­gründen. Das kann man. Die Statuten werden immer richtig sein, wenn die Menschen nur einigermaßen vernünftig sind. Man kann dann auch Anhänger gewinnen, und gegen solche Dinge läßt sich nichts einwenden, denn die Sachen sind ja selbstverständlich richtig. Aber den Menschen, die sich oftmals unter solchen Flaggen zu­sammenfinden, wäre notwendig, daß sie sich zuerst ein paar Monate hinsetzen und die Materie studieren würden, für die sie irgend etwas bewirken wollten. Das tun sie nicht. Statt daß sich die Menschen ein paar Monate mit den Dingen bekannt machen, um die es sich handelt, macht man die Erfahrung, daß solche Vereine eine Weltwirkung getan haben, Tausende und aber Tausende von Anhängern gewonnen haben, daß aber nach zwanzig Jahren unter diesen Tausenden von

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Anhängern nicht fünfe sind, die sich mittlerweile damit befaßt haben, die Materie zu studieren, für die sie jede Woche ein Vereinsblättchen herausgeben, in welchem sich zyklisch immer dieselben Phrasen wiederholen, wenn die Leser, die schnell vergessen, die Geschichte vergessen haben, die schon so und so oft da war.

Loskommen von dem Götzendienst der Worte, loskommen von dem Götzendienst der Abstraktionen, das gehört schon ganz wesent­lich zu dem, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft den Menschen bringen soll. «Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten.» Und man könnte hinzufügen: Und dann läßt sich mit dem System bequem leben. - Das Leben aber ist kompliziert, und das komplizierte Leben will betrachtet werden. Und es ist schon vielleicht eine ganz gute Zeit, auf solche Lebensbetrach­tung hinzuweisen, wenn wir am Abschlusse eines Jahres stehen, das eine Reihe solch trauriger Jahre für die Menschheit beschließt. In solcher Zeit soll der Blick wiederum hingewendet werden auf das­jenige, was die geisteswissenschaftlichen Grundvorstellungen in uns anregen können. Diese geisteswissenschaftlichen Grundvorstellungen ermahnen uns ja immer wieder und wiederum, den Charakter unseres Zeitraumes wirklich zu studieren.

Mancherlei versuchen wir zu tun, um den Charakter unseres Zeit­raumes zu studieren. Ich habe gestern hingewiesen auf den großen Lehrer und Freund Dantes, auf Brunetto Latini. In Brunetto Latini haben wir zu gleicher Zeit einen Menschen gegeben, welcher im Zeitalter Dantes in eindringlicher Art hingewiesen hat auf dasjenige, was für die Menschheit kommen werde. Die Initiationsschrift, man kann sie schon eine solche nennen, die von Brunetto Latini herrührt, enthält ungefähr das Folgende: Er kommt zurück von seiner Ge­sandtschaft bei Alfons von Kastilien. Auf dem Rückwege erfährt er, daß sich in Florenz, in seiner Stadt, Ereignisse zugetragen haben, welche nach seiner Empfindung den alten Glanz und die alte Herrlichkeit von Florenz beendigen müssen. Es fühlt Brunetto Latini, indem er solches ausspricht, das Herannahen des fünften nachatlanti­schen Zeitraumes. Schließlich ist ja diese Initiations schrift noch niedergeschrieben in einer Zeit, in welcher im weitesten Umkreise noch ein

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Bewußtsein vorhanden war von dem Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt, in einer Zeit niedergeschrieben, in der zahl­reiche menschliche Geheimnisse über die geistige Welt noch bekannt waren, also in einer Zeit, in der deshalb noch nicht die Neigung zu solch wesenlosen Abstraktionen war wie heute. Denn in einer Zeit, in der das Geistesleben rege ist, in einer Zeit, in der das Empfindungs­leben wirklich vorhanden ist, hat man nicht die Neigung zu wesenlosen Abstraktionen. Wesenlose Abstraktionen hängen immer mit der Neigung zum Materialismus zusammen.

Brunetto Latini hat vor sich dieses Zeitalter, in dem wir jetzt drinnen leben. Er naht sich Florenz. Er weiß, dasjenige, was Florenz geworden ist unter dem Impuls des unmittelbaren menschlichen Lebens, der unmittelbaren intellektuellen Antriebe, das soll begraben werden unter dem Aufkommen von Institutionen, die aus der Abstraktion hervorgehen. Er naht sich Florenz. Der Schmerz macht, so schildert er, daß er sich in einem Walde verirrt, in einem öden Walde. Als er zur Besinnung kommt, bemerkt er inmitten einer groß­artigen Weltenschöpfung - die seine Imagination ist - einen Weg und eine riesige Frauengestalt. Wir hören, daß er unter dieser riesigen Frauengestalt die «wahre Natur» anredet, nicht jene Natur, welche die heutige Naturwissenschaft beschreibt, sondern die «wahre Natur». Diese «wahre Natur» erteilt ihm Lehren über dasjenige, was im Menschen lebt, über die Geheimnisse der menschlichen Seele, über die Geheimnisse der vier menschlichen Temperamente, über die Ge­heimnisse der menschlichen Sinne, über die Geheimnisse der Ele­mente, über die Geheimnisse der Planeten. Sie führt ihn dann hinaus über den Planetenbereich in den Ozean des Weltendaseins bis an die Säulen des Herkules, wohlgemerkt: in einer Zeit, in der es noch nicht den Kopernikanismus gegeben hat, in einer Zeit, in der Amerika noch nicht wieder neu entdeckt worden war. Dann wird er darauf aufmerksam gemacht, daß er alles das, also die ganze sichtbare Welt, zu verlassen hat. Dann werde er erst erkennen die Geheimnisse von Gut und Böse; dann werde er erst erkennen den Gott der Liebe und so weiter. Man möchte sagen, diese Betrachtungsweise Brunetto Latinis ist eine richtige Silvesterbetrachtung des vierten nachatlantischen

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Zeitraums in der kosmischen Neujahrszeit des Heranrückens des fünften nachatlantischen Zeitraums.

Man wußte in den Kreisen, aus denen Brunetto Latini und andere herausgewachsen sind, daß der Mensch einen Zusammenhang mit der geistigen Welt hat, und daß das bloße wortgemäße Erfassen der geistigen Welt zum Unheil führen muß. Einen vorläufigen Höhe­punkt hat auch in der Wissenschaft die bloße Wortgläubigkeit im 19. Jahrhundert gefunden. Es hat sich alles vorbereitet, aber im 19. Jahrhundert ist die Sache aufs höchste gestiegen. Und von der Wissenschaft sind die entsprechenden Neigungen übergegangen in das übrige menschliche Erleben. Jetzt aber ist die Zeit herangekommen, wo der Mut gefunden werden müßte, zu brechen mit dem alten Götzendienst der Worte, mit dem alten Götzendienst sogar mancher als Naturgesetze angesehenen Wortzusammenhänge, Wortzusammen­stellungen.

Damit, daß man ein Wort hat, ist für die Sache an sich noch nicht viel getan. Im Beginne der neuen Zeitrechnung fand das Mysterium von Golgatha statt. Seit jener Zeit besteht das Christentum. Es gab allerdings Jahrhunderte, in denen dieses Christentum mit der ganzen menschlichen Seele zu ergreifen gesucht worden ist. Aber dann kamen andere Zeiten. Dann kamen die Zeiten, in denen das mensch­liche Begreifensvermögen schwach wurde und nicht mehr ausreichte, das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Und es ist jetzt in weite­stem Umkreise von dem Mysterium von Golgatha so ziemlich nichts mehr zurückgeblieben als der Name des Christus Jesus. Aber ich habe in diesen Betrachtungen gezeigt: Dasjenige, was man mit diesem Namen des Christus Jesus verbindet, ist vor der Geisteswissenschaft nicht viel mehr als ein Engelwesen. Und daß man dieses nicht be­merkt, rührt nur von dem Götzendienst der Worte her. Dieser Götzen­dienst der Worte hat eine suggestive Gewalt. Wer diese suggestive Gewalt - ohne Götzendiener zu werden - gefühlt hat, der konnte sie auf den mannigfaltigsten Gebieten erfahren. Es ist ja manchmal gut, wenn man, ohne albern zu werden, an Persönliches anknüpft. Ge­statten Sie mir in diesem Falle, ein Exempel zu statuieren.

Ich muß oftmals gedenken, wenn ich so versuche, den Grundton

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der gegenwärtigen Zeit zu charakterisieren, der Vorlesungen, die ich einstmals gehört habe über Staatsrecht. Nur einen ganz kleinen Teil dessen lassen Sie mich herausgreifen aus diesen Vorträgen über Staats­recht: Nun, meine Herren, was ist Justizhoheit? Justizhoheit ist das in der Staatsomnipotenz liegende Hoheitsrecht. - Und nun folgte das­jenige, was alles in diese Staatsomnipotenz fällt. Meine Herren! Was ist Finanzhoheit? Finanzhoheit ist das in der Staatsomnipotenz: lie­gende Hoheitsrecht. Was ist politisches Hoheitsrecht? Politisches Hoheitsrecht ist das in der Staats omnipotenz liegende..., - und nun folgte wiederum das, was in der Staatsomnipotenz liegt. Was ist Kultushoheit? Kultushoheit ist das in der Staatsomnipotenz liegende Hoheitsrecht.

Nun denke man sich die Menschenseele, ausgestroht, mit diesen gedrechselten Begriffen hingestellt und soziale Wirksamkeit ent­wickelnd - was hat man dann? Was man jetzt um sich herum sieht und wovor man die Augen verschließt, damit man es nur ja für etwas recht Gescheites halten kann, das nur etwas ausgerutscht ist in den letzten Jahren, dasjenige, was aber gut ist und fortgesetzt werden muß! Die Wahrheit wird aber nicht an Worten erkannt, die Wahrheit wird an Wirklichkeiten erkannt. Man kann lang schöne, selbstverständlich auch wahre Worte reden über das Vorzügliche einer demokratischen Staatsverwaltung, über das Musterhafte einer demokratischen Staats­verwaltung. Aber an dem Einblick, ob das richtig oder unrichtig ist, zeigt sich nicht die Wirklichkeit; sondern die Wirklichkeit zeigt sich darinnen, daß eine solche demokratische Staatsverwaltung einen Herrn Wilson an die Spitze fast der ganzen Welt bringt. Darin zeigt sich die Wirklichkeit. Und mit dem Reden von der Wirklichkeit findet man noch wenig Anklang. Ich habe nicht ohne Absicht vor diesem Kriege in meinem Helsingforser Zyklus auf die ganze Hohlheit der Persön­lichkeit des Herrn Woodrow Wilson hingewiesen. Sie können es im Zyklus nachlesen, der über die Bhagavad Gita und ihre okkulten Grundlagen gehalten worden ist. Einer unserer Freunde hat sich ja dazumal am Schlusse des Vortrags gefunden und gesagt, es sei doch schrecklich, daß so etwas zu Einfluß und Macht kommt.

Mit Grundsätzen geschieht in der Welt nichts. In der Welt geschehen

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die Dinge durch Wirklichkeiten. Im sozialen Leben sind die Wirklichkeiten die Persönlichkeiten. Das ist etwas, worauf stark und kräftig gerade Geisteswissenschaft hinweisen muß, weil Geisteswissen­schaft es ehrlich und aufrichtig mit der Entwickelung der Menschheit meinen will, weil sie nirgends sich anschließen will an das Phrasen­gepränge, das heute die Welt beherrscht. Und ich meine mit diesem Phrasengepränge nicht das allein, daß man Phrasen ausspricht, son­dern ich meine das viel Schlimmere: daß man Phrasen zu verwirk­lichen sucht, daß man Phrasen zu Einrichtungen macht, daß man sich nicht entschließt, die Dinge bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.

Es würde unendlich viel getan sein in der Welt, wenn man die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen wollte. Man würde dadurch auf mancherlei kommen, worauf ich öfter aufmerksam gemacht habe: daß man doch nicht auf den äußeren Schein so viel geben soll, als ob das Allerwesentlichste an den gegenwärtigen katastrophalen Ereignissen dieses wäre, daß die sogenannte Entente gegen die sogenannten Zen­tralmächte Krieg führt, und daß wieder ein Friede zustande kommen muß! Ich habe ja öfter darauf hingewiesen: Das ist nicht das Wesent­lichste, das ist nicht das Wichtigste, denn das ist vielfach Schein. Das­jenige, worüber in der Welt gestritten wird, ist etwas wesentlich anderes. Etwas viel Universelleres ist im Grunde genommen der Kampf der nach Wirklichkeit strebenden Phrase gegen die lebendige Wirklichkeit. Nur dadurch kommt man über die Dinge hinaus, daß man bei sich selber Einkehr hält, inwiefern man hängt an der Be­quemlichkeit der Phrase.

Dazu ist schon einige Gelegenheit auch hier an diesem Orte. Für uns, die wir durch Liebe mit diesem Bau und dem, was damit zu­sammenhängt, verbunden sind, für uns drückt sich gewissermaßen doch symbolisch dasjenige, was in der Zeit liegt, dadurch aus, daß dieser Bau begonnen worden ist wie eines der Zentren, von denen ausstrahlen soll dasjenige, was die Menschheit in eine Zukunft hinübertragen muß nach den Forderungen der Gegenwart, und wie dieser Bau unterbrochen worden ist, unterbrochen dasteht durch dasjenige, was jetzt im Hintergrunde aller Menschheitsbetrachtungen und aller Menschenwerke steht: der große Zusammenbruch der Institutionen

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der Menschheit, welche heraus aus der Liebe zur Phrase schon seit Jahrhunderten erwachsen sind.

Nicht ohne Bedacht habe ich in den Wochen, in denen wir wieder­um zusammensein durften, bis jetzt, wo sich das Jahr wendet, den Grundton auch unserer Betrachtungen hier am Bau selbst ernst ge­halten und immer wieder durchklingen lassen die Notwendigkeit, daß wenigstens in dem, was uns freisteht, gesucht werde der notwendige Ernst des Lebens; in dem, was uns freisteht in der Einsicht, in dem vorurteilslosen Verfolgen der Ereignisse. Daß auch dieser Bau auf ganz unbestimmte Zeiten hinaus aufgehalten worden ist, es ist ja viel­leicht ein kleines Ereignis innerhalb der so katastrophalen Ereignisse der Gegenwart, aber es ist symptomatisch, es ist in gewisser Beziehung symbolisch; symbolisch aus dem Grunde, weil man einen Strich ziehen könnte zwischen dem, was aus der Intention dieses Baues heraus für die Menschheit geliebt wird und dem, was aus dem Worte «Götzendienst» und dem damit Zusammenhängenden geliebt wird.

Gegenwärtig, an dieser Jahreswende, steht ja noch immer im Hintergrunde all dessen, was man betrachten und tun kann, das große katastrophale Ereignis. Und man muß an dieser Jahreswende zurück­denken an die vorige Jahreswende. Einen Monat nach dieser vorigen Jahreswende trennten wir uns. Ich muß noch denken an den Kontrast, den auch in unserem Kreise meine oftmals mit Härte die Situation bezeichnenden Worte gefunden haben. Wer da kennt, aus welchem Impulse heraus die katastrophalen Ereignisse heraufgekommen sind, der konnte vor einer Jahreswende nicht daran denken, daß dieses Jahr 1917 nicht noch ein übleres wird als die vorhergehenden. Das mußte man sich dazumal sagen. Obwohl man sich auf der einen Seite sagen mußte und sagen konnte, wie unendlich traurig es war, daß ein doch gut gemeinter Vorschlag - wie ich dazumal in der Weihnachts- und Neujahrsbetrachtung sagte - bebrüllt worden ist von dem, was sich «vier Fünftel der Menschheit» nennt, und wie es unter diesem Bebrüllen nicht die rechte Stimmung war, optimistisch in dieses Jahr 1917 hinauszuschauen, so ist es, wenn wiederum zurückgeschaut wird, auch dann nur ein unbefangener Blick, wenn man sich sagt: Gibt es irgend etwas, wofür Aussicht vorhanden ist, daß es der oder jener

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aus seinem egoistischen Gruppeninteresse heraus erreicht? Gibt es irgend etwas, wofür Aussicht vorhanden ist, daß es für solches Inter­esse erreichbar ist und wofür diese Aussicht nach einem neuerdings blutigen, furchtbaren Jahre gestiegen ist? - Nein, nein! Die Welten­situation war am Schlusse des Jahres 1916 genau dieselbe, wie sie heute ist; denn diese Weltensituation wird erst dann eine andere wer­den, wenn Vernunft in das Denken kommt.

Wer da glaubt, daß etwas Wesentliches sich seit Jahresfrist geändert hat, der irrt sich darin, der nimmt dasjenige, was äußerlich ist, für Inneres. Damit ist nicht gemeint, daß dieses oder jenes, was wiederum in bequemer Lebensauffassung als etwas Günstiges zunächst be­zeichnet wird - bis die Leute nach ein paar Monaten sehen, daß es nichts Günstiges ist -, nicht gemacht werden kann. Aber die Dinge liegen ja viel tiefer; sie liegen so tief, daß es nach den Erfahrungen, die gemacht worden sind, ja nicht einmal möglich ist, gerade mit Bezug auf die Ereignisse der Gegenwart, das maßgebliche Wort auch hier auszusprechen. Die Menschheit hätte in der Gegenwart eine Aufgabe. Und nach einem solchen Jahr, wie dieses ist, kann man schon einige Worte über diese Aufgabe sprechen.

Daß diese katastrophalen Ereignisse geworden sind, das ist sicher keine Menschheitsaufgabe. Daß diese katastrophalen Ereignisse fort­gesetzt werden, ist sicher auch keine Menschheitsaufgabe. Eine Menschheitsaufgabe ist diese: aus diesen katastrophalen Ereignissen herauszukommen; wirklich herauszukommen aus diesen katastropha­len Ereignissen und anzuerkennen, daß es eine Aufgabe ist, aus ihnen herauszukommen.

Daß man dies oder jenes im alten Stile weitermachen will, das macht es nicht aus. Es kann ja schon gesagt werden: Wenn einige Sozialisten glauben, dasjenige, was sie zum Heile der Menschheit auch schon vor siebzehn Jahren geglaubt haben, jetzt als Universalmedizin ver­wenden zu können, um aus der großen Menschheitskalamität heraus­zukommen, so ist das ein Irrtum, ein Irrtum, der eben von Wirklich­keitsfremdheit herrührt.

Diese katastrophalen Ereignisse setzen sich ja aus zwei Dingen zu­sammen, die man beide heute nicht vermag in allem, was draußen

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außerhalb der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft exi­stiert, wirklich zu verstehen. Auf der einen Seite sind diese katastro­phalen Ereignisse nur möglich geworden durch die Art und Weise, wie man für gewisse Ziele den großen Gegensatz benutzt hat, der sich in der Menschheit herausgebildet hat im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte zwischen alldem, was industrieller, kommerzieller und so weiter Imperialismus ist, und dem Sozialismus, der das ihm Entgegenstehende ist. Das ist das eine. Das andere ist dasjenige, was sich herausgebildet hat durch die Völkerpsychologie, die insbesondere im Osten Europas und in Mitteleuropa eine große Rolle spielt. In beiden Dingen sind Menschheitsprobleme umspannendster Art ent­halten.

Wir müssen eben da anfangen, wo man am wenigsten heute von der Außenwelt gestört wird, wo die äußere Kodifizierung noch am wenig­sten mitspricht, in der Wissenschaft, in der Kunst. Oder wir könnten einmal auf Grundlage unserer Grundsätze eine Bank begründen.

Vielerlei könnte angeführt werden, welches neben diesem Holz- und Betonbau zeigen würde eine Art Idealbau, der aber aus dem Leben und aus der Wirklichkeitsfreundschaft herausgeholt ist. Dieser Holz- und Betonbau steht heute unvollendet da; das ist ein Symptom, das ist ein Symbolum. Diese Dinge, weder der wirkliche noch der Idealbau oder die Idealbauten können fertiggemacht werden, wenn Verständnis in der Welt nur vorhanden ist für das Entgegengesetzte, für dasjenige, was allen Individualismus, alle Persönlichkeitsimpulse aus der Menschheit austilgen muß. Wenn wieder zurückerobert wer­den muß für die Menschen dasjenige, was in abstrakten Institutionen verfließt, in den Tyranneien der abstrakten Institutionen verfließt, dann wird dazu viel Zeit notwendig sein.

Manches muß eben, wenn man so sagen darf, durch die Blume ge­sprochen sein; jeder mag versuchen, aus den Dingen sich das zu ziehen, was er ziehen kann. Aber vor allen Dingen sollte das gezogen werden, was sich ja ergibt, wenn man erwägt, daß nicht umsonst ge­wisse Dinge diesmal immet wieder und wieder wiederholt worden sind: die Mahnung, von all dem Phrasenhaften, auch wenn dieses Phrasenhafte äußere Scheinrealität gewonnen hat, von allem Phrasenhaften

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abzugehen und sich hinzuwenden zur Wahrheit, zur wahren Wirklichkeit. Denn diese wahre Wirklichkeit suchen wir durch unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Durch sie wollen wir eindringen in das Verständnis dessen, was ist, desjenigen, was wirken muß. Und frei wollen wir werden von jenem falschen Idealis­mus - falschen Idealismus, weil er ein abstrakter Idealismus ist -, der glaubt, ohne Studium, ohne Kenntnis und Liebe gegenüber der Wirk­lichkeit irgend etwas in der Welt wirken zu können.

In den Zeiten, in denen das eine Jahr das andere ablöst, liegt es der Menschenseele so nahe, ernstere Gedanken anzustellen über das, wie sich die eigene Seele Hineinstellt in das Leben und in das Wesen des Seins. Man kann heute keine ernsteren Gedanken anschlagen als die sind, die herkommen von dem Gegensatze zwischen einer wirklich­keitsfremden und auf ihre Wirklichkeitsfreundschaft so falsch stolzen Welt, und zwischen dem, was angestrebt werden soll durch eine wirk­liche Wirklichkeitsfreundschaft, wie sie anstrebt die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft.

Tragen wir - neben dem, was wir so leicht entwickeln können -eine gewisse Neigung zum Aufnehmen geistiger Wahrheiten, weil sie uns in einer angenehmen Weise unsere Beziehungen zur Ewigkeit und dergleichen vor die Seele stellen, tragen wir zu dem, was eine Art Nei­gung ist, sich mit geisteswissenschaftlichen Wahrheiten zu befassen, auch hinzu einen wirklichen, inneren, starken, hingebungsvollen Impuls: das Leben, alles Leben in dem Lichte dieser Geisteswissenschaft zu betrachten. Versuchen wir hinüberzutragen aus einem Jahre, das wahrhaftig nicht leicht zu durchleben war, in das nächste, das auch nicht leicht zu durchieben sein wird, versuchen wir hinüberzutragen den Willen, das Leben im Sinne der Geisteswissenschaft an­zuschauen, den Willen, frei zu werden von der bloßen Phrase, die heute die Welt beherrscht. Denn es ist schon etwas getan, wenn wenig­stens ein kleines Häuflein von Menschen in der Welt ist, das eine Silvesterbetrachtung anstellen kann, dahingehend, nicht in ihren Ge­danken mitzumachen den Götzendienst der Phrase. Es ist dies etwas. Gewöhnen wir uns für viele Dinge, die es brauchen, neue Worte, neue Begriffe, neue Vorstellungen an!

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Das sei gesagt - da wir wieder eine Silvesterbetrachtung haben konnten innerhalb dieses unvollendeten Baues, mit dessen Formen, mit dessen Wirklichkeit wir so viele Zukunftsgedanken verbinden -, damit wir den Gedanken fassen können, in dieses Neujahr hinüber­zuleben so, daß wie ein brennender Impuls, wie ein Feuer in uns sei, daß diese Geisteswissenschaft nicht bloß eine Theorie ist, die wir im stillen Kämmerlein pflegen, sondern werde zu etwas, was in unsern Kopf, in unser Herz, in unsere Hände, in alles übergeht, was im Leben durch uns werden und geschehen soll.

Aus den Worten heraus, die vielleicht hart geklungen haben, die aber doch nur aus Liebe zur Menschheit gesagt worden sind, aus die­sen Worten heraus möchte ich Ihnen den Impuls geben, möchte ich Sie auf den Impuls deuten, diese Wende zweier Jahre so durchdenken zu wollen, daß der Gedanke sein kann Ausgangspunkt eines wirklich unbefangenen Durchschauens von dem, was wirklichkeitsgemäß und unwirklichkeitsgemäß ist. Denn mehr, mehr als die Menschheit heute denkt, hängt an diesem. Und man möchte wahrhaftig etwas anderes noch haben als schwache Worte für einen kleinen Kreis in einer Zeit, in der in Silvesterbetrachtungen so vieles andere notwendiger sein würde als das, was ganz gewiß heute vielfach als Silvesterbetrach­tungen gesprochen wird. Aber seien wir uns dessen bewußt, daß Geisteswissenschaft eine gewisse Berechtigung hat, solches Anders sein Wollen von uns zu verlangen!

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ACHTER VORTRAG Dornach, 4.Januar 1918

Die Zeit, die uns zur Verfügung steht, will ich benützen, um noch einiges geltend zu machen, das sich an unsere bisherigen Betrach­tungen anschließen, aber sie doch im wesentlichen erweitern wird. Dazu ist notwendig, daß wir heute einleitungsweise einmal einen kleinen Rückblick auf ältere Weltanschauungen machen.

Ich habe dieses Mal im Laufe der öffentlichen Vorträge in der Schweiz öfter gesagt, daß jenes Wissen, jene Art des Denkens, welche gegenwärtig die Menschen beherrscht, die in den menschlichen Seelen Platz gegriffen hat, nicht geeignet ist, einzugreifen in das sozial-sittliche Leben, und daß eine Gesundung von den gegenwärtigen Verhältnissen erst dadurch eintreten kann, daß die Menschen wieder­um die Möglichkeit finden, zu einem solchen Denken, zu einem sol­chen Begreifen der Welt zu kommen, durch welches das, was in der Seele lebt, wiederum eine unmittelbare Verbindung mit der Wirk­lichkeit hat.

Ich sagte, daß dasjenige, was im geschichtlichen, im sozialen, im ethischen Leben waltet, von den Menschen mehr oder weniger ver­träumt, verschlafen wird, daß abstrakte Begriffe jedenfalls nicht ge­eignet sind, die Impulse zu ergreifen, die im sozialen Leben wirksam sein müssen. Ich sagte, in früheren Zeiten haben sich die Menschen aus älteren, wie wir oftmals sagen, aus atavistischen Erkenntnissen heraus durch den Mythus beholfen. Sie haben in mythischer Form zum Ausdruck gebracht dasjenige, was sie von der Welt dachten, was von den Weltengeheimnissen in ihre Anschauung hereinkam. Mythen, den Inhalt der Mythologie, kann man in der mannigfaltigsten Weise betrachten, und ich habe ja auf eine geradezu grandios materialistische Ausdeutung des Mythus durch Dupuis in diesen Betrachtungen hingewiesen.

Wir haben an andern Orten wiederholt seit Jahren diesen oder jenen Mythus betrachtet. Aber gegenüber den Mythen sind viele Gesichts­punkte möglich, und wenn dies oder jenes über einen Mythus gesagt

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ist, so ist sein Inhalt noch längst nicht erschöpft. Es kann immer wie­der und wiederum von verschiedenen andern Gesichtspunkten anderes in bezug auf den Mythus geltend gemacht werden. Es wäre sehr nütz­lich für die Menschen heute, wenn sie sich die Natur jenes Denkens klarmachen würden, welche der mythischen, der mythologischen Vorstellungsweise zugrunde lag. Denn die Begriffe, die man sich über die Entstehung der Mythen, über die Schöpfungen der Mythologien macht, die gehören ja eben in den Bereich der heute so häufigen ober­flächlichen Urteile.

In den Mythen stecken tiefe Wahrheiten, die mit der Wirklichkeit mehr zusammenhängen als diejenigen Wahrheiten, welche durch die moderne Naturwissenschaft über diese oder jene Dinge ausgesprochen werden. Physiologische, biologische Wahrheiten über den Menschen stecken in den Mythen, und sie stecken so in den Mythen, daß beim Entstehen desjenigen, was im Mythus zum Ausdruck kommt, das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit des Menschen als Mikro­kosmos mit dem Makrokosmos zugrunde liegt. Insbesondere kann man - und darauf möchte ich heute und morgen hinauskommen -, wenn man die Natur des mythischen Denkens ins Auge faßt, sich eine Vorstellung machen, wie tief oder eigentlich wie wenig tief man mit den gewöhnlichen heutigen Begriffen in der Wirklichkeit drinnensteckt. Da ist es nützlich, einmal sich zu erinnern, wie bei einander benachbarten Völkern der vorchristlichen Zeit Mythen ausgebildet worden sind. Einander benachbart und vielfach in ihrer Kultur von­einander abhängig sind ja die alten Ägypter, die Griechen und wieder­um die Israeliten. Außerdem kann man sagen, daß ein großer Teil des Denkens, das heute noch immer in den Seelen waltet, zusammenhängt mit demjenigen, was in mythischer Form und in der Art ihres Wissens die Ägypter, die Griechen, die Israeliten zu ihren Erkennt­nissen hatten.

Der Mythus, auf den ich zunächst heute - aber wie gesagt wiederum von einem gewissen Gesichtspunkte aus - mit Bezug auf die Kul­tur der Ägypter hindeuten möchte, das ist der Osiris-Isismythus. Ich habe ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß auch der Osiris-Isis­mythus von Dupuis als eine bloße Priesterlüge aufgefaßt wird, da

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eigentlich die Priester gemeint hätten, für sich nichts anderes gemeint hätten als gewisse astronomische, astrologisch-astronomische Vor­gänge, und für das Volk einen solchen Mythus gezimmert hätten.

Bei den Griechen kann man ja in interessanter Weise betrachten, wie sie mit ihrem eigenen Leben zusammenhängend nicht nur eine An­zahl von Göttern haben, sondern wie sie ganze Göttergenerationen haben: die älteste Göttergeneration zusammenhängend mit Gäa und Uranos; die nächste Göttergeneration mit Kronos und Rhea, die Titanen, alles was mit ihnen verwandt ist; und die dritte Götter-generation: die Nachkommen der Titanen, Zeus und der ganze Zeus­-Götterkreis. Wir werden sehen, wie die Ausbildung solcher Göttermythen besonderer Seelenartung entspringt.

Die griechische, die israelitische, die ägyptische Art, sich zum Weltenall zu verhalten, sind verschieden. Dennoch herrscht in alldem, wie wir gleich sehen werden, eine tiefe Verwandtschaft sowohl in bezug auf andere Gesichtspunkte, als auch in bezug auf den, den ich heute zugrunde legen will. Bei den Ägyptern muß man sagen, daß sie vor allen Dingen in der Zeit, in der die Osiris-Isismythe entstand als Repräsentanz für tiefere Wahrheiten, ein Wissen ausbildeten, das die Sehnsucht hatte, tiefere Grundlagen der menschlichen Seele zu er­kennen. Die Ägypter wollten den Blick dabei richten auf dasjenige in der menschlichen Seele, welches nicht nur lebt zwischen Geburt und Tod, sondern welches durch Geburt und Tod durchgeht und auch ein Leben führt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Schon äußerlich betrachtet kann man an den Ägyptern sehen, wie sie den Seelenblick hinrichten - in der Bewahrung der Mumien, in ihrem eigentümlichen Totendienste - auf dasjenige in der Seele, was durch die Pforte des Todes durchgeht und in einer neuen Gestalt neue Schicksale erlebt, wenn der Mensch Bahnen wandelt, die jenseits des Todes liegen.

Was ist das im Menschen, welches die Pforte des Todes durchschreitet und welches hereinkommt durch die Geburt in das irdische Dasein? Diese Frage lag mehr oder weniger unausgesprochen, un­bewußt dem Sinnen und Trachten der Ägypter zugrunde. Denn dieses Ewig-Unvergängliche - ich habe es in anderer Form ja schon

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öfter ausgesprochen - ist dasjenige, das doch zusammengeknüpft ist im ägyptischen Bewußtsein mit dem Osirisnamen. Nun betrachten wir einmal, damit wir eine Grundlage haben, die Osirismythe mit Bezug auf ihre wichtigsten Gesichtspunkte; betrachten wir sie einmal so, wie sie aufbewahrt ist.

Von Osiris wird erzählt, daß er einstmals in Ägypten geherrscht habe. Es wird erzählt, daß ihm die Ägypter vor allem die Abschaffung der Menschenfresserei verdanken; daß ihm dann die Ägypter ver­danken den Pflug, den Ackerbau, die Zubereitung von Speisen aus dem Pflanzenreiche, den Städtebau, gewisse Rechtsbegriffe, Astro­nomie, Beredsamkeit, sogar die Schrift und dergleichen. Es wird dann erzählt, daß Osiris nicht nur unter den Ägyptern solche wohltätigen Künste und Einrichtungen einführte, sondern daß er auch Reisen unternahm in andere Länder und dort ähnliche wohltätige Künste verbreitete. Und zwar wird ausführlich bemerkt, Osiris verbreite sie nicht durch das Schwert, sondern durch die Überredung.

Dann wird weiter erzählt, daß des Osiris Bruder Typhon gegenüber dem, was sich durch den Einfluß des Osiris durch Jahrhunderte wohltätig für die Ägypter erwiesen habe, Neuerungen einführen wollte. Typhon wollte allerlei Neuerungen einführen. Wir würden heute sagen: Nachdem die Einrichtungen, die von Osiris herrührten, jahr­hundertelang bestanden haben, machte Typhon eine Revolution, während Osiris abwesend war, bei andern Völkern seine Einrich­tungen verbreitete. - Es unterscheidet sich ja das ein wenig von dem letzten Beispiel der Revolution: da geschah dasjenige, was Neuerer taten, nicht, während der andere wohltätige Einrichtungen bei andern Nationen verbreitete. Aber eben, zwischen Osiris und Typhon spielte sich das Erwähnte ab.

Dann aber erzählt der Mythus weiter: Isis wachte zu Hause in Ägypten. Isis, die Gemahlin des Osiris, ließ nicht zu, daß die Neue­rungen nun besonders durchgreifend sein konnten. Das hatte aber zur Folge, daß Typhon wütend wurde, und als Osiris zurückkam von seinen Wanderungen, da tötete ihn Typhon und brachte den Leich­nam irgendwie auf die Seite. Isis mußte viel suchen nach dem Leich­nam. Sie fand endlich den Leichnam in Phönizien, brachte ihn nach

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Hause, nach Ägypten. Typhon wurde noch wütender, riß den Leichnam in Stücke. Isis sammelte die Stücke, machte aus jedem einzelnen Stück des Leichnams durch Spezereien, durch allerlei andere Mittel wiederum ein Wesen, das die ganze Gestalt des Osiris hatte. Dann schenkte sie den Priestern des Landes ein Drittel des gesamten Ge­bietes von Ägypten, damit das Grabmal des Osiris geheimgehalten werde, sein Dienst aber um so mehr gepflegt würde.

Es wird das Merkwürdige an diesen Mythus geschlossen, daß nun Osiris aus der Unterwelt heraufkam, als schon sein Dienst eingeführt war in Ägypten, und daß er sich damit beschäftigte, den Horus, den Sohn; den Isis nachgeboren hatte, nachdem Osiris schon tot war, zu unterrichten. Dann wird erzählt, daß Isis die Unvorsichtigkeit hatte, den Typhon, den einzusperren ihr gelungen war, wiederum freizulas­sen. Darüber wurde Horus, ihr Sohn, wütend, riß ihr die Krone vom Haupte herab, setzte ihr Kuhhörner auf statt dessen, und Typhon wurde mit dem Beistande des Hermes - also dessen, was der römische Merkur dann ist, auch der griechische Hermes - in zwei Schlachten besiegt. Eine Art Horuskultur, die Kultur des Sohnes des Osiris und der Isis, griff Platz.

Die Griechen haben durch diesen oder jenen Mittler gehört von dem, was die Ägypter sich erzählten über die Weltengeheimnisse. Es ist merkwürdig, in welcher Weise oft in Griechenland von demselben gesprochen wurde, von dem in Ägypten drüben, oder auch in Phöni­zien drüben, oder Lydien oder dergleichen gesprochen worden ist. Es flossen gewissermaßen ineinander - das ist sehr bezeichnend und bedeutsam - diese Göttervorstellungen. Wenn der Grieche den Osirisnamen hörte, dann konnte er sich etwas darunter vorstellen; dann identifizierte er dasjenige, was sich der Ägypter unter dem Osiris vorstellte, mit etwas, wovon er auch gewisse Vorstellungen hatte. Es war, trotzdem der Name ein anderer war, den Griechen nicht fremd dasjenige, was der Ägypter unter dem Osiris sich vorstellte. Das bitte ich Sie zu berücksichtigen. Das ist sehr bedeutsam.

Die ganze Sache tritt noch einmal ein. Lesen Sie einmal die «Ger­mania» von Tacitus. Da schildert Tacitus auch die Götter, die er hun­dert Jahre nach der Begründung des Christentums in nordischen

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Gegenden findet, und er schildert sie mit den römischen Namen. Er gibt also den Göttern, die er da findet, römische Namen. Trotzdem selbstverständlich die Götter, die Tacitus da antraf, mit ganz andern Namen belegt wurden, so erkannte er ihre Wesenheit und konnte ihnen die römischen Namen geben. Wir finden in der «Germania», daß er wußte: die Menschen nordwärts haben einen Gott, das ist der­selbe Gott wie der Herkules und so weiter. Das ist sehr bedeutsam, und das zeigt auf etwas sehr Tiefes und Bedeutsames. Das zeigt, daß in diesen älteren Zeiten ein gewisses gemeinsames Bewußtsein über geistige Dinge vorhanden war. Der Grieche wußte sich bei Osiris etwas zu denken, unabhängig von dem Osirisnamen, weil er etwas Ähnliches hatte. Es war ihm nicht fremd dasjenige, was sich hinter dem Osirisnamen verbarg.

Das ist etwas, was man wohl ins Auge fassen muß, um zu erkennen, daß trotz der Verschiedenheit der einzelnen Mythen eine gewisse Seelengemeinschaft vorhanden war. Man möchte zuweilen, daß so viel Gemeinschaft als da, sagen wir, zwischen den Griechen und den Ägyptern vorhanden war, so daß die Griechen das verstanden, was die Ägypter ausdrückten, man möchte wünschen, daß unter den modernen Menschen so viel Verständnis vorhanden sein könnte! Ein Grieche würde niemals so viel Unsinn über ägyptische Vorstellungen gesprochen haben, wie der Herr Wilson über europäische Vor­stellungen in einer Woche zu denken - wenn man das denken nennen kann - in der Lage ist!

Die Griechen erzählten, daß Kronos mit Rhea auf eine nicht richtige Weise einen Sohn gezeugt habe. Also die Griechen sprechen von Kronos und Rhea - wir werden gleich nachher sehen, wie sie in die griechische Mythe hineingehören, Kronos und Rhea -, und dieser unrechtmäßige Sohn, der so erzeugt worden ist, das war der Osiris. Also denken Sie einmal: Die Griechen hören von den Ägyp­tern, daß die einen Osiris haben; und die Griechen ihrerseits erzählen über diesen Osiris, daß er ein Sohn sei von Kronos und Rhea, aber auf eine nicht richtige Weise gezeugt, so unrichtig gezeugt, daß der Helios, der Sonnengott, über die Sache so wütend wurde, daß er die Rhea deshalb unfruchtbar gemacht hat.

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Also eine gewisse Verwandtschaft finden die Griechen zwischen ihren eigenen Göttervorstellungen und den ägyptischen Götter­vorstellungen. Aber auf der andern Seite wiederum: was die Ägypter in gewissem Sinne als ihren höchsten Gottesbegriff doch auffassen, den Osirisbegriff, das verbinden die Griechen mit einer ungesetzlichen Entstehung, durch Kronos und Rhea, aus dem Titanengeschlecht also.

Äußerlich zunächst begreift man dieses - wir werden es viel tiefer noch zu begreifen haben -, wenn man sich klarmacht: Die Ägypter wollten das Ewige der Menschenseele kennenlernen, dasjenige, das durch Geburten und Tode geht. Aber um dieses Ewige im Leben kennenzulernen, richteten die Ägypter vor allen Dingen ihren Seelenblick nach dem Tode hin. Osiris ist den Menschen in Ägypten, durch welche die Griechen von Osiris erfahren haben, nicht mehr der Gott der Lebendigen, sondern der Gott der Toten, der Gott, der auf dem Weltenthrone sitzt und richtet, wenn der Mensch durch des Todes Pforte gegangen ist, der Gott also, den der Mensch nach dem Tode zu begrüßen hat. Gleichzeitig aber wußte der Ägypter: derselbe Gott, der die Menschen richtet nach dem Tode, er hat einmal über die Lebendigen geherrscht.

Schon wenn man diese Vorstellungen zusammennimmt, wird man nicht mehr geneigt sein, dem Dupuisschen Urteile zuzustimmen, daß es sich nur um Sternenvorgänge gehandelt hat. Diese Dupuis-Urteile haben viel Bestrickendes; aber bei einem intimeren Zuschauen er­weisen sie sich doch als recht oberflächlich. Ich sagte, die Agypter richteten sich vor allen Dingen - in der Zeit, als die Griechen von ihnen den Osirisbegriff bekamen - auf die menschliche Seele nach dem Tode hin. Das lag den Griechen fern. Gewiß, diese Griechen sprachen schon auch von der menschlichen Seele nach dem Tode. Aber indem sie von ihren Göttern sprachen, sprachen sie nicht eigentlich von Osirisnaturen, nicht von solchen Göttern, die vorzugsweise richten nach dem Tode. Das Geschlecht, dem Zeus angehört, das ist ein Göttergeschiecht für Lebende. Zu dem blickte der Mensch vorzugs­weise hinauf, wenn er diejenige Welt seelisch ins Auge faßte, welcher der Mensch angehört zwischen der Geburt und dem Tode - ein Göttergeschlecht für Lebende: Zeus, Hera, Pallas Athene, Mars,

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Apollo und so weiter. Aber es waren eben diese Götter, man könnte sagen, das für die Griechen zunächst letzte Göttergeschiecht, denn die Griechen richteten ihren Blick auf drei hintereinanderliegende Göttergenerationen.

Die älteste Göttergeneration schließt sich an Uranos und Gäa an, oder besser gesagt an Gäa und Uranos. Das war das älteste Götterpaar, mit allen Geschwistern und so weiter, die dazugehörten. Von diesem Götterpaar stammten die Titanen ab, zu denen auch Kronos und Rhea gehörten, vor allen Dingen aber auch Okeanos. Sie wissen, daß durch gewisse grausame Maßregeln - so wird erzählt im Mythus - der Uranos den Zorn seiner Gattin Gäa hervorgerufen hat, so daß diese den Kronos, ihren Sohn, bewogen hat, den Vater auf dem Weltenthron unmöglich zu machen. Und wir sehen dann abgelöst diese ältere Götterherrschaft von der jüngeren, von Kronos und Rhea, mit alledem, was dazugehört. Sie wissen ja auch, daß der Kronos im griechischen Mythus - ich hebe einzelne Züge hervor, die wir be­sonders brauchen werden - die in mancher Beziehung etwas un­sympathische Eigenschaft hatte, daß er seine Kinder alle verschlang, nachdem sie geboren waren, was der Mutter Rhea unangenehm war. Und Sie wissen auch, daß sie den Zeus dann bewahrt hat, und den Zeus wiederum herangezogen hat, seinerseits den Kronos zu stürzen, wie der Kronos den Uranos gestürzt hat, nur auf eine andere Weise; so daß dann das neue Göttergeschlecht kommt. Es ist besser, wenn ich es umgekehrt schreibe, also: Rhea-Kronos. Und dann haben wir Hera und Zeus mit allem, was dazugehört, mit allen Geschwistern, Kindern und so weiter.

Ein bedeutsamer Zug in der Mythe, den ich erwähnen muß, weil wir ihn brauchen werden, wenn wir die Mythe als Grundlage für allerlei Weltanschauungsvorstellungen betrachten wollen, ist der, daß Zeus, bevor er die Titanen besiegt und in den Tartaros gestürzt hat, ehe er das getan hat, die Göttin Metis, die Göttin der Klugheit be­wogen hatte, ihm ein Brechmittel zu fabrizieren, wodurch die von Kronos sämtlich verschlungenen Kinder wiederum an den Tag be­fördert werden konnten, so daß sie also wieder da waren. Also da­durch konnte Zeus zu seinen Geschwistern wiederum kommen, nicht

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wahr, denn die waren ja in dem Leib des Kronos drinnen gewesen; nur Zeus selber war durch die Mutter Rhea gerettet worden.

Und so haben wir drei aufeinanderfolgende Göttergenerationen: Gäa-Uranos; Uranos durch die Gäa gestürzt, weil er grausam war, durch die Kinder Kronos und Rhea verdrängt; dann Kronos wieder­um gestürzt durch Zeus, ebenfalls auf Anstiften der Rhea. In dem Zeuskreise haben wir diejenigen Götter, die uns da entgegentreten, wo die eigentliche griechische Geschichte an uns herantritt.

Nun möchte ich Sie besonders aufmerksam machen auf einen sehr bedeutsamen Zug dieser griechischen Göttermythologie. Er wird wenig klar hervorgehoben, trotzdem er einer der wichtigsten Züge ist. Drei aufeinanderfolgende Göttergeschlechter: das sind also die Herrscher des Makrokosmos. Aber während Gäa und Uranos, Rhea und Kronos, Hera und Zeus regieren, ist überall nach der griechischen Vorstellung der Mensch schon da. Von dem Menschen ist schon durchaus die Rede. Als also Kronos mit der Rhea noch gar nicht regierte, sondern noch die Gäa mit dem Uranos, namentlich aber als der Kronos mit der Rhea regierte und der Zeus noch gar nicht im Besitze seines Brechmittels und dergleichen war, da waren schon nach Anschauung der Griechen die Menschen auf der Erde. Und sie lebten, wie die Griechen erzählten, sogar ein glücklicheres Leben als später. Die späteren Menschen sind die Nachkommen dieser früheren Menschen. So daß man also sagen muß, der Grieche hatte das Bewußtsein: oben regiert Zeus, aber wir Menschen stammen ab von andern Vorfahren, die noch nicht von Zeus regiert worden sind. Das ist ein wichtiger Zug der griechischen Götterlehre: daß der Grieche seinen Zeus, seine Hera, seine Pallas Athene verehrte, aber sich klar war, daß die nicht ihn geschaffen haben, was man im allgemeinen «schaffen» nennt, sondern daß die Menschen viel früher da waren, als die Herrschaft dieser Götter begonnen hat.

Daß dies besonders wichtig ist für die griechischen Götter, kann Ihnen dann auffallen, wenn Sie die Sache vergleichen mit der jüdi­schen Götterlehre. Es ist natürlich ganz undenkbar, daß Sie den­selben Zug auf die jüdische Götterlehre übertragen. Sie können sich unmöglich vorstellen, daß nach dem Alten Testament die Menschen

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auf Vorfahren hinweisen würden, die noch nicht unter der Herrschaft von Jahve und den Elohim gestanden hätten. Also das ist etwas, was in gewaltiger Weise verschieden ist in der griechischen Götterlehre. Der Grieche sieht hinauf zu seinen Göttern und weiß: die regieren zwar jetzt, aber die haben mit dem, was ich «Schaffen des Menschen­geschlechts» nenne, zunächst nichts zu tun.

Das war durchaus nicht möglich innerhalb der alttestamentlichen Vorstellungen. Da hatten diejenigen, zu denen man als zu Göttern aufsah, in der Hauptsache wohl mehr mit der Schöpfung des Menschen zu tun. Bei den Dingen, die man so im Weltengange betrachtet, da ist es schon wichtig, daß solche Sachen ins Auge gefaßt werden. Und nicht darauf kommt es an, daß man sich bloß Vorstellungen macht, sondern darauf, daß man die Vorstellungen, die einem die Wirklichkeit vermitteln, ins Auge zu fassen vermag; die besonders charakteristischen, die besonders tragenden Vorstellungen, die muß man ins Auge fassen. Und damit haben wir sogleich einen wichtigen Zug der griechischen Götterlehre ins Auge gefaßt. Sie wollen wir zunächst einmal vor unserer Seele hinstellen. Wenn der Grieche also zu seinen Göttern hinaufsah, so waren sie ihm nicht diejenigen, von denen er das Bewußtsein hatte: sie haben mich erschaffen. Denn die Menschen waren eben, wie gesagt, schon früher da, bevor diese Götter ihr Regiment angetreten haben. Also dasjenige, was diese Götter konnten, das war für den Griechen gewiß etwas recht Respek­tables, aber sie konnten für ihn nicht ein Menschengeschlecht auf einem Planeten hervorbringen. Das lag im griechischen Bewußtsein: diese Götter konnten nicht ein Menschengeschlecht hervorbringen. Nun, was waren denn für dieses griechische Bewußtsein eigentlich die Götter dieses Zeuskreises, diese olympischen Götter? Wenn man auch nur geschichtlich sich eine Vorstellung davon machen will, was diese Götter waren - ich meine jetzt im griechischen Bewußtsein, wir haben ja natürlich verschiedenes über diese Götter gesagt, aber wir wollen uns jetzt einmal in dieses griechische Bewußtsein versetzen -, was waren denn da diese Götter? Nun, sie waren nicht Wesen, die unter gewöhnlichen Umständen unter den Menschen herumspazierten. Sie wohnten ja auf dem Olymp, sie wohnten auf den Wolken und dergleichen.

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Sie machten nur manchmal sympathische oder auch un­sympathische Besuche. Besonders Zeus, wie Sie wissen, machte manchmal sympathische oder unsympathische Besuche innerhalb der Menschenwelt. Sie waren in gewisser Beziehung nützlich; aber sie verrichteten auch Dinge, über die sich der moderne Mensch, der etwas philiströser ist als die Griechen, wahrscheinlich dadurch Recht verschaffen würde, daß er solch einem Zeus - einen Ehescheidungsprozeß an den Hals hinge oder so etwas. Jedenfalls, nicht wahr, waren diese Götter mit den Menschen in einem halb göttlichen, halb menschlichen Verhältnisse, und solche Wesen, so dachte man, sind nicht im Fleische verwirklicht. Wenn Zeus seine Dinge verrichten wollte, nicht wahr, dann nahm er ja allerlei Gestalten an: Schwan, goldener Regen oder dergleichen; also sie waren im gewöhnlichen Leben nicht im Fleische inkarniert, diese Götter.

Aber wenn man wiederum tiefer schaut auf der andern Seite, dann ist es doch so, daß die Griechen das Bewußtsein hatten: Diese Götter hängen zusammen mit Menschen, die in der Vorzeit gelebt haben. Viel mehr als auf den Zusammenhang mit den Sternen, den Dupuis meint, schauten die Griechen doch auch hinauf zu Menschen der Vor­zeit und brachten - ich bitte, jetzt genau zuzuhören, wie ich den Satz forme, denn darauf kommt es an -, und brachten die Vorstellung von dem Wesen des Zeus in Verbindung mit irgendwelchen alten Herr­schern oder dergleichen, einer längst vergangenen Zeit. Also bitte, ich habe nicht gesagt, daß die Griechen die Vorstellung hatten, das, was sie sich unter dem Zeus vorstellten, das wäre ein alter Herrscher ge­wesen; sondern ich sage: Das, was man sich als den Zeus vorstellte, brachte man in Verbindung mit einem alten Herrscher, der einmal in längst vergangenen Zeiten gelebt hat. Denn die Art der Verbindung für den Zeus und auch für andere Götter, war eine ziemlich komplizierte.

Wir wollen einmal die Worte etwas pressen, damit wir uns Vorstellungen bilden können über das, was da eigentlich zugrunde liegt. Nehmen wir also an, irgendeinmal habe in Thrazien, in einem der Gebiete des nördlicheren Griechenland, eine Persönlichkeit auf dem physischen Plane gelebt, an welche die Zeusvorstellung anknüpft.

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Nun, da war der Grieche, schon der ganz gewöhnliche Grieche, sich durchaus klar: Ich verehre nicht etwa diesen Vorfahren, ich verehre auch nicht die einzelne Individualität, die in diesem Vorfahren ge­wohnt hat, aber ich verehre doch etwas, was mit diesem alten Vorfahren, diesem alten König in Thrazien oder Epirus, irgendwo, etwas zu tun hat. - Der Grieche hatte nämlich die Vorstellung, es gab ein­mal einen solchen König, in dessen ganzem Wesen nicht nur dessen eigene Individualität gelebt hat, sondern die Individualität eines übersinnlichen Wesens; die hat sich ausgedrückt, hat sich auf der Erde dargelebt dadurch, daß sie einmal in einen Menschen gefahren ist. Also damit war der Zeusbegriff nicht verirdischt, aber er war in Zu­sammenhang gebracht mit einem alten Herrscher, der einmal das Ge­wand, oder sagen wir die Behausung, abgegeben hatte für dieses Zeuswesen.

Es unterschied der Grieche also wesentlich dasjenige, was er sich von Zeus vorstellte, von der Menschenindividualität, die in dem Körper gelebt hat, auf welche die Zeusvorstellung bezogen wurde. Aber gewissermaßen den Ausgangspunkt nahm die Zeusherrschaft, die Zeus-Götterherrschaft dadurch, daß der Zeus zunächst heruntergestie­gen ist, in einem Menschen gewohnt hat, von da aus seine Angriffspunkte gefunden hat, um im Menschenwesen weiter zu wirken - jetzt nicht mehr wie ein gewöhnlicher Mensch, sondern eben als «Olympier». Und so ist es auch bei den andern griechischen Göttern.

Warum hat sich denn der Grieche eine solche Vorstellung gemacht, die Vorstellung: Da hat es einmal einen Herrscher gegeben, der war gewissermaßen von Zeus besessen; jetzt gibt es aber keinen Herrscher mehr, der von Zeus besessen sein kann, sondern der Zeus regiert nur noch als übersinnliches Wesen. Warum hat sich der Grieche diese Vorstellung gebildet? Weil der Grieche wußte, daß die Menschenentwickelung fortgeschritten war, daß sie sich geändert hat; mit andern Worten, weil der Grieche wußte, daß es alte Zeiten gegeben hat, wo in besonders hervorragendem Maße die Menschen Imagina­tionen haben konnten, und als sie diese Imaginationen haben konnten, da konnten sie solche Wesen wie den Zeus aufnehmen, da konnte er im Menschenleibe wohnen. Dann ging die Zeit vorüber, in der die

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Menschen auf Erden Imaginationen in besonders hervorragendem Maße haben konnten. Es blieb ja natürlich immer ein gewisses Hellsehen für einige. Aber das Maßgebende der Imaginationen, das ver­ging. Die Wesen, die noch reale Imaginationen haben können, die können für das Leben, das der Mensch kennt zwischen Geburt und Tod, nur im Übersinnlichen walten.

Das ist das Wesentliche, was die Griechen von ihren Göttern sich vorstellten: es waren Wesen, die imaginieren konnten. Aber die Zeit ist vorbei, wo solche Wesen, die imaginieren können, in Menschen­leiber hineingehen können; denn die Menschenleiber sind nicht mehr geeignet zum Imaginieren. So sagten sich die Griechen: Wir werden beherrscht von einem Wesensgeschlechte, welches imaginieren kann, während wir nicht mehr imaginieren können. - Der Grieche hatte eine ganz unsentimentale Vorstellung von seinen Göttern. Es wäre ja auch schwer geworden, dem Zeus gegenüber sentimental zu sein. Der Grieche sagte sich doch im stillen, nun, ich werde die Sache jetzt wieder etwas pressen, man muß aber die Dinge manchmal etwas retusche­ren, wenn man ganz deutlich werden will: Wir Menschen machen eine richtige Entwickelung durch; wir haben die Entwickelung durchmachen müssen von atavistischem Hellsehen in Intuition, in Inspira­tion, in Imagination. Jetzt müssen wir das gewöhnliche gegenständliche Denken haben. Aber die Götter, die haben sich darauf nicht eingelassen, die sind bei ihrem Imaginieren geblieben; sonst müßten sie Menschen werden, müßten im Fleische hier herumwandeln. Das hat denen nicht gepaßt - so etwa dachten doch die Griechen in ihrer unsentimentalen Art, sich zu den Göttern zu verhalten -, zum gegen­ständlichen Denken überzugehen, daher sind sie nicht heruntergestiegen auf die Erde, sondern sind beim Imaginieren geblieben. Aber dadurch beherrschen sie uns; denn sie haben gewissermaßen mehr Macht, weil das imaginative Vorstellen mächtiger ist, wenn es ausgenützt wird, als das gegenständliche Vorstellen.

Daraus aber ersehen Sie, daß die Griechen zurückblickten auf eine Zeit, wo das Vorstellen, das Anschauen, das Wahrnehmen des Men­schen anders war, und daß dieses Zurückblicken zusammenhing mit den griechischen Göttervorstellungen. So blickten sie zurück auf Zeus,

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Hera, und sagten: Die beherrschen uns jetzt; früher waren wir auch so, aber wir haben uns weitergebildet, sind schwächer geworden. Daher können die über uns herrschen; die sind so geblieben, wie es dazumal war. - Einen gewissen luziferischen Charakter, würden wir heute sagen, gaben die Griechen damit ihren Göttern. Und diejenigen Wesen, welche beim Imaginieren stehengeblieben waren - das bildete sich im griechischen Bewußtsein heraus -, das waren wiederum die Nachkommen derjenigen Wesen, die nun gar beim Inspirieren stehen­geblieben sind. Hera und Zeus sind beim Imaginieren, Rhea und Kronos beim Inspirieren stehengeblieben, Gäa und Uranos beim Intuitieren.

Der Grieche hat auf seine eigene Seele geschaut, und mit der Ent­wickelung der Menschheit und ihren Bewußtseinszuständen brachte er seine Göttergenerationen in Zusammenhang. Das fühlte er, das emp­fand er. Die ältesten Götter, Gäa und Uranos waren solche Wesen, deren ganzes inneres Verhältnis zur Welt dadurch geordnet war, daß sie intuitierten. Sie wollten beim Intuitieren bleiben; dagegen haben sich die Inspirierenden gewendet. Und wiederum die Inspirierenden wollten beim Inspirieren bleiben; dagegen haben sich die Imaginieren­den gewendet. Es sind also die Intuitierenden untergegangen durch die Inspirierenden, die Inspirierenden durch die Imaginierenden. Wir leben als Menschen, über uns die Imaginierenden. Nun, Sie wissen ja, daß der Grieche im Prometheusmythus schon das Gelüste hatte, auch gegen die Imaginierenden irgendwelche Mittel zu finden.

Gäa - Uranos = Intuition

Mensch Rhea - Kronos = Inspiration

Hera - Zeus = Imagination

So stuften die Griechen ihre Götter ab, daß die Griechen in der Ab­stufung ihrer Götter zeigten, wie sie zurückblickten auf frühere Be­wußtseinszustände derjenigen Wesenheit, die sich als Menschheit zu gleicher Zeit entwickelt hat. Die Griechen zeigten, daß sie das mit diesem Zurückblicken auf die Götter verbanden. Denken Sie, wie tief bedeutsam dieses für das Verständnis des griechischen Bewußtseins

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ist! So sah der Grieche, indem er auf seine Göttergenerationen zurücksah, zurück auf Vergangenes im geistigen Leben. Er brachte die alten intuitierenden Wesen mit Gäa, der Erde, und Uranos, dem Himmel, in Zusammenhang; er brachte die inspirierenden Götter mit Rhea und Kronos in Zusammenhang. Gäa und Uranos merkt man noch an, was sie sind, Rhea und Kronos, sie werden als Titanen geschildert. Was sind sie eigentlich?

Nun, von dem, was da zugrunde liegt, ist der Menschheit seit ein paar Jahrhunderten fast alles Bewußtsein geschwunden. Aber ich erinnere Sie daran: Sie werden dies ja wissen, daß vor ein paar Jahrhunderten - Sie können das noch bei Jakob Böhme und Paracelsus finden, es geht bis Saint-Martin - das Menschenwesen noch in Zu­sammenhang gebracht worden ist mit drei grundlegenden Elementen.

Bei Jakob Böhme heißt es noch: Sal - das Salz, Mercur - das Quecksil­ber, Sulphur - der Schwefel. Im Mittelalter sagte man: Sal - Mercur -Sulphur. Man meinte nicht dasselbe, aber was man meinte, hatte etwas zu tun mit dem, worauf der Grieche deutete, wenn er sagte: Uranos-Gäa, beziehungsweise Gäa-Uranos, Rhea-Kronos, Hera-Zeus. Denn sehen Sie, der Kronos hat den Uranos entfernt von der Weltenherr-schaft. Die Gäa ist, würden wir sagen, so gut wie Witwe geworden. Was ist sie denn da geworden? Da ist sie erst das geworden, was Erde ist, aber nicht die gewöhnliche Erde, die wir draußen finden, sondern die­jenige Erde, die der Mensch in sich trägt: das Salz. Könnte der Mensch - das wußten die mittelalterlichen Naturforscher - sich in bewußter Weise seines in ihm befindlichen Salzes bedienen, dann würde er intuitieren können. Also der Prozeß war noch ein lebendiger in der alten Gäa-Uranoszeit, der in die Tiefe der menschlichen Natur hinuntergegangen ist.

Ein jüngerer Prozeß, der aber auch schon in die Tiefe der mensch­lichen Natur hinuntergegangen ist, ist der, den man bezeichnen könnte als Rhea-Kronosprozeß. Die Griechen sagten: Die Gewalt der Rhea hat sich einmal ausgebreitet, und «Kronos» waren die Kräfte, die der Rhea gegenüberstanden. Kronos ist gestürzt worden. Was ist ge­blieben? Nun, so wie von Uranos-Gäa das tote Salz geblieben ist, so ist von Kronos-Rhea das Flüssige, das Merkur geblieben; das im

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Menschen Flüssige, das Tropfenform annehmen kann, das ist zurückgeblieben. Aber der Mensch kann sich dessen auch nicht bewußterweise bedienen; es ist in die unbewußten Tiefen heruntergegangen.

Heute ist das natürlich längst vorbei, und in der Griechenzeit selber war es schon vorbei; denn die Griechen sagten sich ja: Auf der Erde war die Zeuszeit in grauer Vorzeit, aber dazumal konnte sich der Mensch des in ihm befindlichen Schwefels bedienen. Würde der Mensch bewußt sich seines Salzes bedienen können, würde er in­tuitieren in atavistischer Weise. Könnte er sich seines Merkur, seines Flüssigen bedienen in bewußter Weise, würde er inspirieren; er würde imaginieren, wenn er sich seines Schwefels bedienen könnte - nicht in jenem übertragenen Sinne, sondern in wirklichem Sinne, wie es noch die mittelalterlichen Alchimisten verstanden, wenn sie von dem «philo­sophischen Schwefel» sprachen. Heute gibt es auch einen philoso­phischen Schwefel: Philosophieprofessoren, die fabrizieren ihn im reichlichsten Maße, aber das haben die Alchimisten nicht darunter verstanden, sondern sie haben verstanden ein Imaginieren, ein atavi­stisches Imaginieren, welches zusammenhing mit dem Gebrauche dieses im Menschen tätigen Schwefels. Die Menschen, so wollten die Griechen sagen - und ihre Mysterienpriester sagten es auch, denn die Mysterien von Sal, Mercur und Schwefel sind alt -, die Menschen, wollten die Griechen sagen, sie haben durch ihre Entwickelung über­wunden den Atavismus, sich atavistisch des Schwefels zu bedienen. Aber Zeus und seine Geschwister haben sich ins Übersinnliche zurück­gezogen und bedienen sich der Vorgänge des Schwefels. Daher kann Zeus seine Blitze schleudern. Könnte der Mensch ebenso wie Zeus Blitze schleudern, das heißt, könnte er den Schwefel durch Imagination in Realitäten umsetzen, könnte der Mensch innerlich bewußt Blitze schleu­dern, dann würde er atavistisch imaginieren. Das wollten die Griechen sagen, wenn sie von Zeus sprachen, daß er Blitze schleudern kann.

Nicht wahr, noch Saint-Martin, könnte man sagen, hat ja gewußt, daß mit dem Schwefel der Alchimisten etwas anderes gemeint ist als der gewöhnliche irdische Schwefel, von dem man höchstens sagen könnte - verzeihen Sie den harten Ausdruck -, er ist das Exkrement desjenigen, was noch Saint-Martin und die älteren unter dem wirklichen

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Schwefel verstanden, den sie auch den «philosophischen Schwefel» nannten. Und Saint-Martin spricht noch davon, wie das Blitzen und Donnern wirklich zusammenhängt mit den Vorgängen des makrokosmischen, oder man könnte sagen, des kosmischen Schwefels.

Heute schlängelt sich ja so manche physikalisch-naturwissenschaft­liche Erklärung in die Wissenschaft hinein, welche - auch ein Schwefel ist, aber nicht gerade ein «philosophischer Schwefel». Denken Sie doch, heute sind die ganz gescheiten Leute natürlich darüber hinaus, von diesen Schwefelvorgängen im Kosmos zu sprechen, wenn Blitz und Donner entstehen; denn Blitz und Donner entstehen, so wie Sie es in den elementaren Physiklehrbüchern lesen können, durch so etwas wie Reibungsvorgänge in den Wolken, nicht wahr. Was rechtes Vernünftiges kann man sich ja nicht vorstellen bei dem, was über Blitz und Donner da gesagt wird; denn die nassen Wolken in ihrer gegen­seitigen Wirkung sollen diese Elektrizität, die ja durch Blitz und Donner zutage tritt, erzeugen. Wenn man nun aber ein elektrisches Experiment macht in der Schulstube, so trocknet man sorgfältig alle Apparate, denn wenn nur ein bißchen Nässe ist, so entsteht nichts Elektrisches. Aber die Wolken sind scheinbar da oben nicht naß! Der Herr Lehrer kann nicht einmal mit einer nassen, ja nicht einmal mit einer nicht ganz trockenen Elektrisiermaschine etwas anfangen; aber gleichzeitig erklärt er, daß die nassen Wolken da mit der Entstehung der Elektrizität zusammenhängen sollen. Ja, solche Dinge mischen sich da schon hinein. Aber ich wollte nur sagen, daß bei Saint-Martin noch ein Bewußtsein davon vorhanden ist, daß dieses Element, von dem die Griechen träumten, wenn sie von Hera und Zeus sprachen, etwas zu tun hat mit Blitz und Donner.

Die Dinge liegen so, daß selbst schon oberflächliche Vorstellungen uns darauf hinweisen können, daß gewisse Naturprozesse, die Salz-, Merkur-, Schwefelprozesse, aber im alten Sinne aufgefaßt, zusammen­hängen mit demjenigen, was die Griechen in ihrer Götterlehre hatten. Halten wir das zunächst fest. Wir müssen solche grundlegenden Be­griffe haben, damit wir dann auf unsere Zeit in entsprechender Weise übergehen können.

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Also die Griechen sahen zurück auf Göttergeschlechter, aber auf untergegangene Verhältnisse, die in älteren Zeiten auch dem Men­schen wahrnehmbar waren. Dasjenige, was in ihren Göttern lebte, brachten sie in Zusammenhang mit dem, was wir Naturprozesse nennen. Es war also die Mythologie zugleich eine Art Naturwissen­schaft. Und je mehr man die Mythologie kennenlernt, desto tiefere Naturwissenschaft wird man darin finden, nur eine andere Natur­wissenschaft, die zu gleicher Zeit Seelenwissenschaft ist. So hatten die Griechen gedacht, und ebenso die Ägypter mit ihrem Osiris, der ein­mal geherrscht hat und der nun in der Unterwelt ist.

Merken Sie, wie verschieden die Dinge sind, und daß sie doch auf einen gewissermaßen gleichen Typus zurückgehen? Wenn die Griechen auf ältere Zeiten zurückweisen, wo so ein Wesen wie der Zeus, der jetzt nur noch überirdisch - «jetzt» bezieht sich auf die griechische Zeit - leben kann, auch in einem Menschen sich verkörpern konnte, so konnten die Ägypter auch hinweisen auf eine ältere Zeit, wo Osiris oder Osirisse - auf die Zahl kommt es dabei nicht an - ge­herrscht haben, wo sie in den Menschen hineingestiegen waren, wo sie da waren. Aber die Zeit ist dahin; jetzt kann man nicht mehr auf einen Menschen auf dem physischen Plan schauen - das «jetzt» be­zieht sich wiederum auf die ägyptische Osiriskultur -, sondetn man muß in die Welt schauen, die der Mensch betritt, wenn er durch die Pforte des Todes geht, wenn man überhaupt an den Osiris denken will. Osirisse sind nicht mehr auf der Welt, wo die Menschen leben, sondern der Mensch begegnet ihnen nach dem Tode. Also auch der Ägypter blickte zurück auf eine alte Zeit im Sinne der Veränderung des menschlichen Bewußtseins, wenn er unterschied zwischen dem Osiris, der einmal auf Erden wandeln konnte, und dem Osiris, der jetzt nicht mehr auf der Erde wandeln kann, der nur dem Totenreiche angehört.

Wenn wir uns heute beschränken auf die zwei Mythologien und morgen, bevor wir auf die Konklusionen eingehen, kurz streifen werden die alttestamentliche Mythologie, so merken wir es heraus aus der Art und Weise, wie die Griechen, wie die Ägypter zu ihren Göttern standen, daß sich in diesem Bewußtsein zugleich ausdrückte

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die Erinnerung an die alten atavistischen Hellseherzeiten. Diese sind dahin, sie sind nicht mehr da. Mit den Schicksalen, die der Mensch mit seinen Göttern zusammen erlebt hat, sei es mit Zeus oder Kronos in Griechenland, sei es mit Osiris in Ägypten, schilderte der Mensch für sich zugleich das, was er wußte: Wenn ich weiter zurückblicke, da stand ich als Mensch in einer anderen Weise mit dem Makrokosmos in Beziehung als jetzt. Das hat sich geändert.

In dieser Art und Weise zurückzublicken auf die früheren Zeiten, wo die Götter unter den Menschen wandelten, das hatte etwas Tatsächliches für diese alten Völker, weil sie wußten: der Mensch stand in dieser alten Zeit in einer andern Weise als Mikrokosmos zum Makrokosmos als jetzt. Untergegangen ist das alte atavistische Hellsehen im wesentlichen im vierten nachatlantischen Zeitraum. Das wollte man sagen durch die griechische Mythologie, das wollte man entsprechend auch sagen durch die Osirismythologie der Ägypter.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 5. Januar 1918

Es kam mir gestern darauf an, aufmerksam darauf zu machen, daß die besondere Gestaltung solcher Mythologien, wie die Osirismythe, die griechische Mythologie - und in gewissem Sinne, wir werden noch darauf zurückkommen, auch die alttestamentliche Lehre - zu­sammenhängen mit Änderungen des Bewußtseinszustandes der Menschheit. Wir wissen ja, wie es mit diesem Bewußtseinszustand der Menschheit in seiner Entwickelung sich verhält; wir wissen, daß wir zurückzublicken haben auf frühere Zeiten der Menschheitsentwicke­lung, in denen altes Heilsehen vorhanden war, das heißt, Wahrnehmbarkeit für übersinnliche Dinge. Zurückblicken mögen wir auf solche Dinge aus dem Grunde, weil diese Rückblicke orientierend sind. Es soll ja wiederum ein auf das Übersinnliche gerichtetes Anschauen der Menschheit errungen werden; es soll errungen werden auf dem Wege durch die Geisteswissenschaft, durch das geisteswissenschaft­liche Denken. Was da der einzelne tun kann, gleichgültig an welchem Platz in der Welt er steht, das einzusehen, dazu kann helfen der Wille, sich für das, was werden soll, zu orientieren an dem, was gewesen ist.

In gewissem Sinne spielen sich ja die Dinge in den folgenden Zeiten ab in Anknüpfung an Vorgänge früherer Zeiten. Wir blicken zurück von unserem fünften nachatlantischen Zeitraum, in dessen Entwickelung wir drinnenstehen, auf den vierten nachatlantischen Zeitraum, den griechlsch-lateinischen, und auf den dritten, den ägyptischen; kommen dabei schon hinein in die Zeit, in der es den Menschen natürlich war, dasjenige, was sie über Weltengeheimnisse sinnen und denken wollten, in gewissen mythischen Bildern, in mythischen Ima­ginationen zum Ausdruck zu bringen. Wir haben es in anderem Zu­sammenhange schon erwähnt, daß wir in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum in gewissem Sinne zu wiederholen haben in einer Art umgekehrten Weise dasjenige, was sich im dritten nachatlantischen Zeitraum, in dem ägyptisch-chaldälschen Zeitraum zu­getragen hat, so daß das wiederum auf eine andere Weise herauskommt.

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Die Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» weist ja auch auf solche Dinge hin.

Nun haben wir gestern gesehen, daß in der Zeit der griechisch-lateinischen Entwickelung, in der Zeit, die mit dem 7. oder 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beginnt, eine Art Zurückschauen der Menschheit vorhanden war. Und eben dieses Zurückschauen auf andere Bewußtseinszustände drückte sich aus in den imaginativen Mythen von den regierenden geistigen Wesenheiten, so wie wir gestern davon gesprochen haben. Die Menschen wußten im vierten nachatlantischen Zeitraum: Wir sehen, wenn wir um uns herum schauen, nur noch das Sinnliche; wir können über das andere denken. - Sie wissen allerdings, wenn Sie aufmerksam verfolgt haben dasjenige, was in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» steht, daß in der Griechenzeit und noch viel später die Menschen gewissermaßen, wie noch Goethe es getan hat, die Ideen gesehen haben, daß sie wirklich sagen konnten: Wir sehen sie. - Das ganz abstrakte Denken ist erst in der neueren Zeit gekommen. Aber das war eben ein Sehen der Ideen. Ein Sehen geistiger Wirklichkeiten, ein Leben in geistigen Wirklichkei­ten, das war im vierten nachatlantischen Zeitraum in seinem vollen Sinne nicht mehr vorhanden; aber die Leute erinnerten sich, daß es früher vorhanden war. Sie sagten, und zwar sagten sie der Wirklich­keit entsprechend: Es sind Wesen vorhanden, die nicht Menschen sind, die in übersinnlichen Welten wohnen, die haben sich das Leben in den Imaginationen noch erhalten. - Solche Wesen sahen die Grie­chen in den Wesenheiten des Zeuskreises.

Die Ägypter hinwiederum haben sich gesagt: Jene Zeit, in der die Menschen noch unmittelbar mit den Imaginationen lebten, das war die Zeit, in der Osiris auf Erden gewandelt hat. - Sie meinten natür­lich nicht einen Osiris, sondern man meinte, daß es überhaupt eine Zeit gab, in der die Menschen auf der Erde in Imaginationen lebten, und diese Artung der Menschenseelen, in Imaginationen leben zu können, die bezeichnete man eben dadurch, daß man sagte: Osiris herrschte auf Erden. Verlorengegangen, getötet worden war dieses Leben in Imaginationen. Osiris ist von seinem Bruder - das heißt von derjenigen Kraft der Menschenseele, die zwar auch noch auf das Übersinnliche

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geht, aber nicht mehr die imaginativen Fähigkeiten ent­wickeln will -, von Typhon getötet worden. Es ist nicht mehr das alte Hellsehen vorhanden. Die Kräfte, die im alten Hellsehen tätig waren, sind jetzt bei den Toten. Deshalb ist Osiris der Totenrichter. Der Mensch trifit ihn, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist. Mit dem Todesgeheimnis zusammen brachten die Menschen, welche die Osirismythe in den Mittelpunkt ihres Denkens stellten, die Gestalt des Osiris und der Isis. Aber es liegt in den Einzelheiten, durch die die Osirismythe ausgestaltet worden ist, all das, was ich so sage, eigentlich drinnen. Es ist auch der Zeitpunkt angegeben, in dem der Sage nach Osiris getötet worden ist von Typhon.

Und geradeso, wie wir hinweisen konnten auf eine ganz bestimmte Himmelskonstellation, welche die Magier des Morgenlandes kannten als diejenige Konstellation, in der die neue Weltenzeit herankommen solle - wir haben in den Weihnachtsvorträgen darauf hingewiesen, daß an einer gewissen Konstellation der «Jungfrau» die Magier des Morgenlandes erkannt haben, daß sie ihre Opfer dem neuen Weltenheiland darzubringen haben -, so haben auch diejenigen, die an die Osirismythe ihre Gedanken anschlossen, zurückverwiesen auf ganz bestimmte Sternenkonstellationen. Sie haben gesagt: Osiris wurde ge­tötet - sie wollten sagen: Hingeschwunden ist das alte Leben in den Imaginationen -, als die im Herbste untergehende Sonne im sieb­zehnten Grad des Skorpion stand, und an dem entgegengesetzten Punkte der Vollmond im Stier oder in den Plejaden aufging. Diese Konstellation des im Stier in einem bestimmten Jahrpunkte aufgehen­den Vollmondes im Zusammenhange mit der Skorpionstellung der Sonne, diesen Zeitpunkt der Entwickelung haben die Osirisbekenner als denjenigen angegeben, in dem Osiris von der Erde verschwunden ist, das heißt, in dem er nicht mehr da war.

Die Dinge geschehen natürlich so, daß sie Erbschaften hinterlassen. Es gab immer Leute, Nachzügler bis in die letzten Jahrhunderte herein mit imaginativem Hellsehen; aber es handelt sich jetzt darum, darauf hinzuweisen, wann von der Erde verschwunden ist das imaginative Hellsehen als eine normale Eigenschaft der Menschenseele. Und ein Bewußtsein haben die Menschen gehabt davon, daß in jenen Zeiten,

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in denen auf der Erde imaginatives Hellsehen geherrscht hat, ganz andere Zustände waren, als sie später gewesen sind. Auch darauf wird sehr deutlich in der Osiris-Isismythe hingewiesen. Aber man versteht gerade dieses unter den Erklärern der Osiris-Isismythe heute sehr, sehr wenig.

Nicht wahr, es wird ja erzählt: Als Isis erfuhr, daß ihr Gemahl, der Osiris, getötet worden sei, ging sie auf die Suche nach dem Leichnam. Sie fand diesen zuletzt in Byblos in Phönizien und brachte den Leich­nam des Osiris nun von Phönizien zurück nach Ägypten. - In solch einer Mythe ist eine tiefe Weisheit, eine Weisheit der Menschheits­physiologie ausgedrückt. Was waren denn da für Zustände während der Osiriszeit? Während der Osiriszeit war noch nicht eine solche Schrift, wie es die spätere Schrift geworden ist. Was während der Osiriszeit in Ägypten herrschte, war Bilderschrift, und die Bilderschrift war etwas Heiliggehaltenes. Diese Bilderschrift, wie war sie denn eigentlich zustande gebracht? Sie war zustande gebracht da­durch, daß man die wichtigsten Zeichen - die wichtigsten Zeichen waren nicht diejenigen, die irdischen Tieren oder irdischen Formen nachgebildet waren - wiederum nach den Sternenkonstellationen bil­dete, und zwar nach dem, was das hellseherische Auge in den Sternenkonstellationen sah.

Wenn ich aus jetzt Naheliegendem einen Vergleich machen soll, so möchte ich sagen, Sie haben in dem «Traumlied vom Olaf Asteson» gehört, wie er die Geisterschlange, den Geisterhund, den Geisterstier empfindet. Er schildert, was er an ihnen empfindet. Denken Sie sich solche Bilder, aber noch in viel vollkommenerer Gestalt als Zeichen, so sind solche Zeichen eben abgebildete Imaginationen. Solche Zei­chen als die Zeichen der ältesten Schrift wurden heiliggehalten. In solchen Zeichen war die Weltenweisheit für die alten Zeiten ent­halten, diese Weltenweisheit, die eben zugleich eine Himmelsweisheit war, indem man in der Sternenschrift die Weltengeheimnisse las so, wie es jetzt die Toten nur noch tun. Die Gabe, eine Schrift zu haben, die eigentlich eine Wiedergabe der Imaginationen ist, war der Mensch­heit eben nur in einem gewissen Zeitpunkte, in einem gewissen Zeitraume eigen, und schwand. Und die Alten wußten: In der Osiriszeit

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war diese imaginative Art, zu schreiben, vorhanden. Zugleich mit dem Abtöten des alten Lebens der Welt in Imaginationen ging die alte Bilderschrift dahin, und dasjenige, was die abstrakte Schrift geworden ist, welche nicht mehr Geheimnisse ausdrückt, sondern nach und nach, weil sie eben abstrakt geworden ist, nur dazu dient, Sinnliches aus­zudrücken, die gewöhnliche, die Buchstabenschrift ist entstanden. So, wie der Osiris angesehen wurde in jenen alten Zeiten als der Heros, als der göttliche Heros der imaginativen Schrift, so ist Typhon, sein Bruder, aber Gegner, der Heros der sich daraus entwickelnden abstrakten Buchstabenschrift.

Das ist in tiefsinniger Weise auch in der Osiris-Isismythe angedeutet. Nach Phönizien hinüber muß Isis gehen, um den Leichnam, das heißt, die in die Buchstabenschrift verwandelte Bilderschrift zu finden, den Leichnam des Osiris zu finden. In Phönizien ist die Buchstabenschrift, wie man sagt, «erfunden» worden. Von Phönizien zurück nach Ägypten ist wiederum das gekommen, was abstrakte Schrift ist, wäh­rend die Ägypter in ihren alten Mysterien in der Osiriszeit eine die Imaginationen nachahmende Bilderschrift hatten. Der Übergang also von der alten konkreten Auffassung in der imaginativen Schrift zu der neueren Auffassung in der abstrakten Schrift ist auch in der Osiris­-Isismythe zum Ausdrucke gekommen.

Alle diese Dinge leben im Entwickelungsgange der Menschheit. Wir blicken da zurück auf ein altes Erleben in Imaginationen. In den Mythen drückt sich eben wirklich physiologische Weisheit aus. Das Denken ist ja dann zu den Abstraktionen erst allmählich übergegangen, nicht gleich zu den ganz windigen Abstraktionen von heute, sondern noch zu etwas volleren Abstraktionen, etwa im 6., 5. Jahr­hundert vor der christlichen Zeitrechnung, mit Thales, womit man gewöhnlich die Geschichte der Philosophie beginnt. Sie können dar­über nachlesen in meinen «Rätseln der Philosophie». Aber Sie sehen daraus, daß die Menschheit zurückzublicken hat auf frühere Ent­wickelungsepochen mit ganz andern Seelenzuständen.

Von diesen ganz andern Seelenzuständen wissen allerdings gewisse Brüderschaften der neueren Zeit, allein sie halten - was in der Gegen­wart nicht mehr geschehen sollte - diese Dinge noch, ich möchte

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sagen, unter Schloß und Riegel. Es ist auch von einem gewissen Grade an etwas Gefährliches, von diesen Dingen zu reden. Aber bis zu einem gewissen Grade soll nicht nur, sondern muß heute über diese Dinge gesprochen werden, weil die Kenntnis alter Bewußtseinszustände der Menschheit eben orientierend ist für dasjenige, was sich als Neues ent­wickeln soll. Haben wir in uns die Gedanken von dem, was einmal da war, so kann uns das dienen, um die notwendigen, allerdings ganz andersartigen neueren Entwickelungszustände zu fördern.

Sie erleben heute an Knaben, die sich entwickeln, im Reifezeitalter die Stimmänderung. Es ist ja das bei den Knaben der Ausdruck eines Vorganges im Organismus, der in anderer Weise beim weiblichen Geschlechte vor sich geht, und der scheinbar, weil er sich beim weib­lichen Geschlechte mehr auf das unmittelbar Physische erstreckt, scheinbar beim weiblichen Geschlechte mehr in das Menschenwesen eingreift. Es ist aber nicht wahr. Der Eingriff ist bei den Knaben, wenn er auch auf einem gewissermaßen andern Boden liegt, geradeso stark, wenn er auch äußerlich physisch nur zum Ausdrucke kommt in der Stimmänderung.

Dieses Reifwerden des Menschen, das ist heute - man kann sagen, seit den Zeiten, da Osiris tot ist für die äußere Welt - fast ein physi­scher Vorgang. Es war nicht bloß ein physischer Vorgang damals, als Osiris lebte. Nein, es war ein seelischer Vorgang. Der Knabe erlebte im vierzehnten, fünfzehnten Jahre - Sie wissen, wir haben ja schon von andern Erlebnissen gesprochen in dieser Reifezeit -, er erlebte nicht nur, daß seine Stimme sich änderte, sondern dasjenige, was heute nur in die Stimmlage hineingeht, wenn wir so sagen dürfen, was sich in die Stimmlage hineindehnt aus den sexuellen Essenzen des Organis­mus. Nicht wahr, wir müssen ja auf solche Dinge der Wahrheit gemäß hindeuten: es wird einfach der Stimmapparat durchzogen von den Sexualessenzen des Organismus; was sich da heute nurmehr in die Stimmlage hineinpreßt, das preßte sich in jenen alten Zeiten auch in die Gedanken, in die Vorstellungswelt des Jünglings hinein. Heute mutiert die Stimme; dazumal mutierten auch die Gedanken, weil ja noch die alte imaginative Zeit da war. In dieser Zeit hatte der kind­liche Knabe vor dem Reifwerden gewisse Imaginationen. Heute sind

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nur spärliche Reste, aber spärliche Reste fast bei allen Kindern in zar­tem Alter vorhanden. Man gibt nur nicht acht darauf oder redet sie den Kindern aus als törichtes Zeug, aber in alten Zeiten war das ganz lebendig, und jeder Mensch wußte, daß das Kind so bis zum neunten, zehnten Jahre hin Imaginationen hat, Imaginationen von geistigen Vorgängen der Luft.

In der Luft gehen fortwährend geistige Vorgänge um uns herum vor sich. Die Luft ist nicht nur dasjenige, was die physische Wissenschaft beschreibt, sondern es gehen geistige Vorgänge vor sich. Diese geistigen Vorgänge, wesentlich also Vorgänge der ätherischen Welt, nahmen die Kinder in vollen Imaginationen wahr bis zum Reifealter. Und wenn das Reifealter eintrat, nicht nur für die Stimme, sondern für das Vorstellungsleben, so fühlte der Mensch etwas in sich - es war allerdings dasjenige, was aufschoß aus den Kräften, die man gewöhn­lich physiologisch die Sexualkräfte nennt, - es fühlte der Mensch in sich etwas, von dem er sagte: Was ich als Kind gesehen habe durch die Imaginationen im Luftraume, das lebt jetzt in mir auf, das ist An­schauung, das lebt in mir. - Das ging vor. Der Mensch wurde sich bewußt, daß er aus dem Luftraume etwas in sich aufgenommen hat. Vorher hat er es draußen gesehen, jetzt spürt er es in sich selber.

Bei weiblichen Wesen war es so in diesen alten Zeiten, daß sie vor der Reifezeit auch in Imaginationen wahrnahmen dasjenige, was im Luftraume draußen war. Aber nach der Reifezeit war dasjenige, was bei den Knaben bloß in dem Spüren einer Änderung des Vorstellungslebens auftauchte, nun wie ein Aufsteigen sogar noch innerer Imagi­nationen: Menschenbild war es, was das weibliche Wesen in sich im­mer wieder und wiederum imaginativ wahrnahm. Und da sagte es sich wiederum: Was ich jetzt imaginativ wahrnehme, ist dasselbe, was ich als Kind vor der Reife draußen im Weltenraume als imaginative Bilder erlebt habe. - Beide Geschlechter, nur in verschiedener Weise, erleb­ten es, daß sie eigentlich wußten, seelisch wußten: In mir wird etwas geboren, was der Weltenraum in mir befruchtet hat.

Da haben Sie eine noch konkretere Gestalt der Osiris-Isismythe: Es ist die Weltenweisheit, insofern sie aus dem Luftraume gewonnen wird, aber in organischem Zusammenhang ist mit dem Menschen, den

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tieferen Schichten des Menschengeistes. Sie können eine Vorstellung davon bekommen, wenn Sie es in der folgenden Weise versuchen. Heute denkt der Mensch in abstrakter Weise, indem er durch seinen Kopf dasjenige wissen will, was es in der Welt an Gesetzmäßigkeiten und so weiter gibt. In diesen alten Zeiten war man sich klar: Auf diese Weise, bloß durch den Kopf allein, kann man nicht wissen, sondern man weiß durch den ganzen Menschen. - Man weiß dasjenige, was im Luftraume draußen vorgeht, ätherisch vorgeht, dadurch, daß man es vorher gewissermaßen wahrgenommen hat draußen und nach der Reifezeit innerlich vorstellt oder erfühlt.

Wie nehmen Sie denn heute wahr mit dem abstrakten Wahrnehmen, das Sie haben? Sie gehen an etwas heran, was Sie mit den Sinnen sehen; dann denken Sie nach darüber. Das geschieht rasch hinterein­ander. Mit denjenigen Geheimnissen, durch die der Mensch in alten Zeiten eindrang in die Luftgesetzmäßigkeit, die in Imaginationen vor­handen war, da ging es anders. Als Kind, bis zum Reifezeitalter, nahm er wahr. Da nahm er nur wahr, nachher verarbeitete er das innerlich. Es ist nur, ich möchte sagen, ein in der Zeit verbreiteter Wahrnehmungs- und Denkprozeß. Während es heute in die Willkür des Men­schen gestellt ist, abstrakt anzuschauen und abstrakt nachzudenken, vorzustellen, war nüber das menschliche Leben verbreitet das, was wir jetzt zusammendrängen in ein paar Augenblicke mit Bezug auf die äußere physische Welt. Wahrnehmen, Vorstellen, das war etwas, was der Mensch in seinem Verhältnisse zur Welt ausgebreitet dachte über das ganze Menschenleben zwischen Geburt und Tod. Bis zum Reife-zeitalter nahm er gewisse Dinge wahr, nachher verarbeitete er sie. Solch eine Zeit gab es.

Nun denken Sie doch, die Leute haben sich gesagt: Dieses Wahr-nehmen und Denken darüber, das hängt in einer gewissen Weise zusammen mit dem Tag, mit der auf- und untergehenden Sonne. - Mit der aufgehenden Sonne, da erwacht man, steht auf, beginnt wahrzunehmen und zu denken; mit der untergehenden Sonne hört es auf, weil man sich schlafen legt. Mit einem Tag brachten also die Leute das Wahrnehmen und Denken in Zusammenhang; mit weiter ausgedehnten Weltenvorgängen am Himmel brachten sie das in Zusammenhang,

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was über das ganze Leben zwischen Geburt und Tod aus­gebreitet war. Wie es von der Sonne abhängt, von dem ganz gewöhn­lichen Auf- und Niedergang der Sonne, daß ich wahrnehmen und denken kann, so hängt es von größeren, ausgedehnteren Sternen-konstellationen ab, die nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden ein­treten, was der Mensch an Wahrnehmen und Denken entwickelt auf die Art, wie ich das geschildert habe. Und wie man in jenen alten Zeiten in Zusammenhang brachte das gewöhnliche sinnliche Wahrnehmen und Vorstellen mit dem Tag, mit dem Sonnenauf- und Unter­gang - was ja der heutige Mensch auch tut, wenn er auch nicht mehr daran denkt, wenn er auch glaubt, er richte sich nur nach der Uhr -, so brachte man dasjenige, was mit den weiterumfassenden Weltengeheimnissen zusammenhängt, in Zusammenhang mit den andern Sternenkonstellationen, mit den andern Vorgängen am Himmel.

Sie sehen, eine tiefe Logik, eine tiefe Weisheit liegt in diesen Dingen. Mit Oberflächlichkeiten, wie die von Dupuis sind, kommt man den Dingen nicht bei. Aber noch etwas anderes ist damit verbunden. Sie sehen, alle diese alten Völker - und wir könnten außer den Ägyptern und Griechen noch andere aufzählen -, alle diese alten Völker wußten, daß mit mehr nach innen gelegenen Kräften der menschlichen Natur zusammenhängt dasjenige, was die Vorgänge am Himmel, die Sternenkonstellationen ausdrücken. Jene Verdorbenheit des Menschen, die sich ausdrückt in der modernen Stellung zum Sexualproblem, und jene größte Verdorbenheit, die sich in der allermodernsten Stellung zum Sexualproblem ausdrückt, von der kannten die Alten in den Zeiten, von denen man sprechen muß, wenn man diese Dinge be­spricht, noch nichts. Für sie war es noch etwas ganz anderes, wenn sie die Empfindung hatten: die sexuellen Essenzen sind es, die sich in den Menschen ergießen, wenn er die Stimme und damit auch die Ge­danken mutiert, oder wenn das andere eintritt, wovon ich gesprochen habe. Daß das Göttliche da zu gleicher Zeit sich im Menschen aus­breitet, das war die Überzeugung der Alten. Daher dasjenige, was man heute in einem verdorbenen Sinne nur ansieht, das bei allen alten religiösen Riten sich findet: die sexuellen Symbole, die sogenannten

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sexuellen Symbole, die also hindeuteten auf diesen Zusammenhang; wir können ihn nennen den Zusammenhang zwischen Luft und Luft­vorgängen und demjenigen, was im Menschen an Erkenntnisprozes­sen während des ganzen Menschenlebens zwischen Geburt und Tod sich abspielt.

Durch mein Auge, durch mein Ohr - so sagten sich diese Leute - hänge ich zusammen mit dem, was der Tag bringt. Durch tiefere, nach innen gelegene Kräfte des Menschen hänge ich zusammen mit ganz anderem, was die Geheimnisse der Luft sind, die aber nur wahrgenommen werden im imaginativen Erleben. Und dieses imaginative Erleben in seiner konkreten Gestalt, das habe ich Ihnen für diese alten Zeiten geschildert.

Die alttestamentliche Anschauung änderte dann an der Sache insofern, als sie an die Stelle der Erfahrung die Lehre setzte, die religiöse Lehre. Der Ägypter der alten Osiriszeit, namentlich der älteren Osiriszeit, sagte: Es ist erst der wahre Mensch, der mit der Reife in mich herein kommt, indem ich aufnehme dasjenige, was ich vorher in Imaginationen gesehen habe. Die Luft übergibt mir den wahren Men­schen. - In der alttestamentlichen Lehre wurde dann das zu der An­schauung umgewandelt: Die Elohim oder Jahve haben den lebendigen Odem, die Luft eingeblasen den Menschen. - Da wurde heraus­gehoben die Essenz aus der unmittelbar lebendigen Erfahrung und wurde zur Lehre, zur Theorie. Das war notwendig, weil nur dadurch die Menschheit geführt werden konnte, und das ist ja der Sinn des Alten Testaments, von jenem Zusammenleben mit der Außenwelt, das noch ein inniges Band hatte zwischen dem Mikrokosmos, dem Men­schen, und dem Makrokosmos, der äußeren Welt, zu ihrer weiteren Entwickelung - doch darüber werde ich noch sprechen -, weil es not­wendig war, als dieses Band allmählich hinschwand, gerade zu einer solchen Lehre zu greifen, wie es die alttestamentliche war.

Nun kam aber die Zeit des Todes des Osiris, damit aber auch die Zeit, in der gewissermaßen, während das eine feiner wurde, das andere gröber wurde. Wie ist das zu verstehen? Nun, Sie können sich es so vorstellen: Wenn wir in die alte Osiriszeit zurückgehen, so sah oder erkannte vor der Reifezeit der Mensch in der äußeren Luft drinnen die

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Lichtimaginationen (siehe Zeichnung), wenn ich für die eine Art sprechen soll. Er sah also in seiner Umgebung in der Luft die Licht­imaginationen bis zu seinem Reifealter. Nachher hatte er das Gefühl, das wäre in ihn hineingegangen; und die Veränderungen waren vor sich gegangen, von denen wir gesprochen haben. Die Luft war überall von Lichterscheinungen erfüllt für das Kind. Für den erwachsenen Menschen, für den reif gewordenen Menschen war zwar nur noch die Luft da, aber er wußte: Als Kind habe ich gesehen, daß da noch etwas anderes drinnen ist. - Er wußte: Die Luft ist zu gleicher Zeit Lichtgebärerin. Er wußte: Es ist nicht wahr, wenn ich da in die Luft hin­ausschaue, daß da nichts drinnen ist als dasjenige, was das Physische zeigt, sondern da leben Wesen drinnen, die in der Imagination wahr­zunehmen sind.

Diese Wesen sind für die Griechen die Wesen des Zeuskreises. Das wußte also der Mensch, daß da Wesen drinnen sind in der Luft. Aber all das, daß die menschlichen Bewußtseinszustände geändert wurden, all das hängt ja damit zusammen, daß im Feineren auch die objektiven Dinge anders wurden. Natürlich ist es für den heutigen gescheiten Menschen ein Greuel, wenn man so etwas sagt. Ich weiß, daß es ein

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Greuel ist, aber wahr ist es deshalb doch: Es ist die Luft anders ge­worden; natürlich nicht anders geworden so, daß man dieses Anderssein mit den chemischen Reagenzien prüfen kann; aber es ist die Luft doch anders geworden. Die Luft hat jene Stärke verloren, auszu­drücken die Lichtimaginationen. Die Luft ist, man könnte sagen, gröber geworden.

Es ist in der Tat auf der Erde anders geworden seit jener alten Zeit. Es ist die Luft gröber geworden. Aber nicht nur die Luft ist gröber geworden, sondern der Mensch ist selber gröber geworden. Das­jenige, was früher spirituell lebte in den Essenzen, von denen ich ge­sprochen habe, daß sie seinen Kehlkopf und seinen sonstigen Organis­mus durchdrangen, das ist auch gröber geworden. So daß in der Tat, wenn man heute spricht von den Sexualessenzen, man von etwas an­derem spricht, als wovon man zu sprechen hatte in jenen alten Zeiten. Jener alte Mensch wußte: Die Tagesanschauung, die hängt mit meinem persönlichen Menschen zusammen; das andere, das ich aus dem Luftkreise erfahre, mit meinem ganzen Leben erfahre, das hängt aber mit der Menschheit als solcher zusammen, das geht über den einzelnen Menschen hinaus. - Daher suchte der Mensch auch die sozialen Ge­heimnisse, unter denen die Menschen zusammenleben, durch das Band zu ergründen, das ihn mit dem Makrokosmos verband, suchte die soziale Weisheit durch die Sternenweisheit. Aber was da in ihm lebte als soziale Weisheit, das verband ihn eben mit dem Himmlischen. Es drückte sich das ja in den gewöhnlichsten Anschauungen aus. Ein Menschenpaar wird in alten Zeiten nie anders empfunden haben, be­vor Osiris tot war, als daß sie ein Kind vom Himmel her bekommen haben. Das war ein lebendiges Bewußtsein, entspricht auch der Wahr­heit. Und dieses lebendige Bewußtsein konnte sich ja entwickeln, weil der Mensch wußte, er nimmt aus dem Luftraume dasjenige auf, was er ja selbst erfuhr.

Von alldem ist, man möchte sagen, der grobe Bodensatz zurückgeblieben. So wie in der Luft der grobe Bodensatz zurückgeblieben ist von jener Luftkräftigkeit, die sich in früheren Zeiten in Imaginatio­nen dem Menschen geoffenbart hat, so ist im Menschen selber der Bodensatz zurückgeblieben. Das mußte so kommen, weil sonst die

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Menschen nicht zur Freiheit und zum vollen Bewußtsein ihres Ichs hätten kommen können. Aber es ist der Bodensatz zurückgeblieben. Dadurch ist aber auch alles, was die Alten gemeint haben mit dem Göttlichen, das sie auf jenem Umwege, wie Sie sich jetzt leicht vor­stellen können, mit den sexuellen Essenzen in Zusammenhang brach­ten, dadurch ist das vergröbert worden, vergröbert nicht nur im An­schauen, sondern auch im Erleben. Aber da ist es ja trotzdem; selbst­verständlich ist es nicht nur auf die eine Weise da, sondern auch auf die andere Weise. Die Fortpflanzung der Menschheit war in den alten Zeiten so, daß sie unmittelbar im Zusammenhang gedacht worden ist mit dem mikro-makrokosmischen Band der Menschheit, wie Sie ge­sehen haben. Aber das ganze Zusammenleben der Menschen auf Erden wurde ja auch im Zusammenhange gedacht mit diesem makro­mikrokosmischen Bande. Numa Pompilius ist zur Nymphe Egeria gegangen, um von ihr Aufschlüsse zu erhalten, wie er die Verhält­nisse, die sozialen Verhältnisse im Römerreiche einrichten solle. Das heißt aber nichts anderes als: er hat sich die Sternenweisheit mit­teilen lassen, hat sich mitteilen lassen, was die Sterne sagen darüber, wie man die sozialen Verhältnisse einrichten soll. Das, was Menschen auf Erden fortpflanzen, was mit der Generationenfolge zusammenhängt, das sollte in den Dienst gestellt werden desjenigen, was die Sterne sagen. Wie der einzelne Mensch sich nach Auf- und Untergang der Sonne mit seinem gewöhnlichen Wahrnehmen und Denken rich­tet, so sollte dasjenige, was später «Staaten» geworden sind, also Menschheitszusammenhänge, unter die Sternenkonstellationen als Ausdruck für die Weltenverhältnisse gestellt werden.

Wir haben in unserer Sprache - es erinnern die Sprachen oftmals an alte Zusammenhänge - richtig erinnernd noch an diesen Zusammen­hang die Tatsache, daß bezeichnet wird das Verhältnis des Männlichen und Weiblichen als «Geschlecht», aber auch aufeinanderfolgende Generationen als «Geschlechter». Es ist ein und dasselbe Wort: das «Geschlecht», die zusammengehörige Familie, das Blutsverwandte, und dasjenige, was Verhältnis des Männlichen und Weiblichen ist. Und so ist es auch in andern Sprachen, daß alles darauf hinweist, wie der Mensch suchte für dasjenige, was in seiner Natur, ich möchte

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sagen, in den tieferen Schichten seines Wesens liegt, einen Erkenntnis­zusammenhang mit dem Makrokosmos.

Diese Dinge haben sich vergröbert nach der Seite hin, die wir besprochen haben. Zurückgeblieben ist unter anderem auch das begierden- und gefühlsmäßige Hängen am Nationalen. Das Hängen am Nationalen, das chauvinistische Drängen zum Nationalen, das ist der zurückgebliebene Rest desjenigen, was in alten Zeiten eben in ganz andern Verhältnissen gedacht werden konnte. Aber nur, wenn man diese Dinge durchschaut, dann weiß man auch die Wahrheit in solchen Dingen. Was drückt sich aus in dem nationalen Pathos? Wenn der Mensch nationales Pathos besonders entwickelt, was lebt in diesem nationalen Pathos, diesem nationalen Erfühlen, was lebt darinnen? Genau dasselbe, was im Sexuellen lebt, nur im Sexuellen auf andere Weise, im nationalen Pathos wiederum auf andere Weise. Es ist der sexuelle Mensch, der sich auslebt durch diese zwei verschiedenen Pole. Chauvinistisch sein, könnte man sagen, ist nichts anderes als gruppenmäßig Sexualität entwickeln. Man könnte sagen, wo die sexuellen Essenzen, in dem, was sie zurückgelassen haben, die Menschen mehr ergreifen, da ist mehr nationaler Chauvinismus vorhanden; denn es ist dieselbe Kraft, die in der Fortpflanzung liegt, die auch im nationalen Pathos sich äußert. Daher ist der Schlachtruf von der sogenannten «Freiheit der Völker oder der Nationen» etwas, was durchaus richtig erst betrachtet wird in seinen intimeren Zusammenhängen, wenn man - aber mit vornehmem Sinn selbstverständlich - sagen würde: Der Ruf nach Wiederherstellung des Nationalen im Lichte eines sexuellen Problems. - Daß das sexuelle Problem in einer ganz besonderen Form heute über die Erde hin verkündet wird, ohne daß die Leute eine Ahnung haben, wie aus ihrem Unterbewußtsein das Sexuelle in die Worte sich kleidet «Freiheit der Völker», das ist dasjenige, was mit als ein Geheimnis der Zeitimpulse angesehen werden muß. Und viel mehr als die Menschen glauben, ist in den heutigen katastrophalen Ereig­nissen von sexuellen Impulsen vorhanden, viel mehr, als die Menschen glauben! Denn die Impulse zu dem, was heute vorgeht, liegen zum Teil recht, recht tief.

Solche Wahrheiten dürfen in unserer Gegenwart nicht mehr hinter

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Schloß und Riegel gehalten werden. Gewisse Bruderschaften haben sie unter Schloß und Riegel halten können dadurch, daß sie im strengsten Sinne des Wortes Frauen ausgeschlossen haben. Wenn auch heute das Zusammenarbeiten mit Frauen, wie es sich ja vielfach zeigt, noch zu allerlei schlimmen Dingen führen kann, so ist doch die Zeit ge­kommen, in der über diese Dinge richtige Anschauungen, allgemeine Anschauungen in der Menschheit sich verbreiten müssen. Verbreiten sich ja doch unlautere, törichte, blöde Ansichten, indem ohne Kennt­nis der intimeren Zusammenhänge von gewissen Seiten her alle mög­lichen Dinge heute als sexuelle Probleme behandelt werden. Aber Sie sehen, wie sich hier das, was lautere, echte, ehrliche Wahrheit ist, auf der einen Seite berührt mit dem, was allerunlauterste, schmutzigste Denkungsweise sein kann, wie sie zuweilen in den Auswüchsen der Psychoanalyse oder ähnlicher Dinge sich zeigt. Das werden Sie aber immer finden, daß dasjenige, was auf der einen Seite, richtig erfaßt, tiefe Wahrheit ist, gar nicht den Worten nach viel verändert zu werden braucht, sondern nur von schmutziger Gesinnung durchdrungen zu werden braucht und es ist eben schmutzige, törichte, verwerfliche Anschauung.

Es konnte eine alte Zeit von «Nationen» sprechen, als man die Nationen so vorstellte, daß die eine Nation ihren Schutzgeist im Orion, die andere in einem andern Stern hatte, und man wußte, man werde sich nach den Sternenkonstellationen regeln. Da appellierte man gewissermaßen an die Himmelsordnung. Heute, wo solche Himmelsordnung nicht vorhanden ist, da ist das Appellieren an das bloß Nationale, das chauvinistische Appellieren an das bloß Nationale, also das Geltendmachen eines im eminentesten Sinne Psychisch-Sexuellen. ein zurückgebliebener luziferischer Impuls.

Will man klar und deutlich dasjenige sehen, was heute ist, so darf man eben nicht zurückschrecken vor den wirklichen Untergründen der Wahrheit. Aber man kann aus solchen Dingen auch sehen, warum sich die Menschen so fürchten vor der Wahrheit. Man stelle sich nur vor, daß die Menschen heute bei dem Geschrei, das sich über Freiheit der Nationen und dergleichen erhebt, hören sollten, das geschieht aus sexuellen Impulsen heraus. Man stelle sich das vor! Man stelle sich

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einmal den krähenden Hahn vor - ich meine jetzt keinen einzelnen, ich meine nicht gerade bloß Clemenceau. Man stelle sich vor all die Deklamatoren über die entsprechenden Themata, und man stelle sich vor, sie müßten begreifen, daß dasjenige, was sie krähen, im Grunde genommen doch die Balzstimme des Hahnes ist, wenn es auch noch so fein national eingekleidet ist!

Das sind die Dinge, welche die Menschheit heute eigentlich erfahren müßte und die sie nicht hören will, weil, wie Sie wissen, von den Dingen, die schwarz sind, behauptet wird, sie sind weiß, und von denen, die weiß sind, sie sind schwarz. Es handelt sich darum, daß jene alte Zeit, von der ich gesprochen habe, eingelaufen ist in den fünften nachatlanti­schen Zeitraum, in dem sich die Abstraktion allmählich herausgebildet hat. Da, wo die Grenze ist zwischen dem vierten und dem fünften nachatlantischen Zeitraum - Sie können darüber nachlesen in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» -, da nagt man und würgt man, gerade die ehrlichsten Leute nagen und würgen an dem Erkenntniswert, könnte man sagen, des Abstrakten. Lesen Sie nach in meinen «Rätseln der Philosophie», da, wo ich von dem nominalistisch und realistisch gewordenen Mittelalter spreche. Es war die Abstraktheit schon so weit gediehen, daß man sich fragte: Wenn ich einen Begriff habe, bedeutet der noch etwas für die Dinge draußen, oder ist er nur ein Name in meinem Kopfe? - Heute denkt man über diese Dinge nicht mehr nach. Was interessiert das die Leute, daß sich die Menschen gequält haben im Mittelalter, als man die abstraktive Kraft des Den­kens gespürt hat, welche Rolle die sogenannten Universalien, die all­gemeinen Begriffe in der Welt spielen, daß man würgte daran, welche Rolle die Abstraktionen spielen. Heute denkt man nicht mehr daran, weil man sich an die Abstraktionen schon gewöhnt hat und weil man nicht danach strebt, über das abstrakte Moment hinauszukommen; sondern im Gegenteil, man strebt danach, erst recht in das abstrakte Moment hineinzukommen.

Der Universalienstreit, der zuletzt die Form angenommen hat, daß man sagte: Die Universalien, die allgemeinen Begriffe, sind zuerst als gewisse Begriffe in Gott: das sind Universalien ante rem; dann sind die Begriffe in den Dingen: Universalien in re; und dann sind die Begriffe

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in unserem Geiste, in unserer Seele: Post rem, Universalien Post rem. - Das war ein Auskunftsmittel, um eine Stellung zu gewinnen darüber: Hängt der Mensch denn, indem er denkt, indem er nur noch Begriffe denkt, mit der Wirklichkeit zusammen? Man fühlte noch etwas davon, wie in alten Zeiten der Mensch mit der Wirklichkeit zusam­mengehangen hat. Wenn er reif geworden ist, da hat er das gewisser­maßen überdacht, was er vorher wahrgenommen hat als Kind. Da wußte er: Es ist der wahre Mensch erst in ihn hereingegangen. - An den Universalien, da mußte man würgen, ob man, wenn man denkt, in seinem Denken noch etwas von dem hat, was mit der Wirklichkeit zusammenhängt, oder ob das ganz abgerissen ist von aller Wirklich­keit, ob das gar nichts mehr zu tun hat mit der Wirklichkeit. Seit jener Zeit hat sich dann die Menschheit gewöhnen müssen, die Universa­lien, die Abstraktionen zu nehmen als Abstraktionen, und ist wirklich mehr oder weniger in ihrem Bewußtsein völlig abgerissen worden von der Wirklichkeit.

Ein solcher Prozeß spielt sich ja im kleinen fortwährend ab. Den­ken Sie doch nur einmal, ursprünglich sind Worte, die die Repräsentanten sind von Vorstellungen, in unmittelbarer Anlehnung an die Anschauung da: eine kleine Gruppe von kämpfenden Menschen hat Einen an der Spitze; diesen Einen hat sie vor sich, sie nennt ihn den vörsten, den ersten, den försten - Fürsten. Da hat man unmittelbar das mit der Anschauung verknüpft. Später wird das losgerissen von der Anschauung, es wird ein Wort, welches etwas bezeichnet, ohne daß irgendwie noch ein Zusammenhang da ist mit der unmittelbaren Anschauung. Denken Sie, für wie viele Worte das so ist!

Und der weitere Weg ist, daß dann gewisse Worte privilegiert werden, daß die Sprache monopolisiert wird, daß die Sprache verstaat­licht wird. Selbst in der Sprache bewegen sich ja gewisse Dinge in die­ser Entwickelung. Nicht wahr, nehmen Sie den naiven Tatsachenzusammenhang: Einer hat viel gelernt, ist weise geworden - sagen wir, ohne daß damit etwas Albernes gemeint ist -, er ist ein Gelehrter. Mit dem Tatsachenzusammenhang wird man in einer gewissen naiven Weise sagen, er ist «Doktor»; da hat man den Tatsachenzusammenhang, wenn man den, an dem man die Gelehrsamkeit sieht, Doktor

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nennt. Dann hat es noch eine gewisse Bedeutung, wenn das dokumentiert wird durch eine anerkennende, durch eine gerade dieses an­erkennende Korporation. Aber es verliert die Bedeutung, wenn es monopolisiert wird; jedoch die Menschheit ist heute enthusiasmiert für solche Monopolisierung. Alle möglichen Worte sollen monopolisiert werden. Es soll einer nicht durch sein Genie bloß «In­genieur» sein, sondern das soll ein weiß Gott woher auch anerkannter Titel werden. Und immer mehr und mehr sollen losgerissen werden die Dinge von ihren Zusammenhängen. Da können Sie im kleinen den Abstraktionsprozeß sehen, der sich aber im großen mit unendlicher Bedeütung vollzieht. Eine Familie hat einen Vater; welcher Zusam­menhang ist zwischen dem Pater, der der Vater der Familie ist, und dem Pater, der ein Geistlicher ist? Diese Losreißung desjenigen, was im Worte enthalten ist - ich wollte es nur zur Illustration für den Abstrahierungsprozeß in der Menschheit anführen.

Und bei den Begriffen liegt die Sache noch viel ärger als in der Sprache. Bei den Begriffen ist oftmals für den, der die Begriffe braucht, nicht der geringste Zusammenhang noch vorhanden mit der An­schauung. Manchmal suchen die Leute dann die Anschauung, werden komisch in diesem Suchen, furchtbar komisch werden sie in diesem Suchen. Denken Sie doch nur, daß es eine ganze Literatur heute gibt über das Kreuzeszeichen, das ja wirklich ein universales Zeichen ist, in der Welt viel verbreitet ist. Drollig ist dasjenige, was da an Gelehr­samkeit alles aufgewendet wird.

Dieses Zeichen wird zurückgeführt auf dieses

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Das ehemalige Kreuz soll eigentlich dieses sein.

Manchmal führt man dann das so zurück, daß man sagt: Es sind nur die Teile zurückgeblieben, als Hakenkreuz und so weiter. - Nun,

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es ist furchtbar gescheit, was darüber geschrieben worden ist, ganz grenzenlos gescheit, wie überhaupt auf solche Dinge «Gescheitheit» schon verwendet wird. Ich will durchaus nicht diese Dinge in Grund und Boden kritisieren, aber um zu wissen, was wahr ist, reicht die Gescheitheit nicht aus. Man muß selbstverständlich wissen, daß es sich beim Kreuzeszeichen zunächst um nichts anderes handelt, als daß der Mensch sich hinstellt und seine Arme hinstreckt, ausbreitet, und dann ist er das Kreuz. Von oben nach unten geht ein Strom des Da­seins, der den Menschen mit dem Makrokosmos verbindet, und durch die ausgestreckten Hände auch. Das Kreuz ist das Zeichen für den Menschen.

Wenn Sie von assyrischen Königen Auszeichnungen finden, oder von ägyptischen Königen Auszeichnungen finden, Medaillen zum Beispiel, so sind es Medaillen mit dem Kreuzeszeichen:

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Und zwei andere Zeichen - irgendwie das Kreuz an der Medaille, es ist ja eine Auszeichnung, die die alten Könige hatten - wären zum Beispiel diese:

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Bei dem dritten Zeichen ist nur der Stern gewöhnlich so, daß man das Pentagramm nicht immer gleich darinnen erkennt. Oder es ist auch ein Hexagramm, nun, darauf kommt es jetzt nicht an.

Besonders gescheite Leute haben gesagt: Das ist die Sonne, das ist das Kreuz, das ist der Mond, das ist der Stern. Aber das Tiefere liegt gerade darinnen, daß es der Mensch ist, der Mikrokosmos, der mit Sonne und Mond zusammengestellt wird. Sie sehen an diesem gewöhnlichen Kreuzeszeichen, wie sich der Begriff getrennt hat von der Sache. Die unmittelbare Anschauung ist diese, das Zeichen ist dieses: der Mensch in Kreuzesform. Die Menschen wissen heute die Sache mit dem Zeichen so wenig zu verbinden, daß, wie gesagt, eine unbändig gescheite Literatur existiert, die da sucht, wie denn dieses Zeichen zusammenhänge mit dem, was es ausdrücken will. Und so könnte man über alleralltäglichste Worte ganz gescheite Abhandlungen schreiben, ohne daß man darauf käme, wie diese Dinge, diese Worte, mit den Wirklichkeiten zusammenhängen.

Die Menschheit hat müssen die Periode der Abstraktionen durchmachen. Wir wissen ja, wir stehen heute nicht mehr im Zeichen des Widders, in dem die Sonne stand beim Frühlingsaufgang, als der Übergang stattfand von der alten imaginativen Zeit, da Nachwirkungen der imaginativen Zeit noch vorhanden waren im Übergang zum abstrakten Zeitalter. Wir sind eingetreten in das Zeitalter der Fische. Es prägt sich im wesentlichen darinnen aus, daß aus dem Makrokosmos der Mensch die Kraft empfängt zu abstrakten Begriffen. Diese Kraft empfängt der Mensch heute vom Makrokosmos. Aber vor­läufig sind die abstrakten Begriffe dasjenige, von dem der Mensch noch nicht weiß, wie er es wiederum zusammenknüpfen soll mit der Wirklichkeit. Es muß wiederum zusammengeknüpft werden mit der Wirklichkeit.

Ich bin davon ausgegangen, daß ich sagte, gewissermaßen muß in diesem fünften nachatlantischen Zeitalter sich wiederholen dasjenige, was im dritten, im ägyptisch-chaldäischen war, wo man zurückschaute auf die alte Osiriszeit, wo die Imaginationen vorhanden waren. Ge­wissermaßen das Umgekehrte muß stattfinden: der Mensch muß wie­derum den Weg finden zu den Imaginationen zurück. Man könnte

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sagen, wenn auch in anderer Form: Der Osiris muß wieder lebendig werden. - Wir müssen Mittel und Wege finden, den Osiris wiederum zu beleben. In sehr konkreter Form habe ich das in diesen Betrachtungen ausgesprochen, indem ich sagte, wir müssen Formen des Erlebens finden, die den Toten und den Lebenden gemeinschaftlich sind. Der Osiris ist, seit er getötet ist, bei den Toten. Er wird bei den Toten verbleiben, aber er muß wiederum unter die Lebendigen kommen, wenn es Angelegenheiten gibt, die für das soziale Leben der Menschen den Toten und den Lebendigen gemeinschaftlich sind. Das aber führt Sie darauf, daß man für unsere Zeit etwas verstehen muß, das vor allen Dingen zu verstehen notwendig ist: Wie wird Osiris wiederum belebt? Wie kommt Osiris zu neuem Leben? Wie nähert sich der Mensch wiederum dem Erleben im Imaginativen?

Davon wollen wir dann morgen sprechen: Wie wiederum auf­erstehen soll das imaginative Bewußtsein, und wie die Auferstehung herbeigeführt werden soll.

ZEHNTER VORTRAG Dornach, 6.Januar 1918

#G180-1966-SE171 - Alte Mythen und ihre Bedeutung

#TI

ZEHNTER VORTRAG

Dornach, 6.Januar 1918

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Wir haben versucht in diesen Tagen, einiges über den Entwickelungsgang der Menschheit zu verstehen. Wir haben gesucht, die tieferen Grundlagen solcher Mythen zu verfolgen, wie die Osiris-Isismythe eine ist; wir haben ferner versucht, uns von einem gewissen Gesichts­punkte aus wiederum in der griechischen Götterwelt zurechtzufinden. Und wir haben mit einigem die innere Bedeutung der Anschauungen gestreift, die vielleicht nicht klar zum Ausdrucke kommen, aber zugrunde liegen den Mythendichtungen Ägyptens und Griechenlands, und haben die Beziehungen dessen, was diesen Mythen zugrunde liegt, zu den alttestamentlichen Lehren, wenigstens andeutend ins Auge zu fassen versucht. Diese alttestamentlichen Lehren sind aus anderem Geiste entsprungen als die Götterlehren der Ägypter und der Grie­chen. Wir haben gesehen, daß die Götterlehren der Ägypter und der Griechen, so wie sie aufgebaut sind, herstammen aus gewissen alten geistigen Erfahrungen der Menschheit, aus einem gewissen Bewußt­sein heraus, daß die Menschheit einmal atavistisches Hellsehen gehabt hat und durch das atavistische Hellsehen mit dem Geiste, der die Natur durchdringt, in einer so innigen Beziehung gestanden hat, wie später die Menschheit nur in Beziehung steht zwischen Geburt und Tod mit dem äußerlich Sinnenfälligen. Wir haben gesehen, daß für diese alte atavistische Erkenntnis die umfassende Anschauung von der Welt, welche innerliche Erfahrung war, mehr zu bedeuten hatte als dasjenige, was die bloß sinnenfällige Anschauung der Übergangsmenschheit, zu der wir auch noch gehören, in bezug auf Erkenntnis sein kann.

Alles, was sich gewissermaßen abgesetzt hat an Vorstellungen in der ägyptischen, in der griechischen Götterlehre, Götteranschauung bes­ser gesagt, das ist mit dem moralischen Grundton eben als eigentliche Lehre im Alten Testamente zu finden. Ich sagte Ihnen ja vorgestern, als ich von einem wichtigen Unterschiede der ägyptischen, der grie­chischen Götterlehre und des Alten Testamentes sprach: Diejenigen

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geistig-göttlichen Wesenheiten, welche am Ausgangspunkt des Alten Testamentes stehen, die Elohim, Jahve, sie können nur gedacht wer­den als den Menschen mitschaffend; sie können nur so gedacht werden, daß durch ihre Taten dasjenige entstanden ist, was wir Erdenmensch­heit nennen, und daß die gesamte Entwickelung der Erdenmensch­heit erst nach der Grundtat der Elohim beziehungsweise Jahves, sich auf Erden vollzieht. Das ist bei der ägyptischen, bei der griechischen Götterlehre nicht so. Da sehen die Menschen zurück in alte Zeiten und sie sagen sich: Die Götter Osiris, Isis, Zeus, Apollo, Mars, Pallas, die jetzt mit der Lenkung der menschlichen Geschicke zusammenhängen, die sind entstanden aus andern Göttergenerationen heraus; aber die Menschen waren immer schon da. Die ägyptische, die grie­chische Götterlehre führte die Menschen zurück auf alte Zeiten, in denen noch nicht diejenigen Götter schaffend und herrschend waren, die eben von diesen Zeiten anerkannt werden. Die Menschen schrieben sich also in Ägypten und Griechenland ein höheres Alter zu, als das Herrschaftsalter ihrer entsprechenden Götter ist.

Das ist ein so fundamentaler, ein so bedeutsamer Unterschied, daß man ihn zunächst wohl ins Auge fassen muß. Wir werden im Laufe dieser Betrachtungen sehen, auf was für eine unendlich wichtige, be­deutsame Tatsache diese Anschauung hinzielt. Bei der alttestament­lichen Götterlehre liegt die Sache so, daß die verehrten Götter zu gleicher Zeit die für das Menschengeschiecht schöpferischen Götter sind. Nur dadurch, daß die alttestamentliche Lehre das Göttliche zum Menschlich-Schöpferischen macht, nur dadurch ist es der alttesta­mentlichen Lehre möglich geworden, das moralische Element, den moralischen Impuls in die Götterordnung und dadurch in die ganze Menschenordnung, wir könnten sagen, in die Vorstellung mit auf­zunehmen.

Es ist dies wichtig zum Verständnis der Weltanschauungen der Gegenwart. Denn die Weltanschauungen der Gegenwart stammen nicht in sehr eindeutiger Weise von irgendeinem einheitlichen Ur­sprung ab, sondern die Weltanschauungen der Gegenwart haben sehr verschiedene Ursprünge, und manches tragen wir in uns, an das wir glauben, zu dem wir uns bekennen als Menschen der Gegenwart,

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welches unmittelbar im griechischen Anschauen wurzelt. Manches tragen wir in uns, insbesondere die unmittelbare Gegenwart trägt vieles in sich, welches zurückweist auf die alttestamentliche Götterlehre. Das Suchen der Menschen, das Suchen vieler Menschen geht nach einem Sich-Zurechtfinden in diesen oftmals einander widersprechenden Vorstellungen und Begriffen durch den Impuls, der von dem Mysterium von Golgatha ausgeht. Das alles ist gewissermaßen noch Programm für uns, und wir werden es in dieser Zeit, die uns noch gegönnt ist zusammenzusein, auszubauen haben.

Wichtig ist vor allen Dingen, daß wir eines zugrunde legen können. Ich habe schon gestern darauf hingedeutet. Wir leben - das haben wir öfter erwähnt - seit dem 15. Jahrhundert im fünften nachatlantischen Zeitalter; und in einer gewissen Beziehung, sagte ich, müssen gewisse Impulse des dritten nachatlantischen Zeitalters, des ägyptisch-chal­däischen Zeitalters, wiederum aufgehen in dem fünften, geradeso wie in dem sechsten nachatlantischen Zeitalter gewisse Impulse des zwei­ten, des Zarathustrazeitalters, des urpersischen, aufleuchten werden, und wie im letzten nachatlantischen Zeitalter, im siebenten, gewisse Impulse des urindischen Zeitalters wieder aufleuchten werden. Das ist ein Gesetzmäßiges im menschlichen Entwickelungsgange, das in bedeutungsvoller Weise hinzielt auf dasjenige, was im wesentlichen der Menschheit geistig bevorsteht bis zu der neuen Katastrophe, die kommen muß, einer Naturkatastrophe ähnlich.

Nun haben wir zum Teil schon gesehen, welch ungeheure Tiefe des menschlichen Bewußtseins in alten Zeiten sich darinnen ausdrückt, daß diese alten Zeiten die Osirismythe ausgebildet haben. Wir haben gesehen, daß dieses alte Zeitalter sagen wollte: Es lebte einst unter den Menschen eine Anschauung, wodurch der Mensch das Geistige in seiner Naturumgebung noch unmittelbar in seinen atavistischen Ima­ginationen erleben konnte. - Das war die Zeit, in der Osiris herrschte. Aber die neuen Anschauungen, die Typhonanschauungen, jene An­schauungen, die aus der Bilderschrift die Buchstabenschrift gemacht haben, jene Anschauungen, die aus den uralten heiligen Sprachen, welche die Menschen gemeinschaftlich gesprochen haben, die einzel­nen Lautsprachen gebildet haben, diese typhonischen Anschauungen,

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diese Anschauungen Typhons, die haben dasjenige, was in der Menschheit als der Osirisimpuls lebte, getötet, so daß der Osiris seither als eine Wesenheit bei den Menschen nur dann ist, wenn sie zwischen dem Tod und einer neuen Geburt sind.

Wir haben dann im wesentlichen die Osiris-Isislegende verfolgt, haben gesehen, wie Osiris als ein uralter Herrscher Ägyptens be­trachtet wird, der den Ägyptern die wesentlichsten ihrer Künste ge­bracht hat, der durch lange Zeiten hindurch in Ägypten geherrscht hat, der auch von Ägypten aus in andere Länder gezogen ist, und nicht durch das Schwert, sondern durch die Überredung die Wohltaten der in Ägypten gelehrten Künste nach andern Ländern gebracht hat. Während seiner Abwesenheit auf Reisen also, als er nach andern Ländern die Wohltat brachte, durch die er die Ägypter unterwies, führte in seinem eigenen Lande, in Ägypten, Typhon, sein böser Bruder, Neuerungen ein. Und als dann Osiris wieder zurückkam, wurde er trotz der Wachsamkeit seiner Gattin Isis von Typhon ge­tötet. Isis suchte dann den Osiris überall. Durch Knaben - so erzählt die Legende - wurde ihr verraten, daß der Sarg fortgeschwommen sei. Sie entdeckte ihn dann in Byblos in Phönizien, sie brachte ihn zurück nach Ägypten. Typhon zerstückelte den Leichnam in vierzehn Stücke. Isis sammelte die Stücke; sie konnte jedem Stück durch Spezereien und andere Mittel wiederum das Aussehen des Osiris geben. Sie bewog dann die Priester, ein Drittel des Landes von ihr in Besitz zu nehmen und dafür, daß sie ein Drittel des Landes in Besitz nahmen, sollten sie auf der einen Seite das Grabmal des Osiris geheimhalten, auf der andern Seite den Osirisdienst einrichten, das heißt den Erinnerungsdienst an die alte Osiriszeit, daran, daß einst­mals ein anderes Anschauen in der Menschheit vorhanden war. Es sollte diese Erinnerung fortan gefeiert werden. Umflossen war diese Erinnerung von allerlei Geheimnissen. Hingedeutet war auf die Zeit, in der Typhon den Osiris getötet hat, als die Zeit, in welcher die Sonne in den Novembertagen des Herbstes untergeht im siebzehnten Grade des Skorpion, und der Mond, auf der entgegengesetzten Seite, im Stier, in den Plejaden als Vollmond erschienen war.

Dann wurde erzählt, daß sich Osiris noch einmal von der Unterwelt,

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wo er fortan über die Toten herrscht, wo er der Totenrichter ist, be­geben hat in die Oberwelt, um seinen Sohn Horus, den er mit Isis hatte, zu unterweisen. Es wird weiter von der Legende erzählt, daß Isis sich doch habe bewegen lassen, den Typhon freizugeben, den sie gefangengehalten hatte. Darüber erzürnte der von Osiris unter­richtete Sohn Horus so stark, daß er mit der Mutter, mit der Isis, in Streit kam und ihr die Krone entriß. Dann wird erzählt, daß er ihr entweder selber, in anderer Version auch, daß der Hermes ihr an Stelle der Krone Kuhhörner aufgesetzt hätte, mit denen sie seither abgebildet wird.

Nun, Sie sehen da Isis in der altägyptischen Mythe an der Seite des Osiris stehen. Und Isis war für die Anschauung der alten Ägypter nicht nur eine geheimnisvolle Gottheit, nicht nur ein geheimnisvolles Geisteswesen, das mit dem Weltenregiment in innigem Zusammenhange stand, sondern Isis war auch, ich möchte sagen, der Inbegriff alles Tiefen, das die Ägypter zu denken vermochten über die Urkräfte, die im Natürlichen und im Menschendasein wirkten. Wenn der Ägypter aufschauen sollte zu dem, was die großen Geheimnisse in seiner Um­gebung sind, dann sollte er aufblicken zu Isis, welche ein Standbild hatte in dem Tempel zu Sais, das berühmt geworden ist. Unter diesem Standbilde stand bekanntlich die Inschrift, die ausdrücken sollte das Wesen der Isis: Ich bin das All, ich bin die Vergangenheit, die Gegen­wart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet.

Das war insbesondere im Spätzeitalter der ägyptischen Kultur ein Mittelpunktsgedanke dieser ägyptischen Kultur. Und im Anblicke der Geheimnisse der Isis erinnerte man sich an die andern Geheimnisse der alten Osiriszeit. Und mit der Isis in Zusammenhang, mit der Isis, vor deren Anblick der ägyptische Bekenner erschauerte, wenn er die Worte auf sich wirken ließ: Ich bin das All, ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet -, wenn der Ägypter diese Worte auf sich wirken ließ, dann gedachte er wohl auch zu gleicher Zeit, daß Isis einmal ver­bunden war mit Osiris, als Osiris noch auf Erden wandelte. Der profane Mensch stellte sich die Sache legendenhaft vor. In den Mysterien

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sprachen die Priester davon, daß die alte Osiriszeit diejenige war, in welcher das alte Hellsehen den Menschen mit dem Geiste der Natur ringsherum verband.

Mit diesen Empfindungen und Gefühlen, die in der Seele, die im Herzen des Ägypters waren, muß man heute zur Orientierung für die Gegenwart die Osiris-Isislegende oder -mythe nun ins Auge fassen. Wir haben es zunächst in einigen Grundzügen getan. Und durch diese Grundzüge soll, möchte ich sagen, vor unserem Seelenblicke stehen dasjenige, was einmal herübergetönt hat aus alten Zeiten in neuere Zeiten, was durch das Mysterium von Golgatha zwar seinen Sinn verloren hat, aber heute wiederum enträtselt werden muß, gerade zum besseren Verständnisse des Mysteriums von Golgatha. Vor unserem Seelenblick muß stehen all das Geheimnisvolle, das zunächst nur geahnt werden kann, wenn der Ägypter die Worte empfand, die die Charakteristik der Isis abgaben: Ich bin das All, ich bin die Ver­gangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet. - Denn wir wollen gegenüber dieser Osiris­Isismythe eine andere Osiris-Isismythe stellen, eine ganz andere. Und indem diese erzählt wird, diese andere Osiris-Isismythe, muß im hohen Grade auf Ihre Vorurteilslosigkeit, auf Ihre Unbefangenheit, muß darauf gerechnet werden, daß Sie ja nicht mißverstehen diese andere Osiris-Isismythe. Sie ist keineswegs aus albernem Hochmut geboren, sie ist in Demut geboren; sie ist auch so geartet, daß sie vielleicht heute nur in höchst unvollkommener Weise erzählt werden kann. Aber ich werde versuchen, ihre Züge mit einigen Worten zu charakterisieren.

Es ist zunächst - obwohl das nur vorläufig sein kann - jedem über­lassen, wann er die Zeit ansetzen will, in der diese Osiris-Isismythe so erzählt wird, wie ich sie nur annähernd, oberflächlich, möchte ich sagen, banal heute erzählen kann. Aber wie gesagt, ich will mich bemühen, diese andere Osiris-Isismythe zu erzählen, mich dabei mög­lichst über manche Vorurteile hinwegsetzend und appellierend an Ihr vorurteilsloses Verständnis. Diese andere Osiris-Isismythe hat also etwa, ich sage etwa, folgenden Inhalt.

Es war in der Zeit der wissenschaftlichen Tiefgründigkeit, mitten im Lande Philisterium. Da wurde errichtet auf einem geisteseinsamen

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Hügel ein Bau, den man im Lande Philisterium sehr merkwürdig fand. - Ich möchte noch sagen: Der kommende Kommentator fügt da eine Anmerkung hinzu, daß mit dem Lande Philisterium nicht bloß etwa die allernächste Umgebung gemeint ist. - Wenn man in der Sprache Goethes reden wollte, so könnte man sagen, der Bau stellte dar ein «offenbares Geheimnis». Denn der Bau war niemandem ver­schlossen; der Bau war allen zugänglich, und es konnte ihn im Grunde genommen jeder bei günstiger Gelegenheit sehen. Aber die aller­größte Mehrzahl der Leute sah gar nichts. Die allergrößte Mehrzahl der Leute sah weder, was gebaut ist, noch was das Gebaute vorstellte. Die allergrößte Mehrzahl der Leute stand - um eben wieder im goetheschen Sinne zu reden - vor einem offenbaren Geheimnis, einem ganz offenbaren Geheimnis.

Als Mittelpunkt des Baues war ein Standbild gedacht. Dieses Standbild stellte dar eine Gruppe von Wesenheiten: den Menschheits­repräsentanten, dann Luziferisches, Ahrimanisches. Die Menschen schauten sich dieses Standbild an und wußten in dem Zeitalter der wissenschaftlichen Tiefgründigkeit innerhalb des Landes Philisterium nicht, daß dieses Standbild im Grunde genommen nur der Schleier ist für ein unsichtbares Standbild. Aber das unsichtbare Standbild, das merkten die Leute nicht; denn dieses unsichtbare Standbild, das war die neue Isis, die Isis eines neuen Zeitalters.

Einige aus dem Lande der wissenschaftlichen Tiefgründigkeit hat­ten einmal gehört von diesem merkwürdigen Verhältnisse desjenigen, was offenbar war, zu dem, was als Isisbild verborgen war hinter dem Offenbaren. Und dann hatten sie in ihrer tiefgründigen, allegorisch­symbolischen Sprechweise die Behauptung aufgestellt: diese Zu­sammenstellung des Menschheitsrepräsentanten und Luzifer und Ahriman bedeutete die Isis. Mit diesem Worte «bedeutete» haben sie aber nicht nur das künstlerische Wollen ruiniert, aus dem die Sache hervorgegangen sein sollte - denn Künstlerisches bedeutet nicht nur etwas, sondern ist etwas -, sie haben auch die ganze Sachlage, die zu­grunde liegt, vollständig verkannt. Denn es handelte sich gar nicht darum, daß die Gestalten etwas bedeuteten, sondern die Gestalten waren schon das, als was sie sich gaben. Und hinter den Gestalten war

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nicht eine abstrakte neue Isis, sondern eine wirkliche, reale neue Isis. Die Gestalten bedeuteten sie gar nicht, sondern die Gestalten waren eben für sich das, als was sie sich gaben. Aber sie hatten in sich die Eigentümlichkeit, daß hinter ihnen das reale Wesen, die neue Isis, war.

Einige, welche in besonderer Lage, in besonderen Augenblicken diese neue Isis doch gesehen hatten, haben gefunden, daß sie schläft. Und so kann man sagen: Das wirkliche tiefere Standbild, das sich hinter dem äußeren, offenbaren Standbilde verbirgt, ist die schlafende neue Isis, eine schlafende Gestalt, sichtbar, aber von wenigen gesehen. Manche wandten sich dann in besonderen Augenblicken zur Aufschrift, die deutlich dasteht, aber auch von wenigen in dem Ort, wo das Standbild in Vorbereitung steht, zunächst gelesen worden ist; und doch steht die Aufschrift deutlich da, ebenso deutlich, wie einstmals die Auf­schrift auf dem verschleierten Bilde zu Sais gestanden hat. Die Auf­schrift steht nämlich da: Ich bin der Mensch. Ich bin die Vergangen­heit, die Gegenwart und die Zukunft. Meinen Schleier sollte jeder Sterbliche lüften.

Einstmals nahte sich der schlafenden Gestalt der neuen Isis zum ersten Male und dann immer wieder und wiederum eine andere Ge­stalt, wie ein Besucher. Und die schlafende Isis hielt diesen Besucher für ihren besonderen Wohltäter und liebte ihn. Und sie glaubte eines Tages an eine besondere Illusion, ebenso wie der Besucher eines Tages an eine besondere Illusion glaubte: die neue Isis bekam einen Spros­sen - und sie hielt den Besucher, den sie für ihren Wohltäter hielt, für den Vater. Der hielt sich selber für den Vater, aber er war es nicht. Der geistige Besucher, der kein anderer war als der neue Typhon, er glaubte, daß er dadurch in der Welt einen besonderen Zuwachs seiner Macht erhalten könnte, daß er sich dieser neuen Isis bemächtige. So hatte die neue Isis einen Sprossen. Aber sie erkannte sein Wesen nicht, sie wußte nichts von der Wesenheit dieses neuen Sprossen. Und sie verschleppte ihn, sie trug ihn hinaus weit in die Lande, weil sie glaubte, daß sie das so tun müsse. Sie verschleppte den neuen Spros­sen, und da sie ihn durch verschiedene Gegenden der Welt geschleppt hatte, verschleppt hatte, da zerfiel er wie durch die Gewalt der Welt selber in vierzehn Stücke.

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So hatte die neue Isis ihren Sprossen hinausgetragen in die Welt, und die Welt hatte den Sprossen zerstückelt in vierzehn Stücke. Als dieses der Geistbesucher erfahren hatte, der neue Typhon, da hat er die vierzehn Stücke zusammengesucht, und mit all den Kenntnissen der naturwissenschaftlichen Tiefgründigkeit hat er aus diesen vier­zehn Stücken wiederum eines gemacht, ein Wesen. Aber in diesem Wesen war nur mechanische Gesetzmäßigkeit, nur maschinenmäßige Gesetzmäßigkeit. So war ein Wesen entstanden mit dem Schein des Lebens, das aber maschinenmaßige Gesetzmäßigkeit hatte. Und dieses Wesen, weil es aus vierzehn Stücken entstanden ist, konnte sich wiederum vervierzehnfachen. Und Typhon konnte jedem Stück einen Abglanz seiner eigenen Wesenheit geben, so daß jedem der vierzehn Sprossen der neuen Isis ein Antlitz ward, das dem neuen Typhon glich.

Und Isis mußte ahnend all dies Wunderbare verfolgen; ahnend konnte sie all dieses Wunderbare schauen, was mit ihrem Sprossen vor sich gegangen war. Sie wußte: sie hat ihn selber verschleppt, sie hat selber das alles herbeigeführt. Aber es kam ein Tag, da konnte sie ihn in seiner wahren Gestalt, in seiner echten Gestalt von den Händen einer Reihe von Geistern, die Elementargeister der Natur waren, entgegennehmen, konnte ihn zurückerhalten von Elementargeistern der Natur.

Als sie ihren wahren Sprossen, der nur durch eine Illusion zum Sprossen des Typhon gestempelt worden war, zurückerhalten hatte, da ging ihr ein merkwürdiges hellseherisches Gesicht auf, da merkte sie plötzlich, daß sie noch die Kuhhörner vom alten Ägypten hatte, trotzdem sie eine neue Isis geworden war.

Und siehe da, als sie so hellsichtig geworden war, rief die Kraft ihrer Hellsichtigkeit - einige sagen den Typhon selbst, einige sagen den Merkur herbei. Und der war gezwungen, durch die Kraft der Hellsichtigkeit der neuen Isis, ihr eine Krone an dieselbe Stelle ihres Hauptes aufzusetzen, wo einstmals die alte Isis jene Krone gehabt hat, die ihr Horus herabgerissen hatte, an dieselbe Stelle also, wo sie die Kuhhörner bekommen hat. Aber diese Krone war aus eitlem Papier, beschrieben mit allerlei tiefgründiger Wissenschaftlichkeit, aber sie

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war aus Papier. Und sie hatte jetzt zwei Kronen auf dem Kopf: die Kuhhörner und die Krone aus Papier, mit aller Weisheit der wissenschaftlichen Tiefgründigkeit geziert.

Durch die Kraft ihrer Hellsichtigkeit ging ihr eines Tages auf die tiefste Bedeutung, die das Zeitalter erreichen konnte, desjenigen, was im Johannes-Evangelium als der Logos bezeichnet wird; es ging ihr die Johanneische Bedeutung des Mysteriums von Golgatha auf. Durch diese Kraft ergriff die Macht der Kuhhörner die papierene Krone und wandelte sie in eine wirkliche Goldkrone aus echter Wesenheit um.

Das sind so die Züge, die angegeben werden können von dieser neuen Osiris-Isislegende. Ich will mich selbstverständlich nicht selber zum Kommentator, zum Erklärer dieser Osiris-Isislegende machen. Sie ist die andere Osiris-Isislegende. Aber sie soll eines vor unsere Seele stellen: Wenn auch heute das Können, das verbunden ist mit dem neuen Isis-Standbilde, nur erst ein schwaches, versuchendes und tastendes ist, es soll der Ausgangspunkt von etwas sein, das tief be­rechtigt ist in den Impulsen der neueren Zeit, das tief berechtigt ist in dem, was dieses Zeitalter soll und was dieses Zeitalter werden muß.

Wir haben gerade in diesen Tagen davon gesprochen, wie das Wort gewissermaßen sich entfernt hat von dem unmittelbar seelischen Er­lebnis, dem das Wort ursprünglich entquollen ist. Wir haben gesehen, wie wir im Zeitalter der Abstraktionen leben, wo die Worte, die Vor­stellungen der Menschen nur noch abstrakte Bedeutung haben, wo der Mensch der Wirklichkeit ferne steht. Die Kraft des Wortes, die Kraft des Logos muß aber wieder ergriffen werden. Die Kuhhörner der alten Isis müssen sich in eine ganz andere Gestalt verwandeln.

Solche Dinge kann man schwer mit den heutigen abstrakten Wor­ten sagen. Für solche Dinge ist es besser, wenn Sie versuchen, sie in diesen Imaginationen, die Ihnen vorgeführt worden sind, vor Ihr Seelenauge zu führen und diese Imaginationen etwas zu verarbeiten als Imaginationen. Es ist sehr bedeutsam, daß die neue Isis durch die Kraft des Wortes, wie sie wieder errungen werden soll durch die Geisteswissenschaft, die Kuhhörner umwandelt, so daß selbst die papierene Krone, die mit der neuen, tiefgründigen Wissenschaftlichkeit

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beschrieben ist, daß selbst die papierene Krone eine echte Goldkrone wird.

Eines Tages kam dann einmal jemand vor die vorläufige Gestalt des Standbildes der neuen Isis, und links oben war eine humoristisch gehaltene Figur angebracht, die in ihrer Weltenstimmung etwas hat zwischen Ernst, Ernst im Vorstellen über die Welt und, man könnte sagen, sogar Kichern über die Welt. Und siehe da, als einstmals je­mand in einem besonders günstigen Augenblicke dieser Figur sich gegenüberstellte, da wurde sie lebendig und sagte ganz humorvoll: Die Menschheit hat die Sache nur vergessen, aber schon vor Jahr­hunderten ist vor die neuere Menschheit hingestellt worden etwas über die Natur der neueren Menschheit, insoferne diese neuere Menschheit nur das abstrakte Wort, den abstrakten Begriff, die abstrakte Idee noch meistert und von der Wirklichkeit sehr weit ent­fernt ist; insofern diese neue Menschheit sich an Worte hält und immer frägt: Ist es ein Kürbis oder ist es eine Flasche? - wenn eben zufällig aus einem Kürbis eine Flasche gemacht worden ist, immer sich an Definitionen hält, immer bei den Worten stehenbleibt! Im 15., 16., 17. Jahrhundert - so sagte das kichernde Wesen -, da hat die Mensch­heit noch Selbsterkenntnis gehabt über dieses eigentümliche Verhältnis, die Worte in falschem Sinne zu nehmen, sie nicht auf ihre wahre Wirklichkeit zu beziehen, sondern sie in ihrem alleroberflächlichsten Sinne zu nehmen. In dem Zeitalter des Wilsonianismus hat aber die Menschheit selbst dasjenige schon vergessen, was einstmals zu ihrer guten Selbsterkenntnis im 15., 16., 17.Jahrhundert vor sie hingestellt worden ist.

Und das Wesen kicherte weiter und sagte: Das, was die moderne Menschheit als ein eigentliches Rezept für ihren abstraktiven Geist entgegennehmen sollte, das ist abgebildet auf einem Leichenstein in Mölln im Lauenburgischen. Da steht nämlich ein Leichenstein, und auf diesem Leichenstein ist gezeichnet eine Eule, die einen Spiegel sich vorhält. Und es wird erzählt, daß Till Eulenspiegel, nachdem er mit allerlei Streichen die Welt durchzogen hat, dort begraben worden ist. Es wird erzählt, daß es diesen Till Eulenspiegel gegeben habe. Er wäre geboren worden im Jahre 1300, wäre nach Polen gezogen, wäre

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sogar nach Rom gekommen, hätte in Rom sogar mit den Hofnarren einen Wettstreit gehabt über allerlei Weisheitskram, und hat all die übrigen Till-Eulenspiegeleien begangen, die ja aus den Schriften über Till Eulenspiegel selber zu lesen sind.

Die Gelehrten - und die Menschen, die Gelehrte sind, sind ja heute sehr gelehrt, nehmen alles außerordentlich tief und bedeutsam -, die haben selbstverständlich gefunden, sie haben verschiedenes gefunden, zum Beispiel, daß es keinen Homer gegeben hat. Die Gelehrten haben natürlich auch gefunden, daß es keinen Till Eulenspiegel gegeben hat. Einer der Hauptgründe, warum unter dem Leichenstein im Lauen­burgischen, auf dem sich die Eule mit dem Spiegel befindet, nicht die wirklichen Gebeine des wirklichen Till Eulenspiegel liegen sollen, der nur der Repräsentant seines Zeitalters gewesen wäre, einer der haupt­sächlichsten Gründe war der, daß man einen andern Leichenstein gefunden hat in Belgien, worauf auch eine Eule mit einem Spiegel war. Nun haben die Gelehrten selbstverständlich gesagt - denn das ist ja logisch, nicht wahr, und logisch sind sie alle; wie ist es nur bei Shakespeare: Ehrenwerte Menschen sind sie alle, alle, alle, logisch sind sie alle - sie haben gesagt: Wenn sich dieselbe Signatur in Lauen­burg und in Belgien befindet, so hat es natürlich keinen Eulen­spiegel gegeben.

Sonst nimmt man im Leben, wenn man ein zweites Mal das findet, was man ein erstes Mal gefunden hat, dies oftmals als Bekräftigung -aber logisch ist es, nicht wahr, in diesen Dingen die Sache so zu neh­men: Na, sagen wir, wenn ich einen Franken habe, dann habe ich einen Franken. Ich glaube es. Solange ich nur weiß, daß ich einen Franken habe, glaube ich es! Da kriege ich aber einen andern dazu, nun habe ich zwei. Nun glaube ich, daß ich gar keinen mehr habe! -Das ist dieselbe Logik. Diese Logik findet sich nämlich in unserer Wissenschaft. Wenn ich sie Ihnen hererzählen würde, wo überall -sie findet sich sehr häufig!

Aber worinnen besteht denn eigentlich das Wesentlichste der Eulenspiegel-Streiche? Lesen Sie in dem Buche nach. Das Wesentliche der Till-Eulenspiegel-Streiche besteht nämlich immer darinnen, daß dem Eulenspiegel irgend etwas aufgetragen wird. Er nimmt die Sache

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bloß nach dem Worte und führt sie dann natürlich verkehrt aus. Denn selbstverständlich, wenn - in etwas übertragenem Sinne sei das ge­sprochen -, wenn man zum Beispiel sagen würde zu dem Eulenspiegel, den ich jetzt bloß als repräsentative Figur nehme: Bring mir einen Doktor -, da würde er das bloße Wort nehmen, und er würde einen Menschen bringen, der von einer Universität graduiert ist als Doktor, aber er würde vielleicht einen Menschen bringen, der - verzeihen Sie das harte Wort - ganz blitzdumm ist; er hat die Sache nur dem Wort-laute nach genommen. Alle Streiche des Till Eulenspiegel sind so, daß er die Sache dem Wortlaute nach nimmt. Damit aber ist Till Eulenspiegel geradezu der Repräsentant des gegenwärtigen Zeitalters. Die Eulenspiegelei ist ein Grundton in unserer gegenwärtigen Zeit. Die Worte sind heute weit entfernt von ihrer Ursprungsstelle, die Be­griffe sind oftmals noch weiter entfernt von ihrer Ursprungsstelle, und die Menschen merken das nicht, weil sie sich eulenspiegelartig ver­halten zu demjenigen, was nun einmal die Kultur heraufgetragen hat. Daher konnte es ja kommen, daß Fritz Mauthner in einem philosophi­schen Wörterbuch alle philosophischen Begriffe, an die er heran­kommen kann, vornimmt, und von allen diesen philosophischen Be­griffen einen überzeugt, daß sie eigentlich bloße Worte sind, daß sie gar nicht mehr in Verbindung stehen mit irgendeiner Wirklichkeit. Die Menschheit weiß gar nicht, wie weit sie sich mit dem, was sie heute Ideen und oftmals sogar Ideale nennt, von der Realität entfernt. Mit andern Worten, die Menschheit weiß gar nicht, wie sie Eulen­spiegel zu ihrem Schutzheiligen gemacht hat, wie Eulenspiegel noch immer die Länder durchwandelt.

Eines der Grundübel unserer Zeit ruht eben darinnen, daß die gegenwärtige Menschheit die Pallas Athene flieht, das ist die Göttin der Weisheit, und sich an das Symbolum hält: an die Eule. Und zwar ahnt die Menschheit nichts mehr davon, aber wahr ist es doch: Das­jenige, was uns als Grundlage der äußeren Erkenntnis entgegentritt, ist nur ein Spiegelbild - das haben wir ja oftmals ausgeführt -, aber in einem Spiegel sieht man das, was man ist! Und so sieht die Eule -will sagen die moderne wissenschaftliche Tiefgründigkeit - in dem Spiegel, in der Weltenmaja, eben nur ihr eigenes Eulengesicht.

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Solche Sachen kicherte das Wesen links oben über dem modernen Isis-Standbilde, und noch manches andere, das gegenwärtig aus einer gewissen Courtoisie gegenüber der Menschheit verschwiegen wird. Aber ein Gefühl sollte hervorgerufen werden, daß mit der Eigenart dieser Darstellung der Menschengeheimnisse durch die Wesenhaftig­keit des Luziferischen, Ahrimanischen, im Zusammenhange mit der Repräsentanz der Menschheit selbst, ein Bewußtseinszustand in der Menschheit erregt werden soll, der gerade diejenigen Impulse in der Seele weckt, die notwendig sind für das kommende Zeitalter.

«Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort.» Aber das Wort, es ist zur Phrase geworden, das Wort, es hat sich entfernt von seinem Anfang. Das Wort, es klingt und tönt, aber es wird nicht gesucht seine Verbindung mit der Wirk­lichkeit; es ist nicht das Bestreben in den Menschen, die Grundkräfte desjenigen, was um sie herum vorgeht, wirklich zu erforschen. Und man kann diese Grundkräfte im Sinne des gegenwärtigen Zeitalters auch nur dann erforschen, wenn man darauf kommt, daß mit den mikrokosmischen Kräften des Menschen die Wesenheit, die wir als luziferische und ahrimanische bezeichnen, wirklich verbunden ist. Man kann heute die Wirklichkeit nur verstehen für den Menschen, der zwischen Geburt und Tod lebt, wenn man sich einige Begriffe machen kann von derjenigen Wirklichkeit, die wir jetzt auch öfter betrachtet haben, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt für den Menschen liegt. Denn die eine Wirklichkeit ist nur der Pol der andern Wirklichkeit, der umgekehrte Pol der andern Wirk­lichkeit.

Wir haben darauf hingewiesen, wie in alten Zeiten die Menschen, wenn sie in das Reifezeitalter eingetreten sind, nicht nur eine Ver­änderung erfahren haben, wie sie noch heute im physischen Reifezeit­alter eine Veränderung ihrer Stimme oder ihrer sonstigen Leibesorganisation erfahren, sondern auch eine Veränderung ihrer Seele er­fahren haben. Wir haben darauf hingewiesen, wie die alte Osiris-Isis­mythe gerade mit dem Hinschwinden der Veränderung der Seele zu­sammenhing. Was da aufgetreten ist in der Menschheit durch jene Kräfteessenzen, von denen wir gestern gesprochen haben, das muß

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in anderer Form wiederkommen, indem die Menschen in einer neuen Gestalt die Kraft des Wortes erleben, die Kraft des Gedankens, die Kraft der Idee; jetzt nicht so, als wie wenn durch Naturkräfte aus der innersten Leibesorganisation - gleich wie beim Stimmverändern der Knaben - etwas heraufsteigt, was den Menschen ausziert mit der Kraft der animalischen Organisation und auf seinem Haupte unsicht­bar als Kuhhörner fungiert, sondern es muß dasjenige, was gemeint ist mit dem Mysterium von Golgatha, was gemeint ist mit der wah­ren Kraft des Wortes, bewußt von den Menschen ergriffen werden. Ein neues Element muß einziehen in das menschliche Bewußtsein. Grundverschieden ist dieses neue Element von den Elementen, die man heute noch gerne bezeichnet. Aber dieses neue Element hat seine Bedeutung für das soziale Leben, es hat seine Bedeutung für die Menschheitspädagogik, wenn Pädagogik oder Erziehungslehre aus dem traurigen Zustand hinauskommen sollen, in dem sie sich heute befinden.

Wovon redet die tiefgründige Eulenspiegelei - will sagen, naturwissenschaftliche Tiefgründigkeit -, wovon redet sie hauptsächlich, wenn sie vom Menschen redet? Wovon redet selbst ein großer Teil der neueren Dichtung? Sie redet von dem physischen Ursprunge des Menschen im Zusammenhange mit physischen Entitäten der Ab­stammung. Im Grunde genommen ist ja die sogenannte moderne, die vielgerühmte moderne Entwickelungslehre nichts anderes als eine Anschauung, die in den Mittelpunkt rückt die physische Abstammungslehre. Denn der Begriff der Vererbung spielt die allergrößte Rolle in dieser Entwickelungslehre. Es ist eine Einseitigkeit. Die Men­schen sind sehr zufrieden mit solcher Einseitigkeit, denn die Menschen glauben heute, daß man dabei sehr gelehrt sein kann. Man kann es auch mit ganz willkürlichen, scheinbar aus tiefer Logik, aber in Wirk­lichkeit aus Luftigkeit geholten Ausdeutungen von Dingen.

Wir haben gestern ein Beispiel gesehen, wie ganze Literaturen ge­schrieben werden, weil die Menschen den Zusammenhang einer Vor­stellung mit dem ursprünglichen Erlebnis, aus dem die Vorstellung hervorgegangen ist, verloren haben: das Kreuzessymbolum. Eine ganze Literatur ist darüber geschrieben worden, auf alles mögliche ist

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das Kreuz bezogen worden. Worauf es zu beziehen ist, wir haben es gestern gesehen. Mit manchem andern werden die Dinge geradeso gemacht, und die Menschen kommen sich tiefsinnig vor, wenn sie solche Dinge machen.

Ich erinnere Sie an eines, denken Sie nur einmal, wie unendlich be­deutend kommen sich heute manche Menschen vor, wenn sie glauben, in einer ähnlichen Weise zu sprechen, wie heute hier gesprochen wor­den ist. Es gibt genügend Leute, die sagen, die sogar sehr häufig das Wort brauchen - ach, man kann es, mit Respekt zu vermelden, in den Zeitungen alle Augenblicke lesen: Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. - Damit meint man, etwas sehr Tiefsinniges gesagt zu haben. Aber man sollte nach dem Ursprunge eines solchen Wortes fragen. Er führt zurück in diejenigen Zeiten, in denen man lebendige Vorstellungen gehabt hat, die eben noch mit den Erfahrungen, mit den Erlebnissen zusammenhängen. Wenn man heute redet, da ist wenig Zusammenhang, insbesondere zwischen dem Worte und seiner Ursprungsstätte. Wollen Sie noch rechten Zusammenhang haben zwi­schen Wort und Sätzen und Ursprungsstätten, dann rate ich Ihnen, lesen Sie das Büchelchen, in dem «Schweizerdeutsche Sprichwörter» gesammelt sind; denn in diesen volkstümlichen Sprichwörtern findet man noch ein urtümliches Zusammenklingen desjenigen, was gesagt wird, mit dem unmittelbaren Erlebnis. Der Buchstabe, mit ihm ist nämlich dasjenige gemeint, was als Buchstabenschrift gekommen ist gegenüber dem Alten, welches in der gestern geschilderten Weise das imaginative Leben aus dem Geiste herausgeholt hat. Dieser alte Geist machte lebendig, und die Lebendigkeit hatte in jener Entwickelungsepoche des Menschen das imaginative atavistische Hellsehen zur Folge. Aber ein Bewußtsein war vorhanden, daß diese Epoche von einer andern abgelöst werden muß, daß der Buchstabe kommen muß, der die alte Lebendigkeit tötet.

Und jetzt bringen Sie das in Zusammenhang mit alldem, was ich gesagt habe über das eigentliche Wesen des Bewußtseins im Zusam­menhang mit dem Tode. Da ist es der Buchstabe, der tötet, der aber auch das Bewußtsein bringt, das nur wieder überwunden werden muß durch ein anderes Bewußtsein. Nicht das Wegwerfende ist gemeint,

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das die heutige Journalistentorheit in dem Spruch hat: Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig -, sondern der Satz hängt zu­sammen mit Entwickelungsimpulsen der Menschheit. Er besagt un­gefähr: In alten Zeiten, in imaginativen Zeiten, in den Osiriszeiten, erhielt der Geist die Menschenseele in dumpfer Lebendigkeit; der Buchstabe rief in späteren Zeiten das Bewußtsein hervor. Das ist die Interpretation des Satzes, das bedeutete er ursprünglich. Und so wie in diesem Falle sind die Menschen heute in vielen Fällen sehr, sehr mit Einsichten zur Hand, mit willkürlichen Deutungen, weil sie kei­nen Zusammenhang haben damit.

Das begründet nicht, daß die Dinge falsch sind, welche die moderne tiefgründige Wissenschaftlichkeit über den Vererbungsbegriff findet, sondern daß der andere Pol hinzukommen muß, wenn man von der Vererbung spricht. Weist man auf seine Kindheit und von seiner Kindheit auf seine Geburt zurück, frägt man sich: Was trage ich in mir? - dann ist die Antwort: Was Eltern und Voreltern in sich ge­tragen haben und auf mich übertragen haben! - Es gibt aber auch noch ein anderes Hinschauen auf den Menschen, das nur der Gegenwarts­mensch noch nicht übt, das der Zukunftsmensch üben muß, das in den Mittelpunkt der Pädagogik, der Erziehungskunst treten muß: das ist nicht das Zurückblicken auf das Jünger-gewesen-Sein, sondern das richtige Hinblicken auf die Tatsache, daß man mit jedem Tag älter wird im Leben. Im Grunde versteht die neuere Menschheit nur, daß man einmal jung gewesen ist. Sie versteht nicht - in Wirklichkeit nicht - realistisch aufzufassen, daß man mit jedem Tage älter wird. Denn sie weiß nicht das Wort, das hinzutreten muß zu dem Worte der Vererbung, wenn man gegenüber dem Jünger-gewesen-Sein das Äl­terwerden stellt. Sieht man auf seine Kindheit, so spricht man von dem, was man ererbt hat. Ebenso kann man, wenn man auf sein Älterwerden blickt, von dem andern Pol sprechen, kann wie von der Pforte der Geburt, so von der Pforte des Todes sprechen. Da entsteht die eine Frage: Was haben wir gewonnen durch die Voreltern, indem wir durch das Tor der Geburt eingetreten sind in dieses Leben? - Da entsteht die andere Frage: Was verlieren wir vielleicht, was wird in uns anders dadurch, daß wir den kommenden Zeiten entgegengehen,

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daß wir mit jedem Tag älter werden? Wie wird es, wenn wir bewußt erleben das Mit-jedem-Tag-Älterwerden?

Das aber ist eine Anforderung an unser Zeitalter. Lernen muß die Menschheit, bewußt mit jedem Tag älter zu werden. Denn lernt man bewußt mit jedem Tag das Älterwerden, dann bedeutet das wirkliche Wissen: ein Zusammentreten mit geistigen Wesenheiten, wie es ein Herkommen von physischen Wesenheiten bedeutet, daß man geboren ist und vererbte Eigenschaften hat. Doch, wie diese Dinge zusammen­hängen, davon werde ich das nächste Mal sprechen, von jenem wich­tigen inneren Impuls, der an die Menschenseele herantreten muß, wenn die Menschenseele das finden soll, was sie für die Zukunft so notwendig hat, was allein eine ganze, volle Ergänzung dessen sein kann, was die Naturwissenschaft auf der einen Seite bringt.

Dann werden Sie sehen, warum an die Seite der alten Osiris-Isis­mythe die neue Isismythe treten kann, und warum für den Menschen der Gegenwart beide zusammen notwendig sind; warum hinzugefügt werden muß zu den Worten, die vom alten Ägypten herüberklingen vom Standbilde zu Sais: Ich bin das All, ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet -, warum hineintönen muß in diese Worte ein anderes, war­um heute diese Worte nicht mehr einseitig nur an die menschliche Seele heranklingen dürfen, sondern dazu klingen müssen die Worte:

Ich bin der Mensch. Ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Meinen Schleier sollte jeder Sterbliche lüften.

Ich habe Ihnen heute mehr Rätsel vor die Seele gestellt als Lösun­gen. Wir werden aber davon weiter sprechen, und die Rätsel werden sich in mannigfaltiger Weise dann schon lösen.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 8. Januar 1918

Bevor ich von hier wegzugehen habe, werden wir versuchen, gerade die Dinge gründlicher zu betrachten, die mit der neulich angeregten Frage zusammenhängen: Welche Impulse des menschlichen Lebens müssen insbesondere in der Gegenwart in das Bewußtsein der Men­schen eintreten, damit ein Gegengewicht geschaffen sei gegen das fast ausschließlich sowohl in der Wissenschaft wie im Leben herrschende Vererbungsprinzip? - Allein, der damit gemeinten außerordentlich wichtigen Frage können wir uns nur langsam und allmählich nähern. Es ist ja im Grunde diese Frage im Tiefsten zusammenhängend mit dem Gegensatz, den ich Ihnen vor Augen, vor das Geistesauge führen wollte, indem ich darauf aufmerksam machte, wie man hinsehen kann nach dem alten ägyptischen Inschriftspruch der ägyptischen Isis: Ich bin das All, ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zu­kunft; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet -, und wie man auf der andern Seite in sein Bewußtsein aufnehmen kann das­jenige, was von der Gegenwart an und in die Zukunft hinein gewisser­maßen der andere, der ergänzende Spruch sein muß: Ich bin der Mensch. Ich bin die Vergangenheit, ich bin die Gegenwart, ich bin die Zukunft. Meinen Schleier sollte jeder Sterbliche lüften.

Nun muß man vor allen Dingen sich kiar sein, daß in der Zeit, in der jener Spruch entstanden ist innerhalb der ägyptischen Kultur, es noch kiar war, deutlich war, daß man ja eigentlich den Menschen selbst anspricht, wenn man vom «Unsterblichen» spricht. Allein innerhalb dieser ägyptischen Kultur war das Mysterium als Mysterienprinzip ein tief eingewurzeltes Prinzip. Der Ägypter, der mit seiner Kultur be­kannt war, wußte, daß dasjenige, was in der Seele als Unsterbliches lebt, geweckt werden sollte. Ja, entgegen dem Gebrauche, den wir heute haben müssen, betrachtete der Ägypter eigentlich, so wie ja der Grieche auch, wenigstens der in Platos Sinne denkende Grieche, nur denjenigen als wahrhaft der Unsterblichkeit teilhaftig, welcher mit seinem Bewußtsein die spirituelle Welt ergriffen hat. Sie können den

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Beweis dafür nachlesen in meiner Schrift «Das Christentum als my­stische Tatsache», wo ich Ihnen die oftmals hart klingenden Aus­sprüche Platos angeführt habe für den Unterschied zwischen den­jenigen Menschen, welche versuchen, die Impulse des Unsterblichen, die spirituellen Impulse in der Seele zu ergreifen, und denjenigen Menschen, die das verschmähen, die das nicht tun.

Indem Sie das bedenken, werden Sie aber leicht einsehen, daß der Ausspruch am Bildnis zu Sais eigentlich heißen sollte: Derjenige, der niemals versuchen will, das spirituelle Leben in der Seele zu ergreifen, der kann den Schleier der Isis nicht lüften; wohl aber der kann ihn lüften, der dieses spirituelle Leben ergreift, der - man würde im Sinne der alten Ägypter eben sprechen, heute klingt es etwas anders -, der sich also als «Sterblicher» zum «Unsterblichen» macht. Es sollte nicht gesagt werden, daß der Mensch überhaupt nicht den Schleier der Isis heben könne, sondern nur: Derjenige Mensch kann nicht den Schleier der Isis heben, der sich mit dem Sterblichen ausschließlich verbinden will, der nicht an das Unsterbliche heran will. Das bewirkte ja natürlich auch, daß später, als die ägyptische Kultur mehr in Ver­fall kam, der Spruch, möchte ich sagen, auch in eine unfugartige Ausdeutung hineintrieb. Die Priester, als sie das Mysterienprinzip zum Machtprinzip umgestalteten, haben eigentlich der profanen, nicht der priesterlichen, Menge beizubringen versucht, daß sie, die Priester, die Unsterblichen seien, und daß diejenigen, die nicht die Priester sind, die Sterblichen sind, daß also alle diejenigen, die außerhalb der Priesterschaft stehen, den Schleier der Isis nicht heben können. Man könnte sagen, in der Verfallszeit der ägyptischen Kultur gab es schon diese Deutung: Ich bin das All, ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft; meinen Schleier kann nur ein Priester lüften. - Und die Priester nannten sich in jener Verfallszeit auch «die Unsterblichen».

Dieser Ausdruck in seinem Gebrauche ist ja dann mehr für die auf dem physischen Plane lebenden Menschen zurückgegangen. Nur in der französischen Akademie braucht man ihn noch für die Mitglieder, indem man in Fortsetzung des ägyptischen Priesterprinzips besonders bedeutsame Menschen da zu «Unsterblichen» macht. Man wird in diesen Tagen daran erinnert, weil ja der Scheffing- und Schopenhauer-Plagiator

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Bergson gerade jetzt von der Französischen Akademie in die Unsterblichenwürde erhoben werden soll. Solche Dinge bleiben aus Zeiten zurück, in denen man sie verstanden hat, und münden in die Zeiten hinein, wo die Worte und Begriffe und Ideen weitab von ihrer Ursprungsstätte liegen.

Man könnte leicht meinen, wenn man genötigt ist, so manches von dem zu sagen, was eben auch im Laufe dieser Betrachtungen gesagt werden muß, daß diese Betrachtungen dazu dienen sollten, unsere Zeit nur anzuklagen. Ich habe oftmals betont, das ist nicht der Fall. Dasjenige, was hier gesagt ist, ist zur Charakteristik der Zeit, nicht zu einer Kritik der Zeit gesagt. Es kann aber nicht verlangt werden, daß da, wo Wahrheit geredet werden soll, nicht auch auf dasjenige hingedeutet werde, was eben durchschaut werden muß, sei es in seiner Haltlosigkeit, sei es in seiner Schädlichkeit. Dabei darf man ja durch­aus sagen: Sollte es denn ganz tadelnswert sein, wenn man ein gewis­ses Beispiel - selbstverständlich in entsprechend großer Entfernung -befolgt, ein Beispiel, das aber eben nicht genug befolgt werden kann. Im Evangelium wird ja nicht erzählt, daß der Christus Jesus in den Tempel gegangen ist und die Händler gestreichelt hat, sondern es wird einem etwas anderes erzählt, daß er ihnen die Stühle umgeworfen hat und dergleichen! Um dasjenige, was geltend gemacht werden soll, wirklich geltend zu machen, dazu ist eben notwendig, daß man wirk­lichkeitsgemäß auf dasjenige hinweist, was getadelt werden muß, wenn die Zeit vorwärtsgehen soll. Da darf nicht das Sentimentale einer ganz falschen allgemeinen Schönfärberei in der menschlichen Seele Platz greifen und etwa gar als allgemeine Menschenliebe aus­posaunt werden.

Wenn man dies gebührend berücksichtigt, dann kann auf der einen Seite gesagt werden, daß wir nun eben einmal im materialistischen Zeitalter leben, in diesem materialistischen Zeitalter, das zum Mate­rialismus notwendig hinzufügt die Abstraktion in dem Sinne, wie wir es kennengelernt haben: die Wirklichkeitsfremdheit, und daß alles dasjenige, was katastrophal hereinbrechen mußte über unsere Zeit, zusammenhängt mit dieser Wirklichkeitsfremdheit. Auf der andern Seite darf aber auch gesagt werden, daß, verglichen mit den verschiedenen

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Perioden, namentlich - wenn wir dabei stehenbleiben - der nachatlantischen Zeit, unsere fünfte nachatlantische Zeit in gewisser Beziehung, von gewissen Gesichtspunkten aus die größte Zeit ist, die­jenige, die der Menschheit am allermeisten bringt, diejenige, die un­geheure Entwickelungs- und Daseinsmöglichkeiten für den Menschen in sich beherbergt. Und gerade durch das, was der Mensch in diesem Zeitalter ganz besonders, ich möchte sagen, als Schattenseite des spirituellen Daseins ausbildet, nimmt er den Weg und kann er, wenn er sich richtig verhält, den Weg hineinfinden in die spirituelle Welt. Namentlich kann er den Weg finden zu seinem wahren, höchsten Menschenziel. Die Entwickelungsmöglichkeiten sind in unserer Zeit so groß, wie sie in den abgelaufenen Phasen der nachatlantischen Ent­wickelung von einem gewissen Gesichtspunkte aus nicht waren.

Es ist ja eigentlich etwas ungeheuer Bedeutungsvolles geschehen mit dem Eintritt dieses fünften nachatlantischen Zeitalters. Man muß schon sich in neuer Weise wiederum hineinversetzen in den Zusam­menhang des Menschen mit dem ganzen Weltenall, wenn man dem, was wir ja von verschiedenen Gesichtspunkten öfter hervorgehoben haben, die rechte Färbung, die rechte Gemütsnuance geben will. Ge­wiß, die Gescheitlinge im Philisterium, die nennen es Aberglaube, wenn gesprochen wird von einem gewissen Zusammenhang des Men­schen mit konkreten Konstellationen des Weltenalls. Man muß nur diesen Zusammenhang richtig verstehen. Aberglaube - was ist Aberglaube? Der Glaube, daß sich der physische Mensch nach dem Welten-all in einer gewissen Beziehung richten muß? Wir richten uns nach der Uhr, die wir nach dem Sonnenstand regeln; wir treiben, so oft wir nach der Uhr schauen, Astrologie. Wir haben unterbewußte Glieder der Menschennatur, die richten sich nach andern Konstellationen als nach denen, nach denen wir im physischen Leben die Uhr richten. Wenn jemand die Dinge im richtigen Sinne versteht, so hat das Reden von Aberglauben nicht den geringsten Sinn. Deshalb darf wohl zur Illu­strierung zunächst ein Stück dieser Weltenuhr jetzt vor Ihre Seele hin-gestellt werden. Wir werden es brauchen, um das vorerst angeschla­gene Rätsel weiter betrachten zu können.

Als jene Zeit abgelaufen war, welche als die atlantische Überflutung,

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als Untergang der Atlantis, unsere nachatlantische Kultur von der atlantischen Kultur trennt, da war als erste nachatlantische Zeit, als erste nachatlantische Kulturepoche diejenige, welche ihre makrokosmischen Einflüsse dadurch empfing, daß die Kraft, die das Erdenleben durchflutete, diejenige war, welche entspricht dem Auf­gang der Sonne im Frühlingspunkte im Zeichen des Krebses. Wir können also sagen, als die Sonne mit ihrem Frühlingspunkte in das Zeichen des Krebses eintrat, da begann die erste nachatlantische Kul­tur. Wir können sie geradezu - wenn der Ausdruck selbstverständlich nicht mißverstanden wird - die «Krebskultur» nennen. Wenn wir die Dinge in ihrem wirklichen Lichte begreifen, so können wir sagen, die Sonne stand mit ihrem Frühlingsaufgang im Zeichen des Krebses.

Wir haben davon gesprochen in diesen Betrachtungen, daß im Menschen immer etwas entspricht demjenigen, was da draußen im Makrokosmos ist. Der Krebs entspricht beim Menschen dem Brust­korb. So daß man, makrokosmisch gesprochen, diese erste, die ur­indische Kultur, dadurch charakterisieren kann, daß man sagt, sie ver­lief, während der Frühlingspunkt der Sonne im Krebs war. Wenn man sie mikrokosmisch charakterisieren will, kann man sagen, sie verlief damals, als der Mensch für seine Weltenerkenntnis, für seine Weltenwahrnehmung, für seine Weltenanschauung unter dem Einfluß jener Kräfte stand, die zusammenhängen mit dem, was sich in der Um­hüllung seiner Brust, im Brustpanzer im Krebs zum Ausdrucke bringt.

Wir haben heute als physische Menschen keine Möglichkeit, durch diejenigen Kräfte, die in unserem Krebs sind, mit der Welt in er­kennende Beziehungen zu treten. Wir haben keine Möglichkeiten da­zu heute. Wenn der Mensch diejenigen Kräfte entwickeln kann, die eine intime Verwandtschaft zu seinem Brustkorb haben, wenn er, ich möchte sagen, mit Bezug auf die Kräfte seines Brustkorbes sensitiv ist für alles dasjenige, was in der Natur und im Menschenleben geschieht, dann ist es so, wie wenn der Mensch in einer unmittelbaren Berührung mit der äußeren Welt wäre, mit alledem, was als elementarische Welt an ihn herantritt. Wenn wir nur nehmen - wir treffen damit das­jenige, was der urindischen Kultur zugrunde lag -, wenn wir nur nehmen das Verhältnis von Mensch zu Mensch, so war es so, daß in

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dieser alten Zeit der Mensch, indem er dem Menschen entgegentrat, gewissermaßen an der Sensitivität seines Brustkorbes fühlte, wie der andere Mensch war. Er fühlte, wie ihm der andere Mensch sympa­thisch oder mehr oder weniger antipathisch sein konnte. Er trat dem andern Menschen entgegen und lernte ihn erkennen. Indem er in sei­ner Nähe die Luft atmete, lernte er ihn erkennen. Gewiß, in mancher Beziehung weiß davon zu dem Heil der Menschheit die moderne Menschheit nichts. Aber in jedes Menschen Nähe atmet natürlich der Mensch anders, denn in jedes Menschen Nähe teilt der Mensch die von dem andern ausgeatmete Luft. Für diese Dinge ist der moderne Mensch sehr unempfindlich geworden. Während der ersten nachatlantischen Kultur, während der Krebskultur, war diese Unempfind­lichkeit nicht vorhanden. Ein Mensch konnte durch seinen Atem sympathisch, antipathisch sein; der Brustkorb bewegte sich anders, wenn der Mensch sympathisch oder antipathisch war. Und der Brust­korb war sensitiv genug, diese seine eigenen Bewegungen wahrzu­nehmen.

Denken Sie, was man da eigentlich dann wahrnimmt! Man nimmt den andern wahr, aber man nimmt den andern wahr durch etwas, was in einem selber vorgeht. Das Innere des andern nimmt man in einem Vorgang wahr, den man als Inneres erlebt, als körperlich Inneres erlebt. Das war während der Krebskultur. Ich habe Ihnen das illustriert an dem Beispiel der Begegnung mit einem andern Menschen. Aber so wurde die ganze Welt betrachtet. So entstand die Weltanschauung, die diese erste nachatlantische Kultur hatte. Der Mensch atmete anders, wenn er die Sonne betrachtete, wenn er die Morgenröte betrachtete, wenn er den Frühling betrachtete, wenn er den Herbst betrachtete; und danach bildete er sich seine Begriffe. Und wie die heutige Menschheit ihre abstrakten, ihre so strohern-abstrakten, nicht einmal mehr strohern­-abstrakten, sondern papieren-abstrakten Begriffe bildet über Sonne, Mond und Sterne, über Wachsen und Gedeihen, über alles mögliche, so bildete die Menschheit in der ersten nachatlantischen Zeit, in der Krebskultur, Begriffe, die in dieser unmittelbaren Weise gefühlt wur­den wie ein Mitvibrieren des eigenen Krebses, des eigenen Brust­korbes.

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Man kann also sagen: Wenn das etwa den Sonnenweg vorstellt und hier die Sonne im Frühling im Krebs steht, dann ist das die Zeit, in der

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auch der Mensch in der Krebskultur ist. In besonderer Weise ist ja immer ein solches Tierkreisbild - aus Gründen, die wir vielleicht auch nächstens erwähnen können, aber die ja den meisten von Ihnen be­kannt sind - verwandt, als besonders einem Planeten zugehörig an­zusehen. Der Krebs ist besonders dem Mond als zugehörig anzusehen. Man sagt, weil die Kräfte des Mondes eben ganz besonders wirken, wenn der Mond im Krebs steht: der Mond habe seine Heimat, sein Haus im Krebs; dort sind seine Kräfte, ganz besonders kommen sie dort zur Entwickelung.

So wie nun dem Krebs der Brustkorb am Menschen entspricht, so entspricht dem planetarischen Mond am Menschen die Sexualsphäre. Und in der Tat, man kann sagen, während auf der einen Seite der Mensch so empfänglich und empfindlich, so sensitiv war in der ersten nachatlantischen Zeit, hing gerade in dieser ersten nachatlantischen Zeit alles dasjenige, was an intimen Begriffen der nachatlantischen Weltanschauung zutage gefördert worden ist, mit der Sexualsphäre zusammen - damals mit Recht, denn es war jene Naivität vorhanden, die in späteren, verdorbenen Zeiten nicht mehr vorhanden war.

Dann trat ja die Sonne mit ihrem Frühlingspunkte in das Zeichen der Zwillinge. Und wir haben es dann zu tun mit der zweiten nachatlantischen Kultur, mit der urpersischen Kultur, während der Früh­lingspunkt in den Zwillingen verläuft. Mit den Zwillingen im Makrokosmischen ist mikrokosmisch verwandt alles dasjenige, was sich beim Menschen auf sein Symmetrischsein bezieht, insbesondere auf das Symmetrischsein, das sich in der Beziehung der rechten Hand zur linken Hand symmetrisch ausdrückt. Wir haben natürlich auch andere Dinge, in denen sich das Symmetrischsein zum Ausdruck bringt: wir sehen mit zwei Augen die Dinge nur einfach und so weiter. Dieses

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Symmetrischsein, dieses Zusammenwirken des Links und Rechts beim Menschen, das sich also besonders in den beiden Armen und Händen zum Ausdruck bringt, das ist dasjenige, was im Makrokosmos den Zwillingen entspricht.

Dasjenige, was nun durch die Kräfte der Zwillingssphäre, durch die Kräfte des Symmetrischseins vom Menschen so für seine Welt­anschauung lebensartig in sich aufgenommen wird - wie durch den Brustkorb in der ersten nachatlantischen Zeit das, was ich vorher charakterisiert habe -, das ist nun schon weniger intim mit der unmittelbarsten Umgebung verbunden, sondern das Symmetrischsein verbindet den Menschen schon mehr mit dem, was von der Erde ab­liegt, mit dem, was nicht irdisch, sondern himmlisch, kosmisch ist. Daher tritt in dieser zweiten nachatlantischen Zeit zurück das intime Verknüpftsein mit der unmittelbar elementaren Erdenumgebung, und es tritt auf die Zarathustrakultur, das Hinauswenden zu dem Zwillingshaftsein in der Welt - auf der einen Seite der Lichtnatur, auf der andern Seite der Finsternisnatur -, die Zwillingsnatur, die zusammenhängt mit den Kräften, die der Mensch durch seine Symmetrie, durch sein Symmetriewesen ausdrückt, auslebt.

So wie der Mond sein Haus in dem Krebs hat, so hat Merkur sein Haus in den Zwillingen (siehe Zeichnung Seite 201). Und gerade so, wie gewissermaßen dem Menschen in der ersten nachatlantischen Zeit die Kraft der Sexualsphäre geholfen hat, um diese intime Beziehung zur Umwelt zu bekommen, von der wir gesprochen haben, so hilft nun wiederum die Merkursphäre, die eigentlich mit den Kräften des Unterleibes zusammenhängende Sphäre, in diesem zweiten nachatlantischen Zeitraum. Auf der einen Seite gehen die Kräfte des Men­schen aus der Erde weg in das Weltenall hinaus, in das außerirdische Weltenall; aber dabei hilft dem Menschen gewissermaßen dasjenige, was noch sehr an atavistische Kräfte gemahnt, was zusammenhängt mit den Kräften seines Gefäßsystems, seines Verdauungssystems. Der Mensch hat ja wirklich sein Verdauungssystem nicht bloß, um zu ver­dauen, sondern es ist zu gleicher Zeit ein Erkenntnisapparat. Diese Dinge sind nur vergessen worden. Und die wirkliche Scharfsinnig­keit - nicht der Spürsinn, von dem ich in diesen Tagen gesprochen

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habe -, die wirkliche Scharfsinnigkeit, die wirkliche tiefere Kombina­tionsgabe, welche mit den Dingen in Beziehung steht, die kommt ja nicht aus dem Kopfe, die kommt aus dem Unterleib, die diente dieser zweiten nachatlantischen Zeit.

Dann kam die dritte Zeit, in der der Frühlingspunkt der Sonne ein­trat in den Stier. Dasjenige, was von den Kräften herunterkommt vom Weltenall, wenn die Sonne den Frühlingspunkt im Stier hat, das hängt mikrokosmisch beim Menschen zusammen mit alldem, was die Kehlkopfgegend, die Kehlkopfkräfte betrifft. Daher hat der Mensch in dieser dritten nachatlantischen Zeit, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, ich möchte sagen, als sein besonderes Erkenntnisorgan entwickelt alles das, was mit seinen Kehlkopfkräften zusammenhängt. Die Verwandtschaftsempfindung zwischen dem Wort und der Sache, nament­lich den Dingen draußen im Weltenall, war in dieser dritten nachatlantischen Zeit ganz besonders groß. Von der intimen Verwandt­schaft desjenigen, was der Mensch vom Weltenall erkannte durch sei­nen Kehlkopf, kann man sich heute im Zeitalter der Abstraktionen nicht viel Vorstellungen machen.

Unterstützt wurde wiederum die Kraft, die dem Stier entspricht, durch Venus, die ihr Haus im Stier hat (siehe Zeichnung Seite 201). Im Mikrokosmos, im Menschen, entspricht das Kräften, welche zwi­schen der Herzgegend und der Magengegend liegen. Dadurch wurde aber dasjenige, was in dieser dritten nachatlantischen Zeit als das Weltenwort erkannt wurde, intim mit dem Menschen verbunden, in­dem er es verstand durch die Venuskräfte, die in ihm selber waren.

Dann kam die griechisch-lateinische Zeit, das vierte nachatlantische Zeitalter. Die Sonne trat mit ihrem Frühlingspunkte ein in den Wid­der. Das entspricht der Kopfgegend des Menschen, der Stimgegend, der Oberkopf-, der eigentlichen Kopfgegend des Menschen. Es be­gann diejenige Zeit, in der der Mensch vorzugsweise sich so in ein erkennendes Verhältnis zur Welt setzte, daß dieses erkennende Ver­hältnis zur Welt ihm Gedanken brachte. Das Kopferkennen ist ganz verschieden von den früheren Arten des Erkennens. Das Kopferkennen trat ja in diesem Zeitalter besonders ein. Aber der Kopf des Menschen ist, trotzdem er fast eine getreue Nachbildung des Makrokosmos

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ist, gerade weil er in physischem Sinne eine getreue Nach­bildung des Makrokosmos ist, im spirituellen Sinne eigentlich nicht gar viel wert. Verzeihen Sie den Ausdruck: als physischer Kopf ist der Kopf des Menschen nicht gar viel wert. Und wenn der Mensch auf seinen Kopf angewiesen ist, so kann er zu nichts anderem kommen als eigentlich zu einer Gedankenkultur.

Nach und nach hat auch die griechisch-lateinische Zeit, die ja, wie wir von andern Gesichtspunkten aus gesehen haben, die Kopfkultur bis zu ihrer Höhe brachte und dadurch gewissermaßen den Menschen in einer besonderen Weise heranbrachte an die Welt, in einer nach und nach sich entwickelnden Weise es zu der eigentlichen Kopfkultur ge­bracht, zu der Gedankenkultur, die dann abgelaufen ist. So daß man, wie ich gestern aufmerksam gemacht habe, vom 15. Jahrhundert ab nicht mehr wußte, wie man mit dem Denken noch mit der Wirklich­keit zusammenhing. Diese Kopfkultur, diese Widderkultur, sie war aber noch immer so, daß man gewissermaßen in den Menschen hereinnahm die Anschauung des Weltenalls. Und mit Bezug auf die physi­sche Welt war diese Kopfkultur, diese Widderkultur, die allervollkommenste. Materialistisch ist erst dasjenige geworden, was sich dann als Entartung daraus entwickelt hat. Der Mensch trat durch seinen Kopf eben doch gerade in dieser Widderkultur in ein besonderes Ver­hältnis zur Umwelt. Und man versteht heute insbesondere die grie­chische Kultur schwer - die römische hat es ja dann ins mehr Philiströse verzerrt -, wenn man das nicht berücksichtigt, daß der Grieche eben zum Beispiel Begriffe und Ideen anders wahrnahm. Ich habe das in meinen «Rätseln der Philosophie» besonders ausgeführt.

Bedeutungsvoll war nun für diese Zeit, daß der Mars sein Haus im Widder hat. Die Kräfte des Mars, das sind diejenigen Kräfte, die nun wiederum, aber in anderer Art, zusammenhängen mit dem mensch­lichen Kehlkopfwesen, so daß der Mars, der zu gleicher Zeit dem Menschen die aggressiven Kräfte gibt, im wesentlichsten die Unter­stützung bot für alles dasjenige, was an Beziehung zur Umwelt von seiten des Menschen entwickelt wurde durch seinen Kopf. Und für die vierte nachatlantische Zeit, die also im 8. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung beginnt, im 15. Jahrhundert schließt, da

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haben sich auch jene Verhältnisse herausgebildet, die man schon als eine Marskultur bezeichnen kann. Die Konfiguration der einzelnen sozialen Gebilde über die Erde hin ist ja in dieser Zeit im wesentlichen durch eine Marskultur, durch eine kriegerische Kultur entstanden. Jetzt sind Kriege Nachzügler. Wenn sie auch schrecklicher sind als einst, sie sind Nachzügler. Wir werden gleich noch darauf zu sprechen kommen.

Nun ist der Kopf des Menschen mit allen seinen Kräften gerade als physisches Denkwerkzeug, als Werkzeug für die physischen Gedan­ken, eine Nachbildung des Sternenhimmels. Daher hat auch diese vierte nachatlantische Zeit in den Gedanken noch etwas Makrokosmisches. Es kommt in die Gedanken noch viel Makrokosmisches herein, die Gedanken sind noch nicht an die Erde gebunden. Aber bedenken Sie den großen Umschwung, der nun kommt mit dem 15. Jahrhundert, indem die Widderkultur übergeht in die Kultur der Fische. Das, was jene Kräfte geworden sind im Makrokosmos, sind im Menschen die Kräfte, die mit den Füßen zusammenhängen. Vom Kopf geht es hinunter zu den Füßen. Der Umschwung ist ein ungeheurer. Daher konnte ich Ihnen erzählen, daß, wenn Sie zurückgehen würden, aber mit Verständnis zurückgehen würden in die Zeit vor dem 14. Jahr­hundert und die heute viel verachteten alchimistischen und sonstigen Schriften lesen würden, Sie dann sehen würden, was da für tiefe, für ungeheure Einblicke in Weltengeheimnisse vorhanden sind. Aber es dreht sich ja die ganze menschliche Kultur - auch die Menschenkräfte - vollständig mit um. Was der Mensch vorher vom Himmel empfangen hat, empfängt er nun von der Erde aus. Das ist dasjenige, was uns aus den Himmelszeichen heraus illustriert den großen Um­schwung, der sich mit dem Menschen vollzogen hatte. Und das hängt zusammen mit dem Aufgange der materiellen, der materialistischen Zeit. Die Gedanken verlieren ihre Kraft, die Gedanken können leicht zur Phrase werden in diesen Zeiten.

Aber nun denken Sie an ein merkwürdiges anderes. Wie Venus ihr Haus im Stier, Mars sein Haus im Widder hat, so hat in den Fischen Jupiter sein Haus. Und Jupiter hängt zusammen mit der menschlichen Stirnesentwickelung, mit der menschlichen Vorderhirnentwickelung.

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Groß kann der Mensch mit dieser Erdenkultur werden in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum, weil er gerade in selbständiger menschlicher Weise, durch die Kräfte seines Hauptes veredeln und fassen kann dasjenige, was ihm von der entgegengesetzten Seite zugeführt wird gegenüber der früheren nachatlantischen Periode. Daher hat dieselbe Leistung beim Menschen, die Mars für das vierte nachatlantische Zeitalter zu leisten hatte, Jupiter für das fünfte zu leisten. Und man könnte sagen: Mars war in gewisser Beziehung der recht­mäßige König dieser Welt in der vierten nachatlantischen Zeit. In der fünften nachatlantischen Zeit ist er nicht der rechtmäßige König die­ser Welt, weil nichts in der fünften nachatlantischen Zeit durch seine Kräfte wirklich - im Sinne dieser fünften nachatlantischen Zeit - erreicht werden kann; sondern was groß machen kann diese Epoche, das muß durch die Kräfte des geistigen Lebens, der Welterkenntnis, der Weltanschauung geltend gemacht werden. Der Mensch ist abgeschlos­sen von den himmlischen Kräften; er ist in das materialistische Zeit­alter gebannt. Aber er hat in diesem fünften nachatlantischen Zeitalter die größte Möglichkeit, sich zu vergeistigen. Keines war der Geistig­keit so günstig, wie dieses fünfte nachatlantische Zeitalter. Es muß nur den Mut finden, die Händler aus dem Tempel zu jagen. Es muß den Mut finden, gegenüber den Abstraktionen, gegenüber den wirk­lichkeitsfremden Dingen die Wirklichkeit, die volle Wirklichkeit und damit die geistige Wirklichkeit zu stellen.

Diejenigen, welche die Konstellationen der Sterne durchschaut haben, sie haben auch immer gewußt, daß besondere Hilfen wiederum kommen von den besonderen Planeten für die einzelnen Abschnitte im Gang der Sonne. Man hat mit einem gewissen Recht jeder von die­sen Konstellationen: Mond-Krebs, Merkur-Zwillinge, Venus-Stier, Mars-Widder, Jupiter-Fische, man hat ihnen drei, wie man sagte, Dekane zugeteilt, drei Dekane. Diese drei Dekane stellen diejenigen Planeten dar, welche den Beruf haben, während der betreffenden Konstellationen ganz besonders einzugreifen in das Geschick, während die andern unwirksamer sind. So sind die Dekane der ersten nachatlantischen Zeit, der Krebszeit: Venus, Merkur, Mond; die Dekane während der Zwillingszeit: Jupiter, Mars, Sonne; die Dekane während

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der Stierzeit: Merkur, Mond, Saturn; die Dekane während der Widderzeit: Mars, Sonne, Venus. Und die Dekane während unserer Zeit, während des Zeitalters der Fische, sehr charakteristisch, also die­jenigen Kräfte, die uns gewissermaßen nach der Himmelsuhr wieder­um besonders dienen können: Saturn, Jupiter, Mars. Mars hier nicht in demselben Dienst, den er hatte, als er in seinem Haus war, wenn er durch den Widder durchgeht, sondern Mars jetzt als repräsentative Kraft für die menschliche Stärke. Aber Sie sehen in den äußeren Pla­neten: Saturn, Jupiter, Mars dasjenige, was zusammenhängt mit dem menschlichen Haupte, mit dem menschlichen Antlitz, mit dem mensch­lichen Wortbilden.

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Also alles, was zunächst für dieses irdische Leben zwischen Geburt und Tod - über das andere zwischen Tod und neuer Geburt werden wir das nächste Mal reden - zusammenhängt in bezug auf die Geistig­keit, das ist wiederum besonders dienstbar in diesem Zeitalter. So ist dieses Zeitalter dasjenige, welches die unendlichst größten spirituellen Möglichkeiten in sich enthält. In keinem Zeitalter war es den Men­schen vergönnt, so viel Unfug zu treiben wie in diesem, weil man sich

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in keinem gegen die innere Mission des Zeitalters stärker versündigen konnte als in diesem Zeitalter. Denn, lebt man mit dem Zeitalter, so wandelt man die von der Erde kommende Kraft durch die Jupiter­kraft um in spirituelifreies Menschentum, und es stehen einem zur Verfügung die besten, schönsten Kräfte des Menschen, die der Mensch entwickelt zwischen der Geburt und dem Tode: Saturn-, Jupiter- und Marskräfte.

Die Weltenuhr steht günstig für dieses Zeitalter. Das darf keinen Fatalismus begründen. Das darf nicht begründen, daß man sagt: Also überlassen wir uns dem Weltengeschick, es wird schon alles gut werden -, sondern das soll begründen, daß, wenn der Mensch will -aber er muß wollen -, er gerade in unserer Zeit unendliche Möglich­keiten findet. Nur wollen die Menschen vorläufig noch nicht.

Aber unbegründet ist es immer, zu sagen: Ja, was vermag ich selber? Die Welt geht ihren Gang! - Gewiß, so wie wir hier sind - die Welt hört heute nicht viel auf uns. Aber auf etwas anderes kommt es an. Es kommt darauf an, daß wir nicht so sagen sollen, wie die Menschen vor dreiunddreißig Jahren gesagt haben, als sie sich zunächst bei sich selbst um nichts gekümmert haben! Dadurch sind die Dinge so ge­worden, wie sie jetzt sind. Für unsere Zeit kommt es darauf an, daß jeder bei sich selbst damit anfängt, aus der Abstraktion heraustreten zu wollen, die Wirklichkeitsfremdheit abzulegen und so weiter; und daß jeder bei sich selbst versucht, an das Wirkliche heranzukommen, über Abstraktionen hinwegzugelangen.

Man muß von so weitliegenden Begriffen herkommen, wenn man das Wichtige entwickeln will, was uns eben jetzt in diesen Tagen dann beschäftigen wird: Auseinandersetzungen über, ich möchte sagen, das Älterwerden des Menschen, das ebenso Dem-Tode-Entgegengehen wie Aus-der-Geburt-Stammen, Aus-der-Geburt-Kommen. Während heute die Pädagogik, die Erziehung, die praktische Kindererziehung ganz darauf ausgeht, nur zu betrachten, daß das Kind geboren ist und sich als Kind entwickelt, muß die Zeit kommen, in der schon das Kind lernt, was es heißt: älter werden. Aber diese Dinge können nicht so einfach entwickelt werden. Da muß man die Begriffe weither holen. Denn man kann schon sagen, um jene Wirklichkeitsfremdheit zu überwinden,

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die heute die Signatur der Zeit ist, dazu ist notwendig, daß die Menschen vor allen Dingen den Willen zur Aufmerksamkeit ent­wickeln, den Willen entwickeln, den Jupiter in Bewegung zu setzen. Jupiter ist ja gerade diejenige Kraft, die den Appell, den fortwährenden Appell an unsere Aufmerksamkeit richtet. Die Menschen sind heute so froh, wenn sie nicht aufmerksam zu sein brauchen, wenn sie gleichen können der schlafenden Isis - ich habe wohlüberlegt von der schlafenden Isis gesprochen! Der größte Teil der Menschheit ver­schläft diese heutige Zeit und fühlt sich dabei sehr, sehr wohl; denn er zimmert sich Begriffe und bleibt bei diesen Begriffen stehen, will nicht Aufmerksamkeit entwickeln. Hinschauen auf die Zusammen­hänge des Lebens, das ist es, worauf es ankommt. Und die schweren Jahre, in denen wir leben, die sollen uns vor allen Dingen das beibringen, daß wir wegkommen von dem, was so lange Zeit hindurch die menschliche Kultur so verweichlicht hat: die Aufmerksamlosigkeit, das Nichtvorhandensein des Willens - und auf die Verhältnisse der Welt hinschauen. Es genügt nicht, bloß so hinzuhuschen über die Dinge.

Es könnte ja zum Beispiel leicht so ausschauen, als ob ich von der Schädlichkeit des Wilsonianismus, einem subjektiven Drange ent­sprechend, immer wieder und wiederum von allen möglichen Seiten her gesprochen hätte. Das ist nicht einem subjektiven Drang entsprechend, sondern es ist wirklich notwendig, weil es heute not­wendig ist, von zahlreichen täuschenden Begriffen, von zahlreichen Illusionen immer wieder und wiederum hinzuweisen in die Richtung, in der die Aufmerksamkeit entwickelt werden muß. Wir lernen an den Zeitereignissen; wenn wir unsere Aufmerksamkeit schärfen, lernen wir gerade heute an den Zeitereignissen ungeheuer viel von dem, was wir brauchen, um die großen Impulse zu verstehen, welche die Menschheit einzig und allein hinausführen können aus den Kalami­täten, in die sich diese Menschheit gebracht hat. Man muß sich ge­wisse Fragen vorlegen, um auf die Dinge aufmerksam zu sein. Nicht darauf kommt es an, daß man überhaupt etwas sieht, sondern wie man es sieht, wie man Fragen gegenüber der äußeren Welt zu stellen vermag. Geisteswissenschaft hat auch diese praktische Bedeutung, daß sie uns den Impuls gibt, zu fragen, Fragen zu stellen.

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Man liest jetzt von den sogenannten Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Sie wissen, daß verschiedene Leute daran beteiligt sind. Als hauptsächlichste Leute von Rußland sind beteiligt, um das herauszugreifen: Lenin, Trotzkij, ein gewisser Herr Joffe und ein ge­wisser Herr Kamenew, der eigentlich Rosenfeld heißt. Trotzkij heißt Bronstein; Joffe ist ein reicher Händler aus Cherson. Das sind die hauptsächlichsten Unterhändler. Nicht uninteressant ist es, sondern vielleicht sogar wichtig, doch auch die Aufmerksamkeit darauf hinzuwenden, daß bei Herrn Rosenfeld-Kamenew es eigentlich nur das ist, was die äußere Welt, die exoterische Welt den reinen Zufall nennt, daß sein Kopf noch immer auf seinen Schultern darauf sitzt; denn der Kopf könnte längst von den Schultern hinuntergefallen sein. Denn sehen Sie, im November 1914 wurden in Rußland allerlei Abgeordnete verhaftet. Man las es dazumal, erfuhr auch sonst davon. Diese Abgeordneten wurden namentlich deshalb verhaftet, weil sie angeklagt waren, Freundschaft zu halten mit dem im Auslande, nicht weit von hier, im Auslande befindlichen Lenin. Namentlich war ja die Auffas­sung im damaligen Rußland, daß Lenin gesagt hat: Von allen Übeln, die Rußland passieren können in diesem Kriege, ist der Sturz des Zarentums das allergeringste Übel. - Da hat man eine Anzahl von Abgeordneten angeklagt, von denen man wußte, sie haben durch Briefe und dergleichen Beziehungen mit Lenin. Aber dazumal konnte man ihnen noch nicht beikommen. Man hat zwar allerlei patriotische, russisch-patriotische Worte gesprochen; Worte sind gefallen wie die: Über die Köpfe und die zerstückten Leiber unserer Krieger hinweg haben sich solche Verräter gefunden, die mit dem schändlichen Lenin in der Schweiz in irgendeinem Zusammenhange stehen - und der­gleichen.

Einen weiteren Prozeß gab es dann im Februar 1915. Da war wieder­um eine Anzahl von Leuten angeklagt, und zu den Angeklagten ge­hörte ein gewisser Petrowski, zu den Angeklagten gehörte aber auch ein gewisser Kamenew alias Rosenfeld. Insbesondere Kamenew galt dazumal unter jenen Angeklagten als der eigentliche russische Ver­rätertypus, als ein ganz besonders abscheulicher Bursche. Und als der Prozeß losging, da glaubte man eigentlich allgemein, daß es nun nicht

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lange dauern würde, bis der Kopf - eben von den Schultern weg sein würde. Aber Kamenew-Rosenfeld, der konnte dazumal nachweisen, den Beweis liefern, daß er sich stets in allen Kriegsfragen anders ver­halten habe als Lenin; ebenso Petrowski, daß sie keine wirklich ernst­haft gemeinte Gemeinschaft mit Lenin haben. Insbesondere konnte dazumal Kamenew-Rosenfeld beweisen, daß er niemals den Sieg Deutschlands gewünscht habe, daß den Sieg Deutschlands nur un­russische, nach dem Ausland verschlagene Genossen wie Lenin wün­schen können, die - weil sie selbst zu schwach oder zu faul sich füh­len - den Sieg der Freiheit von dem Schwert deutscher Generale erwarten.

Das sind die Worte, die dazumal bei jenem Prozesse gesprochen worden sind. Und als Rechtsanwalt, als Advokat, war diesen Herren Petrowski und Kamenew noch beigegeben ein gewisser Kerenskij, der später eine noch andere Rolle gespielt hat; er war der Verteidiger von Kamenew in dem damaligen Prozeß. Und er redete ihn heraus. Die Anklage lautete ja auf Hoch- und Landesverrat dazumal sowohl für Petrowski wie auch für Kamenew-Rosenfeld. Aber Kerenskij konnte sie herausreden, und in seiner Rede befinden sich die schönen Worte: Die Angeklagten wären sehr fern von dem Plan, denen, die zum Tod fürs Vaterland bereit sind, den Dolch in den Rücken zu stoßen; sie sträubten sich gegen keine andere Anzettelung so sehr, wie gegen die­jenige, die von dem Leninschen Geheimbunde ausging. Dadurch, daß Kerenskijs Beredsamkeit und die andern Dinge, die vorgebracht wer­den konnten, den Beweis lieferten, daß Petrowski und Kamenew nichts gemeinschaftlich haben mit den Ideen von Lenin, dadurch kamen sie mit so ziemlich heiler Haut dazumal davon. - Petrowski ist ja jetzt der Minister des Innern in der Regierung des Lenin, und Kamenew ist neben Herrn Joffe der wichtigste Unterhändler von Brest-Litowsk.

Ich sage, ich erwähne diese ausgefallene Geschichte; ich könnte ja heute Hunderte und Hunderte ähnliche erzählen. Aber es ist sehr wichtig, auf die Wirklichkeiten hinzuschauen; das ist dasjenige, was ich sagen wollte. Und um die Wirklichkeiten kennenzulernen, muß man die Menschen anschauen, die mit den Wirklichkeiten zu tun

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haben, wenn es solche Wirklichkeiten sind, in welche die Menschen hineinspielen. Es ist etwas ungeheuer Bequemes, wenn man dabei stehenbleibt, zu sagen: Na, zwischen Rußland und den Mittelmächten wird verhandelt in Brest-Litowsk! - Das sind Abstraktionen, das sind keine Wirklichkeiten. An die Wirklichkeit kommt man nur heran, wenn man den Willen zur Aufmerksamkeit hat, in das Konkrete wirk­lich hineinzuschauen. Ich wollte die Sache wirklich nur als ein Bei­spiel anführen, um zu zeigen, daß man schon auch nötig hat, Gegen­wartsgeschichte zu studieren. Mitreden tut heute jeder über die Ereignisse der Gegenwart; aber wie wenig eigentlich gekannt wird von den Ereignissen der Gegenwart, wie wenig eigentlich die Leute wis­sen, was vorgeht, wie wenig die Leute eine Ahnung haben von dem, was sich abspielt, das ist eigentlich geradezu erstaunlich und kann nur begriffen werden dadurch, daß unsere Intelligenz in einer unglaub­lichen Weise erzogen ist. Unsere Intelligenz ist eben so erzogen, daß sie auf jeder Seite der Wissenschaft dazu verführt wird, so zu urteilen, wie ich es charakterisiert habe: Habe ich einen Taler, so habe ich einen Taler; habe ich zwei Taler, so habe ich keinen, so habe ich nichts! Gibt es nur einen Grabstein von Till Eulenspiegel, kann er gelebt haben; gibt es aber zwei Grabsteine, worauf eine Eule mit einem Spie­gel ist, so hat der Till Eulenspiegel nicht gelebt! - Will ich im physi­kalischen Lehrsaal ein elektrisches Experiment machen, so muß ich sorgfältig alle Maschinen mit gewärmten Tüchern abtrocknen, damit ja nichts feucht ist, denn sonst wird mir weder die gewöhnliche Elektrisiermaschine parieren noch die Influenzmaschine oder irgend etwas. Aber dann erzähle ich flugs hinterdrein: Aus der Wolke - die doch jedenfalls recht naß ist, und die kaum irgendein Professor da draußen mit trockenen Tüchern abgewischt haben wird - da, da geht der Blitz so heraus. - Und so könnte man fortfahren.

Nicht wahr, ich habe ja immer wieder und wiederum Beispiele dafür angeführt: Einer sagt es dem andern nach; keiner schaut nach. So kann man zum Beispiel niedlich hören, das Grundprinzip der moder­nen Physik sei die Erhaltung der Energie, die Erhaltung der Kraft. Das führt auf Julius Robert Mayer zurück. Jullus Robert Mayer - ob­wohl Physiker und Naturforscher und sonstige Gelehrte ihn gegenwärtig

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zu dem großen Heros erklären -, er wurde ja, während er ge­lebt hat, ins Irrenhaus gesperrt, weil er «törichtes Zeug» veröffent­licht hat, Anspruch darauf gemacht hat, ein neues Prinzip gefunden zu haben. Er wurde wirklich ins Irrenhaus gesperrt! Dieses große Ver­dienst, das hat bei diesem Julius Robert Mayer insbesondere ein Universitätsrektor und so weiter. Aber das will ich gar nicht weiter hervorheben, denn das kommt ja öfter vor. Was ich hervorheben will, ist, daß immer wieder und wieder steht, die Erhaltung der Kraft - Julius Robert Mayer habe sie gefunden. Keiner liest nach, sondern einer sagt es dem andern nach. Bei Julius Robert Mayer findet sich in den Formen, in der unbestimmten Form, wie heute das Energieprinzip vertreten wird, gar nichts davon, sondern da ist es in ganz anderer Formulierung, und zwar in einer vernünftigen Formulierung!

Das, was uns naheliegt, nicht wahr - Dr. Schmiedel hat mir ein Heft gegeben, worinnen für Goethes «Farbenlehre» eingetreten wird-, ein Beispiel kann hier auch betrachtet werden: Zwei gelehrte Herren behaupten, Goethe habe nichts von den Fraunhoferschen Linien ge­wußt. Dr. Schmiedel hat vier Spalten zusammengestellt von lauter goetheschen Stellen, worinnen Goethe von den Fraunhoferschen Linien spricht! Aber die gelehrten Herren reden, urteilen über Goethes Umfang seiner optischen Erkenntnisse, lassen in solche Urteile ein­fließen, er habe nichts gewußt von den Fraunhoferschen Linien. Sie lügen die Leute an; denn selbstverständlich, heute in dieser «autori­tätslosen» Zeit ist ja dasjenige, was ein «Gelehrter» sagt, für eine große Anzahl von Menschen ebenso ein Evangelium, wie für viele, nicht wahr, für viele Politiker dasjenige, was Herr Woodrow Wilson sagt, ein Evangelium ist. Also in unserer heutigen Zeit bedeutet das schon etwas, wenn einer so einfach spricht: Goethe habe die Fraunhoferschen Linien nicht gekannt! Viel hilft es auch nicht, wenn man es den Leuten beweist. Nächstens sagt es doch ein Dritter und dann ein Vierter, denn die Unaufmerksamkeit, die Gedankenlosigkeit, mit der heute gelebt wird, ist groß, weil nicht der Wille vorhanden ist, auf die konkreten Wirklichkeiten hinzuschauen. Dazu hat die Menschheit eben viel zu sehr die Neigung, an Abstraktionen sich zu erwärmen, durch Abstraktionen sich zu begeistern.

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Damit habe ich nur eingeleitet dasjenige, was uns noch zu beschäf­tigen hat: das wichtige Prinzip, das in unsere Zeitkultur und unsere Pädagogik eintreten muß, das Prinzip des Altwerdens des Menschen, des Altwerdens seines physischen Leibes, das verbunden ist mit dem Verjüngen seines Ätherleibes. Das wollen wir dann in aller Ausführ­lichkeit nächstens besprechen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 11.Januar 1918

In diesen Betrachtungen wollen wir ja über wichtige Fragen der Menschheitsentwickelung sprechen, und Sie haben bereits gesehen, daß dazu mancherlei weither geholte Vorbereitungen notwendig sind. Heute will ich, damit wir eine möglichst breite Grundlage haben kön­nen, Sie an einzelnes erinnern, das im Laufe der Auseinandersetzungen während meines diesmaligen hiesigen Aufenthaltes von diesem oder jenem Gesichtspunkte aus gesagt worden ist, das uns aber notwendig ist, wenn wir morgen und übermorgen die Betrachtung in dem richtigen Lichte sehen wollen.

Ich habe Sie darauf hingewiesen, wie in jenem Entwickelungsgange der Menschheit, den man als den uns zunächst seit der großen atlan­tischen Katastrophe interessierenden betrachten kann, bedeutungs­volle Veränderungen mit der Menschheit vor sich gegangen sind. Ich habe vor Monaten schon darauf aufmerksam gemacht, wie anders sich die Menschheit im allgemeinen verändert als der einzelne Mensch. Der einzelne Mensch wird, indem die Jahre vorrücken, älter. In einer ge­wissen Beziehung kann man sagen, bei der Menschheit als solcher ist das Entgegengesetzte der Fall. Der Mensch ist zuerst Kind, wächst dann heran und erreicht eben das Alter, das uns als das durchschnitt­liche Lebensalter bekannt ist. Dabei ist die Sache so, daß die physi­schen Kräfte des Menschen einer mannigfaltigen Veränderung und Verwandlung unterliegen. Nun haben wir schon charakterisiert, in welchem Sinne bei der Menschheit ein umgekehrter Gang stattfindet. Man kann sagen, daß die Menschheit in jener alten Zeit, die auf die große atlantische Katastrophe folgte - in der Geologie nennt man es die Eiszeit, in den religiösen Traditionen die Sintflut -, in jener Zeit also, die unmittelbar auf diese große Überflutung der Erde folgte, aus der wirklich eine Art Vereisung hervorging, in den nächsten 2160 Jahren in einer ganz andern Art entwickelungsfähig war als später.

Wir wissen, daß wir in unserer Gegenwart entwickelungsfähig sind bis zu einem gewissen Alter, frei ohne unser Zutun, durch unsere

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Natur, durch unsere physischen Kräfte entwickelungsfähig sind. In der ersten Zeit nach der großen atlantischen Katastrophe, haben wir gesagt, war der Mensch viel länger entwickelungsfähig. Er blieb ent­wickelungsfähig bis in die Fünfzigerjahre seines Lebens, so daß er immer wußte: in dieser Zeit, mit dem vorschreitenden Älterwerden ist verbunden auch eine Umwandlung des Seelisch-Geistigen. Wenn wir heute nach unseren Zwanzigerjahren eine Entwickelung des See­lisch-Geistigen haben wollen, dann müssen wir diese Entwickelung durch unsere Willenskraft suchen. Bis in die Zwanzigerjahre hinein werden wir physisch anders; und im Physisch-Anderswerden lebt zu­gleich etwas, das unser geistig-seelisches Weiterschreiten bestimmt. Dann hört das Physische auf, uns abhängig sein zu lassen von sich; dann gibt sozusagen unser Physisches nichts mehr her, und wir müs­sen uns eben durch unsere Willenskraft weiterbringen. So erscheint es zunächst äußerlich angesehen. Wir werden gleich nachher sehen, wie die Sache innerlich liegt.

Das war anders in den ersten 2160 Jahren ungefähr nach der großen atlantischen Katastrophe. Da blieb der Mensch von seinem Physischen zwar abhängig bis in sein hohes Alter hinein, aber er hatte auch die Freude dieser Abhängigkeit. Er hatte die Freude, nicht nur während des Wachsens und im Wachstumzunehmen weiterzuschreiten, sondern er hatte die Freude, auch bei abnehmenden Lebenskräften die Früchte dieser abnehmenden Lebenskräfte im Seelischen als eine Art Aufblühen des Seelischen zu erleben, was man jetzt nicht mehr kann. Ja, es ändern sich eben die äußeren, physisch-kosmischen Bedingungen des menschlichen Daseins in verhältnismäßig gar nicht so langer Zeit.

Dann wiederum kam die Zeit, in der der Mensch nicht mehr in ein so hohes Alter, bis in die Fünfzigerjahre hinauf entwickelungsfähig blieb. In dem zweiten Zeitraume nach der großen atlantischen Kata­strophe, der wiederum ungefähr 2160 Jahre dauerte, den wir den ur­persischen nennen, blieb der Mensch aber immer noch entwickelungs-fähig bis in die Höhe der Vierzigerjahre hinauf. Dann, in dem näch­sten Zeitraume, in dem ägyptisch-chaldäischen, blieb er entwickelungsfähig bis in die Zeit vom 35. bis 42. Jahre. In der griechisch-lateini­schen Zeit blieb der Mensch entwickelungsfähig bis in die Zeit des

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35. Jahres hinein. Jetzt leben wir in der Zeit seit dem 15. Jahrhundert, wo der Mensch seine Entwickelung nur bis in die Zwanzigerjahre hineinträgt.

Das alles ist etwas, wovon uns die äußere Geschichte nichts erzählt und was auch von der äußeren Geschichtswissenschaft nicht geglaubt wird, womit aber unendlich viele Geheimnisse der menschheitlichen Entwickelung zusammenhängen. So daß man sagen kann, die ge­samte Menschheit rückte herein, wurde immer jünger und jünger - wenn wir dieses Verändern in der Entwickelung ein Jüngerwerden nennen. Und wir haben gesehen, welche Folgerung daraus gezogen werden muß. Diese Folgerung war noch nicht so brennend in der griechisch-lateinischen Zeit; da blieb der Mensch bis zu seinem fünf­unddreißigsten Jahre naturgemäß entwickelungsfähig. Diese Folge­rung wird immer brennender und brennender und von unserer Zeit ab ganz besonders bedeutungsvoll. Denn mit Bezug auf die ganze Menschheit leben wir sozusagen jetzt im siebenundzwanzigsten Jahre, gehen in das sechsundzwanzigste, und so weiter; so daß die Menschen darauf angewiesen sind, durch das ganze Leben hindurchzutragen das­jenige, was ihnen in ihrer frühen Jugend durch die naturgemäße Ent­wickelung wird, wenn sie nichts dazutun, aus freiem Willen heraus die Weiterentwickelung von sich selbst in die Hand zu nehmen. Und die Zukunft der Menschheit wird darinnen bestehen, daß sie immer mehr zurückgeht, immer weiter zurückgeht, so daß, wenn nicht ein spiri­tueller Impuls die Menschheit ergreift, Zeiten kommen könnten, in denen nur Jugendansichten herrschen.

In äußeren Symptomen prägt sich ja dieses Jüngerwerden der Menschheit dadurch aus - und derjenige, der mit einigem klügeren Sinnen die geschichtliche Entwickelung betrachtet, kann das auch äußerlich sehen -, es prägt sich dadurch aus, daß, sagen wir, noch in Griechenland man ein bestimmtes Alter haben mußte, wenn man an den öffentlichen Angelegenheiten irgendwie teilnehmen sollte. Heute sehen wir die Forderung gestellt von großen Kreisen der Menschheit, dieses Alter so weit wie möglich hereinzurücken, weil die Menschen denken, daß sie schon alles, was der Mensch erreichen kann, in den Zwanzigerjahren wissen. Und es werden Forderungen kommen, immer

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weiter und weitergehend nach dieser Richtung, wenn nicht die Einsicht diese Forderungen paralysiert: nicht nur etwa den Menschen vom Beginn der Zwanzigerjahre ab so gescheit sein zu lassen, daß er an allem Parlamentarischen, irgendwie gearteten Parlamentarischen der Welt teilnehmen kann, sondern die Neunzehn-, Achtzehnjährigen werden glauben, daß sie alles dasjenige, was der Mensch umfassen kann, eben in sich tragen.

Diese Art des Jüngerwerdens der Menschen ist zugleich eine Anf­forderung an die Menschheit, dasjenige, was die Natur dem Menschen nicht mehr gibt, aus dem Geistigen sich herzuholen. Ich habe Sie das letzte Mal darauf aufmerksam gemacht, welch ungeheurer Einschnitt in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit im 15. Jahrhundert liegt, wiederum etwas, wovon die äußere Geschichte keine Kunde gibt, denn diese äußere Geschichte ist, wie ich schon oft gesagt habe, eine Fable convenue. Kommen muß eine ganz neue Erkenntnis der menschlichen Wesenheit, denn nur, wenn eine ganz neue Erkenntnis der menschlichen Wesenheit kommt, läßt sich der Impuls, den die Menschheit braucht, um das aus freiem Willen in die Hand zu neh­men, was die Natur nicht mehr hergibt, dann wirklich finden. Wir dürfen nicht glauben, daß die Zukunft der Menschheit auskommen werde mit denjenigen Gedanken und Ideen, welche die neuere Zeit gebracht hat, und auf welche diese neuere Zeit so stolz ist. Man kann nicht genug tun, um sich klarzumachen, wie notwendig es ist, neue, neuartige Impulse für die Entwickelung der Menschheit zu suchen. Gewiß ist es eine Trivialität, wie ich oftmals gesagt habe, zu sagen, unsere Zeit sei ein Übergangszeitalter, denn das ist wirklich jede Zeit. Aber etwas anderes ist es, zu wissen, was übergeht in einer bestimm­ten Zeit. Gewiß ist jede Zeit eine Übergangszeit; aber in jeder Zeit sollte man auch sich umsehen nach dem, was im Übergange begriffen ist.

Ich will anknüpfen an eine Tatsache. Ich könnte an hundert andere anknüpfen, aber ich will an eine bestimmte Tatsache anknüpfen, die nur als Beispiel dienen soll für vieles. Wie gesagt, aus allen Orten Europas, in hundertfacher Weise könnte man an ähnliche Dinge an­knüpfen. Es war noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da hielt Friedrich Schlegel, der eine der beiden um die mitteleuropäische

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Kultur so hochverdienten Gebrüder Schlegel, eine Anzahl von Vor­lesungen in Wien, 1828. In dieser Vorlesungen versuchte Friedrich Schlegel von einem hoher geschichtlichen Standpunkte aus den Men­schen zu sagen, welche Bedürfnisse in der Zeitentwickelung liegen, wohin man die Augen richten solle, um das Rechte zu treffen für die Entwickelung des 19. Jahrhunderts und der kommenden Zeit.

Friedrich Schlegel stand dazumal unter zwei hauptsächlichsten ge­schichtlichen Eindrücken. Auf der einen Seite blickte er hin auf das 18. Jahrhundert, wie es sich entwickelt hat allmählich zum Atheismus, zum Materialismus, zur Irreligiosität. Und Friedrich Schlegel - wir wollen keine Kritik üben, sondern nur eine Tatsache vorführen, eine menschliche Anschauung in Betracht ziehen -, Friedrich Schlegel sah, wie dasjenige, was in der Köpfen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts abgespielt hat, dann explodiert ist in der Französischen Revolution. Er sah in dieser Französischen Revolution eine große Einseitigkeit. Gewiß, man kann es heute reaktionär finden, wenn solch ein Mensch wie Friedrich Schlegel in der Französischen Revolution eine große Einseitigkeit sieht, aber solch ein Urteil müßte man doch auch noch unter andern Gesichtspunkten anschauen. Es ist im allgemeinen ziem­lich einfach, sich zu sagen, das und jenes sei für die Menschheit er­rungen worden durch die Französische Revolution. Gewiß ist das recht einfach; aber es fragt sich, ob jeder, der mit Enthusiasmus in dieser Weise von der Französischen Revolution spricht, wirklich in seinem allerinnersten Herzen auch ganz aufrichtig ist. Es gibt, ich möchte sagen, eine Kreuzprobe auf diese Aufrichtigkeit, und diese Kreuzprobe besteht lediglich darinnen, daß man sich überlegen sollte: Wie würde man solch eine Bewegung, wenn sie um einen herum ausbräche in der Gegenwart, selber ansehen? Was würde man dann dazu sagen? Diese Frage sollte man sich eigentlich immer vorlegen, wenn man sich diese Sachen ansieht. Dann erst bekommt man eine Art von Kreuzprobe für seine eigene Aufrichtigkeit. Denn es ist im all­gemeinen nicht gerade schwierig, begeistert zu sein über dasjenige, was vor so und so viel Jahrzehnten sich zugetragen hat. Es fragt sich, ob man auch begeistert sein könnte, wenn man unmittelbar in der Gegenwart daran beteiligt wäre.

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Friedrich Schlegel, wie gesagt, betrachtete die Revolution als eine Explosion der sogenannten Aufklärung, der atheistischen Auf­klärung des 18. Jahrhunderts. Und neben dieses Ereignis, auf das er seine Blicke richtet, stellte er hin ein anderes: das Auftreten desjenigen Menschen, der die Revolution abgelöst hat, der so ungeheuer viel beigetragen hat zu der späteren Gestaltung von Europa: Napoleon. Und Friedrich Schlegel - wie gesagt, er betrachtete die Weltgeschichte von einem hohen Gesichtspunkte aus -, Friedrich Schlegel macht auf­merksam bei dieser Gelegenheit, daß eine solche Persönlichkeit, wenn sie eintritt mit einer solchen Kraft in die Weltentwickelung, wirklich auch von einem andern Gesichtspunkte aus noch betrachtet werden muß als von dem, den man gewöhnlich anlegt. Friedrich Schlegel macht eine sehr schöne Bemerkung da, wo er über Napoleon spricht. Er sagt, man solle nicht vergessen: Sieben Jahre habe Napoleon Zeit gehabt, sich hineinzuleben in dasjenige, was er dann später als seine Aufgabe betrachtete; zweimal sieben Jahre dauerte der Tumult, den er durch Europa trug, und einmal sieben Jahre dauerte dann noch die Lebenszeit, die ihm nach seinem Sturze gegönnt war. Viermal sieben Jahre ist die Laufbahn dieses Menschen. Darauf macht Friedrich Schlegel in sehr schöner Weise aufmerksam.

Ich habe Sie bei den verschiedensten Gelegenheiten darauf hin­gewiesen, welche Rolle solche innere Gesetzmäßigkeit bei Menschen spielt, die wirklich repräsentativ sind in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit. Ich habe Sie darauf hingewiesen, wie merkwürdig es ist, daß Raffael immer nach einer bestimmten Anzahl von Jahren eine bedeutende malerische Leistung macht; ich habe Sie darauf hin­gewiesen, wie bei Goethe in siebenjährigen Perioden immer ein Aufflackern der Dichterkraft stattfindet, während in der Zwischenzeit, zwischen den siebenjährigen Terminen, ein Abflauen stattfindet. Und so könnte man viele, viele Beispiele anführen für diese Dinge. Fried­rich Schlegel betrachtete Napoleon auch nicht gerade als einen Segensimpuls für die europäische Menschheit.

Nun macht Friedrich Schlegel in diesen Vorträgen darauf aufmerk­sam, worinnen nach seiner Ansicht das Heil Europas bestehen müsse, nachdem die Verwirrung durch die Revolution, die Verwirrung durch

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das napoleonische Zeitalter gekommen ist. Und Friedrich Schlegel findet, daß der tiefere Grund zu der Verwirrung darinnen besteht, daß die Menschen nicht in der Lage sind, sich zu erheben mit ihrer Welt­anschauung zu einem umfassenderen Standpunkte, der ja nur aus einem Einleben in die geistige Welt kommen kann. Dadurch, meint Friedrich Schlegel, ist das gekommen, was an die Stelle einer all­gemein menschlichen Weltanschauung überall Parteigesichtspunkte stellt, Parteigesichtspunkte, die darinnen bestehen, daß jemand das­jenige, was sich ihm auf seinem Standpunkte des Lebens ergibt, als etwas Absolutes betrachtet, als dasjenige, was allen Heil bringen muß; während nach Anschauung Friedrich Schlegels das einzige Heil der Menschheit darinnen besteht, daß man sich dessen bewußt ist: man steht auf einem gewissen Standpunkt, und andere stehen auf einem andern Standpunkte, und es muß sich ein Ausgleich der Standpunkte durch das Leben finden. Nicht die Verabsolutierung eines Stand­punktes darf Platz greifen.

Nun findet Friedrich Schlegel, daß das einzige, welches den Men­schen anweisen kann, wirklich diese nicht zum Indifferentismus hinneigende, sondern zum kraftvollen Lebenswirken hinneigende Tole­ranz, die er meint, zu verwirklichen, einzig und allein das wahre Christentum ist. Deshalb zieht Friedrich Schlegel - 1828, ich muß das immer betonen - aus den Betrachtungen, die er vor seine Zuhörer hingestellt hat, den Schluß, daß alles Leben Europas, vor allem aber das Leben der Wissenschaft und das Leben der Staaten, durchchristet werden müsse. Und darinnen sieht er das große Unheil, daß die Wissenschaft unchristlich geworden ist, daß die Staaten unchristlich geworden sind, daß nirgends dasjenige, was den eigentlichen Christus-Impuls bedeutet, eingedrungen ist in der neueren Zeit in die wissen­schaftlichen Betrachtungen und eingedrungen ist in das Leben der Staaten. Nun fordert er, daß wiederum der christliche Impuls in das Wissenschafts- und in das Staatsleben eindringe.

Friedrich Schlegel sprach natürlich über die Wissenschaftlichkeit und über das Staatsleben seiner Zeit, also des Jahres 1828. Aber man kann schon aus gewissen Gründen, die uns gleich nachher besser ein­leuchten werden als eben jetzt, auch die heutige Wissenschaft und das

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heutige Staatsleben so betrachten, wie Friedrich Schlegel sie 1828 betrachtet hat. Versuchen Sie heute einmal Anfragen zu stellen bei den Wissenschaften, die ja vorzugsweise heute im öffentlichen Leben Geltung haben, bei der Physik, der Chemie, der Biologie, der Na­tionalökonomie, auch bei der Staatswissenschaft, versuchen Sie bei ihnen anzufragen, ob irgendwo im Ernste der christliche Impuls drinnen ist. Man gesteht es nicht, aber in Wahrheit sind die Wissenschaften alle atheistisch; und die verschiedenen Kirchen versuchen, mit diesen atheistischen Wissenschaften ein gutes Auskommen zu haben, weil sie ja doch sich nicht stark genug fühlen, die Wissenschaft wirklich mit dem Prinzip des Christentums zu durchdringen. Daher die bequeme, billige Theorie, daß das religiöse Leben eben anderes erfordere als die äußere Wissenschaft, daß die äußere Wissenschaft sich halten müsse an das, was man beobachten kann, das religiöse Leben an das Gefühl. Beide sollen hübsch getrennt sein; die eine Richtung soll nicht in die andere hineinsprechen. Auf diese Weise kann man ja miteinander leben, das kann man schon, aber man führt solche Zustände herbei, wie es die gegenwärtigen sind.

Nun war, was Friedrich Schlegel dazumal vorgebracht hat, von tiefer, innerer Wärme durchdrungen, durchdrungen wirklich von dem großen Persönlichkeitsimpuls bei ihm, seiner Zeit zu dienen, auf­zufordern, die Religion nicht bloß zu einer Sonntagsschule zu machen, sondern sie hineinzutragen in alles Leben, vor allem in das Wissen­schafts- und in das Staatsleben. Und man kann sehen aus der Art und Weise, wie Friedrich Schlegel dazumal in Wien gesprochen hat, daß er Hoffnung hatte, große Hoffnung hatte darauf, daß aus dem Wirr­warr, den die Revolution und Napoleon angerichtet haben, ein Europa hervorgehen werde, welches durchchristet sein werde in seinem Wissenschafts- und in seinem Staatsleben. Die letzte von diesen Vorlesungen handelt insbesondere von dem herrschenden Zeitgeiste und von der allgemeinen Wiederherstellung. Als Motto setzte Friedrich Schlegel über diese Vorlesung, die wirklich getragen ist von großem Geiste, die Bibelworte: «Ich komme bald und mache alles neu», und er setzte dieses Motto darüber aus dem Grunde, weil er glaubte, es liege wirklich in den Menschen des 19. Jahrhunderts, es liege in den

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Menschen, die er dazumal als die jungen Menschen ansprechen konnte, die Kraft, zu empfangen dasjenige, was alles neu machen kann.

Wer diese Vorträge Friedrich Schlegels durchliest, der verläßt das Lesen mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite sagt man sich:

Von welch hohen Gesichtspunkten, von welch lichtvollen An­schauungen aus haben einmal Menschen über Wissenschaftlichkeit und Staatsleben gesprochen! Wie hätte man wünschen müssen, daß solche Worte gezündet hätten in zahlreichen Seelen. Und hätten sie gezündet, was wäre aus Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts ge­worden. - Ich sage, mit gemischten Gefühlen verläßt man das Lesen. Denn erstens: Es ist ja nicht so geworden, es ist zu jenen katastropha­len Ereignissen gekommen, die jetzt in so furchtbarer Weise vor uns stehen, und es ist diesen katastrophalen Ereignissen vorangegangen jene Vorbereitung, in der man genau hat sehen können, daß diese katastrophalen Ereignisse kommen müssen; es ist ihnen voran­gegangen das Zeitalter der materialistischen Wissenschaftlichkeit - die noch stärker wurde, als sie zu Friedrich Schlegels Zeiten war -, vorangegangen das Zeitalter der materialistischen Staatskunst über ganz Europa. Und nur mit wehmütigen Gefühlen kann man auf ein solches Motto jetzt sehen: «Denn siehe, ich komme bald und mache alles neu.»

Es muß irgendwo ein Irrtum vorliegen. Friedrich Schlegel hat ganz gewiß aus ehrlichster Überzeugung heraus gesprochen, und er war in gar nicht geringem Maße ein scharfer Beobachter seiner Zeit. Er konnte schon die Verhältnisse beurteilen, aber etwas mußte doch nicht ganz stimmen. Ja, was versteht denn Friedrich Schlegel unter der Verchristung von Europa? Man kann sagen, ein Gefühl ist in ihm für die Größe, für die Bedeutung des Christus-Impulses. Und auch dafür ist ein Gefühl in ihm, daß der Christus-Impuls in einer neuen Zeit in einer neuen Weise ergriffen werden muß, daß man nicht stehenbleiben kann bei der Art und Weise, wie frühere Jahrhunderte den Christus-Impuls ergriffen haben. Das weiß er, davon ist ein Ge­fühl in ihm vorhanden. Aber er lehnt sich mit diesem Gefühl doch wieder an das schon bestehende Christentum an, das Christentum, wie es sich geschichtlich bis zu seiner Zeit entwickelt hat. Er glaubte,

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daß von Rom ausgehen kann eine Bewegung, von der man sagen kann: «Ich komme bald und mache alles neu.» Er ist ja auch unter den­jenigen Menschen des 19. Jahrhunderts gewesen, die sich vom Pro­testantismus zum Katholizismus gewendet haben, weil sie glaubten, in dem katholischen Leben mehr Kraft zu verspüren als in dem pro­testantischen Leben. Aber er war freier Geist genug, um nicht katho­lischer Zelote zu werden.

Aber etwas hat sich Friedrich Schlegel nicht gesagt. Was er sich nicht gesagt hat, das ist dies, daß eine der tiefsten und bedeutungsvoll­sten Wahrheiten des Christentums jene ist, die in den Worten liegt: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeit.» Die Offen­barung hat nicht aufgehört, sondern sie kommt periodenweise wieder. Und während Friedrich Schlegel auf dasjenige baute, was schon da war, hätte er sehen müssen, fühlen müssen, daß eine wirkliche Durch­christung von Wissenschaft und Staatsieben nur eintreten kann dann, wenn neuerdings aus der geistigen Welt Erkenntnisse herausgeholt werden. Das hat er nicht gesehen; davon weiß er nichts. Und das zeigt uns an einem der bedeutsamsten Beispiele des 19. Jahrhunderts, daß immer wieder und wiederum selbst bei erleuchtetsten Geistern die Illusion auftaucht, man könne an etwas Bestehendes jetzt noch anknüpfen, man brauche nicht aus dem Jungbrunnen eines Neuen heraus zu schöpfen, und daß sie unter diesen Illusionen zwar Großes, Genia­les sprechen und leisten können, daß aber doch dieses Geniale zu nichts führt. Denn Friedrich Schlegels Hoffnung war ein nach Wissen­schaft und Staatsleben durchchristetes Europa im 19. Jahrhundert. Bald müsse es kommen, meinte er, eine allgemeine Erneuerung der Welt, eine allgemeine Wiederherstellung des Christus-Impulses. Und was kam? Eine materialistische Richtung in der Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegen welche dasjenige, was Friedrich Schlegel 1828 erlebt hatte, wahrhaftig an Materialismus ein Kinderspiel war. Und eine Vermaterialisierung des Staatslebens - man muß nur die Geschichte kennen, die wirkliche Geschichte, nicht jene Fable convenue, welche in den Schulen und Universitäten gelehrt wird -, eine Vermaterialisierung des Staatslebens, von der ebenfalls Friedrich Schlegel 1828 um sich herum noch nichts sehen konnte. Er

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hat also vorausgesagt eine Durchchristung Europas und war ein so schlechter Prophet, da eine Vermaterialisierung Europas gekom­men ist.

Die Menschen leben eben gern in Illusionen. Und das hängt zu­sammen mit dem großen Problem, das uns jetzt beschäftigt, und das ich schon wiederholt genannt habe, das uns in diesen Tagen ganz klar werden wird, es hängt zusammen mit dem großen Problem: die Men­schen haben verlernt, wirklich alt zu werden, und lernen müssen wir wiederum, alt zu werden. In einer neuen Weise müssen wir lernen, alt zu werden, und das können wir nur durch spirituelle Vertiefung. Aber wie gesagt, das kann uns nur im Laufe der Betrachtung ganz klar werden. Die Zeit ist im allgemeinen dem abgeneigt, noch abgeneigt, und sie muß zugeneigt werden, sie muß aus der Abneigung heraus­kommen.

Allerdings sind die Denk- und Empfindungsgewohnheiten der Zeit nicht darauf aus, sich mit einer gewissen Leichtigkeit, mit einer ge­wissen Fazilität in dasjenige hineinzuleben, was zum Beispiel die spiri­tuelle Forderung der anthroposophisch orientierten Geisteswissen­schaft ist. Man kann das an Beispielen sehr gut sehen. Ein nahe­liegendes Beispiel will ich anführen.

Vorgestern erst bekam ich einen Brief eines Mannes, der der Ge­lehrsamkeit angehört. Er schreibt mir, er habe jetzt einen Vortrag über die Aufgabe der Geisteswissenschaft gelesen, den ich vor zwei Jahren gehalten habe, und habe gesehen, nachdem er diesen Vortrag gelesen habe, daß diese Geisteswissenschaft doch etwas für ihn sehr Fruchtbares enthalte. Es ist ein recht warmer Ton in diesem Brief, ein recht liebenswürdiger, netter, lieber Ton. Man sieht, der Mann ist er­griffen von dem, was er in diesem Vortrage über die Aufgabe der Geisteswissenschaft gelesen hat. Er ist ein naturwissenschaftlich durchgebildeter Mensch, der im Leben, auch im schweren Leben der Gegenwart steht, der also einmal gesehen hat an diesem Vortrage, daß Geisteswissenschaft nichts Dummes und nichts Unpraktisches ist, sondern Impulse für die Zeit geben kann. Aber nun betrachten wir die Kehrseite der Sache: Derselbe Mann hat vor fünf Jahren den An­schluß gesucht an diese Geisteswissenschaft, suchte den Anschluß an

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einen Zweig, worin diese Geisteswissenschaft getrieben wurde, hatte dazumal auch gebeten, verschiedene Unterredungen mit mir zu haben, hatte sie auch, hatte teilgenommen an Zweigversammlungen vor fünf Jahren, und hat vor fünf Jahren so reagiert auf die Sache, daß sie ihm widerlich war, daß er sie abgelehnt hat, so stark abgelehnt, daß er in der Zwischenzeit ein enthusiastischer Lobredner des Herrn Freimark geworden ist, den Sie ja kennen aus seinen verschiedenen Schriften. Jetzt entschuldigt sich derselbe Mann damit, daß er sagt, es wäre vielleicht besser gewesen, statt dem, was er getan hat, dazumal schon etwas von mir zu lesen, irgendwelche Bücher zu lesen und sich mit der Sache bekanntzumachen; aber er habe das nicht getan, sondern er habe geurteilt nach dem, was ihm andere mitgeteilt haben, und da habe er ein so abschreckendes Bild bekommen von der Geisteswissenschaft, daß er sie recht wenig geeignet für seinen eige­nen Entwickelungsweg gefunden hat. Jetzt, nach fünf Jahren, hat er einen Vortrag gelesen und hat gefunden, daß die Sache nicht so ist.

Ich führe dieses Beispiel nur an, man könnte wiederum dieses Bei­spiel vermannigfachen, für die Art und Weise, wie man sich zu der Sache stellt, die da will - nun nicht in der Friedrich Schlegeischen Weise, sondern in der einzig möglichen Weise - eine Durchchristung aller Wissenschaftlichkeit, eine Durchchristung alles öffentlichen Lebens. Ich führe das als ein Beispiel an für die Denkgewohnheiten der heutigen Zeit, insbesondere der Wissenschaften in unserer Zeit. Es ist also gar kein Beweis dafür, daß jemand - wenn er herankommt an die anthroposophische Bewegung, mehrere Unterredungen hat, an Zweigversammiungen teilnimmt, über die Mitglieder dieser Versamm­lungen und das, was sie ihm sagen, weidlich schimpft, daraus seine Schlüsse zieht, nun auch über die ganze Anthroposophie schimpfen zu müssen, nachher ein begeisterter Lobredner des Freimark wird, der die schmutzigsten Schriften geschrieben hat über die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft -, daß dieser etwas ihm Anti­pathisches darin gefunden habe. Nach fünf Jahren entschließt sich nun dieselbe Persönlichkeit noch, einmal wirklich etwas zu lesen.

Es ist also gar kein Beweis, wenn so und so viele Leute heute das

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Schmählichste sagen oder dem Schmählichsten zustimmen, daß sie nicht die allertiefsten Anlagen haben könnten, der anthroposophi­schen Geisteswissenschaft sich anzuschließen. Sie brauchen, wenn sie so gutwillig sind wie der Betreffende, fünf Jahre; mancher braucht zehn, mancher fünfzehn, mancher fünfzig Jahre, mancher so lange, daß er es in dieser Inkarnation gar nicht mehr erleben kann. Sie sehen, wie wenig das Verhalten der Menschen irgendein Beweis dafür ist, daß die Menschen nicht suchen dasjenige, was in der anthroposo­phisch orientierten Geisteswissenschaft zu finden ist.

Ich führe dieses Beispiel an aus dem Grunde, weil es gerade auf das Wesentliche und Wichtige hinweist, das ich öfter erwähnt habe: auf den Mangel an Stabilität im Eingehen auf die Sache, in dem Stecken in althergebrachten Vorurteilen, deren man nicht sich entschlagen will. Und das wiederum hängt mit andern Dingen zusammen. Man braucht nur sich gefühlsmäßig in jene alten Zeiten zurückzuversetzen, von denen ich Ihnen früher und heute gesprochen habe. Denken Sie sich einen jungen Menschen nach der atlantischen Katastrophe in seinem sozialen Zusammenhange drinnen. Er war, sagen wir, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt, er sah neben sich Vierzig-, Fünfzigjährige, Sechzigjährige. Er sagte sich: Welches Glück, einmal auch so alt sein zu können, denn es lebt sich einem so und so viel zu! - Es war eine ganz selbstverständliche, ungeheure Verehrung für das Altgewordene, ein Hinaufschauen zu dem Altgewordenen, verbunden mit dem Be­wußtsein, daß das Altgewordene über das Leben etwas anderes zu sagen hat als das Jungdachsige. Das bloß theoretisch zu wissen, das macht es nicht aus, sondern das in seinem ganzen Gefühl zu haben und unter diesem Eindrucke heranzuwachsen, das macht es aus. Unendliches macht es aus, heranzuwachsen nicht nur so, daß man sich zurückerinnert an seine Jugend und sich sagt: Ach, wie schön war es, als ich Kind war! - Gewiß, diese Schönheit des Lebens wird niemals irgendeine geistige Betrachtung dem Menschen nehmen. Aber es ist eine einseitige Betrachtung, die ergänzt wurde in alten Zeiten durch die andere: Wie herrlich ist es, alt zu werden! - Denn man wächst hinein in demselben Maße, in dem man körperlich schwächer wird, in seelische Stärke; man wächst mit der Weisheit der Welt zusammen.

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Das war eine Formel, die der Mensch durch seine Erziehung einmal aufgenommen hat.

Nun betrachten wir zu diesem hinzu eine andere Wahrheit, die ich zwar im Laufe dieser Wochen nicht ausgesprochen habe, aber die ich im Laufe der Jahre da und dort auch schon unseren Freunden wieder­holt mitgeteilt habe: Wir werden älter, aber nur unser physischer Leib wird älter. Denn vom geistigen Gesichtspunkte aus ist es nicht wahr, daß wir älter werden. Es ist eine Maja, es ist eine äußere Täuschung. Es ist zwar eine Wirklichkeit in bezug auf das physische Leben, aber es ist nicht wahr in bezug auf den ganzen Lebenszusammenhang des Menschen. Man hat freilich erst ein Recht zu sagen: Es ist nicht wahr -, wenn man weiß: Dieser Mensch, der da in der physischen Welt zwischen Geburt und Tod lebt, der ist noch etwas ganz anderes als sein physischer Leib; der besteht aus den höheren Gliedern; zunächst aus dem, was wir den Ätherleib oder Bildekräfteleib genannt haben, und dann dem astralischen Leib, dem Ich, wenn wir nur diese vier Teile bezeichnen.

Aber schon, wenn wir stehenbleiben beim Ätherleib, beim unsicht­baren, übersinnlichen Ätherleib oder Bildekräfteleib, sehen wir: wir tragen ihn in uns zwischen Geburt und Tod gerade so, wie wir unsern physischen Leib aus Fleisch und Blut und Knochen an uns tragen; so tragen wir diesen Bildekräfteleib, diesen Ätherleib in uns, aber es ist ein Unterschied zwischen beiden. Der physische Leib wird immer älter. Der ätherische oder Bildekräfteleib, der ist alt, wenn wir geboren werden, er ist nämlich, wenn wir seiner wahren Natur nach­forschen, da alt und er wird immer jünger und jünger. So daß wir sagen können, das erste Geistige in uns wird - im Gegensatze zu dem Physisch-Leiblichen, das schwach und unkräftig wird - immer kräfti­ger, immer jünger. Und wahr, wörtlich wahr ist es: Wenn wir anfangen, Runzeln im Gesicht zu kriegen, dann blüht unser Ätherleib auf und wird pausbackig.

Ja, aber dem widerspricht ja - könnte der materialistisch denkende Mensch sagen -, dem widerspricht es ganz und gar, daß man das nicht spürt! - In alten Zeiten wurde es gespürt. Die neueren Zeiten nur sind so, daß der Mensch die Sache nicht berücksichtigt, ihr keinen

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Wert beilegt. In alten Zeiten brachte es die Natur selber mit sich, in neueren Zeiten ist es fast eine Ausnahme. Aber solche Ausnahmen gibt es ja auch. Ich weiß, daß ich einmal ein ähnliches Thema mit Eduard von Hartmann, dem Philosophen des «Unbewußten», Ende der achtziger Jahre besprochen habe. Wir kamen auf zwei Menschen, die beide Professoren an der Berliner Universität waren, zu sprechen. Der eine war der damals zweiundsiebzig Jahre alte Zeiler, ein Schwabe, der eben um seine Pensionierung nachgesucht hatte, und der also meinte: Ich bin so alt geworden, daß ich nicht mehr meine Vorlesungen halten kann -, der alt und gebrechlich war mit seinen zweiundsiebzig Jahren. Und der andere war Michelet; der war dreiund­neunzig Jahre alt. Und Michelet, der war eben bei Eduard von Hart­mann gewesen und sagte: Ja, ich verstehe den Zeller nicht! Wie ich so alt war wie der Zeller, da war ich überhaupt ein junger Dachs, und jetzt, jetzt fühle ich mich erst so recht befähigt, den Leuten was zu sagen. Ich, ich werde noch jahrelang, viele Jahre noch vortragen! -Aber der Michelet hatte etwas von dem, was man nennen kann: ein Jung-kräftig-Gewordenes. Es ist ja selbstverständlich keine innere Notwendigkeit gewesen, daß er just so alt geworden ist; es hätte ihn ja ein Ziegelstein erschlagen können mit fünfzig Jahren oder noch früher, nicht wahr; von solchen Dingen rede ich nicht. Aber nachdem er so alt geworden ist, war er eben seiner Seele nach nicht alt geworden, sondern gerade jung geworden. Doch dieser Michelet war seinem ganzen Wesen nach eben gar kein Materialist. Auch die Hegelianer sind ja vielfach Materialisten geworden, wenn sie es auch nicht zu­geben wollen, aber Michelet war, wenn er auch in schweren Sätzen sprach, vom Geiste innerlich ergriffen. Allerdings, so vom Geiste innerlich ergriffen werden können nur wenige. Aber das ist es ja gerade, was gesucht wird durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft: etwas zu geben, was allen Menschen etwas sein kann, so wahr wie Religion allen Menschen etwas sein muß, was zu allen Menschen sprechen kann. Das hängt aber zusammen mit unserem ganzen Erziehungswesen.

Unser ganzes Erziehungswesen ist aufgebaut - in viel tieferen Zusammenhängen muß man das sehen, als das irgendwie sonst angedeutet

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wird - auf ganz materialistischen Impulsen. Man rechnet nur mit dem physischen Leib des Menschen, niemals mit seinem Jüngerwerden. Mit dem Jüngerwerden beim Älterwerden rechnet man nicht. Es ist nicht auf den ersten Blick hin immer gleich durch­schaubar, aber es ist doch so, daß alles das, was im Laufe der Zeit zum Gegenstand der Erziehungswissenschaft, zum Gegenstand des Unter­richts geworden ist, etwas ist, was eigentlich den Menschen, wenn er nicht just Professor wird oder ein wissenschaftlicher Schriftsteller, nur packen kann in seiner Jugend. Man macht nicht sehr oft die Er­fahrung, daß jemand den Stoff, den man heute aufnimmt während seiner Schulzeit, in derselben Weise im späteren Alter, wenn er es nicht mehr nötig hat, noch aufnehmen möchte. Ich habe Mediziner kennengelernt, die Koryphäen in ihrem Fache waren, die also so ihre Studienzeit und ihre übrige Jugendzeit zugebracht hatten, daß sie Koryphäen haben werden können. Aber daß sie fortsetzten dieselbe Art und Weise des Sich-Aneignens des Wissensstoffes in späteren Jahren, davon war gar keine Rede. Einen ganz berühmten Mann - ich will seinen Namen gar nicht aussprechen, so berühmt war er - kannte ich, der also einen ersten Namen hat in der medizinischen Wissenschaft. Die spätere Auflage seiner Bücher hat er von seinem Assistenten besorgen lassen, weil er selber mit der Wissenschaft nicht mehr mitging; das paßte nicht mehr für sein späteres Alter.

Das hängt aber damit zusammen: Wir bilden allmählich immer mehr und mehr ein Bewußtsein aus, daß dasjenige, was man lehrmäßig aufnehmen kann, eigentlich nur für die Jugendjahre etwas taugt, worüber man später hinaus ist. Und das ist es auch. Man kann sich ja später noch zwingen, zu manchem zurückzukehren, aber man muß sich dann schon zwingen; naturgemäß ist es gewöhnlich nicht. Und dennoch, ohne daß der Mensch immer Neues aufnimmt - und zwar nicht so aufnimmt, daß man sich herbeiläßt, aufzunehmen etwa durch den Konzertsaal, oder durch das Theater, oder, mit Respekt zu vermelden, durch die Zeitung oder sonstiges von der Art -, altert er in seiner Seele. Man muß aufnehmen in anderer Weise, so aufnehmen, daß man wirklich in der Seele das Gefühl hat: man erfährt Neues, man wandelt sich um, man verhält sich zu dem, was man aufnimmt,

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im Grunde genommen, wie sich das Kind verhalten hat. Das kann man nicht auf künstliche Weise, sondern das kann nur ge­schehen, wenn etwas da ist, zu dem man hinkommen kann in späterem Alter gerade so, wie man als Kind zu der gebräuchlichen Unterrichtswissenschaft kommt.

Aber nun nehmen Sie unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Wie es in späteren Jahrhunderten mit ihr sein wird, darüber brauchen wir uns ja jetzt nicht die Köpfe zu zerbrechen. Sie wird schon für diese späteren Jahrhunderte auch die entsprechenden Formen finden, aber jetzt ist sie doch jedenfalls - allerdings noch zur Antipathie von manchem - so, daß man vorerst nicht aufzuhören braucht, sie aufzunehmen, wenn man noch so uralt geworden ist in der Gegenwart. Man kann immer in ihr Neues erfahren, das die Seele ergreift, das die Seele wieder jung macht. Und mancherlei Neues könnte schon auf geisteswissenschaftlichem Boden gefunden werden, auch solches Neue, welches Blicke hineintun ließe in wichtigste Pro­bleme der Gegenwart. Vor allen Dingen aber braucht die Gegenwart einen Impuls, der den Menschen als solchen unmittelbar ergreift. Nur dadurch kann diese Gegenwart herauskommen aus den Kalami­täten, in die sie hineingekommen ist und die so katastrophal wirken.

Die Impulse, um die es sich handelt, müssen unmittelbar an den Menschen herankommen. Und wenn man nun nicht Friedrich Schlegel ist, sondern ein Einsichtiger ist in das, was wirklich der Menschheit not tut, dann kann man sich trotzdem an einzelne schöne Gedanken, die Friedrich Schlegel gehabt hat, halten und sich wenigstens an ihnen freuen. Er hat davon gesprochen, daß nicht von einem gewissen Standpunkte aus die Dinge verabsolutiert werden dürfen. Er hat zu­nächst nur die Parteien gesehen, die immer ihr eigenes Prinzip als das Alleinseligmachende für alle Menschen betrachten. Aber noch viel mehr wird in unserer Zeit verabsolutiert. Es wird vor allen Dingen nicht berücksichtigt, daß im Leben ein Impuls unheilvoll für sich sein kann, im Zusammenwirken aber mit andern Impulsen heilsam sein kann, weil er dann etwas anderes wird. Denken Sie sich einmal, wenn ich schematisch das aufzeichnen soll, drei Richtungen, die zusammen­laufen.

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# Bild s. 226

Die eine Richtung soll uns symbolisieren nicht gerade den landläufigen trivialen oder Leninschen, sondern den Sozialismus, welchem die moderne Menschheit zusteuert. Die zweite Linie soll uns symbo­lisieren dasjenige, was ich Ihnen oftmals charakterisiert habe als Gedankenfreiheit, und die dritte Richtung Geisteswissenschaft. Diese drei Dinge gehören zusammen. Im Leben müssen sie zusammen­wirken.

Versuchte der Sozialismus, so wie er als grober materialistischer Sozialismus heute auftritt, in die Menschheit einzudringen, so würde er das größte Unglück über die Menschheit bringen. Er wird bei uns symbolisiert durch den Ahriman unten in unserer Gruppe, in allen seinen Formen. Versucht die falsche Gedankenfreiheit, die bei jedem Gedanken stehenbleiben will und ihn geltend machen will, einzudringen, wird wiederum Unheil über die Menschheit gebracht. Dieses wird symbolisiert durch Luzifer in unserer Gruppe. Aber ausschließen

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können Sie weder Ahriman noch Luzifer aus der Gegen­wart; nur müssen sie ausgeglichen werden durch Pneumatologie, durch Geisteswissenschaft, die durch den Menschheitsrepräsentanten, der in der Mitte unserer Gruppe steht, repräsentiert wird.

Immer wieder und wiederum muß man darauf hinweisen, daß Geisteswissenschaft nicht bloß etwas sein soll für Menschen, die sich aus dem Lebenszusammenhange herausgerissen haben durch den einen oder den andern Umstand, und die sich ein bißchen anregen lassen wollen durch allerlei Dinge, die zusammenhängen mit höheren Angelegenheiten, sondern daß Geisteswissenschaft, anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft etwas sein soll, was mit den tiefsten Bedürfnissen unseres Zeitalters zusammenhängt. Denn dieses unser Zeitalter ist so, daß seine Kräfte nur überschaut werden können, wenn man ins Geistige hineinsieht. Das ist ja etwas, was mit den schlimmsten Übeln in unserer Zeit zusammenhängt, daß zahllose Menschen heute keine Ahnung davon haben, daß im sozialen, im sittlichen, im geschichtlichen Leben übersinnliche Kräfte walten, daß allerdings, ebenso wie die Luft, so übersinnliche Kräfte um uns herum walten. Die Kräfte sind da und sie fordern, daß wir sie wissend aufnehmen, um sie wissend zu dirigieren; sonst können sie von Un­wissenden oder Unverständigen in falsche Bahnen gelenkt werden. Es darf allerdings die Sache nicht trivialisiert werden. Es darf nicht geglaubt werden, daß man auf diese Kräfte so hinweisen kann, wie man oftmals aus dem Kaffeesatz oder aus anderem die Zukunft vor­hersagt. Aber mit der Zukunft, mit der Gestaltung der Zukunft hängt doch dasjenige zusammen in einer gewissen Weise, und manchmal in einer recht naheliegenden Weise, was nur dann erkannt werden kann, wenn man von geisteswissenschaftllchen Prinzipien ausgeht.

Um das einzusehen, werden vielleicht manche Leute noch länger als fünf Jahre gebrauchen. Aber es ist doch schon so - Sie wissen, solche Dinge sage ich nicht aus einer gewissen Albernheit heraus -, aber man wird einstmals den Beweis liefern können, daß in einer ge­wissen Weise in diesem Frühling von mir klar vorausbestimmt worden ist zu einem gewissen Ziele, zu einem gewissen Zweck dasjenige, was jetzt als eine neue Kriegsfanfare von Wilsonscher Seite aus in die

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Welt geht. Und auch hier in diesem Saale sitzen einige Menschen, welche ganz genau wissen, daß der Inhalt dieser neuen Kriegsfanfare vorausgewußt worden ist und daß in einer richtigen Weise über den Inhalt dieser Kriegsfanfare gedacht worden ist. Es ist im allgemeinen schwierig, über diese Dinge so ganz unbefangen zu sprechen. Aber gerade diesen aktuellen Ereignissen gegenüber - die Zeichen der Zeit fordern es heute -, muß immer wieder und wiederum betont werden, wie es die große Forderung unserer Zeit ist, daß die Menschen auf­merksam darauf werden, daß eben gewisse Dinge, die heute ge­schehen, nur durchschaut werden können und vor allen Dingen richtig beurteilt werden können, wenn man von jenen Gesichtspunkten ausgeht, die doch nur durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gewonnen werden können.

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DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 12.Januar 1918

Die Dinge, die wir jetzt besprechen, hängen zusammen mit einer Tat­sache, die paradox klingt, wenn man sie so einfach hinspricht, die aber doch einer bedeutsamen, tiefen Wahrheit entspricht: Der Mensch wandelt auf der Erde herum, aber der Mensch versteht sich selbst eigentlich sehr schlecht. Nun gilt dieser Ausspruch, man könnte sagen, in unmittelbarer Anwendung am meisten gerade für unser Zeitalter. Wir wissen ja, daß die große, bedeutsame Aufschrift des Apollotempeis, «Erkenne dich selbst», wie eine Aufforderung an die geistige Zusammenhänge suchenden Menschen einstmals im alten Griechenlande war. Und diese Aufschrift auf dem delphischen Tem­pel, «Erkenne dich selbst», ist ja - das geht aus unseren verschieden­sten Betrachtungen hervor - nicht etwa nur in jener Zeit eine Phrase gewesen, sondern es war schon möglich auch noch in dieser Griechenzeit, eine tiefere Erkenntnis des Menschen herbeizuführen, als das in der Gegenwart der Fall ist. Aber diese Gegenwart ist auch eine Auf­forderung an uns, nach wirklicher Menschenerkenntnis wieder zu streben, nach der Erkenntnis dessen, was der Mensch eigentlich auf der Erde ist.

Nun scheint es, als ob die Dinge, die man im Zusammenhange mit dieser Frage sagen muß, schwer verständlich wären. Sie sind es in Wirklichkeit nicht, trotzdem sie sich so anhören, wie wenn sie schwer verständlich wären. Sie sind es nur deshalb für die Gegenwart, weil man nicht gewöhnt ist, sein Denken, sein Empfinden in solche Strömungen zu leiten, wie sie notwendig sind, damit man so etwas richtig versteht. Es handelt sich darum, daß alles dasjenige, was wir in der Gegenwart Verstehen nennen, eigentlich darauf hinauskommt, daß wir immer durch abstrakte Begriffe zu verstehen suchen. Man kann aber nicht alles durch abstrakte Begriffe verstehen. Vor allen Dingen kann man nicht den Menschen durch abstrakte Begriffe ver­stehen. Man braucht etwas anderes zum Verständnisse des Menschen als abstrakte Begriffe. Man muß sich in die Lage versetzen, den Menschen

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so, wie er auf der Erde herumwandelt, gewissermaßen als ein Bild zu nehmen, als ein Bild, welches etwas ausspricht, welches etwas verrät, welches uns etwas offenbaren will. Man muß wieder auffrischen das Bewußtsein, daß der Mensch ein Rätsel ist, das gelöst werden will. Man wird aber das Menschenrätsel nicht lösen, wenn man wird fortfahren wollen, so bequem zu sein im Denken, so theo­retisch zu sein im Denken, wie man es jetzt liebt. Denn der Mensch ist, das haben wir ja immer wieder und wiederum betonen müssen, ein kom­pliziertes Wesen. Der Mensch ist mehr, reichlich mehr als das physische Gebilde, das vor unseren Augen als Mensch herumwandelt; reichlich mehr ist der Mensch. Aber dieses physische Gebilde, das vor unseren Augen als Mensch herumwandelt, und alles, was zu diesem physischen Gebilde gehört, das ist doch ein Ausdruck für die ganze umfassende Wesenheit des Menschen. Und man kann sagen: Nicht nur dasjenige kann man erkennen an der menschlichen Gestalt, an dem physischen Menschen, der unter uns herumwandelt, nicht nur das kann man in ihm erkennen, was der Mensch ist zwischen seiner Geburt und seinem Tode hier in der physischen Welt, sondern auch das kann man, wenn man nur will, am Menschen erkennen, was er ist als unsterbliche, als ewige Seelenwesenheit. - Man muß nur ein Gefühl dafür entwickeln, daß diese menschliche Gestalt etwas Kompliziertes ist. Unsere Wissen­schaft, die ja heute populär gemacht wird und so zu allen Menschen kommt, ist nicht geeignet, ein Gefühl davon hervorzurufen, was für ein Wunderbau dieser Mensch eigentlich ist, der auf der Erde herumwandelt. Man muß den Menschen ganz anders ansehen.

Erinnern Sie sich einmal - Sie haben gewiß schon alle ein mensch­liches Skelett gesehen -, erinnern Sie sich nur, daß ein solches mensch­liches Skelett eigentlich zweifach ist, wenn man von allem übrigen absieht. Man kann viel genauer darüber sprechen, aber wenn man von allem übrigen absieht, so ist dieses Skelett eine Zweiheit. Sie können ja sehr leicht vom Skelett den Schädel abheben, der eigentlich nur daraufgesetzt ist, dann bleibt der übrige Mensch schädellos übrig. Der Schädel läßt sich sehr leicht abheben. Dieser übrige Mensch außer dem Schädel ist noch immer ein recht kompliziertes Wesen; allein wir wollen ihn jetzt als eine Einheit auffassen, wir wollen von seiner

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Komplikation absehen. Aber diese Zweiheit wollen wir zunächst ins Auge fassen, die uns eben vor Augen tritt, wenn wir den Menschen betrachten, sagen wir als Kopfmenschen und als übrigen Menschen, als Rumpfmenschen. So ist er ja auch nicht nur im Skelett, so ist er, obwohl das weniger deutlich hervortritt, auch als ganzer fleischlicher Mensch eine Zweiheit.

Nun brauchen wir auf geisteswissenschaftlichem Boden Vergleiche nicht zu lieben in der Form, daß wir sie etwa verabsolutieren, meta­physisch ausbauen. Das wollen wir nicht, aber verdeutlichen wollen wir uns allerlei Dinge, indem wir Vergleiche gebrauchen. Und da ist es naheliegend, weil es wirklich der Anschauung entspricht, sich zu sagen, der Mensch ist in bezug auf seinen Kopf hauptsächlich durch die Kugelform beherrscht. Will man irgendwie schematisch das aus­drücken, was das menschliche Haupt, der menschliche Kopf ist, so können wir sagen, der Mensch ist durch die Kugelform beherrscht.

# Bild s. 231

Wollten wir für den übrigen Menschen ein schematisches Bild haben, so würden wir natürlich die Komplikationen ins Auge fassen müssen, allein das wollen wir heute nicht tun. Sie werden aber leicht einsehen: von gewissen Kompliziertheiten abgesehen, ebenso wie man schematisch den menschlichen Kopf als eine Kugelform auffassen

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kann, so kann man den übriger Menschen als eine solche Form auf­fassen (siehe Zeichnung: Mondform), wobei nur selbstverständlich in der Stellung dieser zwei Kreise je nach der Korpulenz der einzelnen unterschieden werden muß.

Aber so können wir schon den Menschen auffassen gewissermaßen als Kugelform und als Mondenform. Das hat eine tief-innerliche Berechtigung; über diese wollen wir aber heute nicht sprechen, son­dern wir wollen nur eingedenk des Umstandes sein, daß der Mensch in diese zwei Glieder zerfällt.

Nun ist das Haupt des Menschen ein wirklicher Apparat zunächst für die geistige Betätigung. Für alles dasjenige, was der Mensch auf­bringen kann an menschlichen Gedanken, menschlichen Empfindun­gen ist das Haupt, der Kopf: der Apparat. Aber wenn wir angewiesen wären auf dasjenige, was der Kopf als Apparat leisten kann im Den­ken, Empfinden, würden wir niemals imstande sein, das Wesen des Menschen wirklich zu verstehen. Wenn wir überhaupt angewiesen wären, nur den Kopf als Werkzeug unseres Geisteslebens zu be­nützen, würden wir niemals imstande sein, zu uns wirklich Ich zu sagen. Denn, was ist dieser Kopf? Dieser Kopf ist in Wahrheit, so wie er uns in seiner Kugelform entgegentritt, ein Abbild des ganzen Kosmos, wie Ihnen der Kosmos zunächst erscheint mit all seinen Sternen, Fixsternen, Planeten und Kometen, sogar Meteorsteinen - die Unregelmäßigkeiten spuken ja in manchen Köpfen. Der mensch­liche Kopf ist ein Abbild des Makrokosmos, ist ein Abbild der ganzen Welt. Und nur das Vorurteil unserer Zeit - ich habe das schon in anderem Zusammenhang angedeutet - weiß nichts davon, daß die ganze Welt daran beteiligt ist, daß ein menschliches Haupt zustande kommt.

Aber wenn dieses menschliche Haupt nun durch die Vererbung, durch die Geburt auf die Erde versetzt ist, so kann dieses menschliche Haupt kein Apparat sein, um die Wesenheit des Menschen selbst zu begreifen. Uns wird gewissermaßen in unserem Haupte ein Apparat gegeben, der wie ein Extrakt der ganzen Welt ist, der aber nicht imstande ist, den Menschen zu begreifen. Warum? Ja, aus dem Grunde, weil der Mensch mehr ist als alles dasjenige, was wir sehen, denken

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können durch unsern Kopf. Heute sagen viele Leute, das menschliche Erkennen hätte Grenzen, man könne nicht weiter über diese Grenzen hinauskommen. Das rührt aber nur davon her, weil diese Menschen bloß die Weisheit des Kopfes gelten lassen wollen, und die Weisheit des Kopfes geht allerdings nicht über gewisse Grenzen hinaus. Diese Weisheit des Kopfes hat aber auch gemacht dasjenige, was wir vor einigen Tagen beschrieben haben als die griechischen Götter. Die griechischer Götter sind aus der Weisheit des Kopfes hervorgegangen. Sie sind die oberen Götter; sie sind daher nur Götter für alles dasjenige, was der Kopf des Menschen mit seiner Weisheit umspannen kann.

Nun habe ich Sie öfter darauf aufmerksam gemacht: die Griechen hatten außer dieser äußerer Götterlehre ihre Mysterien. In den Myste­rien verehrten die Griechen außer der himmlischen Göttern noch andere Götter, die chthonischen Götter. Und von demjenigen, der in die Mysterien eingeweiht wurde, sagte man mit Recht: Er lernt kennen die oberen und die unteren Götter. - Die oberen Götter, das waren diejenigen des Zeuskreises; aber sie haben nur Herrschaft über dasjenige, was vor den Sinnen ausgebreitet ist und was der Verstand begreifen kann. Der Mensch ist mehr als dieses. Der Mensch wurzelt mit seiner Wesenheit im Reiche der unteren Götter, im Reiche der chthonischen Götter.

Aber man kommt nicht zurecht, wenn man nur dasjenige vom Menschen ins Auge faßt, was ich schematisch hier aufgezeichnet habe. Wenn man das Wurzeln des Menschen im Bereiche der unteren Götter ins Auge fassen will, dann muß man schon diese Zeichnung ver­vollständigen und muß sie so machen: Man muß auch gewissermaßen den nicht belichteter Mond einbeziehen (siehe Zeichnung S.234). Man muß, mit andern Worten, den Kopf des Menschen anders be­trachten als den übriger Organismus. Beim übrigen Organismus muß man vielmehr ins Auge fassen dasjenige, was geistig ist, was übersinnlich, was unsichtbar ist. Der Kopf des Menschen ist äußerlich, so wie er uns entgegentritt, gewissermaßen eine Vollkommenheit. Alles, was geistig ist, hat sich ein Abbild geschaffen im Kopfe. Im übrigen Menschen ist das nicht der Fall. Der übrige Mensch ist nur ein Frag­ment als physischer Mensch, und man kommt nicht zurecht mit dem

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übrigen Menschen, wenn man dieses fleischliche Fragment nimmt, das sichtbarlich auf der Erde herumwandelt.

# Bild s. 234

Nun, das zeigt uns schon, daß wir den Menschen kompliziert neh­men müssen. Aber tritt das irgendwie im Leben hervor, was ich jetzt gesagt habe? Es scheint abstrakt zu sein, was ich jetzt gesagt habe, es scheint paradox und schwer verständlich zu sein, aber die Frage muß doch auftauchen: Tritt es im Leben irgendwie hervor? Das ist das Wichtige: es tritt im Leben nämlich ganz klar hervor. Der Kopf ist der Apparat unserer Weisheit; er ist der Apparat unserer Weisheit so stark, daß mit seiner Entwickelung unsere zunächstige Weisheit zu­sammenhängt. Aber selbst die äußere anatomisch-physiologische Be­trachtung zeigt - sehen Sie sich an, wie ein Haupt sich entwickelt, wie ein Mensch aufwächst -, daß der Kopf eine ganz andere Entwickelung durchmacht als der übrige Organismus. Der Kopf entwickelt sich rasch, der übrige Organismus langsam. Verhältnismäßig ist der Kopf schon ganz ausgebildet beim Kinde, entwickelt sich viel weniger weiter. Der übrige Organismus ist noch wenig ausgebildet, macht langsam seine Stadien durch. Das hängt zusammen damit, daß wir in der Tat ein Doppelmensch auch im Leben sind. Nicht nur unser Skelett zeigt den Kopf und den übrigen Menschen, sondern unser Leben zeigt selbst diese Zwienatur unseres Wesens: unser Kopf entwickelt

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sich schnell, unser übriger Organismus entwickelt sich lang­sam. Unser Kopf macht in unserer Zeit ungefähr schon bis zu unse­rem achtundzwanzigsten oder siebenundzwanzigsten Jahre seine Entwickelung durch, der übrige Organismus braucht dazu das ganze Leben bis zum Tode. Erleben nämlich kann man dasjenige, was der Kopf verhältnismäßig in kurzer Zeit sich aneignet, nur im ganzen Leben. Es hängt das mit vielen Geheimnissen zusammen.

Der Geistesforscher erkennt diese Dinge insbesondere dann, wenn er einmal den Blick richtet auf einen Unglücksfall. Es klingt wieder­um paradox, aber es entspricht der völligen Wahrheit. Denken Sie sich einmal, ein Mensch wird erschlagen, er geht durch einen Unglücksfall zugrunde. Nehmen wir an, ein Mensch wird in seinem drei­ßigsten Jahre erschlagen. Für die äußere physische Betrachtung ist solch ein plötzlicher Tod eine Art Zufall; aber es ist vor der geistes-wissenschaftlichen Betrachtung einfach lächerlich, eine solche Sache als Zufall zu betrachten. Denn in dem Momente, wo durch eine äußere Veranlassung, von außen her, ein Mensch plötzlich in den Tod kommt, geht rasch ungeheuer viel mit ihm vor sich. Denken Sie sich, im gewöhnlichen Zusammenhange der Dinge wäre dieser selbe Mensch, der mit dreißig Jahren erschlagen worden ist, vielleicht sieb­zig, achtzig, neunzig Jahre alt geworden. Da hätte er dadurch, daß er vom dreißigsten bis neunzigsten Jahre noch gelebt hätte, langsam hintereinander mancherlei im Leben zugenommen an Lebenserfah­rung. Das, was er so in sechzig Jahren durchgemacht hätte an Lebenserfahrung, macht er, wenn er im dreißigsten Jahre erschlagen wird, kurz, vielleicht in einer halben Minute könnte es sein, durch. Die Zeitverhältnisse sind, wenn die geistige Welt in Betracht kommt, eben andere als sie uns hier im physischen Plan erscheinen. Ein rascher Tod, der durch äußere Verhältnisse herbeigeführt wird - man muß die Sache ganz genau nehmen -, kann unter Umständen rasch die Er­fahrung, die Erfahrung sage ich, die Lebensweisheit des ganzen Lebens durchmachen lassen, das noch hätte kommen können.

Daran kann man studieren, wie das ist, was der Mensch sein Leben hindurch an Lebensweisheit, an Lebenserfahrung sich aneignet. Und man kann daran studieren, wie sich verhält dasjenige, was der Kopf

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leisten kann mit seiner kurzen Entwickelung, gegenüber dem, was der übrige Mensch leisten kann mit seiner langen Entwickelung im sozialer Leben. Es ist wirklich so, daß der Mensch während seiner Jugendzeit gewisse Begriffe, gewisse Vorstellungen aufnimmt, die er lernt; aber er lernt sie eben da nur. Sie sind dann Kopfwissen. Das übrige Leben, das langsamer verläuft, ist dazu bestimmt, das Kopf­wissen umzuwandeln allmählich in Herzwissen - ich nenne jetzt den andern Menschen nicht den Kopfmenschen, ich nenne ihn den Her­zensmenschen -, umzuwandeln das Kopfwissen in Herzenswissen, in Wissen, an dem der ganze Mensch beteiligt ist, nicht nur der Kopf.

Um das Kopfwissen in Herzenswissen umzuwandeln, brauchen wir viel länger, als um uns das Kopfwissen anzueignen. Um uns das Kopf­wissen anzueignen - wenn es schon ein ganz besonders gescheites Wissen ist, braucht man heute die Zeit bis in die Zwanzigerjahre hin­ein. Nicht wahr, dann wird man ein ganz gescheiter Mensch, akade­misch ganz gescheiter Mensch, aber um dieses Wissen wirklich mit dem ganzen Menschen zu vereinigen, muß man beweglich bleiben sein Leben hindurch. Und man braucht, um das Kopfwissen in Herzenswissen umzuwandeln, eben um so viel länger, als man länger lebt als bis zum siebenundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahre. Insofern ist man auch als Mensch eine Zwienatur. Man eignet sich rasch das Kopfwissen an und kann es dann umwandeln im Laufe des Lebens in Herzenswissen.

Zu wissen, was das eigentlich bedeutet, ist nicht ganz leicht. Und ich darf, wir sind ja unter uns, für diese Sache vielleicht eine Erfahrung des Geistesforschers anführen, durch die leichter über diese Dinge etwas gewußt werden kann als durch andere geistesforscherische Ar­beiten. Man kann, wenn man sich bekannt macht mit der Sprache, welche die Menschenseelen sprechen, die durch den Tod hindurch­gegangen sind, die in der geistigen Welt leben nach dem Tode, man kann, wenn man die Sprache der Toten, der sogenannten Toten einigermaßen versteht, dann die Erfahrung machen, daß die Toten sich über manche Dinge, die im Zusammenhange mit dem Menschenleben stehen, in ganz besonderer Weise ausdrücken. Die Toten haben heute schon eine Sprache, die wir Lebenden noch nicht ganz gut verstehen

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können. Es gehen die Verständnisse der Toten und der Leben­den heute ziemlich weit auseinander. Der Tote hat durchaus ein Be­wußtsein davon, daß der Mensch sich als Kopfmensch rasch entwickelt, als Herzensmensch langsam entwickelt. Und der Tote sagt, wenn er ausdrücken will, was da eigentlich geschieht, wenn sich allmählich das rasch erworbene Kopfwissen in das langsamer verlaufende Herzens­wissen einlebt: Das bloße Weisheitswissen wird umgewandelt durch die aus dem Menschen aufsteigende Herzenswärme oder Liebe. Weis­heit wird im Menschen von der Liebe befruchtet. - So sagt der Tote.

Und das ist in der Tat ein tiefes, bedeutsames Lebensgesetz. Man kann das Kopfwissen rasch erwerben, man kann ungeheuer viel wis­sen gerade in unserer Zeit, denn die Naturwissenschaft - nicht die Naturwissenschafter, aber die Naturwissenschaft - ist in unserer Zeit recht sehr fortgeschritten und hat reichen Inhalt. Aber dieser Inhalt ist so, daß er nicht umgewandelt ist in Herzenswissen, daß das Kopfwissen überall geblieben ist; weil die Menschen - ich habe schon gestern darauf aufmerksam gemacht - das andere, was dann anrückt im Leben nach dem siebenundzwanzigsten Jahre, nicht mehr be­achten, weil die Menschen nicht verstehen, alt zu werden, beziehungsweise könnte ich auch sagen: jung zu bleiben, indem sie alt werden.

Weil die Menschen die innerliche Lebendigkeit sich nicht erhalten, da erkaltet ihr Herz; es strömt die Herzenswärme nicht nach dem Kopfe hinauf, es befruchtet die Liebe, die aus dem übrigen Organis­mus kommt, den Kopf nicht. Das Kopfwissen bleibt kalte Theorie. Aber es braucht nicht kalte Theorie zu bleiben, es kann alles Kopfwissen umgewandelt werden in Herzenswissen. Und das ist gerade die Aufgabe der Zukunft, daß das Kopfwissen allmählich in Herzenswissen umgewandelt wird. Da wird ein wirkliches Wunder geschehen, wenn das Kopfwissen in Herzenswissen umgewandelt wird.

Man hat vollständig Recht, wenn man heute nach allen Noten die materialistische Naturwissenschaft oder namentlich die materialisti­sche Naturphllosophie abkanzelt. Man hat vollständig Recht, aber trotzdem ist noch etwas anderes wahr: diese Naturwissenschaft, die in Haeckel, in Spencer, in Huxley und so weiter bloßes Kopfwissen geblieben ist und daher Materialismus ist, die wird, wenn sie Herzenswissenschaft

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werden wird, wenn sie aufgenommen werden wird vom ganzen Menschen, wenn die Menschneit verstehen wird, älter zu werden oder jünger zu werden im Ältersein, wie ich das gestern ge­meint habe, dann wird diese, gerade diese Wissenschaft der Gegen­wart der reinste Spiritualismus werden, die reinste Beschäftigung für den Geist und sein Dasein werden. Es gibt keine bessere Grundlage als die Naturwissenschaft der Gegenwart, wenn sie sich umwandelt in dasjenige, was dem Kopf des Menschen zufließen kann aus dem übri­gen Organismus, aber jetzt aus dem geistigen Teil des übrigen Orga­nismus. Das Wunder wird sich vollziehen, indem die Menschen ler­nen werden, die Verjüngung ihres Ätherleibes auch zu fühlen, so daß die materialistische Naturwissenschaft der Gegenwart Spiritualismus werden wird. Sie wird um so eher Spiritualismus werden, je mehr Leute sich finden werden, ihr ihren gegenwärtigen Materialismus, ihre materialistische Torheit vorzuhalten.

Damit wird aber eine vollständige Umwandlung verknüpft sein, die derjenige, der nur einigermaßen Empfindung für das hat, was in der Gegenwart vorgeht, empfinden kann: damit wird verknüpft sein eine vollständige Umwandlung des Erziehungs- und Unterrichtswesens. Wer könnte sich verhehlen, wenn er ein offenes Auge hat für die sozialen, sittlichen, geschichtlichen Verhältnisse der Gegenwart, wer könnte sich verhehlen, daß wir heute gar nicht in der Lage sind als ganze Menschheit - nun, wenn man es grotesk ausdrücken will -, den Kindern eine angemessene Erziehung, insbesondere einen angemesse­nen Unterricht zu geben. Gewiß, wir können die Kinder zu Beamten, wir können sie zu Industriellen machen, wir können sie sogar zu Pastoren und so weiter machen, aber wir sind wenig in der Lage, die Kinder heute zu vollständigen Menschen, zu allseitig entwickelten Menschen zu machen. Denn es ist eine tiefe Forderung der Zeit:

Wenn der Mensch ein vollständiger, ein allseitig entwickelter geistig-seelischer Organismus sein soll, dann muß er in die Lage kommen, dasjenige, was er als Kind aufnimmt, schnell, rasch aufnimmt, das um­zuwandeln sein ganzes Leben hindurch. Das ganze Leben hindurch muß der Mensch frisch bleiben, um umzuwandeln dasjenige, was er aufgenommen hat.

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Was tun wir denn heute - man sieht diese Dinge nur nicht un­befangen genug an -, was tun wir denn heute eigentlich im späteren Leben? Wir haben in der Jugend etwas gelernt, der eine viel, der andere weniger. Nicht wahr, man ist ja stolz darauf, daß man keine Analphabeten mehr hat in Westeuropa. Einer lernt viel, der andere weniger, aber alle lernen etwas in der Jugend. Und was tut man im späteren Leben mit dem, was man gelernt hat, gleichgültig, ob man viel oder wenig gelernt hat? Es ist ja alles so veranlagt, daß man sich nur erinnert an das, was man gelernt hat; es ist so im Menschen vor­handen, daß man sich erinnert daran. Was arbeiten denn die Menschen da? Es ist nicht so der Menschenseele beigebracht, daß es in der Menschenseele arbeitet, daß aus Kopfinhalt Herzensinhalt wird. Dazu ist es gar nicht veranlagt. Da muß auch noch manches Wasser den Rhein hinunterfließen, wenn das, was wir heute der Jugend geben können - betrachten wir es nur auf einem Felde, aber es ist auf alle Felder anwendbar -, etwas werden soll, was geeignet ist, wirklich in Herzenswissen umgewandelt zu werden. Was muß das sein? Wir haben ja heute gar keine Möglichkeit, unsern Kindern etwas zu geben, was wirklich Herzenswissen werden könnte. Dazu fehlen zwei Be­dingungen. Diese zwei Bedingungen kann nur die wirklich richtig verstandene Geisteswissenschaft herbeiführen.

Zwei Bedingungen fehlen, um heute den Kindern wirklich etwas Lebenerfrischendes zu geben, etwas zu geben, was das ganze Dasein hindurch ein Quell von Lebensfreude und Lebensgetragenheit sein kann. Zwei Dinge fehlen. Das eine ist, daß der Mensch heute nach allen gangbaren Begriffen, die wir haben, die die heutige Bildung dem Menschen anweisen kann, keine Vorstellung gewinnen kann über seine Stellung zum Weltenall. Bedenken Sie nur einmal alles dasjenige, was einem in der Schule überliefert wird. Den kleinsten Kindern wird ja das heute schon überliefert, wenigstens wird das, was ihnen gesagt wird, in solchen Worten gesagt, daß das drinnen liegt, was wir nun aussprechen wollen. Bedenken Sie, daß der Mensch heute heran­wächst unter den Vorstellungen: Da ist die Erde; sie schwebt mit so und so viel Geschwindigkeit durch den Weltenraum, und außer der Erde die Sonne und Planeten, Fixsterne. Und was nun von der Sonne,

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den Planeten, den Fixsternen gesagt wird, das ist höchstens eine Art Weltenphysik, mehr ist es nicht, Weltenmechanik, Weltenphysik.

Dasjenige, was da der Astronom heute sagt, was unsere Bildung überhaupt heute sagt über das Weltengebäude, hat das etwas zu tun mit diesem Menschen, der hier auf der Erde unten herumwandelt? Doch gewiß nicht! Nicht wahr, für die naturwissenschaftliche Welt­anschauung geht der Mensch als ein etwas höher entwickeltes Tier herum, wird geboren, stirbt, wird begraben, ein anderer kommt, wird geboren, stirbt, wird begraben und so weiter. So geht es von Generation zu Generation. Draußen im großen Weltenraume spielen sich die Ereignisse ab, die rein mathematisch berechnet werden wie in einer großen Weltenmaschinerie. Aber was hat das alles zu tun für den heutigen gescheiter Menschen, was sich da draußen in der großen Welt abspielt, mit dem, daß hier auf der Erde dieses etwas höher ent­wickelte Tier geboren wird und stirbt? Priester, Pastoren wissen keine andere Weisheit an die Stelle dieser trostlosen Weisheit zu setzen. Und weil sie das nicht wissen, so sagen sie, sie befassen sich überhaupt nicht mit dieser Wissenschaft, sondern der Glaube muß einen ganz andern Ursprung haben.

Na ja, das brauchen wir nicht weiter auszuführen. Aber es sind ein­mal zwei recht verschiedene Dinge: das, wovon die atheistische Wis­senschaft redet, und die notdürftig das theistische Element aufrecht­erhaltende sogenannte Gläubigkeit dieser oder jener Bekenntnis kirche. Es war notwendig, daß gegenüber der früheren Anschauung über das Weltenall die jetzige eine Zeitlang in der Menschheitsentwickelung Platz gegriffen hat. Wir brauchen nicht weit zurückzugehen - man denkt heute nur nicht daran -, da hatten die Menschen noch ein Be­wußtsein, daß sie nicht bloß als höhere Tiere hier unten herumwan­deln auf der Erde, geboren werden und begraben werden, sondern sie brachten sich in Zusammenhang mit der Sternenwelt, in Zusammen­hang mit dem ganzen Weltenall, wußten in ihrer Art, in anderer Art, als das jetzt angestrebt werden muß, aber wußten in ihrer Art von dem Zusammenhang mit dem Weltenall. Da mußte man aber das Weltenall auch anders vorstellen.

Eine solche Weltanschauung, wie sie heute schon den Kindern beigebracht

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wird, war im 12., 13. Jahrhundert undenkbar; man konnte gar nicht daran denken, solch eine Anschauung von der Sternenwelt irgendwie zu haben. Man blickte hinauf zu den Sternen, man blickte auf, wie heute zu den Planeten, aber man rechnete nicht nur, wie heute der mathematische Astronom das tut, die Planetenbahnen aus und hatte die Vorstellung: Da oben ist eine Kugel, die da durch den Weltenraum geht -, sondern die mittelalterliche Wissenschaft sah in jeder Kugel den Leib eines geistigen Wesens. Es wäre ein einfacher Unsinn gewesen, sich eine bloße materielle Kugel vorzustellen unter einem Planeten. Lesen Sie nach bei Thomas von Aquino. Sie werden überall finden, daß er in jedem Planeten die englische Intelligenz sieht - nicht engländische, die englische Intelligenz. Und so in den übrigen Sternen. Ein Weltenall, wie es die heutige Astronomie fabriziert, stellte man sich nicht vor. Man mußte aber, um fortzuschreiten, eine Zeitlang, ich möchte sagen, die Seele aus dem Weltenall heraustreiben, um das Skelett, die reine Maschinerie des Weltenalls, vorzu­stellen. Die Kopernikanische, die Galileische, die Keplersche Welt­anschauung mußte kommen. Aber nur Toren sehen sie als etwas letzt­lich Gültiges an. Sie sind ein Anfang, aber ein Anfang, der sich weiter entwickeln muß.

Manche Dinge weiß heute schon die Geisteswissenschaft, die die äußere Astronomie noch nicht weiß. Aber wichtig ist, daß gerade diese Dinge, welche die Geisteswissenschaft weiß, die äußere Astro­nomie noch nicht weiß, übergehen in das allgemeine Menschheits­bewußtsein. Und wenn sie auch heute noch schwierig erscheinen, diese Begriffe, sie werden so werden, daß man sie den Kindern schon beibringen kann; sie werden gerade für die Kinder ein wichtiges Gut sein, um die Seele lebendig zu erhalten. Wir müssen allerdings diese Dinge noch in schwierigen Begriffen besprechen. Denn so lange die Geisteswissenschaft so genommen wird von der äußeren Welt, wie sie jetzt genommen wird, hat sie keine Gelegenheit, die Dinge in solche Begriffe, in solche Vorstellungen zu gießen, wie sie gebraucht werden, wenn sie Gegenstand der Kindererziehung werden sollen.

Von etwas zum Beispiel weiß die heutige Astronomie nichts: sie weiß nichts davon, daß die Erde, indem sie durch das Weltenall rast,

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zu schnell rast. Sie rast zu schnell, die Erde. Und weil sie zu schnell rast, weil die Erde schnell sich bewegt, können wir auch unsere Kopf-entwickelung schneller haben, als wir sie hätten, wenn die Erde sich so langsam bewegen würde, daß sie dem entsprechen würde, was unserer ganzen Lebensdauer entspricht. Die Schnelligkeit unserer Kopfentwickelung hängt einfach damit zusammen, daß die Erde zu schnell durch den Weltenraum rast. Unser Kopf macht mit diese Schnelligkeit der Erde, unser übriger Organismus macht sie nicht mit; unser übriger Organismus entzieht sich den kosmischen Ereignissen. Unser Kopf, welcher als eine Kugel nachgebildet ist dem Himmelsbau, der muß auch mitmachen dasjenige, was die Erde mitmacht im Himmelsraume.

Unser übriger Organismus, der nicht nachgebildet ist dem ganzen Weltenbau, macht das nicht mit, der macht seine Entwickelung lang­samer. Würde unser ganzer Organismus die Schnelligkeit der Erde heute mitmachen, würde er sich so entwickeln, daß es der Schnellig­keit der Erde entsprechen würde, so würden wir alle niemals älter werden können als siebenundzwanzig Jahre. Da würden siebenund­zwanzig Jahre so im Durchschnitt das Lebensalter der Menschen sein. Denn in der Tat: unser Haupt, unser Kopf, ist mit siebenundzwanzig Jahren fertig; wenn es auf ihn ankäme, könnte der Mensch mit sieben­undzwanzig Jahren sterben. Nur dadurch, daß der übrige Mensch für eine längere Lebensdauer angelegt ist und dem Kopfe nach dem siebenundzwanzigsten Jahre fortwährend seine Kräfte zuführt, leben wir, so lang wir eben leben. Das ist der geistige Teil des übrigen Menschen, der dem Kopfe seine Kräfte zuführt. Es ist der Herzensteil, der mit dem Kopf seine Kräfte tauscht.

Wird die Menschheit einmal erkennen, daß sie eine Zwienatur hat, eine Kopfnatur und Herzensnatur, dann wird sie auch erkennen, daß der Kopf ganz andern Weltengesetzen gehorcht als der übrige Orga­nismus. Dann steht der Mensch wiederum drinnen im ganzen Makrokosmos; dann kann der Mensch gar nicht anders, als sich Vorstellun­gen bilden, die so gehen, daß er sich sagt: Ich stehe nicht bloß als ein höheres Tier hier auf der Erde, werde geboren und sterbe, sondern ich bin ein Wesen, das aus dem ganzen Weltenall heraus gebaut ist. Mein

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Haupt, das mir aufgebaut ist, ist aus dem ganzen Weltenall heraus; die Erde hat mir den übrigen Organismus angegliedert, der die Be­wegungen des Weltenalls in dieser Weise zunächst nicht mitmacht, wie sie der Kopf in anderer Weise mitmacht.

So, wenn man den Menschen nicht abstrakt betrachtet, wie es die gegenwärtige Wissenschaft macht, sondern wenn man ihn als Bild in seiner Zweiheit betrachtet: als Kopfmenschen und Herzensmenschen im Zusammenhange mit dem Weltenall, da stellt sich der Mensch wiederum in das Weltenall hinein. Und ich weiß, und andere, die so etwas beurteilen können, wissen es auch: Wird man sich herzens­warme Vorstellungen machen können darüber, daß, wenn man hin­schaut auf das menschliche Haupt, man in dem menschlichen Haupte ein Abbild des ganzen sternbesäten Weltenraumes mit seinen Wundern sieht, dann werden in die menschliche Seele hereinkommen alle Bilder über den Zusammenhang des Menschen mit dem weiten, weiten Weltenall. Und diese Bilder werden zu Erzählungsformen, die wir heute noch nicht haben; und diese Erzählungsformen werden nicht abstrakt, aber empfindungsgemäß zum Ausdruck bringen dasjenige, was wir in die Herzen der jüngsten Kinder gießen können, so daß diese Herzen der jüngsten Kinder empfinden: Hier auf der Erde stehe ich als Mensch, aber als Mensch bin ich ein Ausdruck des ganzen sternbesäten Weltenraumes; in mir spricht sich aus die ganze Welt. - Empfindungsgemäß wird der Mensch erzogen werden können zu einem Mitgliede des ganzen Kosmos. Das ist die eine Bedingung.

Die andere Bedingung ist die folgende. Wenn wir die ganze Erziehung, wenn wir alles Unterrichtsgemäße so imstande sind zu ver­anlagen, daß der Mensch gewahr wird: in seinem Haupte ist er ein Abbild des Weltenalls, mit seinem übrigen Organismus entzieht er sich diesem Weltenall; er hat mit seinem übrigen Organismus das­jenige, was wie ein Seelenregen herabträufelt, das ganze Weltenall zu verarbeiten, so daß es selbständig wird hier auf der Erde im Men­schen -, dann wird dieses ein besonderes inneres Erlebnis sein. Denken Sie sich diesen zwiefachen Menschen, den ich jetzt in dieser kuriosen Form zeichnen will. Wenn er wissen wird: Da kommt aus dem ganzen Weltenall in sein Haupt unbewußt dasjenige, was die Geheimnisse aller

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Sterne sind; dies aber, indem es die Kräfte seines Hauptes anregt, hat er sein ganzes Leben hindurch zu verarbeiten mit seinem übrigen Organismus, damit er es hier auf Erden konserviere, es durch den Tod trage und in die geistige Welt wieder zurücktrage - wenn dies eine lebendige Empfindung wird, dann wird sich der Mensch wissen als eine Zwienatur, er wird sich wissen als Kopf- und Herzensmensch. Denn verbunden ist das, was ich jetzt sage, damit, daß der Mensch lernen wird, sich selber zu enträtseln, sich zu sagen: Indem ich Her­zensmensch werde immer mehr und mehr, indem ich jung bleibe, sehe ich, wenn ich altere, durch das, was mein Herz mir gibt, dasjenige an, was ich als Kind in der Jugend gelernt habe durch den Kopf. Das Herz blickt zum Kopfe auf, und das Herz wird im Kopfe sehen ein Abbild des ganzen Sternenhimmels. Der Kopf aber wird zum Herzen blicken, und wird im Herzen die Geheimnisse des Menschenrätsels finden, wird lernen, das eigentliche Wesen des Menschen im Herzen zu ergründen.

Der Mensch wird sich so erzogen fühlen, daß er sich sagen wird: Gewiß, ich kann mit meinem Kopfe mancherlei lernen. Aber indem

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ich lebe, indem ich dem Tode entgegenlebe, der mich in die geistige Welt hineintragen soll, wird dasjenige, was ich mit dem Kopfe erlerne, dereinst von der aus dem übrigen Organismus aufsteigenden Liebe befruchtet, wird etwas ganz anderes. Es gibt etwas in mir als Men­schen, das es nur in mir als Menschen gibt; ich habe etwas zu erwarten. - In diesen Worten liegt viel, und viel bedeutet es, wenn der Mensch so erzogen wird, daß er sagt: Ich habe etwas zu erwarten. Ich werde dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahre alt werden, und indem ich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt älter werde, kommt durch das Älterwerden etwas vom Geheimnis des Menschen mir entgegen. Ich habe etwas zu erwarten von dem, daß ich lebe.

Denken Sie sich, wenn das nicht bloße Theorie ist, wenn das Lebensweisheit ist, soziale Lebensweisheit, dann wird das Kind so erzogen, daß es weiß: Ich kann etwas lernen; aber derjenige, der mich erzieht, der hat etwas in sich, was ich nicht lernen kann, wozu ich erst so alt werden muß wie er, damit ich es in mir selber finden kann. Wenn er es mir erzählt, dann gibt er mir etwas, was ein heiliges Geheimnis für mich sein muß, weil ich es aus seinem Munde hören, in mir aber nicht finden kann. - Denken Sie sich, was daraus wiederum für ein Verhältnis zwischen den Kindern und den Alten geschaffen wird, das in unserer Zeit vollständig verwischt ist, wenn der Mensch wissen wird: Die Lebensalter bieten etwas, was zu erwarten ist. In mir kann, wenn ich noch nicht vierzig Jahre alt bin, nicht jene Summe von Geheimnissen sitzen, welche sitzen können in demjenigen, der schon vierzig Jahre alt geworden ist. Und teilt er es mir mit, so bekomme ich es eben als Mitteilung, ich kann es nicht durch mich selber wissen. - Welches Band menschlicher Gemeinschaft wird dadurch geknüpft, daß in die­ser Weise ein neuer Ernst, eine neue Tiefe in das Leben hineinkommt!

Dieser Ernst, diese Tiefe ist es gerade, die unserem Leben fehlt, die unser Leben nicht hat, weil unser Leben nur Kopfwissen vor­läufig achtet. Dadurch aber wird das wirkliche Soziale sterben, der Auflösung entgegengehen; denn hier auf der Erde wandeln Menschen dann herum, die gar nicht wissen, was sie sind, die eigentlich nur das­jenige ernst nehmen, was bis zum siebenundzwanzigsten Jahre ist, und das übrige Leben dazu benützen, um den Kadaver in sich zu tragen

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für den Rest, aber nicht umzuwandeln den ganzen Menschen in etwas, was die Jugend noch durch den Tod tragen kann.

Weil man dies nicht versteht, weil ein Zeitalter gekommen ist, das dies nicht verstehen konnte, deshalb blieben alle die Dinge, die sich auf Geistiges bezogen, so unbefriedigende Dinge, wie ich es gestern sagen mußte von Friedrich Schlegel. Er war ein genialer Kopf, er hat vieles verstanden, aber er wußte nicht, daß eine neue Geistoffenbarung notwendig ist. Er glaubte einfach, das alte Christentum nehmen zu können. Mit Worten, mit wörtlichem Schallklang konnte er sogar in vieler Beziehung das Richtige aussprechen. Denken Sie nur einmal, eine Stelle aus dem letzten Vortrage von Friedrich Schlegel vom Jahre 1828 will ich Ihnen doch mitteilen. Er versuchte zu beweisen, so sagt er, «daß in dem Gange derselben - nämlich der Weltgeschichte - eine göttlich führende Hand und Fügung zu erkennen ist, daß nicht bloß irdisch sichtbare Kräfte in dieser Entwickelung und in dem sie hem­menden Gegensatze mitwirkend sind, sondern daß der Kampf zum Teil auch unter dem göttlichen Beistande gegen unsichtbare Mächte gerichtet ist; davon hoffe ich die Überzeugung, wenn auch nicht mathematisch erwiesen, was hier gar nicht angemessen, noch anwend­bar wäre, doch bleibend erweckt und lebendig begründet zu haben».

Daß der Mensch also, indem er die Geschichte durchlebt, sich hereinzuleben hat in die Geschichte göttlicher Kräfte und mit diesen göttlichen Kräften zusammen gegen widerstrebende geistige Mächte - er sagt ausdrücklich: widerstrebende geistige Mächte - kämpft, davon hatte er eine Ahnung, aber es fehlte jedes lebendige Bewußtsein. Denn die wirkliche Wissenschaft vom Geiste, die flieht man ja in ge­wisser Beziehung. Seit dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als im Abendlande entstanden ist das Vorurteil, wie man es nannte, gegen die Einrede der falschen Gnosis - so nannte man es: die Einrede der falschen Gnosis -, da kam man allmählich dazu, abzulehnen alles das­jenige, was der Mensch wissen kann über die geistigen Welten. Und so ist es denn gekommen, daß auch die religiösen Impulse den Mate­rialismus zubereitet haben, daß diese religiösen Impulse nicht ver­hindern konnten, daß wir eigentlich heute nichts haben, was wir der Jugend wirklich geben können. Unsere Wissenschaft dient nicht der

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Jugend, denn man kann sich im späteren Alter nur an sie erinnern, sie kann nicht Herzensweisheit werden.

Selbst auf religiösem Gebiete ist es so. Schließlich ist ja die Mensch­heit nur, ich möchte sagen, zu zwei Extremen gekommen. Den über­sinnlichen Christus zu fassen hat ja die Menschheit ziemlich verlernt. Sie will nichts wissen von jener kosmischen Macht, von der die Gei­steswissenschaft wieder sprechen muß als der Macht des Christus Jesus. Auf der einen Seite ist ja eine ganz liebliche, wirklich liebliche Vorstellung all dasjenige, was sich im Laufe des Mittelalters und der neueren Zeit durch Dichter, durch Musiker entwickelt hat, eine lieb­liche poetische Vorstellung, was sich in Anlehnung an das Jesuskind entwickelt hat; aber, religiös ausfüllen kann es doch nicht den Men­schen sein ganzes Leben hindurch, was sich an Vorstellungen an­knüpft an das liebe Jesulein! Es ist ja schon charakteristisch, daß eine geradezu paradoxe Liebe in unzähligen Liedern und dergleichen für das liebe Jesulein sich ausdrückt. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, aber es kann nicht das einzige bleiben.

Das ist das eine, wo sich der Mensch, weil er sich zu dem Großen nicht erheben kann, an das Kleinste gemacht hat, um wenigstens et­was zu haben. Aber ausfüllen kann es das Leben nicht. Und auf der andern Seite der «bon dieu citoyen», wie wir ihn zu Weihnachten mit den Worten Heinrich Heines kennengelernt haben, der gute Bürgergott Jesus, der aller Göttlichkeit entkleidet ist, der Gott der liberalen Pastoren und liberalen Priester. Glauben Sie, daß er nun wirklich das Leben ergreifen kann? Glauben Sie insbesondere, daß er die Jugend gefangennehmen kann? Er ist vom Anfange an ein totes Theologieprodukt, nicht einmal ein Theologieprodukt, sondern ein Theologie­geschichteprodukt. Aber die Menschheit ist auch auf diesem Gebiete weit davon entfernt, die Blicke hinzurichten auf dasjenige, was geistige Macht in der Geschichte ist.

Warum ist das so? Weil eben eine Zeitlang die Menschheit das schon durchmachen mußte, rein materiell in die Welt zu blicken. Es ist auch die Zeit herangekommen, wo die Umwandlung gerade des zur Spiritualität tauglicher Naturwissens der Gegenwart in Herzenswissen sich vollziehen muß. Unsere Naturwissenschaft ist entweder

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spottschlecht, wenn sie so bleibt, wie sie ist, oder sie ist etwas ganz außerordentlich Großartiges, wenn sie sich umwandelt in Herzensweisheit. Denn dann wird sie Geisteswissenschaft. Die alte, ältere Wissenschaft, die in mancherlei Traditionen befangen ist, hatte schon die Kopfwissenschaft in Herzenswissenschaft umgewandelt. Die neuere Zeit hat keine Begabung gehabt, das, was sie als Wissenschaft neu gewonnen hat bis jetzt, in Herzenswissenschaft umzuwandeln. Und so ist es denn gekommen, daß insbesondere auf sozialem Gebiete die Kopfwissenschaft die einzige wirkliche Arbeit geleistet hat und daher das einseitigste Produkt zustande gebracht hat, das es geben kann.

Der Kopf des Menschen kann vom Menschenwesen überhaupt nichts wissen. Wenn der Kopf des Menschen daher über das Men­schenwesen, wie es sich im sozialen Zusammenhange auslebt, nach­denkt, so muß der Kopf etwas ganz Fremdes in dem sozialen Zu­sammenieben zustande bringen, und das ist der moderne Sozialismus, wie er sich als sozialdemokratische Theorie ausdrückt. Es gibt nichts, was so rein Kopfwissen ist, wie die marxistische Sozialdemokratie, nur weil die übrige Menschheit versäumt hat, sich überhaupt mit Weltproblemen zu beschäftigen, und man in diesen Kreisen sich allein mit sozialen Theorien beschäftigt hat. Die übrigen haben nur - na, ich will höflich sein - die Professorengedanken sich vorsagen lassen, die nur traditionell sind. Aber die Kopfweisheit, das ist Sozialtheorie geworden. Das heißt, mit einem Instrumente hat man versucht, eine soziale Theorie zu begründen, das gerade am allerwenigsten geeignet ist, über die Menschenwesenheit etwas zu wissen. Das ist ein Fundamen­talirrtum der gegenwärtigen Menschheit, der nur ganz aufgedeckt werden kann, wenn man wissen wird, wie es mit dem Kopf- und Herzenswissen ist. Niemals wird der Kopf widerlegen können den Sozialismus, marxistischen Sozialismus, weil der Kopf hinausdenken muß in unserem Zeitalter. Widerlegen können wird ihn nur die Geisteswissenschaft, weil die Geisteswissenschaft durch das Herz umgewandelte Kopfweisheit ist.

Das ist außerordentlich wichtig, daß man diese Dinge ins Auge faßt. Sie sehen, warum untaugliche Mittel vorhanden waren selbst bei

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einem solchen Menschen wie Schlegel, weil er Altes nehmen wollte, trotzdem er einsah: der Mensch muß wiederum sich einen Blick an­eignen für das Unsichtbare, das unter uns herumgeht. Aber unsere Zeit ist eine Aufforderung, den Blick hinzurichten auf dieses Unsicht­bare. Unsichtbare Mächte waren immer da, so wie Schlegel das ahnt; unsichtbare Mächte haben mitgearbeitet und mitgewirkt an dem, was in der Menschheit sich vollzieht. Die Menschheit aber muß sich ent­wickeln. Das ging bis zu einem gewissen Grade, daß in den letzten Jahrhunderten die Menschen keine Rücksicht genommen haben auf die übersinnlichen, unsichtbaren Kräfte zum Beispiel im sozialen Leben. In Zukunft wird das nicht gehen. In der Zukunft wird das gegenüber den realen Verhältnissen nicht gehen. Viele Beispiele könnte ich dafür anführen; eines will ich anführen.

Ich habe von andern Gesichtspunkten aus im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte darüber gesprochen. Wer das soziale Verhält­nis in Europa betrachtet, wie es sich herausgebildet hat seit dem 8., 9. Jahrhundert, der weiß, daß verschiedenes in die Struktur des europäischen Lebens hineingearbeitet hat, in dieses komplizierte europäische Leben, das im Westen sich behalten hat das athanasia­nische Christentum, das zurückgeschoben hat, wie ich das vor Wo­chen hier gesagt habe, nach dem Osten ein älteres Christentum, das urverwandt ist mit asiatischen Traditionen: das russische Christen­tum, das orthodoxe Christentum; das im Westen ausgebildet hat - indem es allmählich einen Gliedkörper geschaffen hat aus dem kon­servierten Romanentum mit dem neu auflebenden Germanentum und Slawentum in Europa - die verschiedenen europäischen Glieder dieses europäischen sozialen Ganzen, einen komplizierten Organismus. Man konnte sich bis jetzt in ihm bewegen, indem man dasjenige, was un­sichtbar in ihm lebte, unberücksichtigt ließ; denn die Konfiguration Europas, sie hat viel Kraft in ihrer Struktur. Aber eine wichtige, we­sentliche Kraft in dieser Struktur ist unter anderem das Verhältnis, in dem Frankreich zum übrigen Europa gestanden hat. Ich meine jetzt nicht bloß das politische Verhältnis, ich meine das ganze Verhältnis von Frankreich zum übrigen Europa und verstehe darunter alles dasjenige, was irgendein Europäer irgendeinem, der sich zum französischen

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Wesen rechnet, gegenüber fühlen konnte im Laufe der Jahrhunderte, seit dem 8., 9. Jahrhundert. Es besteht das Eigentümliche, daß, soweit das Verhältnis des übrigen Europa zu Frankreich in Be­tracht kommt, das Verhältnis des übrigen Europa zu Frankreich in Sympathie- und Antipathiegefühlen sich ausdrückt. Wir haben es zu tun mit Sympathie und Antipathie. Aber so ist es mit einem reinen Phänomen des physischen Planes. Man kann verstehen, was in Europa hereingespielt hat zwischen Frankreich und dem übrigen Europa in bezug auf Menschenverhältnisse, wenn man studiert, was Herzen, was Menschenseelen ausleben auf dem physischen Plan. Was jeden­falls außerhalb Frankreichs sich für Frankreich entwickelt hat, ist zu verstehen nach Verhältnissen des physischen Planes. Daher hat es nichts geschadet - andere Verhältnisse in Europa waren in den letzten Jahrhunderten ähnlich -, wenn man versäumt hat zu sehen, was an übersinnlichen Mächten in die Dinge hineingespielt hat, weil die Sympathien und Antipathien nach den Verhältnissen des physischen Planes eingestellt waren.

Vieles von dem, was durch Jahrhunderte so gespielt hat, wird anders werden. Wir stehen vor mächtigen Umwälzungen, auch in bezug auf die innersten Verhältnisse, die über die europäische soziale Struktur hingehen. Man darf nicht glauben, daß es leichten Herzens hingesprochen war, wenn ich jetzt wiederholt darauf aufmerksam ge­macht habe, daß die Dinge wichtiger zu nehmen sind, als man heute geneigt ist, es zu tun. Wir stehen vor mächtigen Umwälzungen, und notwendig wird es sein, daß in der Zukunft die Menschen ihr Auge, ihr Seelenauge richten auf geistige Verhältnisse; denn man wird nach bloßen Verhältnissen des physischen Planes nicht mehr verstehen können, was sich abspielt. Man wird es nur verstehen können, wenn man geistige Verhältnisse wird in Betracht ziehen können. Was sich im März abgespielt hat - der Sturz des Zarentums -, das hat einen metaphysischen Charakter. Man kann es nur verstehen, wenn man den metaphysischen Charakter ins Auge faßt.

Wir sind unter uns, solche Dinge können unbefangen besprochen werden. Warum gab es denn überhaupt ein Zarentum? Die Frage kann in einem höheren Sinne aufgefaßt werden als im äußeren trivialhistorischen

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Sinne. Warum gab es denn überhaupt ein Zarentum? Wenn man absieht von einzelnen pazifistischen Querköpfen, die in den Firlefanzereien des zaristischen Friedensmanifestes etwas Ernst­haftes gesehen haben, dann muß man sagen: Selbst diejenigen, welche aus allerlei Gründen mit dem russischen Reiche sich gestellt haben -, das Zarentum haben sie nicht geliebt! Und diejenigen, die es geliebt haben, bei denen war die Liebe sicherlich nicht sehr echt. Warum gab es denn überhaupt ein Zarentum? Es gab ein Zarentum - ich will es jetzt paradox ausdrücken, etwas extrem -, damit Europa etwas zu hassen hatte. Diese Kräfte des Hasses waren notwendig aufzubringen. Es gab ein Zarentum, und das Zarentum benahm sich so, wie es sich benahm, damit Europa etwas zu hassen hatte. Diesen Haß brauchte Europa als den Vorspann zu etwas anderem. Der Zar mußte dasein, um zunächst den Punkt abzugeben, auf den sich der Haß konzentrierte; denn eine Welle des Hasses bereitete sich vor, die nach diesen Tagen auch schon äußerlich beurteilt werden kann. Dasjenige, was sich jetzt abspielt, wird sich in mächtige Hassesgefühle umwandeln, die nicht mehr zu verstehen sein werden, wie die Sympathie und Antipathie von früher, wie ich auseinandergesetzt habe, nach dem physischen Plane zu verstehen sind. Denn es werden nicht bloß Menschen hassen. Mit­tel- und Osteuropa wird gehaßt werden, nicht von Menschen, sondern von gewissen Dämonen, die in Menschen wohnen werden. Die Zeit, wo Osteuropa vielleicht noch mehr gehaßt wird als Mitteleuropa, die wird schon kommen.

Diese Dinge müssen verstanden werden, diese Dinge dürfen nicht leicht genommen werden. Sie können nur verstanden werden, wenn die Menschen sich dazu aufschwingen, Zusammenhang zu suchen mit der geistigen Welt. Denn das muß doch kommen, was solche Geister wie Friedrich Schlegel schon ein wenig geahnt haben, aber wofür sie die Grundlagen und die Wurzeln eben nicht gesehen haben. Das muß kommen, daß die Dinge unbefangen ins Seelenauge gefaßt werden, da­mit der Mensch zurückschauen kann auf die letzten Jahrhunderte, auf das, was sie gebracht haben - und dann wird er mitarbeiten können an dem, was begründet werden muß.

Unter den schönen Sätzen, die sich zuweilen in den Schlegelschen

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Vorlesungen finden, ist auch der, daß es in der Entwickelung der Menschheit ankommt auf das Innere der Seele und auf die Wahr­haftigkeit im Innern der Seele, und daß schädlich ist vor allem jede politische Abgötterei. Das ist ein schöner Satz von Friedrich Schlegel. Diese politische Abgötterei, wie hat sie unsere Zeit erfaßt! Wie be­herrscht sie unsere Zeit! Und die politische Abgötterei hat sich selber ein schönes Symptom geschaffen, an dem man erkennen konnte, was da ist.

Aber man muß Zusammenhänge durchschauen. Man muß es emp­finden, was in unserer Zeit lebt. Wir haben nicht die Möglichkeit - wir verstehen es, sobald wir hinblicken auf das wahre Wesen des Kopf- und Herzensmenschen -, wir haben heute nicht die Möglichkeit, wenn wir das Wissen nicht herzlich vertiefen, den Kindern dasjenige zu geben, was sie brauchen, um das Leben lebensfähig jung hindurchzuerhalten. Wir haben diese Möglichkeit noch nicht. Das muß be­gründet werden, das muß kommen. Wir können sagen, wenn wir die Dinge in ein paar Worte zusammenfassen wollen: ganz und gar nicht kann die Schulmeisterei ihre Aufgabe heute erfüllen. Was Schul­meisterei ist, das ist dem wahren Wesen des Menschen weltenfremd. Die Welt aber droht beherrscht zu werden von einem politisch ab­göttisch verehrten Schulmeister. Die Schulmeisterei, das Ungeeignet­ste zur Menschenlenkung in dem heutigen Zeitabschnitte, soll große Politik werden.

Diese Dinge sollten wenigstens einige Menschen einsehen, denn das sind Dinge, die tief zusammenhängen mit den tiefen Erkenntnissen, die man sich allein erwerben kann, wenn man ein wenig hineinzu­dringen versucht in die Geheimnisse der Menschheit. Mit Trieben und Instinkten, mit Chauvinismus und Nationalismus läßt sich heute die Welt weder begreifen noch irgendwie regieren - allein mit dem guten Willen, der eindringen will in die wahre Wirklichkeit.

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VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 13.Januar 1918

Wir haben gesehen, daß man gewissen Weltenrätseln, Menschheitsrätseln nahekommt, wenn man sich darauf einläßt, den Menschen selbst zu betrachten, aber so zu betrachten, daß man in seiner Form, die wir zunächst als eine zwiespältige Form ins Auge gefaßt haben, etwas sieht von der Auflösung des Weltenrätsels. Man kann sich gut helfen, meditativ gut helfen in bezug auf alle diese Dinge, wenn man über die Formel näher nachdenkt: Die Welt als Ganzes ist ein Rätsel, und der Mensch selbst, wiederum als Ganzes, ist seine Auflösung. - Aber natürlich muß man dann verzichten darauf, in einem Augenblicke das Weltenrätsel lösen zu wollen; denn das menschliche Leben selber, und zwar das umfängliche menschliche Leben, dasjenige, das wir erleben zwischen der Geburt und dem Tod und dann wiederum zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, das ist eigentlich die Lösung des Weltenrätsels. Also die Formel ist sehr nützlich: Die Welt ist ein Rätsel, und der Mensch ist seine Auflösung.

Wir haben gesehen, daß, wenn man die äußere physische Gestalt des Menschen ins Auge faßt, man an ihm unterscheiden kann den Kopfteil und den übrigen Teil. Den Kopfteil in seiner kugeligen Form können wir nicht nur vergleichsweise, sondern geradezu sachlich als ein Abbild des ganzen Kosmos betrachten. Wir können geradezu sagen, der ganze Sternenhimmel arbeitet daran, die Form, die Ge­staltung, die inneren Kräfteverhältnisse des menschlichen Hauptes herauszubringen. Damit hängt es natürlich auch zusammen, daß, tri­vial gesprochen, jeder seinen eigenen Kopf hat. Das hat ja der Mensch. Denn Sie wissen: je nachdem man an einem bestimmten Orte der Erde steht, oder aber je nachdem man in einer bestimmten Zeit den Sternenhimmel betrachtet, ist die Konfiguration des Sternenhimmels immer anders. Wenn man nun den Sternenhimmel nicht im allgemei­nen nimmt, sondern die besondere Gestaltung des Sternenhimmels an dem Orte und in der Zeit, in der der Mensch geboren wird, so kommt das ja heraus, daß nach dieser besonderen Gestaltung des Sternenhimmels

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ein jeder seinen eigenen, besonderen Kopf haben muß. Denn es ist nicht im allgemeinen der Sternenhimmel, der unsere Köpfe aufbaut, sondern die besondere Gestaltung des Sternenhimmels.

Also das fassen wir ins Auge, und aus den verschiedenen Betrach­tungen, die wir schon angestellt haben, kann uns ja hervorgehen, daß ein wesentlicher Teil der Aufgabe, die der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt hat, der ist, sich bekanntzumachen mit den Geheimnissen, mit den geistigen Geheimnissen des Sternenhimmels. Denn man kann in einem gewissen Sinne sogar sagen: der Kopf des Menschen, er wird uns nicht ganz passiv nur gegeben, sondern wir machen ihn selbst. Zwischen dem Tod und einer neuen Geburt wer­den wir bekannt mit all den Gesetzen, die herrschen im weiten Weltenraum. Das weite Weltenall ist ja, wenn wir es geistig denken, unser Aufenthalt nach dem Tode bis zu einer neuen Geburt. So wie wir hier auf der Erde kennenlernen die Gesetze, nach denen man Häuser baut, die Gesetze, nach denen man anderes macht, so lebt man sich ein in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in die Gesetze des Kosmos, des Weltenalls. Und man arbeitet selbst mit an dem Kosmos, und aus dem Kosmos heraus arbeitet man im Zusam­menhange mit den reinen geistigen Wesen, die den Kosmos bewoh­nen, zunächst an seinem Haupte, so daß das Haupt des Menschen, wenn es hier in der physischen Welt erscheint, nur scheinbar durch die bloße Vererbung von den Vorfahren bestimmt ist.

Ich habe in den öffentlichen Vorträgen gesagt und hier es wieder­holt, daß jeder ja überzeugt ist davon, die Magnetnadel richtet sich nicht selbst nach Norden, am andern Pol nach Süden, sondern da wirken kosmische Kräfte, da wirkt namentlich die Erde. Bei der Magnetnadel gesteht man also dem Weltenall zu, daß es mit seinen Kräften beteiligt ist; nur bei der Entstehung eines Lebewesens will man es heute noch nicht einsehen, daß das ganze Weltenall beteiligt ist. Beim Menschen ist das ganze Weltenall vorzugsweise an der Gestaltung seines Kopfes beteiligt. Dieser Kopf ist nicht bloß durch Vererbung entstanden von Vater, Mutter, Großvater, Großmutter und so weiter, sondern herein wirken die Kräfte des Weltenalls. Und von den Gliedern, von den Teilen des Menschen, wirkt die Kräftekonfiguration

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des Weltenalls vorzüglich auf dasjenige, was im Haupte, im Kopfe ist. Dagegen haben wir unsern übrigen Organismus, soweit er physisch ist, in der Tat durch eine Art Vererbung von der Vorfah­renreihe.

Dies ihrerseits auch zu entdecken, ist die Naturwissenschaft der Gegenwart sehr nahe daran. Die Naturwissenschaft der Gegenwart sträubt sich ja nur gegen diejenigen Teile der Wahrheit, welche an die Geisteswissenschaft anklingen. An manchen Punkten ist die Naturwissenschaft der Gegenwart schon ganz nahe daran, mit der Geisteswissenschaft sich zu begegnen. Ich habe es in Vorträgen in Berlin und andeutungsweise auch hier schon gesagt, daß zum Beispiel in bezug auf etwas, was man gerade in der Geisteswissenschaft immer bekämpfte, die Naturwissenschaft ganz nahe daran ist, die Sache auch zu entdecken. Die Leute, welche meine « Theosophie» lesen, finden sich oftmals geradezu besonders abgestoßen von dem Kapitel, wo ich von der Aura des Menschen spreche, davon spreche, daß der seelisch-geistige Kräfteteil des Menschen für das hellseherische Bewußtsein sich auslebt in einer Farbenaura, die den Menschen umspielt. Nun hat in der neueren Zeit Professor Moritz Benedikt in Wien, den ich in anderem Zusammenhange öfter erwähnt habe, Versuche gemacht mit Menschen, welche vorzüglich geeignet sind, die Wünschelrute zu ge­brauchen. Professor Benedikt hat nun nicht hellseherische Versuche gemacht, denn er ist sehr, sehr abgeneigt, irgendwie etwas von Hell­sichtigkeit zuzugeben, aber er hat in der Dunkelkammer Versuche gemacht mit solchen Menschen, welche vorzugsweise geeignet sind, mit der Wünschelrute, die ja in diesem Kriege eine so große Rolle gespielt hat, Versuche zu machen. Sie wissen vielleicht, daß die Wünschelrute gerade in diesem Kriege eine ganz besondere Rolle gespielt hat. Man hat in verschiedenen Heeresmassiven Leute an­gestellt, weil man ja für die Soldaten Wasser braucht und dergleichen, welche die Wünschelrute handhaben, um Quellen zu finden, die man bloßlegen kann, um dann die Soldaten mit Wasser zu verpflegen. Das wurde in südlichen Kriegsschauplätzn, auch auf dem galizischen Kriegsschauplatze, in größerem Maßstabe während dieses Krieges ge­trieben. Man hatte eben, natürlich durch die Not getrieben, solche

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Dinge machen müssen. Nun hat der Professor Benedikt ganz nach Naturforscherart solche Leute, die besonders geeignet sind, Quellen oder Metalle unter der Erde durch die Wünschelrute zu finden, dann in der Dunkelkammer untersucht, und hat zum Beispiel bei einer Dame, die ganz klein war, gefunden, als er sie in der Dunkelkammer in der richtigen Weise behandelte: wie sie eine mächtige Aura zeigte, so daß sie wie ein Riese erschien. Er konnte sogar beschreiben, daß die rechte Seite bläulich, die linke Seite gelblich-rötlich ist.

Das alles können Sie heute bei Professor Benedikt, der die Sache veröffentlicht hat, in seinem Buche über die Wünschelrute lesen als ein Ergebnis der äußeren Wissenschaft. Es ist die Aura, die der Pro­fessor Benedikt auf diese Weise beobachtete - ich habe das bereits bei früheren Gelegenheiten erwähnt -, nicht jene Aura, von der wir sprechen. Wir meinen viel geistigere Elemente im Menschen, wenn wir von der Aura sprechen, als diese unterste, fast physische Aura, die Professor Benedikt natürlich in der Dunkelkammer finden kann. Aber eine Berührung ist doch da, so daß gerade derjenige Teil meiner «Theosophie», der am meisten Anfechtung erfahren hat, über den man am meisten geschimpft hat, jetzt schon seine Berührungspunkte mit der äußeren Wissenschaft erwiesen hat. Die Dinge werden sehr schnell gehen.

Und ebenso wird es mit dem gehen, was ich eben jetzt berührt habe. Man wird in gar nicht zu langer Zeit aus rein naturforscherischen Gründen feststellen können, daß dasjenige, was der Mensch an sich trägt, nur abstammt von den Vorfahren, insoweit es nicht die Form und die inneren Kräfteverhältnisse des Hauptes ist; daß das Haupt in der Tat im Menschen veranlagt wird aus dem Kosmos heraus, daß im Haupte des Menschen die Kräfte des Kosmos spielen. Wenn wir unserem Kopfe allein folgen würden, wären wir auch niemals national. Der Kopf ist gar nicht dazu veranlagt, national zu sein, denn der Himmel ist nicht national, und der Kopf stammt aus dem Himmel. Alles dasjenige, was in unsere Gedanken hineinspielt von Teilungen der Menschen in Gruppen, das kommt nicht aus dem Kopfe, das kommt aus demjenigen, wodurch wir zusammenhängen mit der menschheitlichen Vererbungsströmung. Die spielt natürlich in den

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Kopf hinein, wenn der Mensch hier zwischen Geburt und Tod lebt, denn der übrige Organismus tauscht seine Nervenkräfte und seine Blutkräfte mit dem Kopfe fortwährend aus.

Wenn wir aber von der Vererbung sprechen, daß also der Teil des Menschen, der außer dem Haupt liegt, seine Kräfte von den Vor­fahren erhält, so müssen wir eigentlich nur von dem Physischen sprechen, denn mit dem geistigen Teil des übrigen Menschen ist es etwas anders. Und da ist es sehr wichtig, daß man allerdings jetzt eine Tatsache ins Auge faßt, die nur die Geisteswissenschaft wird ent­decken können: Also, daß der Kopf nur beeinflußt wird dadurch, daß er von der Vererbung dem übrigen Organismus aufgesetzt ist, das wird die Naturwissenschaft entdecken, wie sie die Aura entdeckt hat. Daß der Mensch nur in bezug auf seinen übrigen Organismus verwandt ist mit seinen Vorfahren, das wird auch die Naturwissen­schaft entdecken. Aber das andere berührt ein Gebiet, in das die Naturwissenschaft ohne weiteres natürlich nicht hinein kann. Das ist das Folgende: Wir tragen in unserem Kopfe, indem wir geboren werden, die Kräfte des Weltenalls; die gestalten unseren Kopf. Ein wenig läßt es sich äußerlich allerdings konstatieren. Wer Kinder beobachtet in ihrer Entwickelung, der wird vielleicht wissen, daß in der allerersten Zeit oftmals gefragt werden kann: Wem ist denn das Kind eigentlich ähnlich? - Und die Ähnlichkeit tritt oftmals erst im späteren Kindesalter stark hervor. Wenigstens einige von Ihnen wer­den das schon beobachtet haben. Das rührt eben davon her, daß der Kopf überhaupt - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf - mit Bezug auf die irdischen Verhältnisse neutral ist; der übrige Organis­mus muß erst seine Wirkung auf den Kopf äußern, kann sie natürlich auch schon äußern während der Embryonalzeit, aber er muß erst seine Wirkung auf den Kopf äußern, dann wird der Mensch seinem Vorfahren ähnlich auch in bezug auf Gesichtszüge und dergleichen.

Also durch solche Dinge kann man die Wahrheit, die auf diesem Gebiete liegt, selbst äußerlich beobachten, wenn man einen einiger­maßen empfänglichen Sinn für so etwas hat. Aber die Sache liegt tiefer. Dasjenige, was den Vermittler abgibt zwischen dem geistigen Weltenall - denn das Weltenall ist mit Geist und Geistwesen erfüllt

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und der Erde, wo wir wohnen, das ist nicht in Ruhe; da strömt fort­während eine feine Substanz, die man nicht im chemischen Laborato­rium erzeugen kann, weil sie nicht zu den chemischen Elementen gehört. Diese feine Substanz strömt fortwährend aus dem weiten Weltenall auf die Erde ein. So daß, wenn man das schematisch zeich­nen will, man so sagen kann: Wenn hier die Erde ist im Weltenraume (siehe Zeichnung), so strömt fortwährend von allen Seiten auf die Erde Weltenmaterie ein, eine feine Weltensubstanz (Pfeile einwärts); diese feine Substanz dringt sogar etwas unter die Erde hinein. So daß fortwährend dies da ist: Aus dem ganzen Weltenraume senkt sich Substanz gegen die Erde hinein. Es ist eigentlich nicht physische Substanz, es ist nicht ein chemisches Element, es ist etwas Geistiges, aber es ist wirkliche aurische Substanz, die sich bis unter den Boden der Erde hineinzieht. In dieser Substanz liegen die Kräfte, die wir benützen, wenn wir aus der geistigen Welt heruntergehen auf die Erde, um in einem physischen Menschenleib Platz zu finden.

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Nun ist es bedeutsam, daß diese Substanz, welche zur Erde strömt und von der Erde wieder fortströmt, daß diese Substanz, wenn sie fortströmt von den Menschen, wenn sie sterben, benützt wird, um

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wiederum die Kräfte zu finden, in die geistige Welt hineinzukommen. Diese Materie, die ich hier im Zuzuge zur Erde einwärts angedeutet habe, die geht bis zu einer gewissen Tiefe in den Erdboden hinein, strömt dann wiederum fort (siehe Pfeile nach auswärts); so daß man fortwährend wahrnehmen kann eine Art Einatmen von Äther oder aurischer Substanz in die Erde, und wieder ein Ausatmen.

Es ist dieses eine Beobachtung, die man nicht so leicht machen kann. Aber wenn man sie einmal gemacht hat, wenn man einmal darauf gekommen ist, daß die Erde eigentlich fortwährend geistige Substanz einatmet und ausatmet, dann weiß man sie auf alle Verhält­nisse und vor allen Dingen so auf das menschliche Leben anzu­wenden, wie ich es jetzt gesagt habe. Also mit dem, was ich hier in der Zeichnung mit Pfeilen einwärts angedeutet habe, kommen wir herein in unsere Leiblichkeit; mit dem, was ich mit Pfeilen auswärts angedeutet habe, kommen wir wiederum heraus im Tode.

Wir sind unter uns und ich brauche nicht zurückzuhalten mit man­chen Dingen. Deshalb will ich in diesem Falle erzählen, wie ich vor Jahren zuerst auf diese Tatsache gekommen bin. Diese Kräfte, die da spielen, die hereinziehenden und herausziehenden Kräfte, haben nämlich nicht nur mit dem menschlichen Leben zu tun, sondern mit allen möglichen irdischen Verhältnissen. Nun war es für mich ein besonderes Rätsel, wie die Sache sich vollzieht mit den Maikäfern, verzeihen Sie, mit den Maikäfern. Die Maikäfer sind nämlich außer­ordentlich interessant, weil, Sie wissen ja vielleicht äußerlich, wenn in einem Jahre recht viele Maikäfer da sind, so sind in drei bis fünf Jahren recht viele Engerlinge da - das sind die Larven von den Maikäfern -, und diese Engerlinge beeinträchtigen die Kartoffelernte außerordentlich stark. Man bekommt sehr schlechte Kartoffelernten, wenn viele Engerlinge da sind. Und der Mensch, der mit Kartoffelbau etwas zu tun hat, der weiß, daß in drei bis fünf Jahren eine schlechte Kartoffelernte sein wird, wenn in einem Jahre recht viele Maikäfer da sind. Nun hatte ich das als eine interessante Tatsache betrachtet und habe dann gefunden, daß mit den einströmenden Substanzen das Leben der Maikäfer zusammenhängt, mit den ausströmenden Sub­stanzen das Leben der Engerlinge. Ich will das nur betonen als eine

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Sache, aus der Sie sehen können, wie man von ganz andern Seiten her auf solche Dinge kommt. Man kommt am sichersten auf solche Dinge, wenn man sie nicht am unmittelbaren Objekte betrachtet, sondern wenn man sie an einem verhältnismäßig gleichgültigen Objekte be­trachtet, zu dem man sich am leichtesten neutral verhalten kann. Daraus aber ersehen Sie, daß diese Substanzen, von denen ich ge­sprochen habe, eindringen, sogar eine Weile unter der Erde bleiben. Die Substanz, die dies Jahr einströmt, die strömt erst nach einiger Zeit wiederum zurück. Das hängt nun auch damit zusammen, daß im all­gemeinen die ausströmende Substanz träger ist als die einströmende Substanz. Die einströmende Substanz ist lebhafter, strömt rascher ein; die ausströmende Substanz ist träger, strömt langsamer aus.

Man kann, wenn man intim das Menschenleben beobachtet, sehen, wie in der Tat der Mensch, wenn er aus dem Weltenall zur Geburt geht, die Kräfte benützt, die in der einströmenden Substanz sind. Dann verliert er im späteren Lebensalter den Zusammenhang mit dieser einströmenden Substanz. Es ist ja vorzugsweise, wie Sie aus den Betrachtungen ersehen, der Kopf, der mit dieser einströmenden Substanz zu tun hat. Aber der menschliche Kopf ist eine harte Kugel. Er ist ja eine harte Kugel, und er ist dasjenige, das im Umkreis von allen unseren Organen am meisten verknöchert ist. Daher verliert er verhältnismäßig früh - nicht im Kindesalter, aber verhältnismäßig früh - den Zusammenhang mit diesen einströmenden Kräften. Deshalb auch ist seine Bildung, seine Entwickelung früh abgeschlossen.

Der Mensch steht in seinem Kindheitsalter mit diesen einströmenden Kräften auch noch weiter fort in Verbindung, aber dann hören sie auf, auf ihn einen Einfluß zu haben; wenigstens ist es in unserem Zeitenzyklus so. Es war nicht immer so auf der Erde - davon werde ich gleich nachher reden -, in unserem Zeitenzyklus ist es so. Während aber der Mensch Her auf der Erde lebt, bemächtigt sich sein übriger Organismus, außerhalb des Kopfes, der ausströmenden Substanzen, der Kräfte der ausströmenden Substanzen. Mit denen durchdringt sich der übrige Organismus; und das sind die Kräfte, die den übrigen Organismus, wenn sie beachtet werden, von außen her verjüngen können, wie ich das gestern angedeutet habe. Das sind die verjüngenden

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Kräfte, die auf den Ätherleib wirken, der nun wirklich, indem wir äußerlich physisch alt werden, wie ich gestern gesagt habe, immer pausbackiger und pausbackiger wird. Für diejenigen aus­ländischen Freunde, die das Wort «pausbackig» nicht verstehen, will ich bemerken, daß das die Backen der Kinder sind, die so gerundet sind, wie Sie das so ähnlich bei blasenden Engeln auf Bildern sehen; so haben diese Organe künstlich aufgetriebene Pausbacken. Also der Mensch wird pausbackig als Äthermensch. In diesem Prozesse, den der Ätherleib, der mit dem übrigen Leib zusammenhängt, durchmacht, da wirken die von der Erde ausströmenden Kräfte, und die sind es auch, die wir benützen, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen, um wiederum zurückzukehren in den Kosmos, in die geistige Welt hinein.

Sie sehen, die Erde ist an unserem Leben beteiligt, innig beteiligt. Und mit alldem, was ich jetzt gesagt habe, hängt etwas zusammen, das man sehr leicht auf eine Formel bringen kann, auf eine wichtige, wesentliche Formel: Wir sind ja lange Zeit als Seele lebend zwischen Tod und neuer Geburt, bevor wir durch diese Geburt ins physische Leben eintreten; wir sind wiederum als Seele lebend, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, bis zu unserer nächsten Welteninkarnation. Der Tote lebt ein geistiges Leben. Dieses geistige Leben hat nun seinen Zusammenhang mit den Sternen, wie wir Her mit der physischen Materie unseren Zusammenhang haben. Indem unser Haupt die Ausgestaltung der Kräfte ist, die wir durchleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, indem wir gewissermaßen unseren Kopf aus den Weltenkräften aufbauen, findet unser Wesen, unser eigenes Wesen, unser seelisch-geistiges Wesen in unserem Haupte verhältnismäßig früh sein Geistgrab. Dadurch haben wir die Kräfte unseres Kopfes, die wir hier auf der Erde haben, daß unser Kopf eigentlich das Grab unseres Seelenlebens ist, wie wir es geführt haben vor der Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis. Unser Kopf ist das Grab unseres geistigen Daseins. Aber indem wir her­untergestiegen sind auf die Erde, ist unser übriger Organismus ge­eignet, uns wieder auferstehen zu machen, indem er die Kräfte, die von der Erde in den Weltenraum hinaus zurückströmen, aufnimmt,

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um sein Geistiges zu bilden. Und während unser physischer Orga­nismus von uns abfällt, geht unser Geistiges mit unseren Kräften, die von der Erde hinausströmen, durch den Weltenraum ins geistige Dasein.

Dies ist die wunderbare Polarität, die mit Bezug auf den Menschen im Weltenall herrscht. Wir werden aus dem Geiste physisch, indem wir unser Geistiges in den Kopf hinein begraben; im Haupte ist das Ende unseres geistigen Daseins vor der Geburt. Hier auf der Erde ist es umgekehrt: das Physische lassen wir zurück; das Physische geht allmählich zugrunde während des Lebens, und das Geistige steht auf. So daß wir sagen können: Geburt bedeutet die Auferstehung des Physischen mit der Verwandlung des Geistigen in das Physische; Tod bedeutet die Geburt des Geistigen, indem das Physische ebenso der Erde übergeben wird, wie das Geistige dem Weltenall übergeben wird dadurch, daß wir geboren werden. Dadurch, daß wir geboren werden, übergeben wir unser Geistiges dem Weltenall; dadurch, daß wir sterben, übergeben wir unser Physisches dem Weltenall. Dadurch, daß wir durch die Geburt unser Geistiges dem Weltenall geben, sind wir physische Menschen. Dadurch, daß wir durch den Tod unser Physisches der Erde übergeben, sind wir geistige Menschen in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das ist die Polarität, der Gegensatz. Und unser Leben hier besteht darinnen, daß wir unseren Geistorganismus ausbilden. Aber wir können ihn für unseren gegenwärtigen Erdenzyklus nur in der richtigen Weise ausbilden, wenn das berücksichtigt wird, was ich gestern auseinandergesetzt habe: wenn man es erreicht, daß die beiden zwiespältigen Glieder der Menschennatur miteinander wirklich in Korrespondenz treten, daß Kopfleben und Herzleben miteinander in Beziehung treten, daß wirk­lich das kürzere Kopf leben sich einlebt in den ganzen Menschen, so daß der ganze Mensch sich dann verjüngen kann während des Lebens, das er zu durchleben hat, wenn im Grunde genommen sein Kopf längst schon die Beweglichkeit, die innere Entwickelungsfähigkeit verloren hat.

Das wird die Aufgabe insbesondere der Erziehungswissenschaft in der Zukunft sein, anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft

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so fruchtbar zu machen, daß der Mensch durch allerlei Erzählungen, durch allerlei Dinge, die für die Jugend auch geeignet sind - aber so geeignet sind, daß man das ganze Alter hindurch Interesse für sie behalten kann -, daß der Mensch eine Empfindung erhält, wie er aus dem Weltenall heraus gebaut ist, wie er wirklich sich auch aus dem Weltenall herausschält und wie er wiederum dasjenige, was er sich hier auf der Erde erwirbt, an das Weltenall zurückgibt. Ich bitte Sie, nur eines so recht - ich sage nicht, zu durchdenken, denn das nützt nicht viel, sondern ich sage: durchzuempfinden, durchzufühlen -, eines so recht durchzufühlen. Auch da ist wiederum ein Punkt, wo die Naturwissenschaft sich heute schon berührt mit dem, was geisteswissenschaftlich erforscht werden kann. Ich habe schon erwähnt, wie einsichtige Geologen ja bereits es ausgesprochen haben, daß die Erde auf ihrem Aussterbeetat bereits ist. Die Erde hat den Punkt über­schritten, wo sie als Erdenwesen eigentlich in der Mitte ihres Lebensalters war. In dem ausgezeichneten Buch «Das Antlitz der Erde» von Eduard Sueß können Sie es lesen, wie der Geologe, der rein materialistische Geologe Sueß ausführt, daß, wenn man heute über Äcker geht, Ackerschollen ins Auge faßt, man es zu tun hat mit etwas Ab­sterbendem, das früher anders war. Es ist absterbend. Die Erde stirbt ab. Wir wissen das aus der Geisteswissenschaft, weil wir wissen, daß sich die Erde verwandeln wird in ein anderes planetarisches Dasein, das wir das Jupiterdasein nennen. Die Erde als solche also stirbt ab. Aber der Mensch, beziehungsweise das Menschengeschlecht als Summe von seelischen Wesen, stirbt nicht mit der Erde, sondern das lebt über die Erde hinaus, wie es in der Weise, wie ich es beschrieben habe in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß», gelebt hat, bevor die Erde Erde war. Und so kann man sich - wie gesagt, nicht ge­dankenmäßig, sondern empfindungsgemäß, gefühlsmäßig - durch­dringen mit der Vorstellung: Ich stehe hier auf diesem Erdboden; aber dieser Boden, auf dem ich stehe, in dem ich mein Grab finden werde, dieser Boden, der ist ein Vergängliches im Kosmos.

Wodurch entsteht denn aus dieser Erde eine nächste Erde, ein neuer Planet, den die Menschheit in der Zukunft bewohnen wird? Wodurch entsteht das? Das entsteht dadurch, daß wir selbst Stück um

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Stück zu diesem neuen planetarischen Dasein herantragen. Wir als Menschen - das Tierreich ist etwas mit daran beteiligt - bereiten hier während unseres physischen Lebens, indem wir immer schon an uns tragen, was eigentlich für das nächste Leben erst bestimmt ist, wir bereiten schon während des physischen Lebens den nächsten Plane­ten, der sich an das Dasein der Erde anschließen wird, vor. In den Kräften, die wieder zurückgehen, liegt dasjenige, was Zukunft der Erde ist. Wir leben nicht bloß in der Gegenwart der Erde, wir leben in der Zukunft der Erde, müssen nur wiederum zurückkehren in unsere Inkarnation, weil wir eben noch verschiedenes auf der Erde, soweit sie roch bestehen wird, zu absolvieren haben. Aber wir leben mit in der Zukunft der Erde. Die Erde atmet, haben wir gesagt, Geistessubstanz ein und aus. In der eingeatmeten Substanz tragen wir die Vergangenheit und die Gesetze der Vergangenheit, die Kräfte der Vergangenheit. In dem Ausgeatmeten, das die Erde wieder zu­rückgibt, tragen wir an der Zukunft in uns. In dem Menschen­geschlecht selbst ruht die Zukunft des Erdendaseins.

Denken Sie sich dieses recht gefühlsmäßig, liebevoll fruchtbar ge­macht, anstatt all der törichten Dinge, die heute der Jugend über­mittelt werden; denken Sie sich in Hunderten und aber Hunderten von lebendigen Erzählungen, Parabeln, dieses belebt und der Jugend beigebracht. Dann denken Sie sich, was der Mensch für ein Gefühl gegenüber dem Weltenall erhält, was zu tun ist. Was zu tun ist, wenn unsere Kultur vorwärtskommen soll, im Konkreten zu tun ist. Das ist sehr wichtig, in Betracht zu ziehen. Und es kann um so mehr in Betracht gezogen werden, als ja dasjenige damit zusammenhängt, was ich die Verjüngung des Menschen genannt habe. Daß die heutige Menschheit zu solchen Kalamitäten gekommen ist, das hängt ja damit zusammen, daß sie verloren hat das Geheimnis, das Kopfleben in das Herzensleben umzuwandeln. Wir haben fast gar kein wirkliches Herzensleben. Das, wovon man gewöhnlich redet, ist das Triebleben, Begierdeleben, rein dieses, nicht das Geistige, von dem wir ge­sprochen haben. Der Mensch läßt heute dasjenige, was ins Weltenall hinausströmt, ruhig hinausströmen, bekümmert sich nicht darum. Er beachtet es nicht.

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Einzelne beachten es instinktiv. Ich habe das als Beispiel angeführt in diesen Tagen, wie einzelne instinktiv das beachten, dadurch aber sich von andern vielfach unterscheiden. Sie erinnern sich - ich habe den Vergleich angeführt zwischen Zeller und Michelet, den zwei Berliner Professoren -, ich habe gesagt, daß ich mit Eduard von Hart­mann über die beiden Herren gesprochen habe in dem Momente, als eben Zeller sich hat pensionieren lassen, weil er mit zweiundsiebzig Jahren sich nicht mehr fähig fühlte, seine Universitätsvorlesungen zu halten. Aber Michelet war eben dreiundneunzig Jahre alt. Und Hart­mann erzählte: Jetzt war der Michelet da, und er hat mir eben gesagt: Ich begreife den Zeller nicht, der ist jetzt erst zweiundsiebzig Jahre alt, der sagt, er kann nicht mehr vortragen. Ich bin bereit, noch zehn Jahre vorzutragen! - Und dabei sprang er im Zimmer herum und freute sich, was er alles im nächsten Jahr vortragen werde und konnte nicht begreifen, wie der Knabe Zeller, der zweiundsiebzig Jahre alte Zeller darauf Anspruch machte, pensioniert zu werden und nichts mehr zu den Studenten zu reden.

Dieses Jungbleiben, das ist eben etwas, was zusammenhängt damit, daß eine richtige Wechselwirkung stattfindet zwischen Kopf und Herz. Das kann natürlich beim einzelnen Menschen sich mal voll­ziehen; aber im ganzen kann es sich auch beim einzelnen Menschen nur richtig vollziehen, wenn es übergeht in unsere Kultur, wenn unsere ganze Kultur durchdrungen wird von dem Prinzip, nicht bloß Kopf-leben zu haben, sondern auch Herzensleben zu haben. Aber das Her­zensleben zu bekommen, dazu gehört mehr Geduld, trotzdem es fruchtbarer ist, verjüngen der ist für das Leben, es gehört mehr Ge­duld dazu, als das Kopfleben zu haben. Kopfleben - sehen Sie, man setzt sich hin und ochst. Wir werden ja in der Jugend trotz aller Rederei der Pädagogen vorzugsweise zum «Ochsen» angehalten. Denn aus früheren Zeiten, wo die Dinge noch atavistisch gewußt waren, haben sich ja einzelne Gewohnheiten erhalten, aber die Leute verbinden keinen rechten Sinn mehr mit solchen Gewohnheiten. Ich will Sie an eine solche Gewohnheit erinnern.

Alles, was aus verhältnismäßig noch gar nicht so alten Zeiten sich herauf erhalten hat, bevor der Materialismus vollständig geworden ist,

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das hat einen tieferen Sinn. Nur hat sich in den letzten Jahrzehnten sogar schon die Sache verloren, aber als ich noch jung war - es ist lange her - da hatte man zum Beispiel im Gymnasium die Einrichtung, im Untergymnasium in der zweiten Klasse Geschichte des Altertums zu haben; dann in der fünften Klasse hatte man wieder Geschichte des Altertums. Diejenigen, die damals solche Gesetze gehandhabt haben, wußten schon nicht mehr, worum es sich eigentlich handelte, und die Lehrer, die diese Sache handhabten, die handhabten sie schon wirklich nicht so, daß sie ein Bewußtsein mit der Vernunft der Sache ent­wickelt hätten. Denn, wer ein Bewußtsein davon gehabt hätte, der hätte sich gesagt: Wenn ich dem Jungen, der in der zweiten Klasse ist, Geschichte beibringe, so ochst er sie; aber dasjenige, was er da auf­nimmt, das braucht nun ein paar Jahre, bis es sich in seinen Organis­mus einlebt. Daher ist es gut, in der fünften Klasse dasselbe wiederum vorzunehmen, denn da erst trägt auch dasjenige, was vor drei, vier Jahren in diesen armen Kopf hineingegangen ist, seine guten Früchte.

Die ganze Struktur des alten Gymnasiums war eigentlich auf diese Dinge aufgebaut. Die mittelalterlichen Klosterschulen hatten vielfach noch Traditionen, die aus alter Weisheit hervorgegangen waren, die nicht die unsrige ist, aber die atavistisch aus alter Zeit aufbewahrt worden ist und die dann solche Einrichtungen getroffen hat, die ver­nünftig waren. Es braucht eben das Prinzip der Geduld, wenn Kopf-leben in Herzensleben übergehen soll. Denn das Kopfleben vereinigt sich schnell mit dem Menschen, das Herzleben geht langsamer, das geht träger vor sich, da muß man abwarten. Und man will doch heute alles gleich verstehen. Denken Sie einmal, ein Mensch soll heute sich hingeben müssen der Empfindung: er lernt etwas, und dann, um es vollständig zu verstehen, soll er ein paar Jahre warten. Na, es ist in unserem Zeitalter mit den Empfindungen der Menschen kaum zu ver­einen, solch ein Prinzip.

Mit den Empfindungen der Menschen ist gegenwärtig manches andere zu vereinen. Dafür kann man ja Beispiele erleben, und es ist gut, auf solche Beispiele hinzuweisen. Von zwei unserer Gesell­schaft nahestehenden Persönlichkeiten sind jetzt Stücke aufgeführt worden in Zürich, und es ist vielfach hingedeutet worden, daß die betreffenden

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Persönlichkeiten in Beziehungen stehen zu dem Dornacher Bau, zur Geisteswissenschaft und so weiter, und man muß in diesem Falle sagen, um ganz gerecht zu sein: diese Zürcher Aufführungen von Pulver und Reinhart sind eigentlich innerhalb der Schweiz sehr gut behandelt worden. Aber Merkwürdiges kann man erleben an den Korrespondenzen, die aus der Schweiz hinausgegangen sind. Die aus­wärtigen Korrespondenten haben sich weniger, na, sagen wir, weniger interessant benommen als in diesem Falle die schweizerischen Be­obachter selber. So ist mir eine Zeitung gegeben worden, in der diese zwei Schweizer Uraufführungen von Pulver und Reinhart besprochen werden, in der sich der betreffende Korrespondent auch nicht ver­kneifen kann, darauf aufmerksam zu machen, daß die betreffenden Persönlichkeiten mit unserer Bewegung in Beziehung stehen und manches aus unserer Bewegung entnommen haben. Aber heute hat man ja nicht nur die Furcht, nicht wahr, vor dem «falschen Einreden der Gnosis», wie ich das gestern erwähnt habe, sondern man hat die Furcht überhaupt vor dem Geistesleben. Wenn irgend etwas von Weltanschauung in etwas hineinspielt, oh, das ist schrecklich! Und das hängt namentlich damit zusammen, daß man gar keine Empfindung hat für diese Beziehung von Kopfleben und Herzensleben. Es ist alles außer dem Kopfe heute in der Menschheit vorhandene Leben reines Trieb- und Begierdeleben; es ist nicht geistig. Daher reibt sich das Begierde- und Instinktleben mit dem bloßen Kopfleben. Das Kopfleben ist ja sehr geistig heute, ist ja sehr spirituell; aber es wird immer­fort und fort - ich weiß nicht, ob man das sagen kann, aber wahr ist es doch -, es wird immerfort verunreinigt von dem Trieb- und Instinktleben. Daher kommen die Gedanken in einer kuriosen Weise heraus. Und dieser Korrespondent, den ich da anführe, dessen von seinen Instinkten konfus gewordenen Kopf können Sie vielleicht am besten beurteilen, wenn ich Ihnen seine Furcht, daß in diesen Stücken der zwei Herren «Weltanschauungsfragen» spielen, aus einem charakteristischen Satze lese. Denken Sie, der Mann bringt es fertig, folgen­des zu schreiben:

«Aber Pulvers Christus-Glaube müßte, wollte er von der Bühne herab Jünger werben, aus Tiefen des Leids und Zweifels erwachsen.

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Die Sternblume, die Reinharts Paradiesessucher gleich im ersten Bilde sich am Fenster seines Studiergemaches gepflückt, sollte erst am Ende und aus blutendem Herzen erblühen.» Und nun kommt der Satz, den ich meine: «Beide Dichter hatten ihre Weltanschauung schon fertig im Kopfe, als sie zu dichten begannen; es wäre für ihre Dramen besser gewesen, sie hätten sich erst im Schreiben ihre Religion zu erringen gehabt.»

Also nun denken Sie sich das einmal: Man bringt es heute fertig, das als einen Hauptfehler anzugreifen, daß jemand mit einer Weltanschau­ung anfängt zu schreiben! Man soll sich also hinsetzen als ein Waisenknabe gegenüber der ganzen Welt, soll darauf losschmieren, und im Losschmieren soll am Ende dann eine Weltanschauung herausspringen. Dann bringt man die Sache aufs Theater, und dann soll es den Leuten gefallen! Denken Sie, solch närrisches Zeug wird heute in der Welt tatsächlich verbreitet; und viele Menschen merken das nicht, daß solch närrisches Zeug in der Welt verbreitet wird.

Solche Dinge hängen eben damit zusammen, daß das Leben des Kopfes nicht verarbeitet wird von dem ganzen Menschen. Denn selbstverständlich ist auch der Artikelschreiber, der dieses geschrieben hat, ein sehr «gescheiter Mensch». Das soll gar nicht bezweifelt wer­den, ein sehr gescheiter Mensch ist er schon; aber es nützt eben nichts, gescheit zu sein, wenn die Gescheitheit bloß Kopfleben ist. Das ist das Wichtige, was man ins Auge fassen muß; das ist außerordentlich wichtig.

Hier rühren wir an ein Fundament, das für unsere gegenwärtige Kultur notwendig ist. Man kann ja auf Schritt und Tritt, möchte ich sagen, solche Beobachtungen machen. Logische Entgleisungen wer­den heute nicht deshalb gemacht, weil die Leute keine Logik haben, sondern weil es nicht genügt, Logik zu haben. Man kann ein wunderbar logischer Kerl sein, seine Examina großartig machen, ein glänzen­der Universitätsprofessor meinetwillen der Nationalökonomie oder irgendeiner andern Sache sein, und man kann, trotzdem man ein sehr gescheiter Kerl ist, alle mögliche Logik im Kopfe hat, dennoch Ent­gleisung über Entgleisung leisten, indem man nichts zustande bringt, was mit dem wirklichen Leben zusammenhängt, wenn man nicht die

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Geduld hat, das, was vom Kopfe erfaßt wird, überzuleiten in den gan­zen Menschen, wenn man nicht Geduld hat, an die verjüngenden Kräfte in der Menschennatur zu appellieren. Das ist, um was es sich handelt. Wer wirklich mit wahrer Wissenschaft, wie Geisteswissen­schaft es ist, zu tun hat, sich zu tun macht, der weiß, daß er sich schä­men würde, etwas, das er heute gefunden oder heute gelernt hat, gleich morgen vorzutragen, weil er weiß, daß das gar keinen Wert hat. Es hat erst einer Wert nach Jahren. Der gewissenhafte Geistesforscher kann nicht so vortragen, daß er das bringt, was er erst in der aller­letzten Zeit etwa gelernt hat, sondern er muß die Dinge immer wieder und wiederum in seiner Seele gegenwärtig halten, damit sie reif wer­den. Mindestens muß er, wenn er vor kurzem Gewonnenes vorbringt, dieses im Besonderen anführen, damit derjenige, der es hört, aufmerk­sam darauf wird. Aber man wird auch nur, wenn man diese Anforderungen an die Menschennatur ins Auge faßt, wirklich sehen können, was der Gegenwart notwendig ist. Denn was der Gegenwart not­wendig ist, liegt nicht in dem, wo es heute vorzugsweise gesucht wird, sondern es liegt in feineren Strukturen, die aber überall in der Welt verbreitet sind. Man braucht ja wirklich nicht Politisches zu be­rühren, wenn man zum Beispiel auf folgendes aufmerksam macht:

Es gibt heute zahlreiche Menschen - mehr als es der Welt jedenfalls heilsam ist -, welche der Meinung sind: Man muß diesen Krieg mög­lichst lange fortsetzen, damit aus diesem Krieg ein allgemeiner Friede werde; wenn man ihn zu schnell beende, dann leiste man dem Frieden keinen Dienst! Ich will damit gar kein Urteil abgeben über den Wert oder Unwert der zwischen den Mittelmächten und Rußland ge­pflogenen sogenannten Friedensverhandlungen, aber interessant ist es doch, was auch dabei für eine kuriose Logik entwickelt werden kann. So ist mir ein Artikel gegeben worden, der wirklich nach dieser Richtung außerordentlich interessant ist; denn der betreffende Herr - der Name tut in diesem Falle nichts zur Sache - wendet sich eigentlich aus dem Grunde gegen einen sogenannten Sonderfrieden, weil er findet, daß durch einen solchen Sonderfrieden der Weltfriede nicht herbeigeführt werde. Ein gerades Denken, aber ein solches Denken, das schon ein bißchen durch die Vertiefung durchgegangen ist, das würde sich vielleicht

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sagen: Na, vielleicht kommen wir doch ein Stückchen vorwärts, wenn wenigstens an einer Stelle aufgehört wird, sich die Köpfe ein­zuhauen. - Das würde vielleicht ein gerades Denken sein. Aber ein nicht gerades Denken sagt sich: Nein, man darf an keiner Stelle eigent­lich aufhören, denn dadurch wird nicht der «allgemeine Weltenfriede» herbeigeführt. - Und nun macht der betreffende Herr interessante Auseinandersetzungen, das heißt, ihn interessierende Auseinander­setzungen darüber, wie die Leute um Worte streiten. Er meint, daß jene Leute, welche sagen, man müsse sich begeistern für einen Frieden, auch wenn es nur ein Sonderfriede wäre, nur von Worten hypnotisiert seien. Denn man müsse nicht an Worten hängen, sondern müsse der Sache zu Leibe gehen, und die Sache sei eben diese, daß ein Sonderfriede dem allgemeinen Weltenfrieden schädlich sei.

Unter den verschiedenen Begründungen, die der betreffende Herr anführt, ist auch diese in folgenden Sätzen enthaltene. Ein interessan­ter Satz, so ein recht charakteristischer Satz für die Gegenwart! Ja, wo soll man anfangen, daß man die Sache nicht so sehr ins Persönliche zieht? Nun: «Wer ehrlich ist, wird gestehen müssen, daß dies der Be­weggrund vieler - nicht aller! - ist, die unter uns eine solche Freude an einem ‹Sonder-Frieden› und an Lenin und Trotzkij haben» - er meint nämlich, die Begeisterung für das Wort «Friede», das sei der Grund -, «während sie gleichzeitig bei uns unermüdlich gegen die Antimilitaristen schreien und an unsern Lenins und Trotzkijs wenig Wohlgefallen zeigen.» Der betreffende Herr spricht von der Schweiz.

«Wir aber, die wir nicht Narren eines Wortes sind, sondern die Sache selbst wollen, die wir auch nicht den deutschen Frieden wün­schen, sondern den Frieden, wir wollen den allgemeinen Frieden. Für uns steht das Wort mit dem Wort in Wider­spruch.» Wenn man auf die Sache sieht, so muß man sorgfältig unter­scheiden zwischen Friede und Friede! Der Artikel ist auch über­schrieben «Friede und Friede».

Also der Herr, der durch den ganzen Artikel hindurch gegen den Götzendienst der Worte loszieht, schreibt dann den folgenden Satz nieder: «Für uns steht das Wort mit dem Wort in Widerspruch. Sonderung ist das Prinzip des Streites, nicht das Prinzip

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des Friedens. Wir bedürfen nach diesem Welt-Krieg eines Welt-Frie­dens, bei dem alle Völker gleichzeitig zusammenkommen zu der gro­ßen Verständigung. Was wir in Brest-Litowsk sehen, dieses Spielen einer Kaste von in allen Wassern des Raffinements gewaschenen Diplomaten mit der Naivität, dem Idealismus, auch dem Dogmatis­mus der Vertreter einer neuen Ordnung, ist ein Schauspiel, das nie­mand freuen kann, der will, daß die Ideale rein bleiben. Es ist zu fürchten, daß wir einen Teufelsfrieden bekommen, der nur furcht­bareren Krieg gebiert statt des Gottesfriedens, der endlich allem Krieg ein Ende setzt.»

Dies ist gewiß Logik, denn der Artikel ist sehr scharfsinnig ge­schrieben; blendend scharfsinnig ist er. Er ist sogar kühn und mutig geschrieben gegenüber dem Vorurteile zahlreicher Menschen, dieser Artikel «Friede und Friede »; aber diese Logik ist bar allen Zusammen­hanges mit der Wirklichkeit. Denn der Zusammenhang mit der Wirk­lichkeit wird erst durch jene Korrespondenz gefunden, von der wir gesprochen haben: durch das Reifwerden des Wissens, durch das Reifwerden der Überlegung, dessen, was der Kopf erleben kann, im übrigen Menschen. Und dieses Reifwerden, das ist etwas, was in der Gegenwart gerade, man kann sagen, den gescheitesten Menschen am allermeisten fehlt. Das ist etwas, was mit den tiefsten Bedürfnissen, tiefsten Impulsen der Gegenwart zusammenhängt. Die Gegenwart hat gar keine Neigung, auf das Studium dieser Dinge sich einzulassen. Selbstverständlich meine ich nicht, daß jeder einzelne sich auf solches Studium dieser Dinge einlassen kann; aber diejenigen Menschen, deren Metier das Studium ist, die müßten sich mit solchen Dingen be­fassen; dann würde das schon in das allgemeine Menschheitsbewußt­sein übergehen. Denn die Journalisten - mit Respekt zu vermel­den -, die schreiben dasjenige, was sich ihnen als im allgemeinen gel­tende Meinung eben ergibt, nicht wahr. Würde heute statt Wilsonianis­mus oder solch ähnlichen Dingen der Mohammedanismus als so all­gemein geltende Meinung vertreten werden, so würden eben die europäischen Journalisten mohammedanisch etwas hinschreiben. Und würde Geisteswissenschaft gewohnheitsmäßig in die menschlichen Seelen sich schon eingelebt haben, so würden dieselben Journalisten,

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die heute über die Geisteswissenschaft schimpfen, sehr brav im Sinne der Geisteswissenschaft selbstverständlich schreiben. Aber man ist ab­geneigt heute, gerade bei denjenigen, deren Aufgabe es wäre, auf solche Dinge einzugehen.

Der Mensch hängt wirklich, so wie er auf dieser Erde hier steht, zu­sammen mit dem ganzen Weltenall. Und ich habe vorhin gesagt, was heute gilt, galt natürlich nicht immer auf der Erde. Wir sprechen ja, um zunächst wenigstens uns über die wichtigsten Dinge zu informie­ren, jetzt vorzugsweise über den Zeitraum seit der großen atlantischen Flut, der Sintflut, könnte man sagen; die Geologie rennt es Eiszeit. Wir wissen, daß in dieser Zeit Veränderungen mit der Menschheit vor sich gegangen sind, aber vor dieser Zeit hat es auf der Erde auch schon eine Menschheit gegeben, wenn auch in anderer Form. Sie können das in der «Geheimwissenschaft im Umriß» nachlesen, wie die Menschheit da gelebt hat. Die atlantische Entwickelung ist der gegenwärtiger Entwickelung vorangegangen. An derjenigen Stelle der Erde zum Beispiel, wo heute der Atlantische Ozean ist, war Land. Ein großer Teil des heutigen Europa war dazumal Meer. Während dieser atlantischen Menschheit waren die Verhältnisse auf der Erde ganz anders. Die alte atlantische Kultur ist untergegangen; die nachatlantische ist an ihre Stelle getreten. Aber die atlantische folgte wie­derum auf die sogenannte lemurische Kultur, und da gab es auch meh­rere Abschnitte. So daß wir sagen können, wir haben jetzt die nach-atlantische Kultur, nicht wahr: ersten, zweiten, dritten, vierten, fünf­ten Zeitraum, in dem sind wir jetzt. Dem geht voran die atlantische Kultur mit ihren sieben Zeiträumen (siehe Zeichnung); dem geht vor­an die lemurische Kultur wiederum mit ihren sieben Zeiträumen. Fassen wir einmal den siebenten Zeitraum der lemurischen Kultur ins Auge. Er liegt ungefähr 25900 Jahre vor unserem Zeitraum. Es ist gegen 25000 bis 26000 Jahre her, daß dieser siebente Zeitraum der lemurischen Zeit abgelaufen ist über die Erde hin.

So merkwürdig das klingen mag, es ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesem siebenten lemurischen Zeitraum und zwischen unse­rem eigenen Zeitraum. Ähnlichkeiten finden sich ja immer wiederum zwischen den aufeinanderfolgenden Zeiträumen, Ähnlichkeiten der

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verschiedensten Art. Eine naheliegende Ähnlichkeit haben wir zwi­schen unserer und der ägyptisch-chaldäischer Zeit gefunden. Jetzt wollen wir von einer solchen sprechen, die weitergehend ist. Auch äußerlich kosmisch ist eine Ähnlichkeit. Sie wissen, unser jetziger Zeitraum, der ungefähr im 15. Jahrhundert der christlichen Zeit­rechnung beginnt, hängt mit dem Kosmos dadurch zusammen, daß seit jener Zeit die Sonne ihren Frühlingspunkt in den Fischen hat, in dem Sternbilde der Fische. Früher hatte die Sonne ihren Frühlings­aufgangspunkt durch 2160 Jahre hindurch im Sternbilde des Widders. Hier in diesem siebenten lemurischen Zeitraum (links) waren ähnliche Verhältnisse; vor zwölf Zeiträumen war die Sonne in denselben Ver­hältnissen. Da waren also gegen das Ende der lemurischen Zeit ähn­liche Verhältnisse wie jetzt.

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Diese Ähnlichkeit enthält aber wiederum eine bedeutsame Ver­schiedenheit. Was wir heute erwerben an innerer Geisteskraft, an Kopferlebrissen, wie wir es jetzt beschrieben haben in diesen Be­trachtungen, das erlebte der damalige lemurische Mensch auch, aber er erlebte es auf andere Art. Der lemurische Mensch war ja, wie Sie in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» nachlesen können, ganz anders beschaffen als der heutige Mensch. Dasjenige, was aus dem Weltenall in ihn eindringen konnte, das drang wirklich ein, so daß der lemurische Mensch ungefähr dieselbe Weisheit, die der heutige Mensch durch seinen Kopf erwirbt, auch erhalten hat, aber vom Weltenall strömte sie in ihn ein; insofern war sie wieder anders. Sein Kopf war noch offen, sein Kopf war noch empfänglich für die Verhältnisse des Weltenalls. Daher war in alten Zeiten hellseherische Kraft vorhanden. Der Mensch erklärte sich die Dinge nicht logisch. Er lernte sie nicht, sondern er schaute sie, weil sie aus dem Kosmos in seinen Kopf her­einkamen, während sie heute nicht mehr herein können. Denn das, was hereinkommt, das hört verhältnismäßig in früher Jugend auf; wie ich gesagt habe: der Kopf steht nicht in so inniger Beziehung

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mehr zum Weltenall. Das ist im heutigen Zeitalter so. Damals war es nicht so; damals stand der Kopf des Menschen noch in viel innigerer Beziehung zum Weltenall, damals empfing der Kopf noch Weltenweisheit; ihr ging nicht jene Logik ab, die heute doch dem, was der Mensch selber erwirbt, abgeht. Jene Urweisheit war eine wirklich inspirierte, eine von außen an den Menschen herankommende, aus den göttlichen Welten stammende. Das zu betrachten, ist der heutige Mensch abgeneigt, denn der heutige Mensch glaubt - verzeihen Sie, wenn ich mich wiederum etwas drastisch ausdrücke-, er habe, seit­dem er auf der Erde ist, immer einen so harten Schädel gehabt wie heute. Das ist aber nicht wahr. Das menschliche Haupt hat sich erst in verhältnismäßig später Zeit geschlossen, das menschliche Haupt war empfänglich für kosmische Einströmungen in alten Zeiten. Jetzt ist nur noch ein atavistischer Rest zurückgeblieben. Jeder Mensch weiß, wenn er einen Kindskopf - einen richtigen Kindskopf, nicht einen solchen also, wie ihn die Erwachsenen haben - betrachtet, so ist noch eine Stelle weich. Das ist der letzte Rest jenes dem Kosmos Geöffnetseins, wo aus dem Kosmos herein im Kopfe in einer bestimmten Weise die kosmischen Kräfte in alten Zeiten wirkten und dem Men­schen kosmische Weisheit gaben. Da brauchte der Mensch noch nicht jene Korrespondenz mit dem Herzen, denn da hatte er ein kleines Herz im Kopfe, das heute verkümmert, das heute rudimentär gewor­den ist.

So ändert sich der Mensch. Aber indem sich die Verhältnisse über die Erde hin ändern, muß der Mensch das begreifen und sich selbst auch ändern, selbst auch anderen Verhältnissen anpassen. Wir wären immer am Gängelbande des Kosmos geblieben, wenn unser Kopf nicht verknöchert wäre. Dadurch sind wir abgeschlossen gegen das Weltenall und können ein selbständiges Ich in uns entwickeln. Das ist wichtig, daß wir dieses ins Auge fassen. Wir können ein selbständiges Ich in uns entwickeln dadurch, daß wir physisch diesen harten Schädel bekommen haben. Und der letzte Rest der Erinnerungen, der leben­digen Erinnerungen an die alte Urweisheit - wann ist er denn eigent­lich geschwunden bei der Menschheit? Er ist eigentlich erst ge­schwunden in dem Zeitraume, der dem unseren vorangegangen ist,

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im vierten nachatlantischen Zeitraum, während der griechisch-römi­schen Kultur. Allerdings haben die Menschen da auch schon längst einen zugemachten Schädel gehabt, aber es gab noch immer in den Mysterien bewahrte Urweisheit, die aus ganz alten Zeiten stammte, aus dem Zeitraume, der wiederum dem damaligen lemurischen Fischezeitalter vorangegangen ist, aus dem lemurischen Widderzeitalter.

Im lemurischen Zeitalter wurde dem Menschen auch das, was er dazumal von seinem Ich haben konnte, vom Kosmos herein geoffen­bart, seine innerste Seelenkraft wurde ihm vom Kosmos herein ge­offenbart. Das hörte auf gerade im vierten nachatlantischen Zeitraum, in der griechisch-lateinischen Zeit. Der Himmel machte seine letzte Türe zu vor dem Menschen. Dafür aber auch sandte er seinen größten Boten herunter gerade in jener Zeit, damit der Mensch auf der Erde finden könne, was er früher vom Himmel erhalten hat: den Christus. Insofern ist das Mysterium von Golgatha auch eine kosmische Tat­sache, als für den Menschen das verlorengegangen wäre, was ihm früher schon von der lemurischen Zeit her vom Himmel geoffenbart war, kosmisch geoffenbart war. Da erscheint derjenige Impuls, der es ihm von der Erde her offenbaren kann. Nur muß der Mensch das­jenige, was von der Erde her im Christus-Impuls geoffenbart worden ist, nach und nach ausbilden, und gerade dadurch ausbilden, daß er auf jene Verjüngung eingeht, von der wir jetzt gesprochen haben.

Mit dieser Entwickelung des Menschen hängt es zusammen, daß wir heute eigentlich in uns tragen etwas, man kann sagen, ganz Wunder­bares. Ich habe schon inder gestrigen Betrachtungen erwähnt: das Wis­sen unserer Zeit ist das spirituellste, das es nur geben kann; nur merkt es der Mensch nicht, weil er es nicht reif werden läßt. Das, was man heute über die Natur wissen kann, das ist viel geistiger als dasjenige, was man vorher gewußt hat. Was man vorher gewußt hat, das brachte gewisse Wirklichkeiten aus dem Kosmos herunter. In den Sternen, ich habe es erwähnt, sah roch die mittelalterliche Scholastik englische Intelligenzen. Die neuere Astronomie sieht natürlich keine englischen Intelligenzen, sondern etwas, was man mit Mathematik oder Mecha­nik berechnet; aber es ist, ich möchte sagen, dasjenige, was man früher gesehen hat, darin ganz durchgesiebt, bis auf das letzte Geistige durchgesiebt.

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Es gehörte allerdings die ganze liebenswürdige Genialität des Novalis dazu, um in diesem Punkte richtig zu sehen. In den Aphoris­men von Novalis finden Sie den schönen Ausspruch - ich habe ihn schon öfter erwähnt -: «Die Mathematik ist im Grunde ein großes Ge­dicht.» - Aber dazu, um das einzusehen, wie die Mathematik, durch die man auch die Sternenwelten und ihren Verlauf berechnet, eine große Dichtung ist, dazu muß man ein Poet sein, nicht wie es die heutigen Naturalisten etwa sind, sondern ein solcher Poet, wie es Novalis ist. Dann steht man bewundernd auch vor dem Gedichte der Mathematik da. Denn die Mathematik ist Phantasie. Mathematik ist nichts mit den Sinnen Beobachtetes, sie ist Phantasie. Sie ist aber das letzte Phantasieprodukt, das noch einen Zusammenhang mit der unmittelbaren äuße­ren Wirklichkeit hat. Die Mathematik ist nämlich ganz durchgesiebte Maja. Und lernt man sie kennen, nicht bloß mit dem schulmeister­lichen Sinn, der heute die Welt meistert, sondern lernt man die Mathe­matik kennen ihrer Substanz nach, lernt man die Mathematik kennen in dem, was sie offenbaren kann, dann lernt man in ihr allerdings etwas kennen, was so wenig eine Realität hat wie das Spiegelbild, das wir von uns selber im Spiegel sehen, das uns aber doch etwas sagt, das uns sehr viel sagt unter Umständen. Aber allerdings, wenn man das Spiegelbild als eine letzte Realität betrachtet, ist man ein Tor. Und wenn man gar anfängt, etwa mit dem Spiegelbild sich unterhalten zu wollen, weil man es mit der Wirklichkeit verwechselt, so sucht man eben nicht die Wirklichkeit an der rechten Stelle. Ebensowenig kann man in dem, was die Mathematik in der Astronomie errechnet, eine Wirklichkeit finden. Aber die Wirklichkeit ist schon da. Wie ein Spiegelbild nicht da ist ohne die Wirklichkeit, so ist das ganze geistige Dasein da, das rein mathematisch errechnet wird. Es ist nur ganz durchgesiebt und muß wiederum zu der Wirklichkeit zurückdringen.

Gerade indem unsere Zeit so abstrakt geworden ist, so rein kopfmäßig gebildet worden ist, hat sie einen ungeheuer geistigen Inhalt. Und es gibt eigentlich nichts, was so fein geistig ist, wie unsere gegen­wärtige Wissenschaft; nur wissen das die Menschen nicht und wür­digen es nicht. Allerdings ist es fast drollig, wenn man mit der gegen­wärtigen Wissenschaft materialistisch ist, denn man ist eigentlich ein

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sonderbarer Lebensgenosse, wenn man mit der gegenwärtigen Wis­senschaft materialistisch ist, nur sind fast alle Gelehrten solche Lebensgenossen. Wenn man mit dem, was die gegenwärtige Wissenschaft an Begriffen entwickeln kann, behauptet, es gäbe nur ein materielles Da­sein, so ist es eigentlich komisch; denn wenn es nur ein materielles Dasein gäbe, könnte man niemals behaupten, daß es ein materielles Dasein gäbe. Daß man die Behauptung aufstellte: Es gibt ein mate­rielles Dasein -, dieser Akt der Seele ist nämlich das feinste Geistige, was es nur geben kann; der ist allein ein Beweis, daß es nicht ein bloßes materielles Dasein gibt! Denn kein Mensch könnte behaupten, daß es ein materielles Dasein gäbe, wenn es nur ein materielles Dasein gäbe. Man kann allerlei anderes behaupten, aber man kann niemals behaupten, daß es ein materielles Dasein gibt, wenn man nur ein materielles Dasein annimmt. Indem man behauptet, daß es nur ein materielles Dasein gibt, beweist man eigentlich, daß man einen Un­sinn redet. Denn, wenn das wahr wäre, was man behauptet, wenn es nur ein materielles Dasein geben würde, so könnte niemals aus die­sem materiellen Dasein heraus etwas entstehen, das irgendwo in einem Menschen jene Behauptung würde, die ein rein geistiger Vorgang ist: Es gibt ein materielles Dasein.

Daraus sehen Sie schon: es ist eigentlich niemals ein so logischer Beweis geführt worden, daß die Welt aus dem Geiste ist, als in unse­rer Zeit durch die Wissenschaft, die nicht daran glaubt - das heißt, die nicht an sich selber glaubt in Wirklichkeit -, und durch das ganze Zeitalter, das nicht an sich selber glaubt. Nur dadurch, daß sich von Epoche zu Epoche die Menschheit immer mehr und mehr spirituali­siert hat, daß wir es endlich dahin gebracht haben, solch feine Begriffe zu haben, wie wir sie in der Gegenwart haben, nur dadurch ist die Menschheit dazu gekommen, daß sie nun rein sieht die ganz durchgesiebten Begriffe und aus dem eigenen Willen sie nun an die Herzenskräfte anschließen kann. Das zeigt sich aber auch richtig im äußeren Leben, das zeigt sich auch in den großen katastrophalen Ereignissen.

Denn es ist ein großer Unterschied, wenn man wirklich Geschichte studiert, zwischen dem, was man jetzt den gegenwärtigen Weltkrieg nennt, der eigentlich kein Krieg, sondern etwas anderes ist - ich habe

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davon öfter gesprochen -, ein großer Unterschied gegenüber früheren Kriegen. Man ist heute noch nicht aufmerksam auf diese Dinge; aber in all den Dingen, die sich abspielen, zeigt sich schon dieser Unter­schied. Man könnte viele Dinge anführen zum Beweise dafür, daß sich dieses zeigt. Aber Menschen, die in so unklarer Weise sprechen vom Standpunkte eines ganz besonderen Scharfsinnes aus, wie der Mann in dem Artikel, aus dem ich Ihnen einen Satz vorgelesen habe, solche gibt es jetzt viele. Denn dieser gegenwärtige Scharfsinn bringt es dazu, den eigentümlichen Satz immer wieder und wiederum zu verfechten: Man muß diesen Krieg möglichst verlängern, damit ein möglichst guter Friede hergestellt wird. - So würde niemand gesagt haben gegen­über früheren Kriegen; so würde man niemals gesprochen haben. Man würde auch in mancher andern Beziehung nicht so gesprochen haben wie heute. Denn, wie gesagt, die Leute beachten das noch nicht, aber es ist doch so: wenn Sie alle früheren Kriege nehmen, so werden Sie immer - ich könnte Hunderte von Dingen anführen, die das er­weisen würden, ich will nur zwei Dinge anführen -, Sie werden bei früheren Kriegen immer finden, daß im Grunde genommen die Men­schen in irgendeiner Weise aussprechen konnten, warum sie Krieg führten. Sie wollten etwas Bestimmtes, scharf zu Umreißendes, scharf zu Umschreibendes. Können dies die gegenwärtigen Menschen? Tun sie es vor allen Dingen? Ein großer Teil derjenigen, die sehr am Kriege beteiligt sind, tun es nicht. Kein Mensch weiß, was eigentlich hinter den Dingen steckt. Und wenn jemand sagt, er will das oder jenes, so ist es gewöhnlich so formuliert, daß der andere erst recht nicht weiß, was er will.

Das war bei früheren Kriegen durchaus nicht so. Man kann die ganze Weltgeschichte durchgehen, und man wird dieses nicht finden. Sie können in früheren Zeiten noch so betrübliche Ereignisse neh­men - ich will die tartarischen, die mongolischen Einfälle in Europa nennen -, Sie könnten immer finden: das sind ganz bestimmte Dinge, die scharf zu formulieren sind, die zu verstehen waren, aus denen her­aus man definieren konnte, was eigentlich geschieht. Wo ist heute eine wirklich klare Definition desjenigen, was eigentlich geschieht, eine wirklich klare Umschreibung?

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Das ist das eine. Aber nun, um etwas anderes noch zu sagen: Was war denn eigentlich in früheren Zeiten gewöhnlich die Folge von Kriegen? Man könnte Hunderte von Dingen anführen, aber ich will diese zwei anführen: Was war denn die Folge von Kriegen in früheren Zeiten? Sehen Sie hin, wo Sie wollen: gewisse territoriale Verände­rungen, die die Menschen dann hingenommen haben. - Wie stellen sich die Menschen heute zu diesen Dingen? Sie erklären eigentlich alle: Ja, territoriale Veränderungen darf es nicht geben. - Dann frägt man sich aber wiederum: Wozu das Ganze? Im Grunde genommen, verglichen mit früheren Dingen, ist die Sache so, daß die Leute jeden­falls um das nicht Krieg führen können, um was man früher immer Krieg geführt hat; denn das kann es gar nicht geben. In dem Augen­blicke, wo es irgendwie das geben soll, erklärt man sofort: Das kann es gar nicht geben. - Also kann es eigentlich niemals, nach den Im­pulsen, die herrschen, niemals einen Frieden geben; denn würde man alles beim alten lassen, so hätte man gar nicht anzufangen gebraucht. Da man aber angefangen hat und doch alles beim alten lassen will, so kann man selbstverständlich nicht aufhören, denn sonst hätte man nicht anzufangen gebraucht!

Diese Dinge sind abstrakt, paradox, aber sie entsprechen tiefgehen­den Wirklichkeiten; sie entsprechen wirklich Bedingungen, die vor­läufig ins Auge gefaßt werden sollten. So daß man schon sagen muß: Dasjenige, was hier erörtert wird als mangelnde Korrespondenz zwi­schen Kopfmenschen und Herzensmenschen, das ist heute welt­geschichtliches Ereignis. - Und auf der andern Seite kann man sagen: Die Menschen stehen heute in einem ganz besonderen Abschnitte der Entwickelung, sie können nicht menschlich ihre Gedanken bewälti­gen. - Das ist das bedeutsamste Charakteristikon unserer Zeit. Die Menschen können nicht menschlich ihre Gedanken bewältigen. Alles ist anders geworden, und die Menschen wollen noch nicht aufmerk­sam darauf sein, daß alles anders geworden ist.

Also man hat es nicht bloß zu tun mit irgend etwas, das innerhalb Weltanschauungsfragen eine Bedeutung hat, sondern was wirklich für das breiteste, die Menschheit bedrückendste Ereignis unserer Tage tief, tief geht. Die Menschen finden nicht mehr den Anschluß von

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ihrer Seele aus an ihre eigenen Gedanken. Und das ist dasjenige, was uns darauf hinweisen kann, wie nicht nur der einzelne Mensch, son­dern die Menschheit in einer gewissen Weise verlernt hat, an die Ver­jüngungskräfte zu appellieren. Die Menschheit wird sich nicht leicht aus diesem Zustand wiederum herausbringen können. Sie wird das erst können, wenn sie an verjüngende Kräfte glaubt, wenn vieles von dem ganz ausgemerzt ist, was nicht mehr verjüngt werden kann. Ob wir den einzelnen Menschen ansehen, oder ob wir ansehen dasjenige, was um uns herum vorgeht, wir finden überall dasselbe. Wir finden eine durchgesiebte Kopfweisheit, ein durchgesiebtes Kopferleben, ohne den Willen, die Dinge reif werden zu lassen durch das Herzenserleben. Das aber ist etwas so tief Zusammenhängendes mit dem Bedürfnisse der allgemeinen Menschheitsentwickelung, daß der Mensch gar wohl gerade darauf seine stärkste Aufmerksamkeit in der Gegenwart und für die nächste Zukunft lenken sollte.

Das haben wir ja schon öfter erwähnt von den verschiedensten Ge­sichtspunkten aus. Gerade das kann uns darauf hinweisen, daß Geistes­wissenschaft allerdings heute in die Welt treten muß, selber, ich möchte sagen, wie etwas Abstraktes; aber sie ist fruchtbar, sie kann umgestal­ten die Welt, indem sie vor allen Dingen in die wirklichen, konkreten Lebensbedingungen ihre Impulse hineinschicken kann. Der Mensch würde traurigen Zeiten entgegengehen, wenn es fortdauern sollte, daß man keinen Glauben mehr hat an das Älterwerden, daß man stehenbleiben will bei dem, was der, ich möchte sagen, kurzlebige Kopf erleben kann. Denn ich habe schon gesagt: Das äußerste Ex­trem dessen, was der kurzlebige Kopf erwerben kann, das ist der abstrakte Sozialismus, der nicht aus konkreter Verhältnissen hervor­geht. Aber an ihn glaubt man ja im Grunde genommen einzig und allein. Der Philosoph behauptet heute vielfach, es gäbe nur Materie, wegen seiner feinen Spiritualität. Nur müßte er sogleich dieses Urteil aufgeben, denn es ist ein Unsinn. In den allgemeinen Weltverhältnissen ist man zu Triebfedern des gegenwärtigen sogenannten Krieges gekommen, aus denen es keinen Ausweg gibt, ebensowenig wie aus dem Satze: Es gibt nur Materie. - Denn die Gegenwart ist eben spiri­tuell, und dieses Spirituelle braucht Verdichtung, braucht Erkraftung,

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damit es in die Wirklichkeit eingreifen kann. Sonst bleibt es bloßes Spiegelbild. Die Menschheit arbeitet, so wie sie heute arbeitet, wie wenn man nicht mit wirklichen Menschen irgendwo in einer Werk­stätte arbeiten wollte, sondern wie wenn man glaubte, man könnte mit Spiegelbildern in einer Werkstätte arbeiten.

So ist es bei der extremsten Ausgestaltung der Kopfanschauung, bei dem Sozialismus, der deshalb für große Massen so einleuchtend ist, weil er logisches Kopferlebnis ist, reines logisches Kopferlebnis ist. Wenn aber dieses logische Kopferlebnis nicht mit dem Geistigen des andern Menschen zusammenkommt - mit was kommt es dann zu­sammen? Das haben wir ja öfter erwähnt, heute sogar auch: dann kommt es mit den blinden Trieben und Instinkten zusammen, dann kommt eine unreinliche Mischung heraus zwischen dem Kopferleb­nis, das eigentlich ganz spirituell ist, und den blindesten Instinkten und Trieben. Das will man jetzt im Osten miteinander auch weltgeschichtlich vereinen. Eine sozialistische Theorie, bloßes Kopferlebnis, das gar nichts zu tun hat mit den wirklichen konkreten Ver­hältnissen des Ostens, dasjenige, was ausgedacht wird von Menschen, wie Lenin und Trotzkij, das hat mit dem, was sich konkret als Be­dürfnisse im Osten entwickelt, nichts zu tun. Denn würden Lenin und Trotzkij, statt nach Rußland, durch irgendeine sonderbare Verket­tung von Umständen nach Australien verschlagen sein, so würden sie dort ebenso glauben, dieselben Verhältnisse einzuführen, wie sie sie in Rußland einführen wollten; sie passen nach Australien, nach Südamerika ebenso gut und ebenso schlecht wie nach Rußland; sie passen ebenso gut auf den Mond, weil sie zu gar keinen konkreten, wirk­lichen Verhältnissen passen. Denn warum? Weil sie aus dem Kopfe sind und der Kopf ist nicht von der Erde. Vielleicht würden sie ge­rade deshalb auf den Mond besser passen, weil sie aus dem bloßen Kopfe sind. Der Kopf ist nicht von der Erde. Daß sie einleuchten, das rührt eben davon her, daß sie dem Kopf sehr verwandt sind. Aber hier auf der Erde muß dasjenige begründet werden, was erdenverwandt ist, muß Geistigkeit auch gefunden werden, die mit der Erdenzukunft so zusammenhängt, wie wir das heute dargestellt haben.

Das führt in ganz bedeutsame, tiefe Dinge hinein. Und wenn man

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sie bedenkt, so wird man sehen, wie wenig geneigt der Mensch der Gegenwart eigentlich ist, auf diese Dinge einzugehen. Und sie sind so notwendig wie das tägliche Brot, denn die Menschheitsentwickelung kommt sonst entweder in eine Faligrube oder in eine Sackgasse, wenn nicht gefunden wird dasjenige, was zur Verjüngung führt.

Es ist ein breites Thema. Man kann alle diese Dinge nur andeuten. Ich fürchte, daß ich heute schon zu lange gesprochen habe, aber ich wollte wenigstens Verschiedenes sagen.

Ich habe nun noch für diese paar Tage, die wir beisammen sein können, allerlei, möchte ich sagen, Bedürfnisse: Einmal möchte ich noch über illustrative Kunst sprechen. Dann möchte ich, weil ich glaube, daß tatsächlich manches für die Gegenwart sehr verständlich auch werden kann, viel verständlicher roch werden kann, wenn man manches in der Vergangenheit betrachtet, zweimal zu Ihnen historisch sprechen, und zwar möchte ich einmal über die Verhältnisse des 9. Jahrhunderts in Europa sprechen, weil ich da manches werde be­rühren können, das Ihnen wichtig sein könnte zu wissen; und dann möchte ich in einem zweiten Vortrage sprechen über das Zeitalter des Christian Rosenkreutz.

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FÜNFZEHNTER VORTRAG Dornach, 14.Januar 1918

Heute möchte ich gewissermaßen etwas rein Geschichtliches vor­bringen. Ich glaube, daß das 9. Jahrhundert und das 15.Jahrhundert, von dem ich dann in einem nächsten Vortrage sprechen will, in der Tat so betrachtet werden können, daß man an der Betrachtung des Kulturinhaltes gerade dieser beiden Jahrhunderte Wichtiges sehen kann, aus dem manches für diese Gegenwart, für die Beurteilung der gegenwärtigen Verhältnisse zu lernen ist. Wir haben es im 9. Jahr­hundert insofern mit einer bedeutsamen geschichtlichen Zeitepoche des europäischen Lebens zu tun, als in diesem 9. Jahthundert gewissermaßen das Abendland schon in dem Sinne, in dem das überhaupt der Fall geworden ist, verchristet uns entgegentritt. Die früheren Jahr­hunderte sind eigentlich Jahrhunderte, in denen das Christentum sich erst in das abendländische Leben einfügt. Und im 9. Jahr­hundert, also in der Zeit, die auf das Jahrhundert zum Beispiel Karls des Großen folgte, in dieser Zeit sehen wir, daß Europa einen christ­lichen Charakter trägt, jenen christlichen Charakter, der dann durch die Jahrhunderte hindurch im Leben der Menschen von Europa gewirkt hat. Das aber, daß Europa so christlich geworden ist, wie es eigent­lich uns da im 9. Jahrhundert erscheint, das hat mannigfaltige Vor­aussetzungen. Und man kann nur beurteilen, wie sich das Christen­tum eingelebt hat, wenn man diese mannigfaltigen Voraussetzungen ins Auge faßt.

Wir wissen ja, daß zur Zeit der Entstehung des Christentums das Römische Reich gerade anfing seine Kaiserzeit, daß es anfing, in einer einheitlichen Verwaltungsform im Grunde genommen die ganze da­mals bekannte Welt zu umfassen, beziehungsweise diese Umfassung geltend zu machen, wirklich zu erleben. Wir wissen, daß es schon die Zeit ist, in der das Griechentum als äußere politische Daseinsform zu­rückgeht, daß allerdings das Griechentum längst in das Römertum eingedrungen ist als Bildungs- und Kulturferment, und wir haben dann unseren Blick vor allen Dingen darauf zu richten, daß aus den

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Anfängen des Christentums, die wir ja kennen, dieses Christentum sich allmählich einlebt in die ganze Form des Römischen Reiches, in alle Verwaltungs-, Veffassungsformen des Römischen Reiches. Und wir sehen dann, wie das Christentum, das sich unter den mannig­faltigsten Bedingungen in Europa entwickelt, im 1., 2., 3. Jahrhundert sich einlebt eben in das, was als römische Lebensform da ist. Wir sehen dann aber, wie dieses Einleben des Christentums zunächst verbunden ist mit einem völlig Anarchischwerden des europäischen Lebens. Wir wissen, wie das Römische Reich schon von dem weltgeschichtlichen Augenblicke an, da es am weitesten ausgebreitet war, die Keime seines Verfalls in sich deutlich zeigt.

Die Frage wird immer den Menschen beschäftigen müssen, der diese Dinge ins Auge faßt: Woran ist eigentlich dieses Römische Reich, das in solcher Glorie aufgestiegen ist, in den drei, vier ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung zugrunde gegangen? Man kann den Glauben haben, daß einzig und allein die Anstürme der nördlichen, der germanischen Völkerschaften an dem Untergange des Römischen Reiches die Schuld tragen. Man kann dann einen Teil die­ser Schuld finden in der Ausbreitung des Christentums selbst. Man wird die tiefere Grundlage des Unterganges des weströmischen Rei­ches doch mißdeuten, wenn man gerade in diesen genannten Faktoren die einzigen Motive für diesen Untergang des weströmischen Reiches sucht. Denn gerade das weströmische Reich zeigt, wenn man es gründ­licher betrachtet, daß solche Gebilde doch ein eigenes Leben in sich tragen, daß sie gewissermaßen eine Geburt, eine Jugend haben, ein gewisses Reifealter, und daß sie dann allmähiich so absterben müssen, daß man die Gründe des Absterbens in ihnen selber suchen muß, wie man ja schließlich beim einzelnen Organismus auch die Gründe des Alterns und des physischen Absterbens in ihm selbst und nicht in äußeren Verhältnissen suchen muß. Man kann aber allerdings an äußeren Erscheinungen vielleicht wahrnehmen, wie es zugegangen ist bei diesem allmählichen Altern und endlichen Absterben einer solchen Sache, wie das Römische Reich es ist.

Was man berücksichtigen muß, wenn man die europäische Ent­wickelung bis ins 9. Jahrhundert hinein ins Auge faßt, das ist dieses,

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daß zwei Erscheinungen deutlich vor dem geschichtlich betrachten­den Auge auftauchen. Das eine ist der allmähliche Niederstieg des Römischen Reiches und alles dessen, was damit zusammenhing; das andere ist aber, daß gleichzeitig damit aufblühen die orientalischen Lebensverhältnisse. Wir sehen, daß sich im Oriente weit über die Gebiete, an die nach dem Osten hin das Römische Reich grenzt, Kul­turblüte entwickelt, allerdings äußere, materielle Kulturblüte. Mit andern Worten, diese Länder, an die das Römische Reich, man kann nicht einmal sagen, daß es in seiner Kulturblüte an sie grenzte, son­dern die es nominell umfaßte, diese Länder entfalten eine glänzende materielle Kulturblüte. Ohne diese materielle Kulturblüte, die sich an der Peripherie des Römischen Reiches bildete, wäre es unmöglich ge­wesen, daß später, als der Mohammedanismus auf blühte, als das Arabertum sich geltend machte in der geschichtlichen Entwickelung, dieses Arabertum in so glänzender Weise einen großen Teil der Welt bis in die Zeit des 8., 9. Jahrhunderts hinein für sich in Anspruch nehmen konnte. Wir sehen ja, daß bis in dieses 8., 9.Jahrhundert hin­ein die arabische Herrschaft unter der geistigen Fahne des Mohammed sich ausbreitete bis nach Spanien hinein, daß aber auch nach den andern Richtungen das europäische Leben in deutlichen Zusammen­hang kam mit alldem, was sich als Kulturblüte da ringsumher erhob. Das, was die Araber erreicht haben, die dann die Feinde Europas wurden, in Spanien, in Sizilien, vom Oriente her, das mußte wurzeln in einem Reichtum, in glänzenden materiellen Verhältnissen. Nur da­durch ist es möglich geworden, daß das Arabertum solch glän­zende Eroberertaten verüben konnte. Woher kommt diese Erschei­nung, die inniger, als man denkt, mit dem, was in Europa geschieht bis zum 9. Jahrhundert hin, zusammenhängt? Woher rührt diese Erscheinung, daß auf der einen Seite das Römische Reich zurückgeht, und auf der andern Seite das orientalische Wesen einen glänzenden Aufschwung nimmt und auf das Abendland in außerordentlicher Weise wirkt? Denn es wirkte nicht nur durch seine Eroberung, es wirkte in außerordentlicher Art geistig. Man glaubt gar nicht, wie­viel von dem, was die Araber zum Teil durch die griechische Bildung, die sie selbst erst übernommen hatten, die sie mit ihrem

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eigenen Wesen verwoben haben, auf das europäische Abendland eingewirkt hat.

Dieses europäische Abendland hat durch die Art und Weise, wie es sich bis zum 9. Jahrhundert entwickelt hat, ja nicht nur eine Strö­mung in sich. Wir alle, insofern wir teilnehmen an der Bildung des Abendlandes, haben zwei deutliche Strömungen in uns. Man geht ganz fehl, wenn man glaubt, daß nur die eine, christliche Strömung sich im Abendlande ausgebreitet hat; geistig hat sich ganz wesentlich das, was von den Arabern gekommen ist, im Abendlande ausgebreitet. Die Denkweise, die Art und Weise des Vorstellens ist vom Arabertum tief eingedrungen in die europäischen Verhältnisse. In dem, was der heutige Mensch - ich meine jetzt nicht den geisteswissenschaftlich an­gekränkelten Menschen, sondern den Menschen der allgemeinen Bil­dung - über Schicksal, über Naturordnung, über das Leben über­haupt denkt, darin stecken bis in den Bauernkopf hinein die mannig­faltigsten arabischen Gedanken. Und wenn Sie vieles von dem, was heute die Köpfe beherrscht, nehmen, so finden Sie schon, daß ara­bische Gedanken darinnen sind.

Was kann man unter vielem andern als charakteristisch für diese arabische Denkungsweise, die sich in Europa ausbreitete, aufstellen? Als besonders charakteristisch kann man aufstellen, daß diese ara­bische Denkungsweise zuerst einmal spitzfindig ist, abstrakt ist, das Konkrete nicht gern hat, daher am liebsten alle Welt- und Naturver­hältnisse in Abstraktionen betrachtet. Daneben ist eine, man kann nicht bloß sagen blühende, sondern wollüstige Phantasieentwicke­lung. Denken Sie nur einmal, was neben der nüchternen, abstrakten Denkweise, die sich sogar im Künstlerischen zeigt im Arabertum, was sich da an Phantasie entwickelt über eine Art Paradies, über eine Art Jenseits mit all den aus dem Sinnlichen in dieses Jenseits hineinver-setzten Freuden. Diese zwei nebeneinanderlaufenden Dinge: nüchter­nes, materialistisches Betrachten von Natur- und Weltverhältnissen, auf der andern Seite üppiges Phantasieleben, selbstverständlich in Ab­stumpfung dann und im Gescheitwerden, ist etwas, was sich bis in die Gegenwart herein fortgepfianzt hat. Denn, will man heute irgend et­was von der geistigen Welt vorbringen, ja, wenn man es in Form von

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Phantasie gibt, dann gehen die Leute noch darauf ein. Dann brauchen sie nicht daran zu glauben, sondern können es als Phantasiegebilde hinnehmen. Das lassen sie sich gefallen, denn daneben wollen sie das haben, was sie echt, wirklich nennen. Das muß aber nüchtern, das muß trocken, das muß abstrakt sein.

Diese zwei Dinge, die als zweite Strömung im Seelenleben Europas leben, die sind im wesentlichen mit dem Arabertum gekommen. Das Arabertum ist zwar kriegerisch in vieler Beziehung zurückgedrängt worden, aber diese Vorstellungsart, die ist tief eingedrungen in das europäische Leben, namentlich in das südliche, westliche und mittel­europäische Leben, weniger in das osteuropäische Leben; aber auch da, wenigstens in das, was man «Bildung» nennt, ist es teilweise ein­gedrungen. So daß das Christentum, das in bezug auf diese Dinge ganz anders geartet ist, mit diesen entgegengesetzten Vorstellungen zu kämpfen hatte. Will man also Europas Entwickelung bis ins 9. Jahr­hundert hinein verstehen, so darf man nicht außer acht lassen, daß solche arabische Gedanken in Europa eingedrungen sind. Man glaubt gar nicht, wieviel eigentlich in Europa dem Türkentum nahesteht, der mohammedanischen Kultur nahesteht in den Gedanken, die der Europäer über Leben, Schicksal und so weiter hat.

Wie ist es aber gekommen, daß da an der Peripherie des Römischen Reiches so etwas entstehen konnte, besser gesagt, so etwas sich einwurzeln konnte, was Europa so viel zu schaffen machte? Das hängt zusammen gerade mit dem immer Größer- und Größerwerden des Römischen Reiches. Dieses Römische Reich, indem es sich immer mehr und mehr ausbreitete, war genötigt, zum Unterhalt der Bedürf­nisse, die sich herausbildeten in diesem weiten Reiche, viele, viele Produkte aus dem Oriente zu beziehen, und die mußten alle bezahlt werden. Und wir sehen mit der Entwickelung des Römischen Reiches gerade vom Beginne unserer Zeitrechnung an, daß eine bedeutsame Erscheinung in der Entwickelung des Römischen Reiches diese ist, daß die Römer so viel bezahlen müssen für das, was sie aus dem Oriente beziehen. Wir sehen, mit andern Worten, daß in dieser Zeit im Römischen Reiche ein ungeheuer starker Goldabfluß nach der Peripherie hin stattfindet. Das Gold fließt ab. Und kurioserweise eröffnen

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sich keine neuen Goldquellen. Und die Folge davon ist, daß die Reichtumsverhältnisse des Römischen Reiches sich vollständig ändern, daß das Römische Reich mit der Entwickelung des Christentums geld-, das heißt gold- und silberarm wird. Das ist eine grundbedeutsame Er­scheinung. So daß sich das Christentum ausbreitet im Römischen Reiche in einer Gegend, die immer mehr und mehr in bezug auf seine Wirtschaft nach primitiven Zuständen zu tendiert. Denn wo Ver­armung an Geld stattfindet, wo Verarmung an Gold stattfindet - auf dem physischen Plane ist das einmal so -, da tritt sehr bald die Not­wendigkeit auf, zu den primitiven Formen der Naturalwirtschaft zu­rückzukehren, zu den primitiven Formen einer Art von Tausch­handel durch das bloße Austauschen der Güter. Aber das wäre noch nicht einmal das Bedeutsame. Das Bedeutsame ist, daß es unmöglich wird, wenn solche Goldarmut eintritt, daß weithin reichende und vielbedeutende Menschenverbindungen geschaffen werden. Die Men­schen werden dadurch auf die Ausnützung viel näherer Verhältnisse angewiesen; sie werden in dem Austausch und in dem Zusammen­leben in ihren Bedürfnissen in viel engere Grenzen eingeschlossen.

Und so kam es, daß die römische Wirtschaft allmählich immer mehr hineinwuchs in eine Art und Weise, die es als Imperium nicht gewöhnt war. Die Einrichtungen waren im Römischen Reiche alle so getroffen, alle Arten der Verwaltungseinrichtungen, der Administration und so weiter, alles das, was man als Zusammenhang der Gegenden mit ihren Behörden und so weiter bezeichnet, das war darauf eingerichtet, daß man Geld hatte. Und nun wurde das Geld immer weniger. Sie können es an einem besonderen Gebiete deutlich beobachten. Natürlich, da das Reich immer größer geworden war, brauchten die Römer immer mehr und mehr, namentlich in den äußeren Partien des Reiches, Legionen; sie brauchten Soldaten. Die wollten bezahlt sein. Man konnte nicht immer unendliche Massen von etwa in Italien selbst produzierten Dingen an die Peripherie hinausführen. Die Soldaten woll­ten in Gold bezahlt werden, damit sie dann von den andern einhandeln konnten. Aber das Gold war allmählich nicht mehr da. Man konnte die Soldaten nicht mehr bezahlen. So war es auf vielen Gebieten. Das Römische Reich erstarb also gewissermaßen an seiner eigenen Größe.

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Und in seinem Umfange, an seiner Peripherie entwickelte sich ein ganz besonderer Reichtum, der dann selbstverständlich auch zur Folge hat, daß eine gewisse Basis, eine gewisse Grundlage da ist für ein geistiges Leben.

Nun kommt zu diesem etwas anderes hinzu: Die Römer waren allmählich dazu gekommen, nicht nach ihren alten Gewohnheiten leben zu können. Natürlich muß man nicht den einzelnen Menschen betrachten, sondern die ganzen Einrichtungen dabei. Im Norden aber waren frische Völkerschaften da; die waren nach ihren ganzen Sit­ten und Gewohnheiten gerade auf die Naturalwirtschaft eingerich­tet. Unter ihnen hatte sich gerade der Hang und Drang zur Natural­wirtschaft allmählich herausgebildet. Sie waren auf solche Verhält­nisse auch durch ihre tief eingewurzelten, elementaren Neigungen und Sympathien hin organisiert. Diese germanischen Völkerschaf­ten - so nennt man sie ja in ihrer Gesamtheit, wie sie sich in West-, Mitteleuropa, im Norden des Römischen Reiches ausbreite­ten - waren in den Jahrhunderten sowohl zur Zeit der völligen Anarchie im 3., 4. Jahrhundert wie bis zur Zeit der völligen Konsoli­dierung im 9. Jahrhundert allmählich so geworden - ich sage nicht, daß das immer so war in diesen Gegenden, aber allmählich so ge­worden -, daß sie an der Naturalwirtschaft etwas fanden, was ihren Sitten und Gewohnheiten, auch ihren Sympathien und Neigungen entsprach, während es bei den Römern nicht der Fall war. Vor allen Dingen entsprach aber die Naturalwirtschaft in gewissem Sinne den Einrichtungen, der Art des Zusammenlebens der Menschen in diesen nördlichen Gegenden.

Man muß dann den Blick werfen auf diese nördlichen Gegenden. Man sagt so im allgemeinen: Da waren es nun in den ersten christ­lichen Jahrhunderten germanische Völkerschaften. - Germanische Völkerschaften nennen wir das, was da im Norden sich ausbreitete, heute im Grunde genommen nur, weil, wenn etwas entfernt ist, es sich einheitlich ausnimmt. Wenn ein Mückenschwarm sehr weit ent­fernt ist, sieht er wie eine einheitliche graue Masse aus. Würde man jede einzelne Mücke ansehen, würde sich das anders ausnehmen. Und so ist das, was da - während das Römische Reich durch die genannten

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Verhältnisse, durch die charakterisierten Verhältnisse verfiel -, im Norden sich ausbreitete, auch nicht so im allgemeinen mit dem Namen «germanische Völkerschaften» zu umfassen, wie es jetzt in der zeit­lichen Entfernung aussieht. Denn vor allen Dingen muß man ins Auge fassen, wie sich das eigentlich herausgebildet hat, was da vom Norden her in Zusammenstoß kam mit dem Römischen Reiche im 3., 4., 5. Jahrhundert. Das muß man ins Auge fassen. Ja, wohl schon als Tadtus im ersten christlichen Jahrhundert diese nördlichen Ge­genden gesehen hat, war es so, daß der Prozeß, der sich da abgespielt hat, als noch wenig Berührung war mit dem Römischen Reiche, her­vorgegangen war daraus, daß in allen diesen Gegenden ursprünglich eine Art einheimischer Bevölkerung war, die, wenn man zurückgeht in der Entwickelung von Europa, wohl in gerader Linie, wenigstens für Westeuropa und Mitteleuropa, in das Keltentum zurückführt.

Was in Europa kultiviert worden ist in den älteren Zeiten, natürlich vor der Entstehung des Christentums, das gehört zunächst einer ge­wissen keltischen Urbevölkerung an. Diese keltische Urbevölkerung ist im Grunde genommen als Grundlage der ganzen europäischen Bevölkerung zu finden. Überall fließt in Europa die Nachkommen­schaft des keltischen Blutes, nicht bloß etwa in Westeuropa, sondern vor allen Dingen auch in Mitteleuropa. Es sind sehr viele Menschen in Bayern, in Österreich, in Thüringen, in denen eigentlich, wenn man diese Dinge ungenau bezeichnen darf, die Nachfolgeschaft von keltischem Blut fließt, ganz abgesehen von Westeuropa. Es ist sogar höchst wahrscheinlich, daß in Westeuropa weniger keltisches Blut fließt als in Mitteleuropa.

In diese keltischen Urverhältnisse hat sich erst hineingeschoben etwas, was der äußeren Geschichte seinem Ursprunge nach eigentlich ziemlich unklar ist. Schon alle möglichen Theorien wurden darüber aufgestellt, aber die Wahrheit ist diese: Es hat sich durch das, was man gewöhnlich Völkerwanderung nennt, was sich auch etwas anders vollzogen hat, als es in den Geschichtsbüchern gewöhnlich beschrie­ben wird, ein Volkselement - man kann nicht einmal gut sagen ein Volkselement, sondern eine größere Anzahl von Menschen aus den verschiedensten Gegenden her, auch von Asien über Nordeuropa

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her - hat sich hereingeschoben in die keltische Urbevölkerung. Und durch die Vermischung dieses hereingeschobenen Volkselementes mit dem alten keltischen Elemente, durch die mannigfache Vermischung - da war die Vermischung stärker, dort schwächer, da blieb das keltische Element mehr im Vordergrund, da trat es zurück in den Hintergrund - entstanden die verschiedenen Schattierungen der europäischen Be­völkerung. Und aus diesen Schattierungen entwickelten sich auf der einen Seite diejenigen Verhältnisse, die dann zu den Volksverhältnis­sen West- und Mitteleuropas geworden sind, aber auch diejenigen Verhältnisse, die zu den Lebensformen, zu den Verfassungs- und Ver­waltungsformen geführt haben. Da gab es eine Zeit, in der das kelti­sche Element der Urbevölkerung verhältnismäßig bequem lebte, viel­leicht sogar in manchen Gegenden sehr kärglich lebte, aber bequem lebte von Jahr zu Jahr, sich nicht viel kümmerte um irgendwelche Neuerungen und dergleichen, sondern so dahinlebte nicht viel anders, als wie Sie es heute, allerdings immer weniger, sehen können in irgendeiner verlassenen Landesgegend, wo die Menschen eben von Jahr zu Jahr leben, ohne irgendwelche Neuerungen aufzunehmen. So lebte in einer gewissen bequemen Ruhe, die eigentlich dem Volks­charakter der Kelten gar nicht angemessen war, aber allmählich ein­getreten war, dieses Keltenelement.

Da kamen diese anderen Volksmassen, die eigentlich erst das Ger­manentum ergeben haben in der Vermischung mit dem Keltentum. Das Nächste, was sich da eben herausbildet, ist, daß, wie ich schon angedeutet habe, in dem einen Gebiete das alte Element die Oberhand behielt, das neue Element mehr zurücktrat - in manchen Gegenden war es umgekehrt -, und dadurch verschiedene Blutnuancen hervor­traten. Aber auf der andern Seite stellte sich das heraus, daß die gewohnheitsmäßig Festsitzenden überflutet wurden von den Eindrin­genden. Die Eindringenden wurden die Herren. Sie waren diejenigen, die die Ruhe störten und dadurch die Herren wurden. Und aus diesem Verhältnis der erobernd auftretenden eingewanderten Herren und der sitzengebliebenen alten Urbevölkerung bildete sich das Verhältnis der Freien, Halbfreien und Unfreien heraus. Die Urbevölkerung wurde allmählich in die Sklaverei hinuntergedrängt. Diejenigen, die eingewandert

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waren, bildeten nach und nach die Herrenklasse, und das bedingte die Lebensverhältnisse.

So besiedelte sich Europa mit einer Bevölkerung, die auf die Weise entstanden ist, wie ich es charakterisiert habe, aber innerhalb welcher sich die deutliche Konfiguration herausgebildet hat einer Herrenkaste und einer Art von Hörigen-, Sklavenkaste. Und auf dieser Grundlage entwickelten sich dann alle übrigen Verhältnisse. Durch die Nuancie­rungen, von denen ich gesprochen habe, bildeten sich die verschiede­nen germanischen Zweige heraus, vor allen Dingen nach dem Westen hinüber, aber auch bis herein in die Gegenden des heutigen Nordbayern, sogar in die Gegenden des heutigen Hessen und so weiter. Das, was man die Franken nennt, war in gewisser Beziehung die rührigste Bevölkerung, in gewisser Beziehung, was äußeren Verstand betrifft, die verständigste, rührigste, in gewisser Beziehung auch herrschsüchtigste Gruppe der verschiedenen Gruppen, die sich volksmäßig herausgebildet haben. Das war also die Bevölkerungsgruppe, welche mehr nach dem Westen hinüber sich ausbreitete, das Element der Franken. Das Wort ist heute noch in der Wortzusammenfügung «frank und frei» vorhanden; was «frank und frei» bedeutet in seiner Zusammensetzung, weiß jeder, und «Franken» hängt zusammen mit diesem Worte «frank», das eine große Verwandtschaft hat mit dem Worte: sich frei, unabhängig, äußerlich frei, unabhängig fühlen wollen.

In der Mitte blieb mehr diejenige Bevölkerung, die man - wenn man einen zusammenfassenden Namen will - als die sächsische Be­völkerung bezeichnen könnte, die nach Thüringen hinein sich aus­breitete, nach den nördlichen Gegenden gegenüber Thüringen, die Elbe hinunter, bis an die Meeresküste. Das war diejenige Bevölke­rung, die in bezug auf ihren älteren Volkscharakter die eigensinnigere war, welche auf die ursprüngliche Eigenart besonders hielt, welche gewissermaßen das menschlich-persönlich-konservative Fühlen ausprägte.

Und so gab es andere Gruppierungen. Es würde zu weit führen, diese Gruppierungen alle aufzuzählen. Wichtig ist, daß aus der sächsischen Gruppe dann, durch mannigfaltige Vermischung, aber

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mit starker Prädominanz der sächsischen Gruppe, sich die britische Bevölkerung herausentwickelte, die ihrem wesentlichen, in diese Jahrhunderte zurückführenden Ursprunge nach dem sächsischen Stamm, wenn man so sagen darf, angehört.

Nun muß man ins Auge fassen, wie das Leben dieser Bevölkerung, die auf diese Weise sich herausgebildet hat, eigentlich war. Diese Be­völkerung, die da lebte, war im Verhältnis zu der südlichen Bevölke­rung, zu der römischen und griechischen Bevölkerung eine jugend­liche, eine kindhafte Bevölkerung. Das, was alt geworden war im Keltentum, war ja überhaupt nicht sehr alt geworden, sondern war früh greisenhaft geworden. Ein Verjüngungsprozeß fand schon statt dadurch, daß gewisse Volksgruppen hereindrängten vom Norden Europas, auch mittelbar von Asien her. Es war eine Bevölkerung, die vor allen Dingen gegenüber dem südlichen Elemente eben erstens die Sympathien für das Naheleben hatte, für die Naturalwirtschaft, die wenig Wert legte auf die Geldwirtschaft, welche ja überhaupt erst eintritt, wenn ein Reichswesen fortgeschritten ist.

Wer sich trotz der Völkerwanderung - die eben doch etwas anderes ist, als in den Geschichtsbüchern dargestellt wird - innerhalb dieser neuentstandenen europäischen Verhältnisse entwickelte, der war eigentlich im Grunde in irgendeiner Verbindung nur mit seinem Nachbarn, mit den nächsten Nachbarn. Aber auch in geistiger Be­ziehung war eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit da. Alle diese Völ­ker hatten noch etwas, was die griechische, römische Bevölkerung längst verloren hatte. Sie hatten noch alle, selbst bis ins 6., 7., 8. Jahrhundert hinein, in einem viel höheren Maße als die allerungebildetste griechisch-römische Bevölkerung, ein ursprüngliches atavistisches Hellsehen. Diese Menschen lebten alle im Zusammenhange mit ge­wissen geistigen Wesenheiten. Für sie gab es nicht bloß eine äußere materielle Natur, für sie gab es nicht bloß Jahreszeiten und Wind und Wetter, sondern für sie gab es, weil sie das sahen in jenen Zu­ständen, die mehr waren als ein Traum, den Gott Wotan, den die Leute kannten. Viele wußten wenigstens: sie haben selber den Gott Wotan gesehen, der sich mit dem Winde, auf Windes flügeln bewegt.

Das wußten die Leute. Ebensogut kannten sie zum Beispiel den

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Gott Saxnot, der, wenn sie zu kämpfen hatten, ihnen beistand in ihren Schlachten. Wenn sie die Schlachten geschlagen hatten, oder bevor sie sie schlugen, erschien ihnen ihr Gott Saxnot, und dergleichen mehr. Mit den schnell vorübergehenden Witterungsverhältnissen waren sie auch nicht bloß in materieller Weise bekannt, sondern sie waren dem Geiste nach elementarisch bekannt mit dem Gott Thor, mit seinem Hammer, und dergleichen. Das waren für diese Leute reale Erlebnisse, das kannte man da noch. Und außerdem hatten diese Leute, weil sie aus der eigenen Anschauung wußten, es gibt eine geistige Welt -, den Glauben an die Führung durch die geistige Welt. Sie glaubten, alles das, was geschieht in den Tagen, in den Jahreszeiten, das werde durch geistige Kräfte und Wesenheiten geführt. War irgendein Stamm sieg­reich, so wußte er, der Stammesgott, der hat beigestanden, der hat geführt.

Vom Stammesgott konnte man sagen: Er hat geführt. - Von einem allgemeinen Menschengott kann man nicht sagen, daß er der Gott der Schlacht ist. Von einem Stammesgott kann man das ganz gut sagen. Die Leute hatten recht, wenn sie von ihren Stammesgottheiten sagten, sie seien durch sie geführt worden. Selbstverständlich, in jedem Mo­mente kann irgendein Stamm, wenn er zugleich zugibt, daß es sich nur um einen Stammesgott handelt, sagen, er ist durch ihn beschützt, be­hütet worden; aber man kann es nicht von einem Gott, dem man die ganze Menschheit zusprechen will, in demselben Sinne behaupten.

Die Priesterschaften, die bildeten sich heraus - es gab ja auch Myste­rien in diesen Gegenden, über solche Dinge haben wir öfter gespro­chen -, um gewissermaßen die Führung zu haben in diesem ganzen Zusammenhange der Menschen mit den göttlich-geistigen Mächten. Aber diese Führung war eine ganz bestimmte, weil die Leute wußten, daß es geistige Mächte, daß es geistige Kräfte und Wesenheiten gibt.

So lebten äußerlich diese Menschen in einer gewissen primitiven Weise mit Naturalwirtschaft; innerlich lebten sie, man kann sagen, eine Art spirituelles Leben. Es gab da nicht in dem Sinne wie in Griechen­land und Rom Gebildete. Die Priester waren Führer; sie ordneten das Leben, das die andern auch kannten. Aber sie waren nicht in dem Sinne Gebildete wie die griechischen Philosophen oder die römischen

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Philosophen, oder die römischen Dichter oder diejenigen, die in Griechenland und Rom lesen und schreiben konnten und in diesem Sinne Gebildete waren; denn das alles kannten die Leute nicht. Lesen und Schreiben gab es selbstverständlich nicht. Also man hat es zu tun mit einer Bevölkerung, welche in primitiven Naturalverhältnissen lebte und welche in gewisser Beziehung ein spirituelles Leben führte. Es war durch die Auffrischung, die gekommen war in dieses Kel­tentum hinein, eine gewisse innere Kraft da; das war geeignet für die primitiven Verhältnisse. Das Südliche war nicht geeignet für die pri­mitiven Verhältnisse. In gewissen Punkten stieß das, was da ein neues, junges Element war, zusammen mit dem, was im Süden vorhanden war, vorhanden war so, daß sich in einem an Geldmangel zugrunde gehenden Imperium das Christentum einnistete, übernommen wurde in der Weise, wie Sie ja die Dinge kennen. Und namentlich waren es solche Punkte, in denen die beiden Gebiete, das Altwerdende und das jung Aufstrebende, zusammenstießen dort, wo die Römer noch ihre Städte gründeten, ihre Grenzstädte an der Peripherie ihres Rei­ches. Köln, Trier, Mainz, Straßburg, Basel, Konstanz, Salzburg, Augsburg, das waren Stadtgebilde, die schon von Römerzeiten her vorhanden waren.

Nun wird es Ihnen klar sein: die Römer dachten sich diese Stadtgebilde Köln, Trier, Mainz, Straßburg, Konstanz, Basel, Salzburg und so weiter als eine Art Schutzkastelle gegen die anstürmenden Men­schen. Aber als das Römertum - nicht durch anderes, sondern durch sich selbst - allmählich zerfiel, da waren die Städte in einer ganz be­sonderen Lage. Auf dem Lande war es gut für primitive Verhältnisse. In den Städten war es nichts Besonderes bei den primitiven Verhält­nissen. Und die Folge davon war, daß die Städte verödet wären, wenn sie nicht in anderer Weise in Anspruch genommen worden wären. Die aufstrebende Kirche, die sich des Christentums bemächtigt hatte, war aber eine gute Beobachterin, die wußte: an die Städte muß man sich halten. Und da wurden in die Städte, die sonst verödet wären, die Bischofssitze hineinverlegt. Dadurch aber wurden die Städte allmählich, in den Jahrhunderten gegen das 9. Jahrhundert zu, weil die Bischofssitze hineinverlegt wurden, weil Bildung hineinkam

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- denn der Bischof kam zunächst von den südlichen Gegenden her -, dadurch wurden sie ein Konzentrationspunkt für die umliegen­den Menschen, die Unfreie waren. Die Freien hatten keinen besonde­ren Zug, in die Städte hineinzuziehen, die allmählich verödet wären; sie folgten also den Bischöfen und Geistlichen wenig in die Städte. Aber das, was unfrei war, das folgte den Rufen, die von der Kirche kamen, in die Städte.

Und wenn Sie jetzt auf die Grundverhältnisse gehen, so werden Sie leicht begreifen: die Unfreien, das waren ja doch die Nachzügler, die Nachkommen der Urbevölkerung. Da war sehr viel Keltenblut drin­nen. Was so in den Städten zusammenströmte, das war im Grunde genommen ein Element, das sich befreien wollte von denjenigen, die da die Herren geworden waren. Das gab den Städten nach und nach diesen Charakter des mittelalterlichen Freistrebens in den Städten. Das kam im wesentlichen daher - und man geht gar nicht fehl, wenn man dieser Meinung ist -, daß es vielfach in den Städten das Brodeln des Keltenblutes war, daß die Städte im Mittelalter blühten, im frü­hern Mittelalter bis zum 9., 10. Jahrhundert hin.

Dann muß man nun ins Auge fassen, daß alle diese Verhältnisse wirkliche historische Notwendigkeiten waren. Man glaubt gar nicht, wie wenig gerade in früheren Zeiten durch äußere abstrakte Mittel der Menschencharakter lenkbar war, wie lenkbar er aber war, wenn man zuerst die Verhältnisse studiert hat und dann an das Konkrete angeknüpft hat. So sehen wir - und wir könnten vieles anführen, ich kann ja nur eine Skizze geben -, wie ein neues Element aufkommt, und wie das alte Element im Süden an seiner eigenen Natur allmählich erstirbt. Dieses Ersterben, das kann man sehen daran, daß auf der einen Seite wirklich im Süden die antike Wissenschaft, das antike Bildungs­element allmählich auf seine besondere Höhe kommt, aber in eine Sackgasse kommt, erstarrt; es kann nicht mehr weiter. Kaiser Justinian schafft in Rom im 6. Jahrhundert die Konsulwürde ab, hilft mit dar­an, die Lehre des Origenes zu verdammen und schließt die letzten Reste der athenischen Philosophenschulen. Die alten athenischen Phi­losophenschulen gehen nach Persien hinüber. Gondishapur wird da als Akademie begründet. Die athenischen Philosophen gehen nach

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den Wegen, die das Gold genommen hat, nisten sich dort ein, wo auf der Grundlage eines gewissen Reichtums sich ein Geistesleben ent­wickeln kann. In Europa hat man nötig, mit den entstandenen primi­tiven Verhältnissen zu rechnen.

Und zwei Faktoren wußten zunächst mit diesen primitiven Verhältnissen zu rechnen. Man kann sagen: wenig zu rechnen wußten die andern Faktoren. Aber zwei Faktoren wußten gut mit diesen primi­tiven Verhältnissen zu rechnen, nämlich das Papsttum, das ein guter Beobachter war, nicht nur im Schlimmen, sondern auch im Guten, denn in der damaligen Zeit hatte das Papsttum sehr viele gute Eigen­schaften, und diejenigen - sie waren im Grunde genommen nichts weiter als große Gutsbesitzer -, welche innerhalb des Frankenstam­mes sich allmählich geltend machten als Merowinger, Karolinger und so weiter.

Was hatte das Papsttum nötig? Das Papsttum konnte nicht ohne weiteres das Christentum als Lehre ausbreiten. Es hat gründlich, so­gar sehr gründlich den Versuch gemacht, das Christentum als Lehre auszubreiten; aber man muß bei solchen Dingen immer mit den konkreten, mit den realen Verhältnissen rechnen. Papst Gregor der Große hat fünfzig Sendboten nach England und Irland geschickt, und von da aus wiederum sind die Sendboten nach Mitteleuropa gezogen, Gallus, der mit St. Gallen zusammenhängt, und viele andere. Aber da konnte man rechnen mit Menschen, die aus einer Volkheit heraus­kamen, die viel Überredungsgabe hatten. Das war eine Strömung, durch die das Christentum in gewisser Beziehung auf geistige Art aus­gebreitet worden ist, so ausgebreitet worden ist, daß man auch unter das Landvolk gegangen war, das unter den charakterisierten Verhält­nissen lebte, Kirchen gebaut hat. Und um die Kirchen herum hat sich allmählich das Christentum festgesetzt, und zwar in der Weise, daß eigentlich diejenigen Menschen, die da als Franken, Sachsen, Ale­mannen und so weiter diese nördlichen Gegenden bevölkerten, ihren Gottesbegriff gar nicht so wesentlich änderten. Diesen Gottesbegriff hatten sie noch von ihrem atavistischen Hellsehen her. Den änderten sie gar nicht besonders; sondern, nehmen Sie irgendeine Gegend, irgendein Sendbote kam, baute ein kleines Kirchlein - im Elsaß zum

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Beispiel ist das in vielen Gegenden immer und immer wieder gesche­hen - in die Nähe einer Stätte, wo ein Bild, eine Statue des Gottes Saxnot oder so etwas war. Er baut ein Kirchlein, und er weiß die Leute zu nehmen. Er geht, nachdem er mit den Genossen sein Kirch­lein gebaut hat - die haben ja alles das selber gemacht, waren zu gleicher Zeit arbeitsame Leute, nicht bloße Bücherschreiber -, er geht zu den Leuten und sagt: Seht nun, ihr habt da euren Gott, es ist der Regen-gott; wenn ihr zu ihm betet, da wird nichts draus!

So ein Sendbote weiß ihnen plausibel zu machen, daß der Gott, dem er die Kirche gebaut hat, besser ist. Nun, dazu bedurfte man Überredung, denn unmittelbaren Einfluß auf den Regen hat natürlich auch nicht der Gott, den er den Christus nannte, gezeigt. Aber das vermischte sich damit, daß die Vorstellungen, die aus den kriegeri­schen Unternehmungen hervorgegangen waren über die Götter, all­mählich auch in Berührung gebracht worden sind mit dem Christen­tum. Wenn irgendein Stamm besiegt worden ist durch einen andern, der schon zum Christentum übergegangen war, dann stellte es sich heraus, daß die Leute sagten: Unser Gott hat uns nicht geholfen; denen hat ihr Gott geholfen. - Ich will damit nur ausdrücken, daß der Christengott mit den einzelnen Stammesgottheiten gleichgestellt wurde. Aber die Leute kamen zu keinem andern Gottesbegriff als zu dem, den sie aus ihrem atavistischen Hellsehen hatten. Daraus ent­sprang dann die Notwendigkeit, als, dieses benützend, die Römische Kirche das Christentum einbürgerte, daß mit Stumpf und Stiel nach und nach die alten Stammesgottheiten ausgetilgt werden mußten. Denn man wollte gewissermaßen den Gottesnamen an die Stelle der andern Gottheiten setzen.

Wie gesagt, es ist versucht worden, als Lehre, als seelisches Lebensgut das Christentum auszubreiten. Aber man kann sagen, durch die verschiedensten Umstände war ein anderes Element zunächst erfolg­reicher, und das war das kriegerische Element der Franken, die zu­nächst der unternehmendste Stamm waren, der rührigste, der durch seinen Verstand, durch sein Verständigsein wirklich gewußt hat: es läßt sich durch die Übernahme desjenigen, was im Römischen Reiche zugrunde gehen mußte, durch diese Herübernahme der Einrichtungen

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und so weiter, etwas machen. Durch diese und durch ähnliche Ver­hältnisse entstand eine Verbindung des fränkischen Volkselementes mit dem Schatten des Römischen Reiches, mit den Einrichtungen, mit den Anschauungen des Römischen Reiches.

Das begann im 8. Jahrhundert, pflanzte sich in das 9. Jahrhundert fort, und die Folge war, daß das Christentum verbunden wurde mit dem Erobererelemente. Der sächsische Stamm, der konservativ, eigen­sinnig war, wurde ja auf eroberungsmäßige Weise überwunden; und es breitete sich vom Westen her dasjenige aus, was zunächst ent­standen ist durch eine Verquickung der alten Sitten, Gewohnheiten in bezug auf das Richterliche, das menschliche Zusammenleben, mit dem Christentum. Dieses Verbinden der ursprünglichen Gewohn­heiten mit dem südlichen Elemente, das aus dem Christentum kam, aber in dem das Römertum lebte, das zeigt sich ja in allem. Heute weiß man es gar nicht mehr, wie sehr es sich in allem zeigt. Es glauben die Leute zum Beispiel, ein Graf sei eine besonders germanische Ein­richtung, während der «Graf» nichts anderes ist als etwas, was mit Graph, Griffel, mit Schreiben zusammenhängt. Das Schreiben, das Administrieren hat man vom Süden her genommen. Derjenige, der administrierte, das war der Graf. Und im Kriegsfall führte er auch dann den Gau an, das Gebiet. Das Wort «Graf» hat denselben Stamm wie Graphologie und wie Griffel und hängt mit Schreiben zusammen. Aber alles das, was Schreiben betrifft, Federfuchsen, alles das, was mit der Bildung zusammenhängt, das ist aus den Gebieten gekommen, die die südlichen Gebiete waren, und die ihr eigentliches Leben im Ab­sterben haben. So daß diese zwei Elemente zusammenwirken bis ins 9. Jahrhundert hinein. Das mächtigste Element war gerade durch Karl den Großen das fränkische Element geworden, dessen Macht vorzugsweise darauf beruhte, daß es das kirchliche Christentum in sich aufgenommen hatte und nun erneuerte den Schatten des Römischen Reiches. Karl der Große ließ sich ja in Rom krönen; das alte Cäsarentum sollte wieder auferstehen.

Diese Sachen hatten aber an sich selbst nur eine künstliche Trag­kraft, nicht eine natürliche Tragkraft. Wir wissen dann: nach Karl dem Großen folgten ja zunächst noch die weiten Gebiete, die Karl der

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Große angeblich zusammengehalten hat, die auch noch beherrschte wie eine Art Imperium Ludwig der Dumme - will sagen der Fromme. Und als dann die Gewalt der ursprünglichen Verhältnisse sich mehr geltend machte, als das Germanisch-Fränkische zum Durchbruch kam - denn dieses Fränkische bildete sich ja heraus, wie ich schon sagte, durch einen großen Teil desjenigen, was man heute Deutsch­land nennt -, als das zum Durchbruch kam, da mußte auch durch den Vertrag von Verdun, 843, da geteilt werden. Warum mußte eigent­lich geteilt werden? Geteilt mußte werden aus dem Grunde, weil das Zusammenhalten unnatürlich war. Der wirkliche Kitt war romanisch, aber er war eigentlich wirksam durch die Schreibstube und durch das, was sich als die ersten primitiven Schulen und dergleichen herausbildete, und durch das, was die Geistlichen taten, was sich als solches geltend machte. Der Kitt war romanisch, aber das Leben war nicht romanisch, das Leben war germanisch. Die Menschen waren in klei­nen Gruppen zusammen. An der Spitze solcher kleinen Gruppen stand ein Herzog - nicht durch ein Gesetz. Die Gesetze sind dann erst entstanden, als man das, was bei den ripuarischen Franken Sitte war, aufgeschrieben hat in die Lex ripuria oder dem Ripuarium, in das salische Gesetz, Lex salica und so weiter. In kleinen Gemeinden war ursprünglich derjenige, der die Fremden zugeführt hat, der vor dem Heere herzog, welches die seßhafte Bevölkerung zu Unfreien gemacht hat, der Herzog. Der verschwand allmählich. Der Graf wurde hin­gesetzt, wo ein Herzog war. Man kann sagen, bis nach Bayern, Thü­ringen haben die Herzöge sich erhalten. Aber der Graf wird dort hin­gesetzt; er wird hingesetzt, richtet, administriert, wo früher der Herzog war, den die Leute so nannten, weil er vor ihnen herzog, als sie in die Gegend gekommen waren. Der Graf wird hingesetzt, der allmählich auch zum Gutsbesitzer wird, die Unfreien um sich ver­sammelt, zu seinen Hörigen macht. Es entsteht das Lehnswesen, des­sen Entstehung sehr interessant zu betrachten wäre, aber wir haben nicht die Zeit dazu.

Und wir sehen, daß eigentlich durch Zusammenwirken solcher Einzelheiten jene großen Gutsbesitzer entstehen. Denn anderes sind sie nämlich nicht, jene großen Gutsbesitzer, welche wir in den Merowingern

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und Karolingern sehen. Es sind große Gutsbesitzer; und die saßen nun darinnen, sind weit entfernt, dem Römischen Recht zu folgen, denn nach dem Römischen Recht hätte man nicht so teilen können wie im Vertrag von Verdun! So teilt man, wenn man Besitzer ist und unter seinen Söhnen teilt. Das war eine alte Sitte, wo die Per­sönlichkeit mitspielte. Das war nach alter Sitte richtig. Das Römische Recht hätte das in Wirklichkeit nicht zulassen können.

Das waren solche auflösende Elemente. Sie waren überall da, diese Auflösungselemente, so daß man dieses 9. Jahrhundert, das ent­scheidend ist, nur richtig ins Auge fassen kann, wenn man über ganz West- und Mitteleuropa hin weiß: es überströmt - später war das noch stärker, wir werden nächstens das 14., 15. Jahrhundert besprechen, da wird es noch deutlicher zutage treten -, es überströmt das romanische Wesen das Volksmäßige. Allerdings, es werden gebildete Leute hin­gesetzt in Form von Geistlichen und so weiter, aber es ist das roma­nische Wesen, das diese Gegenden überströmt. Aber in den Leuten lebt - über ganz Europa hin vom 9. Jahrhundert ab, ja auch in Eng­land, im britischen Reich -, lebt das germanische Wesen. Und dieses germanische Wesen kommt zunächst in dem Elemente der Franken besonders zum Ausdrucke. Nur durch jene Erbteilung, die eigentlich nach rein privaten, willkürlichen Verhältnissen vor sich ging, ist ja diese Dreigliedrigkeit entstanden, so daß der eine bekommen hat die­sen mittleren langen Streifen dem Rhein entlang und Italien, der andere hat das, was westlich davon war, bekommen, der dritte das, was östlich davon war. Und das wurde dann vom Vertrag von Verdun aus die Grundlage für die spätere Auseinandergliederung des deut­schen Wesens und des französischen Wesens. Und das, was der Lothar in der Zwischenlinie bekommen hat, das hat die glückliche Grundlage geschaffen, daß sich nun ewig Mittel- und Westeuropa miteinander balgen können! Aber diese Dinge hängen so zusammen.

Nun muß man ins Auge fassen, daß verschiedenes und verschiedent­lich Bedeutendes da sind: germanisches Wesen, insbesondere in dieser Zeit im Frankenelemente zum Ausdruck kommend; romanisches We­sen, das aber als Schatten der alten Zeiten wie hinhuscht, alte Über­tragenschaft ist. Und in dieses hinein nach den entsprechenden Ver­hältnissen,

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die durch dieses Wesen gegeben wurden - wobei das ger­manische Wesen immer aus der Kraft der Menschen heraus, also aus der Wirklichkeit, das romanische Scheinwesen zersprengen wollte -, in diese Entwickelung hinein mußte von Rom aus das Christentum ausgebreitet werden. Man mußte mit allen diesen Verhältnissen rech­nen, man mußte rechnen mit den Städteelementen, mit den Landelementen, und man mußte versuchen, das Christentum in einer sol­chen Form einzuführen, daß die Leute es verstehen konnten. In Rom ließ es sich nicht einführen, trotz des Konstantin und so weiter, weil die Bildung zwar auf eine besondere Höhe gestiegen, aber in einer Sackgasse angekommen war. Es mußte eingeführt werden in Volkselemente, die ursprüngliches, jugendkräftiges Leben in sich hatten.

Deshalb mußte man zurückschieben nach dem Oriente das, was gerade in den Dogmen erstarrt war, was auf einem gewissen Stand­punkte bleiben wollte. Und im Westen mußte man rechnen mit einem Volkselemente, das gewissermaßen sich aus dem Kirchlichen heraus entwickeln wollte, aus all den Elementen heraus, die ich angedeutet habe. Mit diesen Elementen konnte ganz besonders das Papsttum schon rechnen. Es war schon rege Berechnung des Papsttums, als Karl der Große gekrönt wurde; denn man rechnete einfach mit die­sem Großgrundbesitzer, der auch mit sich rechnen ließ. Und es war dann fortlaufend immer zunächst die Politik des Papsttums, das Chri­stentum so einzuführen, daß es geeignet war, zu ergreifen die Seelen derjenigen, die eben herauswuchsen aus dem alten atavistischen Hellsehen.

Von ganz besonderer Bedeutung ist es, daß mit dem 9. Jahrhundert von Rom aus und mitbewirkt durch die Trennung vom orientalischen Christentum, in ganz eminenter Weise nun mit den europäischen Volkselementen, Volksverhältnissen gerechnet worden ist, als unter Nikolaus I., dem großen Papste, der Orient anfing, sich innerhalb des christlichen Elementes zu trennen von dem Abendlande. Da war eigentlich dieser Trennung zugrunde liegend die Notwendigkeit, zu rechnen mit dem, was in europäischen Verhältnissen begründet war, so wie ich das ganz skizzenhaft dargestellt habe. Wenn wir nun dem­nächst das 14., 15.Jahrhundert in seinem Grundcharakter betrachten,

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so werden wir dann eben für die Zeit vom 8. bis 14. Jahrhundert wie­derum charakterisieren das Zusammenwirken des päpstlichen Ele­mentes, das Zusammenwirken des mitteleuropäischen Elementes, das Herausbilden derjenigen europäischen Konfiguration, die dann erst wiederum eine andere wurde, als die großen Entdeckungen und als die Reformation und dergleichen kamen.

Ich wollte nur eben rein geschichtlich die Faktoren Ihnen vorfüh­ren, welche im 9. Jahrhundert eine gewisse Kulmination erlitten haben. Man kann in der europäischen Entwickelung genau unter­scheiden die drei ersten christlichen Jahrhunderte, die zu einer Art Anarchie führten. Da geht alles drüber und drunter. Da sind eben im 3. Jahrhundert die Dinge alle durcheinandergemischt. Dann aber ent­wickelte sich durch die Naturalverhältnisse bis in die nächsten fünf, sechs Jahrhunderte, bis ins 9. Jahrhundert herein, dasjenige, was charakterisiert werden kann damit, daß man sagt: das Christentum wurde auf die angedeutete Art hineingetragen in die Verhältnisse, die aber eigentlich durch die Lebensform der Menschen gegeben waren.

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SECHZEHNTER VORTRAG Dornach, 17.Januar 1918

Die Dinge, die ich jetzt in diesem letzten Vortrage etwas prosaisch vorbringe gegenüber den großen Ausblicken, die wir gepflogen haben in diesen Betrachtungen, haben aber doch einen gewissen inner­lichen Zusammenhang mit unseren ganzen Betrachtungen und auch mit der gegenwärtigen Zeit. Und es war mir in gewissem Sinne ein Bedürfnis, wenn das auch für diese Dinge nur in aphoristischer Form, auch diesmal wiederum in Form von Bemerkungen geschehen kann, vielleicht sogar ohne weiteren Zusammenhang - man müßte ja sonst tagelang reden über das Thema -, war es für mich doch ein Bedürfnis, gewisse Dinge noch mit Ihnen durchzusprechen. So, wie wir die Zeit, die im 8. Jahrhundert gipfelte, versuchten mit ein paar Bemerkungen zu durchdringen, so wollen wir das heute für die folgende Zeit, die dann in gewissem Sinne im 15. Jahrhundert für das europäische Leben gipfelte, betrachten.

Dieses 15. Jahrhundert ist in der mannigfaltigsten Beziehung außer­ordentlich interessant zu betrachten, namentlich zu betrachten, wie es hervorgeht aus den europäischen Lebensverhältnissen der voran­gehenden Jahrhunderte. Bedeutungsvoll ist dieses Jahrhundert aus dem Grunde, weil eigentlich erst im 15. Jahrhundert die Verhältnisse in Europa sich gebildet haben, innerhalb deren wir gegenwärtig leben. Die Menschen denken ja, könnte man sagen - wir haben das öfter von andern Gesichtspunkten aus erwähnt -, eigentlich kurz; sie stellen sich vor, daß die Art, wie sie ringsherum die Verhältnisse erleben, eine konstante ist. Das ist sie aber nicht. Die Lebensverhält­nisse sind Metamorphosen unterworfen. Und wenn man nicht, wie das ja leider als Unfug in der modernen Historie geschieht, alles vom Gesichtspunkte der Gegenwart aus betrachtet, sondern wenn man versucht, sich in die Eigenart der früheren Zeiten hineinzufinden, was man nur geisteswissenschaftlich kann, namentlich in praktischer Be­ziehung nur geisteswissenschaftlich kann, so kommt man darauf, daß sich die Zeiten schon ganz wesentlich geändert haben. Ich habe,

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glaube ich, schon im Laufe dieser Vorträge erwähnt, daß mir vor kurzem einmal, als ich auch etwas Ähnliches vorgebracht habe in einem Vortrage, ein Herr am Schlusse gesagt hat: Ja, aber die Geistes­wissenschaft nimmt an, daß diese Epochen, wie sie sich entwickelt haben, voneinander verschieden waren; und die Geschichte zeigt uns ja doch, daß die Menschen eigentlich immer gleich waren, daß sie immer die gleichen Laster gehabt haben, die gleichen Eifersüchteleien und so weiter, daß sich die Menschen nicht wesentlich geändert haben; was heute Konflikt hervorruft, rief auch schon früher Kon­flikte hervor. - Ich habe dazumal dem Herrn geantwortet: Sie können ja noch weiter gehen mit dieser Betrachtungsweise, Sie können ein­fach gewisse sehr in die Augen fallende Konfliktstoffe der Gegenwart nehmen und sie bei den griechischen Göttern aufsuchen, die ja ganz gewiß andere Daseinsbedingungen haben als alle irdischen Menschen, und Sie werden finden, daß diejenigen Dinge, auf die Sie nun gerade Ihr Augenmerk richten, sich sogar unter den griechischen Göttern finden.

Selbstverständlich findet man gewisse menschliche Verhältnisse, die überall dieselben gewesen sind, wenn man die Sachen abstrakt be­trachtet. Es gibt ja gegenwärtig sogar manche naturwissenschaftlichen Betrachtungen, die finden sogar sehr ähnliche Verhältnisse, Familien­verhältnisse und dergleichen in diesen oder jenen Tiergattungen. Warum denn nicht! Wenn man nur genügende Abstraktionen an­wendet, so findet man schon solche Ähnlichkeiten heraus. Aber darauf kommt es nicht an. Mit einer solchen Betrachtungsweise ist man eben im eminentesten Sinne unpraktisch.

Vor allen Dingen betrachten die gegenwärtigen Menschen, und wahrhaftig nicht nur die Menschen der breiteren Kreise, sondern gerade maßgebende, sehr, sehr maßgebende Kreise betrachten das­jenige, was nationale Verhältnisse in Europa und überhaupt in der gebildeten Welt sind, so, als wenn diese nationalen Verhältnisse ewige Dinge wären. Das sind nicht ewige Dinge; sondern gerade jene Form des Empfindens, die sich zum Beispiel aus dem Nationalen für den heutigen Menschen ergibt, die ist ganz abhängig von dem, was sich im 15. Jahrhundert herausgebildet hat, denn vorher war gerade in

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bezug auf diese Dinge Europa überhaupt etwas anderes. Das, was heute die nationalen Gebilde sind, die sich in Staaten abkristallisieren, das rührt erst aus dem 15. Jahrhundert her. Und dasjenige, was in Europa vorher war, darf überhaupt nicht mit diesen nationalen Ge­bilden heute verglichen werden. Das müßte eben schon die geschicht­liche Betrachtung der Vergangenheit den Menschen lehren.

Wenn allerdings die Vergangenheit nicht hinter das 15. Jahrhundert zurückreicht, dann könnte es ja einmal passieren, daß jemand die Urteile, die man über die Gegenwart gewinnen kann, so ausspricht, als wenn sie ewige Verhältnisse wären. Wenn zum Beispiel ein Staatsgebilde, wie es solche Staatsgebilde in Europa vor dem 15. Jahrhundert gar nicht gegeben hat, hätte erst begründet werden können nach europäischen Gedanken auf einem Territorium, das für die euro­päischen Verhältnisse erst nach dem 15. Jahrhundert bekanntgewor­den ist, das also nicht in dem Sinne eine Vergangenheit hat wie Europa, wo man also nur über ein paar Jahrhunderte denkt und das Denken dann für ewige Verhältnisse hält, wenn man mit einem sol­chen Denken Staatsideen etwa oder gar Völkerideen ausdenken sollte, dann müßten mindestens die Europäer wissen, daß solche Völkerideen unbedingt recht kurze Beine haben müssen.

Im 15. Jahrhundert ist auch wiederum etwas eingetreten, das zu­sammenhängt mit dem, was ich für die Anfänge der christlichen Ent­wickelung in Europa, namentlich im weiten Römischen Reiche, an­führen mußte. Ich führte dazumal an, daß das Römische Reich seinen Untergang gefunden hatte durch mancherlei Kräfte, aber wie unter die Kräfte auch diese zu zählen ist, daß ein unglaublich starker Goldabfluß nach dem Oriente stattgefunden hat, daß goldarm das weite Römische Reich geworden ist, goldarm. Nun kam das den Römern nicht zugute, die gewöhnt waren, in den Einrichtungen ihres Imperiums Gold zu brauchen, Gold brauchen mußten, und nun hatten sie eben keines. Das führte in die Dekadenz hinein.

Den von Norden her anstürmenden Völkerschaften kam das aber zugute. Die waren durch die verschiedenen Verhältnisse, die wir das vorige Mal erwähnt haben, gerade auf die unmittelbare Naturalwirt­schaft hin organisiert. Und das Eigentümliche ist, daß sich - trotzdem

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gewisse Eroberer, von denen wir ja gesprochen haben, sich über die Länder, die vorher Ruhe gehabt haben, hermachten - aus dem Zusammenleben der eroberten Menschen und der Eroberer heraus­gebildet hat eine gewisse Seßhaftigkeit. Diejenigen, die schon da waren in Europa, die haben ihre Scholle in gewissem Sinne geliebt, und diejenigen, die herangezogen waren, die suchten sich eine Scholle. Und so war aus jenem Ereignis, das man gewöhnlich die Völker­wanderung nennt, das entstanden, was man nennen kann: der Natural­wirtschaft gegenüber der Geldwirtschaft günstige Lebensverhältnisse. Europa war allmählich so geworden, daß die Karolinger in die Not­wendigkeit versetzt waren, damit zu rechnen, die Verhältnisse so einzurichten, daß man gewissermaßen die großzügige Geldzirkulation entbehren konnte. Die Karolinger, schon die Merowinger, diese Herrschergeschlechter, sie bedeuteten ja für den inneren Gang der Ereignisse oftmals eigentlich nur dasjenige - wenn man es sachgemäß betrachten will -, was man Stunden- und Minutenzeiger der Uhr nennt. Man ist ja auch überzeugt, nicht wahr, daß nicht der Stunden- und Minutenzeiger einen zwingt, das und das zu tun, und dennoch tut man es; oder wenn man erzählt, so sagt man: Ich habe das um zwölf Uhr oder um ein Uhr getan. - Also es kommt bei der histo­rischen Darstellung auf die Absicht an, die man damit verknüpft. Wenn ich dies sage, so meine ich die Zeit, die Lebensverhältnisse in dieser Zeit. Aber man muß sich bewußt sein, daß ein Mensch wie Karl der Große schon durch seine Persönlichkeit, durch sein äußeres Auftreten in Europa etwas bedeutete; denn die Dinge sind konkret verschieden. Ludwig der Fromme bedeutete natürlich nichts weiter. Und wenn sich Dramatiker finden, die Ludwigs des Frommen Familien­zänkereien wie großartige Staatsaffären auffrisieren, so ist das ein Unfug, welcher kindliche Gemüter, die im Theater sitzen, interessie­ren kann; aber es hat nichts zu tun mit irgendeiner «Geschichte», steht weltenfern irgendeiner wirklichen Geschichte.

Anders ist es, wenn man das Tonangebende Karls des Großen nimmt und dann absieht jetzt von den Kleineren, die dann nachkamen - manchmal sind sie ja schon durch die in solchen Kreisen beliebten Beiwörter sonderbar charakterisiert; die Geschichte weist da sonderbare

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Beiwörter auf: «der Einfältige», «der Dicke», was ja, nicht wahr, nicht gerade für weitgeschichtlich Epochemachendes bedeu­tungsvoll erscheint -, aber ein gewisser Ton, eine gewisse Tendenz lag doch im Karolingertum. Und diese Tendenz, die hatte eine viel breitere Wirkung, als vielleicht seit dem 15. Jahrhundert überhaupt die Tendenz irgendeines persönlichen Zentrums haben kann. Man lebte eben im Mittelalter in einer Zeit, in welcher die Persönlichkeit noch einen weit größeren Wert, eine weit größere Bedeutung hat, als sie später hatte. Nun, diese Karolinger, sie hatten also damit zu rechnen, daß sich aus dem Konglomerat der Völkerwanderung all­mählich herausgebildet hatte seßhafte Menschheit über Europa hin. Dieses Seßhafte, das ja ganz besonders charakteristisch zum Aus­druck gekommen ist bei den Sachsen in Mitteleuropa und bei ihrer Deszendenz, die dann nach England, nach der britischen Insel hin­übergekommen ist, sie war ein allgemeiner Charakterzug der germa­nischen Völker - ich meine in dieser Zeit, in der Karolingerzeit, nachdem die Völkerwanderung abgeflaut war. Seßhaftigkeit, ver­bunden mit Angewiesensein auf dasjenige, was unmittelbar auf dem Boden produziert wird, also eine Bauernbevölkerung, administriert von dem Grafen in der Weise, wie ich das neulich auseinandergesetzt habe, administriert von den Geistlichen, eine Bevölkerung im Um­kreis der Städte, administriert von den Bischofs sitzen in den Städten; aber eine Bevölkerung, die in bezug auf die Produktion des Ackerbaues, in bezug auf die Produktion im Gewerbe seßhaft war und etwas hielt auf den Ort, mit dem sie zusammen war, weil die Lebensverhält­nisse sie mit diesem Orte im Zusammenhang hielten. Gewiß, es fing schon an, daß sich Handelsverhältnisse entwickelten, aber diese mehr gegen die Küstengegenden zu. In den Gegenden, die vor allen Dingen für das mittelalterliche Leben in Betracht kommen, da hatte man es mit Seßhaftigkeit zu tun. Und die Folge davon war, daß man nicht in der Lage war, so zu verwalten, so zu administrieren, wie man das im römischen Imperium gewöhnt war. Man hatte zwar traditionell über­nommen, gelernt von den Leuten, die gebildet waren, die wußten, was im Römischen Reiche Sitte war, man hatte übernommen: dieses oder jenes zu tun, man hat es so und so zu verwalten im Römischen

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Reich, und das hat sich herausgestellt als richtig. Aber das war nicht anwendbar auf die Verhältnisse, die sich da herausgebildet hatten über ganz Europa hin. Es war nicht anwendbar, weil das ganze römische Imperium, nachdem es einmal eine bestimmte Größe er­langt hatte, eigentlich aufgebaut war auf dem Heereswesen des römi­schen Imperiums, auf das Kriegswesen des römischen Imperiums. Das römische Imperium ist nicht denkbar in seiner Größe ohne die Möglichkeit, überallhin bis in die Peripherie die Soldaten zu schicken. Die Soldaten mußten abgelöhnt werden.

Ich habe schon das letzte Mal erwähnt, daß dazu eben die Gold­zirkulation notwendig war. Und als die Goldzirkulation abflaute, da ging es nicht mehr. Und während sich diese Verhältnisse herausbildeten, während sich ein Imperium herausbildete, das ganz darauf angewiesen war, seiner inneren Halt, die Möglichkeit seiner inneren Vergrößerung, die Möglichkeit, sich zu administrieren, zu ent­wickeln, bildeten sich alle Anschauungen so aus, daß man in diesen Anschauungen eben alles auf das Heereswesen aufgebaut hatte. So hätte man ja sagen können zur Karolingerzeit: Ich stelle mir je­manden an, der bekannt ist mit der Administrationstechnik, mit der Rechtstechnik des römischen Imperiums. - Denn die war ihnen ge­blieben. Aber es half einem nicht viel, weil man dasjenige, was auf das Legionenwesen gebaut war an administrativer Kunst, nicht an­wenden konnte da, wo man es über ganz Europa hin und jetzt auch bis nach Italien hinein - denn diese Verhältnisse hatten sich für alles ausgebildet - anwenden sollte, wo man es zu tun hatte mit seßhaften Bauern. Denn in diesem Momente, wo man die Bauern oder diejenigen, die sich zunächst auch niederließen als Gutsherren und nur eben große Bauern waren, gezwungen hätte, Legionen zu bilden, wie es im Römischen Reich der Fall war, dann hätte man ihnen die Lebens­bedingungen entzogen. Unter solcher Geldwirtschaft, wie sie im Römischen Reiche war, konnte man die Legionen überall hinschicken. Aber die Verhältnisse hatten sich allmählich innerhalb Europas so ausgebildet, daß, wenn man es genauso hätte machen wollen wie im Römischen Reiche, wenn der Bauer hätte in den Krieg ziehen sollen, oder der Gutsherr als Graf die Bauern im Kriege anführen,

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diese all ihre Äcker auf den Buckel hätten nehmen müssen - was man ja bekanntlich nicht kann.

Das hatte zur Folge, da man eben doch Bewegung unter den Völkern brauchte, daß sich allmählich herausbilden mußte etwas ganz anderes, ein Element, das nun nicht so ist wie das Legionenwesen im römischen Imperium. Und dieses Element, das sich da herausbildete, das kam auf die folgende Weise zustande. Es kam so zustande, daß - ich rede jetzt von den Jahrhunderten, die auf die Karolingerzeit folgten, denn dasjenige, was ich erzähle, das geschah eben im Laufe von Jahrhunderten -, daß allmählich einzelne, die Gutsbesitzer waren, solche Leute heranzogen, die in ihre speziellen Dienste traten, die von ihnen abhängig wurden. Das waren zumeist solche, die nun über­zählig waren im weiten Feld der Naturalwirtschaft. Und diese Leute, die überzählig waren im Felde der Naturalwirtschaft, die konnte man um sich scharen, wenn man Kriegszüge und Heereszüge unter­nehmen wollte. Diese Leute, die entweder überzählig waren durch Überbevölkerung da oder dort, oder welche dadurch überzählig waren, daß sie sich die Arbeit von andern besorgen ließen, diese waren nun diejenigen Menschen, aus denen sich allmählich über ganz Europa hin das rekrutierte, was nun geschildert wird vom Mittelalter herauf als Ritterschaft; Ritterschaft - im wesentlichen das, was man nennen könnte «Qualitätskrieger», Leute, die den Krieg zu ihrem Handwerk machten, die also das, was sie im Dienste dieses oder jenes Herren taten, um dieses Handwerkes willen ausführten. Mit der Ritterschaft entwickelte sich also zugleich ein besonderes Kriegsvolk heraus, das ein besonderer Stand wurde über ganz Europa hin.

Und dadurch war etwas anderes als eine notwendige Folge ge­geben: es war gegeben, daß gewissermaßen zwei Interessenkreise vorhanden waren. Wenn man diese zwei Interessenkreise nicht ins Auge faßt, versteht man das Mittelalter nicht. Da waren die weiten Interessenkreise derjenigen, denen es eigentlich absolut gleichgültig war, ob diese Ritter oder ihre Anführer das oder jenes unternahmen, die nichts anderes wollten als ihre Scholle bebauen und in der näch­sten Umgebung ihren Handel treiben, ihr Gewerbe ausüben. Dieses Interesse, das allmählich auch die Gesinnung heraufbrachte in Europa,

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die zur Zeit der Völkerwanderung noch nicht vorhanden war, die einem dann später entgegentritt namentlich im Handwerk der Städte: die bürgerliche Gesinnung. Diese verbreitete sich innerhalb der einen Schichte der Bevölkerung, und die ritterliche Gesinnung, welche auf den Qualitätskrieger begründet war, die ging parallel, aber ganz nebenher neben der andern Gesinnung.

Damit haben Sie ein Beispiel gegeben - wenn man die Weltgeschichte richtig betrachtet, so findet man solche Dinge überall, nur in anderer Form -, da haben Sie aber ein solches Beispiel gegeben, wie sich verschiedene Stände herausbilden aus gewissen konkreten Not­wendigkeiten, die im Laufe der Zeit auftreten. Damit aber war eine Diskrepanz eingetreten. Diejenigen, die sich allmählich durch die Verhältnisse aufschwangen - nicht wahr, ich kann nicht alles er­zählen, ich kann nur aphoristische Bemerkungen geben -, schwangen sich eben auf von einer Gutsherrschaft, indem sie sich nach und nach die Umgebung abhängig machten. Das ganze Wesen der Merowinger kam ja auf keine andere Weise zustande, als daß große Gutsherren ihre Netze weiter ausstreckten, mehr Leute abhängig gemacht haben; denn wenn heute in der Geschichte von einem Merowinger-«Staat» die Rede ist, so ist das geradezu demgegenüber ein Blech! Das, was wir heute Staat nennen, beginnt erst nach dem 15. Jahrhundert.

Die Merowinger, die sich aufschwangen, hatten gewissermaßen zunächst nur zu rechnen mit den Menschen, die auf diese Weise als ritterliche Bevölkerung, gewissermaßen als die Überzähligen sich ihnen angeschlossen hatten, ihre Abenteuer mitmachten, und sie hatten fortwährend, weil ja doch das Territorium ein gemeinsames war, die andern Interessenkreise entweder gegen sich, oder sie hatten sie neben sich so, daß sie mit ihnen nichts Rechtes anzufangen wußten. Von einem wirklichen Umfassen, einer staatlichen Administration etwa, die in alle Lebensverhältnisse hineingreift, kann in der damaligen Zeit gar nicht die Rede sein. Wenn man von Fürsten redet für die damalige Zeit, so haben diese Fürsten im Grunde nur irgendeinen Einfluß auf diejenigen, die sich ihnen angeschlossen haben. Der­jenige, der auf seiner Scholle saß, betrachtete sich als der selbständige Herr auf seiner Scholle und kümmerte sich - wenn ich den trivialen

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Ausdruck gebrauchen darf - seiner Gesinnung nach einen blauen Teufel um denjenigen, der da mitherrschen wollte. Der tut, was er will.

Man darf nicht, wenn man in die Zeit Ludwigs des Frommen zurückgeht, die Geschichte heute so lesen, als ob das, was ihm als «Reich» zugeschrieben wird, in einem solchen Verhältnisse ihm zu­zuschreiben wäre, soi-disant zu seiner Regierung gestanden war, wie heute ein Staat zu seiner Regierung steht. Das ist gar nicht der Fall. Diese Dinge müssen schon konkret betrachtet werden. Und so kann man sagen, daß sich herausgestellt haben ständige, verschiedenartige, stark differenzierte Interessenkreise. Das muß man ganz besonders in Betracht ziehen, weil aus diesen Dingen das geschichtliche Leben des Mittelalters überhaupt hervorgeht.

Nun sagte ich: Bemerkenswert ist das 15. Jahrhundert aus dem Grunde, weil im 15. Jahrhundert nach und nach wiederum, nament­lich durch die natürliche Erschließung von Bergwerken und der­gleichen, in Europa das Gold aufgetreten ist, später durch die Ent­deckungsfahrten; so daß seit dem 15. Jahrhundert Verhältnisse ein­getreten sind, die schon dadurch grundverschieden sind von den vor­hergehenden, daß dann wiederum das Gold aufgetreten ist. Und dieses 15. Jahrhundert, das wir auch das Zeitalter des Christian Rosenkreutz nennen können, ist deshalb dasjenige, durch das man wiederum in Europa in die Geldwirtschaft segelte. Da ist auch in dieser Be­ziehung ein mächtiger Einschnitt. Die letzten Zeiten des vierten nachatlantischen Zeitraums waren in Europa die geldlosen, die­jenigen der Naturalwirtschaft. Das ist das, was man ins Auge fassen muß. Und nun entwickelte sich während dieser Zeit durch alle Löcher desjenigen hindurch, was ich geschildert habe, das, was dann vom 15. Jahrhundert ab bewirkte, daß die Verhältnisse allmählich so ge­worden sind, daß wir jetzt von kompakten Nationalitäten, die nach Staaten abgetrennt sind, sprechen können.

Von einem solchen Gegensatz zwischen Deutschen und Franzosen zu sprechen, wie man das seit dem 15. Jahrhundert kann, ist für die Zeit bis zum 15. Jahrhundert noch ganz unmöglich, ist sogar sinnlos. Es hat sich gerade, was man französische Nation nennen kann, ganz

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langsam und allmählich erst gebildet. Gewiß, es waren die Franken unterschieden von den Sachsen; aber der fränkische Charakter war von dem sächsischen nicht mehr verschieden, als ich das letzte Mal geschildert habe. Es waren Stammesunterschiede, keine Volks- oder gar nationalen Unterschiede, keine größeren Unterschiede, als sie heute etwa sind zwischen Preußen und Bayern, vielleicht sogar ein geringerer Unterschied in vieler Beziehung.

Alles, was sich da entwickelt hatte, das hängt aber noch zusammen mit den Verhältnissen, die wir eben geschildert haben. Denn das, was dann französisches Königtum wurde, ging wirklich aus grundbesitze­rischen Verhältnissen hervor. Und der große Unterschied in der Bil­dung der geschlossenen französischen Nationalität und der nach jeder Richtung offenen, sogenannten deutschen Nationalität in der Mitte von Europa beruht im wesentlichen darauf, daß die französischen Mitglieder der Merowinger, Karolinger und so weiter zunächst durch den Stammescharakter in leichterer Weise die Differenzen zwischen sich und den andern glätten konnten; sie kamen leichter aus mit den widerstrebenden Elementen. Denn aus alldem, was ich geschildert habe, bildete sich das heraus, daß zunächst die Leute, die an der Scholle ansässig waren, die Seßhaften überhaupt, auf nichts eingehen wollten, nirgends den Geßlerhut grüßten. Das war schon so Sitte über ganz Europa hin: nirgends den Geßlerhut zu grüßen.

Aber auch diejenigen, die Ritter geworden sind, suchten ja allmäh­lich wiederum da oder dort seßhaft zu werden. Die waren natürlich auch nach und nach, nachdem sie zunächst eine bestimmte Stellung unter dem Schutze dieses oder jenes Lehnsherren, das heißt Fürsten, erlangt hatten, sehr geneigt, sich wiederum selbständig zu machen. Warum sollte man denn nicht auch so mächtig sein wie der, unter dessen Schutze man mächtig geworden ist?

Das aber bedingt, daß derjenige, der so etwas wie ein Herrscher war, es bald mit widerspenstigen Elementen zu tun hatte. Und die Zeit des 9., 10., 11., 12., 13., 14.Jahrhunderts entwickelte sich im wesentlichen so, daß es ein fortwährendes Kämpfen war zwischen den widerstrebenden Elementen und denjenigen, die sie beherrschen wollten. Was sich herausgebildet hatte aus den Konsequenzen der

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Völkerwanderung, das war nicht so einfach schnell in irgendeine Absttaktionsform hineinzukriegen.

Man frägt sich nun: Wie kommt es denn eigentlich, daß sich in dem, was später Frankreich geworden ist, verhältnismäßig am frühesten eine geschlossene Nationalität herausbilden konnte? Dies ist für den historischen Betrachter in gewissem Sinne eine Art von Rätsel, das einem zunächst vor Augen tritt, und man muß versuchen, ein solches Rätsel zu lösen. Denn mit der allgemeinen Redensart: Auf diese oder jene Weise bilden sich Nationen heraus - kommt man nicht aus. Auf jedem Fleck Erde bildet sich das, was Nation ist, wenn man es auch später gleich benennt, auf eine andere Weise aus. Man frägt sich: Wie ist es geschehen, daß von der Merowingerzeit ab bis in das 15. Jahrhundert diese kompakte französische Nation sich bilden konnte?

Nun hängt das allerdings noch zusammen mit etwas früheren Ver­hältnissen. Noch als das römische Imperium mächtig war, wurden weniger nach Mitteldeutschiand als nach dem späteren Frankreich Bewohner, Persönlichkeiten des römischen Imperiums versetzt. Die westlichen Gegenden Europas sind eigentlich sehr, sehr durchsetzt worden schon zur Zeit des Römischen Reiches mit romanischen Ele­menten. Und ich sagte, durch die Lücken dieser Verhältnisse drang manches hinein. Alles andere ist im Grunde genommen im heutigen Frankreich nicht anders in diesen Jahrhunderten, aber das ist anders: hineingeschoben zwischen die andere Bevölkerung waren viele roma­nische Elemente, romanische Persönlichkeiten mit romanischen Anschauungen, mit romanischen Interessen, mit romanischen Nei­gungen, Überbleibsel des alten römischen Imperiums. Und auf den Schwingen des alten römischen Imperiums hatte sich ja das Christen­tum allmählich verfrachtet, könnte man sagen, über die europäischen Verhältnisse.

Nach Frankreich ist das Christentum mit dem Romanentum ge­kommen, ist so gekommen, wie es auch im Römischen Reiche selber seinen Einzug gehalten hat. Und es war daher von einem gewissen Vorteil auf diesem Gebiete, wenn diejenigen, die da herrschen wollten, sich an das hielten, was als römisches Überbleibsel da war. Denn die seßhaften Leute und die Ritter, die hatten alle eine Eigenschaft, die

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sie, wenn noch andere da waren, welche anders geartet waren, nicht recht zum Administrieren, zum Verwalten geeignet erscheinen ließen. Wenn man, wie in Mitteleuropa, lange niemanden hatte als solche Leute, so mußte man natürlich diese Leute verwenden. Nicht wahr, da machte man es eben in Mitteleuropa so: Da kamen die Leute eines bestimmten Gebietes durch rein mündliche Abmachungen zusammen und es wurde von Zeit zu Zeit das veranstaltet, was man ein Thing nannte. Und da besprach man, noch mit Vorstellungen, die alle aus dem atavistischen Heilsehen waren, wie man den einen oder den andern zu bestrafen hätte, der etwas auszufressen hatte. Das wurde mündlich abgemacht, und das war eigentlich über die Gegenden Mitteleuropas ziemlich üblich, diese Dinge mündlich abzumachen. Geschrieben wurde da wenig, weil eben seßhafte Bauern und Ritter die eine Eigentümlichkeit hatten, daß sie alle jedenfalls nicht schreiben und auch nicht lesen konnten. Sie wissen ja vielleicht, daß Wolfram von Eschenbach, der berühmte Dichter des Mittelalters, keinen Buch­staben lesen und schreiben konnte. Das aber konnten die romanischen Elemente, die in Westeuropa eingeflutet waren. Die waren auch in dem Sinne, wie wir das heute nennen, gebildete Leute. Die Folge davon war, daß sich natürlich diejenigen, die herrschen wollten, dieser «gebildeten» Leute bedienten, abgesehen davon, daß die Geistlichen natürlich zunächst aus dieser Klasse genommen wurden. Dadurch kam auch wiederum die Verbindung des administrativen Beamtenstandes mit dem geistlichen Elemente, das zum großen Teil aus dem eingefluteten romanischen Elemente bestand.

Damit aber und mit der Kirche zugleich, die also vom Romanischen aus eingezogen war, kam es, daß das sprachliche Element eine un­geheure Rolle zu spielen begann. Und das Rätsel, das ich angedeutet habe, ist nicht anders zu lösen, als wenn man sich eine Vorstellung verschafft von der ungeheuren suggestiven Bedeutung der Sprache. Mit der Sprache, die sich aus dem Romanischen umgestaltete im Westen Europas, die aber den romanischen Duktus, wenn ich so sagen darf, behielt, mit dieser Sprache wurde tatsächlich nicht nur eine Sprache, sondern ein ganzer Geist übertragen. Denn in der Sprache lebt mit ungeheurer Suggestionskraft ein Geist. Und dieser

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Geist wirkte überwältigend. Und der Einzug jetzt des romanischen Geistes auf den Flügeln der romanischen Sprache, der vollzog sich von der Karolingerzeit bis ins 15. Jahrhundert hinein.

Und da tritt das Eigentümliche ein, daß nun Westeuropa ganz ver­schieden ist von den Verhältnissen in Mitteleuropa. In Westeuropa ist fertig dasjenige, was die Sprache, die sich allmählich aus einem romanischen Elemente heraus gebildet hat, suggestiv in den Men­schenseelen bewirkt hat, als von unten herauf. Das, was im breiten Volkstum lag, in dem, was ich eben geschildert habe als die seßhaften Bauern, dieses seßhafte Bauerntum mit seinem alten atavistischen Hellsehen - selbst wenn diese Leute Christen geworden waren -, mit dem Herauftragen ihres, nicht Glaubens, sondern unmittelbaren Anschauens dessen, was in den geistigen Welten war, das trat ja für die Leute, die da oben herrschten oder administrierten, überall nicht hervor. Aber eine Oberschicht bildete sich gerade im Westen Europas, welche suggestiv, indem sie die Sprache bildete, auch nach unten wirkte. Wir brauchen diese Oberschichte nicht nach dem zu betrach­ten, wie sie administrierte und was sich da für Rechts- und Verwal­tungsverhältnisse herausbildeten; aber wir haben sie doch als solche zu betrachten, die als Beamtenschicht, als Sprachenschicht die Sprache hineintrug in die Unterschicht und mit der Sprache das ganze suggestive Element, das sich als ein Gleichförmiges ausbreitete über ein gewisses Territorium, bevor das Volk von unten herauf gegen das reagierte, was sich als Herrscherschicht gebildet hatte. Denn wir sehen bis zum 15. Jahrhundert das, was sich als Herrscherschicht gebildet hatte, seine verschiedenen Manipulationen machen; und das, was unten ist, das kümmert sich so lange nicht darum, bleibt frei, bis eben Zusammenstöße kommen. Das, was herrscht, hat eben, nicht wahr, die Tendenz, immer mehr und mehr an sich zu ziehen. Bis das Land so weit war, daß die Bauernschaft, das ursprüngliche Volkstum, zurückreagierte, war schon das sprachliche Element mit seiner sugge­stiven Kraft energisch wirksam gewesen. Und Sie können es gerade in Westeuropa urphänomenal bezeichnend finden, sehen, wie da die breite Volksmasse reagiert, die noch in ihrer alten Geistigkeit drinnen war, in ihrer atavistischen Geistigkeit.

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Der Sendbote, der Genius dieser Volksmasse, das ist die Jungfrau von Orleans. Mit der Jungfrau von Orleans tritt auf, was, nachdem die Sprache durch ihre Suggestivkraft gewirkt hat, dann erst die Reaktion des Volkstums von unten ist, was das französische König­tum zwingt, mit dem Volke zu rechnen. Sie sehen, bis ins 15. Jahrhundert, bis zum Auftreten der Jungfrau von Orleans, die eigentlich Frankreich gemacht hat als Frankreich, romanische Überflutung, dann Auftreten des Volksboten. So daß noch an dieser Art des Auftretens des Volkstums durch die Seherwissenschaft der Jeanne d'Arc sich zeigt, wie das, was natürlich überall in diesem Volkstum gelebt hat, reagiert nach oben und da eigentlich erst für die äußere Ge­schichte «Geschichte » wird.

Solche Jungfrauen von Orleans - das heißt nicht mit der Tatkraft, aber mit der Seherkraft -, die hat es über ganz Europa gegeben in diesen Jahrhunderten. Und das Fundament, auf dem die Jungfrau von Orleans baute, das war eben das über die breite Bauernschaft und über die breite Masse des Volkes ausgebreitete Element. In der Jungfrau kam es nur herauf. Man schildert es nicht für die Leute. Man muß Ludwig den Dummen - nein den Frommen - und seine Räte und all das Zeug, was da in den Chroniken steht, was sie zusammengeschrie­ben haben, als «Geschichte» kodifizieren und muß den Leuten vor­machen, als wenn diese großen Gutsbesitzer Verwalter von Staaten gewesen wären und dergleichen. Aber das steht doch im Grunde ge­nommen außerhalb des wirklichen konkreten Lebens. Das wirkliche konkrete Leben aber war durchsetzt, die Geschichte sagt nichts davon, aber es war durchsetzt von dem, was dann in dem Genius der Jung­frau von Orleans an die Oberfläche trat und was hineintrat in das französische Wesen zu einer Zeit, als eben die suggestive Sprachkraft ausgeübt wurde. Und dadurch wurde von unten herauf dasjenige hineingeflutet in das französische Wesen, was Volkskraft war. So ist das zustande gekommen.

Das war nicht so in Mitteleuropa. Da übte keine Sprache eine solche suggestive Gewalt aus. Da waren alle andern Verhältnisse ähnlich, aber es war nichts, was zusammenschweißte eine größere Stammesmenge durch die suggestive Kraft der Sprache zu einer Volkskraft.

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Daher bleibt dasjenige, was in Mitteleuropa ist, in nationaler Bezie­hung eine flüssige Masse, läßt sich - und das ist das Eigentümliche - leicht zur Kolonisation verwenden. Aber die Kolonisation, die mit der Bevölkerung Mitteleuropas gemacht wird, ist eine andere als heute. Wenn man heute kolonisiert, so handelt es sich ja vorzugsweise darum, daß man fremde Gebiete erwirbt. Aber damals schickte man Leute in fremde Gegenden - namentlich zahlreich wurden sie ja be­rufen, die Kolonisatoren - und was sie dann verstanden von der Heimat, das trugen sie in fremde Gegenden hinein.

So wurde es mit dem Osten von Europa im weitesten Umfange gemacht. Aber es blieb eine flüssige Masse. Und während vor allen Dingen im Westen die suggestive Sprachkraft wirkte, blieben in Mitteleuropa die Balgereien, die Zänkereien, die differenzierten In­teressen, die ich geschildert habe, Unbotmäßigkeiten vor allen Din­gen gegen diejenigen, die herrschen wollten, was dann zur Folge hatte, daß sich nicht bilden konnte wie im Westen eine weithin sich erstreckende, gleichförmige Nationalität. So etwas war nicht da wie die suggestive Gewalt der Sprache. Daher ergab sich aus den früheren Verhältnissen heraus vielfach ein Heraufkommen desjenigen, der eben gerade durch die Verhältnisse der Stärkere war. Daher die Territorialfürstentümer, die auch noch bis über das 15. Jahrhundert hinaus geblieben waren, und die sich im wesentlichen ergeben haben, weil nicht eine solche suggestive Gewalt da war, wie es die Sprachgewalt im Westen war.

Mit all diesen Verhältnissen nun - die ich Ihnen wirklich jetzt nur höchst unvollkommen schildern kann -, mit all diesen Verhältnissen hatte zu rechnen das andere Element, das nun wirklich zum Teil ver­stand, damit zu rechnen: das kirchliche Element, das sich allmählich herausschälte in Rom aus dem untergegangenen römischen Imperium. Dieses kirchliche Element wird in okkultistischen Kreisen genannt der graue Schatten des römischen Imperiums, weil man alles das übernommen hat, was Denkweise war über Administrieren und der­gleichen vom römischen Imperium, aber es angewendet hat auf kirch­liche Verhältnisse. Dieses Streben der Kirche mußte dahin gehen, differenziert sich hineinzuleben in das, was sich in Europa herausbildet.

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Und ich habe Ihnen einiges darüber ja schon angedeutet, wie man von Rom aus wußte mit Verhältnissen zu rechnen. Man wußte vom 9. Jahrhundert bis zum Ende des 10. Jahthunderts und Anfang des 11. Jahrhunderts wunderschön mit den Verhältnissen zu rechnen, indem man von Rom aus nun eigentlich bestrebt war, dasjenige, was man da Christentum nannte, in administrativer Form hineinzudrücken in alle diese Verhältnisse. War irgendwo es möglich, eine Stadt in einen Bischofs sitz zu verwandeln, so tat man das; war irgendwo eine Bauernschaft, die man gewinnen wollte: man errichtete ihr eine Kirche, daß sie sich darum gruppierte; war irgendwo ein Gutsherr, so versuchte man nach und nach an die Stelle dieses Gutsherrn, indem man seinen Sohn ausbildete oder dergleichen, einen Geistlichen zu setzen. Die Kirche benutzte alle Verhältnisse. Und in der Tat: wie niemals später war die Kirche innerhalb dieser Jahrhunderte in die Möglichkeit versetzt, europäische Universalmacht zu werden. Dieser Prozeß, wie die Kirche im 9., 10., 11. Jahrhundert arbeitete, ist un­geheuer bedeutungsvoll, weil er wirklich darauf ausgeht, mit allen konkreten Verhältnissen zu rechnen. Das muß man nur ins Auge fassen.

Die Leute, die dazumal dirigierende katholische Geistliche oder Priester waren, die waren nicht so töricht, zu glauben, daß die Geister, von denen die Menschen im atavistischen Hellsehen sprachen, keine Geister wären; die rechneten damit, daß das reale Mächte sind, aber die suchten die geeigneten Mittel, um sie zu bekämpfen. Während die Fürsten durchaus nicht mit ihnen fertig wurden, konnte die Kirche nach und nach tatsächlich die Vorstellungen - die für sie ganz berechtigt waren - mit einer Nomenklatur beglücken. Nicht wahr, in Rom wußte man ganz gut: Das sind nicht lauter Teufel, von denen das atavistische Hellsehen spricht; aber diese Dämonen sind unsere Gegner, die müssen wir bekämpfen.

Ein Kampfmittel war dieses, daß man sie zu Teufeln stempelte, also mit einer Nomenklatur belegte. Das war ein ganz realer Kampf gegen die geistige Welt, den man dazumal führte, und erst mit dem 15. Jahr­hundert trat das ein, daß man kein Bewußtsein hatte von den wirken­den geistigen Mächten. Die Stärke des sich ausbreitenden kirchlichen

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Christentums liegt darinnen, daß man real zu rechnen wußte mit dem, was real ist: mit den geistigen Mächten. Und im 11., 12. Jahrhundert war bis zu einem gewissen Grade eigentlich der Prozeß abgeschlossen.

Sie werden die Geschichte des Mittelalters nur richtig beurteilen, wenn Sie ins Auge fassen, daß all die kirchlichen Künste, die wirksam angewendet worden sind und welche große, bedeutungsvolle Künste waren, eigentlich ausgebildet worden sind in der Kirche vom 9. Jahrhundert ab, wo es sich zum Beispiel gerade unter dem Papst Niko­laus I. zeigte, wie man stark rechnete mit den geistigen Mächten, wie man zu rechnen hatte mit alldem, was das Volk durch das atavistische Hellsehen wußte. Und die Kunst, im Geiste zu wirken, die hat eigent­lich die Kirche groß gemacht. Aber mit dem 11., 12. Jahrhundert waren diese Künste erschöpft. Gewiß, die alten übte man weiter, aber neue hatte man nicht hinzuerfunden, so daß man sagen kann: alles übrige, was geschieht, geschieht eigentlich im Dienste dieses gewalti­gen Geisterkampfes. Denn selbst dasjenige, was einem so ton­angebend, scheinbar tonangebend entgegentritt: die Begründung des deutsch-romanischen Imperiums, das da übergeht, nicht wahr, vom Westen nach Mitteleuropa unter den sächsischen Kaisern, diese Zu­sammenkoppelung von Mitteleuropa mit Italien, das tritt mehr oder weniger zurück gegenüber der ungeheuren Macht, die darinnen liegt, daß die Kirche in diesen Zeiten ein Internationales über Europa aus­gießt, das erst vom 15. Jahrhundert ab ein Nationales wird. Erst vom 15. Jahrhundert ab entwickeln sich die Verhältnisse, auf Grund deren man gegenwärtig in Europa lebt, auch mit Bezug auf die Völkerschaften in Mitteleuropa. Es muß immer wieder und wieder betont werden, denn was lag denn eigentlich dem zugrunde, was sich immer­fort abspielte zwischen den sogenannten römisch-deutschen Kaisern und den Päpsten? Sie können das besonders studieren, wenn Sie die Darstellungen des vielleicht in der Geschichte entstellten, politisch aber sehr klugen Heinrich IV. lesen. Was zugrunde lag, war bei sol­chen Dingen immer, daß es notwendig war für diejenigen, die herr­schen wollten, die herrschen sollten meinetwillen, die Widerspenstigen zu zähmen. Die sich ausbreitende Kirche war natürlich ein gutes Mittel zur Bekämpfung der Widerspenstigen - wenn die Kirche mithalf.

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Daher das immer fortwährende Zusammenbinden der weltlichen Gewalt mit der kirchlichen Gewalt, was eben in der Zeit nur erreicht werden konnte durch ein gewisses Verhältnis zwischen denen, die da in Mitteleuropa gewählt wurden, und die gerade durch das, was sie durch diese Wahl in Mitteleuropa erlangten, wenig anderes hatten von ihrem Herrschertum als die Kräfte von den Widerspenstigen aus, die Kräfte von denjenigen, die sie eigentlich gar nicht haben wollten.

Man bedenke nur: mit einem Wahlkönigtum hatte man es zu tun. Die Könige wurden gewählt. Sie wurden gewählt von den sogenann­ten sieben Kurfürsten. Von diesen sieben Kurfürsten waren aber drei die kirchlichen geistlichen Fürsten. Die kirchlichen geistlichen Fürsten, mit Hilfe der kirchlichen Mittel, wie ich eben angedeutet habe, waren mächtig. Die Erzbischöfe in Mainz, Köln, Trier hatten zunächst drei Stimmen von den sieben, die in Betracht kamen, und die waren mächtig. Dazu kam eigentlich als der einzige noch Mächtige der Pfalzgraf am Rhein; der war noch so, daß er nach den Verhältnissen, die sich herausgebildet hatten, auch mit seinen Vasallen - später nannte man sie Untertanen - fertig werden konnte. Aber die drei andern Kurfürsten, sogenannten Kurfürsten, von denen war zum Beispiel der eine der König von Böhmen, der selber ein Wider­spenstiger war; die andern beiden herrschten über damals noch ganz slawische Gegenden, an der Elbe und so weiter, mit stark slawischer Bevölkerung. Das Königtum bedeutete eben wirklich auch nichts anderes, als was das Karolingertum bedeutet hat. Der Unterschied war nur der, daß das Karolingertum leichter fertig wurde mit dem, was an die Oberfläche strebte, weil die suggestive Gewalt der Sprache da war. Das war in Mitteleuropa nicht da.

Da müßte ich noch viel erzählen, wie sich die Differenzen im ein­zelnen entwickelt haben; aber das können Sie ja in jedem Geschichts­buch nachlesen, und wenn Sie solche Gesichtspunkte verfolgen, wie wir sie hier anwenden, so werden Sie Geschichte mit andern Augen lesen.

Als nun etwas abgeflaut waren die Verhältnisse, die sich allmählich herausgebildet hatten zwischen Papsttum und Kaisertum, da war das kirchliche Element aber so stark geworden, daß es selbständige

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Politik machen wollte. Das war im wesentlichen im 11. und 12. Jahr­hundert der Fall. Und da ist es interessant, daß Papst Innozenz III. die Verhältnisse in Italien, die bis dahin eigentlich anarchische waren - in gewissem Sinne am schwierigsten war das Kirchentum da -, nun von Rom aus administrierte. Eigentlich ist Innozenz III. jetzt als eine menschlich-geistige Macht mit dem, was von ihm ausgegangen ist, erst der Schöpfer eines nationalen Bewußtseins der sogenannten Italiener. Innozenz III. ist ein langobardischer Sprößling, aber man kann sagen, daß das, was von ihm ausgegangen ist, im Grunde die italienische Nation gemacht hat, die eigentlich auch durch die Im­pulse, die Innozenz III. gelegt hat, zu einer Nation geworden ist. Auch bis gegen das 15. Jahrhundert ist da der Nationalisierungsprozeß abgeschlossen worden. Da ist es im wesentlichen also die Kirche selber, die das nationale Element geschaffen hat. So daß man suchen muß in bezug auf die Bildung der französischen Nation gerade in diesen Zeiten die suggestive Gewalt der Sprache, in der italienischen Nation direkt das kirchliche Element. Diese Dinge bestätigen alle nur das­jenige - wenn man sie geschichtlich betrachtet, so ist das prosaisch, abstrakt -, was man konkret aus der Geisteswissenschaft bekommt, was wir ja schon für die verschiedenen Nationen betrachtet haben.

Für Innozenz III. ist durchaus charakteristisch, daß er schon eigent­lich der katholischen Kirche ganz bestimmte Aufgaben gestellt hat. Und man könnte fragen: Worinnen besteht denn nun eigentlich die Aufgabe, die sich das Papsttum stellte nach der großen Zeit, von der ich gesprochen habe, etwa vom 10., 11., 12. Jahrhundert ab, worinnen besteht denn die Mission des Papsttums seit diesen Jahrhunderten? Die Mission des Papsttums besteht in der katholischen Kirche überhaupt im wesentlichen darinnen, Europa davon abzuhalten, zu er­kennen, was eigentlich der Christus ist. Mehr oder weniger bewußt handelt es sich darum, eine Kirche zu begründen, welche vollständigstes Verkennen des eigentlichen christlichen Impulses sich zur Aufgabe setzte, nicht unter die Leute kommen zu lassen, was der eigentliche Impuls des Christentums ist. Denn, wo immer versucht wird, irgendein Element in den Vordergrund zu stellen, das mehr an den christlichen Impuls heran will - sagen wir das Element des

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Franz von Assisi oder ähnliches -, da wird das zwar konsumiert, aber in die eigentliche Struktur der Kirchengewalt doch nicht aufgenom­men. Die europaischen Verhältnisse haben sich eben so heraus­gebildet, daß die Menschen in Europa allmählich ein solches Christen­tum angenommen haben, das keines ist. Das Christentum soll erst wiederum bekannt werden durch die geisteswissenschaftliche Ent­deckung des Christentums. Dadurch, daß die Europäer ein Christen­tum angenommen haben, das keines ist, dadurch ist es wesentlich mitbedingt, daß über die christlichen Geheimnisse zu sprechen heute eine absolute Unmöglichkeit ist. Da läßt sich nichts machen, dazu be­darf es erst wieder langer Vorbereitungen. Denn nicht darauf kommt es an, daß man den Christus-Namen braucht, sondern darauf würde es ankommen, daß man das Wesentliche, was das Christentum ist, in richtiger Weise ins Auge zu fassen vermöchte. Das aber sollte gerade verhüllt, das sollte verdrängt werden durch dasjenige, was Päpste in solchem Stil wie Innozenz III. gemacht haben.

Schon die äußeren Verhältnisse waren merkwürdig, wie sie ein Innozenz III. herausbildete. Denn man darf nicht vergessen, daß da­mals von päpstlicher Seite ein merkwürdiger Sieg gewonnen worden ist. Es gab - das werden Sie aus der äußeren Geschichte wissen -, eine zweifache Strömung in Mitteleuropa, Südeuropa, Westeuropa: eine mehr papstfreundliche Strömung, die sogenannte welfische, und eine papstfeindliche, die hohenstaufische. Die Hohenstaufen waren ja mehr oder weniger immer in Konflikt mit den Päpsten. Das hat aber Innozenz III. nicht verhindert, mit den Franzosen und den Hohen­staufen zusammen über die Engländer und die Welfen zu siegen. Denn es war eben bereits soweit gekommen, daß man auf päpstlicher Seite nunmehr mit den Verhältnissen rechnete, die dann nachher politische geworden sind. Die Kirche konnte in ihren besseren Zeiten noch nicht mit politischen Verhältnissen rechnen; sie mußte mit kon­kreten Verhältnissen rechnen.

Das gibt Ihnen ein Bild von der Konfiguration von Europa und von dem allmählichen Einfügen, Sich-Einfügen der universellen Kirche in diese Konfiguration von Europa. Nun dürfen wir nicht vergessen, es war im wesentlichen ein Überwinden des alten hellseherischen

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Elementes durch die Kirche. Das war die eine Seite. Aber das alte hellseherische Element entwickelte sich trotzdem fort, und Sie sehen überall, wo weltliche Gewalt und Kirchengewalt ihre Kompromisse schließen, daß da oder dort die Rede ist davon, die Fürsten oder die Päpste müssen den Kampf gegen die Ketzer führen. Denken Sie nur einmal an die Waldenser und so weiter, an die Ka­tharer; überall sind solche ketzerischen Elemente. Sie haben aber auch ihre Fortsetzung, ihre Entwickelung gehabt. Aus denen bildete sich allmählich etwas heraus, und das waren die Leute, die sich nach und nach von sich aus das Christentum ansahen. Und das Merk­würdige ist, daß aus der Mitte der Ketzer allmählich Leute hervorkamen, die sich das Christentum von sich aus anschauten und die erkennen konnten, daß dasjenige, das von Rom ausgeht, doch etwas anderes ist als das Christentum. Das war ein neues Element des Kampfes, das besonders stark Ihnen entgegentreten kann, wenn Sie verfolgen den Kampf, den die Könige von Frankreich, die verbündet waren mit dem Papste, zu führen hatten gegen den Grafen von Tou­louse, der ein Protektor der südfranzösischen Ketzer war. Und so etwas findet man auf allen Gebieten. Aber diese Ketzer schauten sich eben das Christentum an und konnten nicht einverstanden sein mit dem politischen Christentum, das von Rom ausging. So daß, während sich die Verhältnisse bildeten, die ich geschildert habe, es auch überall solche Ketzer gab, die aber eigentlich Christen waren, welche heftig angefeindet wurden, die oftmals sich stille hielten, allerlei Gemein­schaften gründeten, Geheimnis breiteten über das. Die anderen waren mächtig; sie aber strebten nach einem besonderen Christentum.

Nun wäre es interessant, zu studieren, wie auf der einen Seite aller­dings die fortwährenden Vorstöße von Asien herüber Anlässe wurden zu dem, was man die Kreuzzüge nennt. Aber für das Papsttum war ja zu gleicher Zeit der Ruf der durch Peter von Amiens und andere im Auftrage des Papstes zu den Kreuzzügen erscholl, eine Art von Auskunftsmittel. Das Papsttum brauchte schon in der damaligen Zeit eine Art von Aufbesserung. Was rein politisch geworden war, hatte nötig, einen künstlichen Enthusiasmus zu erzeugen, und im wesentlichen war die Art, wie von päpstlicher Seite die Kreuzzüge betrieben wurden,

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dazu bestimmt, neuen Enthusiasmus in die Leute hineinzugießen. Jetzt aber fanden sich solche Menschen, die eigentlich aus den Reihen der Ketzer hervorgingen, die in der geraden Fortentwickelung der Ketzer liegen.

Besonders charakteristisch, repräsentativ für diese Ketzerleute, die aber das Christentum sich angeschaut hatten, war Gottfried von Bouillon; denn Gottfried von Bouillon wird in der Geschichte immer entstellt. Es wird immer in der Geschichte so dargestellt, als ob Peter von Amiens und der Walter von Habenichts zuerst gezogen sind, nichts Rechtes haben ausrichten können, und dann, unter derselben Tendenz, sei Gottfried von Bonillon mit anderen nach Kleinasien gezo­gen, und die hätten nun dasselbe fortsetzen wollen, was der Peter von Amiens und der Walter von Habenichts hätten machen sollen. Davon kann aber gar nicht die Rede sein. Denn dieser sogenannte erste ge­regelte Kreuzzug ist etwas ganz anderes.

Gottfried von Bouillon und die andern, die mit ihm verbunden, waren wesentlich - wenn sie auch äußerlich das nicht so zur Schau trugen, aus den Gründen, die ich auseinandergesetzt habe - aus den Reihen der Ketzer hervorgegangen. Und für diese war das Ziel zu­nächst ein christliches: sie wollten mit Hilfe der Kreuzzüge, indem sie von Jerusalem aus ein neues Zentrum gegen Rom begründeten, ein wirkliches Christentum an die Stelle des Christentums in Rom setzen. Die Kreuzzüge waren von denjenigen, die gewissermaßen in ihre eigentlichen Geheimnisse eingeweiht waren, gegen Rom gerichtet. Und das geheime Losungswort der Kreuzzügler war: Jerusalem gegen Rom. - Das ist dasjenige, was in der äußeren Geschichte wenig berührt wird, was aber so ist. Was man aus dem ketzerischen Christentum heraus im Gegensatz zu dem römisch-politischen Christentum wollte, das wollte man auf dem Umwege durch die Kreuzzüge erreichen. Aber das ging nicht. Das Papsttum war noch zu mächtig. Aber was da zustande kam, das war, daß man den Gesichtskreis erweiterte. Man braucht sich nur zu erinnern, wie der Gesichtskreis verengt worden ist schon von den Zeiten des Augustinus her in Europa. Sie finden in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» von Augustinus den Ausspruch angeführt, den aber auch schon Gregor

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von Nazianz und andere getan haben: Ja, gewisse Dinge sind natür­lich mit der Vernunft nicht zu vereinen, aber die Kirche, die katholische Kirche schreibt sie vor, daher glaube ich es. - Diese Version, diese unheilvolle Auskunft, die ja in vieler Beziehung für Europa notwendig war, hatte aber mit sich gebracht, daß man große Gesichtspunkte, die geeignet waren, an große Empfindungen, an große Weltanschauungen anzuknüpfen, daß man diese floh. Lesen Sie die Bekenntnisse des Augustinus, wie er die Manichäer flieht. Und eigent­lich ist es das, daß er in der Manichäerlehre eine Weltanschauung hat. Davor hat man Angst, davor hat man Furcht, davor scheut man zurück. Drüben in Asien war aber aufgeblüht auf Grundlage dessen, was ich in ganz materieller Weise geschildert habe als Goldzufluß nach dem Oriente, die alte Perserlehre, die einen großen Aufschwung genommen hat. Die Kreuzfahrer erweiterten ihren Gesichtskreis sehr, konnten anknüpfen an dasjenige, was eigentlich verschüttet war, und daher wurde ihnen manches Geheimnis kund, das sie sorgfältig be­hüteten. Die Folge davon war, daß sie, weil sie nicht mächtig genug waren, «Jerusalem gegen Rom» durchzuführen, die Dinge weiter als Geheimnis behandeln mußten. Daher entstanden Orden, allerlei Bünde, welche gewisse christliche Dinge unter anderem Mantel, weil eben die Kirche mächtig war, in Orden und dergleichen bewahrten, die aber eben gegnerisch gegen die Kirche sind.

Damals hat sich eigentlich jene Differenz herausgebildet, die einem jetzt nur noch dann entgegentritt, wenn man wieder einmal irgendwo, sagen wir in Italien, eine Kirche besucht hat und wenn darinnen gerade einer gegen die Freimaurer gepredigt hat: man sieht da Leute stehen, denen natürlich die Freimaurer höchst gleichgültig sind; sie wissen gar keinen Namen, aber der Pfarrer wettert auf der Kanzel gegen die Freimaurer. Dieser Gegensatz zwischen Kirchentum und Freimaurerei - was trotzdem aus dem Ketzertum sich heraus ent­wickelt hat -, der hat sich im wesentlichen dazumal gestaltet.

Diese und manche andern Erscheinungen könnte man anführen, wenn man im Konkreten, im einzelnen wirklich verstehen will, was in Wirklichkeit dazumal eigentlich geschehen ist. Und Sie werden er­sehen haben aus dem Ganzen, daß das Leben zum Teil ein recht

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mannigfaltiges war, aber daß die verschiedensten geistigen Interessen­kreise durcheinanderspielten. Es traten den Leuten vor Augen solche Gegensätze, wie der zwischen den Ketzern, von denen eigentlich viele Christen waren im besten Sinne des Wortes, und den Kirchenchristen. Man könnte viele andere Dinge noch anführen, die dann in Deutschland zum Beispiel zur Reformation geführt haben und der­gleichen. Man könnte anführen, daß durch das Politisieren der Kirche die Kirche immer mehr und mehr an Machtmitteln verloren hat, wäh­rend es in früherer Zeit noch ganz undenkbar gewesen wäre, daß die Kirche nicht die Möglichkeit gefunden hätte, das durchzusetzen, was sie wollte. Auf gewissen Gebieten muß man doch sagen - trotzdem die Kirche in der Lage war, durch das Konzil von Konstanz den Hus zu verbrennen -: der Husizismus hat sich erhalten und als Macht hat er eigentlich ziemliche Bedeutung gehabt.

Nun aber, worinnen besteht der eigentliche Timbre dieser mittel­alterlichen Gebildeten? Nicht wahr, eine religiöse Strömung breitete sich aus, die zuletzt rein politische Form hatte. Schade, daß die Zeit so kurz ist; es würden sich viele interessante Sachen noch anknüpfen lassen. Eine religiöse Strömung breitete sich aus, die universellen Charakter annimmt. Durch die andern Verhältnisse entwickeln sich allmählich die Nationalitäten in Europa. Wenn Sie bedenken, daß das Christentum mit heraufgebracht hat Vorstellungen, die sich so eingewurzelt haben in Europa wie die vom Sündenfall, so daß solche Stücke entstehen konnten wie das «Paradeisspiel», das über weite Gegenden, gerade im 12. Jahrhundert über ganz Europa gespielt wurde. Es ist bis in die einzelnsten, elementarsten Verhältnisse hinuntergegangen. Da sind tief, tief in die Herzen und Seelen gehende Vorstellungen zu weiter Verbreitung gekommen, Vorstellungen über dasjenige, was der Mensch nach - wenn man so sagen darf - dem ursprünglichen Ratschluß Gottes eigentlich hätte sein können und was er geworden ist.

Das erzeugte eine Stimmung, und vielleicht niemals, ganz gewiß nicht in unserer Zeit, hat man in so weitem Umkreise immer wieder und wiederum gefühlsmäßig sich eine Frage aufgeworfen, die Frage, die basiert ist auf dem Unterschied zwischen dieser Welt hier und

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zwischen der Welt des Paradieses, zwischen der Welt, die den Men­schen glücklich machen kann. Diese Frage in den verschiedensten Varianten beherrschte schon weite Kreise. Und Leute, die intelligent waren, Leute, deren Sehnsuchten intellektuelle waren, die kamen da­durch dazu, ihr Streben oftmals in naiver, aber oftmals auch in sach­licher Weise auf solche Rätsel hinzurichten. Betrachten Sie nur die ganze Konfiguration der Zeit. Mit dem römischen Imperium ist Europa goldarm geworden. Es kam die Naturalwirtschaft. Unter der Naturalwirtschaft hatten sich allmählich Verhältnisse herbeigeführt - Sie brauchen nur an das mittelalterliche Faustrecht zu denken, an das Zusammenheiraten der Herrscherfamilien und so weiter -, die dem Volke nicht als paradiesisch erschienen. Die Kirche hatte sich aus­gebreitet, für viele so, daß sie sich sagten: Es ist nicht das Christentum, es ist eher zur Verhüllung des Christentums da, gibt eher eine falsche Vorstellung von dem Christus-Mysterium als eine richtige. Aber das alles hat ja zur Wirkung gehabt, daß wir nicht glücklich sind. - Die Frage: Warum ist der Mensch auf der Erde nicht glück­lich? - ja, man kann sagen, mehr als Essen und Trinken hat allmählich diese Frage im 13., 14., 15. Jahrhundert die Menschen beschäftigt, gerade diejenigen, die empfunden haben in rechter Weise irgend etwas über das Mysterium von Golgatha. Was ja natürlich eine tiefe Bedeutung und eine andere Bedeutung hat, das verband sich für die Menschen mit der Frage: Warum sind wir nicht glüclllich? Unter welcher Bedingung kann der Mensch denn auf der Erde glücklich werden?

Dadurch bildete sich etwas heraus - in der Form, wie es sich heraus­gebildet hat, ist es auf diese Ursache zurückzuführen, die ich jetzt an­führen werde -, was Ihnen aus den Schilderungen, die ich gegeben habe, begreiflich sein wird. Europa war ohne Gold; Naturalwirtschaft war das, auf Grund dessen sich die unglückliche Menschheit aus­gebildet hat. Das römische Papsttum hat das Christentum verhüllt. Aber die Menschen sollen doch nach etwas streben, was ein wirk­liches menschliches Ziel ist. Und so hat sich denn, wenn man die Sache kurz sagt, klingt sie paradox, herausgebildet in weiteren Krei­sen, gerade in denen, die aus dem Ketzerkreise hervorgegangen sind,

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die Stimmung: Ja, wir sind arm geworden in Europa, das Romanen­tum hat uns allmählich arm gemacht. - Und man hat eingesehen, daß sich nur diejenigen herausarbeiten, die auf dieselbe Weise sich herausarbeiten, wodurch das Römische Reich groß geworden ist, die zu Gold gekommen waren. Wie kann man das paralysieren? Wie kann man die Macht des Goldes paralysieren? Wenn man Gold machen kann!

So hängt mit den ganz konkreten Verhältnissen die weitverbreitete Experimentier- und Probierkunst des Goldmachens zusammen in der Zeit, wo man arm an Gold war und wo nur einzelne daher zu Gold kamen, die mit dem Golde die andern tyrannisieren konnten. Es er­strebten die Leute, dieses auszugleichen. Denn das wußten sie: Wenn jeder Gold machen kann, so hat das Gold keinen Wert. - Es wurde daher das Ideal, Gold machen zu können. Sie sagten sich: Glücklich kann man jedenfalls nur in einer Welt sein, in der man Gold machen kann. - Und in ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Fragen nach dem «Stein der Weisen», sogar mit der Frage nach dem «Homunku­lus». Da, wo die Interessen so auftreten, wie sie auftraten durch die Familienverhältnisse - man sah es an den Teilungen der Karolinger und so weiter -, da können die Menschen nicht glücklich sein. Das aber hängt zusammen mit der natürlichen Fortpflanzung des Men­schen. Jedenfalls, wenn ein Paradies möglich ist, so kann es eher mög­lich sein, wenn man Homunkuli macht, als wenn die gewöhnliche Fortpflanzung mit all den Familienverhältnissen fortdauert. Solche Dinge, die heute ganz paradox, verdreht klingen, die waren dazumal etwas, was unzählige Gemüter bewegte. Und man versteht die Zeit nicht, wenn man nicht weiß, daß sie von solchen Fragen bewegt wurde.

Und dann kam das 15. Jahrhundert, und das machte äußerlich natürlich zunächst der Goldsucht dadurch ein Ende, daß man Amerika entdeckte und von dort das Gold herüberbrachte. Und dann flaute das ab, was ich eben charakterisiert habe. Universell zusammen­fassend alle diejenigen Elemente, die in den Kreuzzügen wirkten, sich vertieft haben während der Kreuzzüge, zusammenfassend all die Sehnsuchten, die im Mittelalter lagen - die Kunst, Gold zu machen, den

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Homunkulus zu erzeugen -, das alles auf eine wirklich geistige Weise so zusammenzufassen, daß es ein tatkräftiger Impuls hätte werden können, das war im wesentlichen dasjenige, was sich die Genossen des Christian Rosenkreutz zur Aufgabe gestellt haben. Dazu mußte es erst zu all den Dingen kommen, die sich bis zum 15. Jahrhundert hin entwickelt haben.

Es war die Zeit noch nicht gekommen, aus dem Geiste heraus neue Wahrheiten zu holen, und daher blieben die Impulse des Christian Rosenkreutz, ebenso wie die Bemühungen von Johann Valentin Andreae, zuletzt erfolglos. Worauf gingen sie? Sie gingen dahin - und das, was ich jetzt sage, bitte ich wohl zu beachten und zu berück­sichtigen -, sich zu sagen: Europa differenziert sich; aus dem, was da früher gewaltet hat, sind differenzierte Gebilde hervorgegangen.

Es wäre noch interessant, aber dazu ist nicht mehr Zeit, daß ich auch noch erzählen könnte, wie in einer ähnlichen Weise sich die britische Nation gebildet hat. Sogar im Osten hat sich die russisch-slawische in einer entsprechenden Weise gebildet. Das alles könnte man schildern. Überall ist es mit einer Reaktion von unten gegangen, nur ist sie in Frankreich so bedeutsam, wo der Genius von unten her direkten Charakter hatte, indem er in Jeanne d'Arc erschien.

Gegenüber dieser Differenzierung etwas wirklich Universalistisches zu machen - denn daß das Romanentum nicht taugt, universalistisch zu sein, hatte gerade Innozenz III. gezeigt, der die italienische Nation gegründet hat; also die Kirche ist nicht mehr universalistisch - zu finden einen geistigen Impuls, der so stark ist, daß er über diese sämtlichen Differenzierungen hinweghilft, wirklich die Menschheit zu einem Ganzen macht, das war im wesentlichen das, was dem Rosen­kreuzertum zugrunde lag. Um dazu die Mittel und Wege einzuschla­gen, war natürlich die Menschheit nicht reif. Ein Idealist das aber immer geblieben. Und so wahr es ist, daß die Menschheit ein Ganzes, eine Einheit ist, so wahr ist es auch, daß, wenn auch eine Zeitlang in verschiedener Form, solch ein Ideal wiederum aufgenommen werden muß. Und die Geschichte selbst, wie sie hintendiert zum 15. Jahr­hundert, wie sie die eigentümliche Konfiguration im 15. Jahrhundert herausbildet, ist der lebendigste Beweis dafür. Man braucht nicht das

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alte Rosenkreuzertum aufzuwärmen, aber das Ideal, das ihm zugrunde lag, das muß aufgenommen werden.

Das sind einzelne aphoristische Bemerkungen, die ich zuletzt noch machen wollte. Es sind wirklich mehr Anregungen, die ich geben wollte, als irgend etwas Ausführliches und Erschöpfendes, jetzt, wo ich Ihnen wiederum für einige Zeit gewissermaßen werde Abschied sagen müssen. Es ist ja im Laufe dieser Jahre, wenn ich sagen darf, immer schwerer geworden dieses Abschiedsagen, weil es eigentlich immer unter weniger hoffnungsvollen Voraussetzungen geschah. Nun, ich brauche selbstverständlich Ihnen nicht zu versichern, daß der Bau und alles, was mit diesem Bau zusammenhängt, von mir in ehrlicher, aufrichtiger Weise als etwas angesehen wird, das ganz im wesent­lichen als ein wirklicher Faktor zusammenhängt mit den Bestrebungen, die eigentlich die Bestrebungen unserer Zeit im weitesten Umkreise werden müßten. Ich habe nie in diesem Bau etwa nur gesehen die Lieb­haberei oder etwas Ähnliches von einzelnen Gruppen oder dergleichen, sondern ich habe immer gesehen in diesem Bau und woraus er hervor­geht, auf Grund dessen er sich aufbaut, etwas, was das Kulturferment unserer Zeit sein muß, namentlich der Zukunft werden muß.

Daher kann man schon sagen, es hängt recht viel davon ab, daß die­jenigen, die sich durchgerungen haben, die Bedeutung dieses Baues einzusehen, dieses wirklich auch verstehen mit Nachdruck und Ernst und mit aller Würde zu vertreten. Gewiß, der Bau ist nach jeder Rich­tung ein erster Versuch. Aber, wenn die Menschheit wiederum in dem Menschen erlöst werden soll, wenn das, was heute mit Füßen getreten wird, in der Menschheit wiederum gepflegt werden soll, dann werden Kräfte notwendig sein, die so geartet sind wie die­jenigen, die mit unserem Bau gemeint sind, und dem, was mit unserem Bau zusammenhängt.

Es klingt heute, wenn alte religiöse Bekenntnisse und ähnliches die Zeit kritisieren, sehr sonderbar; denn diese alten religiösen Bekennt­nisse haben recht lange Zeit gehabt, um zu wirken. Und wenn heute die Menschheit in eine Sackgasse hineingekommen ist, dann ist es vielleicht nicht unbegründet, zu fragen: Wenn Ihr dasselbe sagt, was Ihr früher gesagt habt, warum hat es denn nicht schon früher ge­wirkt?

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- Das ist es, wenn es richtig betrachtet wird, was vielleicht doch in manchem erzeugen kann die Einsicht von der Notwendigkeit dessen, was eigentlich hier gemeint ist, was hier beabsichtigt wird.

Und nun, wie auch die Zeit werden mag - jedesmal, wenn ich fort­gegangen bin, habe ich Sie gebeten: Mögen auch diese oder jene Ver­hältnisse eintreten, nach dem Maße, wie Sie es können, halten Sie an dem fest, was zu diesem Bau geführt hat. Gewiß kann man sagen, die Anfeindungen werden groß; aber bedenken Sie, daß selbst in dieser ungünstigen Zeit doch im Laufe der letzten Jahre da und dort und sogar in weiteren Kreisen manche Teilnahme auch gerade für das Wesen dieses Baues und was damit zusammenhängt, ja aufgetreten ist. Und wenn man nicht bedenken würde die große Aufgabe unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung, die Schwierigkeiten, die sie hat, den weiten Abstand von dem, was erreicht werden soll und von dem, was da ist, wenn man schließlich, ohne auf der einen Seite albern zu werden, auf der andern Seite aber, ohne die Dinge zu verkennen, auf das sieht, was sich entwickelt - man kann ja auch einmal auf das Gute sehen -, so ist das doch da! Es gehen die Dinge doch vorwärts. Wenn Sie zum Beispiel mit feinerem Gefühl verfolgen, wie solch eine Einzel­heit wie die eurythmische Kunst im Laufe der letzten Jahre hier fort­entwickelt wurde - man kann, glaube ich, das schon bemerken -, so kann man sagen, ein Stillstand ist in unseren Reihen nicht. Und wer gar die intimeren Fortschritte betrachten würde, die gerade innerhalb der Entstehung dieses Baues stattfinden, der darf von einem gewissen Fortschritte sprechen. Ich darf das sogar heute, wo ich von Ihnen wiederum für einige Zeit Abschied nehmen muß, mit einer gewissen inneren herzlichen Bewegtheit sagen.

Als die ersten Zeiten da waren, diesen Bau zu schaffen, da handelte es sich zunächst darum, daß die größeren Linien gezogen wurden, daß das oder jenes geschah. Aber wenn wir auch mit tiefem Schmerze und mit tiefem Leide auf das unser Augenmerk richten und richten müssen darauf, wie dieser Bau gelitten hat unter den allgemeinen katastrophalen Verhältnissen der Menschheit, so darf auch anderes gesagt werden: Es haben die Verhältnisse es mit sich gebracht - es war diesmal notwendig -, daß ich da oder dort noch viel eingehender

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mitgearbeitet habe an den Einzelheiten, die hier am Bau entstehen. Und gerade deshalb kann ich sagen, daß ich mit bewegtem Herzen es hier aussprechen darf: Das, was im Bau wird, bringt wirklich auch immer sichtbarer und intimer schon zum Ausdrucke dasjenige, was mit größeren Menschheitsimpulsen zusammenhängt. Ich konnte Ihnen neulich zum Beispiel von der neuen Isislegende erzählen, welche Er­zählung eben für die ganzen Verhältnisse des Baues charakteristisch sein soll, charakteristisch für dasjenige, was ich damit ausdrücken möchte, daß ich sage, dieser Bau soll eine Art von - lassen Sie mich den philiströsen Ausdruck gebrauchen - Markstein sein, der da scheidet ein Altes, das endlich wird einsehen müssen, daß es ein Altes ist, von einem Neuen, das da werden will, weil es werden muß, wenn die Menschheit nicht in immer katastrophalere Verhältnisse hineinkommen soll. Es wird schon einmal auch die Zeit kommen, wo man es bereuen wird, daß man das, was mit diesem Bau gewollt ist, vielfach als Narretei angesehen hat. Denn diese Katastrophe der Menschheit wird eben auch das zur Folge haben, daß man manches wird einsehen, was man ohne diese Katastrophe nicht würde ein­gesehen haben. Denn sie spricht mit sehr, sehr deutlichen Zeichen. Daß die Menschheit aus dem Menschen erlöst werden kann gerade durch solche Impulse, wie sie mit diesem Bau zusammenhängen, dafür spricht wirklich manches, das beobachtet werden konnte während dieses Baues.

Es wird Ihnen ja heute besonders stark entgegentreten, wie äußer­lich manches Kulturwerk zustande kommt. Fragen Sie sich, ob über­all da, wo heute eine Kirche oder irgend etwas Ähnliches - es könnte auch ein Warenhaus sein - aufgeführt wird, diese immer aufgeführt werden so, daß derjenige, der sie aufführt und diejenigen, die mit­arbeiten, ganz drinnenstehen in dem, wozu die Sachen aufgeführt werden. Man könnte manchen großen Dom aufführen, bei denen die Dombaumeister nicht sehr an jenes Symbolum, das da drinnen ist, glauben. Hier aber ist das schon eine Wahrheit, daß derjenige am besten arbeitet, der am tiefsten mit seinem Herzen mit der Sache ver­knüpft ist, der nicht nur seine Kunst, sondern der seinen ganzen Menschen einzusetzen vermag, der nicht nur mit den äußeren Formen

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mitarbeitet, sondern der von ganzem Herzen heraus an dieser Weltanschauung nicht nur mitarbeitet, sondern diese Weltanschauung lebt. Und deshalb muß ich sagen: Es ist mir von ganz besonderer Bedeutung, auch gerade diesmal all denjenigen, die ihre Arbeit, ihre Lebenskräfte, ihre Gedanken diesem Bau widmen, mit uns hier zu­sammenarbeiten wollen, um dieses Werk zustande zu bringen, diesen allen nicht nur einen äußerlichen Dank zu sagen, sondern ihnen zu sagen, daß ich wirklich tief, tief empfinde, was es bedeutet, daß sich Menschen zusammengefunden haben, die hier an diesem Kulturwerke arbeiten wollen. - Und aus dieser Empfindung heraus, die ja noch tiefer bindet in Zeiten, in denen der Mensch so gebunden ist wie in dieser, sage ich Ihnen heute, wo wir am Abschlusse dieser Vorträge stehen, zunächst für die äußeren physischen Verhältnisse eine Art Lebewohl. Wir bleiben ja alle in Gedanken zusammen. Physische Ver­hältnisse können uns nicht trennen. Aber das, was uns am besten verbinden wird, das wird sein, wenn lebendig in uns bleibt die Kraft, die da hineingebaut, hineingebildet sein will in dasjenige, was sich in Sturmeszeiten der Menschheit zum Menschheitsfrieden entwickeln will.

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HINWEISE

Zu Seite:

9 Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine: Im nächsten Vortrag vom 24. De­zember 1917 so übertragen: «und verleiblicht ward es durch den Heiligen Geist aus der jungfräulichen Maja heraus.»

10 daß die Sonne herfunkelte aus dem Sternbilde der Jungfrau: Vgl. dazu Joachim Sebultz in den «Nachrichtess für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft».

16. Jahrgang Nr.3:« Sorme» bedeutet hier der Orient, den Ostpunkt am Hori­zont, wo die Sonne aufgeht.

12-16 Die folgenden Zitate (Renan, Mill, Reine, E. v. Hartmann, Heyse) sind ent­nommen der Sammlung von Gustav Pfannmüller: «Jesus im Urteil der Jahr­hunderte, die bedeutendsten Auffassungen Jesu in Theologie, Philosophie, Literatur und Kunst bis zur Gegenwart.» 578 Seiten. Verlag B.G. Teubner. Leipzig und Berlin 1908.

13 John Stuart Mill: Aus seiner nachgelassenen Schrift «Theismus».

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15 Heinrich Heine: Aus «Reisebilder IV».

Eduard von Hartmann: Aus «Das Christentum des Neuen Testaments». H. Haacke. Sachsa 1905.

16 Paul Heyse: Aus «Die Kinder der Welt». Hertz. 3. Auflage. Berlin 1873.

29 die Göttin der Klugheit: Metis.

32 Karl Gutzkow, 1811-1878. Das Zitat entstammt der im Hinweis zu Seite 12 genunnten Sammlung von Gustav Pfannmüller.

33 Emil Rasmussen: «Jesus, eine vergleichende psychopathologische Studie», 1905. Zusammenfassung des Inhalts im Vorwort des Übersetzers Arthur Rothenburg, Zitat in der Sammlung von Gustav Pfannmüller.

36 Alexander III., 1845-1894.

Léon Gamhetta, 1838-1882, 1881/82 französischer Ministerpräsident.

38 Panidealismus: Von Rudolf Maria Holzapfel, 1874-1930, vertretene Psychologie.

40 Zu dem mancherlei, was gesagt werden konnte: In « Geschichtliche Notwendigkeit

und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten». Gesamtausgabe

Bibl.-Nr. 179. Domach 1966.

42 Ich habe schon flüchtig darauf hingedeutet: In den Vorträgen vom 8. und 20. Oktober

1917.

Louis-Clande de Saint-Martin, 1745-1803, christlicher Philosoph, Theosopb und Okkultist. Sein Buch «Des erreurs et de la vérité» erschien 1775 anonym. Er wurde 1788 mit Jakob Böhmes Schriften bekannt.

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zu Seite:

44 Charles-François Dupuis, 1742-1809.

47 Nonnos, griechischer Dichter aus Panopolis, 5.Jh. n. Chr. Epos «Dionysiaka» in 48 Büchern.

51 damals im vorigen Jahre: In den Vorträgen vom 24. und 25. September 1916. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 171.

55 Woodrow Wilson, 1856-1924, von 1913-1921 Präsident der USA. Sein 14 Punkte-Programm wurde im Friedensveitrag nicht berücksichtigt.

69 Die Bläue des Himmelt : Das Zitat lautet : «Das Höchste wäre : zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen : sie selbst sind die Lehre», in «Sprüche in Prosa».

80 was die Pyramiden lehren: Siehe das Buch von Max Fyth, 1836-1906, «Der Kampf um die Cheopspyramide». I. Band, 14. Kapitel, 7. Auflage, Heidelberg, worauf Rudolf Steiner im Vortrag vom 18. November 1916 hinwies.

Carl Gustav Carus, 1789-1869, deutscher Arzt, Philosoph und Maler. Quelle des Ausspruchs bisher nicht nachgewiesen.

87 Fiavius Claudius Julianus, von den Christen Apostata, der Abtrünnige, genannt,

361-363 römischer Kaiser.

88 Fritz Mauthner, 1849-1923, österreichischer Schrlftsteller und Philosoph. «Wörterbuch der Philosophie», 2 Bände München 1910/1911.

93 wie ich einmal in einem öffentlichen Vortrage in Zürich: Am 12. November 1917, vgl. Rudolf Steiner «Anthroposophie und akademische Wissenschaften». Seite 95. Zürich 1950.

94 das Kapitel «Die Welt als Illusion» : Siehe Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philo­sophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 18. Stuttgart 1955.

96 wir haben zwölf Sinne : Vgl. u. a. die Vorträge Rudolf Steiners vom 23. bis

27. Oktober 1909 in «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie», Bibl.-Nr. 115, Gesamtausgabe Dornach 1965.

101 in den ersten Szenen des Mysterlunos «Die Prüfung der Seele» : Siehe Rudolf Steinet «Vier Mysteriendramen». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 14.

104 bei andern «Panen» : Siehe Hinweis zu Seite 38.

105 Bernardus Silvestris : Seine Schrift «De mundi universitate» oder auch «Mega­cosmus et microcosmus» gehörte zu den im 12. Jahrhundert verbreitetsten Büchern.

105 Alanus ab Insulis: Der letzte unter den großen Lehrern von Chartres. Um 1128 in Lille (Insulae) in Flandern geboren.

106 den ich einmal hier angeführt habe: Am 30. Januar 1915.

Dante schildert die Matelda : In der «Göttlichen Komödie» II. Teil Gesang 28 und 29.

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Zu Seite:

106 der erste Aufsatz uher Christian Rosenkreutz (1917(18): Erstmals erschienen in det

Zeitschrift «Das Reich», enthalten in «Die chymische Hoclizeit des Christian

Rosenkreutz anno 1459», ins Neuhochdeutsche übertragen von Dr. Walter

Weber, Stuttgart 1957. Ferner in «Philosophie und Anthroposophie», Gesam­

melte Aufsätze 1904-1918. Bibl.-Nr. 36, Gesamtausgabe Dotnach 1965.

bei Brunetto Iatini : Der Lehrer und Freund Dantes lebte etwa zwischen 1210 bis 1294. Er schildert uns sein entscheidendes Erlebnis in der Dichtung «Il Teso­retto».

108 aniaßlich der Weihnachtsspiele : Siehe Ansprachen von Rudolf Steiner am 30. De­zember 1917 in der sogenannten Sehreinerei des Goetheanums vor den in Bern internierten Kriegsgefangenen, die zur Aufführung der Weihnachtsspiele nach Dornach gekommen waren. In «Weihnachtaspiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer Spiele». Dornach 1957.

112 als wir vor einem Jahre hier versammelt waren : Vgl. die Vorträge in Dornach vom

4. bis 26. Dezember 1916, «Zeitgeschichtliche Betrachtungen - Das Karma der Unwahrhaftigkeit», Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 173.

117 beim Bau dieses Dornacher Gebäudes hier : Das erste Goetheanum. Es wurde in der Silvesternacht 1922/23 von den Flammen verzehrt. Siehe Rudolf Steiner «Der Baugedanke des Goetheanum », ein Lichtbildervortrag in Bern am 29. Juni 1921, m,t 104 Abbildungen des ersten Goetheanumbaues. Gesamtausgabe, Stuttgart

1958.

Fritz Mauthuer: Siehe Hinweis zu Seite 88« Beiträge zu einer Kritik der Sprache». 3 Bände 1901/02.

124 in meinem Helsingforser Zyklus: «Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita», ein Zyklus von 9 Vorträgen, gehalten in Helsingfors vom 28. Mai bis 5. Juni 1913. Gesamtausgabe Dornach 1962.

126 die katastrophalen Ereignisse: Die USA erlertten am 6. April 1917 Deutschland den Krieg.

wie ich dazumal in der Weihnachts- und Neujahrsbetrachtung sagte : Im Vortrag vom 26. Dezember 1916 in Dornach Siehe Hinweis zu Seite 112. Der «doch gut gemeinte Vorschlag » ist der deutsche Friede'rsvorschlag von 1916.

146 Saint-Martin: Siehe Hinweis zu Seite 42.

151 in meinem Buche «Die Rütsel der Philosophie» : Bibl.-Nr. 18, Gesamtausgabe, Stuttgart 1955.

wie noch Goethe es getan hat : Siehe Goethes Aufzeichnungen über sein Gespräch mit Schiller in «Glückliches Ereignis». (Zur Morphologie. i. Band I. Heft. 1817) Das Gespräch wurde 1794 geführt.

152 daß an einer gewissen Konstellation der «Jungfrau» : Vgl. Hinweis zu Seite 10.

153 Traumlied vom Olaf Asteson : Vgl. Rudolf Steiner «Welten-Neujahr. Das Traum-lied vom Olaf Asteson». 2. erweiterte Auflage, Dornach 1958.

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Zu Seite:

158 Dupuis: Siehe Hinweis zu Seite 44.

172 noch nicht diejenigen Götter... die eben von diesen Zeiten anerkannt werden : d.h. der Götter in Ägypten, die anerkannt wurden zur Zeit der Griechen, also etwa im I. Jahr-tausend v. Chr. Re dagegen wird als Schöpfer der Götter und Menschen gepriesen.

176/177 Da wurde errichtet ein Bau: Siehe Hinweis zu Seite 117.

183 Fritz Mauthner: Siehe Hinweis zu Seite 88.

186 Schweizerdeutsche Sprichwörter: Erschienen im Verlag Rascher & Co. Zürich 1918.

188 Wir werden davon weiter sprechen : Siehe auch die 4 Weihnachtavorträge Rudolf Steiners vom 23.-26. Dezember 1920. Dornach 1961.

191 Henri Bergson, 1859-1941.

204 Brest-Litowsk : Am 15. Dezember 1917 Waffenstillstand zwischen den Mittel-mächten und Rußland und am 3. März 1918 Abschluß des Friedensvertrags von Brest-Litowsk, der durch den Versailler Vertrag dann ungültig erklärt wurde.

Wladimir Iljitsch Lenin (Ulsanow), 1870-1924. Im April 1917 mit Untersrützung der deutschen Heeresleitung im versiegelten Eisenhahnwagen von der Schweiz nach Rußland befördert.

Leo Trotzkij (Leib Bronstein>, 1879-1940. Engster Mitarbeiter von Lenin.

Lew Kamenew (Rosenfeld), 1883-1936. Enger Mitarbeiter Lenins, kämpfte dann mit Stalin gegen Trotzkij 1936 hingerichtet.

205 Alsxander Feodor Kerenskij, geb. 1881. Seit 1938 in den USA im Exil.

206 Julius Robert Mayer, 1814-1878. « Bemerkungen über das mechanische Äqui-valent der Kräfte» (1850). 1851-1852 in einer Irrenanstalt.

207 Dr. Oskar Schmiede4 1887-1959, Chemiker, in der Leitung der «Weleda AG» tätig.

Goethe spricht von den Fraunhofsrschen Linien : Siehe «Gocthes Naturwissenschaft­liche Schriften» in Kürschners Deutscher Nationalliteratur, herausgegeben von Rudolf Steiner, Band IV, 2; S. 298/99.

212 Friedrich Schlege4 1772-1829.

216 «Ich komme bald und mache alles neu» : Offb. 21, 5.22, 20.

218 «Ich bin bei Euch alle Tage...»: Matth. 28, 20.

219 Vortrag über die Aufgabe der Geisteswissenschaft : In Liestal am 11. Januar 1916, in «Philosophie und Anthroposophie», Bibl.-Nr. 35, Gesamtausgabe, Dornach 1965.

223 Edaard von Hartmann, 1842-1906. «Philosophie des Unbewußten», 1869.

241 Lesen Sie nach bei Thomas von Aqnino : Z.B. im Kommentar des Thomas zur Schrift des Aristoteles «Über Himmel und Welt». Siehe Roman Boos «Thomas von Aquino, Übersetzungen, Aufsätze, Vorträge». Schaffhausen 1959.

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250 Was sich im März abgespielt hat: Am 11. März 1917 (russische Zeitrechnung

27. Februar) Aufstand des Proletariats von Petersburg, 15. März Rücktritt von Zar Nikolaus.

255 Vorträge in Berlin : Vortrag 5 : «Wissenschaftliche Zeiterscheinungen» in «Menschliche und mensehbeitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus». 17 Vorträge Mai bis September 1917. Bibl.-Nr. 176. Gesamt­ausgabe Dornach 1964.

255 Moritz Benedikt, 1835-1920, Kriminal-Anthropologe. Vgl. Rudolf Steiners Vortrag vom 7. März 1916, Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 167, Dornach 1962, sowie den im vorigen Hinweis erwähnten Vortrag.

263 Eduard Sneß, 1831-1914, österreichischer Geologe.

267 Zürcher Aufführungen : Hans Reinhait, 1880-1963, «Der Garten des Paradieses».

Max Pulver, geb. 1889, Epiphanie «Christus im Olymp».

269 sogenannte Friedensverhandlungen : Siehe Hinweis zu Seite 204.

276 Ausspruch von Novalis: Vgl. Fragment 2477 in Novalis' Gesammelten Werken. Herausgegeben von Carl Seelig. Herrliberg-Zürich 1946. Band 4 Mathematische Fragmente.

282 Einmal möchte ich über illustrative Kunst sprechen : Am 15. Januar 1918 in «Wesen und Bedeutung der illustrativen Kunst». 2 Vorträge, herausgegeben von der Sektion für redende und musische Künste am Goetheanum. Dornach 1940.

283 Vgl. Rudolf Steiner «Geschichte des Mittelalters bis zu den großen Eriindungen und Entdeckungen». 8 Vorträge vom 18.Oktober bis 20.Dezember 1904 in Berlin. Dornach 1936.

290 Tacituc, um 55-120 n. Chr.

296 Justinian, oströmischer Kaiser von 527-565. Schloß 529 die Philosophenschulen in Athen, worauf die letzten sieben athenischen Philosophen nach Persien aus-wanderten.

297 Gregor L, der Große, Papst von 590-604.

300 Ludwig der Dumme (der Fromme) : Sohn Karls des Großen, 778-840, römisch-deutscher Kaiser von 815-840.

312 Christian Rosenkreutz: Vgl. Hinweis zu Seite 106.

315 Wolfram von Eschenbach, um 1170-1220, aus Mittelfranken. Bedeutendstes Epos «Parzival».

320 Nikolaus L, Papst von 858-867. Sprach 863 über Photius, den Patriarchen von Konstantinopel, Bann und Absetzung aus. Anlaß zur Trennung der Ostkirche von Rom.

322 Innozenz JIL, Papst von 1198-1216.

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Zu Seite:

324 Peter von Amiens, gest. 1115.

325 Gottfried von Bouillon, gest. 1100, führte einen Teil des ersten Kreuzfahrerheeres.

1099 Erstürmung Jerusalems.

325/326 Ausspruch des Augustinus: «Ich wurde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich die Autorität der katholischen Kirche nicht dazu veranlaßte» (contra ep. Manich. 5).

327 Johann Hus, 1369-1415. Im Koczil zu Konstanz zum Feuertode verurteilt. 330 Johann Valentin Andreas, 1586-1654. «Die chymisebe Hochzeit des Christian Rosenkreutz anno 1459», ins Neuhochdeutsche übertragen von Walter Weber. 2. Auflage, Stuttgart 1957.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.