GA 196

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Geistige und soziale Wandlungen
in der
Menschheitsentwickelung

Achtzehn Vorträge, gehalten in Dornach
vom 9. Januar bis 22. Februar 1920

GA 196

1992

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 9. Januar 1920

Aus den Betrachtungen, die hier angestellt worden sind vor meiner Abreise, und sogar aus dem, ich möchte sagen, Grundtext der öffentlichen Vorträge ist zu entnehmen, daß es gewissermaßen «abgelesen» ist von dem Sinn der menschlichen Entwickelungsgeschichte, wie einzugreifen hat, unbedingt einzugreifen hat in das äußere Leben, in all dasjenige, was im äußeren Leben geurußt und unternommen werden soll, die Wissenschaft von der Initiation. Wenn man nicht imstande ist, heute in vollem Ernste sich zu durchdringen mit dieser Wahrheit, dann schläft man gegenüber den eigentlichen Zeitforderungen. Dieses Schlafen gegenüber den eigentlichen Zeitforderungen ist ja bei den meisten Menschen der Gegenwart eben durchaus der Fall. Man muß sich nämlich darüber klar sein, daß die Gegenwart an die Menschheit Fragen stellt, die anders nicht zu beantworten sind als aus der Wissenschaft der Initiation heraus. Dabei handelt es sich nicht nur darum, daß ja eine Wissenschaft der Initiation zu allen Zeiten innerhalb der Menschiieitsentwickelung da war, daß es zu allen Zeiten gewissermaßen Eingeweihte in die Ereignisse, in die Kräfte des Daseins gegeben hat, sondern es handelt sich darum, daß es auch heute solche Eingeweihte in die Ereignisgründe und in die Kräfte des Daseins gibt; allein wie es sich im Genaueren mit dieser Sache verhält, davon machen sich die wenigsten Menschen eine ordentliche Vorstellung. Und eigentlich möchten das die Menschen der Gegenwart gar nicht. Sie scheuen eigentlich doch zurück vor dem, was man nennen kann die Notwendigkeit des Eingreifens initiierter Wissenschaft in das Bewußtsein der Zeit. Man bekommt von dem Ernste der Zeitlage nur dann eine Vorstellung, wenn man die Differenzierung dieser Angelegenheit über die zivilisierte Welt hin beobachtet. Denn die Dinge liegen ganz anders mit Bezug auf den Osten, sie liegen ganz anders mit Bezug auf den Westen. Und wer heute glaubt, mit absoluten Urteilen, die für alles gelten sollen, auskommen zu können, der lebt nicht in der Wirklichkeit, sondern der lebt eigentlich in einer abstrakten Welt. Aber notwendig ist es, daß die Dinge immer wieder und wiederum

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von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden, damit wenigstens in einigen Leuten der Ernst der Zeitlage zum Bewußtsein getrieben werde.

Wenn man zunächst auf den Westen blickt, vorzugsweise auf die Welt der englischsprechenden Erdenbevölkerung, so ist heute das öffentliche Urteil und dasjenige, was herausfließt aus dem öffentlichen Urteil für die äußeren Geschehnisse, für die äußeren Ereignisse, innerhalb dieser englischsprechenden Bevölkerung nicht etwa bloß abhängig von dem, was - ich will mich heute einmal, ich möchte sagen, ganz dezidiert ausdrücken - die Uneingeweihten träumen und als Lebensideale hin- stellen. Gerade im Gebiete der englischsprechenden Bevölkerung ist auf der einen Seite ein gewaltiger Gegensatz vorhanden zwischen dem, was so im öffentlichen äußeren Bewußtsein als Ideen vorkommt, und dem, was hinter den Kulissen der Weltgeschichte diejenigen meinen, die in die Ereignisse des Weltenganges wirklich eingeweiht waren oder sind.

Denn wenn man sodas allgemeine Bewußtsein nimmt, wie es sich in diesen Gegenden der zivilisierten Erde ausdrückt, zunächst in den besten Bestrebungen, in den besten öffentlichen Publikationen, so können wir sagen: Es ist da vorhanden eine Art Ideal von einer gewissen Humanität, von einem Hinarbeiten der Menschheit nach einer gewissen Humanität, nach einem Zusammeufassen der menschlichen Wirksamkeiten unter dem Gesichtspunkte der Humanität, von dem Installieren von Institutionen, welche sich in den Dienst der Humanität stellen. Wir wollen absehen von alledem, was reichlich vorhandene trübe, lügnensche Wasser sind; wir wollen sehen auf dasjenige, was im öffentlichen Leben das Beste ist, das von den Uneingeweihten kommt. Das ist ein gewisses Streben, die Menschen unter dem Gesichtspunkte der Humanität zusammenzufassen. - Hinter diesem äußeren Streben steht das Wissen der Eingeweihten, das Wissen der tonangebenden Eingeweihten. Und ohne daß die Öffentlichkeit das weiß, ohne daß die Öffentlichkeit Gelegenheit dazu hat, sich ein genügendes Wissen von den Dingen überhaupt zu verschaffen, fließen die Urteile, die richtunggebenden Kräfte von seiten gewisser eingeweihter Kreise in die öffentliche Meinung und in den davon abhängenden Gang der Ereignisse, der äußeren Taten ein.

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Es kann sich da oder dort irgendeine Gesellschaft auftun mit schönen Programmen, schönen Idealen. Die Leute können von Idealismus nur so triefen. Aber es lebt bei ihnen, ohne daß sie es wissen, nicht nur dasjenige, wovon sie reden, sondern es gibt Mittel und Wege, um in alle diese Dinge eindringen zu lassen dasjenige, was man von einer gewissen Seite, von seiten der Eingeweihten, eindringen lassen will. Und so ist es denn gekommen, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, im Beginne des 20. Jahrhunderts - wir wollen zunächst bei diesen Dingen stehenbleiben und nicht weiter zurückgehen -, die gutmeinenden Menschen, die aber uneingeweiht waren, die von allen möglichen schönen Idealen träumten, sich zusammentaten, um diese schönen Ideale durch Vereinigung in Gesellschaften zu verwirklichen, daß aber hinter diesem Treiben Eingeweihte stehen, jene Eingeweihten, welche in den achtziger Jahren - wie gesagt, wir wollen nicht weiter zurückgehen - des 19. Jahrhunderts davon sprachen, daß ein Weltkrieg kommen müsse, der vor allen Dingen den europäischen Südstaaten und dem europäischen Osten ein ganz anderes Aiitlitz geben müsse.

Wenn man in der Lage ist, zu verfolgen, was innerhalb der Kreise der Eingeweihten auf diesem Felde gelehrt und gesprochen worden ist, dann weiß man, daß da mit einer großen Sicherheit vorausgesagt worden sind die Dinge, die als die schrecklichen, furchtbaren Dinge in den letzten fünf Jahren sich über die zivilisierte Welt ergossen haben. Alle diese Dinge waren den Eingeweihten der englischsprechenden Bevölkerung durchaus nicht etwa ein Geheinmis, und durch alle Erörterungen hin- durch geht die folgende Diskrepanz: Auf der einen Seite schöne exoterische Ideale> das Ideal der Humanität mit dem wirklichen Glauben an dieses Ideal der Humanität in den verschiedensten Formen von seiten der Uneingeweihten; auf der andern Seite die Lehre, die bewußte, streng vertretene Lehre, daß alles dasjenige verschwinden müsse aus der modernen Zivilisation, was romanische, was mitteleuropäische Kultur ist, daß prädoininieren müsse, zur Weltherrschaft gelangen müsse, was die Kultur der englischsprechenden Bevölkerung ist.

Wenn diese Dinge jetzt ausgesprochen werden, so haben sie viel mehr Gewicht, als wenn sie vielleicht vor zwanzig Jahren ausgesprochen worden sind, aus dem einfachen Grunde, weil man vor zwanzig Jahren den

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Leuten, die die Sache aussprachen, sagen konnte: Nun ja, Ihr hört das Gras wachsen. - Heute kann man darauf hinweisen, daß ja ein großer Teil von all dem, was da ausgesprochen worden ist innerhalb der Eingeweihteiikreise> wirklich zur Realisierung gekommen Ist.

Ich spreche so vorsichtig, als es möglich ist, um ja nicht irgendwie abzuweichen von der Darstellung des rein Tatsächlichen. Aber diese Darstellung des rein Tatsächlichen, das ist ja der Mehrzahl der Gegenwartsmenschen etwas außerordentlich Unbequemes. Sie möchte es so ab- streifen, sie möchte es nicht an sich herankommen lassen. Es ist ja in der Gegenwart etwas so sehr die Seelenwollust Anfeuerndes, wenn man den Nationalismus in dieser oder jener Weise pflegt, wenn man vom Völkerbund spricht, von der Wiederaufrichtung altheiliger nationaler Institutionen und so weiter. Daß wir in der Gegenwart in einer furchtbaren Menschheitskrisis drinnen sind, das möchten die Menschen heute eben durchaus noch nicht wissen.

Nun haben wir damit mit einigen Worten auf die Diskrepanz hin- gewiesen zwischen dem, was die Uneingeweihten im Westen wissen, und dem, was, ohne daß sie es wissen, pulst in ihren Entschlüssen. Man kann ja wirklich erst dadurch wissen, wie man als Mensch eingegliedert ist in das, was geschieht, wenn man sich bemüht, das kennenzulernen, was da ist in der Welt, wenn man sich nicht treiben und stoßen läßt, sondern wenn man versucht, Mittel und Wege zu finden, die wirklich Freiheit des Willens möglich machen.

Und wenn man nach dem Osten sieht: über den ganzen Osten hin gibt es auch diesen Zwiespalt zwischen Eingeweihten und Uneingeweihten. Wie reden da die Uneingeweihten? - Diese Uneingeweihten reden da im Osten etwa so wie Rabindranath Tagore. Rabindranath Tagore ist ein wunderbarer Idealist des Ostens, ein Mensch, der außerordentlich einschneidende Ideale zu vertreten hat. Alles ist schön an dem, was er äußerlich zum Ausdruck bringt. Aber alles, was da von Tagore ausgeht, ist eben die Rede eines uneingeweihten Menschen. Diejenigen, die im Orient eingeweiht sind, die reden anders, beziehungsweise nach der alten Gepflogenheit des Orients: Sie reden gar nicht. Sie haben andere Wege, um dasjenige in Wirksamkeit, in soziale Wirksamkeit zu bringen, was sie eigentlich wollen. Sie wollen erreichen, daß nun nicht von

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irgendeiner Seite Weltherrschaft angestrebt werde, denn sie sind sich klar darüber - sie glauben, sich klar darüber zu sein - daß, wenn es noch irgendein Herrschaftsverhältnis auf der Erde gibt, dieses nur sein kann das der englisch-amerikanischen Menschheit. Das wollen sie aber nicht.

Deshalb wollen sie eigentlich die Zivilisation der Erde verschwinden lassen. Sie sind ja im intensivsten Grade bekannt mit der spirituellen Welt, und sie sind der Überzeugung, daß die Menschheit besser fort- kommt, wenn sie sich den folgenden irdischen Inkarnationen entzieht. Sie wollen daher daran arbeiten, daß die Menschen sich den folgenden Iriarnan.onen entziehen. Für diese Eingeweihten des Orients werden die Ergebnisse des Leninismus nichts Schreckhaftes haben, denn diese Eingeweihten des Orients sagen sich: Wenn diese Institutionen des Lenimsmus sich immer mehr und mehr über die Erde verbreiten, so ist das der sicherste Weg, die Erderizivilisation zugrunde zu richten. Das aber wird gerade für die Menschen das Günstige sein, die durch ihre bisherige Inkarnation sich die Möglichkeit verschafft haben, weiter fortzuleben ohne die Erde.

Wenn man den Europäern von solchen Dingen spricht, so halten sie das für Paradoxie. Innerhalb der Kreise der orientalischen Eingeweihten redet man von diesen Dingen so, wie der Europäer in seinem Unverstand davon redet, daß Erbsensuppe anders schmecke als Reissuppe; denn für sie sind das Realitäten, die durchaus nicht außerhalb des Bereiches dieser alltäglichen Erörterungen zu liegen brauchen. Wenn man die Verfassung der heutigen zivilisierten Welt betrachtet und sie wirklich verstehen will, dann darf man nicht außer acht lassen, daß vom Osten und Westen diese Dinge in Unsere gegenwärtige Zivilisation hin- einwirken. Und arbeiten im Sinne des menschlichen Fortschrittes kann man in der Gegenwart gar nicht anders als mit einem vollständigen Empfinden für diese Einflüsse auf den Gang der Menschheitsentwickelung. Das äußere Leben, wie es sich darstellt, ist es denn ein Abdruck desjenigen, was die Menschen exoterisch glauben, was die Menschen, die sich nur beherrschen lassen von der Wissenschaft der Uneingeweihten, meinen?

Wer diese Frage ernstlich studieren möchte, dem empfehle ich, bloß einmal sich acht Tage auszusuchen im Mai oder Juni des Jahres 1914

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und Zeitungsartikel, Bücher vom Mai oder Juni 1914 zu lesen und, sich zu fragen, wieviel Wirklichkeitsgeist er darin findet, das heißt, wieviel er darin findet von einem Wissen, daß innerhalb der zivilisierten Menschheit dasjenige gekeimt hat, was dann vom Augtist ab in dieser zivilisierten Menschheit ausgebrochen ist. Nichts haben sich die Uneingeweihten von diesen Dingen träumen lassen! Ebensowenig lassen sich die Uneingeweihten auch heute noch träumen von dem, was eigentlich vorgeht. Aber die Ereignisse des äußeren Lebens sind keine Abbildungen des Wissens der Uneingeweihten. Es herrscht eine starke Diskrepanz zwischen dem, was die Leute meinen, und dem, was sich im Leben wirklich abspielt. Diese Diskrepanz sollte man sich zum Bewußtsein bringen und sich die Frage sachgemäß beantworten: Wieviel wissen denn eigentlich die Uneingeweihten heute vom Leben, von dem, was das Leben beherrscht?

Die Leute reden über das Leben. Die Leute machen Theorien und Ideale und Programme, aber ohne das Leben zu kennen. Und wenn einmal etwas auftritt, was aus dem Leben heraus gestaltet ist, dann erkennen das die Menschen nicht an, dann halten sie gerade das für Theonen oder für Absurditäten oder dergleichen. Für das Leben haben nun die Einflüsse des Westens und des Ostens eine ganz verschiedene Bedeutung. Diese verschiedene Bedeutung spielt in unserem Leben im eklatantesten Sinne mit für den> der solche Dinge beobachten kann. Wenn das, was man im Westen als Theorien, als Programme, als soziale Anschauungen hat, das Leben beherrschen sollte, da käme nichts heraus, gar nichts, wirklich gar nichts. Daß es eine westliche Zivilisation gibt, daß das westliche Leben überhaupt Institutionen entwickeln kann, das rührt nicht davon her, daß dieses westliche Leben solche Ideen hat, wie etwa Spencer oder Darwin oder andere, mehr sozial denkende Menschen haben; denn mit all diesen exoterischen Theorien und Anschauungen ist in Wirklichkeit nichts anzufangen. Daß das Leben doch fort- geht, daß das Leben nicht stillsteht, das rührt lediglich davon her, daß alte traditionelle Instinkte in der englischsprechenden Bevölkerung leben und daß man nach diesen Instinkten das Leben richtet, nicht nach den Theorien. Die Theorien sind ja nur eine Dekoration, durch die man schöne Worte über das Leben spricht. Dasjenige, was das Leben regiert,

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sind die Instinkte, die aus dem Unbewußten der Seele an die Oberfläche heraufgetrieben werden. Das ist etwas, was in allerernstestem Sinne beobachtet und erkannt werden muß.Und gehen wir nach dem Osten, beginnen wir meinetwillen diesen Osten schon beim Rhein, denn sehr bald wird das Leben vom Rhein ostwärts dem Osten immer mehr und mehr ähnlich werden. Schauen wir uns das an, was da im Osten vorhanden ist. Betrachten Sie es zunächst historisch: durch Deutschland, durch Rußland, selbst noch durch Vorderasien. Wenn Sie es in Deutschland historisch betrachten, so finden Sie etwas außerordentlich Merkwürdiges. Sie finden, daß diese Deutschen Geister hatten wie Goethe, wie Fichte, wie Scheffing, wie Hegel, wie Herder> daß sie aber eigentlich in Wirklichkeit nichts davon wissen, daß sie solche Geister gehabt haben. Innerhalb Deutschlands war die Zivilisation das Eigentum einer kleinen Geistesaristokratie. Niemals hat diese Zivilisation Platz gegriffen in den weiteren Kreisen. Goethe ist für weitere deutsche Kreise eine unbekannte Persönlichkeit geblieben, auch nach 1862. Ich sage 1862, weil man ja vorher in Deutschland nur sehr schwer die Werke Goethes hat auftreiben können. Sie waren noch nicht frei, und die Cottas haben dafür gesorgt, daß sie nicht eben leicht haben aufgetrieben werden können. Seit jener Zeit sind sie frei zu drucken. Sie werden zwar gelesen, aber sie sind niemals in das wirkliche geistige Leben von so etwas wie einer deutschen Nation eingedrungen. Daher beginnt es bereits bei den Deutschen mit einer Instinktunsicherheit im höchsten Grade. Jenen inteIisiv eingi`eifenden geistigen Mächten, die ausstrahlen von einem Herder, einem Goethe, einem Fichte, diesen bestimmten Lebeiistrieben steht gegenüber eine im höchsten Grade so zu nennende Instiriktunsicherheit, eine Instinktunsicherheit aus dem Grunde, weil in diesen Gegenden die Instinkte nicht konservativ geblieben sind. Im Westen sind sie konservativer geblieben. Hier sind sie nicht konservativ geblieben, aber sie sind auch nicht erneut worden, sie sind nicht durchdrungen worden von dem, was die Geistessubstanz ihnen hätte geben können.

Noch deutlicher wahrnehmbar ist dieses im eigentlichen europäischen Osten. Denken Sie doch nur, welche Rolle in diesem europäischen Osten die sogenannte orthodoxe Religion gespielt hat, wie sie eingeflossen ist

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in die öffentlichen Institutionen, wie sie gelebt hat ein äußeres Leben und wie sie nichts, aber auch gar nichts war für die Seelen. Das Konservieren dieses östlichen Orthodoxismus, der sich längst seinem Inhalte nach ausgelebt hat, das bedeutet, daß die Menschenseelen in die Unsicherheit des Lebens geradezu gestoßen worden sind. Wer in Westeuropa russische Menschen kennengelernt hat, der war selbstverständlich im höchsten Grade berührt von dem eigentümlichen Verhältnis, das diese Menschen auf der einen Seite zu dem Allgemein-Menschlichen, auf der andern Seite zu dieser orthodoxen Religion hatten. Wie vor vielen Jahrhunderten der orthodoxen Religion entlaufene Seelen, welche die Anhängsel, die Andenken von dieser orthodoxen Religion sich noch umgehängt haben und welche den Glauben hatten, daß ihnen diese orthodoxe Religion doch etwas sein könne, so erscheinen einem diese Menschen, welche sich gar nicht vorstellen konnten, wie sehr sie entlaufen waren dieser orthodoxen Religion. - Das ist dasjenige, was die russische Seele charakterisiert. Und damit ist erst recht ausgegossen über den europäischen Osten die Instinktunsicherheit, das Nicht-innerlichGehaltenwerden durch Instinkte. Das eigentümlich Weiche, das über den russischen Menschen ausgegossen ist, hängt letzten Endes mit dieser Instinktunsicherheit zusammen.

Die ganze Menschlieit Asiens kann heute, kann in den nächsten Jahrzehnten eine Beute der europäischen Eroberer werden, weil diejenigen, die dort eingeweiht werden, sich gar nichts daraus machen, daß die allgemeine Menschlieit eine Beute der Eroberer wird. Denn um so eher werden die Glieder dieser allgemeinen Menschlieit Geschmack daran gewinnen, aus dem irdischen Leben sich herauszuziehen und die Erde für die nächste Inkarnation zu verlassen.

In diesen Kräftewirkungen stehen wir drinnen. Und es hat heute überhaupt nur einen Sinn, über das Leben zu reden, wenn man se1ne Worte durchdrungen sein läßt von dem Bewußtsein, daß es eben heute im Leben so ist, daß man davon ausgehen muß, daß diejenigen Kräfte aus den Menschenseelen erlöst, herausgeholt werden müssen, die nicht nach der einen und nicht nach der andern Richtung gehen, sondern die gehen nach einer wirklichen Erneuerung auch der Wissenschaft der Initiation. Deshalb muß immer wieder und wieder darauf hingewiesen werden,

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wie der Gegenwartsmensch durchsteuern muß zwischen dem extremen Intellektualismus auf der einen Seite und dem Emotionalismus auf der andern Seite.

Unser Leben verläuft in diesem Zwiespalte: zwischen einem immer mehr und mehr sich steigernden und sich überschlagenden Intellektualismus und zwischen dem Emotionalismus, der in die wildesten, in die animalischen Triebe des Menscheiilebens hlnuntertaucht und dadurch die Impulse des Daseins sucht. Der Intellektualismus ist dasjenige, was sich an Geistesleben aus dem heraus entwickelt, was groß geworden ist seit dem 15. Jahrhundert. Aber dieses Geistesleben ist schattenhaft, dieses Geistesleben ist dünn, dieses Geistesleben ist phrasenhaft. Daher, weil dieses Geistesleben dünn, schattenhaft ist, bestimmen sich die Kräfte, die in diesem Geistesleben wirken, nicht nach wirklich Geistigem,, sondern nach den Instinkten, nach den Trieben, nach dem Animallschen in der Menschheit. Die Menschheit hat heute nicht die Kraft, mit ihren schattenhaften intellektuellen Ideen die Triebe zu impulsieren und sie dadurch zu vergeistigen. Und so ist der heutige Mensch in jedem Augenblick seines Lebens mit Bezug auf seine Seele gründlich gespalten.

Nehmen Sie nur einmal an, Sie stehen beurteilend Ihren Mitmenschen gegenüber. Da sind Sie nämiich intellektualistisch. Jedesmal, wenn der Mensch heute in der Gegenwart Kritik übt an seinen Mitmenschen, wird er intellektualistisch. Wenn er mit ihnen zusammen- wirken soll in sozialer Gemeinschaft, wird er emotionell; dann wird er so, daß er sich beherrschen läßt von den animalischen Trieben. Alles dasjenige, was wir an Lebensarbeit suchen, tauchen wir allmählich ins Ariimalisch-Triebhafte; alles dasjenige, was wir an Lebensbeurteilungen suchen, auch wenn es auf die Mitmenschen sich erstreckt, tauchen wir ins Intellektualistische. Die Menschen der Gegenwart werden sich gar nicht bewußt dieses Zwiespaltes in ihrer Seele. Sie merken gar nicht, wie sie ganz anders sind, wenn sie über ihre Mitmenschen urteilen, und dann, wenn sie mit ihren Mitmenschen zusammen handeln sollen.

Das intellektualistische Leben aber überschlägt sich. Das intellektualistische Leben strebt über alle Wirklichkeiten hinaus. Das intellektualistische

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Leben ist dasjenige, welches als solches eigentlich keine`n besonderen Wert legt auf die irdischen Verhältnisse. Mit dem intellektualistischen Leben ist es so, daß man schöne moralische Grundsätze ausarbeitet inmitten einer sozialen Ordnung, in der die Leute Knechte, in der sie versklavt sind. Ich habe das im Konkreten öfter hier angeführt. Ich erinnere auch heute noch einmal an jene Enquete, die in England in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommen worden ist über die Kohlengrubenarbeiter, bei der sich herausgestellt hat unter vielen andern Schäden, daß neun-, elf-, dreizehnjährige Kinder vor Sonnenaufgang in die Kohlenschächte hinuntergeschickt worden sind die ganze Woche, dann heraufgeholt worden sind nach Sonnenuntergang, so daß die armen Kinder niemals das Sonnenlicht, außer am Sonntag, gesehen haben, sich also im Unterirdischen entwickeln mußten, unter Bedingungen, deren Schilderung ich Ihnen ersparen werde; denn auch da wäre Sonderbares zu erzählen. Aber bei den Kohlen, die so zutage gefördert worden sind, haben sich dann die Leute unterhalten in Spiegelzimmern über Nächstenliebe, über allgemeine Menschenliebe ohne Unterschied von Rasse, Nation, Klasse und so weiter.

Das ist das Extrem des intellektualistischen Lebens. Nirgends öffnen sich die Türen zur Wirklichkeit. Man schwebt mit seinem Intellekt jenseits der Menschlichkeit. Ein Wirklichkeitsgeist ist lediglich derjenige, der bei allem, was er denkt, weiß, wie das, was er denkt, zusamnenhängt mit dem, was draußen in der Welt geschieht. Das ist Aufgabe der Geisteswissenschaft, diesen Wirklichkeitssinn in der Menscliheit wiederum zu erwecken. Aus solchen Untergründen heraus muß heute öfter öffentlich ausgesprochen werden, was ich neulich in Basel ausgesprochen habe: Die Religionsbekenntnisse haben durch Jahrhunderte das Monopol sich gebildet für alles dasjenige, was über Seele und Geist - Geist ist ja abgeschafft worden im Jahre 869-, also was über die Seele zu sagen ist. Es durften die Menschen, die äußerlich über die Natur forschten, den Geist in der Natur nicht suchen. Und man muß sagen: Das vollkommenste Bild einer Weltanschauung von diesem Gesichtspunkte haben zum Beispiel die außerordentlich gescheiten Jesuiten geschaffen; wenn die Naturforscher werden, dann ist in ihrer Naturforschung nichts von Geist enthalten! Nimmt dann jemand das

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ernst, was ein Jesuit über die Natur schreibt, so wird er selbstverständlich Materialist unter dem heutigen Zeitgeiste. Heute muß man unterscheiden zwischen dem, was theoretisch richtig ist, und dem, was wirklich wesenhaft ist. Theoretisch richtig ist, daß die Jesuiten eine spirituelle Weltanschauung verfechten. Wirklich wesenhaft ist, daß die Jesuiten den Materialismus verbreiten! - Theoretisch richtig war es, daß Newton neben seiner mechanistischen Weltanschauung jedesmal den Hut zog, wenn er das Wort «Gott» aussprach. Wirklich wesenhaft ist, daß aus der Newtonschen mechanistischen Weltanschauung der Materialismus einer späteren Zeit hervorgegangen ist. Denn nicht das entscheidet, was man theoretisch meint, sondern das entscheidet, was in den Wirklichkeitsgesetzen liegt. Und die intellektualistische Weltanschauung liefert niemals Weltanschauungsgesetze. Diese intellektualistische Weltanschauung führt zuletzt zum vollständigen Luziferiamsmus. Sie luziferianisiert in Wirklichkeit die Welt.

Neben diesem Intellektualismus haben wir in der Gegenwart den Emotionalismus, das Leben aus den Instinkten, aus dem Animalischen heraus in der Art, wie ich das angeführt habe. Dieses Instinktleben, dieses animalische Leben, das beherrscht eigentlich das öffentliche Dasein in dem Moment, wo der Mensch geneigt ist, eben zu leben, wo er nicht mehr bloß zu urteilen braucht. Urteilen kann man, daß es zum Beispiel schändlich ist, nun, sagen wir, die Leute in den Bergwerken so und so zu behandeln. So kann man urteilen. Aber man hat Bergwerksaktien! Indem man die Coupoiis absclineidet, ist man es selber, der die Leute in dieser Weise martert, man merkt es nur nicht. Dies meine ich mehr als ein Symbolum des Lebens, denn so verläuft unser Leben. Die Menschen denken auf der einen Seite und handeln auf der andern Seite. Aber sie merken nicht, welche gewaltige Diskrepanz zwischen dem einen und dem andern besteht.

An diesem Zustande ist heute vielfach schuld die Bequemlichkeit der Menschen gegenüber allen Gelegenheiten, die uns Einsichten in das Leben verschaffen. Man will heute im Leben ein «guter Mensch» sein, ohne das Bestreben zu haben, dieses Leben wirklich kennenzulernen. Aber es läßt sich heute nicht in Wirklichkeit leben, ohne das Leben kennenzulernen. Dieser Weltkrieg, er ist aus der Tatsache heraus entstanden,

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daß die Menschen, welche die sogenannten «Regierenden» waren - manche sind es noch -, dem Leben ganz ferne standen. Manche stehen noch - auf ihren Plätzen nänilich.

Aber was könnte deutlicher die vollständige Lebensfremdheit der Menschen zeigen, auf die es so viel ankommt, angekommen ist in den letzten Jahrzehnten, als jene von unserer Kultur, von unserer Zivilisation so deutlich sprechenden «Memoiren», die sich jetzt so häufen. Alle Woche gibt einer, zunächst von den besiegten Mächten, die andern werden auch nachkommen, seine Memoiren heraus. Dabei zeigt sich so recht, wie nchtig das Urteil desjenigen war, der da gesagt hat: Man glaubt gar nicht, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird. - Aber die Konsequenzen aus solchen Voraussetzungen werden ja nicht gerne von den Menschen der Gegenwart gezogen. Denn diese Menschen der Gegenwart wollen zum Beispiel nicht durchschauen, daß es kein soziales Empfinden und soziales Wissen geben kann ohne ein wirkliches Weltwissen. Man kann noch Zoologie begründen ohne ein Weltwissen, weil die Tiere durch ihre physische Organisation auf eine bestimmte Tätigkeit, auf ein bestimmtes Funktionieren hin organisiert sind. Beim Menschen ist gerade das Charakteristische, daß seine Organisation offengelassen ist für das> was er aus dem Weltwissen aufnehmen soll. Und so kann es kein soziales Wissen geben, ohne daß ihm ein Weltwissen zugrunde liegt. Man kann niemals eine wirkliche Sozialkunde aufbauen, ohne daß man weiß, daß alles dasjenige, was der Mensch zu erstreben hat durch sein Inneres, ein Ergebnis ist der ganzen Entwickelung, die Sie in meiner «Geheimwissenschaft im Unrriß» dargestellt finden bis zur jetzigen Erdenentwickelung, und daß alles dasjenige, was der Gegenwartsmensch durch die soziale Gemeinschaft aufnimmt, ein Keim ist für dasjenige, was weiter geschehen soll mit der Erdenentwickelung.

Verstehen kann man das soziale Leben nicht, ohne daß man die Welt überhaupt versteht. Es ist unmöglich, daß heute die Menschen eingreifen mit Programmen oder Ideen oder Idealen in das öffentliche Leben, ohne sich eine geistige Grundlage für dieses Eingreifen zu legen; denn was überall mangelt, das ist ein Ergriffensein der Seele von dem, worauf es eigentlich ankommt.

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Da erlebt man sonderbare Dinge. Der ausgezeichnete deutsche sozialistische Theoretiker Karl Kautsky hat nun auch ein Buch geschrieben: «Wie der Weltkrieg entstand». Da spricht er zunächst über die Schuld- frage. Auf den ersten Seiten findet sich bei Kautsky ein merkwürdiges Gestäiidnis. Ich möchte das Folgende vorausschicken. Ich möchte sagen, daß Kautsky zu denjenigen gehört, die in den letzten Jahrzehnten mit allen Mitteln eine Parteidoktrin und Parteidisziplin in das Proletariat einhämmerten, die Lehre in die Köpfe einhämmerten, daß nicht einzelne Menschen als Menschen für die Weltereignisse verantwortlich sind, sondern zum Beispiel der Kapitalismus. Und so finden Sie denn überall nicht die Rede von Kapitalisten, sondern vom Kapitalismus. Mit solchen Parteidoktrinen kann man agitieren, man kann Parteien begründen, man kann wirksanie Hämmer finden für die Köpfe der Menschen, so daß solche Doktrinen Glaubensbekenntnisse werden. Sobald man genötigt ist, ich 'will gar nicht sagen, in die Wirklichkeit arbeitend einzugreifen, sondern nur zu urteilen über die Wirklichkeit, da geht die ganze Doktrin flöten! Denn nun, wo Kautsky über die Schuldigen schreibt, was tut er? Er müßte ja sein ganzes Buch ungeschrieben lassen, wenn er seine alten Litaneien vom Kapitalismus fortsetzen wollte. Was tut er also? Er legt auf der ersten Seite ein Bekenntnis, ein merkwürdiges Bekenntnis ab, das ich Ihnen nur mit ein paar Worten aus seinem Buche anführen will: «Man kann nicht den Kapitalismus als den einzig Schuldigen hinstellen. Denn der Kapitalismus ist nichts als eine Abstraktion, die gewonnen wird aus der Beobachtung zahlreicher Einzelerscheinungen und die ein unentbehrliches Hilfsmittel ist bei dem Streben, diese in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen zu erforschen. Bekaömpfrn kann man aber eine Abstraktion nicht, außer theoretisch; nicht aber praktisch. Praktisch können wir nur Einzelerscheinungen bekämpfen... bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen.»

Nun ist der sozialistische Theoretiker nur davor hingestellt, ich will gar nicht sagen, ins soziale Leben aufbauend einzugreifen, sondern nur das soziale Leben in einer Frage zu beurteilen, und nun ist plötzlich der Kapitalismus eine Abstraktion. Da kommt er erst darauf! In dem Augenblich, wo derselbe Karl Kautsky Veranlassung nehtnen würde,

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die Wirklichkeitsidee von der Dreigliederung zu besprechen, da wür`de in militärischer Organisation wiederum aufmarschieren der Kapitalismus, nicht als Abstraktion, sondern als etwas höchst Wirkliches! - Man merkt gar nicht, wo der Unterschied liegt zwischen dem, was als soziale Anschauung aus einer wirklichen Lebensbeobachtung herausgeholt ist, und dem, was aus einem allgemeinen abstrakten Denken oder auch abstrakten Empfinden herausgeholt ist.

Einsicht, das ist dasjenige, was der Mensch der Gegenwart suchen muß als Schutzmittel gegen jenen Illusionismus, in den er verfallen muß durch den auf die Spitze getriebenen Intellektualismus. So suchte ich Sie heute von einer gewissen Seite her auf wichtige Dinge der Gegenwart aufmerksam zu machen. Ich werde morgen und übermorgen diese Dinge weiter ausbauen, fortsetzen.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 10. Januar 1920

Ich werde, um den Übergang zu schaffen von der kulturhistorischen Betrachtung von gestern zu den Perspektiven, zu denen ich morgen dann übergehen will, heute eine Art Episode eiIifügen, die Ihnen vielleicht etwas weit hergeholt zu sein scheinen wird, die aber doch einmal, wenn auch als eine ziemlich schwierige Betrachtung, eingefügt werden muß.

Zwei Mächte greifen in das menschliche Leben ein, die innerhalb dieses Lebens rätselhaft erscheinen, die verlangen, verstanden zu werden, denn sie fallen eigentlich aus dem denkgewohnten Gang des Lebens heraus. Das eine ist die Tatsache, daß der Mensch illusionsfähig ist, daß der Mensch sich Illusionen hingeben kann. Das andere ist, daß der Mensch dem Bösen verfallen kann. Die Wirkung der Illusion und die Wirkung des Bösen im Leben gehören ja ganz gewiß zu den größten Rätseln dieses Lebens.

Nun habe ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten Veraiilassung genommen, auf das in bezug auf diese beiden Lebenstatsachen vorliegende Geheimnis hinzuweisen. Das Geheimnis, das dabei vorliegt, ist nur ein solches, daß sein Denken herausfällt aus den gewohnten Bahnen. Und verwandt ist alles dasjenige, was man zu denken hat in bezug auf die Illusion und in bezug auf das Böse im Leben, init dem Problem, init dem Rätsel von Krankheit und Tod, die ja eigentlich vom Menschen - wie alle diese Rätsel - nur deshalb nicht in ihrer vollen Tiefe empfunden werden, weil der Mensch sich gewöhnt hat, Illusionen, das Böse, Krankheit und Tod im Leben drinnen zu haben. Allein diese Dinge mußte derjenige ganz unverständlich finden, der von einer materialistischen Auffassung des Lebens ausgeht. Insbesondere müßte der materia!istisch Gesinnte immer wieder und wiederum sich fragen: Wie ist verembar jene Abweichung von dem gewohnten Gang der Naturgesetze im Leben, jene Abweichung, die in Krankheit und Tod erscheint? - Denn die Naturgesetze, die durch die Organismen durchwirken sollen, die drücken sich zweifellos ja aus in dem normalen, in dem gesunden

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Gang des Lebens. Krankheit und Tod aber greifen abnormerweise in den Gang des Lebens ein.

Man wird allmählich, um überhaupt in der ganzen krank gewordenen Weltanschauung der zivilisierten Menschheit Gesundes zu entwickeln, gerade einsehen müssen, daß Krankheit und Tod, das Böse und die Illusion nur zu begreifen sind vom Gesichtspunkte einer spirituellen Weltanschauung. Der Mensch, so wie er als ein Ausdruck der ihm bekannten Welttatsachen dasteht, muß sich klar darüber sein, daß seine Entwickelung nicht möglich ist, wenn in diese Entwickelung nur hereinspielen diejenigen Naturtatsachen, die er zunächst überblickt, wenn er an nichts anderem Teil hätte als an demjenigen, wovon die heute gewohnte Wissenschaft redet. Denn betrachten Sie einmal einfach vom Gesichtspunkte des gesunden Menschenverstandes das Folgende. Denken Sie sich einmal: Die Vital-, die Lebenskräfte werden in Ihnen lebendiger, als sie im sogenannten normalen Zustande sind, lebendiger zum Beispiel im Fieber, lebendiger, als Ihnen möglich ist, sie zu beherrschen. In all diesen Fällen, in denen Sie nicht aufkommen, nicht die Oberhand gewinnen über die in Ihnen wirkenden Naturkräfte, hört das Bewußtsein auf, oder wenigstens geht das Bewußtsein 1n einen abnormen Zustand über.

Wer das Leben unbefangen betrachtet, der muß sich sagen: Leben und Bewußtsein haben ist durchaus zweierlei. Bewußtsein haben hängt davon ab, daß man selber die Oberherrschaft über das Leben hat. Wenn das Leben überwuchert, wenn das Leben fiebrig wird und man die Herrschaft über dieses Leben verliert, dann ist es unmöglich, das Bewußtsein in der richtigen Weise weiter zu haben. Daraus folgt aber doch unmittelbar, daß dasjenige, was im Organismus das Leben erregt, und dasjenige, was im Organismus Lebenskräfte sind, nicht zu gleicher Zeit die Kräfte des Bewußtseins sein können. Wenn man die Entwickelung der Menschheit, wie sie sich im Kosmos zugetragen hat, überblickt, so wissen Sie ja, daß dieses Erdenbewußtsein, das man gewöhnlich meint, wenn man überhaupt vom Menschlieitsbewußtsein redet, und das wir heute auch zunächst einzig und allein berücksichtigen wollen, erst im Laufe der Zeit eingetreten ist; daß diesem Erdenbewußtsein andere, weniger helle Bewußtseinszustände vorangegangen sind. Ich habe Sie ja oftmals hinge

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wiesen darauf, wie diesem unserem Erdenplaneten eine planetarische Verkörperung, die wir die Mondenverkörperung der Erde nennen, vorangegangen ist. Damals, als die menschliche Wesenheit verbunden war mit diesem planetarischen Mondenzustande, da hatte der Mensch nur eine Art Traumbewußtsein. Aber er war auch - Sie brauchen das nur in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» nachzulesen - viel, viel mehr als heute durchsetzt von Vitalkräften.

Und gehen wir weiter zurück zu noch früheren planetarischen Verkörperungen unserer Erde, so finden wir immer mehr und mehr Lebensprozesse im Menschen. Der Mensch lebt das Leben des ganzen Kosmos mit. Aber wir finden kein anderes Bewußtsein hinter dem Mondenbewußtsein, als dasjenige unseres traumlosen Schlafes ist, also, vom irdischen Standpunkt aus gesprochen, überhaupt kein Bewußtsein.

Durch diese Zustände, in denen der Mensch gewissermaßen lebendiger war, aber in denen er wegen dieser Lebendigkeit nicht das Erdenbewußtsein haben konnte, entwickelte er sich hindurch bis zu diesem Erdenbewußtsein. Und auch darüber haben wir ja schon gesprochen, wovon dieses Erdenbewußtsein abhängt. Davon hängt es ab, daß wir, was die heutige Physiologie noch nicht genügend berücksichtigt, in unserem Haupte, in unserem Kopfe Vorgänge sich abspielend haben, die, wenn sie sich über den garizen Leib erstreckten, uns fortwährend in jedem Augenblick den Tod bringen müßten. Unsere Nerven-Sinnesprozesse sind Prozesse, welche ganz gleichwertig sind mit dem, was in unserem Organismus vorgeht, wenn er ein Leichnam ist. Nur, solange wir leben, wird dieses fortdauernde Sterben unseres Nerven-Sinnesorganismus paralysiert, von den andern Lebensprozessen in unserem Organismus ausgeglichen. Wir müssen gewisseritiaßen in jedem Augenblich von unserem Rumpf- und Gliedmaßenorganismus aus zum Leben erweckt werden. Denn würde unsere Organisation nur den Kräften unseres Hauptes folgen, dann würden wir fortwährend sterben beziehungsweise zum Sterben geeignet sein.

Sie sehen, es ist notwendig, daß in das menschliche Leben hereinspielt der Sterbeprozeß, der Zerstörungsprozeß. Ohne daß dieser Zerstörungsprozeß in die menschliche Organisation hereinspielte, würde sich der Mensch nicht hinentwickeln können zur Helligkeit des Bewußtseins.

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Diese Dinge müssen als Notwendigkeiten der kosmischen Enrwickelung` eingesehen werden. Und töricht ist es im Grunde genommen, wenn die Leute sich denken: Gott ist allmächtig, er hätte die Sache doch anders einrichten können. - Das würde ungefähr gleichkommen dem Satze: Gott ist allmächtig, er kann ein Dreieck doch auch mit vier Ecken machen. - Dasjenige, um was es sich da handelt, ist ein Gesetz unbedingter Notwendigkeit. Bewußtseinsentwickelung ist ohne Eingliederung des Todespiinzipes in die menschliche Organisation nicht möglich.

Nun aber, insoweit wir in der Erdenorganisation leben, insoweit wir Erdenwesen sind, sind wir ganz eingegliedert in diese Erdenorganisation, in diese Erdenwesenheit. Gewissermaßen die Gesetze der Erdenwesenheit gehen durch unseren Organismus hindurch. Hier ist es nötig, daß man unterscheide zwischen denjenigen kosmischen Gesetzen, welche die eigentlichen Erdengesetze sind, und denjenigen kosmischen Gesetzen, die man nicht im eigentlichen Sinne als Erdengesetze ansehen kann. Es ist eine ziemlich schwierige Sache, die hier berührt wird. Stellen wir uns nur schematisch vor, wir hätten es mit der Erde zu tun, mit der Sonne, mit noch manchem andern im sogenannten Weltenall; alles, was da drinnen wirkt und lebt, hängt miteinander zusammen. Aber man muß etwas weglassen, wenn es möglich sein soll, zu sagen: Alles, was da drinnen wirkt und lebt, hängt miteinander zusammen. - Man muß weg- lassen alles dasjenige, für das unser Mond der Mittelpunkt ist.

#Bild a S.26

Tafel 1*, Mitte

Wir leben nämlich tatsächlich kosmisch in zwei Weltensphären, die zwar durcheinanderwirken, die aber innerlich wesenartig voneinander verschieden sind. Was zur Sonne und zur Erde gehört in bezug auf die wirksamen Kräfte, das hängt zusammen und in das hat sich gewissermaßen hineingeschoben alles das, was zu den wirksamen Kräften des Mondes gehört. Ich müßte also eigentlich so zeichnen: Erde (E), Sonne (S), und noch manches andere.

#Bild b S.26

Tafel 2

Ich zeichne die scheinbare Bewegung der Erde und der Sonne (1). Ich müßte dann zeichnen den Mond. Wenn das die Sphäre des Mondes ist (2), das die Sphäre der Sonne ist (1), so müßte ich jetzt beides ineinanderschieben (3), so daß sie zwar räumiich zusammenfallen, innerlich den Kräften nach aber eine Zweiheit sind, sich nicht uiimittelbar initeinander vereinigen.

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#Bild a S.27


#Bild b S.27

Tafel 2

Und wir Menschen leben in dieser Zweiheit. Alles, was zum Monde gehört, ist nämlich ein Rest, ein Überbleibsel - Sie können das in meiner «Geheimwissenschaft» genauer nachlesen - des alten Mondenzustandes, gehört gar nicht zu dem, was die Erde in ihrem normalen Fortschritt geworden ist. Es ist dieses Stück, das zum Monde gehört, zurückgeblieben wie ein Fremdkörper, hat sich hineingelagert, und wir nehmen an beiden teil.

Für den, der das Weltenwesen wirklich verstehen will, ist es unerläßlich, Kunde zu haben von dieser Selbständigkeit des Erden-Sonnenwesens und des Mondenwesens. Denn daran ist zu knüpfen etwas außerordentlich Wichtiges, etwas, was sogar so wichtig ist, daß die Wissenschaft der Gegenwart nicht nur nichts davon ahnt, sondern es höchst wahrscheirilich für die größte Torheit hält, wenn sie davon hört.

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Jeder Mensch, wenn er embryonal seine Entwickelung durchmacht, macht diese Entwickelung nicht etwa bloß dadurch durch, daß er den Kräften folgt, die im Leibe der Mutter entfesselt werden durch die Befruchtung. Wenn man so etwas glauben machen will, so kommt das gleich der Behauptung: Hier habe ich eine Magnetnadel, die richtet sich in einer bestimmten Richtung, also hat sie die Kräfte in sich. - Das fällt keinem Physiker ein. Jeder Physiker sagt: Die Erde ist auch ein großer Magnet, und der zieht die eine Spitze der Magnetnadel an, und das andere Ende zieht die andere Spitze an. - Da redet man ganz gut davon, daß das, was in sich geschlossen ist, in seiner Tätigkeit, in seiner Wirksaihkeit, in seiner Stellung abhängig ist von dem Großen. Nur wenn der Mensch entsteht im Mutterleib, da möchte man alles in diesen Mutterleib hineinwerfen, was an ihm organisierend ist, während da gerade die kosmischen Kräfte wirksam sind, vom Kosmos herein die Kräfte den Menschen ausgestalten. Und so ist es, daß des Menschen Hauptesorganisation, alles das, was mit seinem Nerven-Sinnesapparat zusammenhängt, mit den Mondenkräften zusammenhängt und die übrige Organisation mit den Sonnenkräften. Und dadurch werden wir Menschen im Leben auch ein zwiespältiges Wesen. Wir werden als Hauptesmensch ein Mondenwesen, als übriger Mensch ein Sonnenwesen. Aber hier kompliziert sich nun die Sache ganz wesentlich. Wenn Sie hier nämlich nicht genau zusehen, so werden Sie gleich einen Knäuel von Mißverständnissen in die Sache hineinbringen.

Insofern der Mensch ein Haupteswesen ist, ist er ein Mondenwesen, das heißt, in sein Haupt sind die Mondenkräfte hineinorganisiert. Insofern er die übrige Organisation ist, ist er ein Sonnenwesen, das heißt, in sein übriges Wesen sind die Kräfte des Sonnenhaften hineinorganisiert.

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Tafel 1, rechts

Dadurch aber ist das Haupt, der Kopf, wenn der Mensch wachend der Welt gegenübersteht, besonders empfänglich für alles, was von der Sonne kommt. Das Sonnenlicht, wenn es auf die Gegenstände fällt, nimmt der Mensch auf durch sein Auge. Das Haupt, der Nerven-Sinnesapparat ist eine Mondenschöpfung; was der aber alles hineinbekommt, das ist gerade das Sonnenhafte. Und in der übrigen Organisation ist der Mensch ein Sonnenwesen, das heißt, er ist als Sonnenwesen organisiert.

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Was aber, insofern er auf der Erde sich entwickelt, in ihn hineinwirkt, das ist alles mondenhaft.

So daß Sie sagen können: Der Mensch ist als Ha,upteswesen ein Mondengefäß, das aufnimmt die Strömungen des Sonnenhaften. Der Mensch ist als übrige Organisation ein Sonnenwesen, das aufnimmt die Strömungen der Mondeiikräfte.

Sie sehen daraus: Wenn man nicht genau zusieht, wenn man nicht genau die Dinge faßt, sondern bequeme Begriffe sucht, dann kommt man nicht zurecht. Denn da kann einer kommen und kann sagen: Der Mensch ist als Haupteswesen, als Kopfeswesen ein Mondenwesen. - Der andere sagt: Das ist nicht wahr, er ist ein Sonnenwesen, denn in ihm spielen sich die Sonnenprozesse ab. - Beides ist richtig. Man muß nur die Art und Weise des Zusarnmenwirkens dieser Dinge kennenlernen. Ich habe schon öfter gesagt, die Wirklichkeit ist nicht so bequem für uns zu fassen, daß ein paar hingepfahlte Begriffe genügen würden, diese Wirklichkeit aufzufassen; sondern es handelt sich darum, daß man sich schon ein wenig anstrengen muß, um nur die Begriffe zu bilden, welche mit dieser Wirklichkeit sich annähernd decken. In dem Menschen selbst wirken in zwiefacher Weise Mondenwesen und Sonnenwesen ineinander. Und alles dasjenige, was als Lebensvorgänge sich abspielt, das kann nicht verstanden werden, wenn der Mensch nicht in diesem zwiespältigen Zusammenhange mit dem Kosmos aufgefaßt wird.

Eine der wichtigsten Angelegenheiten der Gegenwart sollte für die heute - wenn sie richtig fühlt - gequälte Menschheit die Erkenntnis sein: Wie haben wir doch verloren die alten, im atavistischen Hellsehen der Menschheit bekannten Begriffe, und wie stehen wir erst im Anfange des Kopeinikanismus, des Galileismus! - Der alte Ägypter, so müßte sich der Mensch sagen, der kannte den Menschen noch als ein Glied des ganzen Kosmos. Aber dieser Kosmos war ihm, diesem Ägypter, viel höher organisiert als der Mensch selber. Heute blickt der Mensch nach dem Kosmos hinaus und sieht eine große Maschinerie, die er mit seinen mathematischen Formeln berechnet. Die Planeten bewegen sich für ihn um die Fixsterne gerade so, wie wenn man berechnen wollte, daß sich die Arme und die Beine am Menschen nach mathematischen Gesetzen bewegen! In all dem, was da im Kosmos ist und in das der Mensch ein geschlossen

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ist, in all dem lebt eben Organisation - Seele und Geist. Und ohne daß man die Beseeltheit und die Durchgeistigtheit des Kosmos ins Auge faßt, kann man nichts vom Menschenleben, das in diese Beseeltheit und in diese Durchgeistigtheit des Kosmos eingefaßt ist, verstehen.

So, möchte ich sagen, leben wir in der Mondensphäre. Aber mit uns lebt in dieser Mondensphäre alles dasjenige, was luziferisch ist. Und auf dem Umwege durch unsere Hauptesorganisation, durch unsere Kopfesorganisation bringt uns gerade das Luziferische dazu, diese Kopfesorganisation erst geeignet zu machen für das Sonnenhafte unseres Erdendaseins. Und das Luziferische durchdringt unsere Kopfesorganisation. Aber es ist dem Irdischen so fremd wie der Mond selbst mit seiner Sphäre. Ebensowenig wie unser Nerven-Sirinesapparat herausorganisiert ist aus denselben Kräften, aus denen unser Herz, unsere Lunge, unser Magen herausorganisiert sind, ebensowenig ist herausorganisiert aus unserem Irdisch-Geistig-Seelischen dasjenige, was in uns luziferische Kräfte sind. Die sind uns eingegossen mit dem Mondenhaften.

Die wenigsten Menschen wissen viel mehr von dem Hereinwirken dieses Mondenhaften in das irdische Leben, als was ihnen von mondbeglänzten Zaubernächten, von Liebesnächten, die im Mondenschein zugebracht werden, die Dichter singen. Man weiß von der Verwandtschaft jener Ausflüsse der Phantasie mit dem Mondenschein, der in das Liebesleben, wenn es das höhere Liebesleben, das romantische Liebes- leben ist, hereinspielt. Aber dies ist nur der schattenhafteste Teil desjenigen, was vom Monde kommt. Nicht bloß das Phantasiemäßige, das sich abspielt zwischen den Liebenden in den mondbeglänzten Zaubernächten, spielt von dieser Mondessphäre in unser gewöhnliches Dasein hinein, sondern tiefgehende Kräfte spielen aus dieser Sphäre herein, Kräfte, die sich vom Alltagsleben, von demjenigen, was die Menschen an die Erde bindet, ablösen, so wie in der Regel vom philiströsen Allragsleben sich ablöst das Liebesspiel in den mondbeglänzten Zaubernächten. Und das äußerste Extrem, das sich auslebt, wie hereinspielend aus dieser dem Irdischen ganz fremden Sphäre, ist die Kraft der Illusion, die der Mensch entwickeln kann. Würde nicht diese Kräftesphäre des Mondes in uns hereinspielen, so würden wir als Menschen nicht der Illusion fähig sein.

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Dann aber würden wir uns auch nicht loslösen können von dem vitalen, von dem organisatorischen Leben unseres Organismus, und wir würden nicht zu jener Helligkeit des Bewußtseins aufsteigen können, die uns Menschen notwendig ist. Um uns zu dieser Helligkeit des Bewußtseins zu erheben, ist es notwendig, daß wir leben können in Vorstellungen, die ganz sich loslösen vom Alltagsorganismus. Dann aber müssen wir sie selbst zusammenhalten mit dem Alltagsorganismus. Dann ist es in unsere Macht gestellt, das, was da durch unser Haupt hindurchspielt, mit diesem Alltagsorganismus zusammenzuhalten, nicht die Illusionen sich losreißen zu lassen von der Wirklichkeit, sondern sie in der rechten Weise auf die Wirklichkeiten zu beziehen. Damit wir überhaupt in der Welt sinnlichkeitsfreie Begriffe entfalten körinen, müssen wir auch illusioiisfähig sein. Es ist einfach eine Notwendigkeit, daß der Merisch illusionsfäliig sei. Und diese Illusionsfähigkeit, sie hängt eben auch zusammen mit seiner Möglichkeit, nicht fortwährend in Fiebrigkeit oder in Ohnmacht zu sein, das heißt, zum hellen Bewußtsein aufzusteigen. Läßt er dann die Zügel schießen, bleibt er also nicht Herr der Illusion, sondern wird die Illusion Herr über ihn, dann ist das nur eine notwendige Beig`abe der Tatsache, daß wir illusionsfähig sein mussen.

So habe ich Ihnen zunächst von der einen Seite her kosmisch-humamstisch die Illusionsfähigkeit im Menschen aufgezeigt ihrem Ursprnnge nach, habe Sie an eine Stelle der Weltbetrachtung gewiesen, in der zusammeiifließt dasjenige, was wir Naturnotwendigkeit nennen, und dasjenige, was wir innerliche menschliche Aktivität nennen, während beide für die gewöhnliche heutige mechanistische Betrachtungsweise auseinanderfallen.

Nun aber die andere Sphäre. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß ich eine kleine Retusche angebracht habe, und da Sie ja wahrscheinlich außerordentlich aufmerksam sind, werden Sie in Ihrem Inneren mir das als eine Art Vorwurf schon in Gedanken entgegengeschleudert haben, daß ich eine Art Retusche angebracht habe. Ich habe nämlich zuerst gesagt Ineinandergewoben sind die Erden-Sonnensphäre und die Mondensphäre. - Nachher habe ich geredet von der Sonnensphäre. Ich habe auch in einem gewissen Sinne Recht gehabt. Denn dasjenige, was in die Nerven-Sinnesorganisation hereinwirkt, auch von der Erde aus,

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ist immer Sonnenwirkung. Selbst die beleuchteten Flächen der Gegen- stände sind nur das zurückgeworfene Sonneiilicht. Und so ist alles dasjenige, was hereinspielt, auch wenn es von der Erde kommt, insofern es in unser bewußtes Leben hereinspielt, Sonnenwirkung. Aber nicht alles. Ich konnte es nur bisher auslassen. Richtig ist es, daß alles dasjenige, was Sie zunächst in Ihrem Bewußtsein verarbeiten, mit der Sonne zusammenhängt. Aber daß Sie, wenn Sie sich auf die Waage stellen, ein Gewicht haben, das ist Erdenwirkung. In Wahrheit aber ist die Sonnensphäre, also das, was ich bisher als eine einheitliche Sphäre schildern durfte, wiederum in sich differenziert. Die Erde ist ein gewisser Einschluß in dieser Erden-Sonnensphäre. Und diese Erde, indem sie eine Art Einschluß ist in die Erden-Sonnensphäre, wirkt in dasjenige hinein, was uns von der Sonne kommt. Sie läßt uns nicht reines Sonnenwesen sein. Wiederum muß man auch, was diesen Punkt betrifft, den Kosmos nicht bloß als einen Mechanismus ansehen, sondern ihn in seiner Beseeltheit und Durchgeistigtheit betrachten.

Der Mensch folgt ja, indem er eingespannt ist in die Erden-Sonnensphäre, in seinen unterbewußten Kräften durchaus mehr den eigentlichen Erdenkräften. In seinen bewußten Tätigkeiten folgt er schon dem, was die Sonne auf die Erde sendet. Aber wenn man untersucht, was schwer ist, dasjenige, was mit all dem zusammenhängt, wodurch ww eine gewisse Schwere haben, wenn wir uns auf die Waagschale stellen, so ist das nicht bloß eine Gravitation, die Newton beschrieben hat, sondern das ist zu gleicher Zeit alles dasjenige, was wir als hereinspielend erleben in unser morallsches Leben. Bei der Sonne ist es wirklich so, wie der Dichter sagt: Sie scheint den Guten wie den Bösen. Ihr ist es gleichgültig. Untersucht man aber geisteswissenschaftlich die Erde, dann findet man: Ihr ist es nicht gleichgültig, sondern diese Erde ist der Ausdruck gewisser Kräfte, die sich herausheben wollen aus unserem gesamten Planetensystem. Wie der Mond sich hereingeschlichen hat, so möchte sich die Erde «drücken». Sie möchte heraus, sie möchte selbständig werden. Wir Menschen hätten etwas ganz Bestimmtes nicht, wenn wir nicht unter dem Einfluß dieser selbständig werden wollenden Erdeiikräfte lebten: Wir hätten das Selbständigkeitsgefühl nicht. Könnten Sie, ohne durch die Erdenschwere niedergezogen zu werden, mit den Elementen

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sausen, Sie kämen nie zur Selbständigkeit. Nur dadurch, daß Sie stets von der Erde angezogen werden - wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, aber als den Ausdruck einer Tatsache, nicht einer Theorie -, dadurch entwickelt sich die Selbständigkeit. Und dazu ist dieser Erdeneinschluß in die Erden-Sonnensphäre da, daß er uns die Selbständigkeit gebe.

Sie können nun wieder einen Einwand machen, den Sie ja wahrscheinlich im Gemüte schon gemacht haben: Ist es bei den Tieren nicht ebenso?! - Nein, da ist es nicht ebenso. Denn das tierische Haupt hängt an einem horizontalen Rückgrat; das menschliche Haupt sitzt mit seiner ganzen Schwere auf dem übrigen Organismus. Das macht den Unterschied. Das macht es, daß der Mensch dieses Selbständigkeitsgefüh1 hat, daß der Mensch in ganz anderer Weise eingespannt ist in die Erden- und in die Sonneiikräfte als das Tier.

Solchen Fragen, wie sie uns hier beschäftigen, kann man nur nahe- kommen, wenn man gewissermaßen in Alternative fragt: Was würde aus uns Menschen, wenn wir nur dem Erdeneinflusse, vom Mondeneinflusse abgesehen, Überlassen wären?! - Was würde aus uns Menschen, wenn wir Menschen nur dem Sonneneinfluß überlassen wären?! - Wenn wir Menschen nur dem Sonneneinfluß überlassen wären, würden wir eine Art Engel sein, aber dumm. Nicht, daß ich sagen will, die Engel seien dumm. Die Engel sind schon gescheit; aber wir wären eine Art Engel, jedoch nicht gescheit wie die Engel, sondern dumm. Denn uns fehlte das Selbständigkeitsgefühl. Wir waren nur Glieder in der Organisation des Kosmos. Daß wir selbständig sind, das verdanken wir dem Erdendasein. Wenn wir aber nur unter dem Eisifluß des Erdendaseins wären, wenn die Sonne nicht auf uns wirkte, was wären wir dann?! - Bestien, Raubtiere, Wesen, welche die wildesten Instinkte entwickeln.

Hier haben Sie einen der Punkte, an dem Sie wirklich tief hineinschauen können in die Konstitution des Weltenalls, deshalb tief hineinschauen können, weil Sie sich sagen mussen: Das, was im Weltenall wirkt, kann nicht bloß von einer Seite her wirken. Denn würde es von einer Seite her wirken, so würde es eben ein radikales Extrem darstellen müssen. Wären wir nur unter Erdeneiiifluß, so würde dieser Erdeneinfluß

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in uns die wildesten Instinkte entwickeln. Auflodern würden unsere wilden Instirikfflammen. Würde er aber nicht wirken, der Erdeneififluß, so würden wir nie selbständige Wesen werden. Er muß da sein, sonst würden wir nie selbständige Wesen werden. Wir müssen die Möglichkeit haben, wilde Tiere zu sein, damit wir selbständige Wesen werden können. Damit wir aber nicht wilde Tiere werden, muß entgegenwirken dem Erdeneinfiuß der Sonneneinfluß, muß ihn paralysieren. Das geschieht. Und indem es so geschieht, blicken Sie durch auf den Ursprung des Bösen. Er ist einfach damit gegeben, daß wir ins Erdendasein eingespannt sind. So daß wir in der Tat auf der einen Seite einem radikalen Extrem ausgesetzt sind, dem Erdenextrem, welches, wenn es allein auf uns wirken würde, uns zu bösen Wesen machen würde, uns nur mit Illusionen anfüllen würde.

#Bild a S.34

Tafel 2, Mitte, rot

#Bild b S.34

Tafel 2, weiße Pfeile

In beides hinein wirkt vom Kosmos her das Sonnenhafte. Das Sonnenhafte macht möglich, daß wir uns so entwickeln, daß wir nicht dem Illusionären verfallen. Und das Sonnenhafte macht möglich, daß wir uns so entwickeln, daß wir nicht dem Bösen verfallen. Unter der Illusion liegt die Möglichkeit, inteffigente Menschen zu werden. Wäre alles dasjenige nicht da, was uns illusionsfähig macht, wir würden niemals inteffigente Menschen werden. Kosmisch ausgedrückt: Wären wir nicht Geschöpfe des Mondes, wir wären auf der einen Seite nicht illusionsfähige Menschen, auf der andern Seite nicht intelligenzfähige Menschen. Wären wir nicht der Erde unterworfen und ihren Kräften, wir wären auf der einen Seite nicht der Möglichkeit des Bösen ausgesetzt; aber wir wären zu gleicher Zeit verurteilt, keine Selbständigkeit im Leben zu entwickeln.

Sie sehen, wie der Mensch die Möglichkeit haben muß, damit er intelligent sei, Illusionen zu haben. Er hatte durch lange Zeiten Illusionen. Dann kam sein Wille, der erst im Laufe der Zeit in seine Seelenkonstitution hineingeboren wurde, und er konnte die Illusion zum Ausflusse seines eigenen Wesens machen, er konnte ein Lügner werden. Denn die Lüge ist, objektiv, vom Menschen abgesehen, dasselbe wie die Illusion. Nur daß dasjenige, was der Wirklichkeit nicht entspricht, bei der Lüge willkürlich vom Menschen in Gegensatz gegen die Wirklichkeit gestellt wird.

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So ist dasjenige, was von der Mondensphäre hereinwirkt in den Menschen, gleichzeitig der Schöpfer, das Schöpferwesen seiner Inwffigenz,` gleichzeitig das Schöpferwesen seiner Lügenhaftigkeit. In alten Zeiten hat man so etwas eingesehen und hat Sprichworte aUs Wahrheiten gefornit. Wir Deutschen, wenn wir den Mond so sehen: ~ , sagen, man Tz kann ihn ergänzen zu einem ~ - der Mond nimmt zu. - Wenn wir den Mond so sehen: ~ , sagen wir, man kann ihn ergänzen zu einem u - der Mond rln1nit ab. - Wenn Sie schon ins Französische zurückgehen, also in die Nachwirkung der romanischen Sprache, da müssen Sie zu dem abnehmenden Mond sagen: La lune d&roit, - von de`cr&ftre. Da sagt der Mond nicht selber das, wie er sich benimmt; er sagt das Gegenteil. Dieser Mond hat nälnlich erst für die Deutschen angefangen, die Wahrheit zu sagen. Daher das lateinische Sprichwort: Der Mond ist ein Lügner. - Aber dieses Sprichwort hat auch seine esoterische Seite; denn die Kräfte, die vom Monde kommen, sind zu gleicher Zeit die Kräfte des menschlichen Lügenwesens, und das Sprichwort: Der Mond ist ein LÜgner - hat einen sehr, sehr tiefen Hintergrund, wie Sie jetzt gesehen haben. Nur als die Zivilisation über das 15. Jahrhundert heraufgekommen ist, da hat nun dieser Mond angefangen, in bezug auf sein Äußeres für gewisse Sprachen die Wahrheit zu sagen, wie der Materialismus überhaupt in bezug auf sein Äußeres die Wahrheit sagt. Aber mit Bezug auf sein Inneres ist der Mond jetzt erst recht ein Lügner.

#Bild S.35

Tafel 1

Ich sage Ihnen das bloß für die Mnemotechnik, so daß Sie sich erinnern dieser tiefeinschneidenden, kosinisch-menschlichen Wahrheit. Und sehen Sie, das Beste, was wir Meiischen haben, die Selbständigkeit, hängt innerlich zusammen mit dem Bösen. Das Beste, was wir Menschen haben, die Inteffigenz, hängt innerlich zusammen mit der Illusionsfähigkeit, mit der Möglichkeit des Irrtums. Und wir Menschen müssen auch entwickelungsfähig sein. Wir müssen die Möglichkeit haben, nicht stehenzubleihen. Entwickelungsfähig könnten wir nicht sein, wenn wIr nicht aufgerufen würden, Neues zu bilden auf Grundlage des Zerstörten. Das heißt, wir mussen in uns Kranlieit und Todesmöglichkeit tragen, damit wir in uns entwickeln können die fortbildenden Kräfte.

Diese außerordentlich wichtigen Wahrheiten haben die Weltanschauungen der letzten Jahrhunderte vollständig zugedeckt, vollständig begraben.

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Denn Wissenschaft nennt man ja heute, wenn sie sich auf etwas anderes erstreckt als Mathematik und Mechanik, nur dasjenige, was auf der Erde vorgeht. Von außerhalb der Erde wirken nur mathematisch und mechanisch ergreifbare Gesetze herein. Die Menschheit wird erst wiederum verstehen müssen, daß ganz andere Kräfte wirken in diesem Weltenraum, in dem der Mond seine Wege geht, in dem die Sterne ihre Wege gehen, als bloß von mechanisch-mathematisch berechenbaren Antrieben beherrschte Wege. Und wenn Sie bedenken, daß eigentlich das Alleralltäglichste in uns eine Wirkung des Kosmos ist, daß das Alleralltäglichste nicht verstanden werden kann, ohne daß sich der Mensch betrachtet als eine Wirkung des Kosmos, wie wollen Sie denn dann fruchtbare Gedanken hineingießen in dasjenige, was als Weltanschauung das menschliche Leben durchdringen soll?! Der Mensch ist heute weltverlassen. Er ahnt nichts von seinem Zusammenhange mit der Welt. Und er möchte sich ein soziales Dasein begründen und weiß nicht einmal, mit wem, weil er keine Ahnung hat, was er ist.

Ja, ehe nicht die Fragen in die Menschenseelen einziehen: Wie wenig wissen wir unter dem Einfluß der letzten Jahrhunderte von der Welt, wieviel haben wir nötig zu wissen?! - eher kommt auch in alle sozialen Bestrebungen kein Heil hinein. Wo es geht, Mechanisch-Mathematisches irgendwo zu sagen, da lassen sich die Menschen der Gegenwart noch herbei, Zusammenhänge zu konstruieren. Sie wissen, mit den Perioden der Sonnenflecken wird allerlei in Zusammenhang gebracht, Seuchen und dergleichen auf der Erde. Es gibt so einzelne Stellen, in denen die Menschen das Erdendasein wiederum an die Ereignisse des Kosmos an- knüpfen möchten. Daß alles, was sich abspielt im Erdendasein, ein Ergebnis des Kosmos ist, das möchten die Menschen heute leugnen, daran möchten sie nicht denken. Verstanden werden können die Dinge, die sich auf der Erde unter Menschen abspielen, niemals, wenn sie nicht kosmisch verstanden werden. Und niemals kann der Mensch wirksame Ideen für die Erdenarbeit finden, wenn er diese wirksamen Ideen nicht durchtränkt von dem Bewußtsein seiner Zusammengehöngkeit mit dem Kosmos.

Man hat heute ein bitteres Gefühl, wenn man sich nur historisch anschaut, was sich eigentlich abspielt. Wenn Sie hier eine Wand haben, da

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allerlei Schattenfiguren über die Wand hinhuschen sehen, so werden Sie nachforschen, woher diese Schattenfiguren kommen. Wenn Sie über die Erdenoberfläche die Ereignisse der letzten fünf bis` sechs Jahre ziehen sehen, forschen Sie nicht nach, trotzdem das auch nur die Projektionen, die Schatten sind von dem, was im ganzen Kosmos vor sich geht. Und die großen Fragen, die sich heute abspielen zwischen den verschiedenen Gebieten der Erde, können nur verstanden werden, wenn das Verständnis durchdrungen wird von kosmischer Idealität.

Ich habe heute einen Artikel gelesen, worin geredet wird von der Hoffnung, daß die Staatsmannschaft Großbritahniens die richtigen Im- pulse finden werde, um Ordnung zu schaffen zwischen dem, was in Rußland vor sich geht, und dem, was in den Westländern vor sich geht. Da will man so etwas ausbauen in der Mitte, in dem zugrunde gerichteten Deutschland. - Diese Hoffnungen werden sich nicht erfüllen; denn alles, was aus solchem Geiste heraus spricht, was wartet auf die Erkenntnisse derjenigen, die aus dem Alten heraus schaffen, das führt zu nichts.

Fruchtbar für die Zukunft ist heute allein dasjenige, das aus ganz Neuem heraus schafft. Erst wenn die Menschheit aufwacht, um solches einzusehen, dann wird der Beginn des Heiles für viele Schäden in der Menschheitsentwickelung sein.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 11. Januar 1920

Was ich gestern hier vorgetragen habe, ist scheinbar etwas sehr Entlegenes. Dennoch, wer sich wirklich Vorstellungen machen will über das in unserer Zeit geistig und sozial Notwendige, der muß sich auch bekanntmachen mit solchen Vorstellungen. Es muß unser Denken und Empfinden, unser ganzes Menschenwesen durchdrungen werden von Gefühlen, die aus solchen Vorstellungen herrühren. Ich will kurz zusammenfassend das noch einmal sagen, was gewissermaßen gestern den Hauptklang der Auseinandersetzungen bildete. Es ist dasjenige, was uns ja von andern Gesichtspunkten aus mehr abstrakt schon bekannt war, daß der Mensch im wesentlichen eine zweifache Organisation hat; wir könnten auch sagen eine dreifache, aber wir wollen das dritte, das mittlere Glied heute weniger noch berücksichtigen.

Zunächst liegt vor seine Hauptesorganisation, seine Nerven-Sinnes- Organisation, und dann liegt vor die Organisation des übjigen Menschen. Für die nach Bequemlichkeit drängenden Gedanken der Gegen- wart ist eine solche Sache deshalb schwer einzusehen, weil die Menschen heute alles hübsch, fast räumlich, abgeteilt wissen möchten. Wenn man spricht von Hauptesorganisation und von der Organisation des übrigen Menschen, dann stellen sich die Leute am liebsten vor: das Haupt bis hier zum Hals und dann der übrige Mensch. So sind die Dinge natürlich nicht gemeint, sondern es handelt sich darum, daß in einer gewissen Beziehung wiederum der ganze Mensch Haupt ist, nur kommt das Haupt- sein, das Kopfsein, am Kopfe am deutlichsten zum Ausdrucke. Und der ganze Mensch ist auch Rumpf- und Gliedmaßenmensch, nur kommt das Rumpf- und Gliedmaßensein eben am Rumpf und an den Gliedmaßen am deutlichsten zum Vorschein. Die Sinne sind gewissermaßen über den ganzen Menschen verteilt; aber insofern sie über den ganzen Menschen verteilt sind, reclinen wir sie zur Hauptesorganisation, weil diejenigen Sinne, die im Haupte lokalisiert sind, die am weitesten fortgeschrittenen Sinne sind.

Sie werden aus diesen Andeutungen verstehen, wie ich die angeführte

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Gliederung des Menschen eigentlich meine. Nun aber haben wir gesehen, daß nicht nur eine aus inneren Kräften und Vorgängen im Menschen herkommende Notwendigkeit zu dieser Gliederung vorliegt, sondern daß tatsächlich der Mensch in einer andern Weise dem Kosmos eingeordnet ist als Kopfesmensch und in einer andern Weise dem Kosmos eingegliedert ist als Rumpf- und Gliedmaßenniensch. Unser Haupt ist gewissermaßen das am weitesten Fortgeschrittene; aber es gehört eigentlich - und das zeigt nicht nur die okkulte Erkenntnis, sondern das zeigt auch die wirklich vernünftig betrachtete Embiyologie - unsere HauptesOrganisation nicht der irdischen und Sonnensphäre an, sondern der Mondensphäre. Die Kräfte, die in unserer Hauptesorganisation innerlich tätig sind, das sind Mondenkräfte. Und in unserer übrigen Organisation sind die Erden- und Sonnei`ikräfte tätig.

Mit dieser Wesenheit des Menschen hängt die ganze Erdenentwickelung der Menschheit zusammen. Und jetzt ist ein Zeitpunkt gekommen, in dem eingesehen werden muß, wie ein Schritt nach vorwärts zu tun ist, der davon abhängt, wie wir in die Lage kommen> unsere Menschheitsorganisation in Tätigkeit zu versetzen. In der menschlichen Erdenentwickelung liegt ja zunächst vor allem dasjenige, was sich abgespielt hat im menschlichen Geistes- und Seeleiileben, sagen wir bis zu dem Mysterium von Golgatha. Das ist der große Einschnitt in die ganze menschliche Erdenentwickelung. Und wenn man von alledem aus- nimmt, was sich bis zum Mysterium von Golgatha entwickelt hat, die althebräische, die altjüdische Entwickelung, so kann man sagen: Das jenige, was sich bis dahin entwickelt hat, trägt einen durchaus einheitlichen Charakter.

Die alte heidnische Kultur, die in der verschiedensten Weise, wie ich es geschildert habe in meiner «Geheimwissenschaft im Urnriß», von den Mysterien des Altertums ausgeht, trägt in einer gewissen Beziehung einen einheitlichen Charakter. Welches ist dieser einheitliche Charakter? Dieser einheitliche Charakter besteht darin, daß eine Urweisheit der Menschheit vorliegt, daß tatsächlich eine Uroffenbarung über die ganze Erde hin stattgefunden hat. Diese Uroffenbarung, warum konnte sie denn stattfinden? Sie konnte stattfinden aus dem Grunde, weil in den alten Zeiten der Erdenentwickelung das menschliche Haupt, der menschliche

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Kopf, wenn ich so sagen darf, noch nicht so weit vorgeschritten war, wie er es in unserer Zeit ist oder wie er es auch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha schon war. Er war in dem Sinne, wie ich Ihiien das gestern auseinandergesetzt habe, noch lebendig. Er war noch erfüllt von der Mögliclikeit, Träume zu haben, die nicht mit dem zusammen- hingen, was allein die Erdenerfahrung und das Erdenerlebnis gibt. Er war in der Lage, in sich wieder hervorzurufen, was der Mensch in alten Traumerlebnissen - also bei einem herabgedämmerten Bewußtsein gegenüber dem unsrigen - zur alten Mondenzeit hatte.

Das alles wurde benützt von den Offenbarern der alten Zeiten, um die Menschheit gewissermaßen hinzuleiten zu dem Punkte der Entwickelung, an dem sie sein sollte beim Einbruche des Mysteriums von Golgatha. Das, was da geoffenbart wurde und von der Menschheit durch die Ihrien eben charakterisierte Organisation hat empfangen werden können, das war so, daß gegenüber dem, was die heutige Menschheit weiß, ein unifassendes Weisheitsgut in Urzeiten da war, das immer mehr und mehr abnahm. Wir würden heute nicht zufrieden sein mit diesem Weisheitsgut, denn es war vielfach eben nur so, daß es zum Inhalt hatte alte atavistische Hellseher-Traumvorstellungen. Wir wollen heute richtige, klare Vorstellungen haben, aber wir sind in diesen lichten, klaren Vorstellungen eben noch nicht sehr weit.

Eine alte Weisheit war über die Menschheit hin ergossen. Aus dies` er Weisheit wurde vieles gesagt über die Wesen, die die Natur beherrschen, über die Kräfte, die die Natur beherrschen, aber sehr wenig von dem Menschen selbst. Der Mensch war ja noch nicht zu seinem irdischen Bewußtsein gekommen. Er war gewissermaßen noch ganz geleitet am Gängelbande höherer Mächte. Er konnte weise werden, aber das Selbstbewußtsein, das leuchtete noch nicht auf. Der apollinische Spruch: «Erkenne dich selbst» ist wie eine Sehrisucht in die Menschheit hineingestellt, wie etwas, was von den führenden Geistern Griechenlands in die Zukuiift hineingerufen worden ist. Eine Weisheit war da, welche von der Natur, allerdings auch von der Natur des Kosmos handelte. In dieses Leben der Menschheit wurde hineingestellt die alte hebräische Offenbarung. Wenn Sie sich die alte hebräische Offenbarung vor die Seele rücken, so hat sie eine gewisse Eigentümlichkeit. Sie unterscheidet

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sich ganz und gar von den heidnischen Weisheitsoffenbarungen, die um sie herum sich ausbreiteten. Sie verschmähte es gewissermaßen, die Weisheiten über die Natur und das Weltenall in sich zu enthalten. Sie enthielt im Grunde genommen über die Natur und das Weltenall nur das eine: Gott hat sie erschaffen mit dem Menschen, und der Mensch hat in der Welt dem Gotte zu dienen. Die ganze althebräische Offenbarung ist auf das Ziel hin abgestellt, dem Menschen zu zeigen, wie er seinem Jahve-Gotte dienen könne. An was wird denn in dieser althebräischen Offenbarung appelliert? - Dasjenige, woran nicht appelliert wird, das hat die alte heidnische Offenbarung: die Hauptesorganisation, die noch in sich hervorrufen konnte Erinnerungen an die alte Mondenzeit. An die konnte bei der hebräischen Offenbarung nicht appelliert werden. Es mußte an die übrige Organisation des Menschen appelliert werden. Aber er1inern Sie sich, was ich gestern gesagt habe: Diese übrige Organisation des Menschen kann gerade verstehen und aufnehmen, weil sie sonnenhaft ist, das, was vom Monde kommt. Was vom Monde kommt, ist dasjenige, was im Extrem zu den Illusionen führt, zu dem führt, was im Innern des Menschen sich offenbaren kann. Das aber ist der Inhalt der althebräischen Offenbarung. Es ist zunächst ganz vom Menschen nur gehandelt. Der Mensch steht in dieser althebräischen Offenbarung ganz im Mittelpunkt.

Aber man war in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha noch nicht durchgedrungen zur Selbsteifassung, zur Selbsterkenntnis des Menschen. Man mußte einen Weg suchen, der eigentlich ein Umweg war. Und der ging über das jüdische Volkstum. Daher ist die jüdische Religion zunächst nicht eine Menschheitsreligion. Sie wendet sich nicht an den einzelnen Menschen, sondern an das ganze hebräische Volk. Sie ist eine Volksreligion. Sie redet von dem Menschen, aber nur auf dem Umwege durch das Volk.

Diese zwei Dinge waren da, als das Mysterium von Golgatha in die Erdenentwickelung eingriff: Verglimmende altheidnische Weltenweisheit und Menschheitsbewußtsein in Form von Volksbewußtsein. Da hinein wurde gestellt das Mysterium von Golgatha. Man konnte es nur begreifen mit dem, was da war. Man muß unterscheiden die Tatsache des Mysteriums von den Mitteln, es aufzufassen, es zu empfinden. Die

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Heiden konnten es nur begreifen mit den Resten ihrer Weltenweisheit. Die Juden konnten es nur begreifen mit dem, was geoffenbart war. Und so wurde es auch zunächst begriffen. Der Rest der alten Weisheit zeigte sich in der gnostischen Auffassung des Ereignisses von Golgatha. Dasjenige, was der jüdischen Offenbarung zu verdanken war, das wurde Immer mehr und mehr der Inhalt des katholischen Eifassens, des römisch-katholischen Erfassens des Mysteriums von Golgatha. Und es mußte nun, um überhaupt etwas vom Mysterium von Golgatha zu erfassen, der Umweg gemacht werden durch diese zwei Weltenströmungen.

Dabei zeigte sich allerdings folgendes. Der alten heidnischen Weisheit ging, weil sie eine verglimmende war, weil ihr Ursprung weit zurücklag, immer mehr und mehr die Fähigkeit verloren, von den Menschen begriffen zu werden. Die Menschen wurden viel zu bequem, die in gnostischer Foim auftretende Weisheit über das Mysterium von Golgatha weiter fortzupflanzen. Nur ganz dünne Reste des alten heidnischen Weltbegreifens blieben zurück. Das ist die eine Strömung.

Frischer, intensiver war die jüdische Verkündigung. Aber sie hatte keine Weltenweisheit. Sie sprach nur vom Menschen und von Geboten an den Menschen. Sie stellte ganz den Menschen in den Mittelpunkt der Weltanschauung. Sie pflanzte sich fort in den Kirchen des Abendlandes. Die letzten Reste der heidnischen Weisheit, deren Ursprung man nicht mehr erkannte, blieben zurück als Begriffe für dasjenige, was nun naturwissenschaftliche Erfahrung ist. Mit den letzten Resten alter heidnischer Weisheit begriffen Galilei, Giordano Bruno, Kopernikus dasjenige, was an neuen Weltenerfahrungen vorliegt. Kein Wunder, daß dies allmählich etwas sehr Unbefriedigendes werden mußte. Man hatte ja nur die letzten abstrakten Reste der altheidnischen Weisheit anzuwenden gewußt auf dasjenige, was man durch die neuen Mittel der Naturwissenschaft bekam. Und von dem, was man über den Menschen wußte aus der jüdischen Offenbarung, fand sich keine Brücke hinüber zu dieser Weisheit. Und so ging das fort, und so lebte es sich fort bis in unsere Tage herein. Wir haben auf der einen Seite eine Wissenschaft, die nur mit den alierletzten Brockenresten der alten heidnischen Weisheit arbeitet und die von sich aus keine Mittel findet, den Menschen

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zu begreifen, die deshalb im 19. Jahrhundert darin gipfelte, auf das Begreifen des eigentlichen Menschen zu verzichten und nur das zu begreifen, was sich scheinbar ergibt, wenn man den Menschen als die letzte Konsequenz der tierischen Reihe ansieht. Nicht den Menschen begreifen, sondern das höchste Tier begreifen und das den Menschen nennen, das wurde das Ideal dieser mit den letzten Brocken des Heidnischen arbeitenden Wissenschaft.

Dasjenige, was sich anschloß an die jüdische Offenbarung, das verlor allmählich die Möglichkeiten, von dem aus, was es über den Menschen zu sagen hatte, irgend etwas über die Natur zu sagen. Versuchen Sie einaal die Theologie, wie sie sich entwickelt hat, durchzunehmen, ob darin irgend etwas sich findet, was heute eine für das Zeitbewußtsein befriedigende Erklärung auch nur der einfachsten Naturvorgänge geben könnte. Gewiß, moralische Betrachtungen können angeknüpft werden aus dieser Tradition heraus an die Naturvorgänge. Aber mit der moralischen Betrachtung, daß Gott ein Erdbeben von Messina habe kommen lassen, um die Menschen zu bestrafen, ist das heutige Zeitbewußtsein nicht zufrieden, und die Brücke herüberzuschlagen von dem, was die Götter arbeiten, bis zu dem, was in der Natur sich ereignet und aus- bricht, ist die Theologie allmählich unfähig geworden. Sie ist daher in vieler Beziehung Phrase, während unsere Naturwissenschaft in grandioser Weise Material über Material vor sich hat, das unendliche Geheiniinisse einschließt, aber nichts damit anzufangen weiß, weil ihr die Begriffe fehlen, um die Dinge miteinander zu verbinden. Unter diesem Zwiespalt entwickelte sich das ganze neuere Bewußtsein, entwickelte sich so etwas wie zum Beispiel der Agnostizismus, dem es das Kennzeichen eines erleuchteten Geistes wurde, wenn er sich sagen konnte: Der Mensch ist außerstande, über das Wesen der Dinge etwas zu wissen. Er ist einfach nicht darauf hinorganisiert, über das Wesen der Dinge etwas zu wissen.

Gegen eine solche Anschauung muß dasjenige, was in den Menschen tief als Sehnsucht vorhanden ist, änkämpfen. Es kämpft an in dem, was der Mensch 'wissen will über die Welt, es kämpft an in der äußeren sozialen Ordnung. Und einnehen wird man müssen, wie weitergekommen werden muß, weil wir in gewissen Dingen mit unseren Vorstellungen,

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mit unseren Ideen noch in weitaus alten Zeiten stehen. Was hat denn die jüdische Offenbarung aus sich hervorgetrieben? Das Kennzeiclinendste von dem, was sie hervorgetrieben hat, das ist die national- jüdische Politik. Diese nationaljüdische Politik, nachdem sie ihren Einfluß ausgeübt hat auf das Romanentum, hat ihren Weg genommen bis in die neueste Zeit herein. Und die beträchtlichsten Völker der Gegenwart, was streben sie denn an auf dem politischen Felde? - Nationale Politik zu treiben! Das aber ist althebräische Politik. Wir sind mit Bezug auf unser öffentliches Leben noch nicht bis zum Christentum vorgedrungen. Wir stehen noch im Alten Testamente. Und die Gegenwart hat die Aufgabe, im Gebiete des öffentlichen Lebens bis zum Christentum vorzudringen. Sie wird nicht vordiingen, wenn sie nicht auf der andern Seite unterstützt wird durch das wissenschaftliche Vordringen zum Christentum. Dazu ist aber notwendig, daß man den Menschen wirklich kennenlernt.

Nehmen Sie - der Art der Betrachtung nach - meine «Geheimwissenschaft»; da wird viel über kosmische Entwickelung gesprochen, über Saturn-, Sonnen-, Mond-, Erdenentwickelung und so weiter, daß denjenigen Menschen, die heute die «ganz gescheiten» sind, entweder angst und bange wird oder sie zu einem Lächeln oder zum Ärger veranlaßt werden. Wenn Sie genauer ansehen, was da in meiner «Geheimwissenschaft» steht, so werden Sie finden: Was da als Welterkenntnis gegeben ist, das ist zugleich Menschenerkenntnis. Denn eigentlich ist in der ganzen Welterkenntnis überall der Mensch drinnen. Was vom Menschen zur Saturnzeit veranlagt, dann weiter ausgebildet worden ist, wie die andern Wesen sich angegliedert haben, das ist betrachtet. Sie können da gar nicht Welterkenntnis und Menschenerkenntnis auseinanderhalten.

Das ist aber in der Gegenwart vom Wissensgebiete aus eine christliche Forderung. Ebenso ist es vom sozialen Gebiete aus eine christliche Forderung, daß wir von allen andern menschlichen Zusammenhängen absehen lernen und abzielen lernen lediglich auf den Menschen selbst. Vom Standpunkt der Phrase wird über diese Dinge schon seit langem phantasiert, vom Standpunkt der Wirklichkeit aus noch wenig. Denn vom Standpunkt der Wirklichkeit aus existieren noch immer als überwältigende Kräfte im politischen Leben der Welt die nationalen Zusammenhänge,

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in denen der Mensch zum großen Teil heute vollständig untergeht. Dasjenige, was an die Stelle dieser nationalen Zusammenhänge treten muß, ist ein Verhältnis, gebaut auf die Empfindung dessen, was der Mensch ist, von Mensch zu Mensch über die ganze zivilisierte Erde hin. Aber um eIn solches Verhältnis zu begründen, dazu gehört eine gewisse innere Kraft des Geistes, eine gewisse innere Kraft der menschlichen Seele. Und wenn wIr uns fragen: Ist denn der Mensch eigentlich in dem sogenannten gesegneten 19. Jahrhundert seelisch stärker geworden? - so findet man, wo Immer man heruinzusehen vermag, wenn man aufrichtig und ehrlich ist, überall: in bezug auf die Intensität der Begriffe und Ideale ist der Mensch nicht stärker, sondern schwächer geworden. Diejenigen, die mich kennen, werden wissen, wie so etwas gemeint ist.

Ich darf hier eine persöniiche Bemerkung einschalten. Es ist jetzt Jahrzehnte her, da war ich in Wien in einem Gespräche mit einem Mann, der seither sich als Historiker einen großen Namen gemacht hat. Wir sprachen über die deutsche Entwickelung. Der Mann war der abstrakten Anschauung, die er damals so äußerte: Nun ja, diese deutsche Entwickelung, die ist da und die geht halt in der Art weiter, wie sie da ist. - Ich sagte: Das ist eine Abstraktion, das ist nicht etwas, was aus der Wirklichkeit heraus geholt ist. Das kommt mir etwa so vor, wie wenn jemand sagt: Hier ist eine Pflanze, sie hat schon Frucht getrieben, nun werden wieder neue Blüten kommen, dann wieder Früchte, dann wieder Blüten, und das wächst so immer weiter. - Wenn bei der Pflanze die Blüten- und Fruchtbildung erreicht ist, kann man nicht sagen: Das geht so weiter, wie es da ist. - Es kann ja allerdings aus dem Samen, der von der Blüte entstand, etwas Neues, eine neue Pflanze entstehen; aber man darf sich nicht vorstellen, daß aus der Blüte die alte Pflanze In eIner neuen Gestalt wieder heraustritt und das sich so fortsetzt, wie es da war. Ich sagte: Dasjenige, was die Substanz, die Essenz des deutschen Wesens ist, hat seine Blüte und Frucht erreicht zur Goethe-, Schiller-, Herder-, Hegel-Zeit. Das ist ein Höhepunkt. Das kann nicht eiiifach fortgesetzt werden. Seither stehen wir in der Dekadenz, seither sind wir in absteigender Bewegung. - Ich äußerte damals diese Ideen. Verständnis, wie Sie sich denken können, fand ich wenig; denn man war

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schon eingetreten in die Zeit, wo solche Ideen zu intensiv waren, als daß sie die menschliche Seele hätten ergreifen können, und ich mußte denken, wie es ganz anders war noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Da gab es zum Beispiel innerhalb der deutschen Entwickelung einen Mann, der eine Literaturgeschichte geschrieben hat, Gervinus. Man kann viel gegen ihn haben; in dem ganzen Schreiben dieser Literaturgeschichte liegt ein ungeheurer Radikalismus. Sie schließt nämlich mit dem Tode Goethes ab, und sie bestreitet den nachfolgenden GescHechtern, im alten Stil immer weiter und weiter zu dichten, so, wie wenn neue Blüten herauswüchsen aus den Blättern der Pflanze. Damals war man noch radikal genug, zu sagen: Mit Goethe ist es aus; wollt ihr weiter euch entwickeln, so müßt ihr nach neuen Ansätzen suchen! - Die konnte Gervinus nicht geben; aber er schioß das Alte ab, er machte einen Strich darunter.

Gewiß, es ist ja seit jener Zeit manches Schöne auch gedichtet worden in der deutschen Sprache, aber es ist Epigonentum. Es fließt darin nicht die Essenz, die in Herder, Goethe, Schiller fließt, nicht die philosophische Essenz, die Hegel-Scheffing-Essenz, die Fichte-Essenz. Einzig und allein, daß Hamerling im Punkte seiner Reife einen neuen Ton hineingebracht hat in seinem «Homunculus», der aber eine Satire geworden ist.

Die Forderungen standen schon dazumal vor der Türe, ein Neues zu ergreifen, wirklichen Sinn zu entwickeln für einen neuen Ansatz der ganzen neuen Zivilisation. Dieser Ruf nach einem neuen Ansatz, der sollte heute durch die ganze Welt gehen. Denn nur von da aus ist einiges Heil für die zukünftige Entwickelung der Menschiieit zu erhoffen. Ausgelöscht müßte werden alles dasjenige, was nicht aiiknüpft an die Empfindung des einzelnen Menschen. Ein äußeres Zeichen dafür können Sie daraus ersehen, wie krampfhaft alte Vorstellungen heute wieder hervor- gezogen werden. Um doch etwas zu sagen in der Gegenwart, werden alte Vorstellungen hervorgezogen. Bei einem der gegenwärtig führenden Geister Mitteleuropas findet man eine so recht aus diesem dekadenten Zeitbewußtsein heraus gesprochene Anschauung, die zeigt, woran sich die Menschheit heute nicht halten kann. Dieser Mann frägt: Wie kommen wir denn wiederum zu einem sittlichen Leben? - Er sieht ein, In den letzten fünf Jahren hat sich die Abgebrauchtheit der alten Moral

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gezeigt, die Lüge hat ihren Siegeszug durch alle Völker gehalten. Die althebräische Jahve-Politik hat so sehr alle Völker ergriffen, daß man glauben möchte, damals in Palästina gab es ein Judentum, und jetzt möchten alle Völker für sich jeweilen eine solche Politik treiben, wie die Juden sie in Palästina getrieben haben. Sie möchten alle so werden, sie möchten alle mit Ausschluß der Errungenschaften des Christentums Weltpolitik treiben. Der Inhalt fehlt. Daher greift man zu Dingen, die eigentlich keinen Inhalt haben. Statt nach neuen Quellen der Sittlichkeit aus geistigen, neuen, fruchtbaren Anschauungen heraus zu suchen, frägt man: Wo liegen die Quellen einer neuen Sittlichkeit? - und gibt folgende Antwort: Die Macht ist ein unentbehrliches Mittel, um das Gute zu schaffen. Darum soll man, falls man sie nicht schon besitzt, nach derjenigen Macht streben, die für das jeweilig zu verwirklichende Gute erforderlich ist. - Man möchte ein Gutes haben in der Welt und gibt den schönen Rat: Suche dir die Macht, um das Gute zu verwIrklichen. - Als zweiter Grund der neuen Ethik figuriert: Mit der Macht, die man hat, kann man das Gute schaffen. Darum soll man auch die Macht überall zur Verwirklichung des Guten verwenden.

Aber man muß doch das Gute erst haben, man muß doch das Gute erst erkennen! So zu sprechen ist das Gegenteil von dem, was sich durch die hier gemeinte Geisteswissenschaft in der neueren Menschheitszivllisation verbreiten muß. Denn da handelt es sich nicht darum, irgend etwas auf Macht zu begründen. Auf Macht kann man nur etwas begründen, wenn man Menschengruppen zusammeufaßt. Wenn Mensch dem Menschen gegenüberstehen soll, kann man nichts auf Macht gründen, sondern nur auf dasjenige, was sich im Menschen entwickelt, so daß der Mensch einen Wert hat. Der Mensch hat sich zu erarbeiten einen Wert, durch den er Leistungen vollbringt für den Menschen, und er hat zu gleicher Zeit zu entwickeln eine Empfänglichkeit, solchen Menschenwert anzuerkennen.

Das ist die einzige mögliche Grundlage für jegliche Sittlichkeit der Zukunft: Menschenwert entwickeln und die Fähigkeit, Menschenwert anzuerkennen. Dies mit andern Worten ausgedrückt, bedeutet: Alle Sittlichkeit muß auf wirkliches Vertrauen aufgebaut werden! - Weil man nicht vordringen wollte zu solchen Anschauungen, konnte

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man jene Moralforderungen nicht begreifen, die in meiner «Philosophie der Freiheit» enthalten sind. Da wird begründet eine sogenannte individualistische Moral und es wird darauf gebaut, daß man, wenn in jedem einzelnen Menschen dasjenige entwickelt wird, was entwickelt werden kann, nicht die Gesetzgebungen braucht, sondern dann warten kann, was die Menschen tun werden in ihrem gegenseitigen Verkehr. Und ich mußte dazumal manchem Menschen sagen: Sieh einmal, wenn wir auf der Straße gehen, der eine hin, der andere her, brauchen wir da eine Gesetzgebung, daß wir einander ausweichen? Daß der eine links geht, der andere rechts geht, das tut man aus den Anforderungen des Daseins heraus, die man vernünftigerweise einsieht. - So handelt man sittlich, wenn alle die Dinge, die im Menschenwesen liegen, wirklich zur Entwickelung kommen. Olme das gibt es keine Moral der Zukunft.

Dies ist aber die einzige Moral, die wirklich auf eine neuerfaßte Christlichkeit aufgebaut sein wird. Darauf muß sie aufgebaut sein: Alles, das ihr irgendeinem als dem Menschen tut, das habt ihr mir getan. - Der Christus ist in die Menschheit gekommen, auf daß jeder einzelne Mensch den andern Menschen seinem Werte nach erkennt. Und wenn die Menschen einander so behandeln in der Welt, dann ist die Grundlage für dasjenige gegeben, was eine neue Sittlichkeit ist. Dann ist aber auch erst von unserem gegenwärtigen Gesichtspunkt aus das Mysterium von Golgatha neu begriffen. Dieses Mysterium von Golgatha ist eine Tatsache. Begriffen werden muß es von jedem Weltenzeitalter in einer neuen Form. Nicht die Lehren, die da sind, sind das Maßgebende; die müssen sich von Zeitalter zu Zeitalter ändern. Das Maßgebende ist, daß einmal das Mysterium von Golgatha geschehen ist. Für die Bekenntnisse der Gegenwart stellt es sich immer mehr und mehr heraus, daß ilmen das Mysterium von Golgatha immer gleichgültiger und gleichgültiger wird. Sie legen keinen Wert darauf, daß es aus dem Zeitbewußtsein heraus begriffen werde; sie legen nur den einen Wert darauf, daß ihre Lehren sich fortpflanzen. Aber diese Lehren werden unfähig sein, das Mysterium von Golgatha zu begreifen. Und so haben wir heute schon eine Abart der Theologie, welche von dem Christus gar nicht mehr spricht, sondern nur von dem Menschen Jesus von Nazareth, dem «schlichten Mann», der in Palästina gewandelt hat, so eine Art

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Sokrates. Und man kann dann nicht begreifen, warum eigentlich diejenigen, die von diesem Christus reden, von ihm reden als vom Mittelpunkt der Menschheitsentwickelung. So ernst liegen schon die Fragen, die dem heutigen Zeitalter auferlegt sind. Und gerade dieser Ernst wird eingesehen werden müssen. Aber es wird im Einklang gearbeitet werden müssen auf der einen Seite mit dem wissenschaftlichen Gebiete, auf der andern Seite mit dem sozialen Gebiete. Die Dinge laufen ja doch durchaus ineinander. Ich glaube, daß es heute den orthodox ausgebildeten Akademiker sonderbar aiimuten wird, wenn man ihin zum Beispiel die Zumutung stellt, die Botanik müsse «christlich» werden. Aber sie muß christiich werden, das heißt, der Geist, der durch das Gemüt die Menschheit ergriffen hat, muß auch bis in die Botanik hinein wirken. Und ein wenig reden ja sozialistisch gesinnte Menschen, aber nur wenig, nur einzelne Teile dieser sozialistisch gesinnten Masse, davon, daß christliche Gesinnung - urchristliche Gesinnung sagt man dann wohl - Platz greifen müsse im gegenseitigen Sich-Verhalten der Menschen. Einen besonderen Wert legt man trotzdem nicht darauf, die sozialen Ideen mit dem christlichen Prinzip zu durchdringen.

Es ist ja allerdings auch eine dritte Abart vorhanden; aber es handelt sich darum, daß wir lernen, auf der einen Seite in der Welt den Christus zu finden, daß wir lernen, auf der andern Seite in uns die Fähigkeiten zu entzünden, diesen Christus zu verstehen. Was zusammenwirken muß im Großen wie im Einzelnen im sozialen Leben, ist Entwickelung eines gewissen Menschenwertes und Entwickelung der Fähigkeit, diesen Menschenwert vertrauensvoll zu erkennen und sich danach im Verhältnis von Mensch zu Mensch auch wirklich zu verhalten!

Als man im 19. Jahrhundert aIn wenigsten begriff, wie da herein wollte ein neuer Geist, um das Mysterium von Golgatha neu zu begreifen, da sprach man von praktischem Christentum, weil man in bezug auf das Christentum so unpraktisch wie möglich geworden war. Jetzt, nachdem die Ereignisse der letzten Jahre in der Menschheitsentwickelung vorübergezogen sind, wäre es allerdings notwendig, daß möglichst viele Menschen sich aufraffen, einzusehen, wie in der Tat eine neue Geistoffenbarung in die Menschheitsentwickelung herein will und wie sie erfaßt werden muß von den Menschen. Solange wir unser ganzes

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geistiges Leben an die äußeren Mächte vetpfändet halten, an Staatsmächte, oder wie man sie sonst hat in der Welt, so lange wird für dieses Geistesleben keine Möglichkeit bestehen, das, was herein will an spiritueller Offenbarung in die Menschheit, wirklich aufzunehmen. Dazu ist notwendig, daß das Geistesleben wirklich, wie es in unserer Dreigliederungsidee gefordert wird, auf eigene Füße gestellt werde, daß es sich aus seinen eigenen Impulsen heraus entwickelt. Aus diesen eigenen Impulsen heraus wird die Wissenschaft mit geistigen Methoden durchtränkt werden, und an den geistigen Methoden, die man für die Wissenschaft entwickelt, wird sich die Kraft entzünden, auch das soziale Leben moralisch zu durchdringen mit dem, was Geist ist. Wir müssen im sozialen Wirken, im sozialen Leben der Menschen lernen, Geistiges zu realisieren, zu aktualisieren. Dazu aber ist es notwendig, hinauszukommen über dasjenige, was wir heute Worthülsen nennen müssen. Wir leben ja ein Geistesleben in Worthülsen, in Phrasen. Man kann heute die Erfahrung machen, daß jemand schöne Dinge sagt, die einem dem Inlialt nach gefallen können; wenn man ihm näherrückt, findet man seine Seele leer von geistigem Iiihalt. Warum? - Weil man ja heute über- all die Phrasen zusammenklauben kann. Man braucht ja heute nicht verbunden zu sein mit dem, was herumschwirrt an Worthülsen im menschlichen Leben. Es gibt keinen andern Weg, um wiederum die Verbindung mit dem Geiste zu finden, als zunächst den Führer zu suchen, damit die Menschenseele wirklich von sich aus zum Geiste hingelangen kann, den Führer, der sich aber nicht anders finden läßt als dadurch, daß man ilin sucht in der Überzeugung, der Mensch könne das, was er heute werden soll, in der Welt nur dadurch werden, daß er nicht bloß bei dem bleibt, was in ihm vorhanden ist an Vererbtem, an Blutskräften, sondern dadurch, daß er etwas in sich entwickelt, das hinausgeht über das bloß Vererbte, über das bloß aus der äußeren Welt Aufzunehmende. Wir werden heute in eine Welt hereingeboren mit bestimmten Anlagen; diese Anlagen werden uns in der Schule entwickelt, aber so, daß als Antrieb bei dieser Entwickelung nur die Traditionen figurieren, die überkommen sind. Wir müssen dahin kommen, zu wissen, daß in jedem Menschen ein verborgener Keim steckt, der nicht da ist durch die bloße Vererbung, auch nicht da ist durch das, was heute an Antrieben in der

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Erziehung drinnensteckt. Wir müssen den Glauben haben, in jedem Menschen liege heute etwas daiinnen, das nur durch Geisteskräfte und durch die Überzeugung von dem Dasein der Geisteskräfte aus ihm heraus erweckt werden könne. Aus dem, wonach heute erzogen und gelebt wird, kann bloß das Jahve-Bewußtsein erlebt werden. Das Christus- Bewußtsein kann nur erweckt werden, wenn man nicht nur den Glauben hat an die Entwickelung des Menschen, sondern an die Umwandlung des Menschen, wenn man den Glauben daran hat, daß aus dem Menschen etwas wird, was nicht in ihm veranlagt ist dadurch, daß er einen Leib geerbt hat von seinen Vorfahren, sondern was in ihm sitzt dadurch, daß er frühere Erdenleben durchgemacht hat in früheren menschlichen Welteiiläufen. Damals prädominierte allerdings das Vererbungsprinzip und überglänzte in der menschlichen Wesenheit das, was aus den wiederholten vorigen Erdenleben herüberkam. Jetzt sind die vererbten Eigenschaften schwach geworden, und diejenigen Eigenschaften im Menschen werden immer stärker, welche aus den früheren Inkarnationen nicht mit dem Blute, sondern mit der Seele herüberkommen.

Das kann ins Bewußtsein übernommen werden. Und wenn es im Bewußtsein lebt des einen Menschen, so begegnet dieser dem andern Menschen mit ganz andern Empfindungen, als sie die Menschen gemeiniglich heute haben.

Damit habe ich Ihnen, wenn auch, weil es sich um ein wirklich weitgehendes Thema handelt, in einer vielleicht stammelnden Weise etwas von dem dargelegt, was mit Urnotwendigkeit hereinziehen muß in unsere menschheitliche Entwickelung. Wenn diese Forderung im Leben auftritt, so stößt sie heute noch an an die allerschwersten Vorurteile, die im Leben vorhanden sind. Sie wird bekämpft. Und ich habe Ihnen von manchem Bekämpfen dessen, was gerade mit der hier gemeinten anthroposophisch orientierten Weltanschauung angestrebt wird, in der letzten Zeit erzählen müssen. Ich möchte heute nur noch zweierlei anführen in dieser Richtung. Ich habe Ihnen neulich einmal den Brief unseres Freundes Dr. Stein vorgelesen, der in herzerfrischender Weise zeigte, wie da einem Kirchenmann entgegengetreten werden mußte, dessen Helfer, als ihm aus Bibelstellen etwas anthroposophisch Klingendes nachgewiesen werden sollte, sich sogar aufschwang zu dem Bekenntnis:

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Dann irrt eben Christus -, nach seiner Ansicht! Also nicht er, der Kirchenniann irrt, sondern Christus! - Als ich nach Stuttgart gekommen bin, wurde mir mitgeteilt, daß aus unseren Kreisen heraus allerlei Urteile registriert worden sind darüber, wie es doch scharf sei, einem alten Herrn, der ja sogar Schriften von mir gelesen hat, in einer solchen Weise entgegenzutreten. Man müsse doch Rücksicht nehmen auf erstens - zweitens -drittens... Das ist leider auch in unseren Reihen noch vielfach verbreitet, daß einem gerade dann, wenn es sich darum handelt, an irgendeinem Punkte Ernst zu entwickeln, von denjenigen Menschen, die unsere Bewegung am liebsten auf dem sektiererischen Gesichtspunkte erhalten möchten, in den Rücken gefallen wird. Das ist das eine, was ich erwähnen muß.

Das andere ist, daß ich Sie schon bekanntmachen muß mit dem Anwurf, der jetzt durch die deutsche Presse gegangen ist, dessen trübe Quellen - das erwähne ich ausdrücklich hier - mir sehr gut bekannt sind, und bei dem es ziemiich gleichgültig ist, was darinnensteht; denn bei den Leuten, die so etwas verbreiten, handelt es sich nicht darum, den Glauben an diese Dinge, die sie verbreiten, zu erwecken, sondern überhaupt nur irgend etwas zu fabrizieren, was eine unbequeme Persönlichkeit oder Zeitströmung herabsetzen kann. So will ich trotz des ja nicht sehr erleuchteten Saales diese «unerleuchteten» Auslassungen, die jetzt durch einen Teil der Presse gehen, vorlesen:

«Der Theosoph Steiner als HandUnger der Entente. - Dem wird aus Berlin berichtet: Theosoph Dr. Rudolf Steiner, der eine Aniiängerschaft von mehreren Millionen Männern und Frauen beeinflußt» - ich bemerke ausdrücklich: dieser Satz, der wird für den, der irgendwie hineinschaut in das Gemache der Gegen- wart, außerordentlich beweisend sein, und man wird in der Zeit, die da kommt, in der sich solche Angrfffe wesentlich verstärken werden, sehen, warum solche Angriffe gesagt werden, neben andern erlogenen Dingen rn «hat im Frühjahr 1919 in Stuttgart den Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus begründet, der ursprünglich nur eine religiöskommunistische Gemeinschaft sein sollte, dann aber in politische Berührung mit den Bolschewisten und Kommunisten geraten ist und jetzt eine seltsame und widerwärtige politische Agitation ausübt. Die

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erfährt aus Dresden das Folgende: Aus zuverlässigen Nachrichten geht einwandfrei hervor», - ich bitte, den Ton zu berücksichtigen - «daß der Bund für Dreigliederung die Namen aller angeblich im reaktionären Sinne tätigen Offiziere feststellt und gegen diese Material über völkerrechtswidrige Handlungen an der Hand von Zeugenaussagen sammelt, das dann der Entente zwecks Auslieferung zugestellt werden soll. Die Richtigkeit derartiger Beschuldigungen ist Herrn Steiner und Genossen vollkommen gleichgültig, und daß sie sogar vor bewußt falschen Angaben nicht zurückschrecken, beweist die Stelle eines Briefes, in dem es heißt: Beschuldigungen von Diebstählen sind zu unterlassen, da die Unwahrheit hier leichter nachzuweisen ist. Ebenso darf man keine allzu unglaublichen Beschuldigungen wie Verstümmelungen von Kindern, erheben.»

Nun, daß jeder Satz, jedes Wort - verzeihen Sie, wenn ich in diesem Zusammenhange den Ausdruch gebrauche - eine «erstunkene» Lüge ist, das ist ja ganz selbstverständlich. Aber diese Dinge werden in der Gegenwart fabriziert. Sie beweisen, daß man dasjenige, was von der Geistesströmung kommt, die hier vertreten wird, genug ernst nimmt, um diese bösartigen Mittel überhaupt für notwendig zu halten. Sie können überzeugt sein: kleine sektiererische Bewegungen, das heißt solche, die in der Anzahl kleine Bewegungen sein sollen, die bombardiert man nicht mit derlei Dingen. Wünschen möchte man nur - ich habe das auch in dem vorgestern abgesendeten Artikel für unsere zweitnächste «Dreigliederungs»-Nummer ausgesprochen -, daß die Zahl der naiven Leute immer geringer und geringer würde, die noch immer glauben, daß es, wenn man solche Dinge widerlegt, den Leuten etwas hülfe, die heute aus den trüben Quellen heraus, um die es sich hier handelt, arbeiten. Die interessieren Widerlegungen außerordentlich wenig; denn ihnen geht es nicht darum, die Wahrheit irgendwie auch nur zu berühren, sondern sie kämpfen gegen alles dasjenige, was als ein neuer Geist in die Menschheit einziehen soll, mit jedem Mittel. Sie folgen den Kräften, von denen sie besessen sind.

Ich mußte Ihnen auch dieses Beispiel vorführen aus dem Grunde, damit nach und nach doch ein Gefühi von dem Ernste hervorgerufen werde, der eigentlich walten sollte bei all denjenigen, die sich irgendwie

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ernsthaftig zugeneigt finden zu dem, was hier als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft angegeben wird. Man möchte ja wirklich Worte finden, wie sie unsere heutige abgebrauchte Sprache kaum hat, um diesen Ernst in den Seelen zu erwecken. Denn notwendig ist er! Aber die Seelen sind oftmals wie gelähmt. In sie dringt nicht mehr dasjenige ein, was notwendig in sie dringen muß, wenn die Zeit nicht in die vollständige Dekadenz hineinführen soll. Man kann nicht in der alten Weise fortwirtschaften. Man sollte auch nicht mehr «Ideale» nennen, was man aus den alten Strömungen heraus nimmt. Man sollte sich schon immer mehr und mehr bewußt werden, daß ein völliger Neubau in der Menschheitsentwickelung notwendig ist.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 16. Januar 1920

Ich werde heute noch einmal das Gesetz der menschlichen Entwickelung in der nachatlantischen Zeit besprechen, aus dem Grunde, weil ich verschiedene Ausführungen an dieses Gesetz werde in den nächsten Tagen anzuknüpfen haben. Es wird ja das in unserer Zeit so notwendige Verständnis für die bedeutsamen Anforderungen der Gegenwart und der nächsten Zukunft im Bewußtsein der Menschen nicht Platz greifen können, wenn nicht ein eindringliches Verständnis vorliegt für die Art und Weise, wie die Menschen zu dem gegenwärtigen Standpunkte der Zivilisationsentwickelung gekommen sind. Eine nur vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus zu fassende Seelenentwickelung hat die Menschheit seit jener Zeit durchgemacht, die wir bezeichnen als die Zeit der großen atlantischen Katastrophe. Wir kommen da, wenn wir dieses Zeitalter der großen atlantischen Katastrophe ins Auge fassen, nicht so weit zurück, als vielfach die gegenwärtige wissenschaftliche Ausdeutung der Menschheitsentwickelung mit der Menschheit zurückgehen möchte, sondern wir kommen zurück etwa in die Zeiten, welche geologisch bezeichnet werden als das Eiszeitalter, in dem ja auch von der äußeren Wissenschaft große Umwälzungen angenommen werden für die Gegenden, die wir heute die Gegenden des zivilisierten Europa nennen. Wir kommen zurück etwa bis in das 8. oder 9. Jalutausend vor dem Mystenum von Golgatlia und bezeichneten ja immer als das erste große Kulturzeitalter, das aufgegangen ist in der nachatlantischen Zivilisation nach dieser atlantischen Katastrophe, das uiindische Kulturzeitalter. Wir haben nötig> unseren Blick namentlich darauf zu lenken, daß die Seelenbeschaffenheit der Menschen in jenen alten Zeiten eine wesentlich andere war als später, namentlich als in unserer Zeit. Es ist vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus bedeutsam, gerade auf die Seelenentwickelung der Menschen zu sehen. Die äußere leibliche Entwickelung und auch die Entwickelung der materiellen Kulturzusammenhänge kann ja erst verstanden werden, wenn man die Seelenentwickelung wirklich durchdringt.

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Wenn wir nun die zwei Jahrtausende in Betracht ziehen, die, im 8., 9. Jahrtausend beginrnend, dann weitergehend das urindische Zeitalter ausmachen, so treffen wir da auf eine Menschheit, die unter ganz, ganz andern Bedingungen sich entwickelte, als was überhaupt heute als Menschheitsentwickelung bekannt ist. Namentlich muß ins Auge gefaßt werden, wie ich schon öfters gesagt habe, daß ja der heutige Mensch eine Entwickelung so durchmacht, daß seine physisch-leibliche EntwickelUng parallel geht der seelisch-geistigen Entwickelung, daß aber heute der Mensch eigentlich diese Entwickelung nur in den ersten Lebensjahrzehnten durchmacht. Im ersten Lebensjahrzehnt ist ja jener wichtige leibliche Übergang, den wir bezeichnen als den des Zahnwechsels um das siebente Jahr herum und den wir parallelisieren können mit wichtigen geistig-seelischen Vorgängen. Dann wiederum ist vorhanden für den gegenwärtigen Menschen ein tief Eingreifendes in seiner leiblichen Entwickelung> das wiederum übergreift auf die geistig-seelische Entwickelung, mit der Geschlechtsreife im vierzehnten, fünfzehnten Jahr. Dann ist, wie auch für den heutigen Menschen noch deutlich ersichtlich ist, bis in die Zwanzigerjahre hinein ein gewisser Zusammenhang da des Geistig-Seelischen mit der leiblichen Entwickelung. Er ist weniger schroff, weniger deutlich als in den Zeiten um das siebente, um das vIerzehnte Jahr herum, aber für einen genaueren Beobachter doch deutlich wahrhehmbar.

In solcher Parallelität zwischen dem leiblichen Entwickeln und dem geistigen Entwickeln war die Menschheit der urindischen Zeit bis hin- auf in die Zeiten der Fünfzigerjahre des Menschen, bis in das sechste Lebensjahrzehnt hinein. Man war so von dem, was im Leibe vorgeht, geistig-seelisch zugleich in dieser Weise abhängig. Man hat bIs ins höchste Alter die Umsch`rrünge so erlebt, wie man eben heute erlebt die Umschwünge beim Zahnwechsel, bei der Geschlechtsreife und so weiter. Also der Mensch lebte mit sein Leibesleben bis in die Zeit hinein, wo er sein sechstes Lebensjahrzehnt hatte, die Fünfzigerjahre. Und ich habe darauf aufmerksam gemacht, was das eigentlich bedeutet für das Leben des Menschen. Man wurde ein Mensch, sagen wir, von dreißig Jahren; man sagte sich als ein Mensch von dreißig Jahren: Ich werde auch einmal vierzig, fünfzig Jahre alt sein; dann werde ich rein durch meine

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leibliche Entwickelung in ganz anderer Weise reif sein vor der Welt als jetzt. - Man lebte so dem Altern entgegen auch noch in höheren Lebensjahrzehnten, wie man heute eigentlich nur als Kind dem Altern entgegeiilebt. Man machte Wachstum, Reifeiwerden mit bis in die höchsten Jahrzehnte des Lebens. Und man hatte das Bewußtsein: Je älter man wird, desto mehr Dinge der Welt werden einem klar, desto mehr tritt herein in das Seelenieben, man möchte sagen, aus unbekannten Tiefen des Weltendaseins. Man hatte solche Epochen in der Entwickelung eben noch im höchsten Alter, wie man jetzt den Zahnwechsel und die Geschlechtsreife hat.

Das änderte sich ja insofern, als dieser Parallelismus zwischen leiblicher und geistiger Entwickelung immer mehr und mehr herunterrückte. Beim nächsten Kulturzeitraum, beim urpersischen, wie ich ihn genannt habe in meiner «Geheimwissenschaft im Urnriß», war das nur bis zu dem Beginn der Fünfzigeijahre oder gar bis zum Ende der Vierzigerjai1re der Fall. Und im ägyptisch~chaldäischen Zeitraum, da war das nur der Fall bis zum Beginn der Vierzigeijahre; und in der Zeit, in der die heute noch für uns bedeutsame griechisch-lateinische Kultur sich ausbreitete, waren die Menschen entwickelungsfähig bis in die beginnenden Dreißigeijahre hinein. Der Mensch fühlte sich jung in Griechenland bis in die beginnenden Dreißigerjahre. Und er sagte sich, daß etwas heranwüchse mit ihm, wenn er die Dreißigerjahre erreicht haben werde. Heute sind wir bereits mit dem Beginn der Dreißigerjahre vertrocknete Mumien, wenn wir bloß auf unsere leiblich-physische Entwickelung sehen. Heute hören wir in einem viel früheren Zeitraum auf, einen Zusammeiihang zu haben mit der leiblich-physischen Entwickelung.

Das alles aber hängt zusammen mit andern Dingen der Menschheitsentwickelung. Der erste Zeitraum nach der großen atlantischen Katastrophe, der urindische Zeitraum, hatte Menschen, welche im hohen Grade das ganze Leben des Universums mitmachten, welche namentlich mitmachten in ihren Hauptes-, in ihren Kopferlebnissen das Leben des Universums. Wir wissen ja vom Universum nur dasjenige, was erkundet wird auf den Sternwarten durch die Teleskope, was errechnet wird durch die Astronomen. Der Mensch des urindischen Zeitalters fühlte in seinem Kopfe den Gang der Sterne. Er erlebte mit nicht nur die irdische

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Natur in Frühling, Sommer, Herbst und Winter, sondern er erlebte mit die kosmischen Ereignisse, er erlebte mit das Zeitalter, sagen wir, einer bestirnnten Siriuskonstellation, und so weiter. Dasjenige, was später kunstvoll astrologisch errechnet worden ist, das wurde miterlebt im Merischen, so wie heute erlebt wird die Gesättigtheit nach einer genossenen Mahlzeit oder der Hunger bei einer erwarteten Mahlzeit. Es wurde Sonnengang und Sterriengang im eigenen Haupte also miterlebt.

Das hatte zur Folge, daß der Mensch damals sich durchaus nicht eigentlich als Erdenbürger bloß fühlte, sondern daß er sich fühlte als Angehöriger einer überirdischen Welt, der bloß auf die Erde versetzt ist. Er fühlte sich als ein Wanderer während eines kurzen Wanderzuges über die Erde dahinpilgern. Er fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit dem, was außerirdisch ist.

Das wurde schon im zweiten nachatlantischen Zeitraume anders. Da wurde es so, daß weniger das Leben des Universums gefühlt wurde, mehr aber alles dasjenige, was sich, ich möchte sagen, auf das Beleuchtungswesen, auf das Lichtwesen des Universums bezieht. Anders erlebte der Mensch des utpersischen Zeitraumes den Tag, anders die Nacht. Er fühlte sich wirklich noch anwesend im Universum in der Zeit zwischen dem Einschlafen und Aufwachen. Diese Zeit hatte für ihn einen realen Inhalt, während sie heute ja nur etwas wie ein Loch bedeutet im bewußten Menschenleben. Eine Art Miterleben des Universums war Immerhin noch vorhanden. So daß wir sagen können: In demselben Maße, in dem die physisch-leibliche Entwickelungsfähigkeit des Menschen heruntergerückt wird aus den höheren Lebensjahrzehnten in die niedrigeren, in deinselben Maße hört das Zusammenleben des Menschen mit dem Universum auf.

Wir können also sagen (siehe die Übersicht): Im ersten nachatlantischen, uriiidischen Zeitraume haben wir ein Miterleben mit dem Physisch-Leiblichen bis in die Jahre vom achtundvierzigsten oder neunundvierzigsten bis sechsundfünfzigsten Lebensjahre und auch darüber hinaus. In dem zweiten, in dem urpersischen Zeitraume haben wir dann vom zweiundvierzigsten bis zum neunundvierzigsten Lebensjahre noch Entwickelungsmomente in der leiblich-physischen Entwickelung des Menschen, welche sich vergleichen lassen mit unserem Zahnwechsel

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oder mit der Geschlechtsreife und dergleichen. Im dritten Zeitraume, den wir gewöhnt sind, den ä~ptisch~chaldäischen zu nennen, haben wir vom fünfunddreißigsten Jahre bis zum zweiundvierzigsten Jahre solche leiblichen Entwickelungsmomente. Und in dem, was wir gewöhnt sind, als den griechischen Zeitraum zu betrachten, in dem vierten nach- atlantischen, griechisch~lateinischen, da geht diese Entwickelung vom achtundzwanzigsten bis zum fünfunddreißigsten Jahre hinauf.

I Urindisch 49 bis 56 von 8167 bis 5567 vor Christus Tafel 3

11 Urpersisch 42 bis 49 von 5567 bis 2907 vor Christus

III Ägyptisch-chaldäisch 35 bis 42 von 2907 bis 747 vor Christus

IV Griechisch-lateinisch 28 bis 35 von 747 v.Chr. bis 1413 n.Chr.

V Jetzt 21bis28 von l4l3bis...

Wenn Sie dies beachten, so werden Sie sich sagen: Die Entwickelungsfähigkeit des Menschen rückt immer weiter und weiter herab. Und mit diesem Herabrücken der Entwickelungsfähigkeit des Menschen verschließen sich ilim gewissermaßen die Tore zum Miterleben der universellen Ereignisse. - Wenn Sie es sich merken wollen - nicht notieren, aber merken -, so können wir sagen: Der erste Zeitraum reicht von 8167 bis 5567 vor Christus; der zweite von 5567 bis 2907, so ungefähr; der dritte von 2907 bis 747 vor Christus; der vierte, der griechische Zeitraum von 747 vor dem Mysterium von Golgatha bis 1413 nach dem Mysterium von Golgatha; und dann beginnt unser fünfter Zeitraum, die Zeit also, in der wir annähernd entwickelungsfähig bleiben nur noch vom einundzwanzigsten bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahre. Das beginnt 1413, und darinnen leben wir. Und wenn wir genau sprechen wollen, so müssen wir sagen: Der gegenwärtige Mensch bleibt entwickelungsfähig bis in das 5iebenundzwanzigste Jahr hinein. Er fängt dann an, gewissermaßen sich in seinem Seelisch- Geistigen ganz zu emanzipieren von dem Physisch~Leiblichen. Emanzipieren von dem Physisch~Leiblichen ist also etwas, was immer mehr und mehr hereiniiückt. Sie sehen daraus, daß einnial der Zeitpunkt kommen wird, wo die Menschen nur entwickelungsfähig sein werden bis zu ihrem vierzehnten Jahre, wo das Geschlechtsreifezeitalter aufhören wird, eine Bedeutung zu haben in der menschlichen Entwickelung.

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Das ist ein Zeitraum, der ganz gewiß eintreten wird. Die Geologen mögen noch so lange Zeiträume berechnen für die Entwickelung des Menschtums auf der Erde, für die Entwickelung der physischen Menschheit der Erde; diese physische Menschheit auf der Erde wird sich nicht länger entwickeln als bis zu dem Moment, wo diese obere Altersgrenze bis in das vierzehnte, dreizehnte Lebensjahr heruntergerückt ist. Denn von diesem Zeitpunkte an wird sich die physische Menschheit auf der Erde nicht mehr entwickeln können. Die Frauen werden keine Kinder mehr gebären. Dann wird es mit der physischen Menschheit auf der Erde zu Ende gegangen sein. Ich habe einmal gesagt: Die Berechnungen, welche die landläufigen Geologen machen, beruhen alle auf einem gewissen Fehler. - Man kann heute nach der Art und Weise, wie Flußschlamm angeschwemmt wird oder wieviel Schlamm der Niagara absetzt und dergleichen, geologische Zeiträume berechnen und danach dann «feststellen», was da für eine Fauna, Flora vor soundso vielen Jahren auf der Erde geherrscht hat. Diese Berechnungen sind alle etwa so angestellt, wie wenn man heute berechnen würde, welche Veränderungen, sagen wir, im Magen vorgingen seit zehn Jahren, und dann ausrechnet, wie der Magen ausgeschaut hat vor hundertfünfzig Jahren. Ja man kann sogar ebenso, wie heute die Geologen, berechnen, wie die Erde nach Millionen von Jahren aussehen wird, ausrechnen, wie der Magen ausgesehen hat vor dreihundert Jahren. Nur wird die Erde nach Millionen von Jahren nicht mehr da sein, ebensowenig wie der physische Mensch da war vor dreihundert Jahren, als sein Magen in einer bestimmten Weise ausgesehen haben soll. Nach diesen physischen Gesetzen, welche zugrunde gelegt werden diesen w1ssenschaftlichen Werken, kann man selbstverständlich ganz richtig rechnen, aber was man ausrechnet, ist eberisowenig «richtig», wie man ausrechnen kann, wie ein menschlicher Magen vor dreihundert Jahren ausgesehen hat. Diese Dinge, die ich da anführe, die werden heute von der exakten Wissenschaft zurückgewiesen. Aber dasjenige, was wirklich ist, was das Tatsächliche ist, das kann ja von dieser exakten Wissenschaft eben durchaus nicht gefunden werden. Denn Sie können lange rechnen, wie die Erde aussehen wird nach hunderttausend Jahren, wie da die Menschen sein werden und dergleichen: Die Menschen werden nicht mehr existieren auf der Erde!

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Das sind Dinge, welche heute schon zwingen sollten, die Brücke zu bauen nach geisteswissenschaftlichen Betrachtungen hin. Denn dadurch allein können Einsichten kommen in die wirkliche Entwickelung der Menschen und Einsichten in gewisse N0twendigkeiten, die aufzunehmen sind in dieses menschliche Bewußtsein. Nun ist es Ihnen vielleicht nicht schwierig, einzusehen, daß der Mensch in älteren Zeiten gewissermaßen einfach dadurch, daß er ein leiblich~physischer Mensch war, gewisse Offenbarungen erlebte, Offenbarungen, die man eben nur erleben kann, wenn man physisch entwickelungsfähig bleibt bis über ein gewisses Zeitalter hinaus. Beim alten Perser, beim alten Inder gar, da war das Gehirn weich und biegsam und plastisch bis in die Fünfzigeijahre hinein, so plastisch, wie es heute nur in der ersten Jugend der Fall ist. Einfach durch dieses plastische Gehirn bekam man Offenbarungen, die man nicht bekommen kann, wenn man noch Kind ist, die man nur bekommen kann, wenn der Leib plastisch bleibt bis in das höchste Alter hinein. Unser muinifiziertes Gehirn, das schon mit dreißig Jahren ganz vertrocknet ist, das kann diese Offenbarungen auf jenem alten natürlichen Wege nicht erringen. Das ergibt eben die Notwendigkeit, auf einem andern, auf einem bloß geistigen Wege für das emanzipierte Geistig~Seelische einen Inhalt zu bekommen.

Das ergibt Ihnen für unser Zeitalter zu gleicher Zeit die eininente Notwendigkeit, zum spirituellen Leben sich hinzuwenden. Denn mit fünfunddreißig Jahren hat man die Hälfte, die aufsteigende Hälfte des Lebens erreicht, von da geht es abwärts. Alles, was man erst in der absteigenden Hälfte erreichen kann, das erreicht ja der heutige Mensch von selbst gar nicht. Wenn er nichts dazu tut, um es auf andere Weise als durch seine leibliche Entwickelung zu erreichen, so kommt das gar nicht an ihn heran. Man sollte von solchen Einsichten aus begreifen, wie notwendig es für den heutigen Menschen ist, sich zur Geisteswissenschaft hinzuwenden.

Was die Menschen bis jetzt auch an äußeren sozialen Gebilden her- vorgebracht haben, ist durchaus noch unter dem Einfluß der alten plastischen Leiblichkeit entstanden. Aber jetzt ist das Zeitalter hereingebrochen, in dem diese alten Gebilde morsch werden und in dem Neues nur geschaffen werden kann, wenn man es aus dem Geiste heraus

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schafft. Dies ist heute schon offen daliegend, wenn man auch nur die äußeren Ereignisse verfolgt. Aber man versteht die äußeren Ereignisse nur, wenn man sie im Zusammenhange mit dem Geiste verfolgt. Ich will Sie auf ein von dem eben besprochenen Thema scheinbar recht ferne liegendes Gebiet hinweisen. Ich habe ja öfter erwähnt: Die abgetakelten Feldherren, Staatsmänner schreiben jetzt ihre Memoiren. Unter den Leuten, die da ihre Memoiren geschrieben haben, ist verhältnismäßig einer der Besten, der Interessantesten der Frivolling und Zyniker, der eine gewisse Zeit hindurch die österreichischen Geschikke geleitet hat, Czerriih. Auch der hat ja seine Memoiren geschrieben. Ich überschätze ihn nicht, wenn ich sage, daß er einer der Besten ist, die Memoiren geschrieben haben; denn ich muß ihn zu gleicher Zeit einen Frivolling und Zyniker nennen, einen Oberflächling. Aber es sind seine Memoiren noch zu den interessantesten zu rechnen.

Dariri ist eine interessante Stelle, da setzt sich Czernin damit auseinander, was hätte verhindern können oder herbeigeführt hat diese Wekkriegskatastroöphe. Er setzt sich damit auseinander als Österreicher und sagt: Dieses Österreich, durch den Weltkrieg ist es zugrunde gegangen. Aber es wäre auch ohne den Weltkrieg zugrunde gegangen, denn es war reif, zugrunde zu gehen. Es konnte nicht mehr bestehen. Es war innerlich morsch. - Er drückt sich sogar etwas dramatisch aus, indem er sagt Zugrunde gehen mußten wir ja doch, wir konnten uns bloß unsere Todesart wählen. Anderes konnten wir nicht wählen als die Todesart. Wir wählten uns die schlechteste. Nun ja, etwas Besseres ist nicht verstanden worden. Vielleicht wäre eine andere langsamer gewesen, weniger schmerzlich. - So drückt er sich aus.

Das ist im Grunde genommen ein ganz richtiges Apercu, denn dieses Österreich war ein Staatsgebilde, zusammengefügt nach den Vorstellungsintentionen, die noch aus einer alten Zeit stammten. Wenn sie auch nicht, ich möchte sagen, mehr wuchsen in den Gehirnen, so waren sie doch noch luziferisch da. Heute sehen die Leute, wie diese alten Gebilde anfangen morsch zu werden und abzusterben. Richtig würden die Leute nur sehen, wenn sie die inneren Gründe, die Zeitengründe für das Absterben dieser Gebilde sehen würden. Allein es sieht ja jeder erst etwas, wenn das betreffende Gebilde katastrophal zugrunde gegangen

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ist. Um was es sich heute für einen Menschen, der wirklich auf der Höhe seiner Zeit steht, handeln würde, das würde sein, nicht nur mit allerlei sozialen Ideen zu kommen und die alten Staatsgebilde zu nehmen, als ob man diese alten Staatsgebilde, diese alten Staatsrahmen überhaupt nehmen könnte. Das kann man nicht. Man muß sich bekanntmachen damit, daß der alte Staatsbegriff aufgehört hat, einen Sinn zu haben, daß etwas anderes an seine Stelle treten inuß: der dreigeteilte soziale Organismus. Dieser dreigeteilte soziale Organismus wird sich schon selbst seine Staatsgrenzen schaffen; die alten haben ihre innere Zusainmerihangsmöglichkeit verloren.

Aber die Leute sind heute eben Schläfer. Sie machen das mit, was sich katastrophal abspielt. Aber hinzusehen auf die inneren Bewegkräfte des Daseins, dazu wollen sich die Menschen nicht entschließen. Sie werden sich nur entschließen, wenn sie aus geisteswissenschaftlichen Unterlagen heraus die Dinge wirklich begreifen lernen. Dann wird durch wirklich geistiges Erfassen des Daseins auch die Brücke gebaut zwischen dem Erfassen des rein Natürlichen und des Sozialen. Denn zuletzt haben doch beide Gebiete Gesetze, die miteinander etwas zu tun haben. Nur wenn man von diesem Gesichtspunkte aus die Zeit betrachtet, dann wird man zu der nötigen Einsicht in das kommen, was heute wirklich vorgeht. Man wird sich entschließen müssen, zu sagen: Der Mensch darf sich heute nicht zufriedengeben, wenn er etwas tun will für die aufsteigende Men5chlieitsentwickelung, mit dem, was ihm von außen aiifliegt, denn es fliegt ihm nur bis zu seinem 5iebenundzwanzigsten Jahre etwas an. Nachher mumifiziert er; nachher muß das Geistig-Seelische aus der geistigen Welt heraus seine Kräfte holen.

Ein Mensch, der heute nur sich aus dem heraus entwickelt, was die Außenwelt an ihn heranbringt, ist überhaupt nur bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahr entwickelungsfähig. Sie können folgenden Gedanken als einen eminent richtigen fassen: Wenn heute die meisten Menschen, die in sogenannte höhere Stellungen aufrücken, noch allerlei Gyrnnasial- oder ähriliche Bildungen durchmachen, so wird diese siebenundzwanzigjahrige Grenze etwas verschoben, weil aus alten überlieferungen in den Menschen etwas hereinkommt, was sie daraus aufnehmen. Wenn aber aus unserem gegenwärtigen Leben einer herauswächst, so

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recht als Selfmademan, und dann siebenundzwanzig Jahre alt wird, ohne daß er dieses Selfmademan-Wesen durchtränkt hat mit Gyinnasialbildung im gewöhnlichen Sinne und dergleichen, so kann er mit siebenundzwanzig Jahren so weit sein, daß er gerade in all dem drinnensteckt, was heute nur für die Gegenwart der Erde gilt, was keine Entwickelungsmöglichkeit nach der Zukunft gibt, was seinen Abschluß finden muß in der Gegenwart. Denn wenn jemand etwas in seiner Seele haben soll, was eine Entwickelungskraft nach der Zukunft gibt, dann muß er das aus dem Geiste heraus haben. Wenn also heute jemand siebenundzwarizig Jahre alt wird, gewissermaßen nur durch die Menschheit erzogen wird, durch das, was von selber an einen heranfliegt durch die leiblich-physische Entwickelung, so kann er sich mit siebenundzwanzig Jahren ins Parlament wählen lassen. Er wird gerade die Gegenwart verstehen, die Gegenwart wird ihn verstehen; aber für das, was er versteht, für das, was man von ihm versteht, könnte eigentlich die Entwickelung sich so abspielen, daß sie morgen durch eine riesige Erdenkatastrophe zugrunde geht; denn weitere Fermente für eine Weiterentwickelung wird er nicht in seiner Seele enthalten. Gerade solch ein Mann, der Seffmademan wäre, der angeflogen bekommen hätte, was man von außen heute bekommt, der dann mit siebenundzwanzig Jahren abgeschlossen hätte und meinetwillen Parlamentarier geworden wäre, dann bald Miriister und so weiter, wäre der charakteristischste Ausdruck für die Gegenwart.

Der charakteristische Mensch dafür ist Lloyd George. Er ist geradezu der absoluteste Ausdruck der Gegenwart. Wenn Sie seine Biographie ins Auge fassen, so werden Sie finden: Er ist der Mensch, der alles das in sich enthält, was heute ein Mensch durch seine leiblich-geistige Entwickelung aus sich machen kann bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre. Aber da er alles abweist, was nicht von selbst aiifliegt, was aus der geistigen Welt heraus gewonnen wird, so kann er nie älter werden als siebenundzwanzig Jahre. Er ist ja gewiß heute schon an gezählten Jahren viel älter, in Wirklichkeit aber siebenundzwanzig Jahre alt. Und so sind heute viele unter uns, die bleiben bei diesen siebenundzwanzig Jahren stehen, weil sie nichts aus der geistigen Welt heraus aufnehmen. Daß man graue Haare bekommt, daß man andere Alterserscheinungen

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zeigt, das macht es dabei nicht aus. Man kann heute eben siebenundzwanzig Jahre sein, auch wenn man ein siebzigjähriger Greis ist den gezählten Jahren nach, und kann französischer Ministerpräsident sein und Cle`menceau heißen. Das ist das Geheininis der Menschheitsentwickelung, daß das Altwerden nicht mit der Erinnerung der Jahre zusammenhängt, sondern daß heute derjenige, der wirklich alt werden will, dieses dadurch werden muß, daß er Geistiges in seine Seelenentwickelung hereinbekommt. Es ist deshalb kein Zufall, daß gerade in den entscheidenden Ereignissen Lloyd George den Weltenton an- gegeben hat. Denn den Weltenton für das heutige Zeitalter, das ganz urmaterialistisch ist, mußte ein Mensch angeben, der in der charaktenstischsten, in der typischsten Weise siebenundzwanzig Jahre alt geworden ist und nicht über diese siebenundzwanzig Jahre hinausgelangt ist. Er ist ja auch gerade just mit diesem Alter Parlamentarier geworden und hat alle diese Dinge mit einer großen Genialität entwickelt. Man lernt heute die Welt nicht kennen, wenn man sie bloß so ansieht, wie es die Vorstellungen ergeben, die heute an der Oberfläche der sogenannten Zivilisation schwimmen. Man lernt die Welt nur kennen, wenn man sie in der eben angedeuteten Weise von innen heraus wirklich ansieht.

Uns Menschen wird für unsere Entwickelung zweierlei gegeben, ich möchte sagen, das Hülleiimäßige und der Inhalt. Den alten Leuten des ersten, zweiten, dritten Zeitraumes wurde mit den Hüllen, mit der leiblichen Entwickelung auch noch das Geistige mitgegeben. In den leiblichen Hüllen lebten noch die Mitglieder der höheren Hierarchien. Wir entwickeln unsere Leiber nur so, daß wir haben: in unseren Menschen- formen die Kräfte der Geister der Form, in unserem Ätherleib den Zeitgeist, in unserem Astralleib Erzengelwesen, in unserem Ich Engelwesen. Aber weiter kommt es nicht, denn wir müssen willkürlich und bewußt zu dem aufsteigen, was dem Menschen alter Zeiten einfach mit seiner Leibesentwickelung angeflogen ist. Und man lernt die moralische Entwickelung der Menschheit nicht kennen, ohne daß man auf solche Dinge wirklich Rücksicht nimmt. Die Leute schreiben heute Geschichte genau ebenso, wie die Blinden von der Farbe schreiben würden. Sie schreiben nur äußerliche Phrasen, die keinen Inhalt haben. Aus diesen äußerlichen Phrasen, die keinen Inhalt haben, entstehen dann Parteiprogramme,

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Gesellschaftsprogramme, entstehen jene sogenannten Ideale, nach denen man dies oder jenes Soziale bewirken will. Man kann heUte nichts sozial bewirken, ohne daß man aus den treibenden Kräften der Menschheitsentwickelung heraus schafft. Zeitverständnis ist heute notwendig. Aber es kann nur aus geistigen Untergründen herausgeholt werden.

Wie merkwürdig solches Zeitverständnis oftmals aufgefaßt wird, das kann man ja aus äußeren Dingen sehen. Wenn die Menschen über das Alltägliche heute hinauskommen wollen, dann machen sie oftmals allerlei Sachen. So konnte man zum Beispiel vernehmen, wie vor einiger Zeit, als vor der Kriegskatastrophe die Leute schon gar nicht mehr wußten, was für Kinkerlitzchen der Zivilisation sie anfangen sollten, allerlei «Olympische Spiele» aufgeführt werden sollten. Ja, Olympische Spiele waren für die Griechen da. Unser Zeitalter ist soundso viele Jahrhunderte über die Griechen hinausgegangen. Wir haben nicht mehr die Seelen- und Leibesverfassung, die die Griechen hatten. Wir müssen dasjenige finden, was unserer Seelen- und Leibesverfassung angemessen ist. Wir zeigen nur die Impotenz unseres Geistes, die völlige Leerheit von Seeleiinhalten, wenn wir Altes unbedingt wieder und wiederum käuen wollen. Olympische Spiele waren möglich bei denjenigen Menschen, die bis in das dreiunddreißigste Jahr hinein ihre Entwickelungsfähigkeit hatten. So ohne weiteres Dinge erneuern, die einmal für die Menschheit da waren, das heißt nichts anderes> als wenn jemand, der fünfunddreißig Jahre alt geworden ist, plötzlich beschließt, er will sich nun benehmen wie ein fünfzehnjähriger Bube. So ungefähr war es, als das Ideal der Olympischen Spiele auftauchte.

Dieses innere Verständnissuchen aus den geistigen Grundlagen der Entwickelung heraus, das ist es, was unbedingt angestrebt werden muß von unserer Gegenwart an. Denn eben die alten Zusammenhänge, aus denen die Menschen bisher gearbeitet haben, sind morsch und brüchig geworden. Ein Schneckenhaus hält sich ja auch noch eine Zeitlang, wenn die Schnecke schon tot ist. So hielten sich die alten Staaten, die aus ganz andern Schnecken, aus gariz andern Vorstellungen hervorgegangen sind. Aber notwendig ist es, daß heute neue soziale Gebilde aus dem erneuerten Vorstellungsleben der Menschen heraus sich wirklich entwickeln. Das große Sterben der alten sozialen Gebilde, das im Osten begonnen

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und Mitteleuropa ergriffen hat, das wird sich schon fortsetzen! Aber gut wäre es, wenn es verstanden würde und wenn die Leute weniger daran denken würden, die alten Reiche aufzurichten, sondern daran denken würden, die realen Verhältnisse der Gegenwart ins Auge zu fassen und aus diesen realen Verhältnissen der Gegenwart heraus entsprechende neue soziale Gebilde zu gestalten.

Im ganzen muß man doch sagen: Geisteswissenschaft stellt an die Menschen die Anforderung, etwas weniger Bequeralichkeit zu entwickeln ri1it Bezug auf ihre Seelenweseniieit, als die Menschen heute zu haben geneigt sind. Die Menschen sind heute schon so,daß sie gar nicht sich bewußt sind der treibenden Kräfte der Entwickelung, in denen sie drrrienstecken. Es war mir interessant zu sehen, wie ein Mitglied unserer Gesellschaft in der letzten Dreigliederungszeitung über den Stil der «Kernpunkte der sozialen Frage» geschrieben hat. Über diesen Stil der «Kernpunkte der sozialen Frage» haben ja viele allerlei Zeug geschwätzt: Schwer verständlich, Schachtelsätze - und dergleichen. Es ist ganz gut, daß jemand es einial ausgesprochen hat, daß ja schließlich dieses Buch dazu da ist, um ein Aufruf zu sein an die Menschheitserneuerung, daß es nicht ein SchIafpulver sein soll für diejenigen, die eine angenehme Lektüre haben wollen.

Heute vereinigen die Menschen, indem sie konsequent sein wollen, das Diskrepanteste. Sie können heute unter das sogenannte Volk gehen, das wird eine populäre Darstellung verlangen. Vielleicht die populärste Darstellung werden diejenigen verlangen, die sich am freigeistigsten fühlen. Sie werden einen geschlossenen Stil langweilig finden, diese Leute. Woher kommt denn dieses Streben nach sogenannter populärer Darstellung? - Wenn die Leute es nur einmal bedenken würden, würden sie von solchen Urteilen, wie man sie oftmals hört, leichter zurückkommen. Denn dasjenige, was heute auch viele kirchenfeindliche Leute als Popularität im Stil fordern, das ist nichts anderes als ein Ergebnis jener Darstellung, welche gewisse Vertreter der Bekenntnisse suchten, um die Leute möglichst dumm zu erhalten. Sie gaben ihnen in den Sonntagnachmittagspredigten möglichst dasjenige, was «wasserklar» ist, was auch für diejenigen wasserklar war, die wachend schlafen wollten bei den Predigten. Die äußerste Grenze des Predigtanhörens ist ja das alte

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Mütterchen, das immer geschlafen hat bei der Predigt und das man zur Rede gestellt hat. Da sagte sie: Nun, was hat denn der Mensch auf der Welt, wenn er nicht mehr das bißchen Kirchenschlaf hat! - Der Unter- schied des Niveaus von diesem Schläfrigkeitszustand bis zur populären Darstellung ist ja nicht sehr groß. Sie ist im wesentlichen dadurch entstanden, daß man die Leute nicht zu einer gewissen freien lebendigen Entwickelung des Denkens kommen lassen wollte. Was sich die Leute angewöhnt haben beim Anhören der Predigten, das fordern heute die kirchenfeindlichen Sozialdemokraten als populäre Darstellung. So sind die Zusammenhänge. Die Leute finden heute den Stil der «Kernpunkte» schwer, die es weit zurückweisen würden, Bekenntnisleute zu sein; aber den Stil schwer finden, das rührt davon her, daß diese Leute erzogen worden sind durch die «Wasserklarheiten» des SonntagnachmittagsPredigtdienstes. Das ist auch etwas, was sich die Menschen durch Geisteswissenschaft aneignen müssen: unbefangen auf die Ereignisse hinzu- blicken. Über die Entwickelungsgesetze möchten sich ja die Menschen am liebsten täuschen.

Vor allen Dingen Energie im Seelenieben, das ist es, was für die Zukunft der Menschheitsentwickelung im eminentesten Sinne gebraucht wird. Und gerade mit Bezug darauf leben wir ja heute in einer außerordentlich schwierigen Zeit. Ich habe letzten Sonntag hier, während «ägyptische Finsternis» im Saal geherrscht hat, auf mancherlei Bestrebungen, die sich gerade gegen unsere Geisteswissenschaft geltend machen, hingewiesen. Es ist aber gar nicht so selten, daß gerade in unseren Reihen ein entschiedenes, dezidiertes Denken darüber übelgenommen wird, könnte man sagen. Das muß scharf ausgesprochen werden aus dem Grunde, weil ja jene Art von Verleumdungsfeldzügen, die gegen die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft und was sie sozial als Konsequenz nach sich zieht, erst im Anfange sind. Wie tritt doch immer wieder und wiederum aus unseren Reihen einem das Verderbliche entgegen, daß verlangt wird, man solle, wenn jemand verleumdet, den alten Herm oder wer es ist, manchmal auch einen jungen Herm, eine alte Frau, manchmal auch eine junge, möglichst schonend behandeln. Da wird gesagt: Wer verleumdet, soll vor allen Dingen in unseren Reihen auch möglichst schonend behandelt werden; man soll

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sich mit Leuten, die Verleumdungen in die Welt setzen, erst anfreunden! - Darauf kommt es nicht an heute! Wer die Zeit versteht, sollte das einsehen. Es kommt heute nicht darauf an, daß man sich auseinandersetzt mit den Menschen, die Verleumdungen über die Welt streuen, sondern darauf kommt es an, daß man bei andern Menschen diese Menschen charakterisiert, daß man sich mit ihnen nichts zu schaffen macht, daß man sie als Menschen, die man an sich nicht herankommen lassen will, behandelt und die andern Menschen in entsprechender Weise aufklärt, was das für Individuen sind, die da in der Welt stehen. Das ist es, worauf es ankommt heute! - Denn heute stehen wir vor ernsten Entwikkelungsmomenten, und heute ist das Durch die-Finger-Schauen das allerschlimmste, was gerade in Menschlieitsdiensten geschehen kann. Bequemer ist es, das Durch die-Finger-Schauen, als das scharfe Erfassen desjenigen, um was es sich hier handelt.

Vor allen Dingen müssen wir uns darüber klar sein, daß ein wirkliches Verständnis der sozialen Aufgabe der Gegenwart nur möglich ist vom Geiste aus. Aber dazu ist natürlich vieles andere erst herbeizuschaffen, möchte ich sagen. Da ist auf der einen Seite unsere Wissenschaft, die einer völligen Erneuerung bedarf. Wir können mit der alten Wissenschaft nichts mehr anfangen. Wir müssen die Möglichkeit haben, in den Geist der Natur wirklich einzudringen. Wir müssen die Möglichkeit haben, die Naturwissenschaft, die Medizin, die Biologie im allgemeinen wirklich geistig zu erfassen, dann können wir mit der Erziehung, die durchgemacht wird auf diese Weise, wirklich auch fruchtbare Gedanken entwickeln für das soziale Denken. Sonst werden wir fortfahren, mit den alten Schlagworten Neues schaffen zu wollen. Das aber ist es gerade, was uns so stark in den Abgrund hinunterführt. Aufwärtskommen muß die Menschlieit; aber sie muß es aus einer geistigen Erneuerung heraus. Und wer sich nicht entschließen wird, auf das Alte so hinizuschauen, daß es wirklich von ihm als Altes angesehen wird, der wird eben nicht mitarbeiten können am Fortschritt der Menschlieit.

Ich habe ja in den verschiedensten Varianten dieses vor Ihnen entwickelt. Ich wollte heute darauf hinweisen, wie eigentlich die Menschheit - was ich ja auch schon öfter auseinandergesetzt habe - in bezug auf ihr Lebensalter immer jünger und jünger wird. Die uiindischen Menschen

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waren bis über die Fünfzigeijahre alt geworden, dann die persischen Menschen bis in die Vierzigeijahre, die ägyptisch-chaldäischen bis zum Ende der Dreißigerjahre, die griechischen Menschen bis in die Dreißigeijahre hinein. Wir werden nicht in dieser Weise alt. Wir trotten noch fort, wenn wir nicht uns geistig innerlich beleben, aber alt werden wir nicht. Denn alt werden hieß in alten Zeitaltern zu gleicher Zeit durch dasjenige, was der Mensch leiblich-physisch heranentwickelte, weiser werden. Die heutigen Menschen werden, indem sie alt werden, bloß alt, werden nicht weiser, sie werden Mumien. Sie werden weiser nur dann, wenn sie die Mumien mit irgend etwas innerlich ausfüllen. Die Ägypter mumifizierten ihre Toten. Die Gegenwartsmenschen haben gar nicht nötig, Muinien erst zu werden, denn sie wandeln schon als Mumien herum und sind nur dann keine Mumien, wenn erfaßt wird in lebendiger, unmittelbarer Gegenwart das Geistige; dann wird die Mumie belebt. Das aber ist für die Menschheit der Gegenwart notwendig, daß die Mumien belebt werden. Sonst haben wir weiter jene Weltenvereinigungen, in denen allerlei Töne aus mumifizierten Menschen kommen. Man nennt diese Vereinigungen «Parteien». Aber das, was von den mumifizierten Menschen gekommen ist, das wurde allmählich zu rein ahrimanischen Stimmen, und die haben die Katastrophe der letzten Jahre herbeigeführt. Das ist die Kehrseite der Sache, das ist das ganz Ernste der Sache. Wenn der Mensch von der Gegenwart an nicht an- fängt` seine Mumie mit geistigem Inhalt zu erfüllen, so erfüllt sie sich durch die Einflüsterungen des Ahriman. Dann gehen die Menschenmumien herum, aber aus ihnen sprechen die ahrimanischen Dämonen. Die können nur verhindert werden, die Erde zu bevölkern, wenn die Menschen sich dazu entschließen, ihren lebendigen Zusammenhang mit der Geisteswelt zu suchen. Ja, die Sache hat ihre sehr, sehr ernste Seite. Geisteswissenschaft heute zu treiben ist zu gleicher Zeit ein Austreiben des ahrimanischen Geistes aus der Menschheit, ist ein Verhindern dessen, daß die Menschheit von Ahrimanisch-Geistigem besessen werde.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 17. Januar 1920

Ich habe gestern versucht, Ihnen den Charakter des Zeitpunktes menschlicher Entwickelung, an dem wir angekommen sind, zu kerinzeichnen. Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, wie im Fortgange der menschlichen Entwickelung die Menschheit gegenwärtig dabei angekommen ist, unbedingt angewiesen zu sein auf dasjenige, was wir neiinen die Wissenschaft der Initiation. Das heißt, es wird notwendig, daß erstens die Erkenntniszweige des menschlichen Kulturlebens durchdrungen werden von dieser Wissenschaft der Initiation, zweitens aber auch, daß das soziale Denken und das soziale Empfinden durchdrungen werde von denjenigen Gefühlen, Empfindungen, die für die menschliche Seele aus dem Bewußtsein heraus resultieren: Es gibt eine Geistesoffenbarung, eine übersinnliche Offenbarung - man braucht sich ihr nur zuzuwenden.

Man kann ja überzeugt sein, daß zahlreiche Menschen kommen und sagen: Ja, aber es ist doch gewisseniiaft Geschichte studiert worden, und was sich da aus der Geisteswissenschaft heraus ergeben soll über den Charakter des gegenwärtigen Zeitraumes, so wie sich dieser entwickelt hat aus den vorhergehenden, davon spricht ja die Geschichte nicht.

Ja, sie spricht nicht davon, weil sie eben, unbeeinflußt von wirklicher Geist-Erkeisiitnis, nicht nach ihren wirklichen Antrieben und Kräften fragt. Um zu wissen, was durch die Geschichte spricht, muß man erst die Geschichte in der richtigen Weise zu fragen verstehen.

Nun handelt es sich darum, daß die drei aufeinanderfolgenden nach- atlantischen Zeiträume, der urindische, der urpersische, der ägyptischchaldäische, solche sind, in denen gewissermaßen in dem gestern gemeinten Sinne die Menschheit immer jünger geworden ist, das heißt, daß sie im z`zweiten Zeitraume nicht entwickelungsfähig geblieben ist in diejenigen Jahre hinein, in denen sie im ersten Zeitraume noch entwickelungsfähig war und so weiter. Im griechisch-lateinischen Zeitraume, also in demjenigen, der im 8. vorcliristlichen Jahrhundert begonnen und im 15. Jahr- hundert geendet hat, war es so, daß die Menschen entwickelungsfähig geblieben sind bis in den Beginn der Dreißigerjahre hinein. Als im

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15. Jahrhundert dieser Zeitraum schloß, waren die Menschen deutlich entwickelungsfähig bis über das achtundzwanzigste Jahr hinaus. Heute reicht die Entwickelungsfähigkeit, wie wir ja betont haben, nur bis zum siebenundzwanzigsten Jahre und wird immer mehr und mehr herunter- steigen.Nun kann der Mensch, einfach durch die physisch-leibliche Konstitution, erst von den Dreißigeijahren an in Beziehung zur geistigen Welt kommen. Mißverstehen Sie mich nicht! Er kann natürlich, wenn er sich der Geisteswissenschaft zuwendet, auch heute schon früher dazu kommen; aber wenn der Mensch durch seine eigene, an das PhysischLeibliche gebundene Entwickelung geistige Kräfte aus dem Weltenall hereinbekoiiiinen soll, so kann das nur geschehen, wenn er entwickelungsfahig bleibt bis in die Dreißigerjahre hinein. Das tut er nicht. Daher kann von unserem Zeitpunkte an gar keine Rede davon sein, daß auf natürlichem Wege die Entwickelung der Menschheit vorwärts- schreiten kann. Sie kann nur vorwärtsschreiten, wenn die Menschheit befruchtet wird von der Wissenschaft der Imtiation.

Nun habe ich Ihnen schon in einem der vorigen Vorträge angedeutet, daß es ja in Gegenden der westlichen Zivilisation, namentlich in angloamerikanischen Gebieten, Eingeweihte gibt. Aber das Eigentümliche dieser Eingeweihten ist, daß sie von ihrem Gesichtspunkte aus im Sinn haben, eigentlich nur dasjenige als Wissenschaft der Initiation zu fördern, was die britisch-amerikanische Weltherrschaft allmählich über die Erde bringen kann. So merkwürdig das klingt, es ist so. Und man kann sagen: Jede einzelne Behauptung, die von dieser Seite ausgeht, trägt ein Gepräge, dem der Kundige anliört, daß es so ist. Vor allen Dingen weisen auf alle diese Dinge hin die verschiedenen Arten, wie in westlichen Gegenden die Wissenschaft der Initiation gehandhabt wird.

Sie haben ja gesehen: In gewissen, allerdings in gewissen Grenzen wird hier nicht zurückgehalten mit bestimmten Initiationswahrheiten. Und wenn Sie das durchblicken, was im Laufe der Jahre vor Ihnen vorgetragen worden ist, so werden Sie darin, wenn Sie wirklich unschlafend die Dinge verfolgen, eine ganze Reihe von wichtigen Initiationswahrheiten finden, welche geeignet sind, nicht bloß einen Teil der Menschheit, sondern über die Erde hin die ganze Menschheit über die jetzige

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Krise hinauszubringen und einer wirklichen Weiterentwickelung entgegenzuführen. Aber Sie werden namentlich unter den westlichen Eingeweihten immer Leute finden, welche verpönen, verurteilen, daß so viel, wie hier mitgeteilt worden ist, heute an die Öffentlichkeit mit- geteilt wird. Das hängt zusammen mit einer schiefen Auffassung von der Wissenschaft der Initiation. Um Ihnen diese schiefe Auffassung begreiflich zu machen, muß ich heute das Folgende vorausschicken.

Die Wissenschaft der Initiation wendet sich schlechterdings immer an den einzelnen Menschen. Auch wenn sie zu einer Summe von Menschen spricht, so wendet sie sich in Wirklichkeit an den einzelnen Menschen. Man kann nicht die wahre Wissenschaft der Initiation so vortragen, wie man in früheren Zeiten auf die Menschen gewirkt hat. Die katholische Kirche zum Beispiel verpflanzte diese Art auch in die Gegenwart herein, übrigens nicht bloß die katholische Kirche, sondern auch gewisse Parteinchtungen bedienen sich heute noch derselben Methode. Man hat ja so gewirkt, daß man, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Massenpsyche zu Hilfe nimmt, daß man appelliert an das, was einer Menschengemeinschaft in einer gewissen, ich möchte sagen, hypnotisierenden Weise etwas emimpft. Sie wissen ja, daß man in der Regel, wenn man nur die entsprechenden Mittel anwendet, einer Versammlung Dinge leichter bei- bringen kann als jedem einzelnen, zu dem man sprechen wollte. Es ist etwas Wahres an einer solchen Massenhypnose.

Dieser Mittel, die durchaus wirksam sind, kann sich eine wahre Weisheit der Initiation nicht bedienen. Sie muß so sprechen, daß sie zu jedem einzelnen Menschen spricht und daß sie an die Überzeugungskraft jedes einzelnen Merischen appelliert. Die Art zu sprechen, der sich die heute auf der Höhe der Menschheitsentwickelung stehende Initiationswissenschaft bedienen muß, war bisher noch nicht da. Daher ist die Art, wie zum Beispiel hier und in meinen Büchern gesprochen wird, manchen Menschen heute noch ein Greuel, weil eben schon durch die Art des Sprechens streng die Regel eingehalten wird, nur an die Überzeugungskraft der einzelnen Individualität zu appellieren.

Damit ist zugleich ein wichtiges soziales Prinzip gegeben, auf das ich schon in anderem Zusammenhange in diesen Tagen hingedeutet habe und das Sie systematisch und prinzipiell durchgeführt finden in meinem

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Buche «Die Philosophie der Freiheit». Wenn man nur mit ethischen, mit moralischen Impulsen an den einzelnen appellieren will, dann kann man nicht aus allgemeinen Abstraktionen heraus organisieren wollen, dann kann man nicht Gruppen von Menschen wie Herdentiere zusammenfassen, um ihnen irgendeine gemeinsame Direktive zu geben, sondern dann kann man sich eben nur an den einzelnen wenden und dann warten, daß, weil jeder einzelne in seinem Stehen im Ganzen drinnen das Richtige will, so auch im Ganzen sich das Richtige vollziehen wird.

Auf ein anderes Prinzip als auf dieses Prinzip des allgemeinen Menschenverhalteiis kann die Sozia1moral der Zukunft gar nicht begründet werden. Als ich meine «Philosophie der Freiheit» veröffentlicht hatte, erschien zum Beispiel im «Athenaeum» eine Besprechung, in der gesagt wurde, solch eine Anschauung führe in einen theoretischen Anarchismus hinein. Sie führt aber nur dann in einen Anarchismus hinein, wenn es nicht gelingen sollte, die Menschen zu wirklichen Menschen zu machen, das heißt, wenn die Menschen durchaus Untermenschen sein wollen, wenn sie durchaus unter solchen Gesichtspunkten zusammengehalten sein wollen, wie die Glieder einer Tiergrnppe zusammengehalten sind. Löwen sind schon durch ihre Löwenforni als Löwen zusammengehalten, Hyänen auch, Hunde auch; aber die Entwickelung der Menschneit geht dahin, daß nicht Menschengruppen, weder unter Blutsorganasationsbanden noch auch unter ideellen Organisationsbanden in der Zukunft organisiert werden sollen wie Hammelherden, sondern daß tatsächlich das, was im Zusasiimenwirken der Menschen entsteht, aus der Kraft der Individualitäten heraus geschieht.

Ich habe vor einigen Tagen hier einen Vergleich gebraucht, der etwas grotesk klingen mag, der aber doch die ganze Sache, wie ich glaube, beleuchten kann. Ich weiß nicht, ob es nicht auch Menschen gibt, welche es als etwas besonders Erlösendes empfinden würden, wenn man überall Aufschriften fände: Verordnung dieser und dieser Behörde: Derjenige, der hier in der Richtung nach vorne geht, muß dem andern ausweichen, der in der andern Richtung geht. - Selbst in bevölkerten Städten kommen ja die Menschen in der Regel miteinander noch aus auf der Straße, sie gehen aneinander vorbei; aus ihrer Vernunft heraus, aus dem, was sie als Impuls in sich haben, stoßen sie sich nicht fortwährend. Diesem

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Ideal steuert die Menschheit zu. Daß sie das nicht einsieht, das ist ihr Unglück. Es kommt darauf an, auch in den wichtigen Dingen die Direktiven seines Handelns in sich selber zu tragen, so daß der andere sich darauf verlassen kann, auch ohne daß ein gemeinsames Gesetz, das die beiden zu Unterinenschen macht, sie aufeinander dressiert, damit der andere sich so verhält, daß der eine neben ihm bestehen kann.

Dieses Arbeiten nach der Individualität hin, das ist es, was nun einmal verknüpft ist mit den allerwichtigsten Impulsen der Menschheitsentwickelung. Auf so etwas wird man niemals menschliche Individualitäten bringen können, wenn man ihnen nur überliefern kann, was etwa die gegenwärtige Naturerkenntnis bildet oder was die gegenwärtige Sozialwissenschaft oder die gegenwärtigen Sozialmotive bildet. Zu einer solchen Individualität, wie die ist, von der ich eben gesprochen habe, kommt der Mensch nur, wenn in ihm eine Gedankenmasse erweckt wird, die aus der Wissenschaft der Initiation stammt. Nur durch seine Beziehung zum Übersinnlichen wird der Mensch von solchen Gedanken erfüllt, die ihn zu einer freien Individualität machen, die aber auch in der sozialen Ordnung in möglichster Freiheit wirken kann. Alles hängt eben daran, daß die Menschheit Herz und Sinn öffnet für das, was aus der Wissenschaft der Initiation kommt.

Das große Vertrauen, das muß das wichtigste Sozialmotiv der Zukunft werden. Die Menschen müssen aufeinander bauen können. Anders gehen die Dinge nicht vorwärts. Das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, erscheint dem, der es ernst meint mit der ganzen Menschheit, wenn er nur genügend eingeweiht ist in übersirinliche Dinge, in dem Siniie als eine Selbstverständlichkeit, daß er sagen muß Entweder geschieht dieses oder die Menschheit geht in den Abgrund hinein. Ein Drittes gibt es demgegenüber nicht.

Man kann ja sagen, man könne sich nicht vorstellen, daß eine soziale Ordnung auf allgemeines Vertrauen begründet wird. Darauf kann man nur antworten: Schön, wenn ihr euch das nicht vorstellen könnt, dann müßt ihr euch eben vorstellen: Die Menschheit muß in den Sumpf hinein. - Diese Dinge sind nun einmal ernst, und sie müssen als solche ernst genommen werden.

In einer gewissen Abstraktheit wissen das auch die Eingeweihten der

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westlichen Länder. Allein sie sagen folgendes: Wir haben die Wissenschaft der Initiation bis zu einem gewissen Grade, wir könnten sie veröffentlichen. - Sie würden allerdings nur eine solche Wissenschaft der Initiation veröffentlichen, die zu den Zielen führt, die ich angedeutet habe; auch bewegen wir uns jetzt auf einem Gebiete, das ebenso anwendbar ist auf die wahre Wissenschaft der Initiation wie auf die eInseitige. - Die Eingeweihten der westlichen Länder können also sagen: Wir haben die Wissenschaft der Initiation; wir können sie veröffentlichen, aber das ist so, daß sie nur an den einzelnen Menschen sich richtet. - Jetzt beginnt für diese Leute die große Angst, die schreckliche Furcht. Sie sagen: Ja, wenn wir also in der Zukunft nur zu den einzelnen reden, dann entfesseln wir Kämpfe aller gegen alle, denn dann sind die Menschen nicht organisiert, dann ist auf allgemeines Vertrauen gebaut, dann kommen die Menschen in den Kampf aller gegen alle hinein. - Diese Angst steht vor den Leuten. Daher wollen sie die wichtigsten Initiatioiiswahrheiten, ich möchte sagen, in der Dunkelkammer behalten und die Menschheit in einem scheinbaren Lichte, aber schlafend, der Zukuiift entgegenwandeln lassen.

Diese Dinge sind ja durchaus aktuell, seitdem mit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Höhepunkt des Materialismus in der modernen Zivilisation erreicht worden ist und seitdem sich die Leute eben fragen mußten: Wie weit gehen wir mit der Wissenschaft der Initiation? - Sie wagten es bisher nicht, eine wirkliche Wissenschaft der Initiation über gewisse kleinere Kreise hinausgehend der Menschheit mitzuteilen.

Nun darf eine gewisse Erziehung, die die Menschheit durchgemacht hat, nicht abreißen, sie ist aber heute schon dank einer ganz verfehlten Theologie im Abreißen. Sie können diese Erziehung verfolgen, wenn Sie nicht jene Fable convenue studieren, die man gewöhnlich «Geschichte» nennt, sondern wenn Sie die wirkliche Geschichte studieren. Die Menschen wissen ja heute eigentlich gar nicht, wie das, was man mit bestimmten Worten bezeichnet, sich im Laufe der Zeit geändert hat. Die Leute reden von Katholizismus, von Kaisertum, von Aristokratie, von Bürgertum und glauben, wenn sie dieselben Worte im 14. Jahrhundert finden, so bedeuten sie ungefähr dasselbe, vielleicht nur mit einer kleinen Nuance etwas anderes. Solange man nicht darüber sich klar ist, daß

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das, was im 14. Jahrhundert Katholizismus, Kaisertum, Bürgertum, Aristokratie bedeutet hat, gar nichts mehr mit dem gemein hat, was wir heute mit diesen Worten bezeichnen, so lange kennt man die Geschichte nicht. Man muß sich durchaus klar sein, wie die Seelenverfassung der Menschen sich im Laufe von wenigen Jahrhunderten wirklich stark verändert hat.

Worauf beruhte denn im wesentlichen bis ins 15. Jahrhundert, in seinen Nachwirkungen sogar noch weitergehend, das, was aus der allgemeinen Menschheitserziehung heraus wirkte in das Bewußtsein der Seelen der zivilisierten Welt? Das alles beruhte darauf, daß die Menschen durch diese Jahrhunderte in der Lage waren, in ihr Vorstellungsleben Übersinhliches aufzunehmen, nicht so, wie es jetzt durch die Geisteswissenschaft aufgenommen werden soll, aber wie sie es damals eben nach ihren noch atavistischen Bewußtseinszuständen aufnehmen konnten. Ein Grundfaktum erfüllte die Menschenseelen. Es war das Grundfaktum, das sich anschließt an das Mysterium von Golgatha. Man wußte auf die damalige Art: Die Christus-Weseiiheit ist herunter- gekommen aus überirdischen Höhen, ist verkörpert gewesen in dem Menschen Jesus von Nazareth, und mit dem Mysterium von Golgatha hat sich etwas zugetragen, was sich nach gewöhnlichen, von der Naturerkenntnis auffindbaren Gesetzen nicht zutragen kann. - Man hatte in den Begriffen und Vorstellungen, die man sich vom Mysterium von Golgatha machte, solche Ideen, solche Vorstellungen, die hinausgingen über die irdische Sphäre.

Mit solchen Vorstellungen schafft man ganz andere Gedankenformen als mit den Vorstellungen, die der Durchschnittsmensch heute hat. Die Gedanken, die sich die Menschen heute machen, gehen gar nicht hinein bis in das Leben des Übersinnlichen. Die Gedanken, die sich die Menschen mit einer solchen Anknüpfung an das Mysterium von Golgatha machten, wie ich es eben charakterisiert habe, die waren geeignet, Gedankenformen hervorzurufen, welche eine Realität hatten im Übersinnlichen. Daher kann man den gegenwärtigen Zeitpunkt auch so charaktensieren, daß man sagt: Die Menscliheit hat allmählich die Fähigkeit verloren, solche Gedankenfornien zu bilden, die im Übersinnlichen eine Bedeutung haben. - So kann man ja auf der Erde auch keine sozialen

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Ordnungen schaffen, die die Erde weiterbiingen. Daher trägt alles das, was ungefähr seit dem 16. Jahrhundert an sozialen Ideen in die Menscliheit hlneingebracht worden ist, den Charakter, der sich etwa folgendermaßen schildern läßt: Wir treffen nach den Gedankenformen, welche die Gedankenformen der Neuzeit sind, soziale Einrichtungen. Solche sozialen Einrichtungen sind alle zum Zerbrechen da, das heißt, sie laufen eine Zeitlang, dann zerbrechen sie. Sie haben keine innere Kraft der Fortentwickelung. - Das ist sogar das Geheimnis der neueren Entwickelung. Die Menschen mögen auf Grundlage derjenigen äußeren Weltbildung, die sich ergeben hat seit dem 16. Jahrhundert, noch so willig soziale Einrichtungen treffen, alle diese sozialen Einrichtungen tragen den Todeskeim schon im Entstehen in sich, weil sie nicht mit Gedanken- formen verbunden sind, die im Übersinniichen eine Realität haben. Solange es in der Gegenwart nicht Menschen gibt, welche so etwas einsehen, ist mit dieser Gegenwart überhaupt über einen sozialen Fort- schritt gar nicht zu sprechen. Es kommt nicht darauf an> dah man in abstrakter Art, vielleicht aus irgendeinem spirituellen Gedankengespinst soziale Ideen ableitet. Darauf kommt es gar nicht an. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» steht nicht etwa zuerst ein längeres Kapitel über Geisteswissenschaft, aus dem dann soziale Gesetze deduziert werden, sondern es wird aus der Wirklichkeit selber heraus aufmerksam gemacht auf das, was zu geschehen hat. Darauf kommt es nicht an, daß man aus irgendeinem spirituellen Gespinst das soziale Leben herausdeduziert, sondern darauf, daß man selber erfüllt ist von solchen Gedanken, die im Übersinnlichen wurzeln. Denn dieses Erfülltsein macht es aus, daß alles, was man denkt, eine Realität im Übersinnlichen hat.

Paradox, aber ganz wahr gesprochen, kann man das Folgende sagen: Denken Sie sich, ein Mensch, ich will sagen ein «Staatsmann» - ein Wort, das man gegenwärtig in Anführungszeichen sagt -, redet allerlei gescheite Dinge, das heißt solche Dinge, welche die Menschen heute gescheit nennen, hat aber niemals eine Beziehung geknüpft zur übersinnlichen Welt. Das, was er redet, in Wirklichkeit umgesetzt, wird den Todeskeim in sich tragen. - Ein anderer redet. Wenn man nicht weiß, daß er sich mit Geisteswissenschaft beschäftigt, braucht man es aus seIner Rede auch gar nicht zu merken, er redet nur in einer etwas andern Art

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über die Dinge. Aus dem, was er zum Beispiel über soziale Fragen sagt, braucht man gar nicht zu merken, daß er sich mit Geisteswissenschaft beschäftigt, aber daß er sich mit Geisteswissenschaft beschäftigt, das gibt seinen Ideen den realen Impuls.

Also es handelt sich darnm, daß man heute nicht ausreicht mit einer abstrakten Logik, sondern daß man Wirklichkeit reden muß. Denn heute stehen wir ja bereits in einem Stadium der Menschheitsentwickelung, daß, sagen wir, ein Journalist die schönsten Dinge schreiben kann, die die Leute bewundern, weil sie sagen: Ja, wenn ich das lese, es ist ja die reinste Geisteswissenschaft! - Darum handelt es sich eben nicht! Heute handelt es sich gar nicht mehr um die Wortlaute, sondern heute handelt es sich um den Grund der Seele, aus dem so etwas kommt, es handelt sich um dasjenige, was der Mensch als Substanz in sich trägt!

Wenn ich von einem ganz andern Feld her den Vergleich ziehen soll, so soll es der sein, den ich öfters schon gebraucht habe: Es gibt heute Dichter, die dichten ungemein leicht, machen schöne Verse, die man bewundern kann. Dennoch gilt auch das: Es wird heute neunundneunzig Prozent zu viel gedichtet. - Andere aber gibt es, deren Verse sind wie ein Gestamel; aber diese Verse, die wie ein Gestammel klingen, können aus echtem Menschheitsfond, das heißt Geistesfond stammen, währenddem die> die man bewundert, weil die Sprachen einfach soweit sind, daß jeder Tor heute aus der Sprache heraus etwas Bewundernswertes schaffen kann, wertloser Wortschall sein können.

Es ist heute durchaus notwendig, daß man über den bloßen Wortlaut zu dem Motiv hingeht, das heißt, daß man sich nicht im Abstrakten hält, daß man nicht dem Wortlaut nach liest, sondern daß man sich ins volle Leben hineinstellt und aus dem Leben heraus die Erscheinungen beurteilt. Und so handelt es sich darum, daß Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, vor allen Dingen befruchtend wirken muß auf die verschiedenen Lebeiiszweige, sonst wird das nicht eintreten, was eintreten muß.

Wenn zwei Menschen miteinander reden, verständigen sie sich durch die Sprache. Aber die Sprache war in verhältnismäßig gar nicht weit zurückliegender Zeit etwas ganz anderes als heute. Wenn mar( sich heute durch die Sprache verständigt, so wird man eigentlich mehr oder weniger

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ein Sklave der Sprache. Die Menschen haben früher durch den Sprachgenius viel gelernt, und sie dachten eigentlich nicht selbst sehr viel, sie ließen die Sprache für sich denken. Das ging nur so lange, bis der Zeitraum eintrat, den ich Ihnen gestern charakterisiert habe. Heute kommt der Mensch nur weiter, wenn er sich mit seinem Denken und Empfinden von der Sprache emanzipieren kann. Die Sprache läuft gewisse1maßen heute wie ein Mechanismus, in dem wir drinnenstehen, und statt unserer lebt eigentlich immer mehr und mehr der Ahriman in der SprachenentwickelUng drinnen. Ahriman redet eigentlich heute, wenn die Menschen reden. Und die Menschen müssen sich nach und nach gewöhnen, aus ganz anderem heraus sich zu verstehen als aus dem bloßen Wortlaut der Sprachen. Man muß viel tiefer diinnenstehen im Leben, um heute den andern Menschen zu verstehen, als in dem Zeit- alter, wo auf den Flügeln der Sprache noch das enthalten war, was die Menschen miteinander ausgetauscht hatten. Heute ist das auf den Flügeln der Sprache nicht mehr enthalten. Heute kann man im Grunde genommen ein von wirklicher Erkenntnis ganz leerer Mensch sein. Aber damit, daß die Sprache - jede heutige zivilisierte Sprache - allmählich Satzfornien, Sentenzen, ja ganze Theorien, die schon in der Sprache liegen, ausgebildet hat, braucht man nur das, was In der Sprache liegt, ein bißchen UmzUändern, dann hat man etwas scheinbar von sich aus Geschaffenes, in Wirklichkeit hat man im Grunde genommen nur ein wenig durcheinandergewürfelt, was schon da war.

Es ließe sich heute sehr leicht, so grotesk es Ihnen klingen wird, folgendes Experiment machen. Nehmen Sie die Enunziationen gut bourgeoiser, nur etwas nach der einen oder nach der andern Seite hin zum Materialismus geneigter Professoren, Philosophieprofessoren, Naturwissenschaftsprofessoren und dergleichen, nehmen Sie das, was diese Leute im Laufe der letzten Jahrzehnte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagt haben, so läßt sich sehr leicht durch ein klein wenig Umdenken foigendes erreichen. Nehmen Sie, ich will sagen, irgendein Elaborat eines ziemlich braven Philosophen, eines braven Dutzendphilosophen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sich über diese oder jene sozialen Dinge geäußert hat, da können Sie nun gewisse Eigenschaftsworte wegnehmen und durch andere ersetzen, die

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wieder in einem andern Satz stehen. Sie können die Dinge ein bißchen umwerfen - und es entsteht daraus die Lebensanschauung des Herrn Trotzklj! Man braucht, um heute mit einer Lebensanschauung ein Trotzkij zu sein, gar nicht selber denken zu können, sondern nur die Sprache in sich denken zu lassen in der Weise, wie ich es eben geschildert habe. Aber da arbeiten, weil die Sprache sich in einer gewissen Weise von innen emanzipiert hat, nicht die Menschen, da arbeiten ahrimanische Mächte in der Menschheitskultur.

Was ich Ihnen jetzt gesagt habe, das kann man als Erlebnis haben. Man muß nur die inneren Seelenaugen für solche Dinge offen haben. Wer nicht mit Worten, sondern mit Gedanken arbeitet, für den ist die Sprache heute ein ganz schauderhaftes Instrument. Es schreibt sich heute für den, der mit Gedanken arbeitet, in der Tat nicht leicht. Denn wollen Sie einen Satz hinschreiben, so pariert er Ihnen nicht, weil soundso viele Leute ähriliche Sätze geschrieben haben. Immer wiederum will der Satz sich formen aus der Gesamtpsyche heraus, aber Sie müssen erst sein Feind werden, um dasjenige, was Ihnen in der Seele liegt, wirklich satzgemäß zu formen. Wer heute für die Öffentlichkeit wirkt und nicht diese Feindseligkeit der Sprache empfinden kann, der gerät immer in die Gefahr, sich dem Denken der Sprache zu überlassen und schöne Programme auszusinnen aus der Sprache heraus.

Die Notwendigkeit, den Gedanken Geltung zu verschaffen, muß heute schon beginnen im Kampfe mit der Sprache. Nichts ist gefährlicher, als wenn heute ein Mensch sich immer tragen läßt von der Sprache, in dem Sinne: So drückt man das aus, so drückt man jenes aus. - Denn indem eine stereotype Art des Ausdrückens da ist, indem man sagen kann: Das kann man nur so sagen -, begibt man sich eigentlich in den gewohnten Strom des Sprechens hinein und arbeitet nicht aus dem ursprünglichen Gedanken heraus.

Schrecklich wirken unsere Schulen in dieser Beziehung. Die Schulmeister, die eigentlich jeden scheinbar ungeschlckten, aber wenigstens eigenen Gedanken auf das Konventionelle hin korrigieren, üben große Verbrechen in der Schule aus. Man sollte geradezu forschen nach jedem ungeschickten, aber substantiell individuellen Satze, den irgendein Bube oder irgendein Mädchen in der Schule hinschreibt. Man sollte daran in

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der Schule Besprechungen knüpfen und sollte gar nicht mit der verfluchten roten Tinte das Konventionelle an die Stelle desjenigen setzen, was aus den jugendlichen Individualitäten heute herauskommt. Denn heute ist es das Allerwichtigste, darauf hinzuschauen, was aus den jugendlichen Individualitäten herauskommt. Vielleicht wird es sich in einer Weise enthüllen, wie es uns nicht immer bequem ist, wie wir es leicht als fehlerhaft ansehen. Wollte man die Goetheschen Jugendbriefe mit dem Auge eines Gyrnnasiallehrers korrigieren, dann müßten viele Dinge korrigiert werden! Der österreichische Dichter Robert Hamerling hat bei seiner Lehramtsprüfung die schlechteste Zensur im «deutschen Aufsatz» gehabt! Und es bleibt ja doch etwas Wahres an dem, was Hebbel sich in sein Tagebuch geschrieben hat, ich habe es öfters erwähnt: Er wollte ein Drama schreiben mit dem Motiv, daß gerade ein Gymnasiallehrer der höheren Klassen einen Schüler vor sich hat, der der wiederverkörperte Plato ist, mit dem er den Plato liest in der Klasse; da findet der Gymnasiallehrer, daß dieser «wiederverkörperte Plato» nicht das Allergeringste versteht vom Plato! Dieses Motiv hat sich der Dichter Friedrich Hebbel für ein Drama notiert, das dann nicht zur Ausführung gekommen ist. Aber es ist etwas Wahres daran.

Nun müssen wir uns ja darüber klar sein, daß jederzeit, verführt durch die zurückbleibenden luziferischen und ahrimanischen Mächte, die Menschen sich gegen den normalen Fortschritt der Menschheit gesträubt haben. Heute stehen wir vor der Notwendigkeit, etwas ganz Neues aus dem geistigen Leben heraus zur Rettung der Menschheit suchen zu müssen. Kein Wunder, daß sich die Menschen in der heftigsten Weise aus allen möglichen logischen Torheiten und Unmoralitäten heraus sträuben. Und so mußte ich schon seit langer Zeit immer als Anhängsel an unsere Zeitbetrachtung auch gewissermaßen pro domo reden.

Ich habe Ihnen vor etwa acht Tagen hier mitgeteilt, in welcher verleumderischen, gemeinen Weise gegenwärtig durch einen großen Teil der deutschen Zeitungen Dinge gehen, die ihrer Quelle nach ja bekannt sind, aber die mit aller Wucht sich gerade gegen das wenden möchten, was von anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft ausgeht und was an Sozialem damit zusammenhängt. Es ist so recht unmittelbar eIn, ich möchte sagen, «am Hause» selbst erlebtes Beispiel, wie stark sich die

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gegnerischen Mächte rührig machen. Aber es gibt eine gewisse Veranlassung, aus der heraus ich Ihnen diese Sache heute etwas genauer charakterisieren möchte. Zu diesem Zwecke möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen, was geschehen ist. Es ist geschehen, daß plötzlich durch eine Reihe deutscher Zeitungen die Verleumdung ging, die in folgenden Sätzen zusammengefaßt ist. Ich habe diese Sätze ja vorgelesen. Wir wollen sie uns aber noch einmal vor die Seele führen, denn sie sind es eigentlich wert als Charakteristikum für gewisse Kulturpilze der Gegenwart:

«Rudolf Steiner als politischer Denunziant. Der bekannte theosophische Scharlatan Dr. Rudolf Steiner, der eine Anhängerschafr von Millionen Männer und Frauen beeinilußt, hat im Frühjahr 1919 in Stuttgart einen Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus gegründet, der ursprünglich nur eine religiös~kommunisn.sche Gemeinschaft sein sollte, dann aber in politische Berührung mit den Bolschewisten und Kommunisten geraten ist und jetzt eine sehr seltsame und widerwärtige politische Agitation ausübt. Wir erfahren darüber aus Dresden das Folgende: Aus authentischen Nachrichten geht einwandfrei hervor», - ich bitte, sich diesen Satz «aus authentischen Nachrichten geht einwandfrei hervor» zu notieren! - «daß der Bund für Dreigliedernng die Namen aller angeblich im reaktionären Sinn tätigen Offiziere feststellt und gegen diese Material über völkerrechtswidrige Handlungen an Hand von Zeugenaussagen sammelt, das dann der Entente zwecks Auslieferung zugestellt werden soll. Die Richtigkeit derartiger Beschuldigungen ist Herrn Steiner und Genossen vollkommen gleichgültig, und daß sie sogar vor bewußt falschen Angaben nicht zurückschrecken, beweist die Stelle eines Briefes, in dem es heißt: Beschuldigungen von Diebstählen sind zu unterlassen, da die Unwahrheit hier leichter nachzuweisen ist. Ebenso darf man keine zu unglaublichen Beschuldigungen, wie Verstümmelungen von Kindern, erheben.»

Nun geht natürlich diese Satz für Satz erlogenste, verleumderischeste Sache durch eine Reihe deutscher Zeitungen! Man kann darin über das Verschiederiste erstaunt sein, aber nehmen wir doch ein Faktum heraus. Da ist die Rede von Briefen, die geschrieben worden sein sollen und auf die man sich beruft als auf authentische Dokumente. Ich habe in der

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Nummer der «Dreigliedernng», die noch nicht erschienen ist, ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich sehr wohl die trüben Quellen kenne, aus denen solche Dinge stammen. Nun will ich Ihnen aber ein niedliches Dokument vorlesen, aus dem Sie sehen werden, wie die authentischen Grundlagen für diejenigen Menschen sind, die solche Dinge in die Welt streuen.

Nachdem diese ganze Flut von Gemeinheit abgelaufen war, nachdem ich auch von verschiedenen andern Seiten Bestätigungen dessen, was ich ohnedies gewußt habe über die trüben Quellen, erfahren hatte, bekam ich folgenden Brief eines Freundes. Dieser Brief ist mir erst jetzt zu- gekommen, aber er ist geschrieben - ich bitte das zu berücksichtigen -, bevor diese Zeitungsartikel erschienen sind. Also das, was dieser Brief enthält, ist konstatiert worden, bevor die Zeitungsartikel erschienen sind. Ich bitte, dieses Faktum ins Auge zu fassen. In diesem Brief steht:

«Ein langjähriges Mitglied unserer anthroposophischen Gesellschaft, augenblicklich noch aktiver Offizier, hat Einsicht von den zwei Briefen bekommen, die bei den Behörden kursieren und selbstverständlich viel Aufsehen erTegen. Diese Briefe tragen die Aufschrift: An IRD oder R in Berlin, sind also wohl an dieselbe Stelle gerichtet, ob aber von demselben Verfasser, läßt sich nicht sagen, da eine Unterschrift fehlt. In dem ersten Brief ist die Rede vom Steinerbund und Freimaurer, und zwar wird gesagt, in der nächsten Zeit würden vom Steinerbund Flugblätter verteilt werden, die so abgefaßt wären, als ob sie von den Monarchisten kämen, die aber in Wahrheit den Zweck hätten, die monarchistische und die antisemitische Bewegung lächerlich zu machen. Also mit andern Worten: der Steinerbund werde versuchen, unter dem Deckrnantel der Monarchisten diese Richtung zu bekämpfen. Diese Flugblätter seIen schon gedruckt, und für jeden Bezirk wäre eine andere fingierte Unterschrift vorgesehen.»

Also Sie sehen, da gibt es Fabriken für Brieffälschungen! Diese Briefe zirkulieren wirklich. Weiter heißt es:

«Im zweiten Brief wird folgender Vorschlag gemacht: Da noch immer viele monarchistisch gesinnte Offiziere sich im Heere befinden, wäre es unbedingt erforderlich, diese unschädlich zu machen, und zwar durch folgende schamiose Mittel. Es sollte unter den Angehörigen des Truppenteils,

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dem der betreffende Offizier während des Feldzuges angehört hat, nach Leuten gesucht werden, die unter Eid möglichst viele Schandtaten der Betreffenden aussagen sollen. Dabei wird noch näher gesagt, daß dies aber nur glaubwürdige Vergehen sein müßten, nicht etwa Frauenschändung, Kindsmord und ähnliche Dinge. Dieses Sündenregister sollte dann durch einen Herrn Grelling» - das ist der einzige Name, der in dem Brief genannt wird - «an die Entente überniittelt werden, und diese würde dann die sofortige Auslieferung der Betreffenden fordern.»

Beide Briefe hat der Betreffende mit eigenen Augen gelesen.

Das ist also der Brief, auf den sich diese Zeitungsnotiz beruft, der Brief, der wahrscheinlich in unzähligen Exemplaren zirkuliert und der die Aufschrift trägt: An diese und diese Stelle in Berlin! Es werden also zuerst die Briefe gefälscht, fabriziert, dann werden Zeitungsartikel gemacht Das ist die Methode, in der gekämpft wird!

Ich möchte wissen, ob noch andere Dinge dazugehören, um es einmal begreiflich zu machen, daß es heute nötig ist, aufzuwachen! - Aus dem, was in den letzten Jahren geschehen ist, ist ein moralischer Boden für die Menschheit hervorgegangen, der allerdings in den Unmöglichkeiten wurzelte, die schon vorangegangen sind, und der solche Blüten treibt.

Es geht heute nicht an, weiterzuschlafen, sondern zu wissen, in welchem Sumpf wir drinnenstecken. Es könnte ja leicht sein, wenn über diese Dinge nicht scharf gesprochen würde, daß sich auch in unseren Reihen noch Leute fänden, die zum Beispiel sagten: Soll man nicht doch lieber an all die schönen Herren, die da Briefe fälschen und hernach mit den gefälschten Briefen Zeitungsartikel fabrizieren, schreiben, um sie uinzustimmen? - Es handelt sich heute wirklich darum, die Augen aufzumachen und hinzusehen, was für Menschen unter uns herumgehen, Menschen, denen gegenüber man sich beschmutzen würde, wenn man sich im ernsthaften Sinne mit innen einlassen würde. Diese Dinge dürfen nicht einfach verschlafen werden, das muß immer wieder und wiederum gesagt werden. Es muß auf die Zusammenhänge hingewiesen werden. Glauben Sie, daß es ungestraft sein kann, daß zum Beispiel in jenen jesuitischen Blättern, in denen die erlogenen Angaben stehen, von denen ich Ihnen ja auch schon gesprochen habe, jahrelang die Mär herumgetragen worden ist, ich sei ein entlaufener Priester, um dann einfach eine

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solche Sache zurückzunehmen mit den Worten: Das ist etwas, was man` gehört hat, «was sich aber nicht aufrechterhalten ließ»? - Glauben Sie, daß man ein Recht hat, einem solchen Jesuitenpater zu sagen: Du hast das zurückgenommen, was du verbreitet hast? - Nein, man hat ihm zu sagen: Du hast in der unverantwortlichsten Weise deine Pflicht verletzt, indem du ungeprüft eine Sache in die Welt gesetzt hast, und deine Zurücknahme bedeutet gar nichts. - Es muß heute mit Moral von jenen Menschen, die noch von Moral etwas verstehen, ernst gemacht werden. Wir haben, durch die ganze zivilisierte Welt gehend, in den letzten fünf Jahren fast nur Erlogenes vernommen, und wir leben noch immer unter den Nachwirkungen der Lüge. Es ist notwendig, diese Dinge ernsthaftig ins Auge zu fassen.

Sie sehen hier ganz durchsichtig an einem Beispiel, wie die Dinge liegen. Wenn die Dinge einem nicht so ins Haus getragen werden durch das Karma, daß das Individuelle zu gleicher Zeit ganz ausschlaggebend ist für das Allgemeine, dann werden sich noch immer Leute finden, welche zu Kompromissen stimmen möchten, die zum Beispiel Verleumder wie einen Ferrie`re noch immer w1e einen Menschen behandeln, mit dem man sich einläßt auf gleich und gleich, während er zum Abschaum der Menschen gehört, indem er in gewissenloser Weise etwas hinschreibt, was er ungeprüft hinnimmt. Diese Dinge sind heute für den Menschen, der auf einem gesunden Boden stehen will, nicht mehr erlaubt.

Wenn ich vielleicht nicht dieses Beispiel vom Entstehen einer Sache gerade zur Hand hätte, würde man mir nicht so leicht glauben, daß heute Fabriken für Brieffälschungen bestehen, auf Grund deren «man» dann die Leute so in der Öffentlichkeit behandelt, wie das in diesem Zeitungsartikel geschehen ist.

Aber das geschieht heute ja immer und immer, und ein großer Teil dessen, was Sie lesen, besteht in nichts anderem als in den Blüten dieses moralischen Sumpfes, und es gehört einfach heute zu einer gesunden, zu einer ernsthaften und ehrlichen Weltaufrassung, diese Dinge zu wissen und diese Dinge entsprechend zu behandeln. Es ist heute den Menschen nicht gestattet, Kompromisse zu schließen mit Menschen, die in dieser Weise mit der Verleumdung arbeiten. Denn damit rechtfertigt man das nicht, daß man sagt: Man muß gegen alle Menschen wohlwollend sein

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Liebe gegen alle Menschen! - Liebe gegen solche Menschen bedeutet äußerste Lieblosigkeit gegen die, die verleumdet, die entstellt werden. Es handelt sich doch darum, zu wissen, wohin man mit der Liebe soll. Denn das Verbrechen lieben, kann nimmermehr zur Gesundung der Menschlieit führen. Daß solche Dinge kommen mußten, das konnte man voraussehen. Aber man konnte es nicht nur an dem voraussehen, wie gearbeitet worden ist von gewissen Seiten. Sie brauchen ja nur die jesuitische Literatur aufzuschlagen, die seit der kirchlichen Verurteilung der anthroposophlschen Schriften im Juli 1919 losgelassen worden ist. Sie brauchen nur die Menschen ins Auge zu fassen, die da schreiben, und einmal zu prüfen, was für Zugänge zur Wahrheit diese Menschen haben, dann haben Sie natürlich alles das, was schließlich in solche Sümpfe hineinftihren muß. Ich will heute nicht über die ganz trüben Quellen sprechen, die mir sehr gut bekannt sind und durch deren Bekaintschaft ich auch weiß, wie alle diese Dinge zusammeniiängen und wie sie nur ein Anfang sind.

Wünschen möchte ich nur, daß möglichst wenig Menschen so naiv sind, zu glauben, man könnte mit Widerlegungen da etwas ausrichten.

Jenen Leuten handelt es sich nicht darum, dieses oder jenes zu behaupten, sondern nur, etwas Saftiges zu behaupten, wodurch sie den andern herabsetzen. Was sie behaupten, das ist diesen Leuten ganz gleichgültig.

Aber nicht nur das ist zu berücksichtigen, daß wir heute zahlreiche solche Menschen unter uns haben, die in dieser Weise arbeiten, sondern auch das ist zu berücksichtigen, daß wir schon seit Jahrzehnten im großen Publikum aus Schläfrigkeit entspringend eine weitgehende Toleranz haben gegen dieses Treiben, ein Nicht-hinsehen-Wollen darauf, wie eigentlich heute öffentliche Meinung gemacht wird. Das aber ist der wichtigste Teil dessen, was zur Besserung führen kann. Solange nicht Leute von dem Kaliber des Jesuiten Zimmermann oder des Universitätsprofessors Dessoir in der entsprechenden Weise behandelt werden, so lange kann keine Gesundung kommen. Die Menschen, die ihnen gegenüberstehen und innen nicht die richtige Behandlung angedeihen lassen, die sind schuldiger noch als diese Individuen. Denn diese Individuen betreiben bei diesen Dingen ihre Geschäfte, wenn auch in so schmuuiger Weise wie der Professor Dessoir. Ich habe Ihnen das vor

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einiger Zeit charakterisiert. Aber es handelt sich darum, daß nun endlich aufgewacht werde. Denn von einem Dessoirschen Buch oder einer Zimmermannschen Kritik führt ein gerader Weg nach diesen Sümpfen hin, die ich Ihnen charakterisieren konnte. Ich mußte dieses auch nicht anders als in der Absicht anführen, die Symptome zu zeigen für die Kräfte, die In unserer Zeit wirksam sind, um jedes für den Geist berechtigte Streben niederzudrücken. Und so möchte ich auch noch die Tatsache erwähnen, daß mir neulich hier ein Artikel gegeben worden ist, der angeblich bestimmt war für das Brockhaussche Konversationslexikon, für das jener berüchtigte Dessoir - bei uns nur berüchtigt! - die Artikel schreiben sollte über Anthroposophie; in derselben Zeit, in der er durch einen Mittelsmann sich diese Artikel von mir schreiben ließ, schrieb er an seinem Buche, diesem Schandbuche. Aber denken Sie jetzt den Fall, daß dieser Artikel etwa hier liegen würde in unserem hiesigen Archiv! Er würde später einmal dort gefunden werden als ein Artikel, der von mir herrühren soll. Da würde also einmal jemand sagen können: Ja, den Artikel im Archiv hat doch Steiner abgeschrieben aus Dessoirs Artikel im Lexikon und für sich in Anspruch genommen! - Derlei Blüten können getrieben werden, wenn man nicht wach ist! Es können einem erst die Dinge durch literarische Diebe gestohlen werden, und dann können sie In einer solchen Weise figurieren irgendwo, daß nicht der, der sie gemacht hat, sondern der, der sie gestohlen hat, als der Autor gilt und der, welcher der Autor ist, für den Dieb gilt!

Die moralische Frage muß heute von mancherlei Seiten her in Angriff genommen werden; aber sie wird von niemandem in gedeihlicher Weise in Angriff genommen werden, der nicht auf dem Boden einer gesunden spirituellen Wissenschaft steht. Das ist das, was ich in dem Anhange zu dem heutigen Vortrage aus der Gegenwartsgeschichte heraus Ihnen doch auch mitteilen wollte.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 18. Januar 1920

Es ist unmöglich, daß der Mensch von der Gegenwart ab in die Zukunft hinein zu einer wirklichen Selbsterkenntnis, zu einem Selbstgefühl auch von seinem Wesen komme, ohne daß er in Beziehung tritt zur Wissenschaft der Initiation, aus dem Grunde, weil in allem, was der Mensch hier in dieser Welt erfahren kann, ohne daß er Rücksicht nimmt auf die Wissenschaft der Initiation, die Kräfte nicht darinstecken, aus denen heraus das menschiiche Wesen wirklich geformt ist. Sie müssen nur, um sich eine entsprechende Vorstellung von dem zu machen, was ich damit eigentlich sagen will, an manches denken, was Ihnen ja geläufig ist aus unseren anthroposophischen Betrachtungen. Sie müssen daran denken, daß der Mensch außer dem, daß er hier sein Leben zwischen der Geburt und dem Tode durchniacht, immer wiederum Leben durchinacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Geradeso wie wir hier die Erlebnisse haben durch die Werkzeuge unseres leiblichen Wesens, so haben wir die Erlebnisse zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und diese Erlebnisse sind durchaus nicht ohne Bedeutung für das, was wir hier tun, während wir im physischen Leibe unser irdisches Dasein verbringen. Diese Erlebnisse sind aber auch nicht ohne Bedeutung für dasjenige, was überhaupt auf der Erde geschieht. Denn nur ein Teil, und zwar ziemlich der geringere Teil desjenigen, was hier auf der Erde geschieht, rührt von den im physischen Leibe Lebenden her. Die Toten wirken ja fortwährend herein in unsere physische Welt. Und die Kräfte, von denen der Mensch heute im materialistischen Zeitalter gar nicht sprechen will, sind doch da. Es sind fortwährend aus der geistigen Welt nicht nur von den Wesen der höheren Hierarchien ausgehende Kräfte hier in der physischen Welt vorhanden, welche unsere physische Umgebung konfigurieren, durchdringen, sondern es sind auch Kräfte hinein imprägniert in das, was uns umgibr, was uns ergreift, die von den toten Menschen ausgehen. So daß über das Menschenieben ein Vollständiges ja nur erfahren werden kann, wenn man über das hinausblickt, was die Sinneserfahiung und auch die historische Erfahrung hier auf der Erde

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geben kann. Das, was vorhanden ist an solchen Kräften, ist aber schließlich auch einzig und allein das, was überhaupt den ganzen Menschen, den ganzen Gang der menschlichen Entwickelung über die Erde hin verständlich macht. Es wird ein Jahr kommen in der physischen ErdenentwickeIung, dieses Jahr wird, sagen wir, ungefähr das Jahr 5700 und einiges sein, in diesem Jahre, oder um dieses Jahr herum, wird der Mensch, wenn er seine richtige Entwickelung über die Erde hin vollzieht, nicht mehr die Erde so betreten, daß er sich verkörpert in Leibern, die von physischen Eltern abstammen. Ich habe öfters gesagt, die Frauen werden in diesem Zeitalter uhfruchtbar. Die Menschenitinder

werden dann nicht mehr in der heutigen Weise geboren, wenn die Entwickelung über die Erde hin normal verläuft.

Über eine solche Tatsache darf man sich keinen Mißverständnissen hingeben. Es könnte zum Beispiel auch folgendes eintreten: Es könnten die ahrimanischen Mächte, welche unter dem Einfluß der gegenwärtigen Menschenimpulse sehr stark werden, die Erdenentwickelung verkehren; sie könnten die Erdenentwickelung in gewissem Sinne pervers machen. Dadurch würde - gar nicht zum Menschenheile - über diese Jahre im 6. Jahrtausend hinaus die Menschheit in demselben physischen Leben erhalten werden können. Sie würde nur sehr stark vertieren; aber sie würde in diesem physischen Leben erhalten werden können. Das ist eine der Bestrebungen der ahrimanischen Mächte, die Menschheit länger an die Erde zu fesseln, um sie dadurch von ihrer Normalentwickelung abzubringen. Aber wenn die Menschheit wirklich das ergreift, was in ihren besten Entwickelungsmöglichkeiten liegt, so kommt einfach im 6. Jahrtausend diese Menschheit zum Irdischen in eine Beziehung, die für weitere zweieinhalb Jahrtausende so ist, daß der Mensch zwar noch mit der Erde ein Verhältnis haben wird, aber ein Verhältnis, das sich nicht mehr darin ausdrückt, daß physische Kinder geboren werden. Der Mensch wird gewissermaßen als Geist-Seelenwesen - um es anschaulich aus~drücken, will ich sagen: in den Wolken, im Regen, in Blitz und Donner rumoren in den irdischen Angelegenheiten. Er wird gewisser'naßen die Naturerscheinungen durchvibrieren; und in einer noch spä:eren Zeit wird das Verhältnis zum Irdischen noch geistiger werden.

Von allen diesen Dingen kann heute nur erzählt werden, wenn man

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einen Begriff hat von dem, was geschieht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Obzwar nicht eine vollständige Gleichheit herrscht zwischen der Art und Weise, wie der Mensch heute zwischen dem Tode und einer neuen Geburt zu den irdischen Verhältnissen in Beziehung steht, und der Art, wie er dann, wenn er sich gar nicht mehr physisch verkörpern wird, dazu in Beziehung stehen wird, so ist doch eine Ähnlichkeit vorhanden. Wir werden gewissermaßen, wenn wir verstehen, der -Erdenentwickelung ihren wirklichen Sinn zu geben, dann dauernd in ein solches Verhältnis zu den irdischen Angelegeniieiten kommen, wie wir jetzt dazu bloß stehen, wenn wir zwischen dem Tod und einer neuen Geburt leben. Es ist das jetzige Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt nur etwas, ich möchte sagen, geistiger, als öes dann sein wird, wenn der Mensch dauernd in diesen Verhältnissen sein wird.

Aber man kann zum Verständnis dieser Dinge noch lange nicht aufsteigen ohne die Wissenschaft der Initiation. Die meisten Menschen glauben heute noch immer, das Wesentliche im Aneignen der Wissenschaft der Initiation bestehe darin, daß man allerlei geistige Erfahrungen sammelt, aber nicht auf dem Wege, der uns einmal beschieden ist im physischen Leibe. Man schätzt heute selbst die Erfahrungen, die auf spiritistischem Wege gewonnen werden, höher als das, was mit dem gesunden Menschenverstand eingesehen werden kann. Das rührt nur davon her, daß man diesen gesunden Menschenverstand eben heute gar nicht in einer irgendwie gesunden Weise verwendet. Alles, was durch einen Initiierten erkundet wird und mitgeteilt werden kann, ist, wenn man sich nur die nötige Mühe gibt, durch den gewöhnlichen, wirklich nchtig gebrauchten gesunden Menschenverstand einzusehen. Auch der Initiierte hat die Aufgabe, vor allen Dingen das, was er erkunden kann aus der geistigen Welt, in die Sprache des gesunden Menschenverstandes zu übersetzen. Es hängt viel mehr davon ab, daß diese Übersetzung in die Sprache des gesunden Menschenverstandes richtig ist, als davon, daß man Erfahrungen in der geistigen Welt macht. Natürlich kann man nichts in den gesunden Menschenverstand übertragen, wenn man nicht diese Erfahrungen macht. Aber die unverarbeiteten Erfahrungen, die einfach gewonnen werden, ohne daß man den gesunden Menschenverstand zum Interpreten benützt, sind eigentlich wertlos, haben eigentlich

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nicht die richtige Bedeutung für das Menschenleben. Wenn noch so viele übersinnliche Erfahrungen gewonnen werden könnten und die Menschen es verschinähen würden, den gesunden Menschenverstand in richtiger Weise anzuwenden, so würden diese Erfahrungen für die Zukunft gar nichts der Menschlieit nützen. Im Gegenteil, diese Erfahrungen wurden der Menschlieit erheblich schaden. Denn brauchbar ist eine über- sinnliche Erfahrung erst dann, wenn sie umgesetzt ist in die Sprache des gesunden Menschenverstandes. Und das eigentliche Übel unserer Zeit liegt nicht darin, daß die Menschen nicht übersinnliche Erfahrungen haben. Übersinnliche Erfahrungen könnten die Menschen genug haben, wenn sie sie haben wollten; die sind da. Man wendet nur den gesunden Menschenverstand nicht an, um zu ihnen zu kommen. Was heute fehlt, das ist gerade die Anwendung des gesunden Menschenverstandes.Es ist ja natürlich nicht bequem, das einem Zeitalter und Geschlecht sagen zu müssen, das sich gerade besonders viel einbildet auf die Handhabung dieses gesunden Menschenverst;andes. Aber, womit es am schlechtesten bestellt ist in der Gegenwart, das ist nicht etwa die übersinnliche Erfahrung; womit es am schlechtesten in der Gegenwart bestellt ist, das ist die gesunde Logik, das ist wirklich gesundes Denken, das ist vor allen Dingen auch die Kraft der Wahrhaftigkeit. In dem Augenblick, wo Unwahrhaftigkeit sich geltend macht, schmelzen die übersinnlichen Erfahrungen ab, da kommen die Menschen nicht zu einem Verständnis der übersinnlichen Erfahrungen. Das wollen die Menschen nur Immer nicht glauben. Es ist aber doch so. Die erste Anforderung, um überhaupt mit der übersinnlichen Welt zurechtzukommen, ist die, daß man die peinlichste Wahrhaftigkeit mit Bezug auf die sinnlichen Erfahrungen anwendet. Wer es mit den sinnlichen Erfahrungen nicht genau nimmt, der kann nie zur richtigen Erfassung der übersinnlichen Welt kommen. Man kann noch so viel hören über die übersinnliche Welt, es bleibt leeres Wortgeschelle, wenn nicht vorhanden ist die peinlichste Gewissenhaftigkeit im Formulieren dessen, was hier in der physischen Welt vor sich geht. Wer aber die Menschheit heute beobachtet, wie sie umgeht mit der sinnenfälligen Wahrheit, der wird natürlich zu dem allertrübsten Bilde kommen. Denn eigentlich handelt es sich den meisten Menschen heute gar nicht darum, irgend etwas, was sie erlebt haben, so zu formulieren,

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daß die Formulierung ein Abbild desjenigen ist, was sie erlebt haben, sondern es handelt sich für die Menschen darum, die Dinge so zu formulieren, wie sie sie haben wollen, wie es ihnen bequem ist, und die Menschen wissen gar nicht, wie die Impulse vorhanden sind, um nach der einen oder nach der andern Richtung hin abzuirren von einer getreulichen Formulierung des physisch Erlebten. Wenn wir von Kleinem -absehen, brauchen wir heute nur auf alle die Impulse zu sehen, welche aus den gewöhnlichen menschlichen Zusammeiihängen kommen, aus denen die Menschen dies oder jenes in bezug auf die Wahrheit frisieren möchten. Ferner brauchen wir nur darauf hlnzusehen, daß heute über gewisse Dinge die meisten Menschen überhaupt nicht das Wahre sagen, weil sie irgendwie national oder dergleichen engagiert sind. Wer national engagiert ist nach der einen oder nach der andern Richtung, kann über gewisse Dinge überhaupt nicht die Wahrheit denken oder sagen in dem Sinne, wie sie heute aufzufassen ist. Daher wird über die Ereignisse der letzten vier bis fünf Jahre fast gar nicht die Wahrheit gesagt, weil die Leute überall sie von diesem oder jenem Punkt des nationalen Interesses aus sprechen. Daß von solchen Dingen Unendliches abhängt, wenn man sich der übersinnlichen Welt nähern will, das einzusehen ist notwendig. In einem Zeitalter, in dem solches möglich ist, wie ich Ihnen gestern am Schlusse charakterisiert habe - glauben Sie, daß da viele Zugänge zur Wahrheit offenliegen? Das tun sie nicht. Denn diejenigen Menschen, die in solchen Sümpfen von Unwahrheit drinnenstecken, wie wir sie gestern konstatieren konnten, die verbreiten Dunst und Nebel, der niemals das durchläßt, was als übersinnliche Wahrheit vom gesunden Menschenverstand begriffen werden soll. Ebensowenig wollen die Menschen in Wahrheit, in Wirklichkeit einsehen, daß ein gerades Verhältnis zwischen Mensch und Mensch notwendig ist, wenn die übersinnlichen Wahrheiten in entsprechender Weise ins soziale Leben eingreifen sollen. Man kann nicht auf der einen Seite die Wahrheit «frisieren» und auf der andern Seite übersinnliche Angelegenheiten verstehen wollen.

Wenn man diese Dinge ausspricht, so erscheinen sie fast selbstverständlich, aber sie sind tatsächlich so wenig selbstverständlich, daß sie heute eigentlich fortwährend jeder vor sich selbst wiederholen sollte. Denn nur dadurch ist allmählich das zu erreichen, was auf diesem Felde

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zu erreichen notwendig ist. Man muß nur bedenken, daß völlig ernst zu nehmen ist, was ich in diesen Tagen hier sagte über das Hauptprinzip des sozialen Zusammenlebens: Es muß auf Vertrauen begründet sein in dem Sinne, wie ich das hier charakterisiert habe. In vieler Beziehung wird dieses Vertrauen auch in der Zukuiift notwendig sein mit Bezug auf die Erkenntniswege, mit Bezug darauf, daß tatsächlich diejenigen, die in der Lage sind, etwas zu sprechen über die Wissenschaft der Initiation, so behandelt werden, daß man wirklich ihre Aussagen nur mit dem gesunden Menschenverstand prüft, nicht mit Sympathie und Antipathie und dergleichen, auch nicht durch den Spiegel des einen oder des andern persönlichen Gefühles. Immer wieder und wiederum sollte es durchaus klar sein, daß diese Anthroposophische Gesellschaft ein wahrhaftiger Träger der übersinlichen Wahrheiten in die Welt werden sollte. Dadurch könnte sie außerordentlich Notwendiges und außerordentlich Bedeutungsvolles wirken für die Menschheitsentwickelung.

Nun muß aber bedacht werden, daß Erfahrungen sammeln in über- sinnlichen Welten durchaus eine offenbar ernste Angelegenheit ist. Ich habe Ihnen vor einiger Zeit hier davon gesprochen, wie ein Freund unserer Sache kurz vor seinem Tode, der infolge Kriegsverwundung eingetreten ist, Zeilen niedergesclirieben hat, in denen er im Angesichte des Todes davon spricht, wie die Luft graniten wird, hart wird. Ich habe damals darauf aufmerksam gemacht, wie das eine durchaus wahre Erfahrung ist. Denn nehmen Sie nur die allerelementarsten Dinge, die in Betracht kommen beim Übertritt über die Schwelle der geistigen Welt, so können Sie den ganzen Ernst der Sache daran ermessen. Wenn wir hier in unserem Tagesleben sind - oder meinetwillen auch in unserem Nachtleben, denn da ist ja elektrisches Licht -so bescheint die Sonne, das Sonnenlicht die Dinge um uns herum. Die Dinge sind uns durch das Sonnenlicht sichtbar. Die andern Sinne nehmen auf älinliche Weise die Dinge um uns herum wahr. In dem Augenblick, in welchem die Schwelle überschritten wird, da muß der Mensch, wenn ich mich auf das Beispiel des Sonnenlichtes beschränke, in seinem inneren Wesen eins werden mit dem Lichte. Er kann nicht durch das Licht die Dinge sehen, weil er ja in das Licht hineinkriechen muß. Man kann nur so lange die Dinge mit Hilfe des Lichtes sehen, als das Licht außerhalb ist. Wenn man mit

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dem Lichte sich selbst bewegt, kann man nicht mehr die Dinge sehen, die das Licht bescheint. NUn merkt man aber erst dann, wenn man mit seinem Seelenwesen also im Lichte sich bewegt, daß eigentlich unser Denken eine Einheit ist mit dem in der Welt webenden Lichte.

Es ist ja zunächst nur für das physische Leben richtig, daß wir ein Denken haben, das an unseren Leib gebunden ist. In dem Augenblick, wo wir diesen Leib verlassen, haben wir kein abgerundetes Denken, sondern das, was Denken ist, verwebt sich mit dem Lichte, lebt im Lichte und ist eins mit dem Lichte. In dem Augenblick aber, wo so das Licht unser Denken aufnimmt, hört die Möglichkeit auf, auf so bequeme Weise ein Ich zu haben, wie der Mensch dieses Ich zwischen der Geburt und dem Tode hab Er tut ja gar nichts dazu. Sein Leib ist so eingerichtet, daß sich sein Wesen durch diesen Leib spiegelt, und dieses Spiegelbild nennt er sein Ich. Es ist ein richtiges Spiegelbild des wahren Ich, aber es ist eben ein Spiegelbild; es ist ein bloßes Bild. Es ist ein Bild-Gedanke, ein Gedanken-Bild. Und das fließt in dem Momente, in welchem die Schwelle überschritten wird, in das Licht aus. Würde man jetzt nicht einen andern Halt für das Ich finden, so würde man überhaupt kein Ich haben. Denn dieses Ich, das man hier zwischen Geburt und Tod hat, hat man durch den Leib zupräpariert. Man verliert es in dem Augenblicke, in welchem man den Leib verläßt, und man kann dann nur ein Ich dadurch erleben, daß man eins wird mit dem, was man nennen kann die Kräfte des Planeten, namentlich mit den verschiedenen Variationen der Schwerkraft des Planeten. Man muß dann tatsächlich so eins werden mit dem Planeten, mit der Erde, daß man sich so als ein Glied der Erde empfindet, wie sich der Finger als ein Glied unseres Organismus empfindet. Dann findet man mit der Erde zusammen die Möglichkeit, wiederum ein Ich zu haben. Und dann merkt man, daß so, wie man sich jetzt des Denkens bedient im physischen Leib, man sich so nachher des Lichtes bedienen kann. So daß man sagen müßte vom Gesichtspunkte der Initiation aus: Man lebt mit der Erdenschwere und beschäftigt sich leuchtend mit der Welt. - Das wäre dieselbe Tatsache für das Erleben jenseits der Schwelle, wie wenn man hier sagt: Man lebt in seinem Leibe und denkt über die Dinge. - Im Leben zwischen Geburt und Tod sagt man: Man lebt im Leibe und beschäftigt sich denkend mit Dingen. -

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Sobald man den Leib verläßt, muß man sagen: Man lebt mit der Schwerkraft oder mit ihren Variationen, Elektrizität, Magnetismus der Erde, und beschäftigt sich leuchtend, indem man im Lichte lebt, mit den Dingen der Welt.

Dann aber, wenn man das ausspricht, was man auf diese Weise erleuchtet, so wie man sonst im Leben die Dinge erdenkt, dann ist es durchaus erfaßbar und begrei11lich für den gesunden Menschenverstand. Und auch der Initiierte hat gar nichts von seinen übersihrilichen Erfahrungen, wenn er nicht den gesunden Menschenverstand richtig entwickelt. Wenn heute einer so denkt - bitte betrachten Sie das, was ich jetzt sage, als etwas wirklich sehr Ernstes -, daß er möglichst gut jene Aiiforderungen zufriedenstellt, die heute bei unseren Schulprüfungen gestellt werden an die Menschen, wenn er sich solche Denkgewohnheiten aneignet, daß er dem heutigen Professorentum in der befriedigendsten Weise Prüfungen ablegen kann, dann ist sein gesunder Menschenverstand so verschroben, daß er, wenn auch Millionen von Erfahrungen der übersinnlichen Welt ihm auf dem Präsentierteller gereicht würden, er sie ebensowenig sehen würde, wie Sie in einem finsteren Zimmer physisch das sehen können, was in diesem finsteren Zimmer sich befindet. Denn durch dasjenige, was die Menschen für das materialistische Zeitalter heute tauglich macht, verfinstern sie sich den Raum, in dem ihnen entgegentreten die übersinnlichen Welten. Die Menschen werden heute gewöhnt, so zu denken, wie nur in Gemäßheit der Funktionen des Leibes gedacht werden kann. Das wird den Menschen von Jugend auf eingewöhnt. Aber der gesunde Menschenverstand ist nicht das, was sich auf der Grundlage des Leibes entwickelt. Der gesunde Menschenverstand ist das, was sich entwickelt in freier Geistigkeit. Aber die freie Geistigkeit wird den Menschen heute schon in unseren niedersten Schulen aberzogen. Schon die Lehrmittel sind so, daß die Menschen verhindert werden, eine wirklich freie Geistigkeit zu entwickeln. Was würde es nützen, wenn diese wichtigen Zeitwahrheiten einfach vor den Menschen verhüllt werden? Die Menschen würden ja doch nicht einsehen, warum man es sich so angelegen sein läßt, so etwas wirklich ins Werk zu setzen wie die Stuttgarter Waldorfschule. Aber durch diese Stuttgarter Waldorfschule soll wenigstens zunächst einem Teil von

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Menschenkindern die Möglichkeit geboten werden, aus der Verschrobenheit des Zeitalters herauszukommen und wirklich die Möglichkeit zu gewinnen, im freien Denkelemente sich zu bewegen. Ehe nicht die Dinge von dem Gesichtspunkt dieses Ernstes aus betrachtet werden, kommen wir ja nicht vorwärts.

Die Tendenz ist heute noch viel zu allgemein, die etwa in dem Folgenden besteht. Die Leute möchten Anthroposophie oder so etwas Ahnliches, weil sie der gewöhnlichen Form des Alten überdrüssig sind. So möchten sie etwas Neues haben. Aber dieses Neue soll womöglich nach irgendeiner Richtung hin doch wiederum «eingeschleimt» werden in alle alten Menschheitsvorurteile. Ich habe viele Leute kennengelernt - es ist nämlich gar nicht unangebracht, sich über diese Dinge gar keiner Täuschung hinzugeben -, die haben wahrgenommen, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft etwas Richtiges über das Christentum, über das Mysterium von Golgatha verbreiten will. Aber es gab darunter solche Menschen, denen das nur aus dem Grunde recht war, weil sie dadurch wiederum weniger anstößig wurden in der Kirche, die deshalb die anthroposophlsche Geisteswissenschaft oppoituner gefunden haben als eine andere irgendwie geartete Geisteswissenschaft, die zum Christentum anders steht. Bei ihr handelt es sich allerdings nur um die Wahrheit; aber den Menschen, die das hingenommen haben, hat es sich nicht immer um die Wahrheit gehandelt, sondern oft nur um die Opportunität. Es ist ja natürlich in der Gegenwart unbequem, sich gestehen zu müssen, wie die Vertreter der Bekenntniskirchen es äußerlich mit der Wahrheit nehmen und schließlich ihre Bekennerschaft erst recht. Das färbt auch ab auf die Ungläubigen. Diese kulturhistorische Erscheinung muß durchaus ins Auge gefaßt werden.

Man muß zum Beispiel, wenn man sich in der richtigen Weise den übersinnlichen Welten nähern will, Interesse für alle Dinge haben, aber für nichts Neugierde. Den Menschen ist es aber so angenehm, ihre Neugierde mit dem Interesse zu verwechseln. Man mUß sich in der Tat an- gewöhnen, über alle Dinge nicht nur anders denken zu lernen, sondern anders fühlen zu lernen. Wenn schließlich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ein Mäntelchen bekommt, durch das sie in der Gesinnungsatmosphäre der Kaffeeklatsche figurieren kann oder

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dessen, was in unserer Zeit ähnlich ist den Kaffeeklatschen, dann ist das nicht zur Förderung dieser anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, so daß diese ihre Aufgabe wirklich erfüllen kann. Denn diese Aufgabe ist eine durchaus ernste.

Die Gegnerschaften, die in der heutigen Zeit sich in einer so schmierigen Weise geltend machen, die rühren lediglich davon her, daß man merkt: Hier handelt es sich nicht um eine Sekte, um so eine «bessere Farnlliengesellschaft», die viele Leute haben möchten, sondern hier handelt es sich darum, daß etwas wirklich sich erheben will zu den Impulsen, die die Zeit notwendigerweise braucht. Aber was interessieren die meisten Menschen heute die Impulse, die die Zeit braucht? - Wenn sie nur die Wollust empfinden können, auch irgend etwas von einer neuen Religion zu haben! - Dieser seelische Egoismus, der sehr viele zur anthroposophlsch orientierten Geisteswissenschaft treibt, muß überwunden werden. Man muß, wenn man heute richtig diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft auffassen will, ein tatsächliches Interesse für die großen Angelegenheiten der Menschheit haben. Es müssen einen die großen Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Sie treten durchaus auf in den scheinbar kleinsten Angelegenheiten des Lebens, diese großen Angelegenheiten und Zusammenhänge des Menschlieitslebens. Aber nach einer Richtung hin muß das ganze Empfindungsgefüge unseres Menschenwesens sich ändern, wenn wir den gesunden Menschen- verstand so orientieren wollen, daß er, ich möchte sagen, in der richtigen Strömung der Geisteswissenschaft läuft. Ich möchte nur das noch einmal sagen: Es muß das ganze Gefüge unseres Seelenlebens sich nach einer bestimmten Richtung hin ändern, wenn unser gesunder Menschenverstand sich so orientieren soll, daß er in der Strömung läuft, welche über die Menschheit durch anthroposophlsch orientierte Geisteswissenschaft kommen soll. Denn wie sind wir hier durch diejenige Menschheitskultur, die in den Materialismus hineingedampft ist, zunächst orientiert?

Wir sind so orientiert, daß wir uns fühlen als leibliche Menschen. Da stehen wir nun mit unseren Khochen, mit unseren Muskeln, mit unseren Nerven. Wir fühlen uns als leibliche Menschen. Und so, wie unser Leib funktioniert, macht er es wie ein Spiegel, daß er uns unser Ich entgegenwirff, schematisch gezeichnet:

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#Bild a S.99

#Bild b S.99

Tafel 4

Ja, sehen Sie, Ihr wahres Wesen, das ist ja irgendwo in geistigen Regionen. Da ist Ihr Leib. Dieser Leib wird zum Spiegel und wirft Ihnen von sich aus das Ich-Bild zurück (siehe Zeichnung). Das Ich ist da, aber das Ich-Bild wird Ihnen zurückgeworfen vom Leib. Sie wissen von diesem Ich-Bild, wenn Sie dahin [auf den Leib] blicken, mit dem Menschen hinblicken, von dem die meisten Menschen der Gegenwart nichts wissen, in dem sie aber leben. So wird Ihnen vom Leibe Ihr Ich zurückgespiegelt und ebenso die Gedanken und Gefühle und Willensimpulse. Das wird zurückgespiegelt. Und hinter diesem Ich-Bild, da ist dann der Leib (siehe Zeichnung), und der Mensch nennt diese Bilder, die ihm da entgegengespiegelt werden, seine Seele, und hinter der Seele erblickt er den Leib. Auf den stützt er sich. Aber dieses Bild: Da drunter ist der Leib; da taucht das Ich heraus - dieses Bild muß sich ganz ändern. Das ist ein ganz passiv empfundenes Bild, das man nur dadurch so empfindet, daß der Leib hinter ihm ist. Man muß anders empfinden lernen. Man muß sich empfinden lernen: Da bist du in einer geistigen Welt; da sind nicht die Pflanzen, die Mineralien, die Tiere, da sind Angeloi und Archangeloi und Archai und die andern Wesen der Hierarchien, in denen lebt man drinnen. Und dadurch, daß einen diese durchimprägnieren, strahlt man das Ich aus (siehe Zeichnung S. 100).

#Bild c S.99

Tafel 5

Dieses Ich strahlt man aus der geistigen Welt hin. Dieses Ich muß man fühlen lernen, man muß fühlen lernen, daß man jenes Ich in sich hat, hinter dem die Hierarchien ebenso stehen, wie hinter diesem Ich, das nur ein Bild ist, der Leib steht, der aus den drei Naturreichen zusammen-

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gesetzt ist. Man muß aus der Passivität des Erlebens in die völlige Aktivität übergehen. Man muß fühlen lernen: Du machst aus der geistigen Welt heraus dein wirkliches Ich. - Dann lernt man auch fühlen: Dir wird dein Ich-Spiegelbild gemacht aus dem dem physischen Sein angehörigen Leibe heraus.

#Bild a S.100

#Bild b S.100

Tafel 5

Das ist eine Umkehrung des innerlichen Eifühlens, und in diese Umkehrung des innerlichen Erfühlens muß man sich einieben. Das ist das Wichtige, nicht Daten sammeln. Die ergeben sich reichlich, wenn man nur zunächst die Umkehrung des Eifühlens erlebt hat. Dann, wenn man so aktiv denkt, kommen diejenigen Gedanken, die auch das soziale Denken befruchten können. Wenn man nur das Ich spiegeln läßt, kommen immer nur diejenigen sozialen Dinge in Betracht, die so, wie ich gestern gesagt habe, durch Umlagerung der Sprache entstehen. Erst wenn man aktiv sein will in seinem Ich, dann faßt man auch freie Gedanken.

Dieses freie Denken ist in früheren Jahrhunderten, die gar nicht so weit hinter uns liegen, allerdings aus atavistischen alten Seelenanlagen heraus, noch in den Menschen gewesen. Die Menschen haben es nur eben aus Instinkt heraus als ein Ideal betrachtet, zu diesem freien Denken aufzusteigen. Wir müssen es in der Zukunft auf bewußte Weise tun. Dafür gibt es einen äußeren Beweis. Nehmen Sie sich nur einmal von den mitteleuropäischen Universitäten die Doktordiplome vor. Die Leute werden gewöhlilich nicht bloß zu Doktoren promoviert, sondern sie werden promoviert zu «Doktoren» und «Magistern der sieben freien

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Künste», Arithinetik, Dialektik, Riietorik und so weiter. Das hat heute gar keinen Sinn mehr, denn nirgends gibt es im Universitätsleben heute noch die sieben freien Künste. Das ist ein Überbleibsel, eine Erbschaft aus alten Zeiten, wo durch das Universitätsleben angestrebt wurde die Befreiung des Denkens, das Ergreifen eines Seeleniebens, das zu wirklich freiem Denken sich erheben kann. Man versteht gar nicht mehr, was freie Künste sind. Sie heißen schon deshalb «Künste», weil sie in einer jenseits des bloßen Sinneslebens liegenden` Sphäre getrieben wurden, so wie man das künstlerische Phantasieleben frei und unabhängig von der Sinnlichkeit entwickelt. Das, was da noch auf diesen Universitätsdiplomen flgurieit, das hat es einmal gegeben, wie es überhaupt vieles gegeben hat, was heute noch in den Formeln des Universitätslebens existiert. Dieser «Magister artium liberalium» ist ein sehr charakteristisches Ding.

Und so müssen Sie sich darüber klar sein, daß wieder errungen wer- den muß dieses Sich-Erfassen in Lebendigkeit. Aber es ist unbequem, denn die Leute möchten heute nicht rnit ihren Beinen, sondern auf Krücken gehen. Das ist allerdings das, was die Leute heute als ein Ideal betrachten; sie möchten, daß ihnen überall von der äußeren sinnlichen Wirklichkeit das entgegengetragen wird, was sie denken sollen. Daß das, was eigentlich gedacht werden soll, in freier Geistigkeit erlebt werden muß, das finden die Menschen unbequem, weil es wirklich ein Los- reißen aus der Bequeihlichkeit des Lebens erfordert, ein Losreißen von alledem, was als Stütze, als Krücke uns durch das Seelenieben führt. Und wenn einmal vom Gesichtspunkte eines Denkens aus gesprochen wird, das wirklich gar nichts rnit der Siiineswelt zu tun hat, sondern das ganz frei aus Intuitionen heraus schöpft, dann verstehen das die Meiischen nicht. Deshalb wurde meine «Philosophie der Freiheit» nicht verstanden, weil sie nur begriffen werden kann von einem Menschen, der nun freie Gedanken wirklich entwickeln will, der wirklich in einer neuen Art ein «Magister der freien Künste» ist.

Das sind die Dinge, die heute verstanden werden müssen init dem richtigen Gefühle und init dem richtigen Ernste. Insbesondere möchte Ich zu den englischen Freunden, die jetzt nur auf kurze Zeit hier sitzen, sagen: Es ist notwendig, dieses Wahrzeichen unseres Baues, das hier auf

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diesem Hügel aufgeführt worden ist, eben als ein äußeres Wahrzeichen aufzufassen für die so gekennzeichneten Zeichen unserer Zeit. Da soll dieser Bau stehen, damit durch ihn in der Welt gesagt werden kann: Ihr möget denken in der alten Weise, wie ihr es seit vier Jahrhunderten gewohnt worden seid in euren Wissenschaften, ihr werdet damit die Menschheit zugrunde richten. Ihr mögt in der bequemen Weise durch Krücken nach Sozialismen suchen, ihr werdet damit nur dasjenige gewahren, was schon den Tod in sich schließt. Notwendig ist heute, ein so freies Denken für das Seelehleben zu finden, wie die Formen frei sind, aus denen als architektonische oder plastische oder malerische Formen versucht worden ist, diesen Bau herauszugestalten. Daß an einem Punkt der Erde dies gesagt werde, gesagt werde nicht bloß durch Worte, gesagt werde auch durch Formen, darum handelt es sich hier! Und fühlen sollte man es, daß hier durch diese Formen etwas anderes gesagt werden soll, als sonst heute in der Welt gehört werden kann, daß aber dieses hier Gesagte in erster Linie zu dem gehört, was für die Fortentwickelung der Menschheit in erkenntnismäßiger und in sozialer Beziehung in bezug auf alle Wissenschaften und alle Zweige des sozialen Lebens eihinent notwendig ist.

Nun möchte ich - selbstverständlich auch zu den andern, aber in erster Linie jetzt zu unseren englischen Freunden - das Folgende sagen: Sehen Sie, es ist die Möglichkeit vorhanden, daß jenes Interesse, welches da war, als man an den Bau hier ging, daß dieses Interesse erlahint, daß dieses Interesse in der Zukunft, in der allernächsten Zukunft nicht in der entsprechenden Weise da ist. Was würde dann geschehen? Dieser Bau würde unvollendet bleiben, denn dieser Bau braucht noch große Opfer. Ohne große Opfer ist er nicht zu Ende zu führen. Dieser Bau würde unvollendet bleiben, dieser Bau würde dastehen als ein Torso. Das könnte durchaus sein, daß dieser Bau dastehen bleiben müßte als ein Torso. Daß er nicht ein Torso bleibt, das wird davon abhängen, daß man das richtige Verständnis dem Wollen entgegenbringt, dem dieser Bau dienen soll, das ich in der verschiedensten Weise gerade in diesen Betrachtungen hier vor Ihnen wollte zum Ausdrucke bringen.

Betrachten Sie es nicht als ein Abirren vom Idealismus oder von der Spiritualltät, wenn gesagt wird, es ist notwendig, daß dieser Bau auch

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mit äußeren Geldmitteln gebaut wird, und wenn darauf aufmerksam gemacht wird, daß diese äußeren Geldmittel eben vorhanden sein müssen. Gewiß, Sie können sagen, das ist Materialismus, die richtige Spiritualität besteht daririen, daß man sich um das Materielle nicht kümmert. Aber wenn Sie zum Beispiel jetzt nach England zurückgehen, würde es ein falscher Standpunkt sein, wenn Sie dort ankommen würden und nur davon reden würden im gegenwärtigen Augenblicke, wo so viel davon abhängt, erstens, daß dieser Bau vollendet werde, wo aber so sehr die Möglichkeit vorliegt, daß er Torso bleiben könnte, es würde völlig falsch sein, wenn Sie sagen würden: Ja, es kommt ja doch darauf an, daß man das Geistige fördert! - Nein, es kommt bei dem Idealismus und bei der Spiritualität nicht etwa noch darauf an, daß man dann Geiz entfaltet in bezug auf materielle Opfer. Geizigkeit in bezug auf materielle Opfer ist noch kein Zeichen von Spiritualität. Und wenn man auch nicht so recht zugesteht dasjenige, worauf ich jetzt ziele - so ein bißchen im Hintergrund haben es viele Menschen: Weil das eine spirituelle Sache ist, so braucht man für sie nicht materielle Opfer zu bringen! Da kann man sich schon gönnen, die Spiritualität zu bewundern, zu verehren, ihr anzuhängen, aber die Taschen fest verschließen. - Es geht eben nicht, daß wir unsere Spiritualität dadurch betätigen, daß wir die Taschen fest verschließen! Wir werden im Gegenteil zeigen, daß wir wirklich Verständnis haben für dasjenige, was hier geschehen soll, wenn wir unseren Idealismus und unsere Spiritualität dadurch bekunden, daß wir nicht sagen: Wir können gut spirituell und idealistisch sein bei fest verschlossenen Taschen-, sondern wenn wir diese Taschen öffnen. Denn von den offenen Taschen hängt tatsächlich vieles ab: Das Matenelle ist ja doch wirklich, nicht wahr, dabei das Unbedeutende. Also betrachten wir es nicht ganz so bedeutend, sagen wir, die Tasche zu- zulassen. Betrachten wir es mit der nötigen Unbedeutendheit, dann wird sich die Sache finden. Aber wir brauchen dazu ein wenig Kraft, denn natürlich, wir müssen zu den Leuten gehen und müssen sie veranlassen, daß sie Opferwilligkeit entfalten. Das wollen sie nicht sogleich. Es ist auch nicht damit getan, daß wir den Leuten die Sache beibringen in der Art,, wie sie sie schon verstehen. Man stellt an uns jetzt vielfach die Anforderungen: wir sollten für diese oder jene Leute, die vielleicht dann

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ihre Taschen aufmachen - ich glaube zwar nicht, daß sie sie sehr stark, aufmachen würden -, aber die dann vielleicht ihre Taschen aufmachen, wir sollten möglichst, ja, so wie man die Leimspindeln macht, wenn die Vögel sich daran fangen sollen, man sollte möglichst, damit die Leute verstehen, wir sollen dies und das. - Aber darum handelt es sich gerade, daß wir den Leuten ein neues Verständnis beibringen sollen und daß sie für das entflammt werden sollen, daß sie die Taschen aufmachen nämiich, was ein sehr starkes Enfflammen bei vielen Menschen notwendig macht! Es handelt sich darum, daß sie für etwas Neues, das sie noch nicht verstehen, die Taschen aufmachen sollen, und daß sie wirklich auch einmal für das Geistige die Taschen aufmachen sollen.

Sehen Sie, ich rede scheinbar auch materiell. Aber, meine lieben Freunde, nicht gesagt habe ich dasjenige, was ich heute sage, schon jahrelang, und ich kann Ihnen die Versicherung geben: das Nichtsagen hat meistens viel weniger geholfen, als ich hoffen möchte, daß jetzt einmal das Sagen hllft. Ich würde ja gerne einmal das Sagen unterlassen von solchen Dingen, wenn das Nichtsagen geholfen hätte! Und darauf kommt es doch an, daß geholfen werde. Und es ist heute sehr nötig, meine lieben Freunde. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwa damit behaupten will: Gehen Sie jetzt nach England, und sagen Sie bloß den Leuten, die in Dornach wollen zunächst Geld; das meine ich gar nicht, sondern es handelt sich schon darum, daß das Geld ganz gleichgültig und wertlos ist, wenn es nicht verwendet wird im Dienste des Allerspirituellsten, wenn es nicht verwendet wird dahingehend, daß gerade dasjenige, was hier spirituell gewollt wird, durch die Welt vibriert. Wenn das nicht wäre, wenn das nicht sein könnte, daß gerade der Geist, der hier verkörpert sein soll, durch die Welt vibriert, dann brauchen wir den Bau nicht, dann mag er Torso bleiben!

Also auf der einen Seite mit ganzer Hingabe gerade dem Spirituellen dienen, das hier gewollt wird, auf der andern Seite aber eben möglich machen, daß dieses Spirituelle auch in der Welt sein kann. Ich kann Ihnen die Versicherung geben: Ich würde diesen Appell heute nicht an Sie gerichtet haben, wenn er nicht notwendig wäre. Haben Sie wenigstens so viel Vertrauen zu mir, daß Sie glauben, daß ich mich entschlossen habe zu diesem Appell aus einer gewissen Notwendigkeit heraus,

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weil ich einsehe, daß es notwendig ist, daß Sie, indem Sie über den Kanal fahren, nicht nur denken: Wir verbreiten jetzt die spirituellen Lehren, im übrigen mögen die in Dornach sehen, wie sie ihren Bau fertig kriegen> denn das ist ja doch nur etwas Materielles -, es wäre mir ja angenehm, wenn ich so sprechen könnte, aber es geht heute nicht, denn es ist dringend notwendig, ich muß schon noch einnial ganz trocken realistisch das sagen, es ist dringend notwendig, meine lieben Freunde, verzeihen Sie, daß ich es ganz trocken ausspreche, daß wir in der nächsten Zeit für alles das, was zu geschehen hat, viel, viel Geld erhalten, recht viel. Das sage ich jetzt wahrhaftig nicht aus Geldgier, sondern ich sage es aus dem Grunde, weil nur das deutliche Aussprechen desjenigen, was ich eben jetzt deutlich aussprechen mußte, uns verhindern wird, dasjenige, was hier begonnen wird, einen Torso sein zu lassen. Also insbesondere m&hte ich mich an die englischen Freunde richten, daß Sie, wenn Sie nach der grünen Insel wieder hinüberkommen, nicht vergessen, bei Ihren Freunden und so weiter, auch in derjenigen, mir etwas unbehaglichen Richtung zu wirken, die ich jetzt in einem bestimmten Ton angeschlagen habe. Es ist sehr, sehr notwendig.

Nächsten Freitag um sieben Uhr werden wir den nächsten Vortrag haben. - Ich möchte nur noch hinzufügen, ich habe aber auch nebenbei für diejenigen gesprochen, die nicht in nächster Zeit über den Kanal fahren.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 30. Januar 1920

Wir haben in unsere Betrachtungen in den letzten drei Stunden als Episode eingeschoben die Beschreibung unseres Baues hier, seiner Einrichtungen und dessen, was als Ziel mit ihin verbunden ist. Wir werden nunmehr heute gerade an diese Baubetrachtungen einiges anzuknüpfen haben, das ich im weitesten Sinne als Zeitbetrachtung ansehen möchte. Wir haben ja betonen müssen, daß dieser Bau als Repräsentant unserer anthroposophischen Geisteswissenschaft zugleich eine Zeiterscheinung sein soll, gewissermaßen in seinen Formen, in seiner ganzen Gestaltung ausdrücken soll dasjenige, was sich hineinstellen will und hineinstellen muß in unsere Zeitentwickelung von der Gegenwart an in die nächste Zukunft hinein. Wenn wir in der Gegenwart sprechen von den großen Aufgaben der Zeit und insbesondere hinweisen müssen darauf, daß eine gewisse Geneigtheit, Geistiges entgegenzunehmen, bei einem größeren Teile der Menschheit auftreten müsse und daß dies eine besondere Forderung der Zeit sei, so ist zunächst eine solche Angabe unmittelbar hervorgehend aus alledem, was Initiationswissenschaft und Initiationsweisheit gegenwärtig aus der geistigen Welt heraus gewinnen kann. Allein man hat nicht nötig, unmittelbar gleich an die Aufforderungen der geistigen Welt selbst heranzutreten, wenn man sich überzeugen will von der Notwendigkeit eines geistigen Einschlages in unsere Zeit herein. Ich habe in einem der letzten Vorträge hier davon gesprochen, daß wir ja vor einer starken Umgestaltung der Welt stehen auch in ihren äußeren Erscheinungen. Es kann heute schon für jeden mehr oder weniger ersichtlich sein, daß durch die Zeitereignisse die äußere Weltherrschaft zufällt der englischsprechenden Bevölkerung. Wir wollen nicht über dieses Zufallen der Weltherrschaft sprechen, aber wir wollen sprechen und haben auch schon davon gesprochen, daß damit verknüpft ist ein gründliches Verantwortlichkeitsgefühl, ein Verantwortlichkeitsgefühl, das sich ganz klar darüber ist: Da, wo die Möglichkeit vorhanden ist, eine gewisse Herrschaft über die Welt auszuüben, da muß Platz greifen der Antrieb, zu durchdringen dasjenige, was man tun kann, mit dem

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gegenwärtig von der Menscliheitsentwickelung geforderten spirituellen Impuls. Denn nicht durchdringen dasjenige, was man tun kann, oder es nicht durchdringen wollen heißt die Menschiieitsentwickelung ihrem Niedergange entgegenführen.

Es ist jetzt gerade in dieser Zeit wirklich nicht ohne Bedeutung, rückblickende Betrachtungen anzustellen, und aus der Fülle desjenigen, was aus solchen rückblickenden Betrachtungen hier vor Ihnen aufgerollt werden könnte, möchte ich eines vor Sie hinstellen. Ein merkwürdiger Zusammeriklang der Erscheinungen brachte es mit sich, daß ein feinsinniger Mann 1870 in einer deutschen Stadt einen Vortrag hielt, gerade als die Schlacht bei Sedan geschlagen worden ist - was man aber noch nicht in der Stadt wußte -, wo dieser Mann, den ich einen feinsinnigen Mann nenne, seinen Vortrag hielt und darin schon hinweisen konnte auf gewisse Erfolge, welche Deutschland dazumal hatte. Dieser Hinweis auf diese Erfolge war aber zu gleicher Zeit bei diesem Manne begleitet von der Anforderung, daß Platz greifen müsse bei denjenigen, die den Eifolg haben, eine geistige Vertiefung. Und bald darauf, nachdem vollere Erfolge da waren, schrieb derselbe Mann einen Aufsatz über die Notwendigkeiten der Zeitentwickelung. In diesem Aufsatze, der also jetzt fast fünfzig Jahre hinter uns liegt, stehen merkwürdige Dinge, Dinge, die von einem Zweifachen zeugen. Erstens wird darin ausdrücklich gesagt, daß die dringende Notwendigkeit vorliege, zwei Einseitigkeiten zu vermeiden. Die eine Einseitigkeit bestehe dar- in, daß man sich nur nach dem abstrakt Geistigen wende, die andere darin, daß man sich nur nach der Betrachtung und Anbetung des Materiellen wende. Und was der betreffende Mann dazumal von seinen Zeitgenossen und deren Nachfahren weiter forderte, war etwas, was er «Ideal-Realismus» nannte.

Man sieht daraus, daß eine solche Forderung dazumal aufgestellt worden ist, wie eine gewisse Sehnsucht vorhanden war nach einer Erneuerung des geistigen Lebens. Aber wenn man alles dasjenige verfolgt, was dazumal vorgebracht worden ist aus dieser Sehnsucht nach einer Erneuerung des geistigen Lebens heraus, dann sieht man die volle Ohnmacht, irgend etwas zu finden, was eine Verbindung des geistigen Strebens mit dem materiellen Streben darstellen konnte, was sich als eine

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Wirklichkeit für den Begriff des Ideal-Realismus ergeben konnte. Also eine wichtige Forderung, die aber aus einer bloß geahnten Sehnsucht heraus gesprochen war, trat auf aus einer tiefen Ohnmacht heraus, aus der Unmöglichkeit, einen realen Inhalt zu finden. Es war ein unbestimmtes Gefühl, weiter nichts. Aber verbunden war die Darlegung dieses Gefühles mit etwas anderem. Der betreffende Mann machte, und zwar im Einklange mit manchen andern, die dazumal etwas empfanden von einer Sehnsucht nach einer Erneuerung des geistigen Lebens, darauf aufmerksam, daß, wenn nicht ein neuer Geist käme, die breiten Massen Europas aiistürmen und alles, was an Kultur bisher der Menschlieit sich ergeben habe, zerstören würden. - Es hat damals auch ein Mann, der hier in der Schweiz viel gesprochen hat, Johannes Scherr - ich bitte Sie, zu berücksichtigen, daß das, was da gesprochen worden ist, vor fünfzig Jahren gesprochen worden ist! -, auf die große Gefahr hingewiesen, die darin bestehe, daß ihrer selbst bewußt werden in einem gewissen Sinne die breiten Massen der Menschneit, aber dies in einer Zeit, in der sich die Träger der Bildung von einer geistigen Weltanschauung abgewandt und sich materialistischen Begriffen und Ideen zugewendet haben. In scharfen, in ernsten Worten wurde dazumal von solchen Dingen gesprochen.

Was kam für eine Zeit? Es kam die Zeit, in der über ganz Europa die materialistische Welle hlnwegging, die Zeit, in der man sich darin gut befand, sich hinwegzutäuschen über die großen Gefahren, die darin liegen, nichts wissen zu wollen von einem geistigen Einschlag. Nur ab und zu erhob sich der eine und der andere, der darauf aufmerksam machte, daß trotz des bewußten Verharrens im bequemen Alltagsleben in den unterbewußten Untergründen der Menschenseelen doch die Sehnsucht nach dem geistigen Leben mehr da sei als zu irgendeiner Zeit der weltgeschichtlichen Entwickelung.

Doch solche Stimmen wurden alle als feuilletonistische Stimmen genommen. Solche Stimmen wurden nicht in ihrem ganzen Ernste gewürdigt. Und im Grunde genommen leben wir heute noch immer in dieser Zeit. Im Grunde genommen ist auch die Welle entsetzlichsten Unglückes der letzten fünf Jahre durch die meisten europäischen Seelen höchstens so durchgegangen, daß sie über die äußeren Folgen nachdenken und sie

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nachempfinden, nicht aber auf das eingehen wollen, auf das eingegangen werden muß, wenn Überhaupt noch von einer Weiterentwickelung der Menschheit in der Zukunft in irgendeinem günstigen Sinne die Rede sein soll.

Was wir heute in Europa vor uns haben, hat sich durch Jahrzehnte vorbereitet. Aber die Seelen der Menschen haben sich nicht vorbereitet. Die Seelen der Menschen sind in ihrer Mehrzahl heute sounempfänglich wie möglich für das Hereinschlagen einer spirituellen Welle aus der geistigen Welt, die an die Tore des Lebens schlägt, die herein will und die man nicht aufnehmen will in die Seelen und in die Herzen der Menschen. Was notwendig ist, das ist, daß die Menschen sich hinwenden zu einer geistigen Weltbetrachtung, vor allen Dingen zu einer wirklichen Erkenntnis des Menschen selber. Das Menschenwesen kann nicht erkannt werden, ohne daß man die geistige Welt erkennt, denn der Mensch lebt mit zwei Dritteln seines Wesens in der geistig-seelischen Welt, nur mit einem Drittel in der physisch-materiellen Welt. Und ohne daß gesucht wird eine Erkenntnis des geistigen Lebens, bleibt der Mensch ohne Erkenntnis seines eigenen Wesens. In einem viel umfänglicheren Sinne, als heute von den meisten auch nur geahnt wird, muß gefragt werden: Welchen Wesens ist denn eigentlich dasjenige Gebiet des menschlichen Seeleiilebens, das wir umfassen mit dem Worte Denken? Was für einer Weseiiheit ist dasjenige Gebiet des menschlichen Seelenwesens, das wir umfassen mit dem Worte Wollen oder Handeln? - Zwischen beiden liegt das Gemüt, das Gefühlsleben. Erkenntnis des Gefühls- oder Gemütslebens würde sich schon ergeben, wenn man nur die Aufmerksamkeit wenden wollte auf das Gedankeiileben und auf das Leben in Handlungen, auf das Willensleben.

Folgen Sie mir einmal für kurze Zeit in eine Betrachtung gerade desjenigen, was unser Denken ist. Der Mensch ist sich ja bewußt, daß er das Leben, das auf ihn von da- oder dorther Eindruck macht, mit seinem Denken innerlich begleitet. Dieses Denken - man lebt in ihm. Aber man sollte sich doch auch bewußt werden, daß der größte Teil des Lebens damit ausgefüllt ist, daß dieses Denken durchsetzt ist von allem möglichen Traumartigen. Die meisten Menschen werden sich dessen nicht bewußt, wie in ihr Denken dasjenige hereinspielt, was ein unwillkürliches

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Element ist. Alles unwillkürliche Element im Denken ist im Grunde genommen Irauinhafter Natur. Versuchen Sie nur einmal, in einer oberflächlichen Selbsterkenntnis sich klarzumachen, wie weit Sie Ihre Gedanken aus dem Zentrum Ihres Willens heraus im Alltagsleben dirigieren. Versuchen Sie, sich klarzumachen, wie weit Sie das Bestreben haben, die Gedanken innerlich zu lenken, die Gedanken selbst zu gestalten. Versuchen Sie, sich klarzumachen, in wie hohem Maße es der Fall ist, daß die Seele die Gedanken kommen läßt, sie hereinbrechen läßt. Sie leben sich aus, die Gedanken, einer spinnt sich mit dem andern zusammen, und der Mensch gibt sich diesem unwillkürlichen Gedanken- spiel wohlbehaglich hin. Es ist kein großer Unterschied zwischen diesem alltäglichen Gedankenspiel und zwischen dem aus dem Schlafe heraus aufdämmernden Träumen.

Noch von andern Seiten her mischt sich dieses Traumartige in das menschliche Denken ein. Man nimmt heute teil an dem äußeren Leben. Wie nimmt man teil an diesem äußeren Leben? Man informiert sich über das, was in der Welt vorgeht;` man informiert sich so, daß man sich gewissermaßen in sein Erleben hineintragen läßt, was durch diesen oder jenen Anstoß in das Leben hereinkommt. Man gibt sich irgendeiner populären Agitation hin. Man untersuche nur einmal, wieviel in diesem Hingeben an eine populäre Agitation dem eigenen Willen entsprießt und wieviel einfach darauf zurückzuführen ist, daß man mitgenommen wird von dem, was da anstürmt aus den Wogen des Lebens! Und vieles, vieles könnte ich Ihnen anführen von dem, was in das Denken hereinstürmt, das Denken beherrscht, ohne daß der Wille des Menschen selbst in dieses Denken unmittelbar hineinwirkt.

Das war gerade die geschichtliche Aufgabe bei Abfassung meines Buches «Die Philosophie der Freiheit», darauf hinzuweisen, wie Freiheit des Menschen überhaupt nur möglich ist, wenn dieses unwillkürliche, träumerische Denken nicht da ist, sondern Impulse aus dem vollbewußten Willen heraus sich geltend machen. Dieses Denken - welcher Natur ist es denn? Wann ist es wirkliches Denken? - Wenn es wirklich aus dem vollbewußten Willen kommt, wenn wir den Gedanken so fassen, daß wir selbst es sind, die den Gedanken fassen. In dem Augenblicke, wo der Gedanke uns faßt, sind wir nicht mehr frei. Nur wenn wir aus

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unserer Kraft, aus unserem Wesen heraus den Gedanken fassen können, sind wir frei. Dann kann aber der Gedanke nichts anderes sein als ein Bild. Wäre der Gedanke etwas anderes als ein Bild, wäre er eine Realität, dann könnte er uns nicht frei lassen. Alles, was eine Realität ist, spinnt uns in den Strom des Realen ein. Nur das, was Bild ist, läßt uns frei. Denken Sie sich, wie alles, was Sie in einem Zimmer sehen, im Grunde genommen real auf Sie wirkt. Einzig und allein ganz frei sind Sie nur den Bildern gegenüber, die Ihnen aus dem Spiegel heraus entgegensehen. Die können Ihnen von sich aus nichts tun, an diesen Bildern können Sie sich nicht stoßen. Wenn diese Bilder Sie irgendwie zu etwas veranlassen sollen, so müssen Sie es sein, der etwas unternimmt. Wenn sich eine Fliege auf Ihre Nase setzt - sie ist ja ein unbedeutendes Tier -, so sind Sie nicht frei, Sie führen eine Reflexbewegung aus. Und so ist es mit allem, was da ist. Frei sind Sie nur demgegenüber, was Sie als Bild empfinden können, das keine Realität ist, das ein Bild ist. Warum sind die Inhalte unseres Denkens Bilder? Nun, wir brauchen nur uns zu erinnern an mancherlei, was wir lesen können in meiner «Geheim- wissenschaft im Uniß», wie der Mensch verbunden war mit einer vorhergehenden Verkörperung unseres Erdenplaneten, mit der Mondenentwickelung. Lesen Sie alles durch, was dort über die Mondenentwickelung auseinandergesetzt ist, so werden Sie sich sagen: Der Mensch war während dieser Mondenentwickelung mit ganz andern Wesenheiten und auch mit ganz andern Naturkräften in Verbindung, als er im Erden- dasein ist. Dieses Mondendasein hat er durchgemacht. Die Nachwirkung davon ist in ihrii. Er hat sich aus diesem Mondendasein zum Erdendasein fortentwickelt. Und wenn Sie genauer lesen, was ich dort auseinandergesetzt habe, so werden Sie sich sagen: Gedacht hat der Mensch während des Mondendaseins noch nicht in dem Sinne, wie er als Erdeiimensch denkt. Er hat damals in unbewußten Imaginationen gelebt, und diese unbewußten Imaginationen waren nicht in seiner Willkür, so wenig als heute die Traumbilder in seiner Willkür sind. - In der Willkür sind erst die Gedanken, zu denen wir uns als Menschen eigentlich erst nach und nach jeut im füniten nachatlantischen Zeitraum entwickeln. Was wir heute als Denken haben, ist eine Fortentwickelung desjenigen, was wir als Bild-Erleben der Seele während unseres Mondendaseins hatten.

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Wenn Sie das ganz ordentlich fassen, dann werden Sie aber auch ein- sehen, daß alles, was sich in das Denken so hineinstiehlt, wie ich eben das Trauinhafte des Denkens im alltäglichen Leben charakterisiert habe, ein Überbleibsel ist desjenigen, was der Mensch als Seelenieben hatte während des Mondendaseins. Überläßt sich heute der Mensch seinen aufschießenden Gedanken, schaltet er seinen Willen aus aus seinen Gedanken, läßt er hereinspielen in sein Denken, was traumartiger Natur ist, so spielen die Zustände des Mondendaseins irgendwie in sein Denken hinein.

Sie werden daraus ersehen, daß dieses Hereinspielen des Mondendaseins in unser alltägliches Denken einen weiten, einen sehr, sehr weiten Umfang hat. Überall kann man verspüren, wie sich in das Denken, in das Vorstellen hereinmischt das unwillkürliche Element des rein Aufsteigenden und Aufschießenden. Das ist ein Überbleibsel des Mondendaseins. Da haben Sie also zwei im Menschenwesen selbst einander entgegenwirkende Mächte. Die eine Art dieser Dinge zieht uns dahin, von unserem Willen unser Denken beherrschen zu lassen, frei zu werden in unserem Gedankenelement. Die andere Macht will immerfort in dieses freie Denken dasjenige hineinmischen, was Überbleibsel der alten Mondenkultur ist: ein luziferisches Element. Luziferisches Element mischt sich fortwährend in unser alltägliches Denken hinein. Wir können es nicht abweisen. Wir würden alles dasjenige abweisen müssen, was wir noch nicht mit dem bewußten freien Denken erreichen können, aber wir müssen Erkenntnis anstreben. Wir müssen uns darüber klar sein in unserem Bewußtsein, daß es so ist. Es ist lediglich eine Phrase, wenn jemand sagt, er wolle dem Luzifer enffliehen. Das ist ja Unsinn, denn das Luziferische spielt fortwährend in das alltägliche Dasein herein. Aber man muß heute, wenn man wirklich sich hineinstellen will in die Anforderungen der Menschheitsentwickelung der Gegenwart, den guten Willen haben, in sich zu wissen, daß diese beiden Mächte, die eigentlichen Erdenmächte und die luziferischen Mächte, in unserem Seelendasein ineinanderspielen. Nur dadurch erlangt man eine reale Erkenntnis desjenigen, was in der Menschenseele drinnen ist.

Damit habe ich Ihnen, ich möchte sagen, einen Pol menschlicher Seelenwesenheit skizzenhaft charakterisiert. Nehmen Sie den andern

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Pol, der mehr nach der Willensseite hin liegt. In das Denken spielt ja auch der Wille hinein; aber wir haben jetzt das vom Willen durchdtungene Denken betrachtet. Jetzt wollen wir das vom Denken durchdrungene Wollen betrachten. Wie spielt das Wollen, das ins Handeln übergeht, in das gewöhnliche alltägliche Leben des Menschen hinein? - Das können wir uns klarmachen, wenn wir den Zusammenhang unseres alltäglichen realen Handelns mit dem ganzen kosmischen Sein ins Auge fassen. Denken Sie doch nur einmal: Wenn Sie einen einzigen Schritt machen, wenn Sie von diesem Orte hier fortschreiten zu diesem Orte [nach vorne], so rufen Sie, wenn auch nur in sehr geringem Maße, einen andern Gleichgewichtszustand des ganzen Erdenwesens hervor. Wenn Sie hierher treten [Schritt nach rückwärts], treten Sie an einen andern Ort, als wenn Sie hierher treten [Schritt nach vorne]. Sie beeinflussen das Gleichgewicht der Erde in einer andern Weise, wenn Sie hierher treten [nach hinten], als wenn Sie hierher treten [nach vorne]. Aber wenn Sie das einmal richtig betrachten, daß Sie selbst durch Ihre Bewegungen fortwährend das Gleichgewicht der Erde beeinflussen, so werden Sie noch auf eine andere Art des Beeinflussens kommen. Denken Sie einmal, Sie nehmen irgend etwas, das rein von der Natur kommt. Wenn zum Beispiel an einem Baumstamm ein Baumast ist, so hat dieser Ta Baumast, so wie er an diesem umstamm zunächst daran ist, ein gewisses Verhältnis zu der ganzen Erde. Er hat ein gewisses Gleichgewichtsverhältnis zu der ganzen Erde. Die ganze Erde bildet mit ihm zusammen ein Ganzes. In dem Augenblicke, wo Sie den Baumast ab- e brechen und ihn vielleicht daneben legen, haben Sie das ganze Gleichgewichtsverhältnis der Erde, wenn auch nur in geringem Maße, aber doch verändert. Der Baum wiegt weniger, und an einer andern Stelle wiegt der abgebrochene Ast. Sie verändern das Gleichgewicht in einem andern Maße, wenn Sie den Ast dahin legen oder wenn Sie ihn dorthin legen.

#Bild a S.113

Tafel 6, links

#Bild b S.113

rechts oben

Das ist schon etwas, was Sie von sich aus hineinstellen in das ganze Erdendasein. Aber da bringen Sie wenigstens zunächst nur das Verhältnis Ihres Menschen zu der umliegenden Welt zur Geltung. Aber Sie können noch mehr tun. Sie können zum Beispiel aus diesem Baumast irgend etwas formen. Ich will sagen, Sie formen künstlich daraus so

etwas, was ein Gegenstand zu irgendeinem Gebrauch ist. Da haben Sie

#Bild c S.113

rechts unten

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die Form ausgedacht, da haben Sie das andere, was nicht zu dieser Form gehört, weggeschnitzelt. Jetzt üben Sie einen ganz andern Einfluß mit Ihrem Gegenstand aus, nicht nur durch Abbrechen, nicht nur durch Weglegen, sondern dadurch, daß Sie dem, was Sie der Natur entnommen haben, eine gewisse Form geben. Denken Sie einmal, wieviel die Menschen auf technischem, auf künstlerischem Gebiete nach dieser Richtung hin tun, wie sie dasjenige, was sie der Natur entreißen, formen und wie sie dadurch das Irdische beeinflussen!

Und jetzt frage ich Sie: Wenn der Mensch das tut, wenn er die Natur verändert, wenn er das, was er der Natur wegnimmt, formt zu seinen Maschinen, zu seinen Kunstwerken, tut erö das aus seinem Denken heraus? - Betrachten wir es, insofern er es aus seinem Denken heraus tut: Er tut es aus der Bildnatur des Denkens heraus. Es ist dem Irdischen schlechterdings gleichgültig, was da geschieht, geradeso, wie es auf die Gegenstände des Zimmers keinen sonderlichen Eindruck macht, was da für Bilder im Spiegel entstehen. Aber der Mensch gibt diesen Dingen Realität. Das ist die andere Seite, wenn sich der Mensch, nachdem er sich herausentwickelt hat aus dem Mondendasein, dem Denken ergibt: Wenn der Mensch irgend etwas formt und es hineinstellt in die Welt, so wie das Traumhafte hineinspielt in unser Denken und in dem Traumhaften der alte Mondenzustand, das Luziferische, so spielt in all unser Mechanisieren, in all unser die Weltdinge Umgestalten, Umformen, dasjenige hinein, was mit dem irdischen Dasein noch gar nicht zusammenhängt, was wir von uns aus in dieses irdische Dasein hineinstellen. Was ist denn das eigentlich?

Was wir da aus unserem freien Seeleiileben heraus in das irdische Dasein hineinstellen, das folgt nicht aus dem alten Mondendasein, das wird zu dem gegenwärtigen Erdendasein hinzugetan. Das wird erst eine volle Bedeutung haben, wenn etwas anderes eingetreten ist, als das Erdendasein ist. So wie das Kind, das im Leibe der Mutter getragen wird, oder vielleicht noch nicht getragen wird, sondern erst in der geistigen Welt auf seine Verleiblichung wartet, noch ein Zukünftiges ist, so ist all das, was der Mensch also formt, eigentlich für die Zukunft bestimmt, ist in der Gegenwart noch embryonal. Und wir betrachten es nur wahrheitsgemäß, wenn wir es in seiner Embryonalltät,

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in seiner Zukunftsbedeutung betrachten. Formen wir irgend etwas heute im Leben, nehmen wir nicht die Natur, wie sie ist, sondern ändern sie aus unseren Gedanken heraus, so schaffen wir für die Zukunft. Schauen wir aber das, was wir für die Zukunft schaffen, als in die Gegenwart hereingehörig an, nistet es sich in unser Leben so ein, daß wir es bloß nach seiner Nützlichkeit für die Gegenwart betrachten, dann nistet sich das Zukünftige in unser Handeln ein, wie sich im trauliihaften Denken das Vergangene in unser Denken einnistet; dann ergreift das Ahrimanische unser Handeln.

Im menschlichen Leben wird allein das Kind, das ja auch, indem es spiele die Gegenstände formt aber sie zwecklos formt, nicht Nützlichkeit anstrebt, in seiner Unbewußtheit davor bewahrt, das, was es im Leben macht, für die Gegenwart zu nehinen und nicht in Vorbereitung für die Zukunft. Was wir an Maschinen hervorbringen, was wir an Kunstwerken hervorbringen, von dem allem sollen wir das Bewußtsein in uns tragen, daß wir es für das nächste Dasein, für das Jupiterdasein formen, daß das Erdendasein erst abgestreift sein muß und ein künftiges Dasein erst Sinn geben wird unserem Handeln.

Das ist der große Irrtum der neueren Zeit, daß die Menschen das, was sie an Mechanischem, an Künstlerischem hervorbringen, unrnittelbar in ihren gegenwärtigen Erdennutzen stellen und sich nicht bewußt sein wollen, daß wir für das künftige Erdendasein zu arbeiten haben. In das Wollen kann sich also das Ahrimanische dadurch hereinschleichen, daß wir den bloßen Nützlichkeitsstandpunkt anlegen an das, was wir mechanisch oder künstlerisch oder sonst im Leben ausführen.

Da müssen wir uns aber die Frage vorlegen: War dieser Nützlichkeitsstandpurikt immer da? - Dieser Nützlichkeitsstandpuiikt war zum Beispiel in der älteren Zeit der griechischen Kultur nicht als solcher da, noch weniger in den älteren Kulturen. Da war, wenn auch aus atavistischem Hellsehen heraus, ein Bewußtsein davon vorhanden, daß der Mensch über das irdische Dasein hinaus schafft. Insbesondere seit dem 15. Jahrhundert ist das Streben stark geworden nach der bloßen Nützlichkeit für dasjenige, was der Mensch hervorbringt. Und heute wer- den bereits Weltprogramme gemacht aus den bloßen Nützlichkeitsgesichtspurikten heraus.

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Ebenso wie es zunächst unmöglich ist, das traumhafte Denken aus unserem Denken auszuschalten, ebenso unmöglich ist es, den Nützlichkeitsstandpunkt auszuschalten. Deshalb sollte niemand das gedankeniose Wort sprechen, er wolle Ahriman entfliehen. Das ist Unsinn. Er kann es nicht. Es spielt Ahriman in unser ganzes Handeln herein, mit Ausnahme unseres Kiriderspieles, bei dem wir keinen Zweck, keinen Nutzen anstreben, das um des Handelns selber willen getan wird. Bei allem andern Handeln können wir nur eine Art Ideal anstreben. Wie aber? Wir müssen uns klar darüber sein, wie hier wiederum zwei Kräfte hineinspielen in unser menschliches Dasein. Welche Kräfte? Die eine Kraft ist die, die uns handeln läßt aus Nützlichkeitsgründen> die andere aber ist diese: Wenn wir irgend etwas im Leben betreiben, wo wir uns nicht bloß wie Puppen von dem Leben tragen lassen, wenn wir irgend etwas treiben im Leben, ohne ein solches Puppendasein zu führen, dann geht immer mit uns selbst etwas vor sich: Wir werden geschickter, wir werden weiser, wir können danach die Sachen besser. Das ist die andere Kraft. Die meisten Menschen geben heute gar nicht darauf acht, besonders wenn sie über das achtzehnte Lebensjahr hinausgekommen sind, wo sie schon «ganz weise» und «ganz gescheit» sind für ihre heutige Lebensauffassung, daß man sein ganzes Leben immer geschickter und geschickter werden kann in dem, was man tut. Das eine ist Nützlichkeitssinn, das andere ist eine fortwährende Selbstzucht, auf das, was man tut, so achtzugeben, daß man beobachtet, wie man sein menschliches Dasein dadurch erhöht, daß man dies oder jenes gut, dies oder jenes erfährt. Was so in unser menschliches Dasein hereinspielt, hat eine ganz andere Bedeutung als der bloße äußere Nützlichkeits- und Augenblicksstandpunkt. Nehmen Sie es einmal in einem, ich möchte sagen, erhabeneren Fall, nehmen wir die Bildnisse Raffaels. Raffael hat, wenn auch ein kurzes Leben hindurch, gearbeitet an seinen Bildern. Ganz gewiß wird eine Zeit kommen, in der von diesen Bildern Raffaels nichts mehr da sein wird - vielleicht Nachbilder, die aber mit Raffael nichts unmittelbar zu tun haben. Ganz gewiß wird eine Zeit der Erde kommen, in der von diesen Bildern Raffaels nichts mehr da sein wird, in der keines dann verkörperten irdischen Menschen Blick auf die Bilder Raffaels fallen kann. Aber Raffael wird doch da sein, und dasjenige wird

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auch da sein, was Raffael dadurch geworden ist, daß er diese Bilder gemacht hat. Dadurch, daß Raffael diese Bilder gemacht hat, ist er in einer entsprechenden Inkarnation weitergebracht worden. Das hat er durch das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durch- getragen, erschien in einer neuen Erdeninkarnation, hat da wiederum etwas gemacht, das trägt er durch das Leben, das bleibt, auch wenn die Erde im Kosmos zugrunde geht. Das, was Raffael geworden ist durch seine Bilder, das ist das Bleibende. Man kann sogar den Nützlichkeitsstandpunkt so fein fassen, daß man die Tatsache, daß Bilder da sind, zu diesem Nützlichkeitsstandpunkt dazurechnet. Sie werden, wenn Sie dies nachdenken, nicht viel Unterschied finden zwischen grobem Nutzen und jenem Nuuen, der dadurch gestiftet ist, daß Bilder von Raffael da sind. Aber etwas anderes ist es, was Raffaels Individualität und Seele geworden ist dadurch, daß er seine Bilder gemacht hat. Das wird von dem Erdendasein in das Jupiterdasein hlnübergetragen. Das ist dasjenige, was sich entwickelt.

Da haben wir, ich möchte sagen, an einem erhabeneren Beispiel, dasjenige, was aus den Menschenseelen wird, was man unterscheiden kann von der äußeren Handlung. Diese Unterscheidung muß man sich in einem umfänglichen Sinn vor die Seele führen. Man muß sich klar darüber sein, daß ja die Erde einmal im Kosmos zerschellen wird, daß nichts bleiben wird als die Menscheiiseelen. Wenn dann nichts geblieben ist als die Menschenseelen, wird die Ernte der Entwickelung der Menschenseelen dasjenige sein, was dieses Erdendasein an seinem Ende unterscheidet von dem Erdendasein an seinem Anfange. Bei diesem Gesichtspunkt beginnt dasjenige, was man nennen kann eine Verpflichtung, sich selber weiterzubringen in der Erdenentwickelung. Da beginnt die Verpflichtung, aus sich etwas zu machen, damit man dem Kosmos etwas sein könne. Und da beginnt der Gedanke: Die Erde wird zerschellen, die Erde wird zersplittern, die Menschenseelen werden allein da sein!

Die Kraft, die nötig ist, um diesen Gedanken, ich möchte selbst sagen, zu ertragen, ihri in aller Schärfe zu fassen, diese Kraft wird den Menschen ganz verlorengehen. Und damit wird überhaupt die Erdenentwickelung auffiören, ihren Sinn zu haben, wenn die Menschen nicht sich dazu bequemen, das Mysterium von Golgatha geistig zu fassen.

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Denn im Grunde genommen Iiegt in dem Mysterium von Golgatha, richtig verstanden, der Keim zu solchen, aus einer nchtigen, heute zeit- gemäßen spirituellen Weltanschauung zu erfassenden Gedanken. Bedenken Sie nur einen ganz bestimmten populären Aussprnch, den die Evangelien dem Christus Jesus zuschreiben: «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.» Dasjenige, was er den Menschenseelen gibt, das wird bleiben, das wird da sein, auch wenn die Erde zersplittert, zerschellt ist in dem Kosmos.

Nun frage ich Sie - und jetzt komme ich auf meine Zeitbetrachtung zurück -: Kann dasjenige, was Religionsbekenntnisse und Theologie aus dem Mysterium von Golgatha nach und nach gemacht haben, dem Menschen diesen Hinblick noch geben? - Nein, das ist unmöglich! Auch Tlieologie und Religionsbekenntnisse sind vermaterialisiert. Aber ein materiallsiertes Mysterium von Golgatha reicht in seiner Bedeutung über das Erdendasein nicht hinaus. Wer es heute ernst meint mit dem Christentum - ich habe das von andern Gesichtspunkten aus Ihnen dargelegt, Sie haben es heute von einem erneuten Gesichtspunkte aus wiederum gehört -, der kann gar nicht anders, als ein spirituelles Verständnis zu suchen für dieses Mysterium von Golgatha.

Das heißt aber mit andern Worten: Geisteswissenschaft, wirkliche Erkenntnis des Geistes ist heute der Menschheit notwendig. Ohnmächtig waren die Leute vor fünfzig Jahren, so habe ich am Anfang meiner heutigen Betrachtung gesagt, ihren Ideal-Realismus mit irgend etwas auszufüllen, das Wirklichkeit gehabt hätte. Daher das Hineinsegeln in das europäische Unglück. Aber heute entsteht die Frage: Wollen diejenigen, die ein neues Unglück abwenden können, da wo Geisteswissenschaft heute spricht, wiederum so weiterleben, wie diejenigen, zu denen Geisteswissenschaft noch nicht gesprochen hat, vor fünfzig Jahren leben mußten? - Dann allerdings werden Erdenkatastrophen kommen, gegen die das, was jetzt geschehen ist, eine Kleinigkeit ist. Es geht heute nicht an, anderes als dieses sich zu sagen. Wenn die Menschen vor fünfzig Jahren ein neues Geistesleben gefordert haben, so haben sie es nicht schaffen können, weil dazumal noch nicht die Zeit dazu gekommen war. Heute ist die Zeit dazu gekommen. Heute heißt, sich nicht hinwenden zu wollen zu diesem Geistesleben: es nicht ehrlich meinen mit der

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Menschlieitsentwickelung! - Das ist die Verantwortlichkeit, von der ich sprechen muß, von der heute gesprochen werden muß, namentlich nach denjenigen Seiten hin, die heute diese Verantwortung übernehmen können aus den schon angeführten Gründen. Der Mensch muß heute auf den Horizont der weltgeschichtlichen Betrachtung hinschaUen. Er kann nicht sein Dasein zurückschrauben. Denken Sie sich, Sie haben einen Schrank. Der Schrank bricht auseinander. Sie haben seine Stücke vor sich, Sie schauen sich das an. Durch irgendein Elementarereignis ist der Schrank au5einandergebrochen, Sie haben seine Stücke vor sich. Was machen Sie? Sie nehmen die Stücke, nehmen Nägel, fügen die Stücke zusammen, damit daraus wieder der alte Schrank entstehe. Der wird aber sehr bald wiederum auseinanderfallen, wenn die Stücke morsch sind, wenn die Nägel nicht mehr halten können oder wenn die Stücke an andern Stellen zerTissen sind. Europa ist auseinandergefallen wie ein alter Schrank: Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Serbien, Deutsch- Österreich, das ehemalige Deutschland, das ehemalige Rußland, die Ukraine - das sind die Stücke, die Trümmer des Schraiikes. Und die Westmächte bemühen sich, diese morsch gewordenen Trümmer des Schrankes wiederum zu5ammenzuschlagen mit Nägeln, die nicht halten werden. Die Menschen sehen nicht ein, daß sie es mit morsch gewordenen Stücken zu tun haben. Da soll das Alte geleimt werden, während es sich darum handelt, ganz neue Substanz in die Menschheitsentwickelung hineirizubringen. Das ist der Gedanke, um den es sich handelt. Auf diesen Gedanken kann uns heute nur Geisteswissenschaft in durchdringender Weise aufmerksam machen. Und die Frage ist: Soll denn die Welt, nachdem das, was heute Europa ergriffen hat, was sehr bald Asien und über Europa hinaus Amerika ergreifen wird, bloß aus ihren alten morschen Stücken zusammengeleimt und zusammengenagelt werden um der Bequemlichkeit der Menschheit willen, oder soll der Zusammenhang gesucht werden zu einer Erneuerung des ganzen Menschenwesens aus dem Geistigen heraus? - Davon wollen wir dann morgen weiter sprechen.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 31. Januar 1920

Ich möchte heute davon ausgehen, Sie auf etwas aufmerksam zu machen, das im Zusammenhange stehen kann mit der Beurteilung dessen, was jetzt sozial in Zusammenhang gebracht wird mit unserer anthroposophisch orientierten Geistesbewegung. Den inneren Zusammenhang kennen Sie, ich habe öfters davon gesprochen. Ich habe Sie auch darauf aufmerksam gemacht, wie wenig den Zeitaufgaben eine geistige Bewegung wirklich gewachsen wäre, die jetzt sich zurückziehen wollte von den großen Fragen, die die Menschheit beschäftigen müssen, die nichts zu sagen hätte über dasjenige, was als die bedeutsamsten Forderungen in der Gegenwart und der nächsten Zukunft auftritt.

Nun habe ich ja gestern darauf aufmerksam gemacht, wie sich in das menschliche Denken hereinschleichen traumhafte Elemente, und ich habe auf die verschiedenen Wege oder wenigstens auf einzelne der verschiedenen Wege hingewiesen, wie sich trauinhafte Elemente in das menschliche Denken hineinschleichen. Wir müssen auf solches Hereinschleichen besonders aufmerksam sein bei allem, was uns als fertige Urteile aus der Außenwelt gegenübertritt. Es ist doch eigentlich ein großer Teil dessen, was wir denken, von uns so gedacht, daß es nicht erst geprüft wird, daß es nicht erst selbst in uns belebt wird, sondern daß es nachgesprochen, nachbeurteilt, nachgedacht wird. Sie brauchen ja bloß auf die zahlreichen Urteile Rücksicht zu nehmen, welche die Menschen der verschiedensten Nationen sich in den letzten vier bis fünf Jahren über die Schicksale der Welt gemacht haben, über den Wert der einzelnen Nationen, über die Ursachen des Krieges und so weiter, Sie werden nicht uinhin können, sich zu sagen: Von all dem, was da geurteilt worden ist, selbst von Menschen, von denen man ein ganz anderes gerne hätte voraussetzen mögen, von alledem ist das wenigste wirklich geprüft worden; es ist nachgesprochen, nachgeurteilt, nachgedacht worden.

Ich darf vielleicht gerade bei dieser Gelegenheit auch daran erinnern, daß ich, wenn ich hier über Zeiterscheinungen gesprochen habe, niemals fertige Urteile gegeben habe, sondern immer Dinge charakterisiert habe,

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welche dazu haben dienen können, sich selber ein Urteil zu bilden. Das sollte überhaupt immer mehr und mehr Platz greifen, der Welt die Grundlagen für Urteilsbildung zu geben, nicht fertige Urteile. Aber der Mensch ist gerade in der gegenwärtigen Zeit gar sehr geneigt, wenn er da oder dort etwas hört, insbesondere wenn es mit starkem Selbstbewußtsein auftritt, wenn es durchzittert ist von einem vielleicht nicht ganz wahrnehmbaren Fanatismus, gerade dann solche Urteile nachzuurteilen, nachzudenken> nachzusprechen. Und insbesondere mit Rücksicht darauf, daß ja noch einige unserer englischen Freunde da sind, muß ich das Folgende berühren, das aber auch für die anderen hier sitzenden Freunde von da oder dorther von Wichtigkeit erscheinen kann.

So wurde zum Beispiel von einer gewissen Seite jetzt geurteilt, diese anthropcsophisch orientierte Geisteswissenschaft, die ihren repräsentativen Sitz in Dornach hat, beschäftige sich jetzt mit Politik, und mit Politik solle sich eine solche Bewegung ja nicht beschäftigen. Unter anderem soll auch darauf hingewiesen worden sein, daß ja die Katholische Kirche in ihre Uiiheilszeiten dadurch hineingekommen sei, daß sie sich mit Dingen beschäftigt habe, die man gewöhrilich zur Politik rechnet.

Wenn ein solches Urteil auftritt, so klingt es an an vielerlei, was man gewohnt ist zu meinen. Und wenn dann jemand ein solches Urteil hört, kommt i\:ini das doch etwas plausibel vor. Er sagt sich dann: Ja, da ist etwas daran, es ist vielleicht doch ein Unfug, wenn von einer geisteswissenschaftlichen Bewegung ausgeht eine Beschäftigung mit solchen Fragen, wie jetzt die Dreigliedeiung des sozialen Organismus eine ist.

Nun gehört sowohl das ursprüngliche Urteilen über diese Sache in der Richtung, wie ich es eben charakterisiert habe, wie auch das Nach- sprechen in die Klasse der heute zahlreich auftretenden oberflächiichen Derikmethoden. Unsere Zeit glaubt ja sehr stark, daß man es im Denken namentlich außerordentlich weit gebracht habe. Ja, wir haben die Aufgabe, gerade das Denken bis zu einer gewissen Höhe zu bringen, wenn die Menschheit nicht in Unheil untergehen soll. Aber dem, was da als Forderung an die Menschheit herantritt mit Bezug auf ein klares, scharfes Denken, vor allen Dingen mit Bezug auf ein innerlich wahrhaftiges Denken -- denn das Denken, das uriklar ist, ist immer zugleich etwas

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verlogen -, dem, was da als Aufgabe der Menschheit vorgesetzt ist in bezug auf ein klares, scharfes, innerlich wahrhaftiges Denken, dem steht heute gegenüber der Trieb, unklar zu denken, unfertig zu denken, halb zu denken, nachzuurteilen, das wieder zu sagen, was man da oder dort hört, oder das wieder zu denken. Ich sage aber auch: Ursprünglich liegt eine außerordentliche Oberflächlichkeit dem Ausspruche zugrunde, daß die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in der Dreigliederungsfrage abgeirrt sei auf das Gebiet des Politischen, das ihr nicht zu- gehöre. Denn wer so urteilt, urteilt ganz abstrakt. Er nimmt einfach irgend etwas, was für die Katholische Kirche richtig sein mag, herüber auf etwas, was ganz andersartig ist. Das ist gerade so, als wenn jemand gelernt hat, irgend etwas ist gut für einen Schuh, den man anzieht an den Fuß, und dann das Urteil, das er sich von dem Schuh gebildet hat, auf den Handschuh überträgt; so gescheit ist solch ein Urteil. Warum? Worauf geht denn die Dreigliederung ursprünglich hinaus? Sie geht darauf hinaus, in der sozialen Ordnung eine reinliche Gliederung zu schaffen zwischen dem Geistesleben, das seine eigene Verwaltung haben soll, dem Rechts- oder Staatsleben, das in der Mitte stehen soll zwischen den beiden anderen mit seiner vollen Selbständigkeit, und dem wirtschaftlichen Leben, das als drittes Glied reiiilich von den beiden andern abgeschieden sein soll.

Nun denken wir einmal nicht oberflächlich, wie jener denkt, der da sagt, Anthroposophie habe sich nicht mit Politik zu beschäftigen, sondern denken ww einmal die Sache wirklich objektiv klar durch: Was wird denn durch eine solche reiiiliche Scheidung angestrebt? - Nun, das Geistesleben soll ja selbständig dastehen, das Geistesleben soll sich auf seinem eigenen Grund und Boden entwickeln, das Geistesleben soll nur dasjenige zur Geltung bringen, was aus seinen eigenen Impulsen kommt. Es wird also angestrebt, daß das Geistesleben nicht mehr abhängt vom Staatsleben und nicht mehr abhängt vom Wirtschaftsleben, sondern gerade frei und unabhängig sein kann, gerade so sein kann, wie es die Katholische Kirche niemals war, die sich immer mit dem Staat und Wirtschaftsleben zusammen koiifundiert hat. Also es handelt sich darum, gerade das zu schaffen, wodurch man im Geistesleben erst in der Lage ist, alle Impulse dieses Geisteslebens geltend zu machen. Denken Sie sich

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daher, wie frivol, wie oberflächlich es ist, wenn jemand sagt, Anthroposophie solle sich nicht auf das Gebiet der Politik versteigen, während sie gerade fordert, daß eine solche soziale Ordnung geschaffen werden soll, durch die das möglich ist, daß das Geistesleben sich nicht mehr mit Politik befasse. Es soll ja gerade eine Politik geschaffen werden, durch die das Geistesleben seine eigene Verwaltung, seine eigene innere Organisation hat. Und nicht mehr soll es nötig sein, daß man, wenn man eine Schule gründen will oder einen Lehrplan ausarbeiten will, sich an die politische Behörde oder an den staatlichen Lehrplan zu wenden hat; denn dadurch wird man ja gerade abhängig von der Politik. Sie sehen an diesem Beispiel, was klares, scharfes Denken bedeutet und wie diejenigen denken, die heute eben aus irgendwelchen Dingen, die ihnen an- geflogen sind, ein Urteil fällen über das, was aus den Impulsen des geistigen Lebens heraus geschöpft ist. Denn der Dreigliederungsgedanke ist aus der Initiationswissenschaft heraus geschöpft. Und derjenige, der da sagt, es soll sich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nicht mit dem Dreigliederungsgedanken befassen, der versteht erstens nicht, klar zu denken, er denkt koiifus; zweitens aber versteht er gar nichts von dem wirklichen Impuls der Geisteswissenschaft, denn er weiß nicht, daß diese Sache im Zusammeiihange mit den großen Forderungen unserer Zeit gerade aus dem Impulse der Geisteswissenschaft heraus- geholt ist.

In solchen Selbstwidersprüchen bewegen sich heute aber zahlreiche Urteile, die öffentlich abgegeben werden und die von einer großen Anzahl von Menschen einfach nachgesprochen, nachgeurteilt, nachgedacht werden. Welche Aufgabe wir vor allen Dingen haben, das ist, daß wir versuchen, wirklich unabhängig auch von allen nationalen Chauvinismen zu einem reinlichen, geraden, innerlich wahrhaftigen Denken zu kommen. Man wird dazu nicht kommen, wenn man sich nicht erst gesteht, daf`<: die Gegenwart weit davon entfernt ist. Denn wenn man kein Gefühl d.ivon hat, wie weit die Urteile, die heute herumschwirren und herumsatLsen, von Objektivität entfernt sind, dann wird man nicht einmal den Antrieb in sich erleben, zu einer Klarheit, zu einer innerlichen Wahrhaftigkeit des Denkens zu kommen.

Ich wollte Ihnen an einem naheliegenden Beispiel von der Verkennung

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der Stellung der Dreigliederung zu dem eigentlichen geisteswissenschaftlichen Problem klarmachen, welche konfusen Urteile heute durch die Welt schwirren, und ich weiß sehr gut, daß solche Urteile blendend auf manche Menschen wirken, weil sie nicht nachdenken darüber, weil sie glauben, wenn der Betreffende sagt, die Anthroposophie solle sich nicht mit der Dreigliederung befassen, so habe das etwas für sich, denn es unterliege dem, daß eine geistige Bewegung nur dann gedeihen kann, wenn sie auf sich selbst gestellt ist. Aber das wird ja gerade an- gestrebt. Wer also so urteilt, wie ich es charakterisiert habe, der bleibt auf halbem Wege stehen.

Aus solchen Voraussetzungen heraus möchte ich zur Selbstprüfüng darüber anregen, wo überall im Gemüte unfertige Urteile sitzen, Urteile, zu denen die Unterlagen durchaus fehlen. Es ist nämiich - man kann das schon im allgemeinen sagen - so leicht, aus oberflächlichen Voraussetzungen heraus das oder jenes, was von anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft gegeben wird, zu kritisieren. Wenn man die Tiefen nicht fühlt, aus denen heraus die Dinge geschöpft sind, dann kann man aus den alleroberflächlichsten Tagesstimmungen heraus über Anthroposophie urteilen. Daher erlebt man es ja auch so vielfach, daß Leute, die eigentlich kaum hereingerochen haben in das Gebiet der Anthroposophie, aus ihrer «Gescheitheit» heraus sogleich sagen: Damit kann ich übereinstimmen, damit kann ich nicht übereinstimmen - und so weiter. Die Aufgabe ist eigentlich für den, der richtig fühlen kann, immer diese, den Versuch zu machen, tiefer und tiefer erst in die Sache einzudringen, ein Gefühl dafür zu erhalten, wie Initiationswahrheiten eigentlich aus den Tiefen des Seins geschöpft sind. Denn wenn wir nun etwas tiefer das anfassen, was ich nun seiner Äußerliclikeit nach berührt habe, so kommt folgendes heraus.

Wir haben es in der neueren Geschichte erlebt, daß immer mehr und mehr im öffentlichen sozialen Organismus zusammengeflossen sind das Geistesleben, das Rechtsleben, das Wirtschaftsleben. Die modernen Parlamente streben danach, von sich aus die Entscheidungen zu treffen durch die Majoritätsbeschlüsse von Personen, die vielleicht gar nichts von den Sachen verstehen, über die man nur entscheiden kann, wenn man davon etwas versteht. Über alles mögliche, über Geistesleben, über

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Rechtsleben, über Wirtschaftsleben soll von den Einheitsparlamenten aus entschieden werden. In dem Augenblicke aber, wo das Geistesleben - nehmeii wir dieses zuerst - abgetrennt wird von den beiden andern Gliedern, von dem rechtlich-staatlichen und von dem wirtschaftlichen Gebiete, wird das Geistesleben ganz an den Menschen selbst heran- gebracht. Das Geistesleben wird ein eigener Organismus. Das Geistesleben hat aus denselben Prinzipien heraus sich zu verwalten, aus denen es fortwährend geschöpft wird. Diejenigen Menschen, die dies oder jenes zu lehren haben, haben auch zu verwalten die Art und Weise, wie Lehrer arigestellt, wie Schulen verwaltet werden. Das Geistesleben soll vöffig frei auf sich selbst gestellt werden. Dadurch werden die individuellen menschlichen Fähigkeiten gerade auf dem Gebiet des Geisteslebens fortwährend aufgerufen. Dadurch wird fortwährend dasjenige, was auf dem Gebiet des Geisteslebens entschieden werden soll, abhängig gemacht von den Fähigkeiten der Menschen, von den Fähigkeiten derjenigen Menschen, die gerade in irgendeinem Zeitalter da sind. So soll es aber sein. Es sollen nicht diejenigen, die individuell zu diesem oder jenem fähig sind in irgendeinem Zeitalter, durch irgendwelche Staats- oder Pariamenrsinstrumente verhindert werden können, ihre Fähigkeiten zu:r Geltung zu bringen. Dadurch wird das Geistesleben ganz und gar abhängig gemacht von dem Menschen. Dadurch aber, daß nichts anderes wirkt in der Entwickelung des Geisteslebens als die Menschen selber, wirkt das, was ich gestern charakterisiert habe, jenes Element des Geisteslebeiis, das sich fortentwickelt. Ich habe Raffael als ein Beispiel hervorragender, aber auch charakteristischer Art angeführt: Wenn seine Werke längst verlorengegangen sein werden, so wird das da sein in der Welt, daß er sich an den Werken entwickelt hat. Dieses iiinerliche Entwickelungsprinzip, das wird gemacht zu dem, was im Geistesleben wirkt, das heißt, es wird aus dem Geistesleben gerade durch die Abtrennung vom Staate alles Luziferische ausgeschaltet. Und nur durch diese Abtreiinung kann das Luziferische ausgeschaltet werden. Jedes von dem Staate abhängige Geistesleben ist mit luziferischen Impulsen durchsetzt. Es spielen in das Geistesleben dann Majoritätsbeschlüsse oder dergleichen hinein, die immer das verretuschieren, was von den menschlichen Individualitäten kommt, dadurch aber das scharfe Denken, das scharfe

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Wollen, das aus der menschlichen Individualität kommt, dann verwischen. Aber durch alles Verwischen dieser Schärfe entsteht eben gerade das luziferische Element im menschlichen Denken, im menschlichen Wollen. So daß wir sagen können: Alles Geistesleben, das mit dem Rechtsleben verknüpft ist, trägt den luziferischen Charakter. Und gerade um den luziferischen Charakter zu überwinden, der überwunden werden muß im öffentlichen Geistesleben, bedarf es der Lostrennung vom Rechtsleben. Der einzelne Mensch kann ihn nicht überwinden, denn trauinhafte Elemente - ich habe gestern darauf aufmerksam gemacht - müssen immer in sein Geistesleben hineinspielen. Aber die werden abgestoßen dadurch, daß der Mensch im sozialen Geistesleben drinnen ist, aber dieses Geistesleben abgetrennt ist vom Staate.

Ebenso spielen in das Wirtschaftsleben, wenn es vom Staate verwaltet wird, ahrimanische Elemente hinein. Diese ahrimanischen Elemente, die in das Wirtschaftsleben, in die Verwaltung des Wirtschaftslebens, wenn der Staat beteiligt ist an diesem Wirtschaftsleben, hineinspielen, die werden einzig und allein dadurch beseitigt, daß das Wirtschaftsleben, wie ich hier oft betont habe, auf das Leben der Brüderlichkeit aufgebaut werde in Korporationen, Assoziationen und so weiter.

Sie sehen, es handelt sich darum, wirklich große Prinzipien geltend zu machen bei dieser Dreigliederung. In der Mitte bleibt dann das eigentliche Staatsgebilde, alles dasjenige nur, was sich auf das öffentliche Recht bezieht.

Nun erinnern Sie sich an etwas, was ich Ihnen hier schon auseinandergesetzt habe, was ich aber noch eiiimal für diejenigen, die das nicht gehört haben, wiederholen will. Der Mensch, indem er hier auf der Erde lebt zwischen Geburt und Tod, ist ja nicht bloß dieses Wesen, das hier zwischen Geburt und Tod lebt, sondern er trägt in sich die Nachklänge desjenigen, was er durchlebt hat erstens in früheren Inkarnationen, aber namentlich desjenigen, was er durchlebt hat zwischen dem letzten Tode und der Geburt, die seinem jetzigen Leben vorangegangen ist. In dieser Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt haben wir in der geistigen Welt Erlebnisse durchgemacht, und diese Erlebnisse klingen nach in dem gegenwärtigen Leben. Und wie klingen sie nach im öffentlichen sozialen Leben? - So, daß alles, was die Menschen hineinbringen

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in das öffentliche Leben durch ihre Talente, durch ihre besonderen Begabungen, was also überhaupt das öffentliche Geistesleben ist, ja gar nicht von der Erde ist, sondern alles Nachklang ist aus dem vorirdischen Leben. Was Goethe als Goethe zwischen 1749 und 1832 geleistet hat, das ist alles ififlueriziert von demjenigen, was er vor 1749 in der geistigen Welt erlebt hat; das hat er heruntergetragen. Und was hier auf der Erde an Kunst, Wissenschaft, an religiösen Impulsen bei den Menschen entwickelt wird, das heißt, was entwickelt wird als irdisches Geistesleben, das ist alles Nachklang des überirdischen Geisteslebens, wie es die Menschen durch die Pforte der Geburt hier hereinbringen. Wenn Sie die Literatur nehmen, wenn Sie die Kunst nehmen, all das, was da drinnen ist, ist heruntergeschickt aus den geistigen Welten. Wir haben also in diesem sozialen Leben hinsichtlich der Kräfte ein Element drinnen- stecken, das uns einfach heruntergeschickt wird aus den geistigen Welten. Die Menschen bringen es herunter, indem sie durch die Pforte der Geburt hier eintreten in diese Welt zwischen der Geburt und dem Tode. Dasjenige aber, was im Wirtschaftsleben gewirkt wird durch Brüderlichkeit oder Unbrüderlichkeit, was die Menschen füreinander tun, wirtschaften, das hat, so sonderbar es klingt, nicht nur eine Bedeutung für dieses Leben zwischen Geburt und Tod, sondern gerade eine große Bedeutung für das Leben nach dem Tode. Da ist es zum Beispiel schon von Bedeutung, ob ich mein ganzes Leben hindurch als Neidhammel handle und mich so verhalte, daß der Neid mein Prinzip ist, oder ob ich aus Menschehliebe handle. Das Handeln, insofern es in das öffentliche Leben einfließt, insofern es die Menschen miteinander in Berührung bririgt, dieses Handeln hat nicht nur eine Bedeutung hier für die Erde, sondern dieses Handeln wird in seinem Effekt durch die Pforte des Todes durchgetragen und hat eine Bedeutung durch das ganze Leben zwischen dem Tod, der uns trifft nach diesem Erdenleben, und dem nächsten Erdenleben. So daß wir sagen können: Dasjenige, was sich hier abspielt als wirtschaftliches Leben, das ist die Ursache, wie Menschen leben werden zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Wenn zum Beispiel eine wirtschaftliche Ordnung bloß auf Egoismus aufgebaut ist, so bedeutet das, daß die Menschen im hohen Grade Einsiedler werden zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, daß sie die

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größten Schwierigkeiten haben, andere Menschenwesen zu finden, kUrz, es hat eine riesige Bedeutung für das Leben zwischen dem Tod und der nächsten Geburt, wie der Mensch sich hier wirtschaftlich verhält.

Es bleibt daher einzig und allein als rein irdisch das Rechts- oder Staatsleben. Das hat weder eine Bedeutung für vorgeburtliches Leben noch für das nachtodliche Leben, das hat nur eine Bedeutung für das, was hier auf der Erde geschieht. Trennen wir reinlich ab dieses rechts- staatliche Leben von den beiden andern Gebieten, so trennen wir das Irdische ab von allem Überirdischen, das hier auf die Erde hereinspielt. Es liegen also große Prinzipien auch in dieser Beziehung in der Dreigliederung des sozialen Organismus. Wir gliedern in drei Glieder aus dem Grunde, weil wir die verschiedensten Gebiete, die mit dem Über- sinnlichen etwas zu tun haben, von demjenigen abtrennen müssen, was nur mit dem Sinnlichen zwischen der Geburt und dem Tode etwas zu tun hat. Was der Mensch auf dem Wege entscheiden kann, der allein Majoritätsbeschlüsse möglich macht, das kann nur hier für die Erde eine Bedeutung haben. Was der Mensch durch seine Talente, durch seine Fähigkeiten, die ihm, wie man sagt, angeboren sind, die aber auf die Weise erworben sind, wie ich es eben jetzt charakterisiert, habe, leistet, das leistet er als Menschehindividualität. Und in dem Augenblicke regiert der «Fürst dieser Welt», um einen alten Ausdruck zu gebrauchen, wo man eben durch Majoritätsbeschlüsse irgendwie die Individualität beeinträchtigt. Majoritätsbeschlüsse können einzig und allein sich auf dasjenige beziehen, noch einmal sei es gesagt, was für die irdischen Verhältnisse eine Bedeutung hat; denn für dasjenige, was nach dem Tode Bedeutung hat, muß wiederum Menscheiiliebe, Humanität, Wohlwollen, was wiederum ganz individuell ist und nur individuell sein kann, seine Kraft entfalten.

Damit weise ich Sie hin auf dasjenige, was für die Bekräftigung der Dreigliederungsidee nur aus der Initiationswissenschaft heraus gewonnen werden kann. Worauf beruht denn aber eigentlich alles Herein- ragen des Luziferischen und des Ahrimanischen in unsere Welt? Das Hereinragen alles Luziferischen und Ahrimanischen in unsere Welt beruht darauf, daß aus andern Graden des Bewußtseins irgend etwas in unsere Welt hereinfließt, als die normalen Grade des Bewußtseins

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sind. Wenn wir durch die Pforte der Geburt gehen, treten wir aus einem normalen Bewußtseinsstadium, das ganz anderer Art ist als das irdische hier, in dieses irdische Bewußtseinsstadium ein. Gerade jetzt, für unseren füniten nachatlantischen Zeitraum, ist das Traumesbewußtsein abnorm: das Tagesbewußtsein, das durchzogen ist von den Bildern des Traumes. Lassen wir Träume herein in unser Denken, so vermischen wir das, was wir bloß haben sollten durch unser vorgeburtliches Leben, mit dem, was zwischen Geburt und Tod sich abspielt. Und diese Mischung, die ist gerade für Luzifer ganz besonders geeignet, seine Ziele, nicht die normalen göttlichen Ziele der Erde, mit uns zu erreichen. Alles Hereinspielen des abnormalen Traumhaften in die gegenwärtige Bewußtseinsswelt kann daher nur zur Luziferisierung der Menschheit führen. Normal ist für unser Bewußtsein, wenn wir so lange träumerisch uns erziehen lassen, als unser Bewußtsein noch ein träumerisches ist, nämlich während der Kindheit. Wenn wir dieselbe Beziehung zur Welt, die während der Kindheit ganz gut ist, wo wir zum Beispiel sprechen lernen sollen, das wir wie im Traume lernen, fortsetzen über die Kindheit hinaus, was ein großer Teil der heutigen Menschheit tut, dann öffnen wir Luzifer die Türen und Tore und Fenster und alles, was wir nur öffnen können, in unser Bewußtsein herein. Wenn wir daher nicht tiefer begründet, als es begründet ist, wenn uns etwas träumt, öffentliche Urteile annehmen, dann öffnen wir dadurch Luzifer fortwährend die Tore. Wenn wir zum Beispiel von irgendwelcher Seite her befohlen bekommen, daß wir den oder jenen für einen «großen Staatsmann» oder einen «großen Fürsten» oder einen für «unschuldig am Kriege» oder für einen «großen Feldherm» anzusehen haben, ohne daß wir das prüfen, so ist das, warum wir ein solches Urteil bilden, gar nicht verschieden von den Gründen, warum wir irgend etwas träumen.

Ein großer Teil der gegenwärtigen Menschheit hat bis vor kurzem Woodrow Wilson für einen großen Mann gehalten, weil er den Unsinn der «Vierzehn Artikel» in die Welt geschickt hat. Fragen Sie, mit welcher inneren Bekräftigung die Menschen das getan haben, so finden Sie keinen Unterschied zwischen der Bekräftigung, die die Menschen gefühlt haben, Woodrow Wilson für einen großen Mann zu halten, und der Bekräftigung, die Sie fühlen, wenn Sie irgend etwas träumen. Der

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Traum kommt Ihnen mit derselben inneren Willkür oder Unwillkür, wie Ihnen das Urteil über Woodrow Wilson und seine «Vierzehn Unsinne» gekommen ist. Es ist kein Unterschied, ob man auf diese Weise voll bewußt träumt oder ob man schlafend träumt. Es ist kein Unterschied, ob man auf die Stimmen der Außenwelt hin Ludendoiff für einen großen Feldherm oder Cle`menceau für einen großen Staatsmann hält oder ob man in der Nacht dieses oder jenes träumt. Aber auf diese Dinge muß die Menschheit aufmerksam werden. Denn bei dem Bemerken solcher Dinge tritt zu gleicher Zeit das Urteil in uns ein, wie wir vom Luziferischen in der Welt ergriffen werden. Denn wir werden vom Luziferischen in der Welt dadurch ergriffen, daß wir namentlich bewußt träumen. In bezug auf dieses öffentliche Urteilen ist ein großer Teil der Menschheit der Gegenwart wirklich recht kindisch gewesen und ist weiterhin kindisch.

Das sind Dinge, die heute ernster erwogen werden müssen, als wirklich mancher meint. Und auf der andern Seite handelt es sich darum, daß wir lernen vom Leben. Denn in bezug auf unseren Willen schlafen wir fortwährend, das habe ich ja oft gesagt. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt: Sie haben zwar die Vorstellungen von dem, was Sie tun, aber nicht einmal, was die Hand innerlich ausführt, wenn sie sich bewegt; davon hat der Mensch gewöhnlich keine Vorstellung. Von diesem merkwürdigen Prozesse, der mit dem menschlichen Wollen zusammeiihängt, hat der Mensch so wenig eine Vorstellung, wie er von dem eine Vorstellung hat, was er im tiefen Schlafe tut. Das Wollen ist ein waches Schlafen in der Regel. Dieses Wollen muß immer mehr und mehr zum Bewußtsein erhoben werden. Das wird noch ein langer Prozeß sein, wie das Wollen zum Bewußtsein erhoben wird im Verstehen der Erdenzeit. Partiell zum Bewußtsein erhoben wird es - auf einem kleinen Gebiete, bei andern Gebieten auch, aber ganz hervorragend auf einem Gebiete - zum Beispiel durch unsere Eurythinie. Da werden Bewegungen ausgeführt aus dem vollen Bewußtsein heraus. Da wird das Wollen wirklich vom vollen Bewußtsein durchsetzt. Daher habe ich öfter jetzt auseinandergesetzt in der Einleitung zur eurythmischen Vorstellung, daß es darauf ankommt, daß gerade die Eurythriiisten alles schläfrige Wesen bekämpfen und gerade nach dem Gegenteil des Träumerischen hin

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arbeiten. Es ist ein großer Fehler, wenn Eurythmie nicht im vollsten überwachen Zustande ausgeführt wird, sondern wenn sie ausgeführt wird so, daß man glaubt, man kann auch in die Eurytlimie hinein «mysteln». «Mysteln» kommt von Mystik. Es ist schon sehr schlimm, T. ins gewöhnliche Leben hinein zu mysteln, um so schlimmer, wenn etwas, was gewollt sein soll, was das Gegenbild des Traumes sein soll, durchmystelt wird. Das vom vollen Bewußtsein durchsetzte Wollen muß aber auch für das übrige Leben immer mehr und mehr angestrebt werden.

#Bild S.131

Tafel 7

Wiederum haben wir hier einen Fall, wo ein großer Teil der Menschheit nach dem Gegenteil hin arbeitet, nach dem Gegenteil dessen, was gerade als eine Grundforderung unserer Zeit uns vor Augen stehen sollte. Eine Grundforderung unserer Zeit ist diese, das Leben mit Bewußtsein zu durchdringen, nicht nur mit Verstand. Verstand ist etwas sehr Einseitiges. Die Menschen glauben heute gar, übersinnliche Wahrheiten auf mystischem Wege zu gewinnen, indem sie Medien dazu benützen, das heißt das Bewußtsein soviel wie möglich herabstimmen. Es gibt keinen luziferisch-ahrimanischeren Weg zur geistigen Welt als den spiritistischen. Das führt durchaus auf der einen Seite, beim Medium, in die Nähe zu Luzifer, auf der andern Seite, bei denen, die sich vom Medium ihre «Wahrheiten» sagen lassen, zum Ahrimanismus. Und der Inhalt solcher Wahrheiten, dieser sogenannten Wahrheiten, ist auch danach. Denn, was das Medium zu sagen hat über Außersinnliches, das ist nicht etwa etwas Höheres als das Sinnliche. Das Sinnliche hat eine gewisse Bedeutung durch die ganze Erdenzeit hindurch. Was Medien zu sagen haben, hat nur durch einen ganz kurzen Zeitraum eine Bedeutung, wenn es auf Wahrheit beruht, selbstverständlich. Es hat nur eine Bedeutung für gewisse elementare geistige Wirkungen einen kurzen Zeitraum hindurch, so daß man immer noch Höheres erfährt, wenn man sein ganzes Leben nichts anderes tut, als durch seine gesunden Augen schauen, durch seine gesunden Ohren hören, als wenn man sich durch Medien etwas über das Außersinnliche sagen läßt.

Aus diesen und ähnlichen Dingen können Sie entnehmen, daß auf der einen Seite in unserer Zeit große Forderungen nach der Erneuerung des Geisteslebens da sind, daß aber auch das da ist, was man nennen kann ein scharfes Entgegenarbeiten gegen die wirklichen, unserer Zeit

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gewachsenen Quellen des Geisteslebens. Die Menschen sträuben sich heute gegen das Hereindrängen des Geistigen in die physisch-sinnliche Welt. Dieses Sich-Sträuben, das ist es, was Ihnen ja auf allen möglichen Gebieten entgegentreten kann und was Sie herauserkennen sollen aus den verschiedenen Bekämpfungen derjenigen Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist. Diese Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, ist sich klar darüber, daß auch dasjenige, was in das öffentliche soziale Leben hineinkommen soll, in der Zukunft durchaus aus den Initiationsquellen heraus ffießen muß. Was da geltend gemacht wird, wie zum Beispiel die Dreigliederung, das mag ja gewissen Leuten heute nicht gefallen. Es gibt Menschen, die da sagen: Mir gefällt dies oder jenes nicht daran. - Diese Menschen sollten wiederum begreifen lernen, was ganzes Denken ist. Es kommt ja im Leben nicht auf das an, was uns gefällt oder nicht gefällt. Ich kannte einmal eine Dame - ich habe es schon öfter erzählt -, die ließ sich mancherlei erzählen über Geisteswissenschaft. Dann sagte sie: Ja, aber die Wiederverkörperung, die wiederholten Erdeiileben, das ist etwas, das mir nicht gefällt; ich will nicht wieder auf die Erde kommen. - Man konnte ihr nach und nach begreiflich machen, daß es nicht darauf ankäme, ob sie will oder nicht, namentlich, daß es nicht darauf ankäme, ob sie in diesem Leben will oder nicht, denn sie wisse ja noch nicht, was sie wollen werde zwischen dem Tode und einer neuen Geburt; da werde sie schon wollen wiederkommen. - Nun schien sie das nach und nach zu begreifen und ging auch weg, indem sie sagte, jetzt begreife sie es. Es war das in Berlin. Von Stettin aus schrieb sie dann eine Karte, sie glaube doch nicht daran; es gefiele ihr doch nicht, wiederum auf die Erde zu kommen. - Da reißt das Denken dynamisch ab; es kann auch mechanisch abrei!~en. Auch davon haben wir auf unserem Boden selbst schon ein Beispiel erlebt. Das Beispiel ist sehr einleuchtend; aber daß es anwendbar ist auf vieles, was die Menschen denken, das ist weniger einleuchtend. Ich hatte einmal bei einer Versammlung auseinanderzusetzen, wie die Menschenwesen in der Reinkarnation wiederkommen, mit ihren individuellen Menschenseelen wieder erscheinen. Tiere, mußte ich sagen, haben eine Gruppenseele; und während beim Menschen es so ist, daß er eine individuelle Seele hat, diese individuelle Seele bewahrt für die Zeit zwischen dem Tod und einer neuen

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Geburt, mit seiner individuellen Seele wiederum erscheint und so weiter, ist es beim Tier, das die Gruppenseele hat, so, daß es beim Tode in die ganze Gruppe hineingenommen wird, daß jedes einzelne Tier dann wieder herausgegliedert wird bei der Geburt und gleichsam wie durch einen Fangarm wieder eingezogen wird in die Gruppenseele nach dem Tode. Da fing eine Dame an zu polemisieren: Ja, das sehe sie ein für alle Tiere, nur nicht für ihren Hund - den sie ganz besonders gern hatte; denn den hat sie so erzogen, daß er so stark eine individuelle Seele hat, daß er als Individualität wieder erscheinen wird! - Nachher hatte ich ein Gespräch mit einer anderen Dame, die sagte: Wie dumm ist doch die Dame gewesen, zu glauben, daß ihr Hund, der doch nur eine Gruppenseele hat, als Individualität wiederkehrt. Ich habe das gleich eingesehen, daß das nicht sein kann. Aber mein Papagei, der kehrt sicher als Individualität wieder, das ist etwas anderes!

Gewiß über diese Dinge läßt sich lachen; aber an diesen Dingen bemerkt man es eben, wenn man die Denkfehler macht. An dem, was ich Ihnen gesagt habe bezüglich der angeblichen Koiifundierung von Dreigliederung mit Geisteswissenschaft, merkt man sein kurzes Denken nicht! Ich habe es erlebt, wie in diesen letzten fünf Jahren zahlreiche Urteile ganz nach dem Muster dieses Papageienurteils gefällt worden sind, wie die Menschen in einem Landesgebiete begriffen haben, wie es überall sonst beschaffen ist, aber bei ihnen war es immer etwas anderes, ganz nach dem Muster des Papagei~Wiederkehrens. Es handelt sich darum, daß wir diese Dinge wirklich in der Gegenwart ernst nehmen und daß wir einsehen können: Es muß auch in das soziale Leben die Initiationswissenschaft hereinfiießen können, daß wir uns keiner Täuschung hingeben über den Unterschied zwischen dem, was wir denken möchten, und dem, was real ist. Es kann deshalb heute vielen Menschen unangenehm sein, die Dreigliederung zu propagieren. Aber es gibt heute in der Welt zwei Dinge, und derjenige, der ehrlich und aufrichtig die Welt ansieht, der sich keinen Illusionen hingibt, der sieht es, daß es diese zwei Dinge gibt: entweder Bolschewismus über die ganze Welt oder Dreigliederung! Sie mögen ja vielleicht die Dreigliederung nicht mögen; dann entscheiden Sie sich eben für eine alte Weltenordnung! - Aber bedenken Sie doch nur einmal, was übriggeblieben ist von einem großen

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Teil von Europa in den letzten vier bis füiif Jahren! Nehmen Sie die einzelnen Teile. Da haben Sie zum Beispiel Deutsch-Österreich; so wie es - von einzelnen Persöiilichkeiten, die ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» herausgehoben habe, abgesehen - in seiner Gesamtsubstanz ist, rührt diese Gesamtsubstanz aus dem katholischen Prinzip des 8. und 9. nachchristlichen Jahrhunderts her. Das lebte noch da, das konnte künstlich erhalten werden unter dem erst naturgemäßen Zusammenhaltungsprinzip des sogenannten Habsburger Hauses, dann des ganzen unnatürlichen Zusammenhaltungsprinzips der ÖsterreichischUngarischen Monarchie. Oder nehmen Sie das, was zum Beispiel die ehemaligen Länder der heiligen Stephanskrone sind, Ungarn: es ist seiner ganzen Konstitution nach das, was es geworden ist im Jahre 1000! Und so könnten wir von allen einzelnen Gebieten angeben, worauf eigentlich das Wesentliche dieser Gesamtsubstanz beruht. Es ist sogar gar nicht bequem, diese Dinge in der Gegenwart den Menschen zu sagen, denn die Menschen wollen nicht unbefangen auf solche Verhältnisse hinblicken. Wie soll man aber glauben, daß eiiifach, indem man diese Tiümmer, die alt und morsch geworden sind, denn sie stammen in ihrer Gesamtsubstanz aus dem 8., 9. Jahrhundert oder aus dem Jahre 1000 und so weiter, zusammeiifügt, sie sich heute zu haltbaren Gebilden zusammenschweißen lassen! Nein, da nützt nur ein wirkliches Erneuern des seelischen Lebens. Das aber muß ja tatsächlich ergriffen werden. Deshalb muß man sich immer wiederum an das Verantwortlichkeitsgefühl der Menschen wenden, dieses Seeleiileben sich einmal anzuschauen. Wird es angeschaut, dann wird man sich ihm auch zuwenden.

Über diese Verhältnisse und namentlich über den Bezug dessen, was ich heute gesagt habe, zu der besonderen Auffassung des ChristusPrinzipes, werde ich dann morgen weitersprechen.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 1. Februar 1920

Bei dem, was ich heute sagen werde als weitere Ausführungen der letztgegebenen Betrachtungen, wird zu berücksichtigen sein, daß auch geisteswissenschaftlich etwas ganz Bestimmtes gelten muß über das Wirken der einzelnen Persönlichkeit in der Geschichte. Man hat gewöhsilich die Vorsteflung, daß eine Persönlichkeit, sei sie eine künstlerische, sei sie eine staatsmännische, eine religiöse oder eine sonstige Persönlichkeit, die wirksam ist in der Geschichte, durch dasjenige wirkt, was sich auf dem Wege bewußt sich abspielender Impulse ausbreitet, und daß eine solche Persönlichkeit nur auf diesem Wege wirke. Und man betrachtet dann Fragen, die damit im ZusammeIihange stehen, so, daß man darauf hin- schaut: Was hat eine solche Persönlichkeit getan, was hat sie ausgesprochen, wie ist das unter die Menschen gekommen und dergleichen?

So einfach verhält sich gerade in den signifikantesten Fällen des geschichtlichen Werdens die Sache nicht, sondern es hängt dasjenige, was in der Menschheitsentwickelung wirksam ist, ab von den treibenden geistigen Kräften, die hinter dem geschichtlichen Werden stehen, und Persönlichkeiten sind gewissermaßen nur die Mittel und Wege, durch die gewisse treibende geistige Kräfte und Mächte aus der geistigen Welt heraus in unser geschichtliches Erdenwerden hereinwirken. Das widerspricht nicht dem, daß nicht auch vieles von der Individualität, von der Subjektivität solcher führender Persönlichkeiten hinauswirkte in weitere Kreise. Das ist ja selbstverständlich. Aber man bekommt von der Gescliichte erst den richtigen Begriff, wenn man sich klar darüber ist, daß, wenn da oder dort ein sogenannter großer Mann dies oder jenes ausspricht, durch ihn sprechen die führenden geistigen Mächte der Merschheitsentwickelung und daß er gewissermaßen nur das Symptom dafür ist, daß gewisse treibende Kräfte da sind. Er ist das Tor, durch das diese Kräfte hereinsprechen in das geschichtliche Werden.

Wenn dann zum Beispiel irgendeine Persönlichkeit einer gewissen geschichtlichen Periode angeführt wird und man versucht, sie in ihrem Einflusse auf die ganze Koiifiguration der Zeit zu charakterisieren, so

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bedeutet das nicht, daß man den Glauben erwecken wolle, wenn man geisteswissenschaftlich spricht, daß dieser Mann nur durch die Kraft seiner Persönlichkeit so gewirkt hat, wie es der Fall ist. Ich will ein Beispiel anführen. Nehmen wir an, es müsse für irgendeine Zeitepoche - wie wir es gleich nachher werden tun müssen - eine philosophische Persönlichkeit als besonders charakteristisch angeführt werden. Da könnte dann jemand kommen und könnte sagen: Ja, diese Persönlichkeit hat philosophische Werke geschrieben, sie hat aber doch nur auf einen gewissen Kreis gewirkt; ein weiterer Kreis von Menschen hat ja keinen Einfluß erfahren von dieser Persönlichkeit aus.

Es wäre ganz falsch, diesen Einwand zu machen, weil die betreffende Persönlichkeit, wenn es auch eine philosophische Persönlichkeit ist, bloß der Ausdruck ist für gewisse Kräfte, die hinter ihr stehen, und von diesen Kräften sind dann die weiteren Kreise beeiriflußt und beeindruckt worden. An dieser Persönlichkeit sieht man nur, was in der Zeit wirkt. Es könnte zum Beispiel das Folgende der Fall sein. Es könnte in einer Zeit irgendeine Geistesströmung, eine Geistesrichtung, in dem Unter- bewußten weiter Kreise von Menschenseelen wirken. Bei einer Persönlichkeit könnte das so zum Ausdruck kommen, daß das, was weite Kreise, vielleicht ganze Völker, nur ahnen, diese einzelne Persönlichkeit besonders charakteristisch klar formuliert, aber es überhaupt nicht niederschreibt, vielleicht nur fünf, sechs andern Menschen sagt oder auch gar nichts sagt. Es könnte also dieser extreme Fall eintreten, daß man nach Jahrhunderten die Memoiren irgendeiner Persönlichkeit entdeckte, in denen Dinge stehen, die nicht auf literarischem Wege verbreitet worden sind, und dennoch könnten in diesen Memoiren die charakteristischsten Ideen und Kräfte gerade dieser Zeit drinnenstehen. In diesem Sinne habe ich auch immer Charakteristiken gegeben, wenn ich solche Charakteristiken versucht habe. Niemals wollte ich den Glauben erwecken, daß nur auf dem Wege der gewöhnlichen Propaganda Ideen von Persönlichkeiten aus wirken, sondern immer wollte ich dar- auf hinweisen, daß man die wirksamen Ideen formuliert findet an den einzelnen Persönlichkeiten. Dabei kommt natürlich in Betracht, daß dazwischen gehen kann der wirksame Einfluß solcher Persönlichkeiten. Es kann aber auch einmal durchaus das Umgekehrte der Fall sein. Von

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einer Persönlichkeit kann eine breite Wirkung ausgehen; aber es muß das andere ausdrücklich gesagt werden, damit gewisse Dinge nicht so genommen werden, daß man etwa sagt: Wenn jemand eine Persönlichkeit charakterisiert als bedeutsam für irgendeine Zeit, so charakterisiert er damit etwas, was nur in irgendeiner Ecke geschieht, während man doch ein Interesse daran hat, dasjenige charakterisiert zu hören, was in den breiten Massen vor sich geht. - Von diesen Gesichtspunkten aus bitte ich das zu betrachten, was ich heute sagen werde.

Es ist öfters von mir auseinandergesetzt worden, wie ein gewisser starker Sprung in dem geschichtlichen Werden der Menschheit vorliegt im 15. Jahrhundert. Derjenige, der das Seelenieben der zivilisierten Menschheit studiert, der findet, daß dieses Seelenieben im 16., 17. Jahrhundert radikal verschieden ist von dem Seelenieben im 10., 11., 12. Jahrhundert. Ich habe ja öfters darauf hingewiesen, wie es einer der unwahrsten Aussprüche ist, der aber immer wiederholt wird: die Natur oder die Welt, das Weltgeschehen mache keine Sprünge. - Solche Sprünge sind gerade an den bedeutsamsten Stellen der Entwickelung vorhanden. Und ein solcher Sprung in der Entwickelung der zivilisierten Menschheit ist eben der Übergang von der vierten nachatlantischen Zeit, die im 15. Jahrhundert zu Ende geht, zu der fünften, in der wir jetzt noch leben, an deren Anfang wir eigentlich erst stehen. Es wird in gewissem Sinne in der ganzen Gesinnungsweise, in den Gedankenformen der europäischen zivilisierten Menschheit anders nach dem 15. Jahrhundert; aber es wird bei den verschiedenen Nationen, bei den verschiedenen Völkern in einer andern Weise anders. Es treten gewisse Übergangserscheinungen in einer verschiedenen Weise auf bei den verschiedenen Völkern.

Nun kann man das Geistesleben, in dem man heute drinnensteht, nicht verstehen, wenn man nicht eine Anschauung hat von dem, was seit dem 15. Jahrhundert in unserem Geistesleben nach und nach heraufzieht. Man muß an charakteristischen Punkten dieses neu heraufziehende Geistesleben fassen. Man kann aber natürlich immer nur einzelne Strömungen und einzelne Gesichtspunkte charakterisieren. Wenn man die Zeit, die diesem füiiften nachatlantischen Zeitraum vorangeht, von dem Mysterium von Golgatha bis ins 15. Jahrhundert, betrachtet, so muß

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man sagen: Es wird ja von einem großen Teil der europäischen zivilisierten Menschheit in dieser Zeit versucht, ein Verständnis, ein religiöses Verständnis des Christentums zu gewinnen. Wer den Versuch macht, die einzelnen Anschauungen zu studieren, wie sie sich mit Bezug auf das Christentum in Europa vom 3., 4. Jahrhundert an bis ins 15. Jahrhundert ergeben haben, der wird finden, daß die Menschen dieses zivilisierten Europas all ihr Begriffsvermögen, ihr Empfindungsvermögen, alles, was sie aus ihrer Seele herausholen konnten, dazu verwendet haben, um in ihrer Art das Christentum zu verstehen, in ihrer Art ein Verständnis von dem zu gewinnen, was aus der Welt geworden ist durch das Mysterium von Golgatha.

Nun treten nach dem 15. Jahrhundert ganz besondere Verhältnisse ein. Es kommt eigentlich da erst - und für denjenigen, der nicht jene Fable convenue betrachtet, die man gewöhnlich Geschichte nennt, sondern die wirkliche Geschichte, ist das ganz klar - dasjenige herauf, was man in weitesten Kreisen heute wissenschaftliche Denkrichtung nennt. Vorher war eigentlich etwas ganz anderes da. Was heute als das richtig Wissenschaftliche angesehen wird, das nimmt erst in dieser fünften nach- atlantischen Periode seinen Anfang. Und dem wird eine ganz bestimmte Konfiguration aufgedrückt, und zwar, kann man sagen, aufgedrückt in verschiedener Weise. Es ist zwar immer derselbe Aufdruck, aber in verschiedener Prägung aufgedrückt im Westen, in Gegenden der westlichen Zivilisation, und etwas anders aufgedrückt in Gegenden der mitteleuropäischen Zivilisation. Und es ist heute der Zeitpunkt herangekommen, wo durchaus diese Dinge unbefangen betrachtet werden sollten, betrachtet werden sollten, ohne daß Nationalismus-Ideen die Betrachtungsweise in dem ungünstigen Sinne beeinflussen, wie ich das gestern schon charakterisiert habe.

Und da kommen wir eben, wenn wir an einer charakteristischen Persönlichkeitserscheinung betrachten wollen, wie diese neuere Zeit ihre geistige Signatur bekommen hat, auf eine solche Persönlichkeit wie die, die besonders charakteristisch ist für den Ausgang aus dem 16. in das 17. Jahrhundert, auf den englischen Philosophen Baco von Verulam. Unter denjenigen Menschen, die sich wissenschaftlich dünken, gilt ja Bacon als eine Art Erneuerer menschlicher Denkweise. Aber dieser

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Bacon ist ein Exponent, ein Symptom für etwas, was in der neueren Zeit herauftritt in der Geschichte in dem Sinne, wie ich das eben zum Ausdruck gebfflcht habe. Die ganze westliche Welt wird im Grunde genommen von einer gewissen Gesinnungswelle durchsetzt, und Bacon ist nur derjenige, der am klarsten diese Gesinnungswelle der westlichen Welt formuliert hat. Ohne daß es die Menschen wissen, lebt diese Gesinnungswelle in einzelnen. Die Art und Weise, wie sie denken, die Art und Weise, wie sie sich über die wichtigsten Angelegenheiten des Lebens ausdrücken, ist in Gegenden der westlichen Zivilisation baconisch, auch wenn die Menschen Bacon bekämpfen, wenn sie ein Entgegengesetztes sagen. Es kommt ja nicht so sehr auf den Inhalt an, den man irgendwelcher Weltanschauungsidee gibt, sondern es kommt auf die Art und Weise an, wie sich eine solche Weltanschauungsidee erstens zum Herzen des Menschen stellt, und dann, wie sie sich hineinstellt in die Impulse des weltgeschichtlichen Werdens.

Man kann, um das, was ich eben ausgesprochen habe, ich möchte sagen, durch eine Paradoxie deutlicher zu machen, sagen: In unserer Zeit könnte jemand ein krasser Materialist sein und der andere ein krasser Spiritualist, und beide könnten ganz gut aus unserer materialistischen Zeit heraus ihre Ideen sagen - der Unterschied würde kein großer sein. Es kommt gar nicht so sehr darauf an, ob heute einer dem wortwörtlichen Inhalte nach sich zum Spiritualismus oder Materialismus bekennt, sondern es kommt darauf an, aus welchem Geiste heraus er das eine oder das andere tut. Denn der wortwörtliche Inhalt ist es nicht, der eigentlich wirkt, sondern der Geist, aus dem heraus irgend etwas ist. Der wirkt; nur wenn man ein Abstraktling ist, gibt man einzig und allein etwas auf wortwörtlichen Inhalt.

Nun ist zu bemerken, daß Bacon, wenn man wirklich auf das eingeht, was der Geist der Denkweise Bacons ist, den Versuch gemacht hat, mit den Geiste5kräften, die besonders aufgetaucht waren seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, Erkenntnis der Menschheit zu begründen, Wissenschaft zu begründen. Die Erkenntniskräfte, die der Menschheit in der neueren Zeit zur Verfügung stehen, die sollten Wissenschaften werden. Es war eine wichtige Zeit, der Anfang des fünften nachatlantischen Zeitraumes, in dem Bacon aufgetreten ist. Es war sozusagen die Zeit, in der

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wirklich alles in Frage gestellt war; denn man konnte nicht in der alten Weise mit den Mitteln der alten Alchemie, der alten Astrologie, mit all den übrigen alten Mitteln, auch nicht mit der alten religiösen Denkweise weiter über die Weltenrätsel irgendwelche Ideen spinnen. Es war der Drang vorhanden nach Erneuerung. Worin drückte sich denn ganz charakteristisch dieser Drang aus? - Dieser Drang drückte sich darin aus, daß gerade in dieser Zeit ein Tiefstand war für alle wirklichen geistigen Erfassungskräfte der Menschheit.

Bis in das 15. Jahrhundert hätte es eine Unmöglichkeit geschienen, so etwas wie das Mysterium von Golgatha mit bloßem auf das Sinnliche gerichteten Verstande begreifen zu wollen. Es war vielmehr eine Selbstverständlichkeit, daß so etwas wie das Mysterium von Golgatha nur als höchste Erscheinung unter andern begriffen werden müsse, mit höheren Erkenntniskräften als dasjenige begriffen wird, was als Natur um uns herum sich ausbreitet. Diese Erkenntniskräfte hatten noch eine gewisse Höhe, als das Mysterium von Golgatha geschah. Sie nahmen immer mehr und mehr ab in der Menschheitsentwickelung. Und als die neueste Zeit begann nach dem 15. Jahrhundert, hatten die Menschen keine geistigen Fassungskräfte mehr, sie hatten nur de,n auf das Sinnliche gerichteten Verstand.

Mit dem auf das Sinnliche gerichteten Verstand suchte nun Bacon eine wissenschaftliche Gesinnung zu begründen. Und so wies er alle diejenigen Methoden des Forschens ab, die vorher als berechtigt anerkannt waren, und machte zuerst das Experiment als dasjenige geltend, auf das einzig und allein in der Hauptsache Wissenschaft gebaut werden sollte. Ein großer Teil der Welt steht heute noch auf diesem Standpunkt: Man muß experimentieren, man muß die Gerätschaften schaffen und experimentieren, und aus den Experimenten heraus müssen sich ergeben die Anschauungen über die Natur. - Vor dem Forum des Geistes angeschaut, heißt das: Ich habe hier einen Schmetterling; es ist mir zu kompliziert, diesen Schmetterling zu untersuchen, ich mache ihn aus Papiermache` sehr täuschend nach und untersuche dann die Nachbildung aus Papiermache`. - Das heißt im Grunde genommen doch dasselbe wie die Beobachtung der lebendigen Natur durch das tote Experiment, was nichts anderes ist, als die lebendige Natur durch den Leichnam für die Naturbeobachtung

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zu ersetzen. Auch wenn wir im physikalischen Laboratorium arbeiten, sollten wir uns bewußt sein, daß wir an Leichnamen der Natur experimentieren. Man muß selbstverständlich experimentieren, man muß auch am menschlichen Leichnam Untersuchungen machen. Aber man kann sich am menschlichen Leichnam keiner Illusion darüber hingeben, daß man eben nur den Leichnam vor sich hat. Beim Experiment aber gibt man sich der Illusion hin, daß es einem erst die Wahrheit überliefert. Aber niemand, der nicht in sich schon die geistige Intuition hat, um aus der lebendigen Natur in das Experiment dasjenige hereinzuergießen, um was es sich handelt, kann aus dem Experiment, dem toten Experiment irgend etwas, das für die lebendige Natur gilt, herausgewinnen.

Darnit aber ist angedeutet, daß die Baconsche Denkweise von vornherein darauf ausging, das Tote zum Erklärungsprinzip des Weltenwesens zu machen. Nun ist das Eigentüiiiliche, daß man in jener Nachbildung des Lebendigen, die man im Experimente noch er- reicht, Anhaltspunkte hat für Erklärungen der außermenschlichen Natur, daß man sich aber keiner Illusion hingeben soll, daß man durch irgend etwas Experimentelles wirklich etwas gewinnen kann, was aufklärt über den Menschen selbst. Alles Experimentieren führt von der menschlichen Wesenheit hinweg.

Daher ist es gekommen, daß in den Jahrhunderten, die seither verflossen sind und in denen sich jene Derikergesinnung, die in Bacon eine bestimmte Höhe erreicht hat, ausgebreitet hat, das Verständnis für den eigentlichen Menschen und sein Wesen verlorengegangen ist. Verlorengegangen ist das Verstandnis für das, was eigentlich als treibendes, wirkendes Wesen im Innersten der Menschennatur selber enthalten ist.

Nun kann niemand die großen Impulse des moralischen, des sozialen Wollens finden, ohne auf das Wesen der Menschennatur einzugehen. Daher ist auch das Verständnis für die Impulse des moralischen und sozialen Wollens in diesen Jahrhunderten verschwunden, verschwunden gerade aus Baconscher Denkergesinnung heraus. Daher geht parallel zu der Ertötung des Verständnisses für die Welt, wie sie von Bacon ausgeht, die bloße Nützlichkeitsmoral. Es ist geradezu eine Baconsche

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Definition: Gut ist das, was dem Menschen, entweder dem einzelnen menschlichen Individuum oder der ganzen Menschheit, nützlich ist.

So haben wir, ausgehend von der Baconschen Gesinnung - und sie war viel verbreiteter, als sich irgend jemand heute eine Vorstellung davon macht -, auf der einen Seite eine wissenschaftliche Denkergesinnung, die nur das Außernienschliche erfassen kann, auf der andern Seite eine Moral, die nur auf das ahrimanisch Nützliche geht. Bei Thomas Hobbes, einem Zeitgenossen Bacons, ist das in einem noch stärkeren Maße zum Ausdruck gekommen als bei Bacon selbst. Aber es hat sich dann diese Welle der Nützlichkeitsmoral ergossen in den bloßen Sinn für das Verständnis der außermenschlichen Welt, ergossen in all die Philosophen Locke, Hume und so weiter bis herauf zu Spencer und bis in die Naturwissenschafter von Newton bis Darwin. Wer am charakteristischsten studieren will, was aus der tonangebenden westlichen Welt heraus zur Konstituierung der neuesten Welle europäischer Gesinnung gekommen ist, der muß dort anfangen, muß ausgehen von der Baconschen Denkweise.

Nun ist aber mit dieser Baconschen Denker- und Moralgesinnung etwas ganz Bestimmtes verknüpft. Man kann nur das Außermenschliche mit ihr begreifen, man kann moralisch nur das finden, was dem Menschen und der Menschheit nützlich ist, das heißt, mit den Mitteln, mit denen man hier Wissenschaft und natürliche Moral anstrebt, gelangt man gar nicht in das Gebiet hinein, in welchem Religion west!

Was ist die Folge? Die Folge ist, daß unter denen, die Träger dieser Gesinnung sind, ein Bestreben entsteht, die Religion so zu lassen, wie sie vorher war, das heißt, sie historisch fortzupflanzen, ihr nicht aus einer neuen Wissenschaft des Geistes neue Elemente zuzuführen. Bacon hat ja die charakteristischste Anschauung vertreten, Wissenschaft dürfe nicht mit Religion irgendwie zusammengebracht werden, denn dadurch werde Wissenschaft phantastisch; und Religion dürfe nicht mit Wissenschaft irgendwie zusammengebracht werden, denn dadurch würde Religion heterodox. - Es soll also Religion schön ferngehalten werden von demjenigen Streben, das sich beim Menschen als wissenschaftliches Streben geltend macht. Die neuen Kräfte, die jetzt seit dem 15. Jahrhundert in der zivilisierten Menschheit tätig sind, führt man dem wissenschaftlichen

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Streben zu. Der Religion werden keine neuen Kräfte zugeführt. Sie soll fortkonserviert werden mit den Kräften, die ihr früher schon zugeführt wurden, denn man fürchtet sich vor den neuen Kräften, die ihr zugeführt werden könnten. Man fürchtet sich, daß sie heterodox würde, daß sie ihren eigentlichen Inhalt verlöre.

Was mußte unter dem Einfluß einer solchen Denkergesinnung geschehen? Was ist geschehen? Das ist geschehen, daß man aus einer gewissen menschlichen Wahrhaftigkeit heraus Wissenschaft für die außermenschliche Welt anstrebte, aus einer gewissen Wahrhaftigkeit heraus Nützlichkeitsmoral anstrebte, daß man aber nicht aus dem, woraus man Wissenschaftlichkeit anstrebt, Religion anstreben will. Die soll davon gar nicht berührt werden. Die soll nichts zu tun bekommen mit dem eigentlichen wissenschaftlichen Streben, höchstens insofern man sie historisch betrachtet. Dadurch bekam man den Unterschied heraus zwischen Wissenschaft und geoffenbarter Religion. Dieser Unterschied kann auch etwas stärker ausgesprochen werden, er kann in der folgenden Weise ausgesprochen werden, dann ist er nur starker ausgesprochen und des- halb unangenehmer für die Menschen, die die Wahrheit nicht gern hören; man kann ihn nämlich so charakterisieren: Nach der Wissenschaft strebt man ehrlich, nämlich nach jener Wissenschaft, die sich nur auf das Außer- menschliche erstreckt. Nach einer Nützlichkeitsmoral strebt man auch ehrlich, wahrhaftig; aber man wendet dieses ehrliche, wahrhaftige Streben nicht auf die Religion an, die muß unangetastet davon bleiben, auf die darf die Wissenschaft nicht kommen. Ehrliche außermenschliche Wissenschaft, ehrliche Nützlichkeirsmoral - Religion als Heuchelei, Religion aus der Unwahrhaftigkeit heraus: das ist nur etwas schärfer ausgesprochen, daher unangenehm für diejenigen Menschen, die die Wahrheit nicht ungeschminkt hören wollen, der Unterschied zwischen Wissenschaft und geoffenbarter Religion. Aber dadurch, daß man solch eine Sache ja sehr weitgehend klar und scharf ausspricht, kommt man erst auf ihr Wesen. Und so ist das Charakteristischste dieser Denkrichtung, daß man vor der Anwendung der Wissenschaft auf die Religion zurückschreckte, daß man da nicht wollte, daß die Wissenskraft, die man in der Naturwissenschaft und dergleichen anwendet, in die Religion hineinspielt.

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Diese Art von Denksignatur war gewissermaßen der westlichen Zivilisation natürlich. Sie ist ihr so natürlich, daß zahlreiche Menschen dieser westlichen Zivilisation überhaupt gar nichts anderes begreifen, als daß man ja nicht mit demselben Prinzip, mit dem man die Natur begreifen will, sich hinaufwende zu dem Religiösen. Für die westliche Welt ist das charakteristisch, ihr ist das ganz angemessen.

Aber jetzt denken wir uns denselben Impuls nach Mitteleuropa verfrachtet. Ich kann das an einem charakteristischen Beispiel zeigen. Nicht immer geht es ja so, daß in einer so scharfen Opposition dieser Denkgesinnung opponiert wird, wie von Goethe dem Newtonismus opponiert wurde, sondern es findet auch das statt, daß der Darwimsmus, der ganz nur auf das Außeimenschliche gerichtet war und der zu gleicher Zeit nie etwas anderes begründen kann als eine Nützlichkeitsmoral, nun aufgefaßt wurde von einem so uimitteleuropäischen, sogar preußischmitteleuropäischen Menschen, wie Ernst Haeckel es war. Da bleibt die Sache nicht das, was sie bei Darwin ist. Bei Darwin sehen wir die Denkergesinnung des Bacon fortwirkend. Er betrachtet mit dem Darwinismus die natürliche Welt; aber er bleibt ein Gläubiger, wie Newton ein Gläubiger geblieben ist. Er bewahrt sich die alte Denkweise ruhig fort mit Bezug auf das bloße Religiöse. Wie ist das nun bei Haeckel? Haeckel nimmt in die ganze Seele den Darwimsmus auf. Für ihn gibt es nicht die Möglichkeit der Zweiteilung, für ihn gibt es nicht die Möglichkeit, die Religion unangetastet zu lassen. Er bekommt den Darwinismus, mit dem man eigentlich nur Außermenschliches begreifen kann, aber er wendet mit einem Furor religiosus ihn an gerade auf das Menschliche, und er macht eine Religion daraus. Es wird eine Einheit, es wird eine Religion daraus.

Und so wirken die Impulse, die einmal da sind, überall. Die Impulse sind dieselben, aber sie wirken differenziert, spezifiziert nach den verschiedenen Gebieten. Im Westen verträgt man Darwinismus und Religion zusammen serviert ganz gut in der Weltentwickelung. Ernst Haeckel, der Mitteleuropäer, muß sie durcheinanderrühren und ein einheitliches Gericht daraus machen, weil es für ihn nicht geht, die Dinge nebeneinander zu haben. Bacon und seine Nachfahren bis Spencer und Darwin fürchten sich davor, daß die Religion, wenn man Wissenschaft

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auf sie anwendet, heterodox wird. Haeckel fürchtet sich nicht davor. Er macht die Religion so gut wie möglich, weil er dieselbe Wahrhaftigkeit, die er in der Wissenschaft geltend macht, seiner ganzen Auffassung nach auch in die Religion hineintragen muß. So ist es auf vielen Gebieten. Der Goetheanismus in Goethe selber schon hat ja innerlich opponiert gegen das Begreifen des bloß Außermenschlichen. Sie brauchen nur den Prosahymnus «Die Natur» zu nehmen, den Goethe um die achtziger Jahre rnindestens gedacht hat, wenn er ihn auch nicht selber damals nieder- geschrieben hat, der hier ja auch eurythinisch vorgeführt worden ist, und Sie werden sehen, für Goethe ist die Natur überhaupt nicht in einem solchen Sinne wie für Newton oder Darwin vorhanden, sondern sie ist innerlich beseelt, sie ist sogar mit Humor wirkend für ihn vorhanden: «... gedacht hat sie und sinnt beständig.» Und so hat Goethe das ganze Leben hindurch nur ins Konkretere und immer Konkretere solche Mäximen ausgebaut, wie er sie in dem «Fragment» über die Natur niedergelegt hat. Neulich ist hier in einem Blatte ein sonderbarer Aufsatz erschienen, der sogar, ich glaube, in diesem Sonntagsblatt eine Fortsetzung erfahren hat, wo gesagt wird, daß ich, als ich in den neunziger Jahren in der Neuausgabe des «Tiefurter Journals» in den Schriften der Weimarer Goethe-Gesellschaft das «Fragment» über die Natur mit einer Erklärung herausgegeben habe, zu stark betont hätte, daß die Eigenschaften, die Goethe in dem Prosahymnus «Natur» verarbeitet habe, dann in seinen naturwissenschaftlichen Werken eine Rolle spielen. Es ist wirklich komisch, welcher Einwand da gemacht wird in jenem Aufsatz. Da wird gesagt, in diesem «Fragment» seien überhaupt nicht natur- philosophische Ideen, sondern religiöse Ideen darinnen, und man dürfe nicht die religiösen Ideen dieses Prosahymnus in den naturwissenschaftlichen späteren Ideen Goethes so wiederfinden, wie ich sie gefunden habe. - Da hat sich also ein Pedant - man weiß nicht, was man anderes sagen soll - einmal das Vergnügen gemacht, zu zerspalten das menschlich nach Verständnis Suchende, indem er den Leuten den Glauben einreden will, bei Goethe seien die naturwissenschaftlichen Ideen etwas anderes als die religiösen Ideen. Da wird von vornherein so deduziert, daß man sieht, wie diesem Herrn, der diesen Aufsatz geschrieben hat, der Baconismus in allen Gliedern liegt!

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Kann man nun - so möchte ich jetzt die Frage stellen - auch an etwas anderem sehen, daß da in der modernen Zivilisation eine Differenzierung ist zwischen Wissenschaft und Religion? - Man kann es noch an etwas anderem sehen. Gewiß, auch in England, in dem Lande Bacons, gab es einen Wiclif und dergleichen; aber das hat nicht Einiluß gehabt auf die eigentliche Konfiguration der Zivilisation. In Mitteleuropa dagegen macht sich eigentlich in ganz besonderem Maße etwas geltend, was zum Beispiel nach Westen, nach Frankreich hin gar nicht einen erheblichen Eiiifluß genommen hat, indem nämlich, als die neuere Zeit, dieser fünfte nachatlantische Zeitraum heraufkommt, in Mitteleuropa nicht eine Opposition solcher Art geschieht wie in den westlichen Ländern, wo man wirklich in sehr sachgemäßer Weise Wissenschaft begründet, aber diese Wissenschaft nicht hineinreichen läßt in das religiöse Gebiet, das so fortvegetieren, nur die im alten Sinne geoffenbarte Religion bleiben soll, sondern es entsteht in Mitteleuropa in scharfer Weise gerade auf dem religiösen Gebiete die Opposition in der Reformation und daraus all das Unglückselige in der mitteleuropäischen Entwickelung, die Anzettelung des Dreißigjährigen Krieges durch die Jesuiten, alles das, was sonst noch geschehen ist als die Folgen dieses Unglückskrieges, und wiederum alles das, was weiter noch gekommen ist. Da sehen wir in diesem Mitteleuropa direkt auf dem religiösen Gebiete, daß der Impuls aus dem Zeitalter nach dem 15. Jahrhundert geltend war.

In den kleinsten und in den größten historischen Erscheinungen sieht man, daß derselbe Impuls vorhanden ist, aber verschoben ist, in einer andern Weise aus der menschlichen Seele, aus dem menschlichen Herzen hervorquillt. Aber nach und nach wird die westliche Welt führend, und nach und nach geschieht etwas sehr Bedeutsames. Je weiter wir in der nachgoetheschen Zeit das Geistesleben Mitteleuropas sich entwickeln sehen, desto mehr entfernt es sich gerade von Goethe. Goethe wird zwar von den Literarhistorikern und von andern Leuten noch studiert, nun ja, es entsteht sogar eine Goethe-Forschung. Aber Goethe lebt nicht in alledem. Was Goethe eigentlich als Impuls in die mitteleuropäische Zivilisation hat bringen wollen, Goethe und die Seinen, das versickert allmählich im 19. Jahrhundert. Und in diese mitteleuropäische Welt sickert langsam hinein, geradeso wie der Darwinismus zum

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Haeckelismus geworden ist, dasjenige, was die Impulse der westlichen Welt sind. Die westliche Welt verträgt diese Impulse ganz gut, aber die mitteleuropäische Welt verträgt sie nicht. Die mitteleuropäische Welt steht zwar empfänglich für die westlichen Impulse da, sie nimmt sie auf, aber sie verträgt sie nicht. Wir sehen auf der einen Seite Darwin, der zwar aus dem Prinzip, das eigentlich nur für das Außermenschliche gilt, in seinem letzten Werke auch eine Konsequenz für den Menschen gezogen hat, diese Konsequenz aber keineswegs bis zu jener Tragweite getrieben hat, wie das von Haeckel gemacht wurde. Bei Darwin wird gewissermaßen das Wissenschaftsprinzip gelassen bei dem Außer- menschlichen. In Mitteleuropa aber geht es so, wie es beim Haeckelismus gegenüber dem Darwinismus geht: Es wird versucht, das ganze Leben mit einem solchen Impuls zu durchdringen. Man will nicht nebenher stehen lassen das nicht durchdrungene, zum Beispiel religiöse Gebiet, man will das auch mit dem Impuls durchdringen. Und so bei den andern Gebieten, die denselben Weg machen. Das haben diejenigen, die jetzt älter sind, ja selbst noch erlebt, wie der Parlamentarismus englischer Färbung sich über ganz Europa ergossen hat, mit Ausnahme von PreußischDeutschland, und wie er in Europa aufgenommen worden ist so wie der Darwinismus durch den Haeckelismus. Der Parlamentarismus, wie er in England lebt, ist für England ganz gut. Für diejenigen Länder Mitteleuropas, in die er dann übertragen worden ist, ist mit ihm solch eine Konsequenz verbunden worden wie durch Haeckel mit dem Darwinismus. Unter solchem Einflusse haben sich die neueren Zeiten ergeben.

Aber man kann tiefer gehen und die Erscheinungen, wie sie sich abgespielt haben, noch viel tiefer charakterisieren. Wir haben in der westlichen Welt außer Bacon eine auf die neuere Zivilisation großen Einfluß nehmende Persönlichkeit in Shakespeare. Für denjenigen, der das geistige Leben zu studieren in der Lage ist, weist der Baconismus und der Shakespearismus auf dieselbe außerirdische, aber im Irdischen repräsentierte Quelle hin. Beide nehmen denselben Weg in die neuere Entwickelung herein, und man weiß, daß die Inspiration für Bacon und Shakespeare aus derselben Quelle kommt. Das hat in der neueren Zeit, wo alles grob genommen wird, sogar dazu geführt, daß man die bekannte Bacon-Theorie aufgestellt hat, die natürlich so, wie sie aufgestellt wor

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den ist, ein vöffiger Unsinn ist. Aber ganz aus derselben Quelle, aus der die Inspiration Bacon-Shakespeare stammt, stammen für Mitteleuropa, sogar von derselben Initiiertenpersönlichkeit ausgehend, die Geistesströmung vonJakob Böhme und von dem SüddeutschenJacobus Baldus. Und viel mehr, als man glaubt, lebt in dem mitteleuropäischen Geistesleben das drinnen, was von Jakob Böhnie stammt - wiederum eine solche Persönlichkeit, die nur formulierte dasjenige, was in weitesten Kreisen als Tatsache wirkte, wenn das auch nicht mit Jakob Böhmeschen Worten geschehen ist. Man muß sich nur klar sein darüber, daß ein gutes Stück der Goetheschen Metamorphosenlehre von Jakob Böhme her- rührt, daß ein gutes Stück von dem, was in Goethes ganzer Organik ist, auf gewissen Umwegen, die man leicht nachweisen kann, auf dem Wege über Jakob Böhme an Goethe herangekommen ist. Und wenn auch Jacobus Baldus im einsamen Ingolstadt gelebt hat, so ist er eben gerade eine solche Persönlichkeit, die auf nicht viele Zeitgenossen gewirkt hat, die aber in charakteristischer Weise zum Ausdruck gebracht hat, was in weitesten Kreisen dieses neuaufgehenden neueren Zeitalters gedacht und gefühlt worden ist.

Aber bedenken wir die merkwürdige Tiefe, die in diesen Dingen liegt Aus derselben Inspirationsquelle stammen der Baconismus und der Shakespearismus, Böhmetum, Baldetum. Was vonJakob Böhme kommt, ist heute noch immer auf dem Grunde des mitteleuropäischen Strebens bemerkbar, aber es versickert. Dafür hat der Baconismus, ob in seiner eigenen Gestalt oder in der Gestalt des späteren Darwin, in Mitteleuropa einen bedeutenden Einfluß genommen, hat auch Shakespeare einen bedeutenden Einfluß genommen. Bedenken Sie doch nur, daß die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenigstens der spätere Teil, stark von Shakespeare beeindruckt ist und im 19. Jahrhundert das mitteleuropäische Geistesleben stark von Shakespeare beeindruckt wurde, daß Goethe in seiner Jugend tief beeindruckt war und erst von den Achtzigeijahren an sich wieder emanzipiert hat vom Shakespearismus.

Überall kann man denselben Weg nachweisen, überall sind die Impulse die gleichen. Aber sie wirken in verschiedener Weise. In Mitteleuropa wirken die Impulse so, daß sie versickern; die westlichen Impulse

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ergießen sich über das Außermenschliche. Sie machen das religiöse Leben zunächst überhaupt zu einem Heuchelwesen neben dem wissenschaftlichen Streben. Und da dieses westliche Element sich über die ganze moderne Zivilisation ausgießt, sehen wir, wie die Menschen bis heute nicht dazu gekommen sind, die geistigen Kräfte - die geistige Wissenschaft, die sich in der neueren Zeit hinstellen muß als aus der menschlichen Natur heraus stammend, ebenso wie die auf das Außermenschliche gehenden wissenschaftlichen Kräfte - anzuwenden auf das Religiöse. Neu zu begreifen ist, weil mit dem, was unberührtes Gebiet gelassen worden ist, niemals weitergewirtschaftet werden kann, neu zu begreifen, mit neuen Geisteskräften, ist das Christentum. Die alten Geisteskräfte sind abgebraucht, und wer heute glaubt, mit den alten Geisteskräften, die im Westlichen für das Religiöse anerkannt werden, irgendwie das Christentum begreifen zu können, der lebt in den furchtbarsten Illusionen. Das muß heute gesagt werden, daß eine neue Epoche der Menschheit kommen muß, durch welche das Mysterium von Golgatha selber neu begriffen werden muß mit neuen Geisteskräften. Denn alles, was darüber gesagt worden ist, ist abgebraucht, ist an seiner eigenen Absurdität angekommen, kann noch da oder dort geleimt werden, da oder dort so behandelt werden, daß man es als ein wissenschaftliches «Rührmichnichtan» behandelt, aber die Menschheit kann mit diesen Dingen nicht weiterleben. Die Menschheit braucht die Kraft, aus dem eigenen Innern die neuen Geisteskräfte hervorzuholen, die das Mystenum von Golgatha nun in einer neuen Weise begreifen.

Das ist es, was die westliche Welt eingesehen hat, daß es ihr obliegt, sich umzusehen in diesen neuen Geisteskräften. Denn in dieser westlichen Welt hat man sich beschränkt auf das bloße Begreifen des Außermenschlichen. Dieses Außermenschliche wird niemals bis an den Menschen herangebracht werden können. Eine neue Geisteswissenschaft wird den Menschen zu begreifen haben, damit aber auch erst wiederum neue Ausblicke auf das Mysterium von Golgatha eröffnen. Was auf die bloße außermenschliche Welt geht, kann eine bloße Nützlichkeitsmoral erzeugen; aber eine solche Nützlichkeitsmoral wird niemals den Menschen zu seiner eigenen Würde bringen. Zu dieser Würde kann den Menschen nur eine Moral bringen, von der er weiß, sie wird ihm eingegossen

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durch übersimiliche Kräfte, die in seine Seele hereinwirken. Die können aber nimmermehr begriffen werden rnit demjenigen, was man der religiösen Offenbarung in den westlichen Ländern gelassen hat. Da ist eine Erneuerung notwendig.

Die Fragen, die ich hiermit gestreift habe, scheinen in sehr, sehr über dem Alltagsleben gelegenen Gebieten zu leben, aber sie sind es nicht. Diese Fragen sind diejenigen, die heute den allerwichtigsten, weltgestaltenden Fragen zugrunde liegen, und niemand wird sich die große Frage: Wie stehen Ost und West, wie stehen Europa, Asien und Amerfka? - beantworten können, der nicht zurückgehen will auf diese Dinge. Denn was wir heute erleben, ist letzten Endes die Konsequenz desjenigen, was in den menschlichen Seelen durch die Jahrhunderte vor sich gegangen ist.

Es ist nur menschliche Denkbequemlichkeit, nicht bis zu diesen Dingen zurückgehen zu wollen. Daher kann man erleben, was ich nennen möchte jenen furchtbaren Herzschmerz, der einen überkommt, wenn man heute die Menschen reden hört Über das große Unglück der Zeit, über andere Konfigurationen des gegenwärtigen politischen oder ökonomischen oder sonstigen Lebens, über die Angelegenheiten Asiens, Europas und Amerikas - sie aber reden hört wie die Blinden von der Farbe, weil sie nicht eingehen wollen auf dasjenige, was eigentlich diesen großen Fragen als das innerlich Pulsierende zugrunde liegt.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 6. Februar 1920

In den verschiedenen Betrachtungen, die wir in der letzten Zeit hier angestellt haben, war die Rede von den Notwendigkeiten der Zeit. Der Mensch muß sich heute bequemen, den Einschlag, der in die physische Welt herein will, aufzunehmen. Wir haben gesehen, wie in der intensivsten Weise im europäischen Leben seit etwa sechzig Jahren ein Kampf besteht, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begaiin und der die Ursachen enthält für alle Verwirrungen dieser letzten Zeiten. Ich habe Sie hingewiesen auf die Tatsache, daß noch immer das, was geschieht, zu leicht genommen wird insofern, als man sich nicht einlassen will darauf, daß das alte Europa im 20. Jahrhundert nur ein Scheindasein geführt hat, zerbrochen ist und nicht zusainmengeleimt werden kaiin. Diese Krisis läßt sich vergleichen mit einer Krisis, wie sie war beim alten Römischen Reiche, als allmähiich in dieses Römische Reich das Christentum hereinbrach und alles Bestehende wegfegte. Etwas ganz Neues hat sich entwickelt. Wer einen Einblick in das Leben hat, dem wird sich auf der ganzen Breite ergeben, daß alles zertrümmert ist, was sich aufgebaut hat seit dem ersten christlichen Jahrhunderte.

Wollen wir nun einmal hinschauen auf das, was sich aufgebaut hat. Das Mysterium von Golgatha war da. Aber das Mysterium von Golgatha und sein Verstehen sind zweierlei Dinge. Machen wir uns das klar an einem Vergleich. Nehmen Sie an, Sie blicken hin auf einen Menschen, der dieses oder jenes zu seinem Seelenlnhalt hat oder zu seinem Tatenimpuls. Betrachtet ein Kind solch einen Menschen, so bildet es sich ein Urteil; dieses ist aber eine kindliche Ansicht. Es wird sich alsdaiin ein Mensch, der etwas gelernt hat, der erwachsen ist, auch eine Ansicht über diesen Menschen bilden köiinen; das wird eine reifere Ansicht sein. Aber nicht jeder, der eine reife Ansicht hat, wird auch eine genügende Kenntnis oder Erkenntnis von dem betreffenden Menschen haben können, wenn der betreffende Mensch etwa ein genialischer Mensch ist. Dazu wäre dann notwendig, daß wiederum ein genialer Mensch seine Ansicht sich gebildet hätte über diesen Menschen.

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Wir haben also einen Tatbestand in diesem Falle: Ein Mensch kann da sein, und es können verschiedene Verständnisse dieses Tatbestandes da sein. - So ist es im Zeiteniaufe mit dem Ereignis, welches das Christentum in die Welt gebracht hat. Dieses Ereignis als solches war einmal da, es steht am Ausgangspunkte unserer neuzeitlichen Zivilisation. Das Verständnis, das bis jetzt diesem Christentum entgegengebracht wurde, das wurzelt im wesentlichen in den Anschauungen, in den Ideen, in den Begriffen, die die Menschen haben konnten aus jenen Seelenuntergründen, die an Stelle der Seelenuntergründe des alten Römischen Reiches getreten waren. Sie brauchen, um das zu erhärten, nur etwa hiiizublicken auf das untergegangene Österreich> das im wesentlichen, mit Ausnahme einzelner hervorragender Persönlichkeiten, eine Kultur hatte - und zwar nicht nur eine geistige, sondern eine Kultur in der ganzen Breite des Lebens -, die im Grunde genommen ihrem Wesen nach zurückging auf die ersten christlichen Jahrhunderte.

Da beginnen die Keime des Verfalls. Die Leute wollten das nicht glauben; aber jeder, der mit den Verhältnissen bekannt war, konnte das sehen. Und so war es auch im übrigen Europa. Europa ist aufgebaut gewesen auf ganz alten Vorstellungen, in einer alten Geistigkeit also. Und aus diesen Vorstellungen heraus wurde auch das Mysterium von Golgatha begriffen. Aber diese Vorstellungen sind nuiimehr abgebraucht. Sie reichen nicht mehr hin, um dem gegenwärtigen Menschen ein Verständnis des Ereignisses von Golgatha zu vermitteln. Der Mensch möchte seinem konservativen Hang nach bei den alten Vorstellungen bleiben. In den Untergründen des Seelischen aber wurzeln durchaus die Forderungen nach einer Neugestaltung Europas und der ganzen zivilisierten Welt überhaupt. Das ist der große Kampf, der etwa seit sechzig Jahren auf dem Grunde der europäischen Kultur zu bemerken ist. Es will sich etwas gestalten, aber die konservierten Vorstellungen der Menschen drängen es zurück. Wenn sich irgendwo eine Flußströmung staut, so kommt zuletzt eine Stromschnelle. Diese Stromschnelle ist in der europäischen Kultur gekommen. Es sind die Schreckensjahre, die hereingebrochen sind, die keineswegs schon zu Ende sind, die eigentlich im Grunde genommen erst in ihren Anfängen stehen. Was heute notwendig ist, das ist, aus geistigen Grundlagen heraus eine neue Lebensauffassung

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zu begründen. Diejenigen, die sich heute gegen eine solche Lebensauffassung stellen, die gleichen denjenigen, die sich, als das Christentum vom Süden nach Norden sich ausbreitete, gegen dieses Christentum gestellt haben. Es geht die Welle der Entwickelung über solche Menschen hinweg.

Aber solche Menschen können viel Unheil stiften, und es wird noch reichlich Unheil gestiftet werden durch solche Menschen. Nehmen wir einmal die Verhältnisse im Konkreten. Wer ins Auge faßt, wie dasjenige entstanden ist, was man ansehen konnte vor dem Jahre 1914 und auch in gewissem Sinne noch während der letzten Jahre, als die Katastrophe begann, der wird sehen, daß es auf der Landkarte Europas eben bestimmte sogenannte Staatsgrenzen gab. Warum sich diese Staatsgrenzen im Laufe der Jahrhunderte so herausgebildet haben, das können Sie durch die Geschichte verfolgen. Aber Sie werden gerade aus einer wirklichen, vorurteilslosen Geschichtsbetrachtung die Einsicht gewinnen, daß diese Staaten, von dem großen Rußland angefangen bis zu den kleinsten Gebilden, entstanden sind unter dem Eiiifluß des Christus-Verständnisses, das heißt des Christus-Verständnisses, wie es Platz gegriffen hat in Europa zur Zeit der sogenannten Völkerwanderung, zur Zeit der Dekadenz des Römischen Reiches. 1914, um eine Jahreszahi anzugeben, waren diese Verhältnisse, die sich ausdrückten in diesen «Strichen», die Staaten abgrenzten auf der Landkarte Europas, alle schon unnatürlich. Es war nichts Wahres mehr in diesen Grenzen. Es war nichts da, was innerlich Halt hatte. Und wer heute glaubt, es könne von dem, was 1914 nicht mehr wahr gewesen ist, irgend etwas zusammengehalten werden, der ist eben durchaus auf einen Holzweg gekommen. Auch dasjenige, was sich auf der Grundlage dieser Verhältnisse gebildet hat oder bilden will, ist fernerhin nicht haltbar.

Was wollen denn die Leute in Europa mit ihrem amerikanischen Anhang jetzt aus der zivilisierten Welt eigentlich machen? Fassen wir das einmal ganz unbefangen ins Auge, was die Menschen Europas mit dem amerikanischen Anhang gegenwärtig aus der zivilisierten Welt machen wollen. Sie wollen dasjenige machen, was in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, in den Völkerwanderungen ja vielleicht hätte entstehen können aus den Vorstellungen, welche die Goten, die Vandalen, die Langobarden, Heruler, Cherusker und so weiter gehabt haben, welche

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die Römer gehabt haben, bevor sie vom Christentum ergriffen wurden. Es ist das nicht entstanden, obgleich dazumal die Menschen sich mit ihrem Bewußtsein noch nicht einmal so stark dem Gang der Ereignisse entgegenstemmten, wie sie es heute tun. Aber nehmen wir einmal hypothetisch an, man hätte dazumal das Christentum sich nicht ausbreiten lassen wollen, sondern man hätte haben wollen ein Europa, zusammengeleimt aus den Vorstellungen der Ostgoten und Westgoten, der Vandalen, der Langobarden und so weiter mit den Resten des alten römischen Wesens - ein Unmögliches einfach! Ein mögliches Europa ergab sich nur dadurch, daß ein geistiger Einschlag in dieses Europa kam. Und dieser geistige Einschlag> der kam durch das Christentum. Ohne diesen geistigen Einschlag, der eben alles anders gemacht hat, wäre nichts aus Europa geworden für die Jahrhunderte vom 4., 5. bis zum 20. Jahrhundert. Denken Sie sich einmal Europa ohne den Einschlag des Christentums in den verflossenen Jahrhunderten: Sie könnten es sich nicht denken. Denken Sie sich nur einmal, was alles übriggeblieben ist von dem, was die Goten, die Heruler, die Langobarden und so weiter in Europa vertreten haben. Sie müssen sich sagen: Der Einschlag des Christentums kam - alles wurde anders.

Wenn dazumal die Langobarden ebenso stark zurückgewiesen hätten jeden neuen Impuls, wie ihn heute zurückweisen zum Beispiel, sagen wir, die Tschechoslowaken oder die Polen oder die Franzosen, dann ware das, was ich hypothetisch vorausgesetzt habe, das Unmögliche eben geschehen. Und so, wie sich die Langobarden verhalten hätten, wenn sie gesagt hätten, wir wollen kein Christentum, wir wollen langobardisch bleiben, so verhalten sich heute die Tschechoslowaken, die Magyaren oder Franzosen, die Engländer und so weiter. Sie wollen nicht einen neuen geistigen Einschlag haben.

Aber Europa ist auf dem Nullpunkt ohne einen neuen Einschlag. Es entsteht nichts. Es entsteht ebensowenig etwas aus Europa, wie aus einem Goten-, Langobarden-, Vandalen-Europa etwas entstanden wäre zu der Zeit, als das Christentum reif war, seinen Einschlag zu machen in die europäische Zivilisation. Dieser Gedanke ist ein solcher, vor dem sich die weitaus größte Anzahl von Menschen der Gegenwart fürchten. Es überrascht Sie vielleicht, wenn ich sage, sie fürchten sich, denn Sie

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glauben, das sei aus diesen oder jenen Lebensgründen oder logischen oder sonstigen Gründen, daß sie diesem Gedanken widerstreben. Das ist nicht der Fall. Warum sie widerstreben, ist unterbewußte Furcht. Wenn man unterbewußte Furcht hat, so versteht man die Dinge nicht. Man erfindet logische Gründe, man erfindet allerlei Beobachtungen, die man gemacht zu haben glaubt, um diesen Gedanken zu widerlegen, während man sich eigentlich vor ihm fürchtet. Aber die Furcht gesteht sich der Mensch ja nicht! Die Zeit ist aber eine so große, daß es nötig ist, gerade in diese Verhältnisse unbedingt hineinzuschauen. Und es ist nötig, heute Worte auszusprechen, die gewiß einem großen Teil der Menschen noch paradox klingen. Das Christentum hat, als es sich zuerst ausbreitete, den Menschen auch paradox geklungen. Sie sollten sich nur vorstellen, wie es gekIungen hat, als die Verbreiter des Christentums - sagen wir zum Beispiel im Elsaß, in der Schweiz - gekommen sind, wo man noch verehrt hat die Bildnisse des Wodan, des Gottes Saxnot und so weiter, es war etwas Paradoxes. Heute ist es für die Menschen paradox, wenn man ihnen von dem spricht, wovon die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft als von einem neuen Einschlag und zu gleicher Zeit von einem neuen Verständnis des Christentums sprechen muß. Nur muß heute alles bewußt werden, nur muß heute alles gewollter sein, als in der damaligen Zeit die Menschen zu wollen fähig waren. Vor allen Dingen muß eines in aller Schärfe heute von der Menschheit begriffen werden. Wir haben ein sogenanntes wissenschaftliches, ein intellektuelles Leben. Ein Glied dieses intellektuellen Lebens habe ich Ihnen im letzten Sonntagsvortrage charakterisiert; ich habe Ihnen den Charakter angegeben, den dieses intellektuelle Leben durch die englisch sprechende Bevölkerung erhalten hat. Glauben Sie nicht, daß dieses intellektuelle Leben irgendwie unbeeiriflußt läßt die Ailtäglichkeit. Was unsere Kinder in der Schule lernen, bereits von ihrem sechsten Jahre an, das formt die Seelen, das formt den ganzen Menschen, und die Menschen gehen heute so herum, wie sie zugeformt werden von unserem Schulwesen, das in seinen unteren Stufen wieder stark beeinflußt ist, besonders heute in der Zeit der Verbreitung des Zeitungswesens, viel mehr, als man denkt, ganz ungeheuer beeiriflußt ist von dem, was in den Oberschichten des intellektuellen Lebens die sogenannte Wissenschaft ist. Die

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Wissenschaft, die hatte ihre äußeren großen Erfolge. Sie hatte es bis zum Telefon und bis zur Luftschiffahrt gebracht, sie hat es bis zur drahtlosen Telegrafie gebracht. Auf diesem ganzen Gebiete hat sie ihre großen Errungenschaften. Aber ich habe Sie wiederholt nun schon aufmerksam gemacht auf eine Eigentümlichkeit dieser Wissenschaft, eine Eigentümlichkeit unserer ganzen Erkenntnis. Diese Eigentümlichkeit besteht darin, daß man alles begreifen kann. Man kann Maschinen begreifen, man kann Mineralien begreifen, man kann Pflanzen begreifen, das Tier begreifen, aber man kann am allerwenigsten durch dasjenige, was unsere Wissenschaft darbietet, den Menschen begreifen. Daß man geradewegs den Menschen ableitet von der Tierheit, daß man sagt, er sei nur eine höhere Entwickelungsstufe der Tierheit, das rührt ja nur davon her, daß man eben über den Menschen nichts weiß. Nicht weil der Mensch wirklich vom Tiere abstammt, sondern weil man über den wahren Menschen nichts weiß, sondern eben nur die Vorstellung offenbaren kann, die man hat, läßt man den Menschen aus dem Tierreich stammen. Es ist ja nur ein Vorurteil der Zeit, die keine Wissenschaft hat, um über den Menschen zu urteilen. Daher sind wir auch in der Gegenwart nicht imstande, aus unserer Zeitenbildung heraus eine wirkliche Menschenkenntnis zu erwerben. Mit Menschenkenntnis kann nicht gemeint sein jenes Sammelsurium von allerlei Vorstellungen, die sich heute der Mensch von sich selbst macht. Eine wirkliche Menschenkenntnis konnte nur hervorgehen aus der Erkenntnis desjenigen, woraus der wahre Mensch, der echte Mensch aufgebaut ist.Wenn wir auch alles, was wir auf der Erde haben, studieren, studieren mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft, so können wir Maschinen damit bauen, können Mechanismen damit gestalten, aber wir können niemals den Menschen damit begreifen. Dazu ist eben anthroposophische Geisteswissenschaft da, den Menschen aus außerirdischen Verhältnissen begreiflich zu machen. Das fühlen die Menschen, aber sie geben in ihren heutigen Vorstellungen nicht zu, daß der Mensch heute begriffen werden müsse aus außerirdischen, aus übersinnlichen Verhältnissen. Und so ist für diesen Menschen keine Wissenschaft da. Jahrhunderte schon täuscht sich die Welt über diese Tatsache in einer merkwürdigen Weise.

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Ich will Ihnen einmal an einem Beispiel - es könnten deren viele angeführt werden - zeigen, wie man sich durch die Jahrhunderte über diese Tatsache hinwegtäuscht. Als begonnen wurde mit dem, was hier nun seit Jahren schon ausgebildet vor Ihnen liegt als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, da haben manche Menschen, die dem, was gerade zum Beispiel von mir auf dem Boden dieser anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft gegeben wurde, nahegekommen sind, gesagt: Wir vertiefen uns lieber in die Mystik des Meister Eckhart, in die Mystik des Johannes Tauler. Da ist ja alles viel eiiifacher; da kann man so hübsch wohlbehaglich sagen: Ich versenke mich in mein Inneres, ich erfasse den höheren Menschen in mir, mein höheres Ich hat den göttlichen Menschen in mir erfaßt. - Aber das ist ja doch nichts anderes als ein raffinierter Egoismus, nichts anderes als ein Zurückziehen auf die egoistische Persöniichkeit, ein Hinweglaufen von der ganzen Menschheit, ein innerliches Sich-selbst-Betrügen. Als im 14., 15. Jahrhundert die Uiifähigkeit der Menschen begann, den Menschen zu begreifen, da war es klar, daß solche Geister auftreten mußten, wie Johannes Tauler und der Meister Eckhart, die auf das menschliche Innere hinwiesen, um den Menschen zu suchen. Aber heute ist diese Zeit vorüber. Heute taugt dieses Vertiefen und Versenken in das Innere nicht mehr. Heute handelt es sich darum, ein Christus-Wort nun wirklich richtig zu verstehen - das ist das Beispiel, das ich meine -, dieses eine Christus-Wort, das eines der wichtigsten, der bedeutsamsten ist, das heißt: «Wenn zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, dann bin ich mitten unter euch.» Das heißt, wenn einer allein ist, dann ist der Christus nicht da. Den Christus kann man nicht finden, ohne sich verbunden zu fühlen mit der ganzen Menschheit. Den Christus muß man heute suchen durch den Weg, den die ganze Menschheit geht. Das heißt, das innerliche SichBefriedigen führt von dem Christus-Impuls gerade ab.

Das ist das Unglück besonders der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts, daß der Impuls aufgetreten ist, ein bloßes individuellegoistisches inneres Christus-Erlebnis zu haben. Es gibt ein europäisches gekröntes Haupt, eines derjenigen, die noch gekrönt sind, das erwiderte iminer, wenn es sich darum handelte, zeitgemäßes geistiges Erkennen anzufassen: Ich habe mein persönliches Christus-Erlebnis! - Dieses gekrönte

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Haupt hat sich damit befriedigt. Aber ähnliches sagen ja viele. Das aber ist eben das Unglück der Gegenwart, daß die Menschen nicht haben wollen das allgemeine Interesse für das unpersöiiliche Menschliche. Man lernt näiniich sich selbst erst kennen, wenn man den Menschen als solchen kennt. Den Menschen als solchen kann man aber nicht kennenlernen, ohne seinen Ursprung in außerirdischen Verhältnissen zu suchen.

Denken Sie, wie in außerirdischen Verhältnissen der Ursprung desjenigen, was heute Mensch ist, gesucht wird im Sinne meiner «Geheim- wissenschaft im Umriß». Diese «Geheimwissenschaft» ist den Menschen so unsympathisch aus keinem andern Grunde, als weil alle konftise Menschheitskenntnis abgewiesen ist und der Mensch als solcher hergeleitet wird aus dem ganzen Weltenall, namentlich aus dem außer- irdischen Weltenall. Das aber ist gerade in der heutigen Zeit notwendig. Die heutige Zeit muß sich dazu entschließen, zu alledem, was man als Erkenntnisquellen heute liebt, die andern, die geistigen Erkenntnis- quellen hinzuzufügen.

Hier liegt, nennen Sie es Schuld, nennen Sie es Unwissenheit - es mag ja das eine oder das andere Wort angewendet werden, auf Worte kommt es nicht an -, was charakterisiert werden muß als ausgehend von unseren wissenschaftlichen Hochschulen, von jenen Menschen, die den Ton angeben, wenn die Rede ist von dem, was der Mensch wissen kann und was er nicht wissen kann. Von dem, was von unseren europäischen und amerikanischen Hochschulen ausgeht an sogenannter Menschenweisheit, aber auch an sozialer Weisheit, an techmscher Weisheit und so weiter, das betrachtet die Welt mit Ausschluß aller derjenigen Faktoren, die doch den Menschen ganz selbstverständlich in sich schließen. Wer heute den Zugang sucht zu irgendeiner führenden, wenn auch nur einer niedrigen führenden Menschheitsstellung, der hat gar nicht Gelegenheit, irgend etwas kennenzulernen, das ihn befähigte, Menschenkenntnis zu erhalten. Und ohne Menschenkenntnis gibt es kein soziales Leben, ohne Menschenkenntnis gibt es auch keine Erneuerung des Christentums. Man kann heute Theologe werden, ohne eine Ahnung zu haben, was das Mysterium von Golgatha bedeutet, denn die meisten Theologen haben heute keine Ahnung, wer Christus ist. Man kann heute Jurist werden, ohne eine Ahnung davon zu haben, was eigentlich das Menschenwesen

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ist. Man kann heute Mediziner werden, ohne eine Ahnung von dem zu haben, wie dieses Menschenwesen aus dem Kosmos heraus gebaut ist, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie der gesunde und der kranke Leib sich zueinander verhalten. Man kann heute Techniker werden, ohne eine Ahnung davon zu haben,welchen Eiiifluß der Bau irgendeiner Maschine auf den ganzen Gang der Erdenentwickelung hat, und man kann heute ein genialer Erfinder eines Telefons sein, ohne eine Ahnung davon zu haben, was das Telefon für die ganze Erdenenrwickelung bedeutet. Den Menschen fehlt der Ausblick auf den Gang der menschlichen Entwickelung. Und jeder Mensch hat so das Bedürfnis, sich einen kleinen Kreis zu bilden und in diesem kleinen Kreis eine Routine zu erwerben, diese Routine anzuwenden im Sinne seines Egoismus, daß er sich hervortue, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie sich hineinstellt dasjenige, was er da als einen Teil dem Weltenganzen eiiifügt, in dieses Weltenganze. Wenn man mit derselben Methode, mit der man heute Existenzen gründet, in der Welt Häuser bauen würde, so würden diese gleich einstürzen. Wenn man nach derselben Methode, nach der wir heute unsere Theologen, unsere Juristen> Mediziner, Philologen und so weiter und namentlich die Philosophen ausbilden, Ziegelsteine formen und mit diesen Ziegelsteinen Häuser bauen würde> so würden diese Häuser keine Woche da sein können im Weltenganzen. In den großen Verhältnissen bemerken die Menschen das Einstürzen nicht. Es stürzt ja fortwährend ein seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Menschen wissen nichts davon; sie reden im Gegenteil von dem großen Aufschwunge, und manche reden noch davon, daß man mit denselben Ziegelsteinen, die längst unbrauchbar geworden waren, wieder eine neue Welt aufbauen soll. Man kann nicht eine neue Welt aufbauen anders, als daß von Grund auf ein neuer geistiger Einschlag in die ganze zivilisierte Welt kommt. Man kann etwas leimen, aber nicht bauen ohne diesen geistigen Einschlag.

Es gibt Menschen - gutmeinende Menschen -, die haben vor einer solchen Intensität des Wissens, vor einer solchen Intensität der Erkenntins, wie sie angestrebt wird durch Geisteswissenschaft, eine heillose Angst. Sie haben Angst aus einem gewissen Grunde - ich erzähle Ihnen nicht irgendwie Ausgedachtes, nur die Dinge, die Tatsachen entsprechen -,

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sie sagen sich: Wie wird es doch langweilig sein, wenn man alles wissen wird von dem Menschen, was Geisteswissenschaft zu wissen vor- gibt; dann kann man ja nicht mehr hoffen, daß die Zukunft neues Wissen biingt, dann kann man ja gar nicht wissen, daß das Wissen weiter- hilft. Schrecklicher Anblick der Zukunft, meinen sie noch, wenn schon alles gewußt wird!

Ich will nicht sagen, daß dies eine bequeme Auskunft für diejenigen ist, die zu faul sind, an die Erkenntnis heranzugehen, aber darauf möchte ich aufmerksam machen, daß in dem Augenblick, wo der Mensch so durchschaut wird, wie er durchschaut werden kann durch Geistes- wissenschaft, erst richtig die Möglichkeit beginnt, an sozialen Aufbau zu denken. Man kann nicht anders sozialen Aufbau begründen, als daß man erst die Menschenerkenntnis gewissermaßen ins reine gebracht hat. Um sich das klarzumachen, muß man nur folgendes sich sagen. Nehmen Sie alles dasjenige, was in unsere bisherigen Gemeinschaften führt - die Menschen verdanken es keineswegs ihrer Aufklärung; sie verdanken es nicht den Vorstellungen, die sie voll in ihr Bewußtsein aufgenommen haben, sie verdanken es denjenigen geistigen Kräften, die durch das Blut hindurchscheinend sind, welche ersprossen sind aus den alten Blutszusammenhängen, Blutsverwandtschaften. Wir haben da gerade öheute noch immer etwas, was sich hereinstellt in unsere Welt als ein Überbleibsel jener alten Blutsverwandtschaft, was uns das nationale Prinzip gibt, was in ihm zum Vorschein kommt. Weswegen sich der eine einen Engländer, der andere einen Franzosen, der andere einen Polen nennt, das rührt her von alledem, wovon von jeher hergerührt haben diejenigen Zusammenhänge unter den Meiischen, die auf Blutsverwandtschaft gebaut sind. Diese Blutsverwandtschaft hatte durch die Jahrtausende der Menschheitsentwickelung ihre gute Berechtigung, denn durch diese Blutsverwandtschaft stieg dasjenige herauf in die Menschlieit, was die Menschen zusammenbrachte, was Menschheitsgemeinschaften begründete. Und die Menschen waren im Ausgange der Erdenentwickelung, wie Sie sich aus meiner «Geheimwissenschaft» überzeugen können, durchaus nicht so einheitlich. Die Menschenseelen waren von den verschiedensten Orten, wie Sie wissen, auf die Erde gekommen, haben sich wahrhaftig nicht geliebt, lernten sich lieben nur dadurch, daß sie als

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Seelen hineingeboren wurden in blutsverwandte Leiber. Ich habe in früheren Vorträgen wiederholt gezeigt, wie das Wohltätige dieser Blutsverwandtschaft, Blutsgemeinschaft von den den Menschen gegnerischen Mächten bekämpft worden ist, von den luziferisch-ahrimanischen Mächten. Das war in alten Zeiten. Da waren gerade die Menschen darauf angewiesen, Menschengemeinschaften aus der Blutsverwandtschaft heraus begründen zu lassen. Heute zu glauben, daß man nur zu übersetzen braucht das alte Blutsverwandtschaftsprinzip in die abstrakte Sprache und daß man sagen kann, indem man die Abstraktheit in «Vierzehn Punkte» kleidet: Jedem einzelnen, auch dem kleinsten Volke sein Selbstbestimmungsrecht! - man muß Woodrow Wilson in seiner Weltfremdheit, in seiner Abstraktheit sein, wenn man so etwas tun kann. Heute muß man einsehen: Das war einmal. Blutsverwandtschaften begründeten einmal menschliche Gemeinschaften. Heute ist bei den der Menschheit gegnerischen ahrimanischen und luziferischen Mächten anderes bestimmend, heute sollen die Menschen verführt werden durch die Blutsverwandtschaft. Geradesowenig wie der Christus in die Welt gekommen ist, um das Gesetz abzuschaffen, sondern in sich aufzunehmen, eben- sowenig soll die Blutsverwandtschaft aus der Welt geschafft werden, im Gegenteil muß man die Blutsverwandtschaft erst in die richtigen Wege leiten. Aber während in alten Zeiten in Menschenherzen die ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten gegen die Blutsverwandtschaft aufgetreten sind und die Menschen in egoistische Individuen zerspalten wollten gegen die Blutsverwandtschaft, handelt es sich heute darum, daß die Menschen durch ahrimariische und luziferische Mächte verführt werden sollen, nur auf die Blutsverwandtschaft aufzubauen, während heute die Zeit reif ist, einzusehen, jeder Mensch, der wirklich Leib, Seele und Geist hat und vor uns dasteht, der kommt aus der geistigen Welt herunter, der kommt aus der geistigen Welt so herunter, daß er ein vorirdisches Leben durchgemacht hat. Er sucht sich selber das Blut, durch das er auf der Erde sich verkörpern will. Und ein Gefühl muß nach und nach entstehen für diese geistige Gemeinschaft. In vorchristlichen Zeiten ist die Reinkarnation als Gefühl vorhanden gewesen, denn eine Erkenntnis war sie nur vor dem Jahre 1860 vor dem Christentum; nach dem Jahre 1860 war sie im ganzen Ägypten, in vorderasiatischen, römischen Zeiten

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nur ein instinktives Gefühl. Jetzt aber kommt die Zeit, wo die An- schauung von dem Menschen als einem geistigen Wesen, das eine Entwickelung durchmacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, ein lebendiges Gefühl, eine lebendige Empfindung wird, wo man in der Vorstellung leben muß von der überirdischen Bedeutung der Menschenseelen. Denn ohne diese Vorstellung wird die Kultur der Erde ertötet. Man wird nicht eine praktische Tätigkeit entfalten können in der Zukunft, ohne daß man aufblicken kann zu der geistigen Bedeutung der Tatsache, daß jeder Mensch ein geistiges Wesen ist. Und man wird hinzufügen müssen, so paradox das dem heutigen Menschen noch erscheint - paradox weniger der Theorie nach, denn ich will nicht theoretisieren, aber parallelisieren, dem Gefühle nach, es ist aber doch so-, daß man wird lernen müssen, nicht nur sich zu sagen: Wir freuen uns als Eltern, daß uns ein Kind geboren wird, wir freuen uns über diesen Zu- wachs unserer Familie, weil uns dieses Kind geboren wird -, sondern man wird sagen müssen: Nein, wir sind bloß das Werkzeug dafür, daß eine geistige Individualität, die wartet, auf der Erde ihr Dasein fortzusetzen, durch uns Gelegenheit dazu findet! - Zu den antiquierten Dingen wird gehören müssen zum Beispiel die Aristokratenvorstellung vom Stammhalter, die Aristokratenvorstellung von der bloßen Blutsfortsetzung der Familie, und ausdehnen wird sich müssen die Empfindung, das Gefühl auf die ganze Menschheit. Aristokraten haben heute noch die Gesinnung, es sei vor allen Dingen ihre Aufgabe, ihr Geschlecht fortzusetzen, so daß der physische Mensch Nachkommen hat mit demselben Namen. Die Empfindung wird sich umkehren müssen dahingehend, daß man diese Nachfolger wird haben müssen im Dienste der ganzen Menschheit, damit gewisse Individualitäten, die herunter wollen auf die Welt, hier auf dieser Erde ihr Dasein fortsetzen können. Die alten Empfindungen ragen im Aristokratentum, im Familienaristokratentum in unsere jetzige Zeit herein. Dem muß sich entgegenstellen die Empfindung jener allgemeinen Menschenkenntnis; dann werden wir auch den Christus neu begreifen können. Denn er ist nicht um des Familienegoismus willen auf der Erde erschienen, sondern um der ganzen Menschheit willen. Er ist auch nicht um irgendeinöer Nationalität willen auf der Erde erschienen, sondern um der ganzen Menschheit

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willen. Er ist nicht erschienen, damit diejenigen, die sich die Sieger nennen, die Nationalstaaten aufrichten können, sondern daß das Allgemeinmenschliche durch den Rahmen des Nationalen auf der Erde gepflegt werde.

Auf dem Grunde desjenigen, was jetzt vorgeht, liegen diese Dinge. Und sie liegen so, daß im Grunde genommen das, was heute mit dem Erdendasein gewollt wird, bekämpft wird von dem, was der größte Teil der Menschen heute noch sagt, was der größte Teil der Menschen heute noch will. Aber die Menschen werden, wenn sie so weiter wollen, nur Dinge begründen, die sich selbst ad absurdum führen, die sich selbst in die Uumöglichkeit führen. Entweder wird man dieses einsehen, oder man wird noch lange im europäischen Chaos drinnen waten müssen. Es ist das beste Mittel, weiter zu waten in diesem europäischen Chaos, wenn man Nationalstaaten gründet.

Mit aus diesem Grunde mußten wir gerade denjenigen gegenüber> denen in der nächsten Zeit äußerlich die Weltherrschaft zufällt, reden von der großen Verantwortlichkeit. Diese Verantwortlichkeit ist da. Die englisch sprechende Bevölkerung hat diese furchtbare Verantwortung vor der Welt, nicht weiterhin das Geistige zurückzuweisen, nicht weiterhin Baconisch oder Newtonisch zu sein, sondern den Geist aufzunehmen in seiner neuen Form. Setzen Sie heute das Bild vor Ihre Seele, Newton, ausgestaltend jene astronomische Weltanschauung, von der Herman Grimm mit Recht sagt So wie man sich das vorstellt im Sinne dieser astronomischen Weltvorstellung, daß die Erde und das Planetensystem der Sonne aus einem Dunst, einem dünnen Nebel hervorgegangen ist, das sich umgewandelt und umgewandelt hat, daß dann aus diesem Wirbel auch Tiere, Menschen, Pflarizen erstanden sind und daß eines Tages wiederum das Ganze in die Sonne zurückfallen wird, ist ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund seine Kreise zieht, ein appetitlicheres Stück al5 diese Weltanschauung; und es werden einmal kül:ige Zeiten viel Mühe haben, den kulturhistorischen Wahnsinn des Newtonschen, des Kant-Laplaceschen Systems zu begreifen, den man heute in der Schule lehrt. Das heißt, man wird sich fragen: Wie konnte einmal ein ganzes Zeitalter so wahnsinnig sein, diese Anschauung zu preisen? - Heute gilt es noch als ein Wahnsinn, wenn man auf seiten

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Goethes gegen Newton steht, wenn man sich mit Goetheschen Vorstellungen über physikalische Erscheinungen beschäftigt. Aber mit diesen Dingen hängt ja wirklich alles, was in den Aufgaben der Zeit liegt, zusammen. Es beginnen einige wenige Menschen, diese Zusammenhänge heute einzusehen, und es hat mich in einem gewissen Sinne angenehm überrascht, als in der letzten Nummer unserer Zeitschrift «Die Dreigliederung» ausgeführt worden ist, wie dasjenige, was in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» steht über die soziale Erkenntnis der Welt, dasselbe bedeutet, was der Goetheanismus einstmals für die Naturwissenschaft bedeutet hat. Aber wie sich von Goethe die Leute abgewendet haben, weil er der Naturwissenschaft der damaligen Zeit widersprechen mußte, wenden sich eben die Leute heute von der Dreigliederung ab. Warum? Sie widerspricht dem Gewohnten, wie einst der Goetheanismus, so daß sie dieser Dreigliederung eben auch widersprechen.

Diese Dinge können Sie ja anregen zu der Frage: Was soll aber dann der einzelne tun? - Zunächst kommt es ja auf die Einstellung zu der Sache an, auf die klare, sachliche Auseinandersetzung. Es kommt darauf an, daß man wirklich ein tiefgehendes Interesse für die Angelegenheiten der ganzen Menschlieit zu entwickeln beginnt. Man kann zurückblicken auf dasjenige, was man in den letzten vier bis fünf Jahren erlebt hat, und nie hat man reichlicher Gelegenheit gehabt, eine gewisse Sorte von Alleswissern in der Welt immer wieder und wieder kennenzulernen, denn es war eigentlich im Grunde jeder Mensch ein Alleswisser. Da sind die Deutschen gekommen, die haben ganz genau gewußt, wer die Kriegsschuld hat und daß sie eigentlich höchst unschuldig sind; da sind die Franzosen gekommen, die haben ganz genau gewußt, wie alles ist; da haben die Italiener wenigstens noch gestanden den «sacro egoismo». - Die Leute haben immer ganz genau gewußt, um was es sich handelt. Sie haben alle ihre Anschauungen gehabt, sie haben ihre Gedanken, ihre Ideen gehabt. Es ist ja bequem, ohne Unterlagen diese Ideen zu gewinnen. Man ist durch sein Blut Franzose, man ist durch sein Blut Pole, man ist durch sein Blut Tschechoslowake, und man hat dadurch eine bestimmte Anschauung über das Leben, wie es sich gestalten muß in Europa. Man braucht gar nichts anderes als dieses oder

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jenes zu tun, in sich zu fühlen, und man urteilt, urteilt so, wie einem die Urteile entgegentreten. Das ist eben das große Unglück unserer Zeit, daß die Menschen, ohne sich nun wirklich anzustrengen, ohne Interesse zu gewinnen für die Angelegenheiten der Menschheit, aus Unterbewußtem heraus heute urteilen, das oder jenes für richtig halten, das oder jenes für unerläßlich halten. Aber die Zeit ist nicht mehr da, wo man aus dem Unbewußten heraus das oder jenes für unerläßlich halten kann. Die Zeit ist gekommen, wo nur aus dem Sachlichen heraus geurteilt werden darf, wo man sich einmal anstrengen muß, sich wirklich einen Überblick zu verschaffen über die Notwendigkeit der Zeit und über dasjenige, was die Zeit von einem fordert. Es schnürt einem heute das Herz zusammen, wenn man Menschen begegnet, die sich nur für sich selbst interessieren. Denn das ist das große Unglück unserer Zeit, während die einzige Erlösung der Zeit darin bestehen könnte, daß nun, nachdem das Schreckliche vor sich gegangen ist in den letzten Jahren, die Menschen sich sagen würden: Wir müssen uns für die Angelegenheiten der ganzen Menschheit interessieren, wir dürfen nicht bei dem stehenbleiben, was unmittelbar mit uns nur im Uinkreise unseres Volkes sich vollzieht.

Diese Dinge kommen als eine Empfindung unmittelbar aus der Geisteswissenschaft, und ich sage sie heute, um einzelne Schlußgedanken vorzubereiten. Sie sehen hier diesen Bau, der nun einmal der Repräsentant unserer anthroposophischen Geisteswissenschaft ist. Man kann Empfindungen haben für das eine oder andere in diesem Bau, man wird Recht haben. Aber die richtige Empfindung diesem Bau gegenüber hat nur derjenige, der in jeder einzelnen Linie etwas sieht, was gefordert ist von den dringendsten Notwendigkeiten unserer Zeit, der sieht, daß der Bau dastehen muß, weil unsere Zeit dieses oder jenes fordert, weil das und jenes empfunden werden muß an diesen oder jenen Säulen, an diesen oder jenen Fensterreihen; weil es heute der Menschheit notwendig ist, diesen Bau, das, was er sein will, zu nehmen aus der ganzen Korifiguration der Zeit heraus. Und wer zu gleicher Zeit empfindet, einmal durchfühlt diesen ganzen neuen Stil, der wird erkennen, daß dieser Stil platterdings nichts zu tun hat mit irgend etwas, was für dies oder jenes spezialisiert ist, sondern daß er nur mit allgemein Menschlichstem zu tun hat. Es ist an diesem ganzen Bau nichts, zu dem nicht der Amerikaner

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wie der Engländer wie der Deutsche wie der Russe wie der Japaner wie der Chinese Ja sagen können, denn er ist nicht aus der Empfindung eines einzelnen heraus gestaltet. Ich werde nicht, wenigstens nicht von dem, der mich kennt, als unbescheidener Mensch hingestellt werden können, wenn ich sage: Ich kenne selbst nichts, was gegenwärtig von dieser Art gemacht wird, das ebenso unabhängig wäre von differenziertem Menschenwollen und aufgehen würde in allgemeinste Menschenkenntnis und Menschenverständnis wie dieser Bau.

Das aber muß aufgenommen werden, wenn die Dinge, die aus unseren Motiven hervorgehen wollen in bezug auf die Menschenzukunft, dieser Menschenzukunft zum Heile und nicht zum Unheile dienen sollen.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 7. Februar 1920

Ich werde heute wiederum eine Art Episode einfügen in unsere Betrachtungen, die uns dazu dienen wird, das eigentliche Thema morgen weiterzuführen. Ich werde genötigt sein, um Ihiien gewisse Dinge erörtern zu können, heute eine etwas aphoristischere Art der Darstellung zu verwenden. Wir haben ja die mannigfaltigsten Symptome und Erscheinungen aus dem Zeitgeschehen herausgeholt, um zu erkennen, wie dieses Zeitgeschehen die Menschheit hinleitet zu einem Ergreifen geistiger Wirklichkeiten. Und es war mein Bestreben, klarzumachen, daß es bei dieser Ergreifung geistiger Wirklichkeiten sich nicht bloß darum handein kann, daß der Mensch gewissermaßen auch in der Zukuiift die geistige Welt nur ergreife, um an ihr etwas zu haben, ich möchte sagen, für seine Sonntagssttinden. Das war ja gerade das Verderbliche in der Zivilisation, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet hat, daß das Geistesleben allmählich etwas so Abgezogenes, Abstraktes geworden ist Auf die Frage, die ich in einem öffentlichen Vortrage in Basel vor einiger Zeit gestellt habe: Was verbindet die Weltanschauung> die Anschauung über das Geistige oder auch über das Ungeistige, die jemand hat, der Beamter, Rechtsanwalt, Fabrikant, Kaufmann ist, mit dem, was einer alltäglich treibt? - kann man sagen: Es fließt von den Gedanken, die er als Weltanschauung hat, nichts in seine beruflichen und alltäglichen Angelegenheiten, ich meine in die Führung derselben hinein. Man ist auf der einen Seite ein Mensch des äußeren praktischen Lebens, und daneben hat man eine rein abstrakte Weltanschauung, sei sie mehr oder weniger religiös, sei sie mehr oder weniger wissenschaftlich gefärbt. Das ist ja Usus geworden im Laufe der letzten Jahrhunderte und zu einem Höhepunkt gelangt in unserer so unheilschwangeren Zeit. Und was da zugrunde liegt, drückt sich aus in einem andern, eigentlich noch fataleren Umstande, daß Menschen, die den guten Willen haben, sich eine geistige Weltanschauung anzueignen, geradezu in den Inhalt dieser geistigen Weltanschauung aufnehmen, daß diese geistige Weltanschauung nichts zu tun habe mit ihrem praktischen Leben. Denn das

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praktische Leben, das ist das Reale, das ist dasjenige, dem man sich äußerlich widmet, die Geistigkeit hat man für den Sonntag, man hat sie abgezogen vom Leben, und das Leben ist nicht würdig, diese Geistigkeit aufzunehmen. - Ich habe mich immer bemüht, klarzumachen, daß gerade die hier gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zwar in die höchsten Höhen des geistigen Lebens hinaufsteigen will, aber dann in dem Menschen durch dieses Hinaufsteigen in die geistigen Welten eine Art des Denkens, eine Art des Vorstellens heranerziehen soll, welche ihn geeignet macht, geschickt, praktisch in jeden Zweig des alltäglichen Lebens sich hineinzustellen. Man soll für sein Geschäft, für das tägliche praktische Leben etwas haben von dem, was man sich geistig auch für die höheren Welten erarbeitet.

Dieses Arbeiten für die geistigen Welten soll so sein, daß es einen nicht dazu verführt, zu sagen: Diese geistige Welt, das ist das Jenseitige, das darf gar nicht berührt werden von dem groben Alltäglichen; das grobe Alltägliche ist gesondert da, das verachtet man, die geistige Welt ist das Hohe, das Erhabene. - Ich habe in früheren Jahren oftmals und sehr scharf auf diese Dinge hingedeutet und habe ausgesprochen, daß ja wirklich im Laufe der Jahre mancher Mensch zu mir gekommen ist und mir sagte: Ach, ich habe einen so prosaischen Beruf, ich möchte diesen prosaischen Beruf verlassen und mich Idealerem widmen. - Das ist die schlechteste Maxime, die man im Leben haben kann. Wer durch sein Schicksal, durch sein Karnia Postbeamter ist und ein ordentlicher Postbeamter ist, der dient - so sagte ich oftmals - gewiß, wenn er seinen Beruf ordentlich ausfüllt, der Welt mehr, als wenn er ein schlechter Dichter ist oder gar ein schlechter Journalist oder dergleichen, wonach es einen manchmal gelüstet. Es handelt sich nur darum, wenn man dem Geistigen sich nähert, dieses Geistige so in sein Gemüt aufzunehmen, daß es einen nicht ungeschickt, sondern geschickt macht für das äußere Leben. Weil diese Maxime verschwunden ist aus dem Leben seit dem 15. Jahrhundert und gewissermaßen das Leben sich in diese zwei Strömungen gespalten hat, in das von Idealisten und Mystikern verachtete äußere praktische Leben und in das von Praktikern als etwas schwärmerischträumerisch angesehene mystische, religiöse, idealistische Leben, stehen

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wir heute in der Ihnen gestern geschilderten Sackgasse des Lebens darinnen. Das ist der tiefere Grund, warum wir in dieser Sackgasse darinnenstecken. Dadurch ist es gekommen, daß auf der einen Seite im praktischen Leben jeder einzelne dasteht in einem kleinen Kreise, wie ich gestern gesagt habe> arbeitend ohne Übersicht und auch ohne herzliche Anteilnahnie an dem Ganzen, und wiederum, wenn man idealistisch genug dazu ist, sich einer geistigen Weltanschauung zu widmen, man dann diese geistige Weltanschauung so haben will, daß man in dieser geistigen Weltanschauung ja nicht erzogen wird zum Beispiel zur praktischen Führung, sagen wir eines ordentlichen Hauptbuches oder eines ordentlichen Journals. Es gibt Leute, die sehen es geradezu als einen Vorzug an, wenn jemand nicht versteht und gar nicht begreifen kann, wie man ein Journal oder ein Kassabuch führt. Das ist der große Schaden, welcher sich durch die letzten Jahrhunderte allmählich immer mehr und mehr eingebürgert hat.

Es ist kein Vorzug, keinen Dunst zu haben von der Art und Weise, wie man Hauptbücher, Kassenbücher führt, und es ist kein Segen für die Menschheit, wenn es möglichst viele Personen gibt, die Idealisten sein wollen, indem sie von allem Praktischen nichts verstehen und nur sich geistigen Betrachtungen hingeben wollen. Das einzig Gesunde im Leben ist, wenn diese beiden Maximen im Leben so durcheinandergehen, daß das eine das andere trägt. Aber dasjenige, was im kleinsten Kreise allrnählich immer mehr und mehr als ein Lebensschaden in den letzten Jahrhunderten zum Vorschein gekommen ist, es spricht sich auch aus in den großen Angelegenheiten des Lebens insofern, als niemand eigentlich, 'wirklich, man kann sagen, niemand außer einigen Menschen, die es recht unpraktisch gemacht haben, sich darum bekümmert hat: Wie kann eigentlich aus den Gebilden, die veraltet sind - ich habe es Ihnen gestern charakterisiert, wie sie auf der Landkarte ausschauen -, die man vor dem Kriege, bis 1914, als die Staaten der Erde bezeichnet hat, etwas wirklich Gesundes entstehen? - Ja, man ist heute selbst durch die Prüfüngen der letzten vier bis füiif Jahre leider noch nicht weit genug, über diese Dinge in gesunder Art nachzudenken. Nehmen Sie nur das eine. Wenn man einmal kühlen Kopf dafür haben wird, die ferneren Ursachen der furchtbaren Katastrophe der letzten viereinhalb oder fünf

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Jahre zu betrachten, so wird man finden, wie diese Ursachen zwischen Mitteleuropa und den westlichen Gegenden, auch Amerikas, in industriell-kommerziellen Verhältnissen liegen, in jenen industriell-kommerziellen Verhältnissen, die längst in Widerspruch gekommen sind mit den Staatsgrenzen. Die Staatsgebilde, die aus ganz andern Verhältnissen heraus sich gebildet haben und die eine Dependenz mittelalterlicher Verhältnisse sind, diese Staatsverhältnisse haben sich künstlich als Rahmen gebrauchen lassen für das, was nur kommerzielle und industrielle Interessen sind. Sie taugten gar nicht dazu, aber sie ließen sich dazu gebrauchen. Und heute bemerkt man das so wenig, daß eine, allerdings für längere Zeiten aussichtslose, aber für kürzere Zeiten außerordentlich störende sozialdemokratische Bewegung es auch nicht anders macht. Wir erleben es heute, daß überall sozialistische Theorien auf- tauchen, sogar bis in die Welten Asiens hinüber, die ganz besonders radikal werden. Diese sozialistischen Theorien wollen etwas Praktisches formen. Vor dem Kriege haben sie die Rahmen der alten Staaten benützen wollen, jetzt wollen sie die Rahmen desjenigen benützen, was sich aus der Kriegskatastrophe herausgebildet hat, also sagen wir Rußland, wie es sich aus dem Kriege herausgebildet hat, soll als ein Rahmen benutzt werden für bolschewistische Theorien. Man kann sich, wenn man der Wirklichkeit gemäß denken kann, nichts Unsinnigeres denken, als daß dies versucht wird. Es gibt keinen größeren Nonsens als dieses Gebilde, das zunächst entstanden ist aus rein mittelalterlichen Kräften heraus, kombiniert dann mit den unnatürlichen Ergebnissen, die immer mehr in dem bis zum Versailler Frieden, das heißt, Unfrieden gekommenen Krieg entstanden sind. Daß dieses Gebilde im Osten von Europa nun die Phantasien von Lenin und Trotzkij aufnehmen soll, ist für die Dauer ein Unsinn, für eine kurze Zeit ein Tumult, der ungeheuer die gesunde Entwickelung der Menschheit Europas aufhalten muß. Das ergibt sich, wenn man Sinn für Wirklichkeit hat.

Aber dieser Sinn für Wirklichkeiten, der fehlt eben heute, man möchte sagen, dem ganzen öffentlichen Urteil der Menschheit. Das ganze öffentliche Urteil der Menschheit wird nicht aus einem Sinn für Wirklichkeiten heraus gebildet, sondern eigentlich aus Abstraktionen, aus abstrakten Theorien. Und wenn einmal etwas auftritt, was nicht aus abstrakten

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Theorien ist, wie die Dreigliederung, etwas, was aus dem Leben heraus- gegriffen ist und was man, weil man nicht gleich dreißig Bände schreiben kann, welche die Leute auch nicht lesen würden, kurz zusammenfassen muß, so erkennt man daran den Wirklichkeitsgeist nicht, sondern hält, weil man heute ganz angefüllt ist von Theorien, das erst recht für eine Theorie. Man hat gar nicht mehr Sinn für das, was der Wirklichkeit entnommen ist, weil man ganz und gar sich der Wirklichkeit entfremder hat.

Das muß eintreten, daß die Leute im eininentesten Sinne heute praktisch werden können und dennoch hinaufschauen können zur geistigen Wcit Denn nur dadurch wird sich das Menschengemüt gesund in die Zukunft hineinentwickeln, daß diese beiden Elemente im Menschengeinüt nebeneinandergehen können. Wenn die Zeit kommen wird, wo derjenige nicht mehr als ein Narr gelten wird, der sagt: Im Osten drüben leben Seelen, welche sich durch besondere historische Verhältnisse Asiens so entwickelt haben, daß sie heute wenig Sinn haben für die äußere Welt und dadurch selbstverständlich auch leicht die Beute der an der bloßen materiellen Welt hängenden Europäer werden konnten, daß sie aber sich bewahren konnten die Aufschau in die geistige Welt -, dann wird man sehen, im Orient haben wir solche Seelen. Ein besonders wichtiger Repräsentant ist Ihnen ja von i1tLr oft in der Person des Rabindranath Tagore genannt worden. Aber dieser Rabindranath Tagore, der nicht einmal ein Eingeweihter, sondern bloß ein Intellektueller Asiens ist, hat in sich, ich möchte sagen, den ganzen Geist Asiens, und Sie können aw seiner Vortragssaminlung «Nationalismus» vieles über diesen strebenden Geist Asiens entnehmen.

Diese Seelen, die da drüben sind, denen fehlt aber jede innere Beziehung zu dem, was in Europa und in Amerika in bezug auf das äußere Leben getrieben worden ist Ich eririnere noch einnial an etwas, das ich ja vor Ihnen schon ausgesprochen habe. Erst die letzten Jahrhunderte haben uns das gebracht, was man nennen kann die rein mechanistische Kultur. Sie finden heute noch in Geographiebüchern, daß die gesamte Erde bevölkert ist von etwa fünfzehnhundert Millionen Menschen. Das stimmt aber nicht, wenn man die Arbeit, die auf der Erde verrichtet wird> in Betracht zieht. Wenn, sagen wir, einnial ein Marsbewohner

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herunterkommen würde auf die Erde und er würde die Erdenbevölkerung zahlenniäßig in der folgenden Weise beurteilen, daß er zuerst fragen würde: Wieviel arbeitet auf der Erde ein Mensch, wenn man Rücksicht nimmt auf die Arbeitskraft, die er anwenden kann? - und weiter fragen würde: Wieviel wird insgesamt gearbeitet? - nehmen wir die Zahlen, die vor dem Kriege bestanden haben, die derzeitigen Zahlen kann man schlecht dazu gebrauchen, sie sind auch noch nicht da, dann würden, wenn man notieren würde, wieviel von Menschen auf der Erde geleistet wird, nicht fünfzehnhundert Millionen herauskommen, sondern zweitausend Millionen oder sogar zweitausendzweihundert Millionen Menschen als Erdenbevölkerung. Warum ? Weil tatsächlich auf der Erde von Maschinen so viel Arbeitsleistung geliefert wird, daß das etwa siebenhundert Millionen Menscheiileistungen gleichkommt. Würden die Maschinen nicht arbeiten und würde das, was die Maschinen leisten, durch menschliche Arbeitskräfte geleistet werden sollen, so müßten siebenhundert Millionen Menschen mehr auf der Erde sein. Ich habe das ausgerechnet aus der Menge der auf der Erde verwendeten Kohlen und dabei zugrunde gelegt eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden. Was ich gesagt habe, gilt für den Kohlenverbrauch ungefähr im Beginne des 20. Jahrhunderts und für eine Arbeitszeit von acht Stunden, sodaß man sagen kann: Nach dem, was auf der Erde geleistet wird, sind eigentlich zweitausendzweihundert Millionen Menschen auf der Erde. - Aber, was da von rein mechanischen Arbeitsinstrumenten geleistet wird, das wird mehr oder weniger ganz in Europa und Amerika geleistet, in Asien heute nicht viel davon. Es hat ja auch dort begonnen, aber es ist noch ziemlich im Anfang geblieben, denn der Asiate hat noch keinen Sinn für diese Mechanisierung der Welt, es fehlt ihm ganz und gar der Sinn für das, was im Abendlande aufgegangen ist seit dem letzten Jahrhundert oder auch seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber da dürfen wir nicht bloß daran denken, daß mechanische Arbeit geleistet wird, sondern wir müssen auch daran denken, daß das ganze Vorstellungswesen der Menschen sich hinwendet nach dieser Mechanisierung der Welt. Es kann heute einer sagen: Um den Gotthardtunnel zu bauen, waren soundso viel Arbeiter nötig. Aber heute kann man nicht einen Gotthardtunnel bauen, ohne Differential- und Integralrechnung zu kennen, und die

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rührt von Leibniz her, die Engländer sagen von Newton; wir wollen uns darüber nicht streiten. Also würde der Gotthardtunnel oder der Hauensteintunnel hier in der Nähe nicht haben gebaut werden können, wenn nicht Leibniz einmal in seiner Studierstube die Differential- und Integralrechnung gefunden hätte. Das ganze Denken Europas seit Kopeinikus-Galilei geht auf diese Mechanisierung der Welt hin. Lesen Sie einmal bei Rabindranath Tagore nach, wie sehr er diese Mechanisierung der Welt haßt.

Aber wozu wird das führen müssen? Im Spiegel der geistigen Weltanschauung kann es gesagt werden: Alle diejenigen Seelen, die heute im Osten, in dem, was wir Osten nennen, verkörpert sind, die werden ihre nächste Verkörperung im Westen suchen. Die westlichen Menschen werden ihre nächste Verkörperung mehr im Osten suchen. Die Mitte wird eine Vermittlung bilden müssen. - Sagen Sie aber so etwas wie eine kulturhistorische Forderung, daß das ganze Erziehungswesen und dergleichen darauf angelegt werden soll, daß diese sich überkreuzende Seelenwelle über die Erde geht, sagen Sie so etwas den ganz gescheiten Menschen der Gegenwart, nehmen wir die Gescheitesten, die, welche von den Völkern auserwählt werden, um in die Parlamente zu kommen, dann werden Sie hören, daß Sie ein Narr sind, daß das ja ganz verrückt ist! Aber die Anerkennung dieser Wahrheiten muß ebenso die Menschen ergreifen, wie für frühere Zeiten dasjenige die Menschen ergriffen hat, was heute anthropologische Wahrheiten genannt wird; die Mischung der Rassen, die gegenseitige Verteilung der Rassen und so weiter. Es muß begonnen werden, alles, was früher bloß äußerlich physiologisch betrachtet worden ist, geistig zu betrachten. Es gibt ja gute Tlieosophen, die denken in Feieraugenblicken ihres Lebens daran, daß der Mensch in wiederholten Erdenieben lebt; es ist für sie ein Glaubensbekenntnis. Aber dainit ist es nicht getan. Das ist, wenn man bloß an Reinkarnation und Karma als an einen Glaubensartikel glaubt, nicht mehr wert, als wenn man einen Wäschezettel macht. Wert bekommen diese Dinge erst, wenn man sie eInfügt in das ganze Denken über die Welt und auch in das Handeln, in das ganze Gebaren und Gehaben in der Welt. Wert haben diese Dinge erst, wenn man kulturgeschichtlich dainit rechnet. Und wenn man einmal diese Dinge nicht als etwas ansehen wird, dein

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man sich nur widmet in den Feieraugenblicken des Lebens, sondern mit dem man das Leben durchdringt, und wenn man wirklich im Ernste solche Gedanken hat - theosophisch spielen kann man selbstverständlich mit diesen Gedanken sehr viel -, dann wird man auch Sinn haben für die ordentliche Führung eines Kassen- oder Hauptbuches, für das Ausgestalten einer ordentlichen Hobelbank; man wird es auch nicht verschmähen, wenn man in die Notwendigkeit versetzt wird, selbst Schusterarbeit zu verrichten. Denn nur bei demjenigen, der drinnenstehen kann im praktischen Leben, der unter Umständen geschickt sein kann, wenn es darauf ankommt, überall zuzugreifen, bei dem ist der ganze menschliche Organismus so durchdrungen von innerer Geschicklichkeit, daß diese innere Geschicklichkeit sich auch auslebt in wirklich tragfähigen Gedanken.

Das ist es, was durchdringen müßte die Gemüter. Es wird die Kultur durchdringen, wenn man sich bekanntmacht mit demjenigen, wovor die Menschen in der Gegenwart die allergrößte Furcht haben.

Man kann sagen: Es bestehen heute zwei Dinge, welche auf zwei Angstzustände der gegenwärtigen Menschheit hinweisen - ich glaube nicht, daß Sie mir, wenn Sie mit innerem Wahrhaftigkeitsgefühl die Sache überschauen, Unrecht geben können. Das eine ist, daß über den weitesten Umkreis der zivilisierten Welt eine heino`se Angst davor besteht, auf die wirklichen Kriegsursachen zu kommen. Man möchte da nicht hineinschauen, ja nicht seine Nase da hineinstecken, höchstens beim Gegner, aber ja nicht in der Heimat! Mit einzelnen wenigen Aus- nahmen vermeiden es die Menschen, sich mit den eigentlichen Ursachen der furchtbaren Menschlieitskatastrophe der letzten Jahre zu befassen, davor haben sie eine heillose Angst. Während des Krieges hat sich das sogar idealistisch ausgelebt. Da hat es Menschen gegeben, die stellten sich auf den Standpunkt: Von diesem Kriege wird ausgehen ein neues Menschenleben, eine neue Befruchtung der Ideale der Menschheit und so weiter. - Man wird viel studieren können über die Vorgänge der neueren Zeit, um hinter die eigentliche Ursache dieser Schreckenskatastrophe zu kommen. Dann wird sich aber nichts Positives ergeben als Inhalt dieses Krieges, sondern es wird sich das ergeben, daß die alten Kultur- und Zivilisationsformen morsch geworden sind, daß sie

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sich in dieser Kriegskatastrophe selber ad absurdum geführt haben, daß dieser Krieg gar nichts anderes bedeutet als das Sich-ad-absurdumFühren der Zivilisation, wie sie bis zu diesem Kriege eben war. Das ist das eine, wovor die Menschen eine heillose Angst haben, Angst vor einem äußeren Ereignis. So starke Angst haben sie, daß sie es heute überhaupt aufgegeben haben, wirklich noch von heute auf morgen zu denken. Denn daß zum Beispiel das, was man Versailler Frieden nennt, jemals eine Wirklichkeit gebären könnte, das konnte kein vernünftiger Mensch glauben, weder von der einen noch von der andern Seite. Und dennoch, weil man nur für heute, nicht für morgen denkt, ist dieses sonderbare Instrument zustande gekommen. Das ist ein äußeres Ereignis.

Aber es gibt noch etwas anderes, das ist die Furcht, die die Menschen haben vor dem Vorrücken in immer größere und größere Bewußtheit des seelischen Lebens. Wenn es den Menschen nur irgendwie gerechtfertigt erscheint, aus dem Bewußtsein sich herauszuflüchten ins Unbewußte, dann sind sie froh. Wenn ihnen eine Weltanschauung auftritt wie diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, die gerade eine vollständige Ausbildung des Bewußtseins anstrebt und aus diesem vollständigen Ausarbeiten des Bewußtseins heraus zu ihren Wahrheiten kommen will, dann wollen die Menschen da nicht heran. Es ist ihnen zu schwer. Das erfordert Aktivität, das erfordert, daß man sich wirklich in bewegliches Geistesleben bringt. Das ist zu schwer.

Aber die Menschen streben darnach, daß ihnen in heruntergestimmten Bewußtseinszuständen geoffenbart werde erstens, was Geistesleben ist, und zweitens, was im Menschen selber lebt. Wie viele Menschen, viel mehr als Sie denken, wollen sich heute nicht einlassen auf init gesundem Seelensinn erfaßte geistige Wahrheiten. Aber wenn ihnen irgendwo durch eine mediale Gewalt, durch ein Medium dies oder jenes aus den geistigen Welten verkündet wird, dann fallen sie darauf herein. Da braucht man sich nicht anzustrengen, es zu begreifen. Das kommt auf unbewußte Art doch zustande, und das Unbewußte möchte man glauben. Das andere, was sich unmittelbar daranschließt, das ist die so kraß sich ausbreitende Psychoanalyse. Man glaubt gar nicht, wie sich diese Psychoanalyse in rasender Schneffigkeit in die Seelen der Menschen

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einnistet. Worin besteht sie? Sie besteht darin, daß allerlei medizinische Menschen sich heute auftun und - in Kürze ist es schwer zu sagen, ich habe ja öfter hier schon die Psychoanalyse analysiert - so etwas einrichten, wodurch das, was im menschlichen Seelenleben unterbewußt ist, heraufkommt ins Bewußtsein. Man läßt sich von den Menschen ihre Träume erzählen, erforscht, was sie früher erlebt haben an Enttäuschungen, an enttäuschten Wünschen und so weiter, was dann vergessen worden ist und Seeleninseln gebildet hat und so weiter, und man sucht auf diese Weise sich klar darüber zu werden, was im Menschenwesen eigentlich lebt. Besonders Gescheite haben herausgefunden, daß besonders viel in der Menschenseele lebt von dem, was in der ersten Kindheit sich in diese Seele einnistet an unnatürlichen Empfindungen und unnatürlichen Gefühlen, die dann hinuntergedrückt werden in das Unterbewußtsein; aber sie leben dann weiter im Menschen, der Mensch ist ihr Sklave. Der Ödipus-Mythos wird von diesen Leuten zurückgeführt auf die unnatürlichen Gefühle, welche jedes Kind haben soll zu seiner Mutter und so weiter. Klar sind sich diese Menschen nach ihrer Ansicht darüber, daß eigentlich jedes kleine Mädchen in den zartesten Kindesjahren eifersüchtig ist auf die Mutter, weil es den Vater liebt, und jeder kleine Knabe eifersüchtig ist auf seinen Vater, weil er die Mutter liebt. Daraus ergibt sich dann ein Empfindungskomplex, der zum Mythos umgebildet im Ödipus-Mythos auftritt und dergleichen mehr. Daß 'allerdings geistige Dinge hineinspielen, aber geistige Dinge, die mit dem Lichte des Bewußtseins durchdiuingen werden müssen, das will man nicht glauben, davor fürchtet man sich. Diese Dinge in das Licht des Bewußtseins zu holen, davor fürchtet man sich. Man möchte alles in ein nebuloses Dunkel hinUnterrücken. Ich habe Sie ja aufmerksam gemacht auf das Prachtbeispiel, welches immer wieder und wiederum auftaucht, wenn von Psychoanalyse die Rede ist: Eine Dame ist eingeladen zu einer Abendunterhaltung in einem Hause, in dem die Dame des Hauses kräiiklich ist und das Abschiedsfest gefeiert wird, weil sie in ein Bad reisen muß. Der Herr des Hauses bleibt zu Hause, die Dame des Hauses muß ins Bad. Die Abendunterhaltung ist zu Ende. Die Dame des Hauses ist schon zum Bahnhof spediert, die Abendgesellschaft geht fort und ist auf dem Heimweg. Eine Droschke, nicht ein Auto!, fährt um die Ecke herum, die

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Abendgesellschaft weicht links und rechts aus. Aber just die eine Dame, die ich eigentlich im Auge habe, weicht nicht nach links und nicht nach rechts aus, sondern bleibt mitten auf der Straße und läuft voi den Pferden her. Der Kutscher macht selbstverständlich einen furchtbaren Radau, aber die Dame läuft und läuft, und der Kutscher hat die größte Mühe, die Pferde zu zügeln, weil er die Dame überfahren könnte. Man kommt an eine Brücke. Die Dame, so recht ein Objekt für die Psychoanalytiker, wirft sich in den Strom hinein, die Abendgesellschaft selbst- verständlich gleich nach, rertet sie. Was tut man mit ihr? Nun, selbst- verständlich in das Haus des Gastgebers sie zurückbringen, das ist das nächste Auskunftsmittel.

Der Psychoanalytiker hat nun diese Dame vor sich. Er läßt sich alles erzählen, was sie in der Jugend durchgemacht hat, und er kommt nun auch glücklich darauf, daß sie, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war, einmal über die Straße gegangen ist und ein Pferd um die Ecke gekommen ist; da ist sie sehr erschrocken. Das ist in das Unterbewußte hinuntergesaust. Da unten ist es. Seither hat sie einen solchen Schrecken vor Pferden, daß sie auch jetzt auf der Straße vor den Pferden davon- lief, nicht ausweicht, nicht rechts und nicht links. Das ist die isolierte Seelenprovinz, die sie hat, die Furcht vor dem Pferde, die im Unter- bewußten haust.

Es ist ja etwas in diesem Unterbewußtsein, aber man muß dieses Unterbewußte mit dem Lichte gerade des geistesforscherischen Bewußtseins durchdringen. Dann kommt man darauf, daß dieses Unterbewußtsein bei gewissen pathologischen Voraussetzungen sehr schlau ist, daß unter dem gewöhnlichen individuellen Menschheitsbewußtsein allerdings nicht gerade die Grundlagen des Ödipus-Mythos sind, nicht gerade die Furcht vor dem Roß, das einem einmal über den Weg gelaufen ist, sondern ein gewisses Raffmement. Denn die Dame, die in jene Abendgesellschaft eingeladen war, wünschte natürlich nichts sehnllcher, als die Nacht in diesem Hause zuzubringen, nachdem erst die Dame des Hauses ins Bad entlassen worden war, und das beste Mittel für das Unterbewußte, die Sache einzurichten, war, die nächstbeste Gelegenheit zu ergreifen - wäre es nicht das Roß gewesen, wäre es etwas anderes gewesen -, daß die Abendgesellschaft sie zurückbringen muß in das Haus. So hatte sie ihr

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Ziel ja erreicht. Sie würde selbstverständlich nach ihren Erziehungsgrundlagen, nach dem, was sie aufgenommen hat, niemals ihre Moralität so weit verletzt haben, so etwas zu tun. Im Oberbewußtsein ist sie nicht so schlau; aber im Unterbewußtsein sitzen viele raffinierte Antriebe, die sehr schlau sein können.

Diese ganze sich ausbreitende Psychoanalyse, die so krasse Formen heute annirnnit, an die, mehr als Sie denken, heute insbesondere die hoffnungsvolleren Intellektuellen glauben - ich sage das nicht im abträglichen Sinne, sondern sogar mit dem Tone der Wahrheit -, auf die sogar heute die Theologen schon die Religion aufbauen m`öchten, diese Psychoanalyse ist das andere Angstprodukt der Gegenwart. Man fürchtet sich vor dem Bewußtsein. Man möchte nicht, daß die Dinge im klaren Lichte des Bewußtseins erfaßt werden, sondern man möchte, daß das Wichtigste da unten im Unterbewußten haust, daß der Mensch beherrscht werde mit Bezug auf seine wichtigsten Dinge, namentlich in bezug auf seine religiösen Empfindungen. Lesen Sie das bei William James nach, dem Amerikaner. Denn ob es nun in einigen Gegenden Europas Psychoanalyse genannt wird oder ob es so genannt wird, wie William James, der Amerikaner, diese Dinge ausdrückt, das ist schon ganz gleichgültig. Es herrscht die Furcht vor dem Bewußten. Man will das Wichtigste, das im Menschen lebt, nicht in seinem Bewußtsein haben. Da müßte der Mensch ja mehr denken, wenn er sich selber mit dem bewußten Willen dirigieren sollte. Es ist wichtig, daß der Mensch gerechtfertigt hat, daß er weniger denkt.

Unsere Eurythmie, sie ist ganz und gar aus dem Bewußtsein heraus gearbeitet. Sie ist das Gegenteil alles Träumerischen. Die Leute haben allerdings Angst, sie sei dadurch weniger künstlerisch, weil sie das Künstlerische mit dem Traumhaften in Verbindung bringen. Das ist aber ein Unsinn. Beim Künstlerischen kommt es nicht darauf an, ob es aw dieser oder jener Region hervorgeholt ist, sondern daß es in seinen Formen, in seiner Ausgestaltung künstlerisch ist. Diese Eurythmie, die ganz und gar auf Überbewußtsein, auf das Gegenteil des Unterbewußtseins gegründet ist, wurde neulich von einem Herrn, wie mir gesagt worden ist, der nun auch ein Arzt ist, taxiert: Er habe viel Unbewußtes darin bemerkt. - Das ist natürlich ein Beweis dafür, daß der Herr von

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der Eurythmie nicht das Geringste verstanden hat. Gerade dasjenige, was der Lebensnerv anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft ist, das wird sehr wenig bemerkt. Und man wird es erst dann ganz bemerkt haben, wenn man wirklich durch diese Geisteswissenschaft eine solche innere Denk- und Empfindungs- und Willenserziehung durchmachen kann, daß einen das für das Leben nicht ungeschickter, sondern geschickter macht. Ich will ja nicht behaupten, daß heute alle, die Anthroposophie zu ihrem Glaubensbekenntnis gemacht haben, lebensgeschickte Menschen seien. Ein Glaubensbekenntnis bedeutet in dieser Beziehung nicht viel. Ich wage wirklich nicht zu behaupten, daß alle Anthroposophen lebensgeschickte Menschen seien. Aber sehen Sie, was in der realen Bewegung der anthroposophischen Gesellschaft sich äußert, das ist ja vielfach das, was von außen hirieingetragen wird. Von innen hinausgetragen wird heute noch wirklich recht Weniges. Und erst dann wird die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft das für die Welt sein können, was sie sein soll, wenn nicht nur mystische Neigungen, Lebensfremdheit, falscher Idealismus, Tantentum - ich könnte auch sagen Onkeltum; nein, so ähnliche Dinge meine ich - hineingetragen werden, sondern wenn das hinausgetragen wird, was in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zu holen ist: eine Anregung des Seeleitlebens, die in die Glieder übergeht, die den ganzen Menschen ergreift - nicht bloß das Glaubensbekenntnis - und dadurch die Menschen in die Angelegenheiten der Welt eingreifen können. Das ist es, um das es sich hauptsächlich handelt Darin sollte man den ganzen Lebensernst suchen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 8. Februar 1920

Es ist vielleicht nicht allzu bekannt, wie im Laufe der Zeiten sich nicht nur die ganzen Seelenverfassungen der Menschen ändern, sondern w1e auch dasjenige einer Verwandlung unterworfen ist, was man im sozialen Leben für den Menschen als notwendig hält. Ich habe solche Dinge in vorhergehenden Betrachtungen schon wiederholt eingeschoben. Ich habe zum Beispiel erwähnt, wie es im alten Römischen Reich durchaus nicht eine allgemeine Volksanforderung war, daß alle Menschen als Kinder das Einmaleins als Grundlage des Rechnens lernten, daß es dagegen ganz allgemein war, daß jedes Kind, das heranwuchs, die Zwölftafelgesetze kannte. Die Ansicht darüber, was so Allgemeinanschauung, Allgemeinkenntnis innerhalb der Menschheit sein soll, hat sich im Laufe der Zeiten sehr geändert. Diese Dinge hängen zusammen mit der ganzen Entwickelung der Menschheit. Um darüber das Nötige einzusehen, ist es doch erforderlich, sich die wahre Gestalt der Entwickelungsvorgänge der Menschheit einmal vor Augen zu führen.

Bevor es eine Bevölkerung, so wie wir sie jetzt kennen, in Europa, in Asien, in Mrika, auch in Amerika gab, war ein ausgedehnter Kontinent an der Stelle, wo jetzt der Atlantische Ozean ist. Im wesentlichen war also Erdoberfläche eiiimal die Gegend zwischen Europa, Afrika auf der einen Seite, Amerika auf der andern Seite, in einer Zeit, als der größte Teil von Europa, Mrika, Asien und Amerika unter Wasser stand.

Wir wissen, daß dieser atlantische Kontinent, so nennen wir ihn, untergegangen ist infolge einer bedeutungsvollen Katastrophe, und wir haben es ja auch schon öfters erwähnt, daß Wanderungen stattgefunden haben von diesem atlantischen Kontinente, der allmählich immer mehr und mehr unbewohnbar wurde, nach den sich allmählich hebenden Ländern, die heute Europa, Asien, Afrika ausmachen. Im wesentlichen besteht - Sie können das in meiner «Geheimwissenschaft im Uirrriß» nachlesen - die Bevölkerung von Europa, Asien, Afrika aus der Nachkommenschaft der alten Atlantier.

Nun traten aber unter diesen Bevölkerungen bedeutungsvolle Unterscheidungen

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auf, und die Nachwirkungen dieser Unterscheidungen sind noch immer da. Die Nachwirkungen dieser Unterscheidungen kann man noch verstehen, wenn man sich folgendes sagt: Es gab gewisse Bevölkerungsteile, welche vom atlantischen Kontinente nach Osten wanderten. Wir wollen von Amerika jetzt absehen, das allerdings damals auch bevölkert wurde vom atlantischen Kontinent aus, aber wir wollen davon absehen. Es zogen also gewisse Bevölkerungsteile nach Osten. Eine AIizahl derselben zog weithin nach Asien, und es entstanden unter den Bevölkerungen, die auf diese Weise von Westen nach Osten gezogen waren, jene Kulturen, die wir bezeichnet haben als altindische Kultur, als altpersische Kultur, als altägyptisch-chaldäische Kultur, dann als die griechisch-lateinische Zeitkultur, und jetzt in Europa die fünfte nach- atlantische Kultur, in der wir selber drinnen leben, welche um die Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen hat. Aber diese Kulturen entstanden ja auf die folgende Art: Gewisse Bevölkerungsteile fanden sich durch ihre Seelen- und Körperkonstitution eben veranlaßt, am weitesten zu ziehen nach Asien hihüber, andere blieben zurück in Europa. Es haben später allerdings jene Wanderungen stattgefunden, von denen auch die äußere Geschichte redet, durch die wiederum gewisse Bevölkerungsteile Asiens herüber nach Europa gezogen sind. Aber` das, was jetzt die europäische Bevölkerung bildet, ist zwar zum Teil, aber nicht etwa bloß die Nachkommenschaft von dem, was später wiederum aus Asien herübergezogen ist, sondern was heute Europa bevölkert, ist auch die Nachkommenschaft dessen, was früher ursprünglich zurückgeblieben ist bei der Wanderung von dem atlantischen Kontinente nach dem Osten. Und vieles von dem, was in europäischen Menschen lebt, führt zurück in Körper- und Seelenkonstitutionen, welche dadurch zu er- klären sind, daß mit ihnen behaftet waren eben die Menschen, die zurückgeblieben waren in Europa, die nicht hinübergezogen waren nach Asien. In Europa haben wir es eben durchaus mit einem Zusammenffießen der allerverschiedensten Bevölkerungselemente zu tun daß abergewisseTeile der Bevölkerung nach Asien hinübergezogen, andere in Europa zurückgeblieben sind, das bewirkte einen bedeutsamen Unterschied, eine bedeutsame Differenzierung der europäisch-asiatischen Bevölkerung. Diejenigen Bevölkerungen, die ursprünglich

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im 8., 7., 6. Jahrtausend in Asien bereits eingewandert waren, waren so geartet, daß sie die menschliche Geisteskultur, die sich ausbreiten konnte, sehr stark in das seelische Element hereinnahmen. Jetzt noch kann man es an der Bevölkerung Asiens, die ja in gewisser Beziehung verkommen ist, bemerken, daß diese Bevölkerung das geistige, auch das verstaridesmäßige Element ausgebildet hat wesentlich im seelischen Teil. Man kann sagen, und das ist nicht bildlich gesprochen, sondern ist eigentlich die volle Wahrheit: Diese östliche Bevölkerung, deren hervorragendstes Glied die asiatische Bevölkerung ist, hat den Körper wenig an ihrer Entwickelung teilnehmen lassen. Alles dasjenige, was ersonnen worden ist, was gelebt hat und bis zu einem gewissen Grade auch in der Dekadenz noch in der Kultur Asiens lebt, ist wenig von körperlichen Eigenschaften des Menschen abhängig, es ist stark von seelischen Eigenschaften abhängig. Daher konnte in diesem Asien jene heute durchaus nicht mehr so bestehende, aber auch, weil die historischen Dokumente nur weniges darüber aussagen, heute nicht gewürdigte geistige Kultur entstehen, die eigentlich nur derjenige bewundern kann, der sich so recht hineinzuversetzen vermag in jene ungeheuren geistigen Tiefblicke, welche einmal vor Jahrtausenden die asiatische Bevölkerung hat tun können.

Was historisch überliefert ist, was erkannt werden kann aus den historischen Urkunden, das gibt kein Bild von dem, was einstmals als eine Urweisheit der Menschen vorhanden war in diesem Asien. Was als chaldäische Sternenkunde, was als indische Brahmanenweisheit, was als ägyptische Weisheit heute ausgekramt wird durch diese oder jene Dokumente, durch diese oder jene Denkmäler, das ist alles schon ein Spätproduk~ Alle diese Dinge führen zurück auf eine wunderbare, großartige, gewaltige Einsicht in die geistige Welt, führen zurück auf einen großartigen, gewaltigen wissenschaftlichen Zusammenhang, den die Menschen durchschaut haben, zwischen der Erde und dem ganzen Kosmos, der ganzen Sternenwelt. Die Menschen in Europa sind heute gar nicht danach geartet, das auch nur nachträglich zu verstehen, was man in diesen alten Zeiten gewußt hat, würdigen das auch nicht, denn sie können gewissermaßen nichts damit anfangen. Sie haben keine Möglichkeit, sich nach diesen Dingen zu richten.

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Aber alles dasjenige, was so an einer wunderbaren Weisheit einstmals da drüben im Osten gelebt hat, es hat dadurch gelebt,daß diese Menschen das, was sie geistig empfingen, mit der reinen Seele aufnahmen, daß sich das Körperliche wenig daran beteiligte. Dann ist ja, wie Sie wissen - und Sie finden das Genauere darüber in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» -, aus all dem, was an so wunderbarer Weisheit der alte Orient besessen hatte, die Anschauung heraus- gekommen, die man über das Christentum gewonnen hat. Denn im wesentlichen ist ja das, was Anschauung ist über das Christentum, ein Verinächmis des Orients. Aber zum Teil ist die orientalische Urweisheit selbst auf dem Wege durch das Griechentum, zum Teil in der Verwandlung, welche sie durch das Mysterium von Golgatha durchgemacht hat, nach Europa gekommen.

Und jetzt beachten Sie dasjenige, was außerordentlich wichtig ist: Dasjenige, was im Seelischen ohne den Anteil körperlicher Organisation im Osten ausgebildet worden ist, das wandert über den Süden von Europa, über Afrika herein in das übrige Europa, trifft da auf jene Bevölkerung, die mit Ausnahme derjenigen, die wiederum zurückgezogen sind aus Asien, im wesentlichen die bei den Wanderungen von der Atlantis nach dem Osten zurückgebliebenen Menschen waren. Und die Frage muß unter uns entstehen: Welche besondere Konstitution hatten diese in Europa zurückgebliebenen Menschen dadurch, daß sie eben nicht mit hinübergezogen waren nach Asien, daß sie zurückgeblieben sind in Europa?

Da kommen wir auf etwas ungeheuer Bedeutungsvolles. Wir kommen darauf, einzusehen oder einsehen zu müssen, daß diese bei der Wanderung von der Atlantis nach dem Osten in Europa zurückgebliebene Bevölkerung dasjenige, was sie empfing an äußeren und inneren Erkenntnissen, was sie empfing an Einsichten über die geistige Welt und an Einsichten über die soziale und ökonomische und koinsnerzielle Ordnung der Welt, daß sie das empfing durch die Funktion der physischen Organisation. Auf dem Grunde von Europas Bevölkerung ruht im wesentlichen das, daß die hauptsächIichsten dieser Europäer das, was sie aufnahmen, vor allem durch das Werkzeug ihres Körpers aufnahmen. Die weiter nach Osten hiriübergewanderten Menschen, die waren so

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geartet, daß sie mehr mit der Seele aufnahmen; sie vernachlässigten, weil es ihnen gar nicht gegeben war, die körperliche Funktion auszubilden, alles das, was gerade von der Welt und von der menschlichen Ordnung begriffen werden soll durch das Körperliche. Die Europäer verwendeten zu dem, was sie als ihre Kultur begründen sollten, das physische Werkzeug ihres Gehirns, die physischen Werkzeuge der übrigen Körperlichkeit. Und so haben wir das merkwürdige Phänomen vor uns, daß dasjenige, was drüben in Asien auch als Christentum sich her- ausgebildet hat aus einer wunderbaren Urweisheit, nach Europa herüberwanderte und unter ganz andern Bedingungen aufgenommen wurde in Europa, als es in Asien ausgebildet wurde. In Asien wurde es nurgebildet vom Seelischen, in Europa wurde es aufgenommen vom Körperlichen. Warum konnte es da aufgenommen werden vom Körperlichen? Es konnte aufgenommen werden vom Körperlichen, weil tatsächlich die europäischen Körper so gebildet waren, daß sie richtige Werkzeuge des Geistigen werden konnten. Die Leiber, die Körper der Asiaten waren nicht so gebildet. Die Bevölkerung Europas war zurückgeblieben, um unter den klimatischen und sonstigen Kulturverhältnissen des alten Europa den Körper gewissermaßen empfänglich zu machen für die Aufnahme von Erkenntnissen, von Willensimpulsen und so weiter.

Im ganzen Welteiizusammenhang muß man über das eine diese, über das andere jene Ansicht haben; aber es steht auch das minder Gute durchaus an seiner berechtigten Stelle. Das können manche Menschen nicht begreifen. Wir versuchen auch, die Schädlichkeit des Materialismus nachzuweisen; aber wir müssen auf der andern Seite wiederum erkennen, daß der Materialismus bis ins 19. Jahrhundert kommen mußte. Nur muß er jetzt überwunden werden. Manche Menschen möchten es sich in solchen Fragen sehr bequem machen, sie sagen: Der menschliche Körper ist halt das Werkzeug, in dem die Seele wohnt; die Seele ist hiriimlisch, der Körper ist irdisch, halten wir uns an das Seelische. - Das ist eine bequeme Lebensauffassung. Aber das ist das Verdienst, das dem Materiallsmus zukommt, daß er die Menschen gelehrt hat, daß auch das Körperliche am Geistigen Anteil hat, daß schon unter gewissen Elementen des menschlichen Geschlechts der Körper organisiert war gerade

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zur Aufnahme des Geistigen. Und die hervorragendsten Menschen waren diejenigen, auf die das Christentum aufgetroffen ist. Eben in den ersten Zeiten, als sich das Christentum in Europa verbreitet hatte, da waren die Leiber dieser europäischen Menschen gute Empfangsinstru mentefür die Aufnahme des Christentums, da war gerade das physische Gehirn dadurch, daß es sich in einer gewissen Weise aus der geistigen Welt heraus gebildet hatte, ein gutes Empfangsorgan für das Christentum. Und während in Asien das Christentum hervorgetreten ist nach jahrhunderte-, jahrtausendelanger Entwickelung in einer Kultur, die nur für Seelen war, aber in Asien dieses Christentum auftraf auf eine dekadente, auf eine im Absterben begriffene Kultur, eine Seeleiikultur, die gut war für alte Zeiten, die nicht mehr gut war für die Zeit, in der das Christentum Platz griff, stieß in Europa dieses Christentum auf empfängliche Menschen, die durch ihre Leiber organisiert waren, in dieses Christentum hineinzuwachsen, ihre Leiber zu Empfangsinstrumenten des Christentums zu machen; denn in diesen Leibern war noch viel Geist, kosmischer Geist, Naturgeist. Das ist gerade das Bedeutsame der europäischen Urbevölkerung der nachatlantischen Zeit, daß in den Leibern Geist war und daß mit diesem in den Leibern befindlichen Geiste das Christentum aufgenommen worden ist. Aber dieser Geist verrauchte allmählich, dieser Geist hörte auf. Dieser Geist blieb nicht bei den europäischen Leibern. Und das ist gerade das Wesentlichste jenes Überganges, der stattgefunden hat in der Mitte des 15. Jahrhunderts der nachchristlichen Zeit, daß im wesentlichen da jener Naturgeist, der in den menschlichen europäischen Leibern war, anfing zu verrauchen, daß die Leiber allmählich unfähig wurden, aus sich das zu verstehen, was sie erst mit frischer Kraft, weil mit Leibeskraft, als Christentum aufgenommen hatten. Dadurch versank allmählich seit dem 15. Jahr- hundert das Verständnis für das Christentum. Es blieb nur die Tradition übrig.` Die Verhältnisse, die da zugrunde liegen, sie verkennt man eigentlich, in der gewöhrilichen äußeren Wissenschaft verkennt man sie vollständig. Man glaubt nämlich, Mensch ist Mensch, und man glaubt, man könne diesen Menschen studieren, wenn man die Leichriame in die Kliniken trägt und da anatomisiert. Da erfährt man das Alleiwenigste vom Menschen, denn die feinste Konstitution dieser Menschen ändert

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sich fast von Jahrhundert zu Jahrhundert. Die Menschheit eines Jahrhunderts ist im Grunde in bezug auf die feine Konstitution etwas ganz anderes als die Menschheit des vorigen Jahrhunderts. Weil das nicht im Groben auftritt und nicht mit groben wissenschaftlichen Mitteln zu konstatieren ist, deshalb wollen die Menschen nichts davon wissen. Aber dieser Mensch ist eine sehr feine Organisation, und dasjenige,was sich im Laufe der Zeit nacheinander entwickelt, das bleibt nebeneinander bestehen. Für die grobe Anatomie herrscht der Glaube, aber es ist nur ein Glaube: Wenn man einem westlichen Menschen das Blut abzapft und einem östlichen Menschen das Blut abzapft, zapft man halt Blut ab; Blut ist Blut. - Aber diese Anschauung, Blut ist Blut, ist ein völliger Unsinn vor einer wirklichen tieferen Menschheitserkenntnis. Ich kann über diese Sache nur schematisch sprechen und kann heute auch nur, ich möchte sagen, die Ergebnisse ausgedehnter Forschung angeben. Aber diese Ergebnisse sind außerordentlich wichtig. Sollte ich eigentlich schematisch etwas zeichnen - was selbstverständlich, wenn es nicht schematisch, sondern real gezeichnet würde, etwas anderes wäre -, so müßte ich es in der folgenden Weise zeichnen. Würde ich also das Blutgerinnsel im lebendigen menschlichen Leibe bei einem westlichen Menschen zeichnen, so würde ich es so zeichnen (siehe Zeichnung a). Sollte ich das Blutgerinnsel in der Ader bei einem russischen Menschen zeichnen, so würde ich es so

#Bild a S.186

Tafel 9

#Bild b S.186

zeichnen müssen (siehe Zeichnung b).

Wie sich die eine Linienform zu der andern Limenform verhält, so verhält sich der innere, auch materielle Charakter des Blutes bei der östlichen Bevölkerung zu dem Charakter des Blutes bei der westlichen Bevölkerung. Aber mit der Blutentwikkelung hängt dasjenige zusammen, was ich als körperliche Empfänglichkeit charakterisiert habe. Diese körperliche Empfänglichkeit, wie gesagt, ist verraucht, heute gibt wenigstens für die westliche europäische Bevölkerung und ihren amerikanischen Anhang das Körperliche nichts Geistiges mehr her. Dalier muß das G.eistige auf anderem Wege, auf dem Wege gesucht werden, den anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft angibt. Man kann sagen, grob gesprochen:

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Das aus der physisch-leiblichen Materialität hervorgegangene Geistige, welches im wesentlichen gedient hat, in den Jahrhunderten bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts hinein, Verständnis für das Christentum zu eröffnen, das ist vertrocknet. Man lebt heute gerade in der westlichen Kultur mit vertrockneten Leibern, und das, was sich geltend macht, ist eine bloße mechanistische Kultur, weil es aus den unlebendigen, vertrockneten Leibesorganisationen koinmt. Diese Veränderung ist also nicht bloß eine solche, wie sie die heute abstrakten Historiker zeichnen, sie ist eine solche, daß sie bis tief in das Leibeswesen des Menschen hineingeht.

Vor dem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, verschließen sich die meisten Menschen der Gegenwart. Aber so wie die Römer die Zwölftafelgeseue gelernt haben, so wie es später Usus war, das Einmaleins als etwas für den Menschen Notwendiges zu betrachten, so wird eine gar nicht ferne Zukunft, auf die wir hinarbeiten müssen, zur allgemeinen Bildung rechnen müssen, solche elementaren Begriffe über die Menschheitsentwickelung zu haben. Sonst wird nach je fünfzehn Jahren eine solche Katastrophe über die Erdenentwickelung der zivilisierten Menschheit kommen, wie wir sie in den letzten fünf bis sechs Jahren gehabt haben. Denn daß sich die Menschen verschlossen haben gegenüber dem, was hereinbrechen will als eine Neubildung in die zivilisierte Menschheit, das ist der wahre Grund, warum jene Konfusion herausgekoinmen ist, die in den letzten fünf bis sechs Jahren da war. Und wollen die Menschen weiter aus ihrem vertrockneten materialisierten Leibe heraus leben, so werden sie ganz von selber aus diesem vertrockneten, materialisierten Leibe heraus Eigenschaften aushecken, welche alle fünfzehn bis zwanzig Jahre zu einer solchen Verwirrung führen, wie die Verwirrung, die wir 1914 in Europa gehabt haben. Es gibt heute nur zweierlei: Entweder man bequemt sich dazu, dieses Eirifließen einer Neubildung in die Menschheit, damit auch das Einfließen eines neuen, durch die Geisteswissenschaft unterstützten Verständnisses des Christentums zuzulassen, oder damit zu rechnen, daß zerstörerische Elemente in einem furchtbaren Maße in das menschliche soziale Leben eintreten.

Unsere englischen Freunde werden jetzt einnial zurückgehen nach England - hoffentlich noch nicht so bald -, dann aber werden sie in

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England jenen Menschen treffen, den ich Ihnen einmal hier als Repräsentanten der gegenwärtigen Zeit in einer besonderen Art charakterisiert habe, weil er sein ganzes Leben hindurch, trotzdem er heute viel älter ist, nicht über die Entwickelungsstufe des Siebenundzwanzigjährigen hinausgekommen ist. Sie werden dort tonangebend, wahrscheinlich noch, Lloyd George treffen, jenen Menschen, der eben dadurch tonangebend werden konnte, daß er nur bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahre entwickelungsfähig blieb, dann ins Parlament gewählt wurde, selbstverständlich, und seither nicht mehr entwickelungsfähig ist, so daß er jetzt als alter Mann noch immer so denkt wie ein Siebenundzwanzigjälrriger, das heißt unreif. Sie werden aus einem solchen Kopfe besondere Ideen hervorgehend finden, zum Beispiel: Bis jetzt haben wir uns auf die Seite der russischen Gegenrevolution gestellt, sie ist unterlegen; es ist nicht weiter profitabel, sich auf die Seite der russischen Gegenrevolution zu stellen, also versuchen wir uns einzunchten mit den Bolschewisten, versuchen wir mit denen zu einem leidlichen Frieden zu kommen.

So denkt heute typisch ein Mensch, der aller Einsicht in die wirklichen Gesetze des Lebens ganz fernesteht, der keine Ahnung von dem hat, was in der Welt Wirklichkeit ist, und so denken andere sogenannte «Staatsmänner» - ich bemerke, daß ich «Staatsmänner» jetzt immer nur in Gänsefüßchen schreibe. Dabei darf man nicht vergessen, daß dieser «Staatsmann» immer noch turmhoch überragt den abstrakten Dilettanten Woodrow Wilson, von dem die ganze Welt in einem bestimmten Momente europäischer Entwickelung sich verführen ließ. Mit solchen Dingen war man ja insbesondere in gewissen Zeiten ein «Prediger in der Wüste». In den Zeiten, in denen die ganze Welt Woodrow Wilson an- gebetet hat, habe ich hier in der Schweiz immer wieder und wiederum genau dasselbe über Woodrow Wilson gesagt, was ich Ihnen heute sage. Jetzt fängt die Welt an, da es zu spät ist, ein wenig einzusehen, wie wirklichkeitsfremd das ist, was von Woodrow Wilson ausgeht. Und Leute, die mit ihm zusammengesessen haben bei der Versailler Konferenz, die waren erstaunt darüber, wie wenig dieser Mann selbst von dem allergeringsten Wirklichkeitsinstinkt aus Amerika nach Europa mitbrachte.

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Die Dinge, in denen man heute lebt, müssen von Welthorizonten aus betrachtet werden, wenn man auch im Kleinsten über die Dinge mit- sprechen will. Und man wird sie nicht betrachten können, wenn man es nicht zum Prinzip macht, daß eine gewisse Aufklärung über den Menschen ebenso in einer allernächsten Zukunft Allgemeinbildung werden muß, wie das Einnialeins in einer gewissen Zeit angefangen hat, Gegen- stand der Allgemeinbildung zu werden.

Ob soziale Forderungen auftreten oder nicht, darüber ist nicht zu diskutieren, ebensowenig wie darüber zä diskutieren ist, ob ein Erdbeben in irgendeiner Gegend eintreten wird oder nicht. Aber darüber ist zu diskutieren, wie man sich solchen Erscheinungen gegenüber verhält, Niemand wird eine entsprechende Stellung zu solchen Erscheinungen gewinnen können, der nicht in dem angedeuteten Sinne Menschen- wissen hat. Das ist etwas, womit man sich ganz tief durchdringen muß. Und ob das Leben der zivilisierten europäischen Welt wird weitergehen können oder nicht, das wird davon abhängen, ob es eine genügend große Anzahl von Menschen geben wird, welche durchschauen die Uumöglichkeit eines weiteren Weltregimentes, das besonders beeinflußt wird von solchen wirklichkeitsfremden Menschen, wie Lloyd George einer ist. Sie wissen alle, ich rede ja nicht von irgendeinem chauvinistischen Standpunkte, von irgendeiner bestimmten Seite her, sondern ich rede von einem rein sachlichen, aus der Beobachtung der objektiven Tatsachen fließenden Gesichtspunkt. Ich habe wahrhaftig niemals irgend etwas als Deutscher, als sogenannter Deutscher, gegen Woodrow Wilson oder Lloyd George gehabt. Verglichen mit andern Menschen heute, ist sogar Lloyd George ein «Prachtskerl». Aber er ist eben ein Siebenundzwanzigjälrrig-Bleibender als Mensch, der nicht imstande ist, dasjenige in sich aufzunehmen, was man erst aufnehmen kann, wenn die absteigende Entwickelung Platz greift, wenn man also über die Dreißigerjahre hinausgekommen ist.

Denn die vertroclineten europäischen Leiber, die nicht sich hinwenden wollen zur Aufnahme von etwas Geistigem, verlieren die Entwickelungsmöglichkeit in den Dreißigeijahren. Sie können dann Parlamentarier sein, sogar so unendlich versierte, so außerordentlich gute Parlamentarier wie Lloyd George, der ja bekanntlich, als man ihri zum Minister machte, ganz bewundernswürdige Reformen durchlührte.

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Nicht wahr, man macht das den Oppositionsmenschen gegenüber so: Man nimmt sie, damit sie draußen im Parlament nicht unbequem werden, ins Ministerium hinein. Im gegebenen Momente machte man in England auch Lloyd George zum Minister, zunächst aus dem Grunde, weil man ihn nicht zur Opposition haben wollte; aber zum Minister machte man ihn, indem man sagte: Man gibt ihm das Ressort, von dem er gar nichts versteht. Das ist ja die gewöhrtliche Art, gefährliche Parlamentarier zu behandeln. Und siehe da, als man Lloyd George das Ressort gegeben hatte, von dem er gar nichts verstand, da entwickelte er eine fieberhafte Tätigkeit, führte Reformen ein, die wirklich bewundernswert sind, und die andern standen da mit langen Nasen.

Mle diese Erscheinungen muß man heute beurteilen können vom Standpunkte der Gesetze der Menschheitsentwickelung. Es ist im allgemeinen nichts Angenehmes, die Menschheit nach ihren Eigentümlichkeiten zu beurteilen, und es liegt vor allen Dingen heute nicht in der Gewohnheit der Menschen, auf den andern Menschen einzugehen. Daher nimmt man die Menschen heute gern nach ihrer Abstempelung. Man hat nicht die Neigung, sich die UnbequemIichkeit zu machen, durch Begegnung mit einem Menschen zu erfahren, ob er Fähigkeiten hat, ob etwas in seiner Seele lebt, was Wirkungsmöglichkeiten hat. Man will sich auch gar nicht darauf einlassen, in dieser Weise durch den unmittelbaren aus dem Leben stammenden Eindruck den Menschen zu beurteilen. Man braucht andere Möglichkeiten. Es ist einer graduiert, er ist im Besitze eines Doktordiploms - also ist er ein weiser Mann. Da braucht man ihn nicht erst kennenzulernen, man braucht bloß zu wissen: Er hat einmal Prüfungen gemacht, oder er ist - ich weiß nicht, ob man nicht sagen soll: er war - Regierungsrat. Schön, da ist er etwas, was man zu respektieren hat, man braucht sich nicht weiter darum zu kümmern, ob er irgendwelche Wirkungsmöglichkeiten in seiner Seele hat. Eine Regierung hat einen zum Rat gemacht, mit t geschrieben, nicht zum fünften Rad am Wagen, mit weichem d geschrieben. Also man braucht von außen kommende Möglichkeiten. In der Zukunft wird man ein wirklich unmittelbares Verhältnis von Mensch zu Mensch brauchen. Niemand wird sich das erwerben, der nicht seine menschlichen Geisteskräfte in entsprechender Weise ausbildet. Diese entsprechende Weise ist die durch die Geistes-wissenschaft.

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Wenn Sie zum Beispiel meine «Geheimwissenschaft» lesen, so können Sie das lesen, was darinnensteht, Sie können das, was darinnensteht, dem Inhalte nach aufnehmen. Wenn Sie das dem Inhalte nach aufnehmen, so daß Sie es dann gedächtnismäßig ganz gut hersagen können, dann fände ich es fast nützlicher, Sie lesen ein Kochbuch, oder wenn Sie nicht gerade zufällig Frauen sind, irgendeine Abhandlung über Tarifverträge oder dergleichen; es wird nützlicher sein, als wenn Sie meine «Geheimwissenschaft» lesen. Diese «Geheimwissenschaft» hat nur dann bei der Lektüre ihre Bedeutung, wenn durch die besondere Formung der Gedanken - welche die Menschen so ärgert, daß sie es ablehnen, sich mit dem, was sie «schlecht stilisiert» nennen, zu befassen - diese Art zu schreiben und zu denken erzieherisch wirkt auf die ganze Seelenverfassung, wenn das Wie, nicht das Was die Seele gestaltet. Wer so die «Geheimwisseiischaft» - es kann natürlich auch ein anderes Buch sein - auf sich wirken läßt, dann ins Leben geht, der wird sehen, daß er tatsächlich sein innerliches Schauen verstärkt hat, sodaß ihm Menschenkenntnis daraus wird. Es wird etwas ganz anderes aus den Dingen als ein bloßes schulmäßiges In-sich-aufgenommen-Haben der Sache! Heute hat man, wenn man ein Buch gelesen hat, die Vorstellung, man habe das Nötige getan, wenn man den Inhalt in sich hat, das heißt, ihnso in sich hat, daß man eventuell ein Examen ablegen kann. So sind geisteswissenschaftliche Bücher niemals gemeint. Da ist das Wesentlichste nicht dann getan, wenn man den Inhalt an den Fingern herzählen kann, sondern da ist das Nötige erst getan, wenn die Dinge übergegangen sind in die ganze Seelenkonstitution, in die ganze Seelenverfassung, wenn man sich dadurch für das Leben geeignete Seelenhräfte herangebildet hat.

In den verschiedensten Formen habe ich das seit Jahrzehriten immer wieder und wiederum gesagt. Es wird aber deshalb doch über weite Kreise für die Hauptsache gehalten, daß man nun weiß: Der Mensch besteht aus dem und dem, es gibt wiederholte Erdeiileben und so weiter. - Das ist aber nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß durch diese ganze Art zu denken im Menschen etwas erfaßt wird, was durch nichts anderes im Menschen erfaßt werden kann. Und das, was so vom Menschen erfaßt wird, das muß da sein. Wird es nicht da sein, dann werden alle die gutmeinenden Leute, die zum Beispiel sagen: Ein

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Christentum muß es immer geben -, die werden nichts erreichen. Denn ebensowenig wie Sie aus einem nichtmagnetischen Stück Eisen Magnetismus herausgewinnen können, ebensowenig können Sie, wenn nichts anderes eintritt, aus dem, was aus den Europäern wird, ein Christentum herausschlagen. Das kann traditionell bleiben eine Zeitlang; aber die Leute werden aus Unwahrhaftigkeit die Tradition annehmen. Worum es sich handelt, ist, daß etwas in den Seelen ergriffen werden muß, was zu einem neuen Verständnis des Mysteriums von Golgatha führt, und damit zu einem neuen Verständnis des ganzen Christentums. Es hat im Altertum der vorchristlichen Zeit, wie ich heute auch schon erwähnt habe, eine ausgebreitete, großartige, bewundernswürdige Urweisheit gegeben, und wer die heidnische Weisheit bewundern will, der tut recht, und wer die heidnische Weisheit auch in den Zeiten bewundern will, in denen sie bereits ariklingt an das Christliche, der tut noch mehr recht. Die ersten christlichen Kirchenväter waren eigentlich gescheiter, viel gescheiter als ihre jetzigen Nachfolger. Ihre jetzigen Nachfolger verbieten das Lesen der anthroposophischen Schriften. Wie Sie wissen, ist es den Katholiken verboten durch die Verfügung der Kongregation des Heiligen Offiziums in Rom seit dem 18. Juli 1919. Die ersten christlichen Kirchenväter aber haben gesagt: Das, was man jetzt Christentum nennt, war immer da, nur in anderer Form, und Heraklit und Sokrates und Plato waren vor dem Mysterium von Golgatha in ihrer Art Christen. - Das ist natürlich für die heutigen Mitglieder der römischen Index-Kongregation eine außerordentlich ketzerische Bemerkung, trotzdem sie von echten Kirchenvätern herrührt, sehr ketzerisch! Und dennoch muß man sagen: Es entscheidet sich etwas. Diese Verfügung der römischen Index-Kongregation, das Lesen der anthroposophischen Bücher sei für die Katholiken zu verbieten, ist eigentlich die richtige Konsequenz der römisch-katholischen Entwickelung, der Entwickelung der römisch-katholischen Kirche, und man muß einsehen, daß eben eine neue Geistesströmung kommen muß, die das Christentum neu begreift.

Wie gesagt, die vorchristliche Weltanschauung, sie ist in einer gewissen Weise bewundernswürdig. Aber sie hat sich nicht erstreckt auf gewisse Dinge, welche irdischer Natur sind. Und da berühre ich etwas,

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was einzusehen für die Erdenentwickelung von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Mit Bezug auf alles dasjenige, was der Mensch als physischer Mensch an sich trägt, war eigentlich die menschliche Entwickelung gegeben. Etwa im 15. vorchristlichen Jahrtausend, noch in der alten Atlantis drüben, hat der Mensch bis zu einem gewissen fertigen Zustande in sich alle diejenigen Eigenschaften seiner physischen Konstitution ausgebildet, die dann mehr oder weniger langsam verhärtet sind. Aber in bezug auf die Hauptesentwickelung, auf die Erkenntnisentwickelung war das anders. Da blieb etwas zurück wie eine große Merischheitserscheinung, ein Wissen der Menschheit, vermittelt durch die Führer der Mysterien bis zum Ereignis von Golgatha. Was die alten heidnischen Weisen in sich hatten, das war gewissermaßen das Spiegelbild einer noch älteren Weisheit, jedoch einer solchen Weisheit, die noch geistig beobachten konnte; aber es war alles Spiegelbild. Da trat das Mysterium von Golgatha ein, das heißt nichts Geringeres als etwas Außerirdisches: das Christus-Wesen. Etwas, das aus Sphären, die durchaus außerirdisch sind, auf die Erde herabdrang, verband sich mit einem menschlichen physischen Leibe, dem Leibe des Jesus von Nazareth. Damit trat etwas ein in die irdische Menschlieitsentwickelung, was die ganze frühere Erdenentwickelung hindurch nicht eingetreten ist: daß etwas Kosmisches in die Menschheit hereingekommen ist. Die Menschen haben im wesentlichen mit ihrer physischen Konstitution seit dem 15. Jahrtausend bis zum Mysterium von Golgatha durch ihre seelische Kopfkonstitution von alter Erbschaft gelebt. Jetzt trat etwas ein, was in gewisser Beziehung den Himmel mit der Erde verband. Ein außerirdisches Wesen verband sich mit einem Menschenleibe.

Solch ein Mysterium zu verstehen war noch möglich den zurückgebliebensten Menschen, die ja in Europa sitzengeblieben waren, die noch im Leibe gewisse naturgeistige Eigenschaften hatten. Den fortgebildeten Asiaten war es nicht möglich, das zu begreifen. Es war gewissermaßen noch ein Gottesgeschenk für diese europäische Bevölkerung, Leiber zu haben, die für das Christentum durch die leibliche Konstitution empfänglich waren. Seit dem 15. Jahrhundert hörte das auf, und daher muß ein geistiges Wissen eintreten, um neuerdings das

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Mysterium von Golgatha zu begreifen. Ohne das Durchschauen dieser Entwickelungsvorgänge der Menschheit geht die menschliche Natur nicht weiter und müßte ihrem Untergang entgegengehen, denn es müßte das,was durch das Mysterium von Golgatha in die Erdenentwickelung hereingekommen ist, einfach verschwinden. Ohne daß wiederum geistig begriffen werde der Zusammenhang der Erde mit der außerirdischen Welt, kann das Mysterium von Golgatha nicht weiter- leben.

Da diese Tatsache besteht, wenden sich diejenigen, die heute im Traditionell-Alten verbleiben wollen - und Sie wissen, wie zahlreich sie sind, denn ich habe Ihnen immer von Zeit zu Zeit die häßlichen Angriffe, die von jener Seite kommen, mitgeteilt -, mit besonderer Giftigkeit gegen die Wahrheit, die aus der Geisteswissenschaft heraus verkündet wird, daß man es zu tun habe mit einem kosmischen Christus, mit einem Christus, der nicht bloß irdisch, sondern kosmisch ist. Es ist ja sonderbar, aber es ist trotzdem so, daß es zum Beispiel die römisch- katholische Klerisei und den Jesuitismus am allermeisten ärgert, daß Geisteswissenschaft von einem kosmischen Christus spricht. Es ist einmal so,daß eine Scheidung der Geister heute eintritt. Und demgegenüber sollte man nicht die Augen verschließen; demgegenüber sollte man gerade die Augen öffnen. Um alles dasjenige, was für die Menschheit einzurichten ist, miteinrichten zu können an dem kleinsten Platze, auf dem man steht, ist es heute notwendig, daß man Einsicht hat in die großen Verhältnisse des Lebens.

Sagen Sie wirklich nicht: Dazu ist nicht Zeit. - Es ist nämlich auch etwas, was man hören kann, daß gesagt wird: Der Mensch ist heute so beschäftigt, so unendlich beschäftigt, daß er ja nicht Zeit hat, aufzublicken zu diesen geistigen Wahrheiten. - Ich möchte Ihnen zusammen- rechnen, wieviel Schwatz abläuft bei «Five o`clock teas», bei «Jausen», bei «Nachmittagstees», bei «Frühschoppen», in gewissen Gegenden beim «Dämmerschoppen» - solche gibt es ja auch -, beim «Skatklopfen» und andern Dingen, und Sie würden sehen, daß eine erkleckliche Summe von Zeit herauskommt, in der die Menschen Gelegenheit haben würden, wenn sie wollten, sich bekanntzumachen mit dem, was der Menschheitsentwickelung ungeheuer notwendig ist für die Zukunft. Es liegt nicht

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an der Zeit, es liegt an der Lässigkeit der Menschen, an der Schläfrigkeit der Menschen. Die Encephalitis lethargica tritt jetzt äußerlich in einzelnen Fällen auf; die Seelen sind längst von ihr befallen im weiten Uinkreise der Menschheit. Die Schlalkraiikheit der Seelen ist eine sehr verbreitete Epidemie. Denn dasjenige, um was es sich zuletzt handelt, ist, den Willen zu haben, seine geistigen Kräfte in Bewegung zu setzen. Wenn man heute an der Universität studiert - mit geringen Ausnahmen> die an den Fingern herzuzählen sind -, braucht man sein Denken eigentlich wirklich nicht anzustrengen. Es wird einem eine gewisse Summe von zum großen Teile Experimentalergebnissen vermittelt, man kann das aufnehmen. Die Denkkraft braucht man dabei nicht in Bewegung zu setzen. An die Stelle dieser Bildung muß aber treten, daß die Denhkraft wiederum beweglich wird, daß die ganzen Seeleiikräfte beweglich werden, daß Emsigkeit des inneren Seeleidebens an die Stelle von Lässigkeit und Schläfrigkeit trete. Man kann sehr tätig sein im äußeren Leben und ungeheuer schläfrig sein in seinem Seelenieben. Aber das muß in der Menschheitsentwickelung aufhören. Daß es aufhört, das ist eine wirklich tief, tiefgehende Notwendigkeit. Heute sagen Leute: Zunächst muß die Menschheit Brot haben. - Gewiß muß sie Brot haben. Aber wenn nicht daran gedacht wird, die Eirrrichtung aus dem Geistigen heraus so zu treffen, daß dieses Brot auch morgen erzeugt werden kann, dann wird man eben nur dasjenige essen, was die Erde noch vorher hergibt, und man wird morgen und übermorgen kein Brot haben. Daß man heute noch Brot hat, das geht noch eine Weile mit den alten Gedanken. Aber man wird übermorgen - bildlich gesprochen selbstverständlich - kein Brot haben, wenn man nicht die Institutionen der Erde aus einer neuen Geistigkeit heraus treiben wird.

Denken Sie über diese Sache nach, denn es handelt sich um ernste Angelegenheiten.

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DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 13. Februar 1920

Schon öfters habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie eine in der Menschheit früher vorhandene Urweisheit gerade dadurch zu charaktensieren ist, daß die Menschen sich bewußt waren durch diese Urweisheit, Bürger des Weltenalls, nicht bloß der Erde zu sein. Werfen Sie einmal einen seelischen Blick über dasjenige, was heute im Bewußtsein der denkenden Menschheit vorhanden ist und was vorhanden ist im Bewußtsein deijenigen, die aus gewissen wissenschaftlichen Untergründen heraus über die Stellung des Menschen zur Welt nachdenken. Es ist beides eigentlich gleich. Denn gerade so, wie die Menschen in irdischen Urzeiten in ihrer breiten Masse dasjenige gedacht und empfunden haben, was in den Mysterien gelehrt worden ist, in den Mysterien, die die Mittelpunkte der umliegenden Kultur und Zivilisation waren, so nehmen heute die Menschen in weiten Kreisen das auf, was in den profanen Mysterien der Gegenwart, auf den Universitäten, auf den Hochschulen gelehrt und geforscht wird. Wie die Mysterien sich in Urzeiten verhielten zu dem, was die breiten Kreise der Bevölkerung glaubten, so verhalten sich zum heutigen großen Publikum die Hochschulen. Was die alten Lehrer in den Mysterien gedacht haben über das Verhältnis des Menschen zur Sonne, über das Verhältnis des Menschen zum Tierkreis, das glaubte selbstverständlich die große Masse. Was heute die Professoren der Universitäten, der Hochschulen über das Verhältnis des Menschen zur Sonne, über das Verhältnis des Menschen zum Monde sagen und auch nicht sagen, das glaubt die große Masse der Menschen. Daß die gesamte Weisheit über den Menschen dadurch erschöpft ist, daß man hinweist darauf, daß der Mensch sich physisch allmählich entwickelt habe aus den tierischen Vorfahren heraus, so etwas ist eine einseitige, eine sehr, sehr einseitige Wahrheit; sie erschöpft nicht die wirklichen Tatbestände. Aber die Menschen der neueren Zeit verhalten sich zu ihren Eingeweihten, zu den Universitätsprofessoren, wie sich die alten Menschen zu ihren Eingeweihten in den Mysterien verhalten haben. Psychologisch ist eigentlich in diesen beiden Verhältnissen kein

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besonderer Unterschied. Nur daß die Menschen der Vorzeit gewußt haben: Alles dasjenige, was im Menschen ist, das hängt nicht nur zusammen mit dem, was auf der Erde sich entwickelt, sondern das hängt zusammen mit dem, was das Auge erschaut bis in den Sternenraum hinein. Dasjenige, was im Menschen, auch physisch, vorgeht, sind Vorgange, die zusammenhängen mit dem Geschehen der Sonne, mit dem Geschehen der andern, zum Sonnensystem gehörigen Planeten.

Wenn Sie meine «Geheimwissenschaft im Umriß» lesen, so werden Sie sehen, daß durch jene anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, der diese «Geheimwissenschaft» dienen will, dieses Bewußtsein der Menschen wiederhergestellt werden soll, daß der Mensch nicht nur Beziehung habe zur Erde, sondern Beziehung habe zu außerirdischen Welten. Es wird da hingewiesen darauf; daß unsere Erde selber nur eine zeitliche Verkörperung ist desjenigen, was von ihrem Wesen vorher da war als Mond, als Sonne, als Saturn, und es wird darauf hingewiesen, daß der Mensch sich weiterentwickelt und daß diese weiteren Entwickelungsformen des Menschenwesens zusammenhängen werden mit zu- künftigen Entwickelungsfoimen des Erdenplaneten, mit Jupiter, Venus, Vulkan. Da wird also dasjenige, was zum Menschen gehört, herausgehoben aus dem bloß Irdischen. Der Blick des Menschen wird wiederum hingelenkt von der Erde zum Kosmos. Das ist eine derjenigen Tatsachen, die der Menschheit, wenn sie nicht verkommen soll auf der Erde, wiederum bewußt werden müssen: daß der Mensch gehört zum Kosmos, daß der Mensch zusammeiihängt seinem inneren Wesen nach mit außerirdischen Sphären.

Warum muß das gewußt werden? Gewußt muß es werden, weil Selbsterkenntnis notwendig ist; nicht jene Selbsterkenntnis, die im Bebrüten des eigenen lieben Ich besteht, sondern die Erkenntnis des Menschen als eines universellen Wesens. Diese Selbsterkenntnis muß sich ausbreiten, sie muß allgemein und immer allgemeiner werden. Denn ohne daß der Mensch sich selbst erfaßt, wird für ihn kein Halt sein, vor allen Dingen kein seelischer Halt in der Zukunft der Menschheitsentwickelung. Aber es kann sich nicht darum handeln, bloß das untergeordnete chaotische Menschenwesen ein wenig zu bebrüten, sondern es muß sich darum handeln, dieses innere Menschenwesen konkret in

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seiner Gliederung zu überschauen, wie man die äußere Natur nicht bloß dadurch charakterisiert, daß man sagt: Natur, Natur, Natur! -, sondern dadurch, daß man darauf hinweist: Da sind Pflanzen, da sind Tiere -, und wiederum in den einzelnen Pflanzen die einzelnen Gattungen und Sorten unterscheidet. So muß man innerhalb des Seelenwesens des Menschen unterscheiden vor allen Dingen die einzelnen Metamoiphosen dieses Seelenlebens. Nun wollen wir einmal diese einzelnen Metainorphosen des Seelenlebens, ich möchte sagen, die eine Seite davon charakterisieren. Da haben wir zunächst diejenige Metamorphose unseres Seelenlebens, welche am allermeisten zusammeiihängt mit unserer Leiblichkeit, welche am meisten abhängig ist von unserer Leiblichkeit. Es ist jene Seelenfähigkeit, die wir bezeichnen mit dem Ausdrucke Gedächtnis oder Erinnerungsfähigkeit. Durch das Gedächtnis sind wir in der Lage, zu erneuern die Erlebnisse unseres individuellen Einzellebens. Durch das Gedächtnis sind wir imstande, einen Faden zu ziehen von einem bestimmten Momente, der zwei, drei, vier Jahre oder auch länger nach der Geburt liegt, bis zu den Erscheinungen des jeweiligen gegenwärtigen Augenblicks, und der Mensch würde innerlich krank sein, wenn ihm dieser Faden zerrisse. Das habe ich ja schon öfters ausgeführt. Wenn wir zurückschauen müßten auf einen Teil unseres Lebenslaufes so, daß uns die Erinnerung an gewisse Vorgänge verlorengehen würde, so würde der Zusammenhang unserer Erlebnisse nicht da sein. Und das würde bedeuten, daß wir in unserem Selbstempfinden erkrankt wären. Aber auf der andern Seite wird der Mensch wissen können wenigstens, wie stark das Gedächtnis zusanimenhängt mit seiner Leibeskonstitution. Man braucht sich nur an die Tatsache zu erinnern, die ich auch öfters erwähnt habe und die eigentlich ganz weithin bekannt ist, daß, wenn wir an Schlaflosigkeit leiden oder wenn wir durch äußere Ereignisse verhindert sind, ordentlich zu schlafen, unser Gedächtnis darunter leidet. Das schon und vieles andere, was in Kraiikheitsfällen eintreten kann, beweist, wie das Gedächtnis von der Leibeskonstitution abhängig ist.

Weniger abhängig von dieser Leibeskonstitution, also mehr selbständig gegenüber der Leibeskonstitution ist dann dasjenige, was wir unsere Intelligenz nennen. Aber immer noch sehr stark abhängig von

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der Leibeskoiistitution ist diese Intelligenz. Das Gedächtnis bezieht sich ja im Grunde nur auf das Individuelle. Die Intelligenz haben wir mit andern Menschen, wenigstens im hohen Grade, gemeinsam. Gewiß ist der eine intelligenter, der andere weniger intelligent; nach seiner eigenen Ansicht ist gewöhnlich ein jeder der Intelligenteste; aber im allgemeinen kann man doch sagen: Es liegt eben die Tatsache vor, daß der eine mehr, der andere weniger intelligent ist. Aber es breitet sich aUs eine gewisse Uniformität über die menschliche Intelligenz. Während jeder seinen eigenen Erinnerungsinhalt hat, in den ihm kein anderer hineinschauen kann, während also dieser Erinnerungsiniialt sehr individuell ist, ist der Intelligenzinhalt etwas mehr der Menschheit Gemeinsames. Er ist eben schon weniger an die Leibeskonstitution des Menschen gebunden. Die Leibeskonstitution des Menschen verhält sich eigentlich nur wie ein Spiegel zu dem, was als Intelligenzvorgänge sich abwickelt. Wer behauptet, daß die Vorgänge im menschlichen Nervensystem, im Gehirn, die Gedanken bewirken, der sagt in Wahrheit nichts Gescheiteres als derjenige, der bemerkt, vor einem Spiegel stehend, in dem Spiegel drinnen Fräulein Scholl, Fräulein Laval, Herrn Dr. Grosheintz und sagen würde: Der Spiegel, der hat Fräulein Scholl, Fräulein Laval, Herrn Dr. Grosheintz hervorgebracht. - Geradeso wie der Spiegel sich verhält zu den Bildern der drei Genannten und wie die drei Genannten auch außerhalb des Spiegels sind und eigentlich gar nichts anderes damit zu tun haben, als daß sie sich spiegeln lassen durch den Spiegel, so hat die Intelligenz eben nur insofern zu tun mit dem Gehirn, als sie für unser Bewußtsein durch das Gehirn gespiegelt wird; aber die Vorgänge des intelligenten Wesens selbst sind außerhalb des Gehirns. Wir würden nichts wissen von den Vorgängen der Sinne, wenn wir kein Gehirn hätten. Es würden die Vorgänge der Intelligenz sich nicht in unserem Gehirn abspiegeln. Aber diese intelligenten Vorgänge selber sind ein Wesenhaftes außerhalb des Gehirns, das nur gespiegelt wird durch das Gehirn.

Und dann kommen wir zur dritten Fähigkeit des Menschen, die wenigstens zum großen Teil am allerunabhängigsten ist von unserer Leibeskonstitution. Von dieser glauben es aber die Menschen am allerwenigsten, denn sie halten sie am allerabhängigsten von unserer Leibeskonstitution.

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Das ist die Sinnestätigkeit. Nehmen wir das Auge. Das Auge selbst als solches hat nichts zu tun mit den Vorgängen, die die Sehvorgänge sind. Viel weniger sind die Sehvorgänge an das Werkzeug des Auges gebunden als die intelligenten Vorgänge an das Werkzeug des Gehirns. Das, was das Auge zu tun hat mit dem Sehen, das ist nämlich etwas ganz anderes. Die Vorgänge, die in unserem Bewußtsein auftreten als Inhalt beim Sehen, diese Vorgänge haben mit dem Auge nichts zu tun. Was im Auge vorgeht, das bewirkt lediglich, daß wir mit unserem Bewußtsein> mit unserem Ich bei den Sehvorgängen dabei sind. Bitte, beachten Sie wohl diesen fundamentalen, aber nicht leicht zu fassenden Unterschied.

Nehmen Sie zum Beispiel einen Menschen, der beide Augen durch irgendeine Krankheit verloren hat. Dadurch hat er nicht eingebüßt den Sehvorgang als solchen, sondern er hat eingebüßt die Wahrnehmung desjenigen, was der Sehvorgang ist, durch sein Ich. Sein Ich weiß nichts davon. Das Ich weiß nichts von dem, was der Sehvorgang ist. Es ist einfach das Ich ausgeschaltet vom Sehvorgang. Was da geschieht, kann man etwa mit dem Folgenden vergleichen.

#Bild S.200

Tafel 10

Nehmen Sie an, Sie haben drei Telegrafenstationen, A, B, C; auf jeder Telegrafenstation haben Sie einen Telegrafisten aufgestellt. Wenn nun der Mann in A nach C telegrafiert, so kann der in C ablesen, was da von A nach C hin telegrafiert wird. Es ist gar keine Rede, daß der Morseapparat in A den Inhalt des Telegraimiis hervorbringt. Er ist nur der Vermittler. Ebensogut kann der Morsetelegraf in C nicht lesen, aber er vermittelt. Wenn aber eingeschaltet ist in die Bahn A-C der Apparat B, dann kann der Mann, der B bedient, sich dazusetzen und kann mlthören oder mltlesen; er braucht ja nur den Streifen laufen zu lassen, so kann er mltlesen. Es ist B dann eingeschaltet in den Gang des Stromes,der den Telegrafehinhalt vermittelt. Aber der Inhalt, der da von A nach C geht, der hat gar nichts zu tun mit den Vorgängen, die sich im Morsetelegrafen bei B abspielen. Sie werden nur wiederum dadurch, daß der Apparat eingeschaltet ist, wahrgenommen.

Natürlich, wenn der Apparat nicht eingeschaltet ist, kann man die Vorgänge nicht wahrnehmen. So ist es mit dem menschlichen Auge. Dasjenige, was Vorgänge im Auge sind, das hat an innerer Wahrheit gar

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nichts mit dem Sehen zu tun. Das Auge ist nur eingeschaltet in die Vorgänge. Und weil das Auge eingeschaltet ist in die Vorgänge, so kann das Ich zusehen bei den Vorgängen des Sehens. Aber das Auge ist gar nicht dasjenige, was eigentlich den Inhalt der Sehvorgänge vermittelt oder bewirkt oder irgendwie etwas macht damit. Es ist nur der Auffangapparat für das Ich. Man könnte paradox sagen, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzte, daf~ die heute mit einem etwas dicken Gehirn versehene Menschheit einen paradox fände: Unser Sinnesorgan des Auges hat mit dem Sehen gar nichts zu tun, aber alles damit zu tun, daß unser Ich von dem Sehen etwas weiß. - Sinnesorgane, wie wir sie heute haben, also die höheren Sinnesorgane; sind nicht zum Sehen da, sondern sie sind dazu da, daß das Ich vom Sehen wissen kann. Ich möchte sogar diesen Satz auf die Tafel schreiben: Höhere Sinnesorgane sind nicht dazu da, die T.Sinnesvorgaönge zu vermitteln, sondern dazu, daft ein Ich von den Sinn esvorgaöngen wezß.

#Bild a S.201

Tafel 11

Da haben wir die drei sogenannten oberen Seelentätigkeiten: Gedächtnis, Intelligenz, Sinneswahrnehmung-Sinnestätigkeit. Das Ich ist in sie eingeschaltet, ist am stärksten mit seinem Leiblichen eingeschaltet in das Gedächtnis, schwächer schon bei der Intelligenz, am allerschwächsten bei der Sinnestätigkeit.

#Bild b S.201

Tafel

Was ich Ihnen jetzt geschildert habe, kommt von folgendem. Das Gedächtnis, das war nicht immer so im enschen, wie es heute ist. Das T hat sich entwickelt. Und was zugrunde gelegen hat der Entwickelung des Gedächtnisses, das ar eine hauptsäcHiche Tätigkeit des Menschen während der letzten, unserer Erde vorangehenden Erdenverkörperung, er alten Mondenzeit. Damals war das Gedächtnis eine Art unbewußter, traurnhafter Imagination. Traurnhafte Imagination war das Gedächtnis. Dadurch, daß unsere Leibesorganisation auf der Erde so geworden ist, wie sie eben geworden ist, ist die lebendige traumhafte lmagination, von der das Seelenwesen des Menschen während der alten Mondeiizeit ganz erfüllt war, geworden zu dem, was jetzt unser Gedächtnis ist.

#Bild c S.201

Tafel

Unsere Intelligenz war während der alten Sonnenzeit, als wir noch gar keine solche Leiblichkeit hatten wie jetzt, als wir noch jene Wesen waren, die ich in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben habe, schlafende

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Inspiration. Diese schlafende Inspiration hat sich dann weiter entwickelt und ist jetzt unsere Intelligenz. Die Sinnestätigkeit aber war während des alten Saturns ganz dumpfe Intuition. Wiederum können Sie die genauere Beschreibung in meiner «Geheimwissenschaft» finden. Und diese dumpfe Intuition hat sich heraufentwickelt zu unserer heutigen Sinnestätigkeit.

Mond Sonnenzeit Saturn

Sinnestätigkeit Dumpfe

Intelligenz Schlafende Intuition

Gedächtnis Trauinhafte Inspiration

Imagination

#Bild S.202

Tafel 11

Nun könnte man fragen: Warum kommen denn die Menschen so schwer auf solche außerordentlich wichtige Wahrheiten? - und wenn sie ihnen jemand vermittelt: Warum wehren sie sich denn so dagegen? - Ja, sehen Sie, dazu gibt es in der Natur der Dinge selber Gründe. Wir haben eine dumpfe Intuition gehabt während der alten Saturnzeit. Die hat sich allmählich immer weiter und weiter entwickelt und ist zu unserer Sinnestätigkeit geworden. Aber eigentlich können wir heute nur bei einer einzigen Sinnestätigkeit nachweisen, daß sie sich verhältnismäßig am vollkommensten aus der Anlage der alten Saturn-Sinnestätigkeit heraus entwickelt hat, das ist das Gehör. Das Gehör hat am allerdeutlichsten seine Anlage gehabt in der alten Saturnsphäre. Das Sehen ist schon etwas später entstanden - Sie können über diese Dinge auch in meiner «Geheimwissenschaft» nachlesen -, zum hauptsächlichsten Teile während der Sonnenzeit. Aber daraus sehen Sie schon, daß, während die erste Anlage auf der alten Saturnzeit in Form einer dumpfen Intuition gelegt worden ist, kommen später immer neue Sinnesanlagen dazu. Auf der Sonne kamen neue Sinnesanlagen dazu, die heute noch nicht so weit sind wie die vom Saturn her, auf dem Monde kamen wiederum neue Sinnesanlagen dazu und auf der Erde selbst wiederum. Auf der Erde kam dazu der Tastsinn, eigentlich erst der unvollkommenste der Sinne. Den Tastsinn, wenn wir ihn rein erkennen würden, würden wir heute noch beschreiben als eine dumpfe Intuition in der Leiblichkeit, eine niedrige, dumpfe Intuition.

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Ahnlich ist es mit dem Geruchssinn. Da tritt etwas außerordentlich Eigentürnliches auf. Denjenigen von Ihnen, die so etwas tun mögen, würde ich empfehlen: Nehmen Sie einmal Psychologien oder Physiologien in die Hand, aber namentlich Psychologien, Seelenwissenschaften, wie sie heute geschrieben werden; da wird überall über die Sinnestätigkeit geschrieben. Was da über die Sinnestätigkeit geschrieben wird - für den Unbefangenen paßt es bloß auf den Tastsinn. Sie erinnern sich viel- leicht an dasjenige, was ich in meiner «Theosophie» über die Verwandtschaft der höheren Sinne mit dem Tastsinn gesagt habe, was auch schon Goethe bemerkt hat. Unsere gelehrten Herren wollen die Sinne beschreiben, aber sie beschreiben nur das von den Sinnen, was unmittelbar auf der Erde entstanden ist, was auf der Erde seine erste Anlage erhalten hat. Das paßt nun zum Beispiel für das Sehen so wie - hier kann man fast wörtlich sagen - «die Faust auf das Auge», wenn Sie drauf- schlagen. Denn, was da beschrieben wird in den Psychologien, das ist nicht das Sehen, sondern das, was da beschrieben wird, würde entstehen, wenn Sie sich mit der Faust ins Auge hauen; daher auch die nette Lehre, die da aufgetreten ist von den sogenannten spezifischen Sinnesenergien, die beim Auge nicht vom Sehen ausgeht, sondern davon, daß, wenn man einen Schlag dem Auge versetzt, man da allerlei Funken sieht. Diese gelehrten Herren beschreiben wirklich etwas, was wie die Faust aufs Auge wirkt, ganz wörtlich. Und sie wollen dadurch das Sehen verstehen.

Man versteht die Sinnestätigkeit nur, wenn man sie im Zusammenhange betrachtet mit dem, was jetzt gar nicht mehr da ist: Saturnentwickelung> Sonnenentwickelung, Mondenentwickelung. Man versteht die Intelligenz des Menschen nur, wenn man sie im Zusammen- 'lange betrachtet mit dem, was jetzt gar nicht mehr da ist: Sonnenentwicke1ung, Mondenentwickelung. Man versteht das Gedächtnis nur, wenn man es betrachtet im Zusammenhange mit dem, was jetzt auch nicht mehr da ist: die alte Mondenentwickelung. Und von der Erde aus versteht man bloß die Aneignung von Sinnestätigkeit, von Intelligenz, von Gedächtnis durch das Ich, denn das Ich ist während der Erdenzeit erst dem Menschen einverleibt worden. Und die Organe, die dem Menschen angebildet worden sind während der Erdenzeit, sind gar nicht dazu da, seine höheren Seelenfähigkeiten zu vermitteln, sondern

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zu vermitteln, daß diese höheren Seelenfähigkeiten in einem Ich sich offenbaren. Wir haben AUgen für ein Ich, Ohren für ein Ich, eine Nase für ein Ich, nicht eine Nase zum Riechen, was noch am allerrichtigsten wäre, weil sie während der Erdenzeit gebildet worden ist; aber es ist auch nicht mehr ganz richtig, da es sich ändern wird während der Erden- zeit. Wir haben aber nicht Augen zum Sehen, Ohren zum Hören, wir haben Ohren, damit ein Ich von dem, was im Ohr vorgeht, etwas wissen kann, wie hier ein Morsetelegraf eingeschaltet ist, damit irgend jemand, nicht der Morsetelegraf selber, etwas wissen kann von dem, was zwischen A und C verhandelt wird. Indem heute noch gesagt wird, wir haben Augen zum Sehen, Ohren zum Hören, und indem alles eingekleidet wird in diese Art der Ausdrucksweise, reden wir etwas, was gar keine Wirklichkeit, gar keine Realität hat. Wir reden fortwährend in Illusionen, wir reden in Unwahrheiten. Wir wissen nicht, wozu wir eigentlich unsere ganze Leibesorganisation haben. Wir haben sie nicht zur Vermittlung der höheren Seelentätigkeiten, sondern wir haben sie, damit das Ich von diesen höheren Seelentätigkeiten etwas erfährt. Unser ganzer leiblicher Mensch ist ein Abbild des Ich. Und wir sind so konstituiert, wie wir konstituiert sind, weil wir ein Ich sind. In unserer äußeren Gestalt sollen wir das äußere Bild des Ich gewahr werden. Denn unseren Leib, wie wir ihn jetzt an uns tragen, haben wir erst durch die Erde bekommen. Und es ist unturilich, daß man dasjenige, was uns nicht die Erde gegeben hat, ableitet von den Geschehnissen der Erde, daß man die Ursache dazu in den Geschehnissen der Erde sucht.

#Bild a S.204

Tafel 10

So wie wir nun haben hinweisen können darauf, daß für unsere Gedächtnistätigkeit die alte Mondenentwickelung das Maßgebende ist, weil darinnen die Anlagen sich ausgebildet haben, wie wir haben hinweisen können darauf, daß für unsere Intelligenz die alte Sonnenentwickelung das Maßgebende ist, weil da die ersten Anlagen sich ausgebildet haben und so weiter bis zur Saturntätigkeit, so müssen wir auch hinweisen darauf, daß diese höheren Seelenfähigkeiten etwas zu tun haben heute mit den Weseiiheiten der höheren Hierarchien, und zwar so, daß unsere Gedächtnistätigkeit etwas zu tun hat mit der Hierarchie der Angeloi, unsere Intelligenz mit den Archangeloi, unsere Sinnestätigkeit mit den Archai.

#Bild b S.204

Tafel 11

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Mond Sonnenzeit Saturn

Sinnestätigkeit Dumpfe

Intuition

Intelligenz Schlafende Archai

Gedächtnis Traumhafte Inspiration

Imagination Archangeloi

Angeloi

#Bild S.205

Tafel 11

Und damit komme ich auf ein bedeutsames Kapitel geistiger Erkenntnis. Nehmen Sie an, Sie reflektieren in menschlicher Selbsterkenntnis auf das Gedächtnis, auf die Erinnerungsfähi~keit. Sie sagen: Ich wende mein inneres Organ, mein Seelenorgan, auf die Erinnerungsfähigkeit. - Aber auf das, auf was Sie da hinschauen, müssen Sie, wenn Sie mit vollem Bewußtsein hinschauen, so hinschauen, daß Sie sich sagen: In dieser ganzen Tänö~keit, in diesem Vorgang des Erinnerns webt und lebt der Angelos drinnen. - Versuchen Sie jetzt in diesem Momente einmal, sich an etwas zu ennnern, was Sie gestern erlebt haben, an irgendein Ereignis. Da haben Sie einen inneren Seelenvorgang sich abspielen lassen. In dem, was sich da abspielt, und indem ein gestriger Gedanke in Ihnen auftaucht, ein gestriges Erlebnis sich Ihnen neu offenbart in der Erinnerung, darinnen ist ein Engel tätig. Und wenn Sie intelligent nachdenken - allerdings, es muß intelligent sein, das heißt mit innerer Aktivitat, nicht ein bloßes Hinbrüten, nicht das, was die meisten Menschen intelligentes Denken nennen, das ist nämlich nur das Kochen der Erinnerungen, da lassen die Menschen aus ihrem Leibe heraus die Erinnerun~n kochen, das Denken beginnt erst, wenn man die Gedanken aktiv innerlich auffaßt -, wenn man also eine innere Aktivität entwickelt, da ist ein Erzengel dabei. Und wenn Sie gar herumhören, herumschauen, dann müssen Sie sagen: In meinen Ohren, in meinen Augen, da sind die Thronsessel der Archai, der Zeitgeister. - Wenn Sie sich fragen: Wo sind die Zeitgeister, die Archai, welche die aufeinanderiolgenden Weltenalter der Erde regieren? - dann sollen Sie sie nicht suchen in ganz unbekannten Gegenden, Sie sollen sie suchen in den Sinnesorganen der Menschen. Da sitzen sie drinnen. Eine schon in bezug auf die Seelenfähigkeiten dekadente Zeit suchte ja die Götter da oben über dem Blauen, das gar

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nicht vorhanden ist, auch wohl die Zeitgeister da über dem Blau, das gar nicht vorhanden ist. Wenn der Mensch frägt: Wo sind denn die Zeitgeister? - sie sitzen in seinen Augen, in seinen Ohren, dort haben sie ihre Thronsessel.

Das ist von einer andern Seite beleuchtet dasjenige, was ich Ihnen einmal klani~achte, indem ich Sie darauf hinwies, daß im Menschen selbst die Ortschaften sind, von denen aus die Ereignisse der Natur beherrscht werden. Wenn Sie in gewissen Geheimgesellschaften die Formeln sich sagen lassen und diese in der richtigen Weise deuten, dann werden Sie finden, daß diese aus sehr alten Zeiten überlieferten Formeln hlnweisen auf solche Wahrheiten, wie ich sie jetzt vor Ihnen entwickelt habe; daß der Mensch der Tempel ist für Götter, die über ihm stehen, das heißt für die Wesen der höheren Hierarchien. Er ist es im alleiwörtlichsten Sinne. Denn wenn man frägt: Wo halten sich die Angeloi, Archangeloi, Archai auf? - so muß ich sagen: In den Organen des menschlichen Gedächtnisses, der menschlichen Intelligenz und der menschlichen Sinnestätigkeit. - Der Mensch ist, wenn man in einer wirklichen Sprache redet, muß man das sagen, wirklich Geist-erfüllt, das heißt, mit Geistern angefüllt. Die Kirche wollte das nicht zum Bewußtsein der Menschen kommen lassen, daher hat sie 869 auf dem achten ökumenischen Konzil verboten, etwas zu wissen oder etwas zu glauben in bezug auf das Geistige, sie hat das Dogma aufgestellt, der Mensch bestehe nur aus Leib und Seele. - Dieser Mensch ist ein sehr, sehr kompliziertes Wesen> und wenn man, sagen wir, zum Beispiel auf einen fernen Stern sich stellen würde und von dort aus als von einem andern Gesichtspunkte aus die Vorgänge der Erde beobachten würde, würde das Mineralreich sofort verschwinden, das würde nur als Lichtglanz nach außen scheinen. Vom Pflanzenreich würde auch wenig wahrgenommen werden, vom Tierreich auch nicht sehr viel. Vom Menschen würden nicht die einzelnen Menschen von außen wahrgenommen werden, sondern da würden die Thronsessel im Weltenraume da sein und eingenommen von Angeloi, Archangeloi, Archai. Und solch ein Wesen, das dazu die nötige Anschauungsfähigkeit hat von einem fernen Stern, würde sagen: Die Erde ist ein Körper im Weltenraum, welcher der Wohnplatz ist von Archai, Archangeloi und Angeloi. - In der Sprache der Götter wäre das

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gesprochen, daß die Erde der Wohnplatz ist der Zeitgeister, Erzengel und Engel. In der alltäglichen Sprache der Menschen heißt das: Der Mensch hat Sinnesorgane, Intelligenzwerkzeuge und Gedächtniskonstitution. Aber die Menschheit ist dazu berufen, den Menschen wirklich kennenzulernen, die reale Beziehung dieses Menschen zu der geistigen Welt aufzusuchen.

Der Pendelausschlag der Zivilisation war bisher anders. Man hat untersucht, aus welchen chemischen Stoffen die Nahungsmittel bestehen, um dadurch zu wissen, was der Mensch an Nahrungsmitteln aufnimmt. Leiblichkeit gleich Materie der Nahrungsmittel und so wei- T.ter, diese Beziehungen hat man aufgesucht. Man hat gesagt: Was da draußen in den verschiedenen Pflanzen oder in den verschiedenen Tieren Ist, das wandert in den Menschen ein; bald ist es draußen im Kohl, bald im Ochsen tätig, bald ist es drinnen im Menschen tätig und konstituiert ihn. - Man sieht also einen Ochsen draußen, man schaut ihn an. Man sieht nachher einen Menschen und weiß, der hat das Beefsteak, das aus diesem Ochsen gemacht worden ist, gegessen, und man verfolgt, welchen Anteil an den inneren Tätigkeiten des Menschen das Beefsteak hat, das er gegessen hat, das vor einer AnzahI von Tagen noch im Ochsen draußen tätig war; da hat man die Beziehung des Leiblichen zu der natürlichen Außenwelt. Da verfolgt man, wie das Beefsteak, das da saß in den Lenden des Ochsen, nachher im Menschen innerlich tätig ist.

#Bild a S.207

Tafel 10

Das hat man nun genug veIfolgt, daraus hat man eine Weltanschauung gebraut, welche den Pendelschlag der menschlichen Weltanschauung nach der einen Seite hin bewirkt hat. Jetzt muß der Pendel nach der andern Seite ausschlagen. Jetzt muß man wissen, das Seelische des Men- T.schen steht ebenso in Beziehung zu der geistigen Welt, zu geistigen Substanzen. Und was geistige Substanzen sind, Erzengel, Archai, Engel, sie sind drinnen im Menschen, wie der Ochse im Menschen ist, wenn der Mensch sein Beefsteak ißt, in seinem Leibe. Das eine gibt die heutige ,r`ssenschaft zu, das andere verlacht sie noch. Aber für die weitere Entwickelung der Menschheit ist es notwendig, daß der Mensch ebenso weiß, welche Beziehung er zum Engel hat, wie er heute weiß, welche Beziehung er zum Ochsenoder zum Kohl hat - ich meine den physischen Kohl!

#Bild b S.207

Tafel

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An dieser Zeitenwende sind wir, daß tatsächlich für die Menschheitsentwickelung die Notwendigkeit vorliegt, sich hinzuwenden zu dem, was aus dem Geiste in die Seele hereinspielt, nachdem wir lange genug einseitig die Aufmerksamkeit hingelenkt haben auf dasjenige, was von der physischen Welt in die Leibesseite des Menschen hereinspielt. Für den Menschen, der heute sich zu entwickeln beginnt, genügt es nicht, daß man ilim aus den Bekenntnissen heraus dogmatisch abstrakt gewisse religiöse Wahrheiten vermittelt. Der heutige Mensch hat sich damit beschäftigt, nachzudenken, welche Beziehung sein Erderileib zum Geistigen hat. Dieser Erdenieib hat zunächst nur Beziehung zum Ich. Wir werden morgen noch andere Beziehungen kenneiilernen. Aber dasjenige, was an seinem Erdenleibe erscheint, die Konstitution für die Erinnerungsfähigkeit, das hat Beziehung zu der Hierarchie der Angeloi. Dasjenige, was in diesem Erdenleibe eingebettet ist als die Konstitution für die Intelligenz, das hat Beziehungen zu der Welt der Archangeloi. Das- was sich in unseren höheren Sinnen uns kundgibt, namentlich jenige, dasjenige, was sich in unserer höheren Kunst ergibt, das hat Beziehung zu der Welt der Archai, der Zeitgeister. Wir müssen fähig werden als Menschen, nicht bloß im allgemeinen zu schwätzen darüber, daß es eine geistige Welt gibt, sondern wir müssen fähig werden, die konkreten Beziehungen des Menschen zu dieser geistigen Welt zu empfinden. Wir müssen fähig werden, zu empfinden, wie dasjenige, was in uns widerhal1t als Gehör, eine unsere Welt durchsetzende Tatsacheiireihe ist, in der Archai drinnen tätig sind. Wir müssen fähig werden, das zu begreifen: Während wir denken, weilen wir in einer Welt, die durchwest und durchwebt wird von Archangeloi, während wir uns ennnern, weilen wir in einer Welt, die durchwebt und durchwest wird von Angeloi, und wenn wir unseres Ich uns bewußt werden, wozu wir am völligsten immer unseren Leib gebrauchen, so ist er eine Offenbarung unseres Ich. - Dann erst sind wir in der Welt, in der der Mensch webt und west. Noch in den griechischen Mysterien sagte man sich: Wenn man an den Hüter der Schwelle herankommt, dann lernt man, was im Menschen ist, auf eine höhere Art erkennen. - Diesseits der Schwelle lernt man nur Gedanken, die einen an vergangene Erlebnisse erinnern, kennen. Jenseits der Schwelle umhuschen einen die Wesen der Arigeloiwelt. Diesseits der

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Schwelle lernt man erkennen das intelligente Wesen; jenseits der Schwelle nimmt man wahr, wie einen umhuschen die Archangeloi. Diesseits der Schwelle nimmt man die äußere Sinneswelt wahr; jenseits der Schwelle weiß man, wie durch unsere Augen, durch unsere Ohren aus- und einziehen die Zeitgeister.

Es muß dafür gesorgt werden, daß dieses Bewußtsein im Menschen erweckt werde, er stehe einfach durch seine Konstitution in Beziehung zur geistigen Welt. Das aber muß für die einzelnen Organe konkret erweckt werden. Der Mensch muß sich fühlen lernen in einer geistigen Welt, während ihn diejenige Weltanschauung, die heute zu ihrem Höhepunkt gekommen ist, nur fühlen läßt, daß er in einer physischen Welt lebt. Dieses Gefühl, daß man in einer physischen Welt lebt, das würde den Menschen ganz beherrschen müssen, wenn nicht das Ereignis von Golgatha eingetreten wäre. Daß der Mensch wiederum zurück sich entwickeln kann zu einem Bewußtsein von seiner geistigen Beziehung, das verdankt man dem Mysterium von Golgatha. Aber man muß das, was man dem Mysterium von Golgatha verdankt, aus freiem innerem Antrieb heraus suchen. Das Christentum setzt Freiheit voraus.

Was man da wissen kann als die Beziehung des Menschen zur geistigen Welt, das kann tatsächlich praktische Wirksamkeit im Menschen gewinnen. Und dasjenige, was wir als Pädagogik zugrunde legen wollen der Wirksamkeit in der Stuttgarter Waldorischule, das ist heraus- geboren aus diesem Bewußtsein, daß der Mensch noch etwas anderes ist als eine Synthese der äußeren Naturvorgänge. Da soll so erzogen und unterrichtet werden, daß man sich bewußt ist, man hat in sich nicht nur das Baby, das physisch heranwächst, und das, wenn es entwöhnt ist, allmählich nach und nach aufnimmt den Kohl und den Ochsen, sondern das ist das Seelenwesen, an dem nach und nach Anteil haben die Wesen der höheren Geistigkeit. Und indem wir erziehend unterrichten, leiten wir herein die Tätigkeit der Wesen der höheren Hierarchien in das sich entwickelnde Kind. Der Mensch soll nicht bloß lernen, sich hinzuknien an den Altar und zu beten für seinen Egoismus, der Mensch soll lernen, einen Gottesdienst zu machen aus alledem, was er in der Welt verrichtet. Heute ist dem Menschen das zu vermitteln, daß alles dasjenige, was der Mensch in der Welt verrichtet, ein Gottesdienst sein muß, eine dringende

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Aufgabe. Aber dem widersetzen sich diejenigen, die die Menschen nicht teilhaftig sein lassen wollen an diesen höheren Aufgaben der Menschheit.

Während ich gestern in St. Gallen versuchte, mit Beziehung auf das Gebiet des Erziehungswesens die Tätigkeit, die Fruchtbarkeit desjenigen zu entwickeln, was aus der geistigen Erkenntnis fließen kann, wurde mir erzählt, daß wir nun schon so weit sind, daß die klerikalen Blätter in St. Gallen nicht nur keine Textnotiz, sondern auch kein Inserat mehr aufgenommen haben für diesen Vortrag, also auch verweigert haben die Inserataufnalime für diesen Vortrag. Diese Gegnerschaft wird immer mehr und mehr gut organisiert. Organisation versteht man auf jener Seite. Ich will Sie damit nur aufmerksam machen darauf, welcher Widerstaiid gegen das Einleben der Wahrheit in die Welt immer mehr und mehr sich geltend machen wird. Ich will Sie nach und nach unterrichten von diesen Dingen. Ich möchte Sie auch nicht unbekannt sein lassen mit diesem kleinen Faktum, damit Sie fühlen, daß es nach und nach keine Aufgabe für schlafende Seelen sein wird, für die Christus-Wahrheit einzutreten, sondern daß es immer mehr werden wird eine Aufgabe für wachende Seelen. Man braucht auch Organisationen, um der Organisation auf der andern Seite begegnen zu können. Davon wollen wir morgen weiter reden.

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VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 14. Februar 1920

Ich werde ganz kurz noch einmal wiederholentlich auf dasjenige aufmerksam machen, was ich gestern vor Ihnen hier vorgetragen habe, weil ich Weiteres, auf das Wesen des Menschen Bezügliches heute werde daranzuknüpfen haben. Das, was ich Ihnen gestern zu sagen hatte, bestand in folgendem: Wir haben unseren Blick gewendet zunächst auf die drei mehr der Erkenntnis gewidmeten Fähigkeiten der Menschenseele. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, daß in dieser Menschenseele wesentlich drei erkennende Fähigkeiten sind, zunächst dasjenige, was Erinnernngsfähigkeit oder Gedächtnis ist, dann dasjenige, was Intelligenz ist, und dann dasjenige, was Sinnestätigkeit ist. Nun machte ich Sie darauf aufmerksam, daß diese drei Seelenfähigkeiten nur verstanden werden können, wenn man auf ihre Entwickelung blickt. Um das Gedächtnis zu verstehen, das verhältnismäßig eine der jüngeren Fähigkeiten der menschlichen Weseiiheit ist, muß man aber doch den Blick zurückwenden zu Zeiten, in denen die Erde noch nicht dasjenige war, was sie heute ist, in denen die Erde ihre Entwickelung als der der Erde vorangehende Mond durchmachte. So daß die ersten Anlagen zu dem, was heute in uns Gedächtnisfähigkeit geworden ist, in der alten Mondenzeit zu suchen sind und dort aufgetreten sind nicht als Gedächtnis, sondern als die den Menschen durchsetzende traumhafte Imagination, die ich ja in andern Zusammenhängen öfter beschrieben habe. Was also bei jenen Wesen, aus denen der Mensch geworden ist, während der alten Mondenzeit traumhafte Imagination war, das ist während der Erdeiizeit die Fähigkeit des Gedächtnisses geworden. Dieses Gedächtnis, sagte ich Ihnen, ist von allen erkennenden Seelenfähigkeiten am meisten verwoben mit der physischen Leiblichkeit. Die Intelligenz ist schon weniger verwoben mit der physischen Leiblichkeit. Sie ist mehr davon losgelöst in der Art, wie ich das gestern beschrieben habe. Um aber ihre ersten Anlagen zu entdecken, muß man weiter zurückgehen als bis zur alten Mondenzeit, man muß zurückgehen bis zur alten Sonneiizeit und findet dann die erste Anlage zu dem, was heute in uns als Intelligenz vorhanden

#Bild a S.211

Tafel 12

#Bild b S.211

Tafel

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ist, in der schlafenden Inspiration. Am weitesten zurückgehen muß man für dasjenige, was am meisten, wie ich gestern ausgeführt habe, losgelöst ist von unserer Leiblichkeit, obwohl man das am wenigsten glauben will aus der materialistischen Anschauung unserer Zeit heraus: Für die Sinnestätigkeit muß man zurückgehen bis zur alten Saturnzeit. Und man findet als den ersten Ursprung dieser Sinnestätigkeit bei den Wesen, aus denen nachlier der Mensch geworden ist, eine dumpfe Intuition.

Weiter haben wir gesehen, daß, indem wir diese drei Seelenfählgkeiten in uns tragen, wir in der Organisation, die zugrunde liegt diesen Seelenfähigkeiten, zugleich die Beherberger sind für Wesen höherer Hierarchien. So daß wir sind durch die Organisation unserer Sinnestätigkeit die Beherberger der Archai, der Zeitgeister. Die wohnen in unserer Menschlichkeit. Durch dasjenige, was ww an uns als Intelligenz haben, insofern diese Intelligenz gebunden ist an den Spiegelungsapparat in uns, der uns unsere Begriffe, unsere Ideen, die aber aus der geistigen Welt kommen, zurückstrahlt und sie uns so zum Bewußtsein bringt, sind wir die Beherberger der Archangeloi. Und durch dasjenige, was da arbeitet in unserer Organisation und unser Gedächtnis vermittelt, sind wir die Beherberger der Angeloi. So stehen wir mit der Vergangenheit durch unsere erkennenden Fähigkeiten in Beziehung, so stehen wir zu den Wesen höherer Hierarchien durch unsere erkennenden Fähigkeiten in Beziehung.

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Tafel 12

Einem alten Gebrauche gemäß nennt man diese drei Fähigkeiten des Menschen die oberen Fähigkeiten. Und soll ich den Menschen vor Ihnen etwa schematisch entwerfen, soll ich Ihnen das Menschenbild wie in einem Schema vor Augen stellen, so müßte ich etwa das Folgende zeichnen als dieses Schema des Menschen. Ich müßte zeichnen zunächst die Fähigkeit der Sinnestätigkeit. Ich werde es so versuchen, indem ich einen weißen Untergrund mache (siehe Zeichnung, weiß schraffiert). Ich müßte zuerst die Sinnestätigkeit schematisch in der menschlichen Organisation zeichnen, müßte das etwa, damit ich das richtige Verhältnis herausbekomme, in dieser Weise zeichnen (blau). Die hauptsächlichste Sinnestätigkeit ist ja im Haupt entfaltet. Es ist allerdings der ganze Mensch von Sinnestätigkeit durchzogen, aber ich möchte zunächst die HauptSinnesorganisation hier einzeichnen (blau).

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Tafel 12

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Tafel 13

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Tafel 13

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Wollte ich einzeichnen die Intelligenz, so müßte ich diese in der folgenden Art einzeichnen, um sie zur Anschauung zu bringen: die Sinnestätigkeit mehr nach außen (blau); die Intelligenz (grün) hat ihren Spiegelungsapparat mehr im Gehirn. Tiefer liegt dann dasjenige, was dem Gedächtnis zugrunde liegt, schon sehr mit der körperlichen Organisation verbunden. In Wahrheit ist das Gedächtnis (rot) an die niedersten Nervenorganismen und an den übrigen Organismus gebunden. Übergänge könnte ich dann schaffen zwischen der Sinnestätigkeit und der Intelligenz, indem ich etwa noch hier (indigo) dieses als Übergang hineinzeichne. Sie wissen ja, daß wir auch Begriffe und Ideen haben, die gewisserniaßen anschaulicher Natur sind. Während ich die Sinnestätigkeit als solche einzuzeichnen habe mit Blau, müßte ich hierher ein Indigo zeichnen als Übergang. Für die mehr abstrakten Begriffe würde ich Grün einzuzeichnen haben, und für dasjenige, was als gedächtnismäßige Begriffe in uns ist, würde ich als Übergang von Grün zu Rot durch das Orange zu zeichnen haben das Gelb. Auf diese Weise würde ich von außen nach innen gehend die menschliche Wesenheit in ihrer Organisation in bezug auf die Erkenntnisfähigkeit zu zeichnen haben. So bekommen Sie in der Aufeinanderfolge dieser Farben, wenn Sie sich die Organisation namentlich von Augen und Ohren blau nuanciert denken und indem die Sinnestätigkeit übergeht in die Intelligenz, das Indigo gegen das Grün hin, sich aufhellend durch das Gelb zum Rot zu dem Gedächtins hin, eine Art Schema, das aber sehr stark die Wirklichkeit abschattet von dem, was menschliche Seelenerkenntnisfähigkeiten oder Erkenntmsfähigkeiten sind.

Nun spielt in der menschlichen Natur alles durcheinander. Das ist es ja, was dem materialistisch denkenden Menschen die Arbeit so schwer macht, daß in der menschlichen Natur alles durcheinander spielt. Man ltann nicht schön fein säuberlich räumlich das eine von dem andern abgrenzen. Es ist auch in der menschlichen Natur nicht so abgegrenzt, aber man kann, wenn man eben schematisch zeichnen will, doch verhältnismäßig allerlei herausbekommen. So kann man in der Tat sehen, daß so, wie sich die Farbe Rot zu der Farbe Grün verhält, so verhalten sich durch ihre inneren Eigenschaften die Erinnerungsfähigkeit zur Intelligenzfähigkeit; und wie sich das Grün verhält zum Blau, so verhält sich die

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Intelligenz zur Sinnestätigkeit. Nun haben wir aber andere Fähigkeiten in der menschlichen Seele, Fähigkeiten, die bei uns als Erdennienschen mehr oder weniger im strengsten Sinne an die physische Leiblichkeit gebunden sind. Dazu gehört zunächst das Fühlen. Während Gedächtnis, Tai Intelligenz, Sinnestätigkeit stufenweise an das wachende außtsein gebunden sind, ist das Fühlen schon etwas sehr TrauniIiaftes in der menschlichen Weserilieit. Das habe ich ja öfter ausgeführt. Während nun das Gedächtnis etwas ist, was in ferner Vergangenheit auf dem alten Monde seiner Anlage nach sich entwickelt hat, die Intelligenz auf der Sonne, Sinriestätigkeit auf dem Saturn, gehört das Fühlen, so wie wir es heute haben - obwohl schon Ansätze dazu früher während der Mondenzeit vorhanden waren, aber die kommen weniger in Betracht -, dem Erdennienschen an. Es ist im wesentlichen etwas, was gebunden ist an die menschliche Erdenorganisation. Was wir als Erdenmenschen ein- organisiert bekamen, machte uns eigentlich erst zum fühlenden Wesen. Aber so, wie das Gedächtnis etwas ist, was über seine erste Anlage hinausgegangen ist und auf der Erde auf eine höhere Entwickelungsstufe gekommen ist, und man es, wenn man übersinnliches Schauen genug dazu hat, dem Gedächtnis anerkennt, daß es gewissermaßen eine alte Fähigkeit des Menschen ist, erkennt man es dem Fühlen an, daß es erst in der Anlage vorhanden ist. Man schaut es dem, was der Mensch heute sein Fühlen nennt, an, wenn man das nötige Verständnis dafür hat, daß aus ihm in der Zukunft etwas ganz, ganz anderes wird. So wie wenn man als Beobachter während der alten Mondenzeit das träumende Imagimeren angeschaut hätte, man sich hätte sagen müssen: Daraus wird später das Gedächtnis des Menschen -, so muß man dem heutigen Fühlen gegenüber als Verstehender sagen: Wenn die Erde einnial nicht mehr sein wird, sondern etwas anderes aus ihr geworden ist, wenn aus der Erde der künftige Jupiter geworden ist, dann wird das Fühlen erst das geworden sein, was es werden kann. - Das Fühlen ist heute erst im Menschen etwas Embryonales, etwas, was als Keim vorhanden ist. Aus dem Fühlen wird erst aufgehen dasjenige, was aus ihm werden kann. So tragen wir in dem Gefühle etwas in uns, was sich verhält zu dem, was es auf dem Jupiter wird, wie ein im Mutterschoße befindliches Kind sich zu dem nach außen geborenen Menschen verhält. Etwas Embryonales

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Tafel 12

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ist unser Fühlen, und es wird erst später während der Jupiterzeit dasjenige werden, was als vollständige, vollbewußte Imagination erblühen wird.

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Tafel 12

Eine andere Seelenfählgkeit, die an unsere Organisation gebunden ist, ist die Begierde, das Begehren. Dieses Begehren ist noch viel embryonaler als das Fühlen. Alles, was in uns Begierdenwelt ist, das wird erst während der künftigen Venuszeit dasjenige werden, zu dem es heute keirnhaft veranlagt ist. Unsere Begierden sind heute sehr stark an unsere Leibesorganisation gebunden. Sie werden sich loslösen. So wie unsere Intelligenz während der alten Sonnenzeit gebunden war an die Leibesorganisation der Sonne, wie ich sie beschrieben habe in meiner «Geheim- wissenschaft im Uinriß», so ist die Begierdenwelt des Menschen heute an die Leibesorganisation gebunden. Sie wird losgelöst erscheinen von der Leibesorganisation während der künftigen Venuszeit, und sie wird dann auftreten als vollbewußte Inspiration.

#Bild b S.216

Tafel 12

Am allerembryonalsten ist unter unseren Seelenfählgkeiten das Wollen. Das Wollen ist in Zukunft berufen, etwas ganz Gewaltiges, Kosmisches zu werden, etwas zu werden, wodurch der Mensch in der Zukunft dem ganzen Kosmos angehören wird, ein individuelles Wesen sein wird und dennoch seine individuellen Impulse als Weltentatsache ausleben wird. Das wird aber erst sein während der Vulkanzeit, wo das Wollen vollbewußte Intuition sein wird.

Obere Fähigkeiten

Sinriestätigkeit Saturn [dumpfe Intuition] Archai

Intelligenz Sonne [schlafende Inspiration] Archangeloi

Gedächtnis Mond [traumhafte Imagination] Angeloi

Untere Fähigkeiten: Soziale Welt

Fühlen Jupiter [vollbewußte Imagination] Mineralreich

Begehren Venus [vollbewußte Inspiration] Pflanzenreich

Wollen Vulkan [vollbewußte Intuition] Tierreich

#Bild c S.216

Tafeln 12, u. 13 links

So gehören wir durch unser Fühlen, Begehren und Wollen wiederum Zukunftszeiten an. Diese Fähigkeiten sitzen in uns, indem der Mensch durch sie vorbereitet wird für seine zukünftige Wesenheit. Aber auch

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da stehen wir mit der Welt in einem Verhältnisse, in dem diese Fähigkeiten des Menschen ihre Beziehungen haben zur Umwelt. So wie in bezug auf die geistige Umwelt Gedächtnis, Intelligenz und Sinnestätigkeit zu den Angeloi, Archangeloi, Archai in Beziehungen stehen, so steht zur physischen Umwelt Fühlen, Begehren und Wollen in Beziehung, aber so, daß unser Fühlen so in Beziehung steht zu der Welt, die uns umgibt, daß es während der Erdenzeit nach und nach aufzehrt die mmeralische Welt. Alles dasjenige, was mineralische Welt um uns herum ist, wird mit dem Ende der Erdenzeit verschwinden, und die Kräfte, welche vom Menschen aus die mineralische Welt aufzehren werden, das sind die Gefühlskräfte. So daß wir ein besonderes Verhältnis des Fühlens zum Mineralreich annehmen müssen (siehe Schema). Ein besonderes T Verhältnis des Begehrens mussen wir zum Pflanzenreich annehmen. Wie es auf dem Jupiter, der da als zukünftiger Planet die nächste Verkörperung unserer Erde sein wird, kein Mineralreich geben wird, weil während des Erdendaseins das Fühlen das Mineralreich aufgezehrt haben wird, so wird es während der Venuszeit kein Pflanzenreich mehr geben, weil das menschliche Begehren während der Jupiterzeit dieses Pflanzenreich aufzehrt, und das menschliche Wollen wird während der Venus- zeit das Tierreich aufzehren. Und wenn herangerückt sein wird die Vulkanzeit, wird diese künftige Vulkanverkörperung unserer Erde die drei Reiche nicht mehr enthalten, sondern nur dasjenige von den jetzigen Reichen, was dann aus dem Menschenreiche geworden sein wird.

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Tafel 12

Demgegenüber, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, können Menschen kommen aus der Gegenwart und können sagen: Mich interessiert das wenig, was ich da einmal war mit meinem Erinnern, mit meiner Intelligenz und mit meiner Sinnestätigkeit auf dem guten alten Saturn und der Sonne und dem Monde; ich freue mich meines Daseins als Erdenbürger, was kümmert mich dasjenige, was die Dinge, von denen ich nichts mehr weiß, auf früheren planetarischen Verkörperungen unserer Erde durchgemacht haben? Das interessiert mich nicht! Und erst recht interessiert es mich nicht, was aus meinem Fühlen, das mich jetzt gar sehr interessiert, einmal auf dem Jupiter wird oder gar auf der fernen Venus, was da aus meinen Begierden wird. Diese Begierden, die treiben mich jetzt, aber die Dame Venus, die interessiert mich jetzt noch

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nicht, denn sie ist ja keine gegenwärtige, und ich interessiere mich nur für gegenwärtige Damen. Und so, nicht wahr, erst mit dem Wollen in einer so fernen, fernen Zukunft! -

Gewiß, so empfinden viele Menschen der Gegenwart, und es ist die Kultur sehr, sehr dafür, daß sie am liebsten alles dasjenige, was geltend machen will von der Gegenwart an diese Erkenntnis, verschlafen möchten, daß sie nicht wach werden möchten gegenüber diesen Erkenntnissen. Aber die Menschenentwickelung wird sich nicht führen lassen in die Zukunft hinein, ohne solche Erkenntnisse zu haben. Denn es ist tief richtig, daß im menschlichen Organismus, im physischen, im seelischen, im geistigen Organismus alles durcheinander wirkt, aber man muß doch auch die Dinge unterscheiden können. Wie da die oberen Fähigkeiten schematisch aufgezeichnet werden konnten, von der Sinnestätigkeit einrückend bis zur Erinnerung, so kann ich jetzt die unteren speziell auf der Erde gebildeten Fähigkeiten hier einzeichnen (siehe Zeichnung Seite 213). Das muß ich dann in der folgenden Weise tun: Ein etwas tieferes Rot - ich habe hier die Unterschiede leider nicht - würde unserem Fühlen entsprechen. Aber dieses Fühlen, das erstreckt sich in die Intelligenz, in die Sinnestätigkeiten überall hinein, auch durch das Gedächtnis hindurch. Ich müßte dann, wenn ich die Begierdentätigkeit zeichne, ein eigentliches Rotviolett zeichnen. Und wollte ich das Wollen, so wie es heute ist, zeichnen, so müßte ich ein Blaugrün zeichnen. So daß der Mensch ein Doppelwesen ist, ein oberer Mensch (Kreis oben), der im wesentlichen Erkennender ist, und ein unterer Mensch (Kreis unten),der im wesentlichen Begehrender ist, Fühlen und Wollen als die beiden Pole des Begehrens betrachtet.

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Tafel 13

Nun wirkt in der Tat beim Erdenmenschen dasjenige, was der untere Mensch ist, in den oberen Menschen hinein, sowohl das Wollen, wie das Begehren, wie das Fühlen, wirken in den oberen Menschen hinein (Pfeil aufwärtsgehend $). Mit andern Worten, unsere Sinnestätigkeit ist eine solche, daß wir in ihr haben alles dasjenige, was aus der dumpfen Intuition des alten Saturn nach und nach geworden ist. Aber würden wir in uns durch unsere Augen, durch unsere Ohren, nur dasjenige tragen, was aus der dumpfen Intuition des alten Saturn kommt, so waren wir recht trockene Wesen. Wir nähmen, wie durch automatisch

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wirkende Sinne, die äußere Welt wahr. Wir dächten iiüchtern und trocken über diese äußere Welt, und wir erinnerten uns ohne Wärme an dasjenige, was wir erlebt haben. Daß wir dasjenige, was wir erlebt haben, als unsere eigene Angelegenheit erleben, daß wir gewissermaßen nicht bloß in unsere Erlebnisse hineinblicken mit Gleich~;üfrigkeit und uns an sie erinnern, unser persönliches Leben wie die einzelnen Steine eines Kaleidoskops anschauend, das macht, daß in unsere ennnerten Gedanken, in unser intelligentes Wesen, in unsere Sinneswahrnehmungen, unser Fühlen, Begehren und Wollen aufsteigen. Indem wir die Dinge äußerlich anschauen, gefallen sie uns. Sie gefallen uns durch unser Begehren, durch unser Fühlen oder durch unser Wollen. Indem wir denken, denken wir nicht bloß nüchtern und trocken, sondern wir bringen einen gewissen Enthusiasmus in unsere Ideen hinein. Den würden wir nicht hineinbringen, wenn wir nur dasjenige hätten, was uns die Sonne als Intelligenzkraft gegeben hat, den haben wir in unserem Denken dadurch drinnen, daß uns die Erde ausgestattet hat mit Wollen, Begehren und Fühlen, wenn diese auch jetzt embryonal sind. Ebenso auch bei der Erinnerungsfähigkeit. In unsere oberen Seeleiifähigkeiten spielen immer diejenigen hinein, die man einem alten Gebrauche gemäß die unteren Fähigkeiten nennt, weil sie mehr an den Leib gebunden sind. Das wollen wir zunächst festhalten. In unsere oberen Seelenfähigkeiten, die uns wie ausgetrocknete Därme in die Welt hineinstellen würden, wenn sie bloß dasjenige wären> was sie durch Saturn, Sonne und Mond geworden sind, leuchten und glühen die unteren Seeleiifähigkeiten, das Wollen, Begehren und Fühlen hinein, und wir werden warme, fühlende Menschen, auch wenn wir denken. Es gibt allerdings heute eine ganze Menge von Menschen, die Objektivität dadurch anstreben, daß sie aus ihrer Intelligenz das Fühlen, das Begehren herauswerfen; aber das ist entweder bloß eine Illusion, wenn die Leute glauben, daß sie aus der Sinnestätigkeit, der Intelligenz und der Erinnerung die niederen Seelenfähigkeiten herauswerfen können, oder wenn man sie wirklich herauswi1ft - zu einem gewissen Teile kann man das ja nur -, dann wird man aber auch danach! Es gelingt näinlich immer nur bis zu einem gewissen Grade, die unteren Seelenfähigkeiten aus den oberen herauszuweifen. Man kann sie zum Beispiel herausweifen, wenn man auf das Katheder

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tritt und den Füchsen und andern, späteren Studenten allerlei Wissenschaften auseinandersetzt. Da kann man aus der Intelligenz heraus- werfen die niederen, die eigentlich irdischen Seelenfähigkeiten. Aber man kann sie nicht ganz herauswerfen. Kommt man dann von seinen Philosophien nach Hause und schmeckt einem das Mittagsmahl nicht, dann durchziehen reale Begierden und Gefühle, indem man über dasjenige, was die Hausfrau bereitet hat, schimpft, die Intelligenz, und namentlich auch die Sinnestätigkeit des Geschmacks, des Geruchs und so weiter. So besteht manchmal ganz durcheinander in dem Menschen der trockene Philister, der aus seinen oberen Seelenfähigkeiten die niederen herausgeworfen hat, und der recht sehr des Enthusiasmus fähige Mensch, wenn ihm irgend etwas verpfeffert oder versalzen oder gar angebrannt oder sonst in irgendeiner Weise nicht richtig gekocht ist!

Unsere niederen Seelenfähigkeiten müssen in die höheren Seelenfähigkeiten hineinspielen. Aber es besteht tatsächlich gerade seit dem Anfange des fünften nachatlantischen Zeitraumes, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, eine Entwickelungswelle in der Menschlieit, reiner und immer reiner zu machen die Sinnestätigkeit, die Intelligenz, und später wird das auch kommen in bezug auf das Gedächtnis. Das ist heute noch nicht davon ergriffen. Man will diese Eigenschaften freimachen, ja man will, daß nicht nur dasjenige, was ich eben erwähnt habe von dem trockenen Philister - das kommt nur davon her, daß dieser trockene Philister in der Tat mehr ergriffen ist von dem, was die menschliche Natur im allgemeinen doch macht -, sondern daß das Physische des Menschen überhaupt vertrocknet, wie ich schon ausgeführt habe in einer früheren Betrachtung, und immer weniger und weniger die höheren Seelenfähigkeiten wird erwärmen und durchleuchten können. Sie werden dann tatsächlich jenes Ausgetrocknete werden, wenn sie nicht erfüllt werden von dem, was aus geistiger Offenbarung kommen kann.

Wir müssen in der Tat Sinnestätigkeit, Intelligenz und Gedächtnis in den folgenden Entwickelungsstadien der Erde befruchten mit dem, was aus der geistigen Welt heraus sich offenbart, weil die eigentliche Erdengabe, die da kommt für diese höheren Fähigkeiten als Wollen, Begehren und Fühlen, weil die allmählich vertrocknet. Wir wollen nicht bloß abfällig kritisieren den steifen Philister, wie wir es gerade getan

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haben, sondern wir wollen zu gleicher Zeit zugeben, daß er ein Pionier ist der Zukuiiftsvertrocknung unserer höheren Seeleufähigkeiten, daß er dasjenige, was die ganze Menschheit befallen wird, schon in seinem Leibe empfindet; nur empfindet er heute noch selten die Notwendigkeit, daß das ersetzt werden muß durch geistige Offenbarung. Es muß ersetzt werden durch geistige Offenbarung. Es muß der Mensch, so wie er bisher gewohnt war, das Hinaufströmen (Pfeil aufwärts) von Wollen, Begehren und Fühlen in Gedächtnis, Intelligenz und Sinnestätigkeit zu er leben, von oben herunter erleben die Offenbarungen der geistigen Welt durch Geisteserkenntnis (Pfeil abwärts, rechts oben), damit seine Sinnestätigkeit, seine Intelligenz, sein Gedächtnis mit dem angefüllt wer- den können, mit dem sie nicht mehr angefüllt werden, indem unser physischer Leib bei der Erdendekadenz immer mehr und mehr vertrockhet.

#Bild a S.221

Tafel 13

Halten wir das zunächst einmal fest, daß wir einer Zeit entgegen- gehen, in der alles dasjenige, was der Mensch betätigt durch die Sinneseriahrung, durch die Inteffigenz, durch das Gedächtnis, geistige Offenbarung in seinem Innern empfangen muß, damit die Menschheitskultur voiwärtsschreiten kann. Wenden wir uns jetzt den niederen menschlichen Fähigkeiten, die heute erst embryonal vorhanden sind, zu. Diese niederen menschlichen Fähigkeiten sind diejenigen, die uns vorzugsweise in ein Verhältnis zu unserer Umwelt bringen. Sogar innerlich stehen sie ja zur Umwelt in Beziehung zum mmeralischen Reich, Pflanzenreich, Tierreich, aus denen unsere Umwelt besteht. Indem wir fühlen, fühlen wir über die Dinge unserer Umwelt; indem wir begehren, begehren wir die Dinge unserer Umwelt, indem wir wollen, greifen wir direkt in das handelnde Wesen unserer Umwelt ein. Da stehen wir ganz drinnen in unserer Umwelt. Und was, wenn wir fragen, lebt sich denn in dem aus, was wird aus Fühlen, Begehren und Wollen der Menschen, die auf der Erde zusammenleben?

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Tafel 13, links

Wenn Sie alles dasjenige mit einem geistigen Blicke umfassen, was man die soziale Welt nennt, sie ist ganz das Ergebnis von Wollen, Begehren und Fühlen der zusammeniebenden Menschen. Und dasjenige, was wir fühlend erleben als Menschen, was Menschen voneinander und von der Natur begehren und was gehandelt wird aus dem Wollen heraus, das ist eigentlich Außenwelt. Indem wir begehren, gehören wir viel

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mehr, als wir glauben, der sozialen Ordnung an. Wir werden zu begehrenden Wesen gemacht durch unsere Stellung in der sozialen Welt, und unser Wollen greift überall so in die soziale Welt ein, daß dasjenige, was in der sozialen Welt geschieht, aus unserem Wollen heraus geschieht. Daher lebt in dem, was wir soziale Lebensordnung nennen, ein selbständiges Leben das, was Menschen fühlen, begehren und wollen. Die heutige Sozialdemokratische Partei sagt: Dasjenige, was da außen lebt, ist das Ergebnis einer Wirtschaft,, der wirtschaftlichen Kräfte, wie sie sich entwickeln. - Nein, was da außen lebt, ist die Verobjektivierung von Fühlen, Begehren und Wollen der in Sozietät zusammeniebenden Menschen. Dasjenige, was zuerst im Menschen als Fühlen auftritt, das schafft Zustände, die dann das soziale Leben der Menschen bedingen; ebenso das Begehren und erst recht das Wollen. Aber alles steht in der Menschennatur im Zusammenhange. Da unten sind die Farben eingezeichnet, welche entsprechen dem Fühlen, Begehren und Wollen. Die intelligenten Eigenschaften, die Sinnestätigkeit, die eigentliche Intelligenz, das Gedächtnis wirken hinunter und wirken durch unser Wollen heraus in die soziale Welt (Pfeil unten, nach rechts gehend).

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Tafel 13

#Bild b S.222

Tafel

Wenn der Mensch nun in der Tat gegen die Zukunft hin immer mehr und mehr mit Bezug auf seine physische Organisation vertrockriet, dann würde aus der Leibesorganisation wenig hlneinfließen können in die soziale Ordnung, dann würde Sinneserfahrung, Inteffigenz und die einzelnen menschlichen Erinnerungsgedanken in die soziale Welt einfließen, ohne daß sie erst den Durchgang nehmen durch Fühlen, Begehren und Wollen der Menschen. Mit andern Worten: Wenn das sich so entwickeln würde, wie es der bloßen Erdenorganisation entspricht, daß unsere Leibesorganisation vertrocknet und nur uns zurückblieben Sinnestätigkeit, Inteffigenz, Erinnerung, und diese auch nicht vom Geiste befruchtet, dann würde eine trockene Intelligenz, eine bloß äußere Sinneswahrnehinung und bloß egoistische Erinnerungen der einzelnen Menschen das soziale Leben beherrschen wollen. Das würde geben in immer weiterer Ausbildung dasjenige, was man jetzt in Rußland beginnt. In Rußland beginnt jetzt keimhaft im Leninismus, im Trotzkljismus eine soziale Ordnung sich vorzubereiten, die lediglich aus Sinneserfahrung, Intelligenz und aus den paar Erinnerungen egoistischer Natur der einzelnen

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Menschen stammt. Das bemerkt man noch gar nicht, daß diese Ordnung Osteuropas dahin strebt, eine re1n rationalistische Ordnung zu sein, eine Ordnung, die bloß aus den erkennenden Fähigkeiten des Erdennienschen, wie er sich ergeben hat aus dem Saturn-, Sonnen- und Mondenmenschen heraus, gestaltet werden soll, daß da bewußt aus- geschaltet werden soll alles dasjenige, was aufgenommen werden kann aus der geistigen Welt.

Jene Empfindung, die einen lehrt, zu welcher Erstarrung die Menschheitszivilisation kommt, so daß der Mensch nur noch wandelnde Maschine sein wird, jene Empfindung, die einen lehrt, was werden würde, wenn Diktatoren wie Lenin und Trotzkij weiter die Welt zu versorgen hätten, die muß kommen aus einer solchen Erkenntnis des Wesens der Menschennatur, wie wir sie in diesen zwei Tagen jetzt vor unsere Seele gestellt haben. Durch eine solche Erkenntnis wird einem gezeigt, daß es einfach in der menschlichen Natur liegt als eine Notwendigkeit, daß eiriziehe in die oberen Seelenfähigkeiten die Erleuchtung und Erwärmung durch die geistige Offenbarung, damit nicht hinausfließe in das soziale Leben dasjenige, was Intelligenz und Sinnestätigkeit und Gedächtnis werden würden, wenn sie sIch nicht befruchten mit der geistigen Welt. Der Mensch muß fühlen lernen, was ihn zusammenhält mit dem ganzen Erdendasein, und er muß fühlen lernen aus einer geistigen Erkenntnis heraus dasjenige, was sich im Osten vorbereitet und was droht, ganz Asien zu zerfressen in immer schnellerem und schnellerem Werdegang. Das muß der Mensch fühlen lernen als die große furchtbare Krankheit der gegenwärtigen Zivilisation, die geheilt werden muß. Und sie kann nur geheilt werden, wenn sie in der richtigen Weise diagnostiziert werden kann.

Geisteswissenschaft treiben heißt heute, aufsuchen den Heilungsprozeß der erkrankten Zivilisation. Das müßte empfunden werden von einer genügend großen Anzahl von Menschen, und das müßte ganz tief und gründlich empfunden werden. Ohne geistige Wissenschaft wird man das nicht empfinden. Und jetzt geschehen alle tonangebenden Ereignisse ohne eine Empfindung für dasjenige, was man eigentlich tut. Das Ereignis von Versailles war nichts anderes und ist nichts anderes als die Einimpfung eines Zivilisationsgiftes, eines Giftstoffes, der die

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Menschheit noch kranker machen muß, als sie vorher war. Denn alles dasjenige, was ohne die Erkenntnis der zukünftigen Lebensbedingungen der Erde geschaffen wird, ist Krankheitsstoff für die sich entwickelnde Menschheit.

Solche Dinge ist man heute gewohnt als aus dem Gefühl, aus der Empfindung heraus gesagt entgegenzunehmen. Hier werden sie nicht aus einer solchen Quelle heraus gesagt. Hier werden sie aus der Erkenntnis des Wesens der Menschennatur abgeleitet. Und hier kann gezeigt werden, daß das geistige Leben der Menschen, dessen Träger Gedächtnis, Intelligenz und Sinnestätigkeit sind, fernerhin nicht bestehen kann, ohne daß es befruchtet wird von der geistigen Welt aus. Das gibt man heute nicht zu. Aber warum gibt man es nicht zu? Man gibt es nicht zu aus einem historischen Grund heraus. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sind immer mehr und mehr herausgebildet worden diejenigen Gebilde, die man heute als die eigentlichen Träger der Zivilisation empfindet, die modernen Staaten. Diese modernen Staaten, sie können aber in der Zukunft nur dasjenige sein, was sich - ich habe das in anderem Zusammenhange hier ausgeführt - bezieht auf das Leben des Menschen zwischen der Geburt und dem Tode. Sie dürfen sich in nichts hinein- mischen, was Beziehung gibt zwischen dem Menschen und den geistigen Welten. Der Mensch muß in der Zukunft fähig werden, als individueller Mensch in sein Gedächtnis, in seine Intelligenz, in seine Sinnestätigkeit die geistige Welt hereinzubekommen. Das kann er nur als individueller Mensch, das kann nur der einzelne. Der einzelne muß in der Zukunft der Vermittler werden zwischen dem Himmel und der Erde, zwischen der geistigen Welt und der physischen Welt. Und mit Recht empfinden es die Menschen heute, obwohl sie geradezu verkehrte Empfindungen haben in der Art, wie sie es empfinden, aber sie empfinden es doch als etwas Ungehöriges, wenn in sogenannte öffentliche Staatsangelegenbeiten hereinspielen diejenigen Strömungen, die nur in den individuellen Menschen hineinspielen sollen. Wenn sich der russische Zar und die russische Zaiin zu ihren Regierungshandlungen der inneren Erlebnisse eines Rasputin bedient haben, so fürchteten sich davor die Menschen mit Recht, denn Offenbarungen aus der geistigen Welt dürfen nur in das geistige Leben hineinspielen, dürfen nicht in das Staatsleben hineinspielen.

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Da darf nur dasjenige hineinspielen, was unsere gesunde Vernunft geworden ist durch die geistigen Offenbarungen. Nun, bis zur gesunden Vernunft hat es Rasputin nicht gebracht, wenn auch bis zur Offenbarung.

Auf der andern Seite im sozialen Leben draußen kann sich nur dasjenige finden, was Zusammenhang hat mit den unteren Fähigkeiten der Menschen, mit den Fähigkeiten, die sich auf der Erde entwickeln, mit Begehren, Fühlen, Wollen. Die entwickeln sich im Umgang von Mensch zu Mensch; und sie entwickeln sich im Umgange nicht mit der abstrakten ganzen Menschlieit, sondern nur mit den Kreisen, die durch Interessen verbunden sind, mit den Kreisen, die durch ihre besonders gearteten Begierdeninteressen, durch ihr besonders geartetes Fühlen oder durch das Wollen, das sie entwickeln müssen, zusammenhängen.

Das aber begründet die Notwendigkeit einer Dreigliederung der öffentlichen Angelegenheiten. In der Zukunft wird der Staat, der in seine Angelegenheiten das unmittelbare geistige Leben gar nicht her- einlassen darf, sich nicht auf das geistige Leben erstrecken dürfen. Das Geistesleben wird seine selbständige Verwaltung haben müssen, weil es nicht vorwärtskommen kann, wenn es nicht geistige Offenbarungen empfängt. Der Staat muß, wenn er gesund ist, auf die geistigen Offenbarungen verzichten. Lenkt er daher nach dem, was für ihn gut ist, das geistige Leben, so macht er es so schlecht als möglich. Es muß von ihm getrennt werden, ein selbständiges Glied werden. Aber es kann auch das wirtschaftliche Leben nicht zusammenhängen mit dem, was das staatliche Leben ist, denn dieses wirtschaftliche Leben muß eng an die Interessengemeinschaften der einzelnen, in Interessenkreisen zusammengebundenen Menschen wurzeln in dem Fühlen, Begehren und Wollen, wie es sich herausbildet in den Assoziationen, in den engeren Gemeinschaften.

Kurz, wie der Physiker aus den einfachen Erfahrungen, die er macht, die komplizierten Erscheinungen der physikalischen Natur begreift, so muß man heute begreifen aus der Menschennatur mit ihren oberen Fähigkeiten: Gedächtnis, Intelligenz und Sinnestätigkeiten, ihren unteren Fähigkeiten: Wollen, Begehren und Fühlen - dasjenige, was zu geschehen hat in der Entwickelung der Menschheit. Und derjenige, der

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sich heute mit aus dem starken, aber leeren Selbstbewußtsein herausgeholten sozialen Wollen und mit dem Tone, den man den Brustton der Überzeugung bei vielen Menschen heute nennt, hinstellt und soziale Ideen entwickelt, der gleicht einem Menschen, der sich hinstellt vor eine Telegraphenaniage, keinen Dunst hat von Elektrizität und Magnetismus, diesen einfachen Tatsachen, und nun aus seiner Nichtkenntnis heraus eine Telegraphenanlage erklärt. Die Menschen, die heute über Soziologie sprechen, die reden zumeist ungefähr aus einem solchen Geiste heraus - wenn es auch für viele Menschen noch so gelehrt klingt -, wie einer, der niemals etwas von dem Wesen der Elektrizität gehört hat und sich in einer Telegraphenstation eine Morseaniage ansieht und sagt: Da drinnen sind eben ganz kleine Reiterchen, die sieht man nicht, die reiten auf die andere Station, man sieht das nur alles nicht. - Und da erklärt er das alles ganz ordentlich. So erklärt der Marxismus die sozialen Tatsachen, so erklären unsere Universitätssoziologen die sozialen Tatsachen. Die Wirklichkeit ergibt sich erst, wenn man die Menschennatur erkennt. Aber die Menschennatur kann man nur erkennen aus der ganzen kosmischen Ordnung heraus. Denn Gedächtnis hängt zusammen mit Außerirdischem, Inteffigenz hängt zusammen mit Außerirdischem, Sinnestätigkeit hängt zusammen mit Außerirdischem. Fühlen ist erst etwas, was, nachdem die Erde nicht mehr sein wird, das sein wird, was es werden soll; Begehren und Wollen ebenso in einer noch ferneren Zukunft. So wie man, um Physiker zu sein, die einfache Tatsache der Wärmelehre des Organismus, die einfache Tatsache der Akustik kennen muß, so muß man, um heute mitzureden, und es müssen möglichst viele Menschen mitreden mit Bezug auf soziale Tatsachen, muß man eingehen auf die einfachen elementaren Zusammenhänge zwischen dem Menschenwesen und der Welt, denn dasjenige, was sozial begründet wird, das trägt der Mensch in die soziale Ordiiung. Der Mensch aber trägt hier in seiner eigenen Wesenheit das ganze Weltenall herein. Darum steht es auch schlimm um jene Schwätzer, welche aus allerlei alten Überlieferungen heraus davon reden, der Mensch ist ein Mikrokosmos, eine kleine Welt gegenüber dem Makrokosmos, und die bei diesen Abstraktionen bleiben. Ein wirkliches Recht, von Makrokosmos und Mikrokosmos zu reden, hat erst der, der da weiß, es hat einstmals Vorfahren des Menschen als Mondenmenschen gegeben,

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die hatten traurnhafte Imaginationen. Der Mond ist vergangen, die Erde Ist geworden. Aus dem, was nicht mehr da ist, was aber einmal dagewesen Ist, ist das menschliche Gedächtnis entstanden. Das hat keinen Erdenursprung. Erdenursprung hat nur das menschliche Ich und sein Ansdruck, der gegenwartige physische menschliche Körper mit seiner Gestalt. Im Konkreten fassen muß man das, was man sonst kein Recht hat, bloß einen Mikrokosmos zu nennen.

Meine lieben Freunde, aufgeholfen werden kann der dekadenten Zivilisation nur, wenn endlich eingesehen wird, daß vom Menschen als einem kosmischen Wesen gesprochen werden muß von denjenigen Anstalten aus, in denen heute Philosophie gelehrt wird als eine bloße Summe von ausgepreßten Abstraktionen. Dasjenige, was geworden ist aus der abstrahierenden, aus der bloß abstrahierenden Menschlieit, das erscheint nur in Symptomen in solchen Philosophien, wie die des Amerikaners William James, des Engländers Spencer, des Franzosen Bergson oder des Deutschen, Königsbergschen Kant. Diese Abstraktionen, die verhüllen der Menschheit dasjenige, was sie ist. Aber die lebendige Erkenntnis des Geistigen, die durch Geisteswissenschaft angestrebt werden soll, die kann den Menschen zur Selbsterkenntnis bringen.

Davon dann morgen weiter.

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FÜNFZEHNTER VORTRAG Dornach, 15. Februar 1920

Gestern und vorgestern versuchte ich auszuführen, wie notwendig es ist, daß für die zukünftige Entwickelung der Menschheit die Menschen zu einer wirklichen Selbsterkenntnis, das heißt zu einer Erkenntnis des Menschentums kommen, wie es aber unmöglich ist, zu einer Erkenntnis des Menschentums zu kommen, ohne daß man wiederum die Verbindung finde der Menschenwesenheit mit den außerirdischen Welten. Von dem, was der Mensch in seiner Wesenlieit durch seinen Lebensweg mit sich führt, ist ja die physische Organisation nur der kleinste Teil. Aber nur diese physische Organisation, so wie sie heute der Mensch an sich trägt, ist ja im Grunde genommen Erdenprodukt. Dasjenige, was sonst zum Wesen des Menschen gehört, ist in dem Sinne nicht Erdenprodukt, wie ich es in diesen beiden Vorträgen wiederum von eInem gewissen Gesichtspunkte aus auseinandergesetzt habe.

Nun deutet aber schon die gegenwärtige physische Menschenorganisation darauf hin, daß der Mensch als solcher ein Wesen ist, das über die unmittelbare Gegenwart hinausweist. Zwar deutet die physische Organisation durchaus auf Irdisches hin, allein im Irdischen wiederum weist uns des Menschen physische Organisation über den unmittelbar gegenwärtigen weltgeschichtlichen Augenblick in die Vergangenlieit und in die Zukunft. Wir haben unter den Fähigkeiten des Menschen hervorzuheben gehabt erkenntnisartige Fähigkeiten: Sinnestätigkeit, Intelligenz, Erinnerungsfähigkeit, und wir haben hervorzuheben gehabt Fühlen, Begehren und Wollen: Fähigkeiten, die mehr begierdenartiger Natur sind.

Nun müssen wir, wenn wir uns fragen: Was muß der Mensch haben in seiner physischen Organisation, damit er erkenntnisartige Fähigkeiten entwickeln könne? - unseren Blick richten auf die menschliche Hauptesorganisation und alles, was damit zusammenliängt. Es ist eben durchaus nur in der Art, wie ich es auseinandergesetzt habe gestern und vorgestern - aber doch eben in der Art -, die Hauptesorganisation notwendig, um für das Ich, für das irdische Menschenbewußtsein die

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erkennenden Fähigkeiten zu entwickeln. Es ist uirrichtig, wenn man glaubt, daß das Auge durchaus der Hervorbringer der Sehempfindung ist; aber es ist richtig, wenn man weiß, daß das Auge der Vermittler der Sehempfindung für das Ich-Bewußtsein ist. Und das gilt ebenso für die andern, namentlich die höheren Sinne.

In dieser Art und mit maimigfaltigen Varianten ist die menschliche Leibesorganisation hiiiweisend auf Irdisches; aber sie weist zugleich über den gegenwärtigen Augenblick hinweg, so daß wir sagen können: Der Mensch, wie wir ihn vor uns haben nach seiner Hauptesorganisation, weist nach dem vorigen Erdeiileben. - Wie unsere Intelligenz nach dem fernen, ui,fernen vergangenen Sounenleben weist, so weist unsere gegenwärtige physische Hauptesorganisation mit der irdischen Artung der Erkenntnisfähigkeiten, das heißt für die Hinorganisierung der Erkeuntnisfäbigkeiten auf das Ich-Bewußtsein, zurück in unseren früheren Erdenlauf. Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, was das menschliche Haupt eigentlich ist. Schematisch können Sie sich folgendes

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sagen: Der Mensch besteht aus dem Haupte und aus der übrigen Organisation. - Sagen wir (siehe Zeichnung), das ist der jetzige Lebenslauf (Mitte), das ist der vorige Lebenslauf (lisiks), das ist der folgende Lebenslauf (rechts). So können wir sagen: Das Haupt unseres gegenwärtigen Lebenslaufes ist entstanden durch Metamorphose unserer übrigen Leibesorganisation im vorhergehenden Lebenslauf, und unseren Kopf

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vom vorigen Lebenslauf haben wir verloren. - Natürlich verstehe ich da nicht - das ist ja handgreiflich - die physische Organisation, sondern die Kräfte, die Fornlkräfte, die die physische Organisation wirklich hat. Dasjenige, was wir außer der Hauptesorganisation, der Trägerin der Erkenntnisfähigkeiten für das Ich, jetzt an uns tragen als übrige Menschenorganisation, Rumpf mit Gliedmaßen, das wird Hauptesorganisation unseres künftigen Erdenlebens.

Sie alle tragen schon die Kräfte in sich, welche im Haupte konzentriert sein werden in Ihrem späteren Erdenleben. Was Sie heute mit Ihren Armen vollbringen, was Sie mit Ihren Beinen vollbringen, das wird eingehen in die innere Organisation des Hauptes in Ihrem nächsten Erdenleben.Und was an Kräften von Ihrem Haupte im nächsten Erden- leben ausströmt, das wird Ihr Karma, Ihr Schicksal für das nächste Erdenleben sein. Aber das, was da Ihr Schicksal im nächsten Erdenleben sein wird, das wandert auf dem Umwege durch Ihre übrige Organisation, durch die Sie sich hineinstellen ins Menschenleben heute, in Ihr künftiges Hauptesleben hinüber.

Wenn Sie heute, sagen wir, durch einen Erdengang liebevoll sich verhalten zu einem andern Menschen, so ist das etwas, was Ihr außerkopflicher Organismus ausgeführt hat. Das wird eine Kopfeskraft, die Ihr Schicksal bewirkt in Ihrem nächsten Erdenleben. So also weist unser Haupt mit seinen Fähigkeiten immer in den früheren Erdenlebenslauf hinüber, namentlich in die Gliedmaßenorganisation. Der Mensch unterliegt dieser großen Metamorphose. Sein Haupt ist ein metamorphosierter Organismus aus der vorhergehenden Inkarnation, und seine gegenwärtige Rumpfes- und namentlich Gliedmaßenorganisation liegt der Organisation des Hauptes in dem nächsten Erdenleben zugrunde.

Das ist durchaus etwas, was in gewissem Sinne eine praktische Bedeutung im Zusammenleben der Menschen gewinnen muß. Denn wenn der Mensch sich so eingegliedert weiß in die Menschheitsentwickelung, dann fühlt er sich in der richtigen Weise erst in diesem Erdenleben drinnenstehend> und er wird manches begreifen, was sonst unverständlich Ist. Wir leben jetzt, wie ich das oftmals auseinandergesetzt habe, im fünften nachatlantischen Zeitraume. Er hat begonnen in der Mitte des 15. Jahrhunderts, das heißt, in der Mitte des 15. Jahrhunderts waren

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Tafel 14

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für die europäische Zivilisation mit ihrem amerikanischen Anhange, soweit als er später entstanden ist, neue Bedingungen des Daseins gegeben. Aber es sind bis jetzt nicht die Folgen dieser neuen Bedingungen des Daseins eingetreten. Die Menschheit der zivilisierten Länder lebt vielfach in Gewohnheiten, sogar in Gedankengewohnheiten, welche mehr dem früheren, dem vierten nachatlantischen Zeitraume entsprechen.Wir haben gerade unsere Intelligenz unterrichtet nicht in den Dingen, die der Gegenwart angehören, sondern wir haben sie Lateinisch und Griechisch lernen lassen und so weiter. Ein Grieche würde in dieser Beziehung andere Anschauungen gehabt haben. Er hätte für diejenige Zeit, in der die Blüte der griechischen Kultur aufgetreten ist, ein sonderbares Gesicht gemacht, wenn man seinen Knaben nicht Griechisch gelehrt hätte, sondern Ägyptisch oder Persisch oder dergleichen. Aber die Zeit ist vorüber, in welcher dies sein darf, in der wir noch hängen dürfen an den Überbleibseln der griechisch-lateinischen Zeit. Die Menschen nämlich, die nach der Mitte des 15. Jahrhunderts geboren sind, sind ja alle Wiedergeburten im wesentlichen derjenigen physischen Erdenmenschen, die im griechisch-lateinischen Zeitraume gelebt haben. Was haben sie sich da mitgebracht, diese Menschen? Die Köpfe derjenigen Leiber, die sie im griechisch-lateinischen Zeitraum gehabt haben. Wenn also jemand geboren worden ist, sagen wir im 16., 17. Jahrhundert, so kam er ja mit einem Kopfe auf die Welt, das heißt mit Erkeuntnisfähigkeiten, insofern der Kopf der Vermittler der Erkeuntnisfähigkeiten für das Ich- Bewußtsein ist, der aus seinem Leibe entstanden ist aus der griechisch- lateinischen Zeit Daher kam er noch mit Neigungen zur Welt, die aus dieser griechisch-lateinischen Zeit stammten. Aber das ist jetzt zum Teil schon erschöpft oder ist im Erschöpfen. Es werden sehr bald nicht mehr viele Menschen geboren mit Köpfen von dorther, sondern es werden immer mehr und mehr Menschen geboren, welche ihre frühere Verkörperung schon im fünften nachatlantischen Zeitraum hatten, nicht alle, aber viele, namentlich diejenigen, die tonangebend sind, oder wenigstens solche, die gegen Ende des vierten nachatlantischen Zeitraumes mit schon ganz andern Verrichtungen ihres Leibes lebten als diejenigen in der Blüte des vierten nachatlantischen Zeitraumes.

Das also kommt in Betracht, wenn man sich mit vollem Bewußtsein

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hineinstellen will in die Menschheitsentwickelung, daß man weiß: Du hast deinen Kopf von deiner früheren Erdeninkarnation, und du hast deinen Leib, damit du dir einen späteren Kopf für die folgende Erdeninkarnation vorbereitest. - Und eine Zeit muß kommen, wo das mangelnde Bewußtsein dieses Zusammeiihanges mit vorhergehender und nächstfolgender Inkarnation bei den Menschen ebenso ein Zeichen von Blödigkeit ist, wie es Blödigkeit wäre, wenn einer nicht wüßte, wie alt er wäre, wenn einer glaubte, er sei erst vorige Woche geboren worden, trotzdem er schon ein erwachsener Mensch ist, oder wenn er glaubte oder glauben gemacht würde, wenn er ein zehnjähriger Junge ist, er würde immer ein zehnjähriger Junge bleiben, er würde nicht eiiimal ein alter Mann werden. Heute lebt der Mensch nur egoistisch in seinem einen Erdenieben. Höchstens glaubt er, daß es eine Anzahl Erdenieben gibt, aber es wird Glaube, es wird nicht praktische Lebensweisheit, wie dieses Sich-hineingestellt-Fühlen zwischen den Inkarnationen sein muß; wie es praktische Lebensweisheit sein muß, wenn man vIerzig Jahre alt geworden ist, daß man weiß, dieses Vierzigjährige ist die Fortsetzung der Kindheit und Jugendzeit und ist der Anfang des Alt- und Greisenhaftwerdens. Ausdehnen muß sich dasjenige, was das menschliche Bewußtsein umfaßt. Es wird sich nicht ausdehnen in lebendiger Art, wenn es nicht befruchtet wird durch Erkenntnisse aus der Geistes- wissenschaft. Sonst bleibt es ein bloßer abstrakter Glaube, sonst bleibt es dabei, daß die Leute sagen: Ja, ich weiß, ich war schon unzählige Male auf der Erde, und ich werde unzählige Male wiederum auf die Erde kommen. - Aber dieser Glaube macht nichts aus; erst das lebendige Sich- drinnen-Fühlen in der Menschheitsentwickelung, das Fühlen: Mit deinem Haupte bist du eigentlich ein recht alter Kerl, denn das ist nur der ausgewachsene Leib der früheren Inkarnation, mit deiner übrigen Leibesorganisation bist du ein Baby, denn das wächst erst aus zum reifen Haupte in der nächsten Inkarnation, - dieses Fühlen des Menschen als eine wirkliche Zweiheit, die in die Zeit hineingestellt ist, das Ist etwas, was ein Bestandteil des lebendigen Bewußtseins werden muß. Und so, wie man heute versucht, aus allerlei Schädelmessungen und ährdichem interessantem Zeug festzustellen, wie sich die einzelnen Menschen, Menschenvölker, Menschenrassen auf der Erde unterscheiden, so

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wird man in der Zukunft nach seelisch-geistigen Erkenntnissen, die aber nicht gewonnen werden können ohne solche Grundlagen, wie wir sie in diesen Tagen entwickelt haben, die Menschen, die die Erde bewohnen, in ihrer Differenzierung erkennen müssen. Man wird namentlich fragen müssen nach den geistig-seelischen Eigentümlichkeiten der über die Erde zerstreuten Menschheit. Und nicht eher kann Heil kommen, bis namentlich unsere Universitätswissenschaften ganz und gar durchdrungen werden von einer solchen Gesinnung und Auffassung, wie wir sie in diesen Tagen kennengelernt haben. Unsere Universitäten werden die Menschheit in den Niedergang hineinreiten, wenn sie nicht befruchtet werden in allen ihren Teilen von jenem kosmischen Wissen, das allein heute durch die Geisteswissenschaft zu gewinnen ist. Ebenso müssen die religiösen Empfindungen der Menschen in der Zukunft getragen werden von dem, was der Mensch wissen kann über das Geistig-Seelische. Anders kommen wir nicht mehr weiter. Denn man wird sich an- gewöhnen, wenn man nur überhaupt den Blick richtet auf das GeistigSeelische, die Menschengruppen über die Erde hin zu charakterisieren nach den ihnen eigentümlichen seelisch-geistigen Eigenschaften, nicht bloß nach den physischen Eigenschaften, wie man es in der heutigen Anthropologie vielfach tut. Anthroposophie muß an die Stelle der bloßen Anthropologie treten. Aber die Sache hat ein sehr ernstes, praktisches Gesicht. Gewisse Dinge, die sich abspielen in der Gegenwart, die zugrunde liegen den ernsten Ereignissen dieser Gegenwart, sind gar nicht zu durchschauen, wenn man nicht die Möglichkeit hat, auf die geistigen Qualitäten der Glieder der Menschheit sein Augenmerk zu richten. Und da möchte ich auf etwas aufmerksam machen, auf das aufmerksam zu machen mir außerordentlich wichtig erscheint.

Gutmeinende Menschen haben während dieser furchtbaren Kriegsereignisse öfter eines für Europa betont, und eigentlich hat dieses eine für Europa schon 1870 Ernest Renan, der französische Beschreiber des «Lebens Jesu» und der Apostel, betont; während dieser Kriegszeit ist es vielfach wiederholt worden. Renan hat gesagt, für das Heil Europas sei absolut notwendig, daß ein Zusammengehen eintrete, ein friedfertiges Zusammengehen zwischen der französischen Nation, dem englischen Staate und dem deutschen Volke. Insbesondere ist dieses oftmals

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während der Kriegszeit von Leuten, die sich nicht haben betören lassen durch dasjenige, was offiziell als Meinung befohlen war oder was durch für diese oder jene Sache interessierte Leute als Meinung verbreitet worden ist, von vielen wohlmeinenden und unbefangenen Menschen ist das betont worden. Nun kann man aber sagen: Die Entwickelung Europas war in den letzten Jahrzehnten so, daß sie durchaus widerstrebt dem, was einsichtige Menschen als eine Grundbedingung des Fortganges der Zivilisation in Europa ansehen mußten. Ohne dieses friedfertige Zusammenwirken - so sagten diese unbefangenen Menschen - könne es in Europa nicht weitergehen. Aber zu diesem friedfertigen Zusammen- wirken ist es niemals in den letzten Jahren wirklich gekommen; höchstens ist ein Schein eines solchen friedfertigen Zusammenwirkens entstanden.

Nun kann man ja schon, wenn man äußerlich - aber äußerlich auch mit einem Sinn, das Geistig-Seelische zu prüfen - die europäischen Verhältnisse ins Auge faßt, hinschauen auf dasjenige, worinnen sich diese drei Menschheitsglieder wesentlich differenzieren. Da müssen wir nicht vergessen, daß seit den Zeiten, seit sich gegen den Beginn der fünften nachatlantischen Periode und dann während des Ablaufes desjenigen Teiles der fünften Epoche, der eben schon abgelaufen ist, Europa entwickelte, sich die französische Nation immer mehr und mehr zu einer einheitlichen Nation gestaltete, deren Glieder sich als einheitliche Nation fühlten. Man möchte sagen: Alles Seelenleben der französischen Nation ging darauf hin, sich als einheitliche Nation zu fühlen, im Bewußtsein etwas zu tragen von dem: Ich bin ein Franzose. - Man kann studieren, wie das im Laufe der Jahrhunderte nach und nach geworden ist, was in die vier Worte zusammengefaßt wird: Ich bin ein Franzose. - Wenn man auf so etwas aufmerksam ist, wie sich das entwickelt: Ich bin ein Franzose! - so muß man hinschauen auf die Parallelerscheinung innerhalb der deutschen Entwickelung. Nicht in gleicher Weise hat sich zum Beispiel etwas entwickelt, was man innerhalb des jetzt zugrunde gegangenen Deutschen Reiches ausdrücken kann oder immer ausdrükken konnte mit: Ich bin ein Deutscher! - Mit voller Intensität auszusprechen: Ich bin ein Deutscher! - hat bis zum Jahre 1848 bedeutet, daß man eingesperrt worden ist, daß man eingekerkert worden ist. Es war

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das schtiriimste politische Verbrechen. Die Leute haben es vergessen. Es war das schlirnmste politische Verbrechen, sich als ein Deutscher zu fühlen. Denn in diesem Deutschland hat das Territorialfürstentum alles überflutet, und es war verboten, innerlich verboten als Gesinnung, das Teiritorium, das bewohnt ist von Deutschen, als eine Einheit aufzufassen. Erst im Jahre 1848 ist bei einigen Leuten die Idee entstanden, man könne diejenigen, die zum deutschen Volke gehören, irgendwie als eine Einheit betrachten. Aber da wurde es noch immer als etwas Ketzensches, es wurde wie ketzerisch betrachtet. Und dann ist es so gewesen, daß eigentlich nur die Leute, die historisch mit der Entwickelung des deutschen Volkes verknüpft waren, es empfunden haben als etwas ganz Intimes, daß sie das als ihre Intimität angesehen haben. Lesen Sie nach, wie solche Menschen, die wahrhaftig über solche Dinge nachgedacht und auch gesprochen haben, wie Hernian Grimm, zurückschauten auf ihre eigene Jugend, die noch hineirifiel in die Jahre vor den fünfziger Jahren, wie die es schildern, daß sie keine Möglichkeit hatten, irgendwie das Urteil des Gefühls, das Gemütsurteil zu äußern: Ich bin ein Deutscher. - Da liegt eine gewaltige Differenz vor. Aber betrachten Sie diese gewaltige Differenz innerlich. Betrachten Sie eiiimal die Tatsache, daß, trotzdem es ein politisches und ein Polizeiverbrechen war noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sich einen Deutschen zu nennen, damals schon längst die einheitliche geistige Kultur Deutschlands fertig war. Der GoetheanismUs mit alledem, was zu ihm gehörte, war da; man las zwar Goethe nicht, aber er hatte gewirkt; man verstand zwar Goethe nicht, aber er hatte großartige Sachen gesagt für alle Deutschen. Aber diese «alle Deutschen» duiften niemals für das äußere Leben gestehen, daß sie irgendwie zusamrnengehörten. Wenigstens durfte das kein auf Realität Anspruch machender Gedanke sein, das heißt, es lebte im deutschen Volke etwas wie in den Untergründen des Bewußtseins, was ja keine äußere politische Realität hatte. Das Franzosentum hat in seiner historischen Entwickelung durchgemacht, daß alles dasjenige, was es innerlich empfunden hat, was seine Einheit ausmachte, äußere Staatsrealltät wurde. In Deutschland widersprach alles, was an äußeren Institutionen vorhanden war, demjenigen, was als innere Geistigkeit in diesem deutschen Volke gelebt hatte. Das ist eine ganz bedeutende

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Differenzierung, die es gibt zwischen Mitteleuropa und Westeuropa. Wenn Sie das nehmen und wenn man diese Dinge in den Einzelheiten schildern würde, dann würde man erst Geschichte des 19. Jahrhunderts bekommen. Und wenn diese Dinge in den Einzelheiten leben würden in den europäischen Gemütern, die doch auf Zusammenleben und Zusammenempfinden angewiesen sind, dann würden sehr bald jene Schreckensgefühle, die in den heutigen Niedergang hineingeführt haben, aufhören. Aber man wird solche Gefühle internationaler Art nicht entwickeln können, ohne daß man den Menschen in seiner Ganzheit als Wesen betrachtet und weiß, ihn anzusehen auch in bezug auf seine Erkenntnis und auf seine Begierdenfähigkeit; denn erst die Hin1enkung des menschlichen Bewußtseins auf diese Geheimnisse der Menschenweseriheit macht einen aufmerksam darauf, daß man solche Betrachtungen anstellen soll. Denn diese Betrachtungen, die wir jetzt angestellt haben, die lehren dann erst das Richtige, das, worauf es ankommt. Warum ist denn das französische Volk eine so kompakte Masse geworden, wonnnen sIch jeder als Franzose fühlt, wie es dem Deutschen verboten war, bis dann das Deutsche Reich Bismarckscher Färbung entstanden ist? Woran liegt denn das? Das liegt daran, daß eine Fortsetzung gefunden hat das alte lateinisch-romanische Wesen in Frankreich, dasjenige Wesen, das ich Ihnen hier vor Wochen geschildert habe als dasjenige, das vorzugsweise das juristisch-staatliche Wesen ist. Von Ägypten herauf über das Römerttim ist ins Lateinische herein das staatlich-juristische Wesen gekommen. Das hat das französische Volk übernommen. Kein Volk der Erde versteht aus seinen Empfindungen heraus besser, was Juristentum ist, was Staatstum ist, als das französische Volk. Wird man aber einmal richtig die Wege finden, um durchzudringen durch jenes, man möchte sagen, Bedrückende, was die deutsche Entwickelung auch noch im 19. Jahrhundert hat, dieses Widersprechende der äußeren Staatsentwickelung, die notwendig machte, daß man eingespeIrt wurde, wenn man sich als Deutscher fühlte und nicht als Preuße, nicht als Württemberger, nicht als Bayer oder als Österreicher, sieht man genau hin auf dasjenige, was alles damit zusammenhängt, und studiert man es konkret in den Einzelheiten, studiert man wirklich nicht so, wie die gewissen1ose Schul-Tradition heute es dem Menschen

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einbleut, was von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert deutsches Geistesleben geworden ist, studiert man, wie hineinfließt dasjenige, was Goetheanismus ist, in die großen Geister, die gar nicht mehr genannt werden, während die Geistesantipoden als Große gefeiert werden, studiert man, wie hineinfließt der Goetheanismus in Menschen wie Troxler, wie Schubert und so weiter, dann findet man heraus, daß gerade die Talentlosigkeit für das Staatswesen, die Schläfrigkeit für das Staatswesen, die Gefahr, eingesperrt zu werden, wenn man Staatsbürger deutscher Färbung sein wollte, nun das deutsche Volk prädestinierte, einmal ein gutes Verständnis zu entwickeln für das Spirituelle, für das Geistesleben. Es ist zunächst nur zUrückgeschlagen durch die industrielle, kommerzielle Entwickelung seit den siebziger Jahren. Die hat in Deutschland gründlich mit dem deutschen Geiste aufgeräumt, die hat als Invasion von auswärts alles das, was an Geistigkeit da war, hin- weggenommen. Goetheanismus ist vergessen worden. Daß ein Geist wie Leibniz zum Beispiel unter den Deutschen gelebt hat, das müßten die Gyinnasiasten besser wissen, als daß sie wissen, was Cicero geschrieben hat, aber sie wissen kaum, daß Leibniz gelebt hat.

Das sind Dinge, die in Betracht kommen und die tiefer sitzen als alles dasjenige, was man heute aiiführt für die Differenzierung der europäischen Mitte von dem europäischen Westen. Und wenn man davon spricht, daß Friedensbestrebungen sein sollten zwischen der europäischen Mitte und dem europäischen Westen, so muß man sich klar darüber sein, daß die ganze geschichtliche Entwickelung zeigt, solch ein Frieden kann nur zustande kommen> wenn die Deutschen selber fühlen: Sie sind nicht veraIilagt für das äußere juristische staatliche Leben, sie sind veranlagt, spirituelles Leben zu pflegen. - Aber man muß es ihnen möglich machen; heute ist es ihnen unmöglich gemacht, heute haben sie auch keine Verantwortung mehr dafür. Man muß wissen, daß das eigentliche Staatsvolk das französische Volk ist, weil es am besten versteht, wie sich der einzelne Mensch als Staatsbürger fühlt. So haben wir verteilt über die hauptsächlichste Zivilisation von Europa das geistige Leben und das Rechts- und Staatsleben. Diese Dinge sind zugleich, ich möchte sagen, unter die Völker als Gaben ausgeteilt. Und das Wirtschaftsleben, das eigentliche Gebiet der neueren Entwickelung

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der Menschheit, das ist an das englisch-amerikanische Volk gegeben. Alles dasjenige, was zum Verständnis des Wirtschaftslebens gehört, hat daher seinen besten Gedanken gefunden innerhalb Englands und Amerikas. Vom Wirtschaften verstehen die Franzosen nichts, sie sind besser Bankiers. Vom Wirtschaften haben die Deutschen von jeher nichts verstanden, sie haben auch kein Talent dazu. Und wenn sie versucht haben, in den letzten Jahrzehnten zu wirtschaften in der Art, daß sie immer von Aufschwung sprachen und vom «Platz an der Sonne» oder einer ähsilichen Phrase, dann bedeutete das, daß sie etwas sprachen, was gänzlich außerhalb ihrer Talente lag und wodurch sie gerade das deutsche Wesen in Grund und Boden schlugen. Denn selbst alles dasjenige, was auftauchte als wirtschaftlicher Parlamentarismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist von England ausgegangen. Bis nach Ungarn hinein sind diejenigen, die im wirtschaftlichen Sinne gute Parlamentarier waren, Schüler Englands. Wenn Sie sich ansehen, welche Leute es in den Parlamenten am besten zum «Parlamentarismus» gebracht haben, wie etwa eine Zeitlang im österreichischen Parlament, besonders lange aber im ungarischen Parlament, und wenn Sie sich anschauen, wo diese Leute gelernt haben, dann werden Sie sehen: In England haben sie gelernt den wirtschaftlichen Parlamentarismus. - Und wenn Sie fragen: Woher ist die deutsche Sozialdemokratie gekommen? - dann werden Sie finden: Marx und Engels haben erst müssen nach England gehen, um an den englischen wirtschaftlichen Verhältnissen das auszukochen, was dann theoretisiert ins deutsche Geistesleben aufgenommen> bis in die Konsequenzen durchgearbeitet worden ist. - Und wo sind die allerersten Wurzeln des Leninismus und Trotzkijisrnw? Die sind bei den englischen Wirtschaftsgedariken; nur daß die Engländer sich hüten werden, diese ihre Wirtschaftsgedanken bis In die Ieuten Konsequenzen auszudenken.

So stehen diese drei Gebiete, von denen ich öfters schon gesagt habe, sie müssen sich miteinander vertragen, in dem Verhältnis einer Dreigliederung - deutsch: geistig; französisch: staatlich-juristisch; englisch: wirtschaftlich. Wie wird man eine Möglichkeit des internationalen Zusammenwirkens finden können? Dadurch, daß man die Dreigliederung über alle diese Gebiete ausgießt. Denn dann wird das, wozu der eine

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talentiert ist, auf den andern übergehen können, sonst auf keinem Wege. Das ist der geschichtliche Antrieb. So müßte eigentlich Geschichte vor allem des 19. Jahrhunderts studiert werden.

Geschichte kann man nicht studieren, wenn man nur das gelehrt bekommt, was in den heutigen Schulen gelehrt wird. Diese Geschichte ist nur zum Vergessen da, denn man kann nichts mit ihr anfangen im Leben. Geschichtsunterricht hat nur einen Sinn, wenn man mit ihm im Leben etwas anfangen kann. Aber man wird einen solchen Geschichtsunterricht nur ausgestalten, wenn man das ganze Wesen des Menschen durchschaut. Und so ist es mit den andern Zweigen unserer heutigen höheren Bildung. Die Art und Weise, wie diese heute an den Universitäten gepflegt werden, führt in den Untergang hinein. Hinaufführen zu einem neuen Anfang kann nur die Befruchtung durch Geisteswissenschaft. Dasjenige, was heute geschehen soll, ist nämlich tatsächlich schon in den historischen Verhältnissen vorbereitet. Aber glauben Sie nicht, daß diese historischen Verhältnisse jemand richtig ansieht, der nicht zuerst so viel Anthroposophie kennt, daß er zum Beispiel so etwas wIe diese drei «schönen» Figuren (Zeichnung S. 229) in ihrer gegenseiti- ~ gen Beziehung keuneniernt oder dasjenige keunenIernt, was wir gestern i und vorgestern hier entwickelt haben. Denn nur dadurch, daß man sich bis zu solchen Gedanken aufschwingt, betrachtet man dann das andere in seiner tieferen Wesenheit. Sonst hat man kein Interesse für dieses andere, sonst befriedigt man sich eben mit dem, was einem die Schulwissenschaft gibt. Und wenn man sich befriedigt mit dem, was einem die Schulwissenschaft gibt, dann ist man eben genötigt, bei denjenigen Dingen seine freie Zeit zu verwenden, bei denen die heutigen Leute ihre freie Zeit verwenden.

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Solche Dinge sollten heute wahrhaftig weit und breit bekannt werden, damit sich eine genügend große Anzahl von Menschen fände, welche Verständnis haben für diese Dinge. Denn heute kann es sich wirklich um nichts anderes handeln, als daß sich eben eine genügend große Anzahl von Menschen findet, die zunächst Verständnis haben für solche Dinge. Bevor sich nicht eine genügend große Anzahl von Menschen findet, die Verständnis haben für solche Dinge, kann ja mit diesen Dingen nichts angefangen werden. Man kann nicht gleich an

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Institutionen gehen, man kann nicht gleich neue Einrichtungen pflegen, sondern es handelt sich darum, daß möglichst viele Menschen sich finden, in deren Erkenntnisfähigkeiten diese Dinge drinnensitzen, dann wird man mit diesen Menschen Institutionen bilden können. Dann aber werden auch die entgegengesetzten Mächte nimmermehr widerstreben können.

Heute entdeckt man Merkwürdiges, wenn man auf das hinsieht, was sich die Menschen an Gedanken machen über das europäische Leben, über die Art und Weise, wie dieses europäische Leben von Mensch zu Mensch sich abspielen soll. Ich muß Ihnen immer die Einzelheiten desjenigen, was sich abspielt, ein bißchen mitteilen. Ich möchte Ihnen heute nur ein kleines Pröbchen einfügen wiederum in dasjenige, was wir als wichtige Angelegenheiten zu betrachten hatten. Monsieur Ferrie`re, von dem ich Ihnen erzählt habe, daß er die Verleumdung weitergetragen hat, ich wäre der Ratgeber gewesen des ehemaligen deutschen Kaisers, wäre sogar der «Rasputin» des deutschen Kaisers und dergleichen, dem ist von Dr. Boos heimgeleuchtet worden in einem «Offenen Brief», und ich habe in einem Einschiebsel in diesen Brief von Dr. Boos auch an- geführt, was ich hier einmal über meine Beziehungen - eigentlich Nichtbeziehungen - zum deutschen Kaiser ausgeführt habe. Nun mußte der Mann gestehen, daß er gelogen hat. Aber er gesteht das auf eine höchst eigentümliche Weise, und diese Weise ist charakteristisch. Ich werde mich bemühen, möglichst deutlich die französischen Sätze im Deutschen wiederzugeben. Ich gebe sie eigentlich ganz gern in deutsch wieder, denn sie werden dadurch einen gewissen Charakter, den ich ihnen gern geben möchte, erst erhalten. Nach dem Brief von Dr. Boos steht also hier: «Wir [die Schriftleitung] haben den obigen Brief von Dr. Roman Boos unserem Korrespondenten mitgeteilt» - das ist also der Herr Ferrie`re -, «der uns folgendes antwortet: - er meint diejenigen, die die germanischen Augen haben - ,nehmen alles seriös. Aber meine Leser, sie, sie haben sich nicht beirren lassen! Mein Artikel enthält Spaßigkeiten - de la plaisanterie - aber keine Böswillig

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keiten - mechancetes. - Und wenn ich schlecht unterrichtet war - ich erkläre dies als meine Schuld, in der Überzeugung, daß mein Gesprächspartner es mir nicht übelnehmen wird.> - Elegant - es wird vorausgesetzt, ! - »

Also ein Mann ist imstande> mit einer solchen Nichtsnutzigkeit sich zu entschuldigen, nachdem er nicht bloß gelogen, sondern in der übelsten Weise verleumdet hat. Aber man setzt sich der Gefahr aus, daß man wieder «klobig» genommen wird, wenn man die Dinge so «seriös» nm1mt, wenn man behauptet, daß Verleumden nicht eine «plaisanterie»> sondern eine «me`chancete`» ist.

Dann heißt es weiter, und nun kommt etwas ganz besonders Schönes: «»

Niedlich, nicht wahr? - sehr niedlich! Er hätte den schönsten Artikel geschrieben, zum Lob, wenn man ihm nicht heimgeleuchtet hätte! Aber ich kann mich trotzdem nicht zu der Meinung aufschwingen, daß das just die Eigenschaft der lateinischen Rasse ist (vergleiche oben «germanisch»), denn es würde doch etwas beleidigend sein, wenn man Lüge und Verleumdung in der lateinischen Rasse als etwas elegant Löbliches, was nur «plaisanterie» ist, auffassen würde. Eigentürnlichkeit der Lateinischen Rasse kann das doch nicht sein ... Nun sagt der Herr weIter:

«

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irrtümlichen Behauptungen zurück und ich schließe daraus, daß die Gerüchte, welche umiaufen, auch wenn sie aus mehreren verschiedenen Milieus kommen und von Leuten, von welchen man das Recht hat zu glauben, daß sie gut informiert sind, falsch sein können. Ich nehme Akt davon.>»

Also erstens ist der Mann so naiv, daß er glaubt, er müsse alle Gerüchte glauben, die so herumiaufen, denn er nimmt jetzt erst Akt davon, zweitens aber - ja, man setzt sich wiederum der Gefahr aus, daß man «klobig» ist in seiner Auffassung oder, wie Ferrie`re sagt, «germanisch»: Versucht man solche «eleganten» Gedanken einmal durchzudenken - es geht nicht, denn, nicht wahr, man darf es ja offenbar nicht, sonst gehört man zu denjenigen Leuten, von denen hier gesagt wird: «Vraiment, ces gens-la` preunent tout au se`rieux.» Aber man kann halt nicht anders, man frägt sich doch: der Mann nimmt also Akt davon, daß man nicht glauben solle alle Gerüchte, die so umlaufen; aber wenn die Leute so sind, wie er, dann sind sie ja gerade diejenigen, welche am allermeisten in die verschiedensten Milieus die Gerüchte hineinbringen. Nur, man darf nicht hinter den Worten gleich den Gedanken suchen bei solchen Leuten.

Sie sehen gerade aus solch einem Dokument, daß es sich wahrlich nicht darum handeln kann, solchen Leuten Räson beizubringen. Man hat nur das andere Publikum darauf aufmerksam zu machen, was für schmähliche Menschen herumlaufen in der Welt und Artikel schreiben und verleumden. Denn es handelt sich gar nicht darum, diese Leute zu widerlegen, sondern lediglich sie unschädlich zu machen, denn daß diese Menschen existieren> das ist der Schaden.

Wir gehen immer mehr und mehr, wenn nichts von seiten spiritueller Weisheit geschieht, in rasender Eile derjenigen Zeit entgegen, in der solche Gesinnung sich immer mehr und mehr ausbreitet. Denn schließlich werden die Materialisten aller Färbungen und aller Milieus immer mehr und mehr sagen von denjenigen, die die Dinge geistig nehmen: Ach, diese Leute, ja wahrhaftig, sie nehmen alles so seriös! - Es wird schon bald seriös sein, überhaupt noch vom Geiste zu sprechen. Seriös ist es ja auch; aber seriös soll man ja nicht sein! Solange solche Gesinnung sich ausbreitet - und sie breitet sich aus -, so lange wird kein

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Boden sein für eine Besserung in Europa. Das sind die Menschen, die Europa so zugerichtet haben. Aber arbeiten müssen wir, daß eine genügend große Anzahl von Menschen Verständnis gewinnt dafür, daß es anders werde. Das sollte heute schon wirklich wenigstens denjenigen einieuchten, die irgendwie geisteswissenschaftlichen Bestrebungen nahegekommen sind.

Nächsten Freitag werde ich insbesondere über die Entwickelung des Imperialismus in der Welt sprechen, also einen episodischen Vortrag halten, eine geschichtliche Betrachtung über die Entwickelung des Imperialismus von den ältesten Zeiten, vom ägyptischen Imperialismus bis herauf zu den heutigen Imperialismen. Ich möchte einmal einen ku:en Überblick über die geschichtliche Entwickelung des Imperialismus geben.

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SECHZEHNTER VORTRAG Dornach, 20. Februar 1920

Mein Vortrag wird heute episodisch sein, eine Einschiebung in unsere Betrachtungen, denn ich möchte, daß unsere englischen Freunde, die ja nun bald wiederum in ihr Land zurückgehen, von hier aus möglichst viel hinübernehmen können. Deshalb richte ich diese Vorträge so ein, daß das eine oder das andere zur Stütze der Wirksamkeit, die notwendig ist, dienen kann. Und da möchte ich heute, und zwar zunächst geschichtlich, nicht so sehr auf die Gegenwart bezüglich - das kann vielleicht dann morgen geschehen -, ich möchte geschichtlich, geisteswissenschaftlich-geschichtlich einiges Ihnen entwickeln über Imperialismus. Der Imperialismus ist ja eine in der letzten Zeit mehrfach besprochene Erscheinung, und er wird so besprochen, daß bei denjenigen, die über ihn sprechen, ein mehr oder weniger deutliches Bewußtsein vorhanden ist von seinem Zusammenhange mit den gesamten sozialen Erscheinungen der Gegenwart. Aber wenn man solche Dinge heute bespricht, so berücksichtigt man nicht, wenigstens nicht genügend, daß wir ja im geschichtlichen Hergang der Menschheit leben, daß wir in einer ganz bestimmten geschichtlichen Entwickelungsepoche stehen und daß man diese Entwickelungsepoche der Menschheit nur verstehen kann, wenn man weiß, woher die Erscheinungen kommen, die uns heute umgeben, in denen wir heute drinnen leben. Im Grunde genommen zeigt sich zunächst dasjenige, was heute wirksamer, in die Zukunft hinein wirksamer Imperialismus ist, dessen Träger die anglo-amerikanische Bevölkerung sein wird und der im Grunde genommen der Benennung nach sehr neueren Datums ist; dieser Imperialismus zeigt sich als Wirtschaftsimperialismus. Aber das Wesentliche ist, daß in all dem, was über die Dinge gesprochen wird, die mit diesem wirtschaftlichen Imperialismus zusammenhängen, im Grunde genommen gar nichts wahr ist, sondern alles unwahr ist, alles, ich möchte sagen, in der Luft schwebt und, schwebend in der Luft, mehr oder weniger bewußt zur Unwahrhaftigkeit führt. Aber um das einzusehen, wie in unserer Zeit die Wirklichkeiten ganz andere sind als dasjenige, was von diesen Wirklichkeiten gesagt wird,

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dazu ist notwendig, einen tieferen Blick in den geschichtlichen Hergang dieser Dinge zu tun.

Ich brauche ja gegenüber den heutigen Tatsachen nur das eine zu erwähnen, um einigermaßen die Urteilsfähigkeit der öffentlichen Gegenwart zu charakterisieren. Wir haben ja erlebt, daß zunächst in den verschiedensten Gegenden Europas und zuletzt sogar in Deutschland selber Woodrow Wilson glorifiziert worden ist. Unsere Schweizer Freunde wissen ganz gut, daß während der Glorifizierung von Woodrow Wilson ich auch hier in der Schweiz in schärfster Weise mich immer gegen Woodrow Wilson ausgesprochen habe, denn dasjenige, was Woodrow Wilson heute ist, war er selbstverständlich auch schon in derjenigen Zeit, in der er von der ganzen Welt glorifiziert worden ist. Heute meldet man bereits - womit ich nicht sagen will, daß das die allertiefste Wahrheit wiederum ist -, daß man in Amerika daran denke, Woodrow Wilson für unfähig für die Regierung zu erklären, daß man an seiner Urteilsfähigkeit zweifle. Das öffentliche Urteil, wie es heute durch die Welt schwirrt, ist ja gerade durch solche Dinge genügend charakterisiert, namentlich in seinen Werten charakterisiert.

Und man braucht sich nur an eine zweite Tatsache zu erinnern. In den letzten vier bis fünf Jahren ist außerordentlich viel über allerlei schöne Dinge gesprochen worden: Selbstbestimmung der Völker und so weiter. - Alle diese Dinge waren nicht wahr; denn dasjenige, was dahinter war, das war etwas ganz anderes, das waren selbstverständlich Machtfragen. Und wer verstehen will, bei dem handelt es sich darum, daß er von dem, was gesagt, gedacht und geurteilt wird, auf die Wirklichkeiten zurückgeht. Und so muß insbesondere, wenn ein solches Wort wie Imperialismus - «Imperial Föderation» ist das offizielle Wort seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in England -, wenn über solche Dinge gesprochen wird, so muß berücksichtigt werden, daß wir in diesen Dingen die äußersten Ableitungen haben, Spätprodukte der Entwickelung, und daß diese zurückführen in weit vergangene Zeiten und ihre Erklärung erst finden durch dasjenige, was eine wirkliche Geschichtsbetrachtung bieten kann.

Wir wollen nicht so weit zurückgehen, als man geistesgeschichtlich in der Entwickelung der Menschheit zurückgehen könnte; aber wir wollen

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wenigstens zurückgehen bis einige Jahrtausende vor der christlichen Zeitrechnung. Da finden wir zunächst imperialistische Reiche in Asien, eine Abart solcher imperialistischer Reiche in Ägypten. Ganz charakteristisch für den orientalischen Impuls ist etwa das geschichtlich bekannte persische Reich, aber insbesondere das assyrische Reich. Nun kommt man nicht zurecht, wenn man diese erste Phase des Imperialismus nur in den letzten, geschichtlich geschilderten Stadien des assyrischen Reiches verfolgt, weil man einfach dasjenige, was als Antriebe im assyrischen Reich herrscht, nicht versteht, ohne daß man zurückgehen kann auf frühere orientalische Zustände. Selbst in China, dessen ganze Organisation in sehr vergangene, weit vergangene Zeiten zurückreicht, hat sich manches so geändert, daß man in dieser bis vor kurzer Zeit bestehenden Organisation nicht mehr den eigentlichen Charakter eines orientalischen Imperialismus, wie er entsprechend dem orientalischen Reiche durchaus bestanden hat, erkennen kann. Man kann aber von den Verhältnissen, die geschichtlich bekannt sind, noch durchschauen auf dasjenige, was eigentlich zugrunde liegt.

Nun versteht man den ganzen orientalischen, den alten Imperialismus nicht, wenn man nicht weiß, welche Beziehung angenommen war im öffentlichen Bewußtsein von der Bevölkerung irgendeines Gebietes, sagen wir eines Reiches, zu dem, was wir heute den Herrscher dieses Reiches oder die Herrschenden dieses Reiches nennen würden. Denn selbstverständlich drücken unsere Worte wie Herrscher oder König oder dergleichen nicht mehr dasjenige aus, was dazumal von dem Herrscher oder den Herrschenden empfunden worden ist. Man kann sich von der ganzen Empfmdungswelt, welche drei bis vier Jahrtausende vor der christlichen Zeitrechnung in den orientalischen Imperialismen geherrscht hat, heute nur mehr schwer eine Vorstellung machen, weil man heute schwer berücksichtigt, wie sich der Mensch dieser alten Zeit gedacht hat das Wesen der geistigen Welt im Verhältnis zur physischen Welt. Heute denken die meisten Menschen, wenn sie überhaupt über eine geistige Welt denken, diese geistige Welt irgendwo fern in einem Jenseits oder dergleichen. Und wenn von der geistigen Welt gesprochen wird, wie allerdings in der Zukunft wieder wird gesprochen werden müssen als einer ebenso unter uns daseienden wie die Sinneswelt, dann stemmt

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sich alles dasjenige in der neueren Zeit auf, was zum Beispiel zum protestantischen Bewußtsein geführt hat. Es war nämlich das Wesentliche in älteren Zeiten, daß man überhaupt einen Unterschied zwischen der physischen Welt und der geistigen Welt nicht gemacht hat.

Das ist so stark wahr, daß, wenn man die Dinge sagt, die sich auf jene älteren Zeiten beziehen, sich der heutige Mensch kaum mehr etwas Ordentliches dabei vorstellen kann, so verschieden war die Vorstellungswelt der alten Menschen von der Vorstellungswelt der neueren Menschen. Dasjenige, was physisch da war, herrschende Menschen, eine herrschende Kaste, versklavte Menschen, beherrschte Menschen, das war die Wirklichkeit, das war nicht etwas, was man eine physische Wirklichkeit nannte, sondern das war die Wirklichkeit, das war zu gleicher Zeit die physische und die geistige Wirklichkeit. Und der Herrscher der orientalischen Reiche, was war denn der? Der Herrscher der orientalischen Reiche war der Gott. Und in dem weiten Umkreis der Bevölkerung gab es nicht einen Gott jenseits der Wolken in älteren Zeiten - ich spreche immer von älteren Zeiten -, es gab nicht für die Leute einen Chor von Geistern, die nun wiederum den höchsten Gott um- gaben, das waren schon im irdischen Verlauf spätere Anschauungen, sondern dasjenige, was wir heute Minister oder Hofschranzen nennen würden, etwas despektierlich oder bald sogar respektierlich, das waren Wesenheiten göttlicher Natur. Denn man war sich klar darüber, daß durch die Mysterienschulung, durch die diese Menschen durchgegangen waren, sie etwas Höheres als gewöhnliche Menschen geworden waren. Man sah zu ihnen auf, so wie das protestantische Bewußtsein zu seinem Gotte oder wie gewisse schon mehr liberale Kreise zu ihren unsichtbaren Engeln und dergleichen aufsehen. Denn extra unsichtbare Engel oder einen extra im Übersinnlichen unsichtbaren Gott hat es für diese Bevölkerungen des alten Orients nicht gegeben. Alles, was geistig war, lebte im Menschen. Im gewöhnlichen Menschen lebte eine menschliche Seele. In demjenigen, was wir heute einen Herrscher nennen würden, lebte eine göttliche Seele, ein Gott.

Von diesen Vorstellungen eines daseienden wirklichen Gottesreiches, das zu gleicher Zeit physisches Reich ist, macht man sich heute keine Vorstellung mehr. Daß, sagen wir, der König wirkliche göttliche Gewalt

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und göttliche Würde hatte, das gilt selbstverständlich heute als absurd, war aber einmal in orientalischen Imperalismen Wirklichkeit. Von etwas, was bloß im Geiste als solchem zu fassen ist, davon sprach man da zunächst nicht.

Eine Abart, sagte ich, war im Ägyptertum vorhanden, denn da findet sich wirklich ein Übergang zu einer späteren Zeit. Wenn wir also zurückgehen zu den ältesten Formen des Imperialismus, so schreibt sich dieser Imperialismus von der Ursache her, daß der König, der Herrscher, der Gott ist, der wirklich physisch auf der Erde erschienene Gott, der wirklich physisch auf der Erde erschienene Sohn des Himmels, sogar Vater des Himmels ist. Es ist so paradox für den Menschen der Gegenwart, daß es kaum glaublich erscheint, aber es ist so. Davon aber leitete sich her, was man noch in assyrischen Urkunden beobachten kann in der Art und Weise, wie imperialistische Eroberungen gerechtfertigt werden: Sie werden einfach gemacht. Das Recht zu solchen Eroberungen leitete sich daraus her, daß man das Gottesreich immer weiter und weiter auszudehnen hatte. Hatte man irgendein Gebiet erobert und waren also die Eroberten Untertanen geworden, dann mußten sie denjenigen, der der Eroberer war, als ihren Gott verehren. An eine Ausbreitung von religiösen Weltanschauungen dachte man in jener alten Zeit durchaus nicht. Wozu hätte man denn das nötig gehabt? Es war ja alles in der physischen Welt verwirklicht gedacht. Wenn der Betreffende, der zu dem eroberten Gebiete gehörte, den andern, der der Eroberer war, äußerlich anerkannte, wenn er ihm folgte, dann war ja alles in Ordnung, denn glauben konnte er, was er wollte. Den Glauben - das war die persönliche Meinung -, den tastete man gerade in alten Zeiten ganz und gar nicht an. Darum kümmerte man sich gar nicht.

Das war die erste Form, in der der Imperialismus aufgetaucht ist. Die zweite Form war diejenige, wo der Herrschende, derjenige, der eine herrschende, eine führende Rolle einnehmen sollte, nun nicht der Gott selber war, wohl aber der von Gott Gesandte oder der von Gott Inspirierte, der von dem Göttlichen Durchdrungene. In den ersten Imperialismen hatte man es mit Wirklichkeiten zu tun. Das ist das Wesentliche. Erste Phase der Imperialismen: Man hatte es mit den Wirklichkeiten zu tun.

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Tafel 16

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Wenn nun solch ein orientalischer Herrscher der Urzeiten unter seinem Volke erschien, erschien er in seinem Ornate, weil er als Gott berechtigt war, solche Kleider anzuziehen. Das waren die Kleider eines Gottes. So sah ein Gott aus. Das bedeutete weiter nichts, als daß unter Göttern dieses Mode war, wie der Herrscher erschien. Und diejenigen, die seine Paladine waren, die waren nicht etwa irgendwie Beamtete oder so etwas, sondern sie waren höhere Wesen, die ihn umgaben und die kraft ihrer Eigenschaft als höhere Wesen dasjenige taten, was sie taten.

Dann kam die Zeit, wo man eben, wie gesagt, den Herrscher und auch diejenigen, die seine Paladine waren, als Gottgesandte vorstellte, als von dem Göttlichen Durchdrungene, als Beauftragte. Das leuchtet sehr stark noch durch bei Dionysios, dem Areopagiten. Lesen Sie seine Schriften, wie er beschreibt die ganze Hierarchie von den Diakonen, Archidiakonen, Bischöfen, Erzbischöfen, also hinauf die ganze Hierarchie der Kirche. Wie stellt er diese dar? Dionysios der Areopagite stellt das Ganze so dar, daß in dieser irdischen kirchlichen Hierarchie man ein Abbild hat desjenigen, was übersinnlich der Gott mit seinen Urkräften, Erzengeln, Engeln ist. So daß man also da schon hat oben die himmlische Hierarchie und unten ihr Abbild, die weltliche Hierarchie. Da ziehen also die Leute der weltlichen Hierarchie, die Diakone, Archidiakone, ihre Gewänder an, oder sie verrichten ihre Handlungen, weil das Zeichen, weil das Symbole sind. In der ersten Phase hat man es mit Wirklichkeiten zu tun, in der zweiten Phase hat man es mit Zeichen, mit Symbolen zu tun. Auch das ist natürlich mehr oder weniger vergessen worden. Denn im allgemeinen Menschheitsbewußtsein wird das heute nur noch wenig festgehalten, auch in der katholischen Bevölkerung, daß die Diakone, die Pfarrer, die Dechanten, die Bischöfe, die Erzbischöfe die Repräsentanten, die Stellvertreter für die himmlischen Hierarchien sind. Aber es ist eben nur in Vergessenheit geraten.

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Tafel 16

Nun trat mit diesem Fortschreiten des Imperialismus ein eine Spaltung, möchte ich sagen, eine richtige Spaltung. Auf der einen Seite schimmerte dasjenige, was die Führerschaft, die Herrschaft innehatte, mehr nach dem Gottgesandten hin, nach der Priesterschaft, wo die Priester Könige sind; auf der andern Seite schimmerte es mehr nach dem Weltlichen hin, aber immer noch von Gottes Gnaden, immer als von Gott

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dazu Beamtete, dazu Bestimmte. Im Grunde genommen sind das nur zwei Abarten. Und wir haben dann die beiden Abarten in der geschichtlichen Entwickelung: die Kirchengemeinschaften und die Reichsgemeinschaften.

So etwas wäre in der ersten Zeit der Imperialismen, wo alles Physische Wirklichkeit war, nicht denkbar gewesen. Aber in der zweiten Phase der Imperialismen trennte sich das. Da war der eine mehr weltlich, aber immerhin ein Gottgesandter, der andere war mehr kirchlich, auch ein Gottgesandter. Das geht bis ins Mittelalter; und, ich möchte sagen, in einer charakteristischen historischen Erscheinung ist eigentlich bis zum Jahre 1806, nur damals schon mit einem Schattendasein, festgehalten worden dieses Im-äußeren-Reiche-, In-der-äußeren-Wirklichkeit-Leben der gottgesandten Könige, gottgesandten Paladine und so weiter. Äußerlich war ja da die römische Kirche mit ihrer Ausbreitung; das war mehr nach dem Priesterlichen gefärbt. Aber was das ganze Mittelalter hindurch festgehalten worden ist, was das ganze Mittelalter hindurch streng den Charakter des Gottgesandten hier auf der physischen Erde festgehalten hat, das ist das, wie gesagt, erst im Jahre 1806 verschwundene sogenannte «Heilige Römische Reich Deutscher Nation». So hat ja das geheißen, was da in Mitteleuropa als eine Art Reich existiert hat: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. In dem «Heiligen» haben Sie noch einen Anflug von dem, was da Göttliches in alten Zeiten auf der Erde war; «Römisch» bedeutet den Ursprung, wo es hergekommen war; «Deutscher Nation» ist das, worauf es gestülpt war, das mehr schon Weltliche, worauf es gestülpt war.

Und so haben wir in der zweiten Phase der Imperialismen nicht mehr bloß den gesalbten Imperialismus der Kirche, sondern wir haben das Durcheinanderziehen des göttlichen und weltlichen Gesalbten in dem Reiche. Das beginnt schon mit dem alten Römischen Reiche in der vorchristlichen Zeit, geht bis in die Spätzeiten des Mittelalters hinein. Das hat immer einen Doppelcharakter, was da als Imperialismen entstanden ist, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Denken Sie nur einmal, daß es ja doch zum Schlusse zurückführt auf Karl den Großen. Aber Karl dem Großen wird in Rom die Krone aufgesetzt von dem Papste. Also auch äußerlich wird die Königswürde zum Symbolum gemacht,

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so daß dasjenige, was hier auf der physischen Erde da ist, nicht mehr Wirklichkeit ist. Die Menschen des Mittelalters haben Karl den Großen, Otto I., nicht als Götter verehrt, wie das in uralten Zeiten der Fall war, aber sie haben in ihnen gesehen gottgesandte Menschen. Und das mußte noch immer bekräftigt werden. Natürlich immer weniger und weniger stark lebte das im Bewußtsein. Aber wenn es auch veräußerlicht ist, es hatte eben im Zeichen, im Symbolum noch wenigstens eine symbolische, eine Zeichenwirklichkeit. Diese Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gingen nach Rom, um sich dort vom Papste die Krone aufsetzen zu lassen. So wird auch der ungarische Istwan I. im Jahre 1000 von dem Papste zum König von Ungarn gemacht. Es wird dem, was in der Welt herrscht, von dem, was geistlich oder geistig ist, die Salbung und damit die Gewalt verliehen.

Das aber, was dadurch ins Bewußtsein der Menschen hineinkommt, das bewirkt wiederum, daß die Menschen geglaubt haben, es liege eine Berechtigung vor, die andern Menschen in dieses Reich, das ja von den Göttern selbst durch Menschen gesalbt ist, einzubeziehen, daher selbst Dante der Ansicht ist, daß derjenige, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist, im Grunde genommen berechtigt ist, die ganze Welt zu beherrschen. Darinnen ist gerade bei Dante die Formel des Imperialismus.

In den Sagen und Überlieferungen, in denen sich in dem Bewußtsein der Menschen historische Hergänge kristallisieren, drücken sich in der Regel Dinge aus, die von den verschiedensten Gesichtspunkten, nicht bloß von einem Gesichtspunkt aus betrachtet werden dürfen. Man kann sagen: Im 11., 12. Jahrhundert war durchaus in Europa noch ein starkes Bewußtsein, aber nicht mehr klar, nur ein Empfindungsbewußtsein, aber das stark vorhanden, daß einmal in recht alten Zeiten da im 0riente drüben Menschen auf der Erde, auf der physischen Erde gelebt haben, die selber Götter waren. Man dachte nicht etwa, daß das ein Aberglaube war, o nein, sondern man dachte sich: Jetzt können nur solche Götter nicht mehr auf der Erde leben, weil die Erde so schlecht geworden ist. Das ist verlorengegangen, was Menschen zu Göttern gemacht hat, der «Heilige Gral» ist verlorengegangen, und jetzt, im Mittelalter, kann er nur erlangt werden auf die Weise, wie ihn Parzival erlangt:

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Man sucht den Weg, im Innern den Gott zu finden, während früher der Gott eine Wirklichkeit im Reiche war. Jetzt ist das Reich nur eine Summe von Symbolen, von Zeichen, und man muß aus den Symbolen, aus den Zeichen heraus den Gott finden.

Von all den Dingen, die einmal existiert haben, bleiben dann Überreste vorhanden. Die Wirklichkeit stumpft sich ab. Überreste bleiben vorhanden, Überreste der mannigfaltigsten Art. Während in der Regel, solange die Dinge Wirklichkeiten sind, sie in der Welt eindeutig sind, werden sie nachher vieldeutig. Und so ist Mannigfaltiges in Europa entstanden aus der alten Eindeutigkeit heraus. Solange im Bewußtsein der Menschen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eine Bedeutung hatte, so lange war gewissermaßen der Repräsentant dieses Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auch mächtig, fähig, die einzelnen Engelsymbole, die die Territorialfürsten waren, zu bändigen; denn man hatte noch ein Bewußtsein> daß er eben ein Recht dazu hatte. Aber sein Recht beruhte mehr oder weniger auf etwas Ideellem. Das verlor nach und nach seine Bedeutung. Dadurch blieben dann die Territorialfürsten übrig. Und wir haben gewissermaßen in dem Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation etwas, was nach und nach seine eigentliche innere Substanz auspreßt, und es bleibt nur das Äußere übrig. Es geht das Bewußtsein verloren, daß irdische Menschen gottgesandt sind. Und der Ausdruck dafür, daß man nicht mehr denken kann, irdische Menschen seien gottgesandt, ist eben der Protestantismus. Der Protestantismus ist der Protest gegen die reale Bedeutung der gottgesandten irdischen Menschen.

Wäre das Prinzip des Protestantismus konsequent ganz durchgedrungen, so hätte kein gekröntes oder gefürstetes Haupt sich jemals wiederum «von Gottes Gnaden» nennen können. Aber die Dinge blieben immer als Reste. Bis 1918 sind ja die Reste geblieben, dann sind diese Reste verschwunden. Diese Reste, die schon innerlich alle Bedeutung verloren hatten, sie waren als äußerliche Erscheinungen noch da. Diese deutschen Territorialfürsten waren als äußere Erscheinung noch da; eine Bedeutung hatten sie nur in jenen alten Zeiten, wo sie Symbole waren für ein inspirierendes Himmelsreich.

So erhalten sich noch andere Reste, bei denen man sich gar nicht bewußt

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wird, wie sie sich als Reste erhalten. Es ist gar nicht so weit zurück, da erschien von einem mitteleuropäischen Bischof - vielleicht war es auch ein Erzbischof - ein Hirtenbrief. In diesem Hirtenbrief wurde ungefähr ausgeführt, daß der katholische Priester mächtiger ist als Jesus Christus, aus dem einfachen Grunde, weil ja, wenn der katholische Priester am Altar die Transsubstantiation vollzieht, der Christus Jesus in dem Sanktissimum, in der Hostie anwesend werden muß. Es muß die Transsubstantiation durch die Gewalt des Priesters wirklich sich vollziehen. Das heißt, die Handlung, die der Priester vollzieht, zwingt den Christus Jesus, auf dem Altar gegenwärtig zu sein. Also ist der Mächtigere nicht der Christus Jesus, sondern der Mächtigere ist derjenige, der auf dem Altare die Transsubstantiation vollzieht!

Wenn wir eine solche Sache verstehen wollen, die, wie gesagt, noch vor wenigen Jahren in einem Hirtenbrief erschienen ist, so müssen wir nicht in die Zeiten der zweiten Imperialismen, sondern in die Zeiten der ersten Imperialismen zurückgehen, wie überhaupt in der katholischen Kirche und ihren Einrichtungen sich Mannigfaltiges von den ersten Imperialismen erhalten hat. Darinnen liegt noch ein Rest jenes Bewußtseins, daß diejenigen, die regieren auf der Erde, die Götter sind, wahrend der Christus Jesus der Gottessohn nur ist. Es ist dasjenige, was in einem solchen Hirtenbrief steht, selbstverständlich für ein protestantisches Bewußtsein eine solche Unmöglichkeit, wie es für einen heutigen Menschen schließlich ja auch eine Unmöglichkeit ist, zu glauben, daß vor Jahrtausenden die Menschen in dem Herrscher den Gott gesehen haben. Aber das alles sind eben wirkliche historische Faktoren, sind wirkliche Tatsachen, Tatsachen, die im geschichtlichen Werden, in der geschichtlichen Wirklichkeit eine Rolle gespielt haben und deren Reste bis heute eben vorhanden sind.

Und so spielen in spätere Erscheinungen frühere Wirklichkeiten in starkem Maße hinein. Nicht daß immer die Anschauung dieselbe bleibt; aber die Usancen, die aus diesen Anschauungen hervorgehen, die blieben dieselben. Schauen Sie sich an, wie der Mohammedanismus sich ausgebreitet hat. Gewiß, Mohammed hat nicht selber gesagt: Mohammed ist euer Gott -, wie es gesagt werden mußte vor Jahrtausenden von einem orientalischen Priesterherrscher. Er hat sich beschränkt darauf,

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was schon damals mehr zeitgemäß war, zu sagen: Da ist ein Gott, und Mohammed ist sein Prophet. - Also für das Bewußtsein der Menschen hat er schon angenommen die Gottgesandtschaft, die zweite Phase des Imperialismus. Für die Art und Weise, wie der Mohammedanismus ausgebreitet worden ist, gilt aber noch die erste Phase. Denn niemals sind Mohammedaner in derselben Weise unduldsam gegen Andersgläubige gewesen wie diejenigen, die auf das Bekenntnis etwas geben. Die Mohammedaner sind zufrieden gewesen, die andern zu erobern und zu Untertanen zu machen, geradeso wie in alten Zeiten, wo es auch nicht auf das Bekenntnis ankam, weil es ja schließlich gleichgültig war, was man glaubte, wenn man nur den Gott anerkannte. Die Art und Weise der Verbreitung des Mohammedanismus, die ist die Usance der ersten Phase des Imperialismus.

Und etwas hat sich noch erhalten von der ersten Phase des Imperialismus - stark gefärbt durch die zweite - in der russischen Despotie, in dem Zarismus. Da ist durchaus in der ganzen Art und Weise, wie über den Zaren gedacht worden ist von denjenigen, die ihn anerkannten, da ist wenigstens in der Stimmung des Gemütes etwas, was bis in die erste Phase des Imperialismus zurückgeht. Daher kam es in Rußland so wenig darauf an, daß zusamenwuchs dasjenige, was im Bewußtsein der russischen Bevölkerung selber war, mit demjenigen, was vom Zarismus ausging; denn eigentlich beruhte die Herrschaft des Zarismus auf dem germanischen und auf dem mongolischen Elemente, nicht auf dem Elemente des eigentlich russischen Bauerntums. So blieben die Reste aus früheren Zeiten. Auch in kürzeren Zeiträumen kann man sehen, wie die Reste aus früheren Zeiten blieben.

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Tafel 16

Nun die dritte Form des Imperialismus. Formuliert wird sie ja erst seit dem 20. Jahrhundert, seit etwa Chamberlain und seine Leute den Begriff «Imperial Federation» geprägt haben; aber es führen die Ursachen weiter zurück, bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, wo in England jene große Umwälzung vor sich gegangen ist, durch die eigentlich für alle westlichen Gebiete, in denen anglo-amerikanische Bevölkerung ist, das Königtum, dasjenige, was früher Gott, dann Gesalbter war, zum bloßen Schattendasein, zur bloßen, man kann nicht sagen, Dekoration, sondern zu etwas bloß Geduldetem wurde, während tatsächlich

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seit dem 17. Jahrhunderte auf die ganze Bevölkerung, gewiß zunächst klassenweise geschichtet, aber auf die ganze Bevölkerung übergeht dasjenige, was öffentlich gewollt wird.

Nun bringt die anglo-amerikanische Bevölkerung andere Vorbedingungen diesem, sagen wir, Volkswillen, dem Wahlsystem aus dem Volke entgegen, als zum Beispiel die französische, die romanische Bevölkerung, überhaupt die lateinische Bevölkerung. Die lateinische Bevölkerung, insbesondere die französische, hat gewiß die Revolution durchgemacht im 18. Jahrhundert; aber unter dem Einfluß desjenigen, was ich Ihnen vor einigen Stunden hier charakterisiert habe, ist eigentlich das französische Volk heute als Volk königlicher als irgendein anderes. Königlich ist man ja nicht nur dadurch, daß ein König an der Spitze ist. Gewiß, ein Mensch kann nicht gut herumiaufen, wenn man ihm den Kopf abgeschlagen hat; aber das französische Volk ist königlich, imperialistisch, ohne daß es einen König hat. Es kommt auf die Seelenverfassung an. Dieses kompakte Sich-als-Eins-Fühlen, dieses ganze Volksbewußtsein, das ist eigentlich durchaus ein sehr realer Rest des Ludwig XIV.-Bewußtseins.

Aber andere Vorbedingungen brachte die englisch sprechende Bevölkerung dem entgegen, was man Volkswillen nennen könnte. Und da wurde nach und nach wirklich dasjenige, was öffentlich als Urteil geltend gemacht wurde, wurde wirklich der Ausfluß desjenigen, was aus den gewählten Menschen der Parlamente hervorging, da entwickelte sich die dritte Form des Imperialismus, die dann erst formuliert wurde zum Beispiel durch Chamberlain und andere. Aber wir wollen ihn heute seelisch betrachten, diesen dritten Imperialismus.

Der erste Imperialismus hatte Wirklichkeiten: Ein Mensch war der Gott für das Bewußtsein der andern Menschen. Seine Paladine waren Götter, die um ihn herum waren, Untergötter. Zweite Form des Imperialismus: Das, was auf der Erde war, war Zeichen, Symbol. Der Gott wirkte nur herein in die Menschen. Dritte Form des Imperialismus: Dasjenige, was hier auf der Erde zunächst von den Seelen ausgeht, entkleidet sich auch des Charakters des Symboles, des Zeichens. Wie es von der Wirklichkeit zum Zeichen, zum Symbol gekommen ist, so kommt es vom Zeichen, vom Symbol zur Phrase.

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Tafel 16

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Das ist ohne irgendwelche Gemütserregung, also sine ira, sondern rein objektiv die Tatsache dargestellt, aus der Notwendigkeit des irdischen Werdens heraus. Seit dem 17. Jahrhundert ist wirklich dasjenige, was im öffentlichen Leben der anglo-amerikanischen Bevölkerung vorgeht, wovon gesprochen wird, was man in den Gesetzbüchern fabriziert, Volkswille, gewiß, klassenweise geschichtet - zur Charakteristik dessen kommen wir vielleicht morgen oder übermorgen - aber es ist Phrase, es ist nicht einmal zwischen dem, was gesprochen wird, und der Wirklichkeit eine solche Beziehung wie zwischen dem Symbolum und der Wirklichkeit. So daß dies der Gang ist; seelisch geht das so vor sich: von Wirklichkeiten zu Symbolen und dann zur Phrase, zu dem, was ausgequetschtes, ausgeleertes Wort ist. Und dasjenige, was unter dem ausgequetschten, ausgeleerten Wort vor sich geht, das sind erst die Wirklichkeiten. Von denen stellt sich kein Mensch vor, daß sie göttlich sind, wenigstens nicht da, wo sie ihren Ursprung haben.

Denn denken wir uns einmal die Grundlage jenes Imperialismus, der zu seinem herrschenden Elemente die Phrase hat: in den ersten Imperialismen die Könige, in den zweiten Imperialismen die Gesalbten, jetzt die Phrase. Aus den Majoritätsbeschlüssen wird selbstverständlich nichts Wirkliches, sondern eine herrschende Phrase. Und die Wirklichkeiten schweben darunter und werden durchaus nicht als etwas Göttliches angesehen. Denn nehmen wir eine wichtige Grundlage für dasjenige, was da als Wirklichkeiten sich abspielte: die Kolonisation. Die Kolonisation spielt eine große Rolle bei der Bildung dieses dritten Imperialismus. Für das Kolonisationssystem, das Ausbreiten des Imperiums über die Kolonien, ist ja zuletzt die «Imperial Federation» die Form, die besondere Art der Zusammenfassung. Aber wie gliedern sich ursprünglich diese Kolonien an an das Imperium? Denken Sie an die realen Fälle zurück: Abenteurer, die man im Imperium nicht recht brauchen kann, die ein bißchen zerlumpt sind, die ziehen dann in die Kolonien, werden reich, verwenden dann ihren Reichtum in der Heimat, sind aber dadurch zunächst durchaus nicht etwa angesehene Leute, sind Abenteurer weiterhin, Bohemiens. So wird das Kolonialreich zusammengebracht. Das ist die unter der Phrase bestehende Wirklichkeit. Aber es bleiben Reste. Wie von den ursprünglichen Wirklichkeiten Symbole und Phrasen als

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Reste bleiben, oder symbolische Fürstenkronen oder Zarismen, so bleiben von den Abenteurerunternehmungen der etwas übel berüchtigten Kolonisten die Wirklichkeiten übrig, die Wirklichkeiten, die man nun hat. Nicht wahr, der eine hat sich das, sagen wir, «angeeignet»; der Sohn, ja der ist schon nicht mehr so übel berüchtigt, der riecht schon besser. Der Enkel gar riecht noch besser, und dann, nicht wahr, dann kommt eine Zeit, wo alles schon gut riecht. Da kann sich die Phrase bemächtigen dessen, was jetzt schon anfängt, ganz gut zu riechen. Da identifiziert sich dann die Phrase mit der wahren Wirklichkeit. Da breitet der Staat seine Fittiche aus, da wird der Staat der Protektor, und da wird alles ehrlich gemacht.

Es ist nötig, die Dinge - beim wirklichen Namen kann man vielleicht nicht sagen, weil die Namen sehr selten die Wirklichkeiten bezeichnen -, aber beim wirklichen Zipfel anzupacken. Das ist schon nötig, denn nur dadurch kommt man dahin, zu begreifen, welche Aufgaben die heutige Zeit den Menschen stellt und welche Verantwortlichkeit die heutige Zeit den Menschen auferlegt. Nur dadurch kommt man auch dahin, einzusehen, welche Fable convenue die sogenannte Geschichte eigentlich ist, das heißt die Geschichte, die in den Schulen und Universitäten tradiert wird. Diese Geschichte nennt die Dinge wirklich nicht bei dem rechten Namen, im Gegenteil, sie bewirkt, daß nach und nach die Namen für das Unrechte gelten.

Es ist etwas sehr Schlimmes, nicht wahr, was ich jetzt geschildert habe. Aber sehen Sie, nun handelt es sich darum, eben gerade ein wenig seine Empfindungen, seine Gefühle auf die Verantwortlichkeiten zu lenken. Betrachten wir jetzt die andere Seite. Sehen wir uns einmal an so ein altes Imperium. Das war wirklich, irdisch-wirklich in der Vorstellung; der Priesterkönig ging aus den Mysterien hervor. Das zweite war nicht mehr irdisch-wirklich, sondern das zweite war Symbolum. Es ist ein weiter Weg von dem, was sich in dem alten orientalischen Reiche die Herrschenden und ihre Paladine als ein Göttergeschmeide umhängten, und demjenigen, was als «roter oder schwarzer Adler» dritter, zweiter, erster Güte den Leuten dann angehängt wird. Aber dennoch ist das die geschichtliche Entwickelung. Es ist von der Wirklichkeit zu dem Nichts geworden dasjenige, was zuletzt nicht einmal

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ein Zeichen war, sondern im Grunde genommen nur der Ausdruck für eine Phrase. Nicht wahr, schließlich ist sogar in Äußerlichkeiten das allgemeine Phrasensystem, das ja vom Westen sich über die übrige Welt ausgebreitet hat, eingedrungen in die öffentlichen Angelegenheiten. Ich habe sogar Titularhofräte kennengelernt! Nun haben schon die Hofräte außerordentlich wenig zu raten gehabt - jedenfalls wenig zu raten gewußt -, aber die Titularhofräte! Das war eben nur Phrase, die einem Menschen angehängt worden ist. Und dennoch, alles geht zurück auf jene alten Usancen, von denen ich gesprochen habe.

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Tafel 16

In der ersten Phase, von der ich sprach, haben wir dasjenige, was äußerlich physisches Reich war, das Irdisch-Wirkliche, ganz als geistig gedacht, in der zweiten Phase nur durchdrungen von geistiger Substanz. Und die dritte Phase muß herauswachsen aus dem, was ich Ihnen jetzt geschildert habe, aus dem Reich der Phrase und derjenigen Wirklichkeit, von der wir eben gesprochen haben. Das dritte, das muß hier auf der Erde verwirklichen das Geistesreich.

Während in der ersten Phase die physische Wirklichkeit als geistig gedacht war, darf in der Zukunft die physische Wirklichkeit nicht als geistig gedacht sein, dafür aber muß das Geistige hier in der physischen Welt anwesend sein. Das heißt, es muß neben der physischen Wirklichkeit leben die geistige Wirklichkeit. Der Mensch muß hier herumgehen, innerhalb der physischen Wirklichkeit, und eine geistige Wirklichkeit anerkennen, muß sprechen als von etwas Wirklichem, Übersinnlichem, Urisichtbarem, was aber da ist, was begründet werden muß unter uns.

Ich habe von etwas sehr Schlimmem gesprochen, von der Phrase. Aber wenn die äußere Welt nicht so phrasig geworden wäre, wäre ja kein Platz für das Eindringen eines Geistesreiches. Gerade dadurch, daß schließlich alles Alte nurmehr Phrase ist, dadurch entsteht der leere Raum, in den das Geistesreich eindringen soll. Gerade im Westen, in der anglo-amerikanischen Welt, da steuert die Menschheit dahin, daß man viel noch fortsprechen wird, sagen wir, in den gebräuchlichen Idiomen, von allerlei Dingen, die von altersher gekommen sind. Wie gesagt, das wird so fortrollen wie eine Kugel fortrollt. In den Worten wird das fortrollen. Unzählige Formeln finden Sie insbesondere im Westen, die jede Bedeutung verloren haben, die aber gebraucht werden. Aber nicht

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nur in diesen Formeln, sondern in all dem, was man mit alten Worten bezeichnet, lebt dasjenige, was eigentlich Phrase ist, worinnen keine Wirklichkeit ist, woraus die Wirklichkeit herausgepreßt ist. Da ist dann Platz, daß das Geistige, etwas, was mit nichts Altem übereinstimmt, Platz greife. Das Alte mußte zuerst zur Phrase werden; abgeworfen werden muß alles dasjenige, was so fortkollert mit der Sprache, und hinein muß etwas vollständig Neues, das nur als geistige Welt sich ausbreiten kann.

Dann erst kann es ein Christus-Reich geben auf der Erde. Denn in diesem Reiche muß eine Wirklichkeit sein: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.» In dem Reiche von dieser Welt, in dem zunächst sich ausbreitete das Christus-Reich, da war noch sehr viel von dieser Welt vorhanden, was nicht zur Phrase geworden war. Aber in der westlichen Welt wird alles dasjenige, was von alten Zeiten stammt, dazu vorher- bestimmt sein, zur Phrase zu werden. Ja im Westen, in der anglo-amerikanischen Welt, wird alles, was menschliche Überlieferung ist, Phrase werden. Dafür ist die Verantwortlichkeit da, in das leergewordene Gefäß einen Geist hineinzusetzen, von dem gesagt werden kann: Dies Reich ist nicht von dieser Welt! - Das ist die große Verantwortlichkeit. Es kommt nicht darauf an, wie etwas entstanden ist, sondern was man weiter mit dem so Entstandenen tut. Und so sind die Zusammenhänge.

Nun werden wir morgen davon zu sprechen haben, wie diese Zusammenhänge sich des weiteren realisieren können, da ja unter der Oberfläche gerade in westlichen Ländern sehr wirksam die Geheimgesellschaften sind, die nun traditionell die zweite Phase des Imperialismus in die dritte hineinschieben. Denn in der anglo-amerikanischen Bevölkerung haben Sie zwei Imperialismen durcheinandergeschoben, den wirtschaftlichen eines Chamberlain und den symbolischen Imperialismus der Geheimgesellschaften, der sehr wirksam hineingeschoben ist, der aber durchaus geheimgehalten wird vor der großen Bevölkerung.

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SIEBZEHNTER VORTRAG Dornach, 21. Februar 1920

Ich habe zu Ihnen gesprochen über das geschichtliche Herkommen des- jenigen, was man heute Imperialismus nennen kann, und Sie haben schon bemerkt aus dem, was ich gestern gesagt habe, daß es bei diesen Betrachtungen über Imperialismus im wesentlichen darauf ankommt, zu sehen, wie Erscheinungen der Gegenwart, welche im sozialen Leben einstmals durchaus reale Faktoren waren, ihrer Wirklichkeit nach jetzt nur noch Überbleibsel aus alten Zeiten sind. In alten Zeiten hatten die betreffenden Einrichtungen, die betreffenden Gepflogenheiten ihre reale Bedeutung. Sie waren gewissermaßen Realitäten. Die Realität hat aufgehört. Sie hat sich durch das Stadium des Symbols hindurchentwickelt und ist zuletzt zur bloßen Phrase geworden.

Wir leben überhaupt in dem Zeitalter der Phrase. Nur handelt es sich darum, daß man einsieht, wie auch die Phrase einen gewissen Boden notwendig hat, auf dem sie wächst, und wie die Phrase auf der andern Seite vorbereitend ist für etwas, was in der Menschheitsentwickelung kommen muß. Würde alte Realität sich nicht verwandeln in Phrase, das heißt in etwas, was wie ein existierendes Illusionäres ist, so würde sich nicht etwas ganz Neues als Realität geltend machen können. Neues könnte nicht kommen, würde zum Beispiel in unsere Zeit noch herein- ragen der sichtbare, sinnlich wahrnehmbare Gott in Menschengestalt, wie das noch als letzter Ausläufer im alten Römischen Reiche vorhanden war; denn die römischen Kaiser waren, wenn das auch nicht mehr so voll empfunden wurde, wie es empfunden worden ist im Oriente drüben, sie waren dennoch ihren Prätentionen nach Götter. Nero war wenigstens der Annahme, der Hypothese nach ein wirklicher Gott in Menschengestalt. Diese Dinge haben im Laufe der Zeit ihre reale Bedeutung verloren. Sie sind durch das Stadium des Zeichens, des Sinnbildes gegangen und sind dann geworden zur bloßen Phrase.

Nun handelt es sich darum, daß, je mehr die Dinge zur Phrase werden, desto mehr sich der Boden vorbereitet für eine neue Wirklichkeit, das heißt für ein Geistesleben, das nun nicht aus der sinnlichen Welt,

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sondern aus der übersinnlichen Welt geholt wird, für ein Geistesleben, das die göttlich-geistigen Wesenheiten nicht in Menschengestalt finden will, sondern sie finden will als reale, wirkliche Wesenheiten unter den sichtbaren Menschen auf der Erde. Erst muß das Phrasenliafte da sein, muß dann aber auch erkannt werden. Dann wird es möglich, daß ein neues geistiges Leben sich wirklich entwickelt. Man muß also geradezu, wenn man die Gegenwart verstehen will aus solchen, sagen wir, unangenehnien Voraussetzungen heraus, sein Augenmerk richten können auf die Geburt eines neuen geistigen Lebens mit völligem Illusionäiwerden dessen, was in der Entwickelung der Menschheit Realität war.

Es ist nur zu natürlich, daß die Menschen an den alten Realitäten festhalten wollen, auch wenn sie schon zur Phrase geworden sind; denn durchschauen, daß die Dinge zur Phrase geworden sind, das bewirkt in den Menschengemütern eine gewisse Unsicherheit. Man glaubt, wenn man sich gestehen muß, daß die alten Dinge zur Phrase geworden sind, daß man nicht mehr einen sicheren Boden unter den Füßen habe. Man liebt es, sich zu täuschen, weil man in dem Augenblicke, wo man die Täuschung als Täuschung hinnimmt, eben glaubt, in der Luft zu schweben. Man wird nur dann nicht mehr glauben, in der Luft zu schweben, wenn man die Festigkeit des neuen Geisteslebens wirklich erfüHen kann. Und wir leben eben in dem Zeitalter, in dem wir Teilnehmer werden müssen an der untergehenden Phrase und Teilnehmer werden müssen an dem aufsteigenden Geistesleben. Das wird insbesondere dadurch möglich werden, daß bei allen englisch sprechenden Menschen sich immer mehr und mehr herausstellen muß, wie dasjenige, was sie sich bewahrt haben traditionell aus früheren Zeiten und wovon sie noch reden, wie das durchaus Phrase ist und wie eine Realität unter dieser Phrase das wirtschaftliche Leben ist, wie ich es Ihnen gestern geschildert habe als einzige, wahrhaftige Realität, die unter der Phrase ist.

Aber ein Moment wird da eintreten, ein Moment, der von ganz besonderer Wichtigkeit ist. In dem Augenblicke, wo man empfinden wird, daß man es zu tun hat mit jenem wirtschaftlichen Leben, das ja in der dritten, vierten Generation «anständig» wird, wie ich gestern geschildert habe, und sonst mit Phrase, in diesem Augenblick wird man empfinden die Nichtigkeit des Menschen, der bloß - als in einer Realität -

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Im physischen Leben drinnensteht. Diese Erkenntnis muß insbesondere den westlichen Völkern aufdämmern. Es muß der Moment kommen, wo das Eingeständnis in der Seele Platz greift: An all dem, was wir reden, können wir nicht mehr festhalten. Die Realität unter uns Ist dasjenige, was wir für den Magen und die Verdauung der Menschen erwerben und zubereiten. Solange man die Phrase noch nicht in ihrem Phrasencharakter durchschaut hat, solange man noch nicht weiß, daß die Wirtschaft die einzige Wirklichkeit ist, so lange wird man nicht zu dem notwendigen Geständnis kommen. Kommt man aber zu dem notwendigen Gestäridnis, dann kann die menschliche Natur nicht mehr anders, als sich sagen: Um Mensch zu sein, brauchen wir eine geistige Wirklichkeit zu der physischen Wirklichkeit des bloßen Wirtschaftens hiiizu.

Dieser Moment der Erkenntnis muß aufdämmern. Ohne diesen Moment der Erkenntnis kommt die Menschheitsentwickelung nicht weiter. Gerade aus demselben Grunde, aus dem wir einem neuen Geistesleben entgegengehen, müssen wir in der Gegenwart in das Element der Phrase untertauchen.

Nun ist allerdings die stärkste Begabung, das stärkste Talent für diese Erkenntnis in den westlichen Völkern gegeben. In den westlichen Völkern sind alle Vorbedingungen gegeben, daß eine solche Erkenntnis wirklich aufdärtrtiert, während zum Beispiel die andern Völker Europas wenig Anlage haben, daß unter ihnen eine solche Erkenntnis in der nötigen Intensität aufdämmert. Denn da herrschen vielfach andere Verhältnisse, welche verhindern, daß die Illusionen so gründlich, so radikal durchschaut werden, wie sie namentlich in der englisch sprechenden Bevölkerung durchschaut werden können. Sie brauchen ja auch nur wiederum historische Verhältnisse ins Auge zu fassen.

Denken Sie sich einmal, daß die verschiedenen in Mitteleuropa lebenden Stämme germanischen Ursprungs vereinigt waren seit der Zeit der Nachfolger Karls des Großen, seit den sächsischen, seit den staufischen Herrschern als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, wie ich schon gesagt habe. Dieses Heilige Römische Reich Deutscher Nation war im Grunde genommen ein ganzes Netz von lauter Symbolen. Es war alles in dem Charakter des Zeichens, des Symbolums. Man hatte bei allem nötig, dem man gegenüberstand, zurückzugehen vom Zeichen,

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vom Symbolum zu einer irgendwie gearteten Wirklichkeit. Man kam mit diesem Durchdringen durch das Zeichen, durch das Symbolum aber nicht zu einer vollen geistigen Wirklichkeit. Das verhinderten die Kirchen. Man kam gewissermaßen zu einem bloßen Schweben und Schwimmen in einer geistigen Wirklichkeit. Daher hat alles dasjenige, was das Mittelalter über eine geistige Wirklichkeit zu sagen hatte und was die Nachfolgeschaft der europäischen Bekenntnisse über eine solche geistige Wirklichkeit zu sagen hat, den Charakter des Halbbegriffenen, des Nicht ganz zu-Begreifenden. Es hat den Charakter des Lichtscheines, der durch bunte Fensterscheiben in die mittelalterlichen Kirchen fiel. Man schreckte zurück, wenn man von den Symbolen zum Geistigen kam, man schreckte zurück vor einer klaren, scharfen Erfassung. Man wollte im Gegenteil lieber die Sache so charakterisieren, daß sie dastand als ein halb Unbekanntes, das von der Erkenntnis nicht durchdrungen werden kann.

Und so ist es ja auch eigentlich mit den äußeren sozialen Verhältnissen gewesen. Wer mit innerem Sinn wirklich studiert die Geschichte dieses Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation - und die schweizerische Geschichte ist ja im Grunde genommen innig mit dieser Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbunden -, der wird finden, daß Unklarheiten über Unklarheiten von Zeitalter zu Zeitalter sich fortpflanzen. Unklarheiten, durch die man die eigene soziale Organisation aufzunehmen, in ihr zu leben, sie zu begreifen versucht, bis man dann 1806 merkte - selbst die Habsburger merkten es damals -, daß das ganze Heilige Römische Reich Deutscher Nation keinen Sinn mehr habe. Und der ja besonders begabte - das heißt negativ begabte - Kaiser Franz I. legte die deutsche Kaiserkrone dazumal nieder, nachdem er sich in der österreichischen Kaiserkrone zwei Jahre vorher einen persönlichen oder, wie man es in diesem Falle nennt, Haus-Ersatz geschaffen hatte. Es verloren die Sachen die Möglichkeit zu bestehen, weil man schließlich hinter diesem Symbolum keinen Sinn mehr finden konnte. Und es blieb für diese Menschen in Mitteleuropa nichts anderes zurück als ein Streben, ein Wollen, welches nach allem Möglichen ging, aber wenig konkreten Sinn in sich barg.

Daher die Reichsbegründung von 1870/71 mit dem inneren Widerspruch.

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Ein deutsches Kaisertum wurde geschaffen, aber aus keinen realen Verhältnissen heraus. Man erfand diesen Titel. In Frankreich hätte man vielleicht, wenn irgend etwas Ähiiliches gelungen wäre, den «Empereur» wiederum verstanden, halb verstanden wenigstens, weil da noch etwas Substanz im Volke vorhanden war; aber innerhalb des deutschen Wesens war ein Name da, der vorausgesetzt hätte, daß man Talent gehabt hätte für bloße Namen, die nichts bedeuten; daß man Talent gehabt hätte auf der einen Seite, die Phrase zu pflegen, und auf der andern Seite eine darunterstehende, mit ihr zunächst nichts zu tun habende Realität eines Wirtschaftslebens oder so etwas dergleichen. Aber dieses Talent gab es in Mitteleuropa nicht. Und um zu verstehen, was sich in diesem Mitteleuropa entwickelte, muß man sich klar sein darüber, daß man eigentlich Geschichte nicht studieren soll in abstrakten Begriffen, sondern in Realitäten! Man kann eine Frage mit der Zielsetzung der Realität aufwerfen: Was ist es denn eigentlich, was unter dem deutschen Kaisertum von 1871 bis 1914 sich entwickelt hat? - Dasjenige, was da war, was die Leute außen gesehen haben, war ja nur eine Illusion. Was war die Wirklichkeit? Ja, sehen Sie, bei geschichtlichen Erscheinungen ist es so, daß irgendeine Sache auftritt (rot); unter ihrer Oberfläche enthält sie eine andere Sache (blau). Wenn die erste Sache als Illusion verschwindet, dann erscheint die zweite in ihrer Wirklichkeit in der Fortsetzung.

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Tafel 17

Man soll nicht analysieren, sondern man muß auf die Realität hinweisen, auf das Konkrete. Was unter dem deutschen Kaisertum von 1871 bis 1914 sich entwickelt hat, das zeigte sich nicht damals, als es ablief, denn das war die Illusion; die Wirklichkeit kommt hinterher, sie ist dasjenige, was sich seit dem November 1918 entwickelt; das sind die gegenwärtigen Machthaber. Der Grundcharakter des wilhelminischen Zeitalters ist Noske. Der Grundcharakter desjenigen, was sich da entwickelte seit Jahrzehnten, das kam erst heraus, als die gegenwärtigen Machthaber auftraten. Definiert wird der deutsche Exkaiser durch die sogenannten revolutionären Machthaber der Gegenwart. Die Zustände, die damals unter der Oberfläche lebten in den Jahrzehnten vor

her, in denen man sich den Illusionen hingab, das sind die Zustände, die jetzt in der Wirklichkeit da sind.

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Und so können Sie in Wirklichkeit Geschichte studieren, indem Sie in der Evolution die Involution aufsuchen, indem Sie dasjenige aufsuchen, was sich unter der Oberfläche entwickelt. Wie heißt denn dasjenige in Wirklichkeit, was im 19. Jahrhundert russischer Zarismus war? Dasjenige, was russischer Zarismus war, das heißt heute, wo es in seiner Wahrheit erschienen ist, Lenin und Trotzkij, Bolschewismus. Das ist die konkrete Wahrheit desjenigen, was damals bloß eine Illusion war. Der Zarismus ist bloß die an der Oberfläche schwimmende Lüge; dasjenige, was aber dieser Zarismus wirklich gepflegt hat, erschien, sobald er selbst weggefegt war, in seiner wahren Wirklichkeit. Lenin ist nichts anderes als erst der Zar; nachdem man ihm die Haut abgezogen hatte, da blieb dasjenige, was seine Wirklichkeit war, übrig, und das heißt heute Lenin oder Trotzkij. Und wenn Sie, dieses Bild fortsetzend, Leuten wie Caprivi oder Hohenlohe oder Bethmann Hollweg die Häute abziehen, so bleiben übrig Noske, Scheidemann und so weiter. Das sind die wirklichen Gestalten; die andern waren bloß daraufgestülpte Illusionen.

Es handelt sich darum, daß man in der Geschichte nicht durch abstrakte Begriffe und Ideen eine Erscheinung illustriert, sondern durch dasjenige, was in der Geschichte wirklich wird. Es wird immer in der Geschichte die Definition einer Sache eine andere Tatsache sein, nicht ein abstrakter Begriff. So handelt es sich darum, Realitäten zu studieren. Und so handelt es sich namentlich darum, sein Augenmerk darauf zu richten, welches die Realitäten sind; denn heute leben wir in dem Zeit- alter, wo Realitäten durchschaut werden müssen, wo Realitäten restlos enthüllt werden müssen.

Diese Erscheinung zeigt sich ganz besonders, wenn Sie studieren die Konstitution, den Inhalt derjenigen Geheimgesellschaften, welche eine große Macht innerhalb der englisch sprechenden Bevölkerung haben, eine Macht, welche man im breiten Publikum nicht ahrit. Das sind Gesellschaften, welche sich unter außerordentlich sympathischen äußeren Regeln zusammentun, Gesellschaften, welche gerade im fünften nachatlantischen Zeitraum eine immer größere und größere Macht erlangt haben.

Wenn Sie in das Jahr 1720 zurückblicken, so haben Sie in England ein paar Anhänger solcher Gemeinschaften. Anhänger sind in der Regel

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bloß die Werkzeuge, die eigentlich schiebenden Menschen stehen dahinter; aber auch Anhänger waren dazumal nur ein paar. Sehen wIr heute die Statistik nach, so haben wir an freimaurerischen Gesellschaften, also solchen Gesellschaften, die ein gutes Instrument in den Händen der Geheimgesellschaften sind, in London 488 Logen, in ganz Großbritannien 1354 Logen, in den Kolonien und im Ausland als englische Logen 486; und daran angeschlossen das sogenannte Royal Arch Cap, also dasjenige, was schon die äußeren Usancen der Freimaurerei etwas geheimhält, 836 in der ganzen Welt.

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Tafel 17

Nun handelt es sich darum, erstens den substantiellen Gehalt desjenigen, was innerhalb dieser Logen existiert, ins Auge zu fassen als ein Instrument für die eigentlich schiebenden Mächte. Und dann handelt es sich darum, die Gründe aufzusuchen, warum diese Mächte eigentlich bis heute eine außerordentlich große Bedeutung gehabt haben. Der eigentlich substantielle Gehalt, der geht in Zeiten fernster Vergangenheit zurück. Und diejenigen, die immer wieder und wieder betonen, daß der Inhalt der Maurerei in Zeiten ferner Vergangenheit zurückgeht, die haben so ganz Unrecht nicht, wenn auch die Dinge, so wie sie dargestellt werden, oftmals nebulos, vielleicht sogar schwindelhaft sind. Aber das Zurückgehen in Zeiten ferner Vergangenheit beruht doch auf einem gewissen wahren Hintergrund. Es geht sogar in so ferne Vergangenheiten zurück, daß wir sagen können: Diese Vergangenheiten sind diejenigen des alten, ersten Stadiums des Imperialismus, wonach der Gott in Menschengestalt unter Menschen herumwandelte. Da hat dasjenige, was in diesen Logen heute gesprochen wird, namentlich aber was gezeigt wird, einen Sinn gehabt. Dann ist es zum Symbolum geworden. Der Sinn ist längst dahin. Man kann sagen, innerhalb derjenigen Logen, die heute existieren, ist von einem Wissen, vom Inhalte desjenigen, was getan oder gesagt wird, kaum irgend etwas vorhanden. Aber geblieben ist die Symbolik. Die Symbolik hat sich nun auch in das Stadium der Phrase herein fortgepflanzt, sodaß wir namentlich in englisch sprechenden Gegenden und denjenigen Gegenden, die von ihnen abhängig sind, zwei Schichten von Kulturfermenten nebeneinander haben: die äußere, ganz exoterische, das öffentliche Leben beherrschende Phrase und in den Geheimgesellschaften das Symbolum, das nur traditionell bewahrt

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wird, von dem gar nicht angestrebt wird, es bis zu seinem wirklichen Urgrund zurückzuführen, das aber als Symbolum bewahrt wird. Dadurch wird das Symbolum zur Phrase in symbolischer Gestalt, oder zum Symbol, das auch Phrase wird, aber das in anderen Gestalten auftritt. Sie haben also die äußere exoterische Phrase des öffentlichen Lebens, die in der gewöhnlichen Menschensprache sich ausdrückt, die in den Parlamenten zum Beispiel ihr Wesen treibt, und dann haben Sie in den Geheimgesellschaften das Treiben mit der Symbolik, von der in der Regel auch diejenigen nichts verstehen, denen diese Symbolik überliefert wird. Es ist also etwas Phrasenhaftes in Symbolgestalt. Das ist wichtig, daß wir neben der äußeren rein wörtlichen Phrase die kulturelle Phrase haben, die zeremonielle Phrase. Denn diese zeremonielle Phrase birgt immerhin ein geistiges Element in sich. Und in Geheimgesellschaften, welche echte zeremonielle Formen haben, das heißt solche, die auf wirkliche Usancen zurückgehen, kann es vorkommen, daß durch ihr Karma besonders begabte Leute hinter den wirklichen Sinn dieser Symbole einmal kommen. Manchmal findet ja auch ein blindes Hühnchen ein Korn. Also es kann durchaus vorkommen, daß besonders begabte Leute hinter den Sinn der Zeremonien kommen; dann werden sie aus den betreffenden Geheimgesellschaften entfernt. Aber man sorgt dafür, daß sie diesen Geheimgesellschaften nicht mehr schädlich werden können. Denn dasjenige, was besonders wichtig ist für diese Geheimgesellschaften, ist die Macht, und nicht die Einsicht. Es handelt sich durchaus ja darum, die Geheimnisse in traditioneller Form zu bewahren. Und in dieser traditionellen Form haben sie eine gewisse Macht. Warum?

Ich habe Ihnen jetzt gewissermaßen den substantiellen Inhalt geschildert. Aber dieser substantielle Inhalt, der ist ja an die Menschen gebunden, die in diesen Geheimgesellschaften zusammengerottet werden. Denken Sie, wie viele Leute zu diesen verschiedenen Logen der Welt gehören. Diese Leute sind nun, indem sie in die Logen eintreten, gegenübergestellt dem Zeremoniellen, das so geartet ist, wie ich es Ihnen eben charakterisiert habe. Aber sie sind unter gewissen Gesichtspunkten für die Logen gewonnen. Und einer der wichtigsten Gesichtspunkte, unter denen sie für die Logen ursprünglich gewonnen sind - wenn auch von verschiedenen Seiten gegen diese Gesichtspunkte besonders heute

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in der mannigfaltigsten Weise gesündigt wird, darauf kommt es aber für die Wirksamkeit dieser Logen nicht an -, einer der wichtigsten Gesichtspunkte, unter dem die Menschen in diesen Logen zusammengerottet sind, ist der der absoluten Indiskutabilität der religiösen Bekenntnisse. Gewiß, es wird dagegen gesündigt. Es gibt heute in der Welt Freimaurerlogen, die, sagen wir, keine Juden aufnehmen. Selbstverständlich, das gibt es; aber die verstehen eben nichts von dem Grundprinzip. Das Grundprinzip ist, Menschen aller Bekenntnisse in sich zu fassen. Das ist einer der Hauptgrundsätze also, auf den Inhalt desjenigen, was einer glaubt, nichts zu geben. Das andere ist, innerhalb der Logen nichts zu geben auf die äußeren Klassen- und sonstigen Unterschiede. Die Menschen, die innerhalb der richtigen Logen sind, sind alle untereinander Brüder, gleichgültig ob einer ein Lord oder der andere ein Arbeiter ist, nur, daß auch dagegen wieder gesündigt wird. Es werden in den meisten Logen keine Arbeiter aufgenommen, sondern nur Lords und diejenigen, die ihnen gefügig sind. Aber das hat mit dem Prinzip als solchem nichts zu tun. Diejenigen, die drinnen sind, die sind eben durchaus vereinigt unter der Devise: Alle sind Brüder. - Es gibt ja nur die Grade; die haben aber nichts zu tun mit der äußeren Schichtung, mit der sozialen Schichtung der Menschen. Dadurch sind die Menschen zusammengerottet unter Gesichtspunkten, die mit der äußeren sozialen Ordnung nichts zu tun haben, denn in unserer äußeren sozialen Ordnung haben wir durchaus die Menschen geschichtet erstens nach ihren Bekenntnissen, die da noch eine Rolle spielen - Bekenntnisse spielen in den wirklichen Logen keine Rolle -, zweitens wird man nicht behaupten können, daß die Menschen in der äußeren sozialen Ordnung Brüder sind. Sie sind nicht Brüder. In den Logen, diejenigen wenigstens, die drinnen sind, sind Brüder.

Aber solche Dinge, die haben eine gewisse reale Bedeutung. Es ist nicht gleichgültig, unter welchen Gesichtspunkten man Menschen zu Gemeinschaften zusammenfaßt. Wenn man Menschen unter einem gleichen Bekenntnisse zu einer Gemeinschaft zusammenfaßt, so ist das im realen Leben eine Gemeinschaft, die unter Umständen nur angewiesen ist auf die äußere Macht, auf die tote Macht. Wenn man Menschen zusammenfaßt unter dem Gesichtspunkte, daß das Glaubensbekenntnis

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gleichgültig ist, dann wird daraus eine Gemeinschaft mit einer besonders starken geistigen Macht. Daher hat die katholische Kirche immer müssen ihre Macht unterstützen durch politische Machtmittel, weil sie die Menschen, wenigstens annähernd, zusammenfassen will unter einem gewissen einheitlichen Bekenntnis. Sie ist immer um so mächtiger gewesen, je weniger es den Leuten auf das Bekenntnis ankam, je weniger es der Hierarchie, je weniger es Rom auf das Bekenntnis ankam. Denn im äußeren Leben, in den physischen sozialen Ordnungen das Bekenntnis als das Maßgebende machen heißt machtlos machen. Machtvoll kann nur eine Gemeinschaft auftreten, die nichts auf das Bekenntnis als solches gibt.

Dieses ist von einer ganz besonderen Wichtigkeit im Zeitalter der Phrase. Denn neben die öffentliche Phrase stellt sich gewissermaßen die esoterische Phrase, die des Zeremoniells, die des Kultus hin. Und aus diesen Untergründen heraus hat sich eigentlich die soziale Wirrnis der Gegenwart in Wahrheit ergeben. Man kann sehr merkwürdige Zeugnisse anführen für die Phrasenhaftigkeit des Zeitalters. Sie wissen, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herein standen sich im englischen Parlamente gegenüber eine liberale Partei, die Whigs, und eine konservative Partei, die Tories. Whigs und Tories standen sich gegenüber. Was waren denn das eigentlich für Benennungen? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese Bemühungen im Grunde genommen ganz ernsthaftig gemeint. Die Liberalen nannte man Whigs, und man brauchte sich nicht einmal zu genieren dabei; die andern nannte man Tories, man brauchte sich auch nicht zu genieren dabei. Aber als diese Benennungen aufgekommen waren im Morgenrot des englischen Parlaments, was waren denn diese zwei Namen? Der Name Whigs, er war ein Schimpfname. Er kam als Schimpfname auf. Als sich ein schottischer Bund bildete gegen die in Schottland verpönte englische Maßregel einer gewissen Kirchendisziplin, da rotteten sich schottische Leute zusammen, die man dann in England Whigs schimpfte. Also so weit ging die Phrase, daß man eine offizielle Benennung dadurch gewann, daß man einen Schimpfnamen umwandelte zu der offiziellen Benennung. Denken Sie sich, wie sich das alles abspielt über der Realität. Die Realität bestand darinnen, daß man die Mitglieder dieses schottischen Bundes in England

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Whigs nannte. Dann waren es die ganz ehrwürdigen Liberalen, die Whigs nicht geschimpft, sondern definiert wurden. Und die Tories - das war ein Name, der aus Irland gekommen war. So nannte man dort im 17., 18. Jahrhundert die Anhänger des Papismus. Dann war dieser Name, der ein Schimpfname für die irischen Papisten war, der öffentliche Name für die englischen Konservativen geworden. Das alles spielte sich ab im Reiche der Namen, im Reiche der Benennungen, im Reiche der Phrase. Die Wirklichkeit hatte damit gar nichts zu tun. Das ist ein Beispiel, das, ich möchte sagen, von der Oberfläche geholt ist. Aber für diese Erscheinung können Sie, zunächst in der englisch sprechenden Welt, dann aber in der ganzen übrigen Welt, insofern sie angesteckt davon war und ist, überall die gleichen Erscheinungen finden.

Aber was ist denn das, daß sich so viele Menschen zusammentun unter Gesichtspunkten, die durchaus löblich sind, wie die Menschen, die in den Logen zusammengetan sind? Es kommt ja dabei gar nicht darauf an, daß eine geringe Zahl von recht zweifelhaften Existenzen auch in den Logen sind. Es kommt dabei auf das Prinzip an. Das hat eine große Bedeutung, daß sich da unter den wirksamsten Gesichtspunkten Menschen zusammenfinden, und sich zusammenfinden in dem phrasenhaften Zeremoniell, in dem phrasenhaften Kultus, der nun seinerseits wiederum den Zusammenhalt dieser Menschen gibt aus realen geistigen Untergründen heraus.

Es ist ja doch so, daß wenn irgend jemand, sagen wir, ein mächtiger Minister ist und einen Unterstaatssekretär braucht, es ihm selbstverständlich lieber ist, wenn er seinen Bruder Maurer ernennen kann, als wenn er einen beliebigen andern zu ernennen hat. Es ist sogar berechtigt, denn den kennt er besser, mit dem kann er besser arbeiten. Es wird sogar in berechtigter Weise eine Zusammenrottung getrieben, die einmal für die Verhältnisse, in die sie hineingestellt ist, nicht einmal ungünstig ist, die aber aufhören muß, in dieser Weise zu wirken.

Aber was ist es denn eigentlich, was da auftritt? Es ist doch merkwürdig, daß gerade im Zeitalter der Phrase, die im öffentlichen Leben herrscht, daß in diesem Zeitalter der Phrase auftritt eine geistige Strömung, eine geistige Gemeinschaft mit entschieden wirksamen Prinzipien! Diese geistige Gemeinschaft hält sich recht sehr geheim, nicht so

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sehr ihrem Bestande nach, sondern ihrem eigentlichen inneren Impuls nach. Warum ist denn das eigentlich? Weil wir im Zeitalter der Phrase leben und die Phrase es gestattet, Wirklichkeiten zu fälschen. Denn was bildet sich denn da eigentlich heraus? Was ist denn im Grunde genommen schon da? Das zunächst auf sich gestellte wirtschaftliche Leben, mit dem die Phrase nicht mehr stimmt; das Geistesleben, das unterirdisch getrieben wird, und das Rechtsleben, das eben als Phrase in der Toga einherschreitet, ungefähr mit derselben Bedeutung für die äußere Welt als Jurisprudenz, wie der englische Richter im Richterornat dasitzt. So wie dieses Richterornat sich verhält zu dem, was da Wirklichkeit ist, so verhält sich die Jurisprudenz zu dem, was die dahinterstehende Wirklichkeit ist. Eine Dreigliederung im Reich der Phrase, eine Dreigliederung in der Unwahrheit, aber der Beweis für die Notwendigkeit der Dreigliederung.

Sie sehen, die Dreigliederung wollen heißt im Grunde genommen an die Stelle der Lüge, der Phrasen die Wahrheit setzen, aber die Wahrheit als Wirklichkeit, während in der Gegenwart die Epoche angebrochen ist, wo Wirklichkeit nicht die Wahrheit ist, sondern wo Wirklichkeit die Phrase ist und alles dasjenige, was von der Phrase abhängt.

Man kann ja allerdings die Phrase treiben sowohl in der geistigen Welt wie auch in der Rechtswelt, in der Staatswelt; nur in der wirtschaftlichen Welt läßt es sich nicht gut machen. Denn da kommt doch das im Großen in Betracht, was mir bei mannigfaltigen öffentlichen Vorträgen immer wieder - die Dinge spielen sich ja immer wiederholt ab - eingewendet worden ist. Nachdem ich auseinandergesetzt habe, wie der Mensch durch die Verfolgung desjenigen, was in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gesagt worden ist, dazu kommt, innerlich eine Anschauung der geistigen Welt, der geistigen Realität zu entwickeln, da steht nach jedem dritten Vortrag einer auf in der Diskussion und sagt: Ja, aber wie kann man wissen, daß, was man innerlich schaut, eine Realität ist? Es gibt doch Autosuggestion. Diese ganze geistige Welt könnte ja nur eine Autosuggestion sein! Es gibt doch sogar die Suggestion, daß man, wenn man bloß an Limonade denkt, einen Limonadegeschmack im Munde hat; da suggeriert man sich selber den Limonadegeschmack. Man hat gar keine Limonade da, aber man denkt

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bloß an Limonade, und man hat es als Geschmack. - Darauf sagte ich immer: Es kommt eben an auf das Stehen in der vollen Wirklichkeit. Gewiß, man kann sich den Limonadegeschmack suggerieren, aber man kann sich nicht die Stillung des Durstes auf diese Weise durch Gedanken suggerieren. Die Stillung des Durstes bleibt aus. - Wenn man also nur weit genug geht, dann führt die Sache schon zur Realität. Man kann Phrasen im Reich der Geistigkeit, man kann Phrasen sogar noch im Reiche des Rechtlichen, des Staatlichen haben, aber man kann Phrasen nicht gut im wirtschaftlichen Leben haben, weil man sie nicht essen kann oder wenigstens nicht satt wird davon.

Und so ist tatsächlich im Zeitalter der Phrase von den Realitäten die wirtschaftliche Realität gerade an den charakteristischsten Stellen zurückgeblieben. Und in dem Augenblicke - das muß ich noch einmal sagen -, in dem man erkennen wird, daß die Illusion eine Illusion ist, daß die Phrase eine Phrase ist, wird das große Schamgefühl auftauchen: Wir Menschen leben ja so, daß wir eine Vernunft haben, aber wir machen mit dieser Vernunft nichts anderes, als daß wir die wirtschaftlichen Unterlagen des physischen Lebens besorgen, welches die Tiere sogar ohne Vernunft zustande bringen. Wenn wir Menschen durch unsere Vernunft nichts anderes zustande bringen, als das wirtschaftliche Leben zu besorgen, Nahrung und alles dasjenige, was mit dem physischen Dasein zusammenhängt, dann prostituieren wir ja die Vernunft, dann brauchen wir unsere Vernunft, um etwas zu besorgen, was das Tier ganz gut ohne den Luxus der Vernunft besorgt. In dem Augenblicke, wo diese Selbsterkenntnis eintritt, das heißt, wo die Phrase als Phrase durchschaut wird, in diesem Augenblick wird das große Schamgefühl eintreten, und dann der Umschlag. Dann wird eintreten die Einsicht in die Notwendigkeit der Erneuerung der geistigen Welt.

Das muß aber in entsprechender Weise wirklich vorbereitet werden dadurch, daß eine genügend große Anzahl von Menschen die Verhältnisse der Gegenwart durchschaut. Denn was hilft es denn eigentlich, wenn die Menschen sich heute über dasjenige, was real ist, etwas vormachen? Was hilft es denn, an Lloyd George zu glauben, wenn man durchschauen kann, daß alles dasjenige, was aus seinem Munde kommt, notwendig bloß Phrase ist? Was hilft es denn, daß die Welt den Wilson

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angebetet hat, wenn man durchschauen kann, daß die ganze Wilsonsche Politik eine Phrasenpolitik war? Was hilft es denn, über europäische Verhältnisse heute nachzudenken aus denjenigen Prinzipien heraus, welche durch Jahrhunderte hindurch von alten Zeiten ererbte Prinzipien waren und für die heutigen Verhältnisse keine Kräfte mehr sein können?

Symbole sollte man auch in den geschichtlichen Erscheinungen sehen. Man sollte sich klar sein darüber, daß sich schon in den äußeren Erscheinungen merkwürdige Dinge ausdrücken. Die Habsburger - aus dem Elsaß sind sie hervorgegangen, durch die Schweiz sind sie nach Osten gerückt, immer weiter nach Osten. Am Östlichsten sind sie angekommen, als sie apostolische Könige von Ungarn geworden sind. Aber bei diesem Gang vom Westen nach dem Osten, da liegt das Eigentümliche vor, daß die westlichen Realitäten im Osten hinschwinden.

Die Hohenzollern haben keinen so weiten Weg gebraucht, bloß von Nürnberg bis Berlin, aber auch vom Westen nach Osten. Diese historischen Zeichen sind eben auch reale Symbole, die man wohl ins Auge fassen muß. Und ins Auge gefaßt muß werden, was heute unter der Phrase Realität ist. Deshalb kann auch unmöglich heute jemand aus dem, was im öffentlichen Urteile lebt, eine Realität noch herausgewinnen. Wer heute einen Sinn für Wirklichkeiten hat, der kommt eben auf sehr merkwürdige Dinge. Man versucht dasjenige, was im öffentlichen Leben auftritt, was überall in der Welt Nachahmung, Nacheiferung findet, die Whigs und die Tories, zu prüfen. Man sucht ihren Ursprung - Schimpfnamen waren sie, und man hat nötig gehabt, sie ernsthaftig zu nehmen, weil man für diejenigen Realitäten, die da waren, ernsthafte Namen nicht gut hätte finden können. So geht es uns heute mit sehr vielem; mit ungeheuer vielem geht es uns heute so. Wir versuchen heute im öffentlichen Leben, Worte gar sehr in ein gewisses mystisches Dunkel zu hüllen, und wir merken es nicht. Wir merken nicht, wie wir im Zeitalter der Phrase leben.

Ich kenne zum Beispiel einen sehr interessanten Kodex von lauter zusammengestellten Phrasen. Wenn man diesen Kodex aufschlägt, so findet man Sätze ganz merkwürdiger Art, wie zum Beispiel: Was ist das Recht? - Das Recht ist der Wille eines Volkes, - und so geht es

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weiter. Ja, meine lieben Freunde: Das Recht ist der Wille eines Volkes...! Volk - für die Menschen der Gegenwart ist das nur eine Summe von einzelnen Menschen. Aber diese Summe soll nun einen Willen haben! Von solcher Art sind nun alle die Erklärungen, die in diesem Kodex der Phrasen gegeben werden. Man hat das Gefühl, daß da einmal jemand sich den großen Luxus gegönnt hat, alles dasjenige, was gegenwärtig existiert im öffentlichen Leben, in die Sprache der Phrase zu übersetzen und das als einen Kodex herauszugeben. Und wissen Sie, wie dieser Kodex der Phrasen heißt? «Der Staat», und sein Verfasser ist Woodrow Wilson. Und erschienen ist dieser Kodex der Phrasen in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Woodrow Wilson sich nun nicht den Luxus machen wollen, die sämtlichen öffentlichen Phrasen zusammenzustellen - aber als Tatsache ist das gelungen. So wenig hat dasjenige, was die Leute in ihrer Phrasenhaftigkeit denken und sagen, noch zu tun mit dem, was wirklich entsteht. Nach seiner Meinung hat Woodrow Wilson herausgegeben die Summe der heutigen Staatsweisheit, in Wirklichkeit einen Kodex von lauter Phrasen. Vor einigen Jahren hat einen Deutschen so sehr der Hafer der Phrase gestochen, daß er nun dieses dicke Buch ins Deutsche übersetzt hat, sodaß dieses Buch auch im Deutschen vorliegt. Ich setze voraus, daß es noch in andere Weltsprachen übersetzt sein wird, ich weiß es aber nicht

Ohne diese Dinge zu durchschauen, ohne in diesen Dingen überall die Wirklichkeiten ins Auge zu fassen, kommen wir heute nicht weiter. Mit kleinen Gedanken kommt man heute nicht weiter. Es ist nötig, das Gemüt anzuspornen zu großen Gedanken. Davon wollen wir dann morgen weiter reden.

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ACHTZEHNTER VORTRAG Dornach, 22. Februar 1920

Wenn Sie die Betrachtungen, die wir gestern und vorgestern angestellt haben, noch einmal in Gedanken durchlaufen, dann werden Sie sehen: Zum Wesen des Imperialismus gehört, daß sich in einer Gemeinschaft, die den Imperialismus vertritt, etwas, was vorher eine Art Aufgabe war, eine erklärliche, wenn auch nicht immer berechtigte Aufgabe, mit einem gewissen Automatismus, möchte ich sagen, fortsetzt. Es ist bei geschichtlichen Erscheinungen in der Entwickelung der Menschheit so, daß einfach aus einer gewissen Trägheit heraus Dinge festgehalten werden, die einmal eine Berechtigung gehabt haben oder erklärlich waren, Ursachen gehabt haben, und die dann diese Antriebe eingebüßt haben. Wenn ein Gemeinwesen eine Zeitlang nötig hat, sich zu verteidigen, so ist das gewiß etwas Berechtigtes. Zu dieser Verteidigung werden dann Berufe geschaffen, ein polizeilicher, ein militärischer Beruf. Wenn dann aber die Gefalir nicht mehr vorhanden ist` gegen die man sich verteidigen soll, dann ist der betreffende Berufsstand da; man muß die entsprechenden Menschen weiter haben. Die wollen im Sinne ihres Berufes weiter wirken, und es bildet sich dann etwas heraus, was nicht mehr erklärliche Ursachen in den realen Verhältnissen hat. Es bildet sich dann vielleicht sogar aus dem, was zur Verteidigung da war, etwas heraus, was dann einen aggressiven Charakter hat. Und so ist es eigentlich mit allen Imperialismen, außer dem ursprünglichen Imperialismus des ersten Menschheitsstadiums, von dem ich Ihnen vorgestern gesprochen habe, der ja von vornherein dadurch, daß im Bewußtsein der zugehörigen Menschen der Herrschende der Gott ist, seine Berechtigung, die Herrschaft so weit auszudehnen als möglich, ableiten kann. Bei allen folgenden Imperialismen liegt ja im Grunde genommen schon das vor, daß ein innerer Antrieb, Herrschaft auszubreiten, nicht da sein kann.

Denn betrachten wir noch einmal von ganz bestimmten Gesichtspunkten aus dasjenige, was eigentlich in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit vorliegt. Da finden wir, daß den ältesten Zeiten,

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die wir geschichtlich nicht mehr ganz verfolgen können, aber in die noch zurückleuchten diejenigen Tatsachen, die geschichtlich zu verfolgen sind, daß da der Wille desjenigen, der als göttliche Wesenheit angesehen wird, der indiskutable Machtfaktor ist. Es gibt im öffentlichen Leben in solchen Imperialismen im Grunde genommen nichts zu diskutieren; aber diese Unmöglichkeit, zu diskutieren, muß sich eben darauf gründen, daß in der Tat in dem Herrschenden ein Gott in Menschengestalt auf der Erde wandelt. Da ist, wenn ich so sagen darf, für die Ordnung der öffentlichen, sozialen Angelegenheiten ein sicherer, ein fester Boden da.

Nun, allmählich geht dasjenige, was so als ein Festes, auf ein Reales, auf einen göttlich-menschlichen Willen Begründetes ist, in das zweite Stadium über. Im zweiten Stadium ist dasjenige, was hier im physischen Leben beobachtet werden kann, seien es Personen, seien es die Insignien von Personen, seien es die Taten der regierenden oder herrschenden Personen, das alles ist Symbolum, ist Zeichen. Während also im ersten Stadium des Imperialismus hier in der physischen Welt unmittelbar der Geist als daseiend gedacht wird, wird im zweiten Stadium dasjenige, was physisch da ist, als ein Abglanz, als ein Bild, als ein Symbolum desjenigen gedacht, was nicht in der physischen Welt da ist, sondern was sich eben nur durch die Personen, durch die Taten, durch anderes in der physischen Welt verbildlicht.

Solche Zeiten, in denen dieses zweite Stadium spielt, sind diejenigen, in denen eigentlich erst einen Sinn bekommt bis in die menschliche Gedankenwelt hinein, soweit öffentliche Angelegenheiten betroffen wer- den, das Diskutieren. In dem ersten Stadium des Imperialismus kann von dem, was wir heute Recht nennen, eigentlich noch gar nicht gesprochen werden. Es kann auch nicht gesprochen werden von irgendwelchen staatlichen Einrichtungen. Es kann nur gesprochen werden von den Erscheinungen der göttlichen Gewalt durch physische Menschen. Es kann nur davon gesprochen werden, daß in den sozialen Angelegenheiten der konkrete reale Wille der physischen Menschen wirkt. Da hat die Frage, ob dieser Wille berechtigt ist oder nicht, gar keinen Sinn. Er ist eben da. Er muß befolgt werden. Darüber zu diskutieren, ob der Gott in Menschengestalt das tun soll oder nicht tun soll, was er tut, ist sinnlos. Das gab es auch in jenen ältesten Zeiten gar nicht, in denen wirklich die Zustände

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vorhanden waren, die ich Ihnen für diese ältesten Zeiten geschildert habe. Aber wenn man in den physischen Verhältnissen nur das Bild der geistigen Welt zu sehen hat, wenn man von dem redet, was noch der heilige Augustinus als den Gottesstaat, das heißt den Staat, der auf der Erde hier liegt, der aber ein Abbild ist der himmlischen Tatsachen, der himmlischen Persönlichkeiten, bezeichnet, dann kann der eine die Ansicht haben, das, was durch die das Göttliche abbildende Persönlichkeit geschieht, das ist richtig, das ist ein wirkliches Abbild; der andere kann dawiderstreiten und kann sagen: Es ist nicht ein wirkliches Abbild. - Da entsteht erst die Möglichkeit der Diskussion. Der heutige Mensch glaubt, weil er gewohnt ist, alles zu kritisieren, über alles zu diskutieren, Kritisieren und Diskutieren sei in der Menschheitsentwickelung immer vorhanden gewesen. Das ist nicht wahr. Das Diskutieren und Kritisieren ist erst ein Kennzeichen des zweiten Stadiums, das ich Ihnen geschildert habe. Da beginnt auch erst die Möglichkeit, im eigenen Inneren zu urteilen, das heißt, ein Prädikat zu einem Subjekte hinzuzufügen. In den ältesten Ausdrucksformen der Menschen gab es dieses persönliche Urteil überhaupt nicht in bezug auf öffentliche Angelegenheiten. Im zweiten Stadium kann sich erst langsam alles dasjenige vorbereiten, was wir zum Beispiel heute Parlament nennen; denn das Parlament hat nur einen Sinn, wenn diskutiert werden kann über öffentliche Angelegenheiten. So daß also selbst die primitivsten Formen des öffentlichen Diskutierens erst ein Charakteristikon des zweiten Stadiums sind.

Wir leben heute, insoferne die gerade für westliche Länder charakteristische Form mehr oder weniger sich über die Welt ausbreitet, im dritten Stadium, in jenem dritten Stadium, das ich Ihnen, insofern das Seelenleben in Betracht kommt, als das Stadium der Phrase bezeichnete. Dieses Stadium der Phrase, wie ich es Ihnen gestern charakterisiert habe, ist eben dasjenige, wo auch aus der Diskussion heraus verschwunden ist die innerliche Substanz und wo daher jeder recht haben kann oder wenigstens glaubt, recht haben zu können, wo man ihm auch nicht beweisen kann, daß er unrecht hat, weil im Grunde genommen innerhalb der Welt der Phrase alles behauptet werden kann. Immer aber erhalten sich frühere Stadien in die nächsten Stadien hinein. Dadurch entstehen im

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Grunde genommen immer erst die inneren Impulse zu den Imperialismen. Die Menschen beobachten die Dinge nur sehr oberflächlich. Wenn der frühere deutsche Kaiser als den Ausdruck seiner Gesinnung in ein Buch, das man auflegte zum Einschreiben, hineinschrieb: Des Königs Wille ist erhabenstes Gesetz - wie er es getan hat, was bedeutet das? Das bedeutet: Er drückt sich im Zeitalter der Phrase so aus, daß der Ausdruck nur eine Bedeutung für das erste Stadium hat. Im ersten Stadium war es tatsächlich so, daß der Wille des Herrschers oberstes Gesetz war. Der Rechtsbegriff, der immer die Diskussion einschließt, der immer das Advokatorische im Gefolge hat, der ist wesentlich ein Charakteristikon des zweiten Stadiums, und er kann nur in seiner Realität aus dem zweiten Stadium heraus begriffen werden. Wer verfolgt hat, wieviel über Ursprung und Charakter des Rechtes diskutiert worden ist, der hat schon aus diesen Diskussionen entnehmen können, daß in den Rechts- begriffen als solchen etwas Schillerndes ist, weil man es eben mit dem symbolischen Zeitalter zu tun hat, wo das Geistige durch das Materielle hindurchschillert, schimmert, scheint, so daß, wenn man nur das äußere Zeichen> das auch im Worte, in den Rechtsusancen vorliegen kann, vor sich hat, dann über das Rechte gestritten werden kann, daß überhaupt auch im öffentlichen Leben über Rechte advokatorisch diskutiert werden kann.

Im Zeitalter der Phrase verliert man aber völlig das Verständnis dafür, wie zur Fixierung überhaupt des Rechtsbegriffes es notwendig ist, daß in den sozialen Verhältnissen die Anschauung herrsche: Es scheint herein das geistige Reich in das physische Reich. Und dann macht man eben solche Definitionen des Rechtes, wie ich sie Ihnen gestern vorgeführt habe durch das Beispiel des Woodrow Wilson. Ich will Ihnen heute eine Definition wörtlich vorlesen, die Woodrow Wilson gegeben hat vom Rechte, und Sie werden sehen, daß sich diese Definition dadurch auszeichnet, daß sie lauter Phrasenhaftes enthält. Ich habe es schon gestern angeführt, ich möchte das heute noch ganz genau anführen. Er sagt: «Das Recht ist der Wille des Staates in bezug auf die bürgerliche Aufführung derjenigen, die unter seiner Autorität stehen.» Also, der Staat entfaltet einen Willen! Man soll sich vorstellen, daß jemand, der sonst sehr stark im abstrakten Idealismus, um nicht zu sagen, im Materialismus -

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denn das ist ja fast dasselbe, abstrakter Idealismus und Materialismus, drinnensteht, daß der davon spricht: Das Recht ist der Wille des Staates. - Der Staat also soll einen Willen haben. Man muß von allen Geistern konkreter Anschauung verlassen sein, wenn man überhaupt nur in Versuchung fällt, dergleichen zu sagen oder hinzu- schreiben. Es ist dieses eben enthalten in jenem Werke, von dem ich Innen schon gestern gesprochen habe, in dem Kodex der Phraseologie: «Der Staat, Elemente historischer und praktischer Politik» von Woodrow Wilson.

Es stehen allerdings auch andere interessante Sachen darinnen. Auf eine Stelle möchte ich nur in Parenthese einmal Ihre Aufmerksamkeit lenken, da, wo Woodrow Wilson in diesem Buche über das Deutsche Reich spricht, nachdem er entwickelt hat, wie die Bestrebungen zur Begründung dieses Deutschen Reiches nach und nach gekommen sind, bis es zuletzt 1870/71 einer gewissen Rundung zustrebte. Das schildert er abschließend mit folgenden Sätzen: «Den letzten Antrieb zur Erreichung vollständiger nationaler Einigkeit brachte der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71. Die glänzenden Erfolge Preußens in diesem Kampfe, der im Interesse des deutschen Patriotismus gegen französische Unverschämtheit geführt wurde, machte der kühlen Zurückhaltung der Mittelstaaten ihrem großen Nachbarn im Norden gegenüber ein Ende; sie vereinigten sich mit dem übrigen Deutschland, und das Deutsche Reich wurde im Königsschloß zu Versailles am, 18. Januar 1871 begründet.

Das hat allerdings derselbe Mann geschrieben, der dann einige Zeit danach in Versailles sich vereinigt hat mit denjenigen, die dazumal in ihrer «Unverschämtheit» die Veranlassung dazu gegeben haben, daß das Deutsche Reich begründet worden ist. Vieles im heutigen öffentlichen Urteil rührt eben davon her, daß die Menschheit so entsetzlich oberflächlich ist und sich um die Dinge nicht kümmert. Wenn man sich entschließt, aus sachlichen Untergründen heraus zu urteilen, dann nehmen sich die Dinge immer anders aus, als sie heute im öffentlichen Urteil so hinschwimmen und von Tausenden und aber Tausenden von Menschen nachgesprochen werden. Es hätte gar nichts geschadet, damals, als Woodrow Wilson im gloriosen Zug in Paris angekommen ist, gefeiert

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von allen Seiten, ihm einmal diesen Ausspruch entgegenzuhalten. Das ist dasjenige, worauf gedrungen werden muß, wirklich aus inneren Gründen, daß auf die Tatsachen, das heißt zugleich auf die Wahrheit, wirklich hingewiesen werde.

Also im zweiten Stadium haben wir es zu tun mit dem, was zur Diskussion führt, was eigentlich erst den öffentlichen Rechtsbegriff möglich macht. Im dritten Stadium haben wir es zu tun, wie wir gesehen haben, als wesentliche Realität mit dem wirtschaftlichen Leben. Und wir haben gestern gezeigt, wie im Lauf der historischen Entwickelung dieses Zeitalter der Phrase durchaus notwendig ist, damit die Phrase, die nichts mehr enthält, den Menschen die Augen darüber öffnet, wie sie als in einer Realität nur im wirtschaftlichen Leben stehen und wie sie nötig haben, das Geistige, das neue Geistige nun wirklich in der Welt zu verbreiten.

Von diesem neuen Geistigen machen sich die Menschen zunächst nur eine sehr spärliche Vorstellung. Und begreiflich ist es daher, daß gerade dieses neue Geistige mit den schärfsten Mißverständnissen heute noch belegt wird. Denn bis in die Untergründe des menschlichen Lebens hinein muß sich dieses neue Geistige geltend machen. Und so sehr der Substanz nach, dem Inhalte nach jene Geheimgesellschaften, von denen ich gestern gesprochen habe, auch nur traditionell bewahren das Alte, so sehr ist die äußere Devise, «Brüder» zu sein> das heißt, die äußeren Klassenschichtungen nicht hineinzutragen in die Logen und auf die einzelnen subjektiven Bekenntnisse nichts zu geben, doch etwas, was in gewissem Sinne - wenn etwas anderes noch, das ich gleich charakterisieren will, hinzukommt - die Zukunft in der richtigen Weise vorbereiten wird.

Wir sagen heute - ich bitte Sie, auf das ganz besonders zu achten -, nehmen wir etwas ganz Banales, Gewöhnliches: Der Baum ist grün. - Das ist eine Redewendung, die durchaus dem zweiten Stadium menschlicher Entwickelung angehört: Der Baum ist grün. - Vielleicht werden Sie mich am besten verstehen, wenn ich Sie bitte, sich vorzustellen, man soll dasjenige, was man ausdrückt durch das Urteil: Der Baum ist grün -, man soll das malen. Man kann es nicht malen! Man kann nicht malen: Der Baum ist grün. - Man wird irgendeine weiße oder sonstige Fläche

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haben, wird da grüne Farbe auftragen, aber vom Baume malt man doch nichts! Und wenn man vom Baume etwas malt erst außer dem, was da noch grün ist, so wird das etwas sein, was nur das Objektive stört. Will man malen: Der Baum ist grün -, so malt man eben etwas, was eigentlich ein Totes ist. Die Art und Weise, wie wir Subjekt und Prädikat in unserer Sprache zusamme1ifügen, die ist im Grunde genommen nur brauchbar für unsere Weltanschauung des Toten, des Unlebendigen. Weil wir noch keine Vorstellung davon haben, wie alles in der Welt lebendig ist und wie wir uns auszudrücken haben gegenüber dem, daß alles lebt und webt, bilden wir solche Urteile wie: Der Baum ist grün -, was eigentlich vorausseut, daß ein Verhältnis besteht zwischen irgend etwas und der grünen Farbe, wälirend die grüne Farbe selbst das Schöpferische ist, init die Kraft ist, die da wirkt und lebt. Bis in das Innerste des Seelenlebens hinein wird - das wird allerdings eine lange Zeit in Anspruch nehmen - die Umwandelung des menschlichen Denkens und Empfindens vor sich gehen müssen, und diese Umwandelung wird sich übertragen auf die äußerlichen sozialen Verhältnisse, auf die Beziehungen der Menschen untereinander.

Mit Bezug auf alles das stehen wir heute erst durchaus im Anfange. Aber man muß einsehen, welches die Wege sind, die in dieser Beziehung zum Lichte führen. Ich sagte: Darinnen liegt etwas Bedeutsames, wenn sich Menschen untereinander vereinigen, so daß unter ihnen das subjektive Bekenntnis keine Rolle spielt. - Und verfolgen Sie einmal von diesem Gesichtspunkte aus - aber tun Sie es wirklich einmal in Ihren Gedanken - die Art und Weise, wie gerade in der Anthroposophie geschildert wird. Es wird da gar nicht so geschildert, daß Definitionen, daß gewöhnliche Urteile gegeben werden. Es wird versucht - man muß natürlich damit rechnen, daß die Menschen das als einziges noch gar nicht aufnehmen -, aber es wird im wesentlichen versucht, Bilder zu geben, die Dinge gerade von den verschiedensten Seiten darzustellen, und es ist so ziemlich das Unsinnigste, wenn man etwas, was wirklich im geisteswissenschaftlichen Sinne gemeint ist, auf das bloße Urteil des Ja oder Nein hin festnageln will. Das wollen ja gewiß die Menschen in der Gegenwart noch immer, aber das kann man nicht.

Es kommt ja immer wieder und wiederum vor, weil wir aus dem

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zweiten Stadium herauswachsen, in das dritte Stadium hineinwachsen, daß man irgendwie gefragt wird: Was ist gut für mich, der ich jetzt mit diesen oder jenen Schwierigkeiten im Leben zu kämpfen habe? - Man gibt irgendeinen Rat. Aha, sagt der Betreffende, also in dieser oder jener Lage des Lebens muß man dies oder jenes machen. - Es wird generalisiert! Aber die Sache hat nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung, denn Urteile, die aus der geistigen Welt heraus gefällt werden, die haben Immer nur eine individuelle Bedeutung, sind immer nur für den einzelnen Fall anwendbar. Diese Art zu generalisieren, die wir gewohnt worden sind aus dem zweiten Stadium der menschlichen Entwickelung heraus, die darf sich gar nicht in die Zukunft hinein fortsetzen. Die Menschen sind heute nur so sehr gewöhnt daran, die Dinge der Vergangenheit in die Zukunft hinein fortzusetzen. Abgewöhnen kann man sich, was da in den Seelen verderblich lebt, dadurch, daß man die Dinge eben In ihrer vollen Klarheit überschaut.

Ich habe Sie gestern darauf hingewiesen, daß eigentlich die katholische Kirche in vieler Beziehung zurückweist auf das erste Stadium. Sie enthält gewissermaßen etwas wie einen Schein oder Schatten des ersten Stadiums der Menschheitsentwickelung, einen Schein oder Schatten, der sich zuweilen sehr stark zu einer Art seelischen Imperialismus verdichtet hat, wie zum Beispiel im 11. Jahrhundert, als die Mönche von Cluny tatsächlich viel mehr über Europa herrschten, als man denkt. Aus ihnen ging dann der Papst Gregor VII. hervor, der mächtige, imperialistische Papst. Dadurch, daß eigentlich, vermöge der römisch-katholischen Dogmatik, sich der Priester als mehr fühlen muß als der Christus, weil er den Christus zwingen kann, auf dem Altar anwesend zu sein, dadurch ist deutlich bezeugt, daß die Institution der katholischen Kirche im wesentlichen das Schein- und Schattenbild ist desjenigen, was als erstes Stadium der Menschheitsentwickelung in dem urältesten Imperialismus dawar.

Nun wissen Sie, daß eine große Feindschaft zwischen der katholischen Kirche und allen den Gesellschaften, die die Freimaurerei, eine gewisse Sorte wenigstens von Freimaurerei, zu ihrem Werkzeuge haben, in westlichen Gegenden besteht. Nun würde es ja sehr weit führen, und ich kann dies in diesem Vortrage nicht mehr tun, in den Einzelheiten zu

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zeigen, wie sich diese Feindschaft nach und nach in der neueren Zeit immer mehr und mehr vergrößert hat. Aber auf das eine kann hingewiesen werden, daß in diesen Geheimgesellschaften schon eines sehr stark lebt, die Ansicht nämlich, daß die katholische Kirche nur das Schattenbild des eigentlich untergegangenen Imperialismus des ersten Stadiums ist. Das ist für diese Geheimgesellschaften eben doch Grund- lehre, daß die katholische Kirche das Schattenbild, der stehengebliebene Rest des ersten Stadiums des Imperialismus ist. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hat noch diesen Rahmen benützt, Karl der Große und die Ottonen haben sich von dem Papst krönen lassen, haben den Imperialismus des Seelischen als Salbungsmittel für den Imperialismus der äußeren Welt benützt. Man nahm das, was da war, was aus alten Zeiten geblieben war, und da hinein goß man dasjenige, was das Neue war. So daß man in den Rahmen der ersten Imperialismen die Imperialismen des zweiten Stadiums hineingegossen hat.

Nun sind wir beim dritten Stadium angelangt, das sich insbesondere in westlichen Gegenden zeigt, beim Wirtschaftsimperialismus. Dieser Wirtschaftsimperialismus, der hat in seinem Hintergrunde, wie gesagt, eine geistige Welt der Geheimgesellschaften, die mit phrasenhafter Symbolik sich sättigt. Aber wenn nun klar das bemerkt wird, daß die äußere Konstitution, die soziale Konstitution der Kirche nur ein Schartenbild von etwas ist, was früher da war und jetzt keine Bedeutung mehr hat, so wird das in bezug auf das zweite Stadium eben nicht durchschaut, und darinnen besteht noch die große Illusion, in der namentlich die Staatsleute der Weststaaten stehen. Es ist ja immerhin bezeichnend, daß Woodrow Wilson von dem «Willen des Staates» sprechen kann. Er würde nicht mehr sprechen von dem Willen der Kirche, aber er spricht von dem Willen des Staates als etwas Selbstverständlichem.

Nun hat der Staat als der Träger des Rechtes, indem er als eine Totalität genommen wird, als eine Ganzheit genommen wird, nur im zweiten Stadium der Menschheitsentwickelung die Bedeutung, die ihm beigelegt wird, gehabt. Während in den ältesten Zeiten die Kirche alles war, beziehungsweise das, woraus die Kirche geworden ist, alles war, war in dem zweiten Stadium das alles, woraus der Staat geworden ist. Für die Kirche bemerkt man die Sache, insbesondere in den Geheimgesellschaften;

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für den Staat bemerkt man es nicht, will es nicht bemerken. In den Staat wird vorläufig so hineingegossen, wie im Mittelalter in die Kirche hineingegossen wurde dasjenige, was neu war; in den Staat wird hineingegossen dasjenige, was sich etwa vereinigt hat unter einem gewissen Freiheitsbegriff. In den Staat wurde hineingegossen der ganze wirtschaftliche Imperialismus Großbritanniens. Und diejenigen, die brav aufgezogen werden in Großbritannien, sehen in dem Staat etwas Selbstverständliches, etwas, dem sie ganz gut irgendeinen Willen zuschreiben können.

Das aber muß eben gerade durchschaut werden, daß diese Art des Staatsbegriffes denselben Weg nehmen muß, den der Kirchenbegriff genommen hat. Man muß erkennen: Wenn man für die Gesamtheit des sozialen Organismus diesen Staatsbegriff beibehält, der eine bloße Rechtsinstitution ist, und alles andere in diese Rechtsinstitution hineinpreßt, dann pflanzt man eben Schatten so fort, wie man in der Kirche - jetzt schon bewußterweise für die Geheimgesellschaften - einen Schatten fortgepflanzt hat. Aber davon ist noch wenig Bewußtsein vorhanden. Denn denken Sie doch nur einmal, daß so ziemlich alles, was heute die Menschen begeistert in öffentlichen Angelegenheiten, in den Staats- begriff hineingepreßt wird. Da sind Menschen, die sind Nationalisten, Chauvinisten und so weiter, alles was man nennt Nation, national, Chauvinismus, das wird dem Rahmen Staat einverleibt! Da preßt man hinein den Nationalismus und konstruiert den Begriff Nationalstaat. Oder man hat gewisse Anschauungen über, sagen wir, Sozialismus, meinetwillen ganz radikalen Sozialismus: Man nimmt den Rahmen des Staates! Statt daß man den Nationalismus hineinpreßt, preßt man nun eben den Sozialismus hinein. Aber davon hat man keinen Begriff, daß das nur noch ein Schattengebilde werden muß, wie die Konstitution der Kirche ein Schattenbegriff geworden ist.

Man hat in einzelnen protestantischen Kreisen den Begriff bekommen, daß die Kirche nur eine äußerliche Institution ist, daß das Wesen des Religiösen im Herzen des Menschen wurzeln muß. Dieses Stadium der menschlichen Entwickelung ist für den Staatsbegriff noch gar nicht da, sonst würde man nicht alle möglichen Nationalismen in die durch die letzten kriegerischen Ereignisse bewirkten europäischen Abgrenzungen,

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Staatsabgrenzungen hineinpressen wollen. Alle diese Dinge rechnen mit einem nicht. Sie rechnen nicht mit der Tatsache, daß dasjenige, was in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit sich vollzieht, Leben ist und nicht Mechanismus. Und zum Leben gehört, daß es entsteht und vergeht. Zur imperialistischen Auffassung gehört aber etwas anderes. Es gehört dazu, daß man sich über die Zukunft keine Gedanken macht. Das gehört überhaupt zu der Auffassung der öffentlichen Angelegenheiten der Menschen der Gegenwart, daß sie sich über die Zukunft nicht lebendige Gedanken machen, sondern tote Gedanken. Sie denken: Heute richten wir irgend etwas ein, das ist dann gut, das muß dann ewig bleiben. So denkt die Frauenbewegung, so denkt der Sozialismus, so denkt der Nationalismus: Wir begründen irgend etwas, das fängt an mit uns; man hat auf uns gewartet, bis wir so gescheit geworden sind. Aber jetzt haben wir für alle Ewigkeit das Gescheiteste herausgefunden, das wird nun in alle Ewigkeiten bestehen. - Der Gedanke ist ungefähr so, als wenn ich mir einen Jungen herangezogen habe bis zu seinem achtzehnten Jahr und sage: Jetzt habe ich ihn ordentlich aufgezogen, jetzt bleibt er so, wie er ist. - Er wird aber älter werden, und er wird auch sterben, und so ist es mit alle, was in der menschlichen Entwickelung entsteht.

Jetzt komme ich zu dem, was ich vorhin erwähnt habe, was hinzukommen muß zu dem Prinzip der Gleichgültigkeit gegenüber dem subjektiven Bekenntnis oder der menschlichen Bruderliebe. Was hinzukommen muß, ist die lebendige Anschauung, die für dieses Erdenleben auch mit dem Tod rechnet, die sich bewußt wird: Wir machen in der Gegenwart Institutionen, die notwendigerweise auch untergehen müssen, weil sie schon das Todesprinzip in sich tragen, die gar nicht wollen einen ewigen Bestand haben, die gar nicht daran denken, etwas Bleiben- des zu sein.

Wodurch kann denn aber so etwas realisiert werden? Ja, unter dem Einfluß der Denkweise aus dem zweiten Stadium wird das niemals realisiert werden. Aber wenn jenes Schamgefühl eintreten wird, von dem ich gestern gesprochen habe, wenn man erkennen wird: Wir leben im Reich der Phrase, unter dem das bloße Wirtschaftsleben, der bloße wirtschaftliche Imperialismus glimmt -, dann wird man rufen nach dem Geiste, der unsichtbar, aber in der Wirklichkeit waltet. Man wird rufen

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nach einer solchen Erkenntnis des Geistigen, die vom Geistigen als einem unsichtbaren Reiche spricht, als einem Reiche, das nicht von dieser Welt ist, in dem daher wirklich der Christus-Impuls Platz greifen kann. Man wird rufen nach der Erkenntnis von einem solchen Reiche.

Das kann nur sein, wenn die soziale Ordnung dreigegliedert ist: das wirtschaftliche Leben für sich verwaltet wird, das rechtliche Leben nicht mehr der absolute, alles umfassende Staatsbegriff ist, sondern eben Staat ist nur alles dasjenige, was wirklich dem Rechte unterworfen ist, und das Geistesleben wirklich frei ist, das heißt, sich hier in der Wirklichkeit als ein wirkliches Geistesleben ausgestalten kann. Geist kann unter den Menschen nur walten, wenn der Geist von nichts anderem als von sich selber abhängig ist und wenn alle Institutionen, die den Geist zu pflegen haben, von nichts anderem als von sich selber abhängig sind.

Was haben wir dann, wenn wir diesen dreigegliederten Organismus haben, den sozialen Organismus haben? Dann haben wir ein wirtschaftliches Leben. Das ist ganz gewiß so geartet, wie der ursprüngliche Imperialismus geartet war. Es ist alles, was in ihm waltet, auch innerhalb des Lebens der physischen Erde da. In diesem wirtschaftlichen Gliedorganismus müssen wirklich die verwaltenden Kräfte aus dem Wirtschaftsleben selbst herausgenommen werden. Ich glaube wenigstens nicht, daß dann irgend jemand der Meinung sein werde, wenn dieser wirtschaftliche Organismus so organisiert ist, wie es in meinen «Kernpunkten» geschildert ist, daß irgendein Übersinnliches in das unmittelbare Wirtschaftsleben hereingreift. Wenn wir essen, wenn wir Essen zubereiten, wenn wir Kleider zubereiten, so ist alles Wirklichkeit; die Ästhetik daran mag Symbol sein, aber das Kleid ist Wirklichkeit.

Wenn wir dann das zweite Glied des sozialen Organismus uns ansehen, so haben wir allerdings für die Zukunft nicht eine solche Symbolik, wie die war des zweiten Stadiums der Menschheitsentwickelung, wo der Staat, das verkörperte Recht, eine Totalität war, aber wir haben in all dem, was in dem einen Menschen zutage tritt, eine Abbildung desjenigen, was in dem andern Menschen lebt. Wir haben aus der gegenwärtigen Zeit heraus die Symbolik neu aufgebaut. Was der eine Mensch tut, wird immer ein Zeichen sein für die ganze Art der sozialen Rechtskonstitution, die sich aufbaut.

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Und das dritte wird nicht Zeichen und nicht Phrase sein, sondern es wird geistige Wirklichkeit sein. Der Geist wird die Möglichkeit haben, unter den Menschen wirklich zu leben.

So wird die innere soziale Ordnung erst aufgebaut werden können, wenn man wirklich übergeht zur inneren Wahrhaftigkeit. Das aber wird im Zeitalter der Phrase ganz besonders schwer. Denn im Zeitalter der Phrase gewöhnen sich die Menschen zwar eine gewisse raffinierte Gescheitheit an, aber diese raffinierte Gescheitheit ist eigentlich im wesentlichen nichts anderes als ein Spiel mit den Wortrepräsentanten alter Begriffe. Denken Sie doch nur eiiimal an das charakteristische Beispiel, plötzlich tauchte es aus Phrasenimperialismus heraus auf, daß es gut wäre, wenn der König oder die Königin von England auch den Titel Also es handelt sich darum, daß man wirklich aufsteigt zu dieser Erkenntnis des Phrasenhaften in der Gegenwart. Und das ist dadurch erschwert, daß eben derjenige, der in der Phrase lebt, bloß die Wortrepräsentanten alter Begriffe in seinem Gehirn herumkollert und glaubt zu denken. Aber man kann nur wirklich zum Denken wieder kommen, wenn man das innere Seelenleben mit Substanz durchdringt, und die kann nur aus der Erkenntnis der geistigen Welt, dem spirituellen Leben kommen. Nur durch dieses Sichdurchdringen mit dem spirituellen

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Leben kann der Mensch wiederum ein vollinhaltlicher Mensch werden, nachdem er ein Phrasendarm, ein Phrasengedärme geworden ist, das ausgeleert ist, das sich mit Worthülsen zufrieden gibt.

Aus diesem, was ich gestern schon andeutete als ein Schamgefühl, wird der Ruf nach dem Geistigen entstehen. Und die Möglichkeit, daß Geistiges sich verbreite, wird nicht anders kommen als dadurch, daß das geistige Leben selbständig sich entwickelt. Sonst muß man immer in kleine Löchelchen hineinarbeiten, wie wir es bei der Waldorfschule machen mußten, weil das württembergische Schulgesetz eben noch dieses eine Loch gehabt hat, daß es möglich war, eine Waldorfschule einzurichten bloß nach geistigen Gesetzen, nach geistigen Prinzipien, das fast auf keinem andern Fleck der Erde jetzt möglich wäre. Aber man kann ja dasjenige, was mit dem Geistesleben zusammenhängt, nur wirklich aus dem Geiste einrichten, wenn die andern beiden Glieder des sozialen Organismus nicht hineinsprechen, wenn wirklich nur aus dem Geistigen heraus die Dinge geholt werden.

Vorläufig geht die Tendenz des Zeitalters ganz dawider. Aber diese Tendenz des Zeitalters wird niemals damit rechnen, daß tatsächlich mit jeder neuen Generation immer mehr und mehr auf der Erde ein neues Geistesleben erscheinen wird. Ganz gleichgültig, ob man heute einen absolutistischen Staat oder eine Räterepublik errichtet: Würde man mit solchen Einrichtungen fortfahren ohne das Bewußtsein, daß alles, was entsteht, dem Leben unterworfen ist und sich fortwährend umwandeln muß, auch durch Tode gehen muß, neue Gestalten, Metamorphosen durchmachen muß, dann würde man nichts anderes vorbereiten, als daß jedesmal die nächste Generation revolutionär wird, denn man würde ja nur für die Gegenwart, das, was man für die Gegenwart gut hält, dem sozialen Organismus einverleiben. Zu den Grundsätzen, welche in westlichen Gegenden noch sehr in die Phrase hineingeheimnißt sind, muß der kommen, den sozialen Organismus als ein Lebendiges anzusehen. Man sieht ihn als ein Lebendiges nur an, wenn man ihn in seiner Dreigliedrigkeit durchschaut. Daher liegt es gerade in der starken, in der furchtbaren, in der intensiven Verantwortlichkeit derjenigen, die durch die wirtschaftliche Begünstigung heute einen Imperialismus nahezu über die ganze Welt ausdehnen, sich bewußt zu werden, daß in diesen Imperialismus

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hineingegossen werden muß die Pflege eines wahren Geisteslebens. Als Hohn muß es empfunden werden, daß auf den Britischen Inseln ein Wirtschaftsreich über die ganze Welt gegründet wird und daß man dann, wenn man besonders tief mystische Geistigkeit will, zu denjenigen geht, die man wirtschaftlich erobert hat, die man wirtschaftlich ausbeutet, und diese Geistigkeit von ihnen nimmt. Man hat die Verpflichtung, von sich aus geistige Substanz in die äußere Gestalt des sozialen Organismus hineinfließen zu lassen.

Das ist das Bewußtsein, von dem ich glaube, daß es unsere britischen Freunde von hier aus mitnehmen müßten, das Bewußtsein, daß jetzt in diesem welthistorischen großen Augenblicke bei all denen, die hinzu- gehören zu Weltorganismen, in denen die englische Sprache gesprochen wird, die Verantwortlichkeit vorhanden ist, in das äußere Wirtschaftsimperium wirkliche Spiritualität hineinzubringen. Denn es gibt da nur ein Entweder-Oder: Entweder es bleibt das Bestreben im bloßen Wirtschaftsimperium, dann ist der sichere Untergang der irdischen Zivilisation die notwendige Folge - oder es wird Geist in dieses Wirtschaftsimperium hineingegossen, dann wird dasjenige erreicht, was mit der Erdenentwickelung eigentlich beabsichtigt war. Ich möchte sagen: Jeden Morgen sollte man sich das in ganz ernsthaftiger Weise vorhalten, und alle einzelnen Handlungen sollte man im Sinne dieses Impulses einrichten. Die Weltenstunde schlägt durchaus ernst in der Gegenwart. In furchtbarer Weise schlägt diese Weltenstunde ernst. Wir sind gewissermaßen im Höhepunkt der Phrasenhaftigkeit angelangt. Wir müssen in dem Zeitpunkt, in dem aus der Phrase ausgequetscht ist aller Inhalt, der einmal in die Menschen in anderer Art hereingekommen ist und der für heute keine Bedeutung hat, aufnehmen dasjenige, was in unser seelisches und soziales Leben wiederum wirklichen substantiellen Inhalt hinein- bringen kann. Wir müssen uns klar darüber sein, daß dieses Entweder-Oder eigentlich jeder heute für sich selbst zu entscheiden hat und daß jeder mit seinen innersten Seelenkräften an dieser Entscheidung teilnehmen muß. Sonst lebt man eigentlich nicht die Angelegenheiten der Menschheit mit.

Aber die Sehnsucht nach der Illusion ist insbesondere heute im Zeitalter der Phrase eine ungeheuer große. Man möchte so gerne sich über

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den Ernst des Lebens hinwegtäuschen. Man möchte nicht hinschauen auf die Wahrheit, die waltet in unserer Entwickelung. Wie hätte sich die Menschheit sonst täuschen lassen von dem Wilsonianismus, wenn sie wirklich das innigste Bestreben hätte, sich durch die Wahrheit aufzuklären? Das muß kommen. Es muß in den Menschen erwachsen die Sehnsucht nach der Wahrheit. Vor allen Dingen muß in den Menschen wachsen die Sehnsucht nach der Befreiung des Geisteslebens und die Erkenntnis, daß keiner ein Recht hat, sich Christ zu nennen, der nicht den Ausspruch begreift: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.»

Das heißt, das Reich des Christus muß werden ein unsichtbares Reich, ein wirkliches unsichtbares Reich, ein Reich, von dem man spricht als von unsichtbaren Dingen. Nur wenn die Geisteswissenschaft waltet, wird man von diesem Reiche sprechen. Nicht eine äußere Kirche, nicht ein äußerer Staat kann dieses Reich verwirklichen, nicht ein Wirtschaftsimperium. Verwirklichen kann dieses Reich allein der Wille des einzelnen Menschen, der da lebt in dem befreiten Geistesleben.

Man kann heute schwerlich glauben, daß in denjenigen Gegenden, in denen Menschen leben, die zertreten sind, viel getan werden kann für diese Befreiung des Geisteslebens. Daher muß es gerade in denjenigen Gegenden getan werden, die heute nicht zu den politisch, wirtschaftlich und selbstverständlich auch bald geistig getretenen gehören. Vor allen Dingen muß die Erkenntnis durchdringen, daß wir wirklich nicht an dem Tage angelangt sind, wo wir sagen: Es ist bisher abwärts gegangen, es wird wieder aufwärts gehen! - Nein, wenn die Menschen nicht aus dem Geiste heraus etwas dazu tun werden, wird es nicht aufwärts gehen, sondern immer weiter abwärts. Die Menschheit lebt heute nicht von irgend etwas, was sie produziert - denn produziert muß erst wiederum werden unter dem Impulse des Geistes -, die Menschheit lebt heute von Reserven, von alten Reserven, und die werden aufgebraucht werden. Und es ist kindisch und naiv, zu glauben, daß man an irgendeinem Tage beim tiefsten Punkt angekommen ist, und dann wird es schon wieder besser gehen, auch wenn man die Hände in den Schoß legt. So ist es nicht. Und man möchte insbesondere, daß ein solches Wort, wie das eben gesprochene, wirklich einiges Feuer entzünde in den Seelen, die sich hinzurechnen zur anthroposophischen Bewegung. Man möchte, daß der

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Geist, der so stark spukte gerade bei denjenigen, die vielleicht zu dieser anthroposophischen Bewegung gekommen sind, besiegt werde durch den Geist, der hier gemeint wird. Gewiß ist es ja so, daß der einzelne ofttnals, wenn er zu einer solchen Bewegung kommt, für sich selbst etwas haben will, für seine Seele. Das kann er ja auch haben, aber nur, damit er dann seine Seele in den Dienst des Ganzen stellen kann. Er soll weiterkommen, gewiß, für sich, aber damit die Menschheit durch ihn weiterkomme. Das kann man sich wiederum nicht oft genug sagen. Das sollte man hinzufügen zu dem andern, wovon ich gesagt habe, daß man sich es eigentlich an jedem Morgen vorhalten solle.

Wenn man ganz ernst genommen hätte den innersten Impuls dieser Bewegung, wir müßten ja heute weiter sein. Aber vielfach ist dasjenige, was in unseren Kreisen getan wird, nicht eine Zukunftsförderung, sondern oftmals nur Hindernis. Darüber sollten wir viel mit uns selbst zu Rate gehen. Das ist sehr wichtig. Und vor allen Dingen sollen wir durchaus nicht glauben, daß heute nicht die schärfsten gegnerischen Mächte von allen Seiten sich auftun gegenüber demjenigen, was gerade zum Heil der Menschheit angestrebt wird.

Ich habe Sie ja hier auf mancherlei hingewiesen von dem, was getan wird in der Welt, um dieser Bewegung zu begegnen, was an Feindseligkeiten dieser Bewegung in den Weg gelegt wird. Ich fühle mich eben verpflichtet, Sie auch mit diesen Dingen bekanntzumachen, damit Sie sehen, daß man eigentlich an keinem Tage sich sagen soll: Da haben wir wiederum das oder jenes widerlegt. - Nichts haben wir widerlegt, weil es bei diesen Gegnerschaften gar nicht darauf ankommt, daß sie die Wahrheit irgendwie vertreten wollen, sondern daß sie sich überhaupt mit der Sache möglichst wenig zu schaffen machen, aber aus allen möglichen Ecken heraus zu Verleumdungen greifen.

Ich möchte eine Stelle aus einem Briefe vorlesen, der dieser Tage eingetroffen ist in Stuttgart von Kristiania aus. Nur eine Stelle möchte ich vorlesen: «Einer unserer anthroposophischen Freunde arbeitet nämlich an einer sogenannten Volkshochschule zu Kristiania mit einem gewissen Schirmer gemeinsam. Dieser Herr Schirmer ist in gewissem Sinn ein sehr tüchtiger Lehrer, aber ist daneben ein fanatischer Rassemensch und ein verschworener Antisemit. Bei einer Volksversammlung, wo drei von

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uns Vorträge gehalten haben über die Dreigliederung, ist er gegen uns aufgetreten, oder vielmehr gegen die Kernpunkte Dr. Steiners, obwohl ohne besonderen Erfolg. Der Kerl hat einen gewissen Einfluß in Lehrerkreisen, und er arbeitet von sich aus eigentlich im Sinne der Dreigliederung in der Schule, insofern er die Freiheit und die lebendige Sachlichkeit dem Kinde gegenüber vertritt, und doch arbeitet er gegen die Dreigliederung und Dr. Steiner, aus dem einfachen Grunde, weil er einen Verdacht hegt, daß Dr. Steiner ein Jude ist. Das ist wohl nicht so schlimm. Wir müssen wohl mehr und größeren Widerstand erwarten und überwinden. Aber jetzt hat er seinen Verdacht bestätigt erhalten: Er hat sich an eine Autorität gewendet, nämlich an den Redakteur der politisch anthropologischen Monatsschrift, Berlin-Steglitz. Diese, eine rein antisemitische Zeitschrift, schrieb ihm, Dr. Steiner ist Jude reinsten Wassers. Er ist mit den Zionisten verbunden, eigentlich an sie geknüpft. Und der Redakteur fügt hinzu, daß sie, die Antisemiten, schon lange ihre Aufmerksamkeit auf Sie gerichtet haben. Herr Schirmer erzählt weiter, daß eine reine Judenverfolgung jetzt im Anfange in Deutschland ist, und daß alle Juden, die jetzt auf der schwarzen Liste stehen der Antisemiten, einfach niedergeschossen werden sollen, oder wie es heißt, unschädlich gemacht werden sollen» und so weiter.

Sie sehen, es handelt sich hier natürlich nicht um etwas in irgendeiner Weise Antisemitisches; das ist ja nur ganz eine Äußerlichkeit. Man wählt in solchen Zusammenhängen Schlagworte, mit denen man möglichst viel ausrichten kann bei denjenigen, die auf Schlagworte irgendwie hören. Aber mit solchen Dingen wird eben hingewiesen auf dasjenige, was die meisten Menschen in der Gegenwart nicht sehen wollen, worüber sie sich immer mehr und mehr hinwegtäuschen wollen. Es ist heute durchaus viel ernster, als Sie denken wollen eigentlich, und es handelt sich darum, daß man diesen Ernst der Zeit nicht verkennt, sondern daß man sich klar darüber ist, daß wir uns in bezug auf solche Dinge, die ja entgegenwirken allem, was im Sinne des Menschheitsfortschrittes gewollt wird, erst im Anfange befinden und daß man eigentlich niemals, ohne seine Verantwortlichkeit zu verletzen, das Augenmerk ablenken sollte von all dem, was sich geradezu auftut von der jetzigen Zeit ab als ein radikal Böses innerhalb der Menschheit, was sich verwirklicht

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als ein radikal Böses innerhalb der Menschheit. Das Schlimmste, das heute passieren kann, ist, auf bloße Schlagworte und Phrasen irgendwie hinzuhören, zu glauben, daß dasjenige, was der Wortklang alter Begriffe gibt, daß das heute noch irgendwie wurzelt in menschlichen Realitäten, wenn man nicht eine neue Realität aus den Quellen des Geistigen selbst hervorholt.

Das, meine lieben Freunde, war etwas von dem, was ich Ihnen heute noch sagen wollte, sagen wollte erstens für Sie alle, aber insbesondere für diejenigen, über deren Besuch wir uns hier herzlich gefreut haben, insbesondere sagen wollte unseren englischen Freunden, damit sie aus einer gewissen Erkenntnis heraus, wenn sie jetzt zurückgehen, dort, wo es so wichtig sein wird, ihr Verhalten einrichten. Sie werden gesehen haben, hier wird nicht gesprochen jemandem zuliebe oder jemandem zuleide. Zu schmeicheln irgend jemandem, wird hier nicht gesprochen. Hier wird lediglich gesprochen, um die Wahrheit zu sagen. Ich habe auch Theosophen kennengelernt: Wenn sie sich gerichtet haben an die Angehörigen einer ihnen fremden Nation, dann haben sie angefangen davon zu reden, wie sie es sich zur Ehre anrechnen, innerhalb der großen Nation, die so viel Glorie auf sich gesammelt hat, nun auch die Lehre vom geistigen Leben verbreiten zu können. Aus solchen Untergründen heraus konnte hier nicht zu Ihnen gesprochen werden. Aber ich denke, Sie sind hierhergekommen, um die Wahrheit zu hören, und ich glaube, Ihnen am besten dadurch gedient zu haben, daß ich Ihnen wirklich versucht habe, ungeschminkt die Wahrheit zu sagen. Sie werden aus diesen Gegenden hier erfahren haben, daß die Wahrheit zu sagen heute keine bequeme Sache ist, denn die Wahrheit ruft heute mehr als jemals Gegnerschaft hervor. Scheuen Sie sich nicht vor Gegnerschaften, denn es ist heute ein und dasselbe: Gegner zu haben und die Wahrheit zu sagen. Diese Dinge müssen durchschaut werden. Und wir werden uns immer dann am allerbesten verstehen, wenn wir in den Untergründen dieses gegenseitigen Verständnisses auch das haben, ungeschminkt die Wahrheit hören zu wollen.

Das ist dasjenige, was ich heute, wo ich zum letztenmal vor meiner Reise nach Deutschland vor Ihnen spreche, noch im allgemeinen und insbesondere auch zu den englischen Freunden habe aussprechen wollen.

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HINWEISE

Die in diesem Band wiedergegebenen Vorträge hielt Rudolf Steiner vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach. Vorher und nachher war er in Stuttgart, wo er u. a. Vorträge zur Naturwissenschaft und zur Dreigliederung hielt und sich der neubegründeten Waldorfschule annahm. Es war eine Zeit des Aufbruchs, in der viele neue Menschen in die Gesellschaft strömten, unter ihnen viele Studenten und naturwissenschaftlich Gebildete. Gleichzeitig wuchs die Gegnerschaft. Die geschichtlichen Ereignisse - Ende des 1. Weltltrieges, der drückende Versailler Friedensvertrag, wirtschaftliche Not - machten die Seelen zugänglich für Neues, ließen aber auch, weil die Anthroposophie bekannter wurde, vermehrte Gegnerschaft wach werden. Die Vorträge behandeln geisteswissenschaftliche Grundfragen, aktuelle Zeitfragen und Historisches. Die letzten drei Vorträge, über die geschichtliche Entwicklung des Imperialismus, waren veranlaßt durch die Anwesenheit einer Reihe von englischen Anthroposophen, also Angehörige eines Landes, welches damals noch das Beispiel für eine imperialistische Struktur bildete.

Textgrundlagen. Die Texte wurden von der Berufsstenographin Helene Finckli aufgenommen und sind gemäß ihren Übertragungen in Klartext gedruckt. Die Stenogramme sind noch vorhanden und konnten zur Verbesserung einiger unklarer Stellen hinzugezogen werden (siehe S. 319).

Der Titel des Bandes stammt von den Herausgebern der I. Auflage in der Gesamtausgabe (1966).

Frühere Ausgaben und Veröffentlichungen in Zeitschflein

Vorträge 1 - 15, «Blätter für Anthroposophie und Mitteilungen aus 9. Jan. - 15. Febr. 1920: der anthroposophischen Bewegung», 1951, 3. Jg.,

Nrn.6-11und1952,4.Jg.,Nrn.1-11.

Vorträge 16 - 18, «Geschichte und Überwindung des Imperialismus. 6 20. - 22. Febr. 1920: Vorträge vor englischen Zuhörern in Dornach und

Oxford», Europa Verlag, Zürich/New York 1946.

Vortrag 9, 1. Febr. 1920: «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vor-

geht», Nachrichtenblatt des «Goetheanum», 1933,10. Jg., Nrn. 32 (6. Aug.) und 33 (13. Aug.).

Vortrag 13, 13. Febr. 1920: «Das Goetheanum.WochenblattfürAnthroposophie und Dreigliederung», 1933, 12. Jg., Nrn. 32 (6. Aug.) und 33 (13. Aug.).

Vortrag 14, 14. Febr. 1920: «Das Goetheanum.WochenblattfürAnthroposophie und Dreigliederung», 1933, 12. Jg., Nrn. 34 (20. Aug.) und 35 (27. Aug.).

295

Die 1. Auflage in der Gesamtausgabe erfolgte 1966 durch Robert Friedenthal und Walter Dettwyler-Oeri. - Die Durchsicht der 2. Auflage (1992) besorgte Susi Lötscher. Bis auf wenige kleine Korrekruren blieb der Text unverändert. Die Hinweise sowie die Inhaltsangaben wurden erweitert und ein Namenregister hinzugefügt.

Zu den Tafelzeicbnungen: Die Onöginal~Wandtafelzeichnungen und -anschriften zu den vorliegenden Vorträgen sind erhalten geblieben, da die Tafeln damals mit schwarzem Papier bespannt wurden. Sie werden als Ergänzung zu den Vorträgen in einem separaten Band der Reihe «Rudolf Steiner, Wandtafelzeichnungen zum Vortragswerk> verkleinert wiedergegeben. Die in den früheren Auflagen in den Text eingefügten zeichnerischen Übertragungen sind auch für diese Auflage beibehalten worden. Auf die entsprechenden Originaltafeln wird jeweils an den betreffenden Textstellen durch Randvermerke aufmerksam gemacht. - Betreffend die Tafeln 8 und 18 siehe die Hinweise zu S. 120 und 284.

#TI

Hinweise zum Text

#TX

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben.

zu seite

9 Betrachtungen, die hier angestellt worden sind: Siehe die Vorträge vom 12., 13. und 14. Dezember l919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens» (12 Vorträge, Dornach 1919), CA 194.

Öffentliche Vortrage: Gemeint sind die drei BaslerVorträge vom 5., 6. und 7. Januar 1920, in: «Vom Einheitssraat zum dreigliedrigen sozialen Organismus» (1 i Vorträge, div. Orte I920), GA 334.

12 Rahindranath Tagore, 1881 - l941, indischerDichter, Philosoph, Pädagoge und Freiheitskämpfer. AbkömIing einer bengalischen Faniilie, die sich auf den sanskritdramatiker des 8. Jahrhunderts Bharta-Narajana zurückführt. Tagore wurde mit seinem Werk «Gitanjali», einer englischen Prosafassung einer Auswahi seiner religiösen Lyrik, international bekannt. 1913 erhielt er für dieses Werk den Nobelpreis für Literatur.

13 Wladimirlljitsch Lenin (eig. Uljanow), 1870- i924, Führer des Bolschewismus, Gründer der UdSSR.

14 Herbert Spencer, 1820 - 1903, englischer Philosoph, Vertreter des mateiialistisch-mechanischen Enrwicklungsgedankens.

Charles Darwin, 1809 - 1882, englischer Naturforscher, Begründer des Darwinismus, d. h. der materialistischen Abstammungslehre.

15 Goethe, Fichte> Schelling, Hegel, Herder: Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832, Johann Gortlieb Fichte, 1762 - 1814, Friedrich WilhelmJoseph von Schelling, 1775 - 1854, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770 - 1831, Johann Gottfried Herder, 1744 - 1903; die großen deutschen Philosophen des 18. /19. Jahrhunderts. Vgl. Rudolf Steiners Schriften «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt» (1914), GA 18, und (außer für Herder) «Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes

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im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten« (1916), CA 20.

Cotta, die bekannte, ursprünglich aus Sachsen nach Tübingen eingewanderte Stuttgarter Buchliändlerfamilie. Cotta war bis zum Ablauf der Schutzfrist alleiniger Verleger der gesamten Schriften Goethes.

18 jene Enquete: Es handelt sich um die Enquete, die zu dem Gesetz vom 10. August 1842 führte, das für Kinder unter i0 Jahren die Bergarbeir unter Tag verbot und das langsam - aufgrund weiterer Enqueten - durch strengere Gesetze ergänzt wurde.

was ich neulich in Basel ausgesprochen habe: Siehe den Vortrag «Die sittlichen und religiösen Kräfte im Sinne der Geisteswissenschafr» vom 7. Jan. 1920, in CA 334 (siehe Hinweis zu S. 9).

Geist istja abgeschafft worden im Jahre 869: Auf dem achten ökumenischen Konzil von Konstantinopel im Jahre 869, veranstaltet gegen den Patriarchen Phorius, wurde in den «Canones conrra Photium« unter Can. 1 i festgelegt, daß der Mensch als aus Leib und Seele anzusehen sei und dzß die Seele «einige geistige Eigenschaften« habe («unam animam rationabilem et intellectualem«). Der von Rudolf Steiner sehr geschätzte katholische Philosoph Otto Willmann schreibt in seinem dreibändigen Werk «Geschichte des Idealismus«, i. Aufl., Braunschweig 1894, § 54: Der christliche Idealismus als Vollendung des antiken (Bd. 2, S. i i 1): «Der Mißbrauch, den die Gnosriker mit der paulinischen Unterscheidung des pneumatischen und des psychischen Menschen trieben, indem sie jenen als den Ausdruck ihrer Vollkommeniieit aus gaben, diesen als den Vertreter der im Gesetze der Kirche befangenen Christen erklärten, bestimmte die Kirche zur ausdrücklichen Verwe,fung der Trichotomie.

19 JsaacNewton, i642 - 1727, englischer Naturforscher, Mathematiker und Astronom. Begründer der klassischen theoretischen Physik und einer mechanischen Auffassung des Kosmos.

20 das Urteil desjenigen..., der da gesagt hat: Der Ausspruch «Wenn Ihr wüßtet, mit wie wenig Auiwand von Verstand die Welt regiert wird, so wurdet Ihr euch wundern« geht ev. auf den PapstJulius III. (1550 - 55) zurück, wird jedoch auch, anscheinend zu Unrecht, dem schwedischen Kanzler Axel Oxenstjerna (1583 - 1654) zugeschrieben. Siehe hierzu: «Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes«, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, 26. Aufl., Berlin 19i9, S. 455 ?

«Die Geheim wissenschaft im Umrzß» (1910), CA 13.

21 KarlKautsky, 1854 - 1938, Soaialist, orthodoxer Marxist. - «Wie der Weltkrieg entstand.

Dargestellt nach Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts«, Bern 1919. aus seinem Buche anführen will: Ebenda, S. i4.

23 Nun habe ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten Veranlassung genommen, auf das

Geheimnis hinzuweisen: Siehe z. B. die Vorträge vom 13. Dez. 1919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens« (12 Vor- träge, Dornach 1919), CA 194; und vom 18., 19. und 25. Nov. 1917, in: «Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen« (9 Vnrträge, div. Orte 1917), CA i78.

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25 auch darüber haben wir ja schon gesprochen: Vgl. z. B. den Vortrag vom 23. Mai 1915, in «Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft» (I3 Vorträge, Dornach i915), CA i62. - Siehe auch die Vorträge vom 15. Nov. 19i7 (St. Gallen), in: «Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen» (9 Vorträge, div. Orte 1917), GA 178, und vom 18. Okt. und 23. Nov. i917 (Basel), in: «Geisteswissenschaftliche Ergebnisse über das Wesen des Menschen» (10 Vorträge, Basel/Bern 1917/18), CA 72.

29 Nikolaus Kopernikus, 1473 - 1543, polnischer Astronom, Domherr, Jurist, Humanist; Begründer des heliozentrischen Weltbildes.

Galileo Galilei, i564 - i642, italienischer Naturforscher, Physiker; schuf die Grundlagen der Mechanik und fand die Gesetze des freien Falls, des Pendels und des Wuifs.

32 wie der Dichter sagt: Goethe, im Gedicht »Das Göttliche»: «Es leuchtet die Sonne über Bös` und Gute», nach Matth. 5,45.

35 Der Mond ist ein Lügner: »Luna mendaz». Das lateinische Sprichwort konnte nicht nachgewiesen werden.

37 Artikel: »Englands russische Politik» (gez. L.), »National-Zeitung», Basel, 79. Jg. 1920 (6. Januar), Nr. 9, Abendblatt.

40 Derapollinische Spruch: »Erkenne dich selbst»: Inschrift des Apollon-Tempels zu Delphi, deren Formulierung einem der sieben Weisen zugeschrieben wird (Thales oder Chilon).

42 Galilei: Siehe Hinweis zu S. 29.

Giordano Bruno, 1548 - 1600, italienischer Philosoph, Mitbegründer der modernen Weltanschauung. Nach seiner Lehre gibt es unzählige »Minima» oder »Monaden» bis hinauf zu der »Monade aller Monaden», der Gottheit selbst. Er mußte 1576 den Dominikanerorden verlassen und endete auf dem Scheiterhaufen der Inquisition.

Kopernikus: Siehe Hinweis zu S. 29.

43 wenn er sich sagen konnte: Siehe z. B. den deutschen Philosophen Friedrich Albert Lange (1828 - i 875) in seinem Werk »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart», Leipzig o. J. (1866). Siehe hierzu Rudolf Steiner: »Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt» (1914), CA 18, Personenregister: Lange.

45 Cespriiche mit einem Mann, der seither sich als Historiker einen großen Namen gemacht hat: Es handelt sich um Heinrich Friedjung (1851 - 1920), einen österreichischen Historiker und politischen Schriftsteller. Er begründete u. a. die »Deutsche Wochenschrift», die Rudolf Steiner von Januar bis Juli I888 redigierte.

46 Georg Gottfried Gervinus, i805 - 1871, Geschichtsschreiber und Literaturhistoriker. - »Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen», 5 Bde, Leipzig 1835 - 42 (spätere Auflagen unter dem Titel »Geschichte der deutschen Dichtung»).

Robert Hamerling, i830 - 1889, österreichischer Dichter. - »Homunculus. Modernes Epos in zehn Gesängen», Hamburg 1888.

Bei einem der gegenwa`rügführenden Geister Mitteleuropas: Den Herausgebern ist nicht bekannt, wer hier gemeint ist.

48 in meiner »Philosophie der Freiheit»: »Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung - Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode» (1894), GA 4.

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48 Alles, das ihr irgendeinem Menschen tut, das habt ihr mir getan: Matth. 25, 40.

Jesus von Nazareth, der «schlichte Mann»: Siehe z. B. Heinrich Weinel: «Jesus im neunzehntenJahrhundert», Tübingen und Leipzig 1903, Einleitung, S. 6 f.: «Freilich, nicht der Christus der Vergangei`heit, der Gottmensch des alten Dogmas, sondern Jesus von Nazareth ist es, zu dem die Männer unserer Zeit wieder kommen mit Fragen nach seinen Antworten auf ihre Sorgen. Lang, lang war dieser schlichte und tapfere Mann in der strahlenden Glorie des Himmelskönigs verborgen...«.

50 unsere Dreigliederungsidee: Rudolf Steiners Anregungen für eine Neugestaltung des sozialen Lebens während und nach dem Ersten Weltkrieg gehen weit über die damals heftig geführten ideologischen und von machtpolitischen Bestrebungen geprägten Auseinandersetzungen hinaus. Ausgehend von einer umfassenden Kritik am damaligen Parlamentarismus und zentralgelenkten Einheitsstaat entwickelt er aus exakter Beobachtung des menschlichen und sozialen Organismus die «Dreigliederung des sozialen Organismus«. Sie verlangt jeweils selbständige Glieder, anlehnend an die Ideale der Französischen Revolution von Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit: neben einem den Cleichheitsgrundsatz wahrenden Rechtsleben ein freies Geistesleben und ein auf Brüderlichkeit aus gerichtetes Wirtschaftsleben. - Siehe Rudolf Steiner: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (19i9), CA 23, seine «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 - 1921», CA 24, und seine Vortragszyklen CA 328 bis CA 341. - Siehe auch die «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Dornach, Hefte 24/25, 27/28, 88 und i03.

51 Walter Johannes Stein, 189i - 1957, Mathematiker, Schriftsteller und Vortragender. Lehrer an der Waldorfschule in Stuttgart.

Ich habe Ihnen neulich einnial den Briefunseres Freundes Dr. Stein vorgelesen: Im Vortrag vom i4. Dezember 19i9, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens» (12 Vorträge, Dornach i919), CA 194. Aus diesem Brief Steins an seine Frau hatte Rudolf Steiner folgende Stelle vorgelesen: «Gestern war ich in Reutlingen, wo Professor Traub gegen Steiner sprach. Ich meldete mich zur Diskussion. Es war ein KamPf auf Leben und Tod. Ich stellte Traub als einen gewissenlosen, der Materie, die er behandelt, gänzlich unkundigen Menschen hin. Sein Schlußwort brachte er nur noch stammelnd hervor. Er war gebrochen. Der Stadtpfarrer, der eröffnete, wurde von nur durch Bibeltezte so in die Enge getrieben, daß er sagte in bezug auf die Stelle, wo Christus von der Reinkarnation spricht: Hier irrt Christus, - der Stadtpfarrer von Reutlingen. Da stand ich auf und rief: Hört! das ist heute Religion, ein Gott, der irrt! - Das Publikum tobte. Man wollte mich zuerst unterbrechen, mir das Wort entziehen, rief: zur Sache! scharrte und stampfte. Ich aber sprach völlig ruhig, zeigte mit einer Hand auf Pro- fessor Traub und sprach: dies ist die Autorität! Ich bekam Beifall und siegte. Der Mann ist fertig. Ich bin noch heute haIb tot.» - Wie aus der Briefstelle hervorgeht, sind mit dem

52 Nicht sehr erleuchteter Saal: Es lag eine Stromstörung vor.

Zeitungsartlkel: «Breisgauer Zeitung», 72. Jg., 1920, Nr. 4 (5. Januar). Vgl. S. 83 in diesem Band.

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52 Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus: Der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus wurde am 22. April 1919 in Stuttgart gegründet. Rudolf Steiner hatte im März einen «Aufruf an das deutsche Volk und an die Kultuiwelt» als Flugblatt drucken und in der deutschen Presse publizieren lassen (abgedruckt in: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (1919), GA 23, S. 157 ff.). Ein Komitee, bestehend aus W. von Blume, E. Molt und C. Unger, das den «Aufrüf» mitunterzeichnet und sich für dessen Verbreitung eingesetzt hatte, erweiterte sich

zu einem siebenköpfigen Arbeitsausschuß (ei kamen hinzu: H. Kühn, E. Leinhas, M. Benzinger und T. Binder). Als Mitglied wurde betrachtet, wer dem «Aufruf» zugestimmt hatte. - Vgl. hierzu Hella Wiesberger: «Rudolf Steiners öffentliches Wirken für die Dreigliederung des sozialen Organismus - Die Gründung der Waldorfschule», in: «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» (vormals «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwalrung»), Nr. 27/28, Michaeli/Weihnachten 1969.

53 Artykel: Rudolf Steiner: «Ideenabwege und Publizistenmoral», in: «Dreigliederung des Sozialen Organismus», Stuttgart, 1.Jg. 1919/20, Nr.28 ('an. 1920); enthalten in: «Aufsätze übvr die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage i9i5 - 1921», GA 24.

62 Ottokar Czernin, 1872 - 1932, österreichisch-ungarischer Außenminister von 1916 bis 1918. «Im Weltkriege», Berlin u. Wien 19i9, 5. 38 ff.: «Der Zerfall der Monarchie war auch bei einer Trennung von Deutschland, das heißt auch bei einer Schwenkung in die Reihen der Entente, ganz unabänderlich... Österreich-Ungarns Uhr war abgelaufen ... Wie der Blitz bei Nacht auf Sekunden die Gegend zeigt, so hat der Feuerschein der Schüsse von Sarajevo gewirkt. Es war ltlar geworden, daß das Signal zum Zerfall der Monarchie gegeben war. Die Glocken Sarajevos, welche eine halbe Stunde nach dem Morde zu läuten begannen, waren das Grabgeläute der Monarchie... In welcher Form sich der Zerfall der Monarchie abgespielt hätte, wenn der Krieg vermieden worden wäre, läßt sich natürlich nicht sagen. Weniger schrecltlich als durch diesen Krieg gewiß. Wahrscheinlich auch langsamer und vielleicht, ohne die ganze Welt mit in den Strudel hineinzureißen. - Wir mußten sterben. Die Todesart konnten wir uns wählen, und wir haben uns die schrecklichste gewählt.>

64 David Lloyd George, 1863 - i 945, englischer Staatsmann, wurde 1890 liberaler Abgeordneter, war 1916 - 1922 Ministerpräsident, im ersten Weltkrieg Mitglied des obersten Kriegsrates der Entente. - Mit «BiograPhie» ist ganz allgemetn an seinen Lebenslauf gedacht.

65 Georges Clemnenceau, 1841 - 1929, französischer Staatsmann, 1906 - i909 Ministerpräsident, desgleichen 1917 - i920, damals zugleich Kriegsminister.

67 ein Mitglied unserer Gesellschaft in der letzten Dreigliederungszeitung: Siehe den Artikel von Friedrich Doldinger: «Zur Sprache der », in: «Dreigliederung des Sozialen Organismus», Stuttgart, 1.Jg. 1919120, Nr.27 ('an. 1920).-Siehe ferner Wilhelm von Heydebrand: «Über die Gedankenformen in dem Buche Dr. R. Steiners », ebenda, Nr. 2I (Nov. 1919).

«Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (1919), GA 23.

68 Ich habe letzten Sonntag hier ... hingewiesen: Gemeint ist der Vortrag vom 11. Januar 1920 in diesem Band.

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68 «ägyptische Finsternis»: Sprichwörtlich gewnrdener Ausdruck, nach einer der «ägyptischen Plagen« in 2. Moses 10, 21 ff.

Verleumdungsfeldzüge: Prof Dessoir; Prof. Traub; «Breisgauer Zeitung« (anonym); «Stimmen der Zeit« (Otto Zimmermann S. J.); «Suiise-Belgique-Outremer« (Dr. Adolphe Ferrie`re) u. a.

69 Ich habe ja in den verschiedensten Varianten dieses vor Ihnen entwickelt: Siehe den

Vortrag vom i1. Januar 1920 in diesem Band. Siehe ferner z. B. die Vorträge vom 28. Dezember 1918, in: «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht» (8 Vorträge, Basel und Dorn- ach 19i8/i9), GA i87; und vom 3. Oktober 1919, in: «Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis» (15 Vorträge, Dornach 1919), CA 19i.

was wh ja auch schon öfter auseinandergesetzt habe: Siehe z. B. die Vorträge vom 11. Jan. I9I8, in: «Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung» (16 Vorträge, Basel und Dornach 19i7/18), GA 180; vom 25. Dez. 1918, in GA 187 (siehe Hinweis oben); oder vom 29. Mai und 17. Juli i917, in: «Menschliche und menschheitliche Entwicklungswzhrheiten. Das Karma des Materialismus« (17 Vor- träge, Berlin i9i7), CA 176.

72 Nun habe ich Ihnen schon in einem der vorigen Vorträge angedeutet: Gemeint ist der Vortrag vom 9. Januar 1920 in diesem Band.

74 «Die Philosophie der Freiheit» (1894), CA 4.

im «Athenaeum» eine Besprechung: «The Athenaeum. Journal of English and Foreign Literature, Science, the Fine Arrs, Music, and the Drama«, London. In Nr. 3480 vom 7. Juli 1894, S. 17, schreibt Robert Zimmermann: «... Rudolf Steiner in his bonk entitled and Bruno Wille in his start from Nietzsche`s standpoint, but go far beyond him, and end in a thenretical anarchy, which, even in the domain of practice, allows of no moral prescriprions. «

Ich habe vor einigen Tagen hier einen Vergleich gebraucht: Am 11. Januar 1920, in diesem Band.

79 Vergleich..., den ich öfter schon gebraucht habe: Siehe z. B. den Vortrag vom 29. März 1919, in: «Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen« (12 Vorträge, Dornach 1919), CA 190. - Vgl. hierzu u. a. auch die Ausführungen über die römische Rhetorik im Vortrag vom 13. Oktober 1918, in: «Die Polarität von Dauer und Entwikkelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit» (15 Vnrträge, Dornach 1918), CA 184.

81 Leo Dawydowitsch Trotzkii (eig. Bronstein), 1879 - 1940, engster Mitarbeiter Lenins. Begründer der Roten Armee.

82 Friedrich Hebbel, 1813 - 1863, deutscher Dichter. - «Tagebücher», in: «Sämtliche Werke in zehn Teilen«, Berlin etc. (o. J.), 9. Teil, Neues Tagebuch Nr. 1336, S. 202: «Nach der Seelenwanderung ist ei möglich, daß Plato jetzt wieder auf einer Schulbank Prügel bekommt, weil er den Plato nicht versteht. «

Plato, 427 - 347 v. Chr., griechischer Philosoph.

Ich habe Ihnen vor etwa acht Tagen hier mitgeteilt: Am 11. Januar 1920, in diesem Band.

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83 Verleumdung... ich habe diese Sa~tzeja vorgelesen: Erschienen im «Mannheimer GeneralAnzeiger», Nr. 2, Abendausgabe (2. Januar 1920). Dies ist eine der Varianten des Hetzartikels, der, jeweils mit geringen Abänderungen, von einem Berliner Zeitungsbüro aus- ging. Eine andere Variante hatte Rudolf Steiner bereits am i 1. Januar vorgelesen; siehe S. 52 f. in diesem Band.

84 Nummer der «Dreiglicderung»: «ldeenabwege und Publizistenmoral», siehe Hinweis

zu S. 53. - Die «Quellen» bzw. die Hetzartikel-Urheber sind dort nicht näher bezeichnet.

Brief eines Freundes: Konnte nicht nachgewiesen werden.

85 Grelling: Vermutlich der Publizist Dr. jur. Richard Grelling, der Verfasser von «J`accuse!

von einem Deutschen>, Lausanne i9i5, nicht Kurt Grelling, der Verfasser von «AntiJ`accuse. Eine deutsche Antwort», Zürich 1916.

jesrnrische Blätter: «Stimmen aus Maria-Laach», Katholische Blätter, Freiburg i. Br., Hauptorgan der Jesuiten in Deutschland, gegründet 1869. (Das Benediktinerkloster Maria-Laach war 1863 bis 1873 im Besitz derJesuiten.) Ab 1914 erschien die Zeitschrift unter dem Titel «Stimmen der Zeit».

von denen ich ja auch schon gesprochen habe: Rudolf Steiner sprach in seinen Vorträgen verschiedentlich über die diversen Angriffe, die Otto Zimmermann und andere in der Zeitschrift «Stimmen aus Maria-Laach»i«Stimmen der Zeit» gegen ihn gerichtet hatten, sehr ausführlich z. B. in einem Dornaeher Vortrag vom 3. Dezember 1919 (nicht gedruckt). Über die Verleumdung, er sei ein entlaufener Priester (s. nächsten Hinweis) äußerte sich Rudolf Steiner mehrmals, so im Vortrag «Geist-Erkenntnis als Tatengrundlage» vom 30. Dezember 1919, in: «Gedankenfreiheit und soziale Kräfte. Die sozialen Forderungen der Gegenwart und ihre praktische Verwirklichung», (6 Vortr. 1919), CA 333, oder im Vortrag vom 21. November 1919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens» (12 Vortr., Dornach 1919), GA 194.

die Ma.r..., ich sei ein entlaufener Priester: Diese Verleumdung war von der Theosophin Aanie Besant in die Welt gesetzt worden und wurde vom Jesuiten Giovanni Busnelli übernommen. In seinem Werk «Manuale di Teosofia» («Handbuch der Theosophie«, 4 Teile, Rom 1911 - i5, 3. Teil, 5. 17), bezeichnete Busnelli Rudolf Steiner als einen «ehemals katholischen Priester>. Der Jesuite Orto Zimmermann griff in seiner Besprechung von Busnellis Werk diese Lüge auf und sprach vom «(dem Vernehmen nach) abgefallenen Priester» (in: «Stimmen aus Maria-Laach» (s. Hinweis oben), 1912, Bd. 83 (i), Heft 6). Zimmermann hat dann erst nach 6 Jahren diese Behauptung zurückgenommen, mit der oberflächlichen Wendung: «Wie schon Frau Besant als das Schlimmste des Schlimmen von Steiner ausgesagt hatte, er wäre ein Jesuitenzögling - was sich aber nicht aufrechterhalten ließ, noch weniger freilich die Meinung eines ausländischen Schriftstellers (Giovanni Busnelli), er sei ein abgefallener Priester . . . « (in: «Stimmen der Zeit« (s. Hinweis oben), 48. Jg., Juli 1918, 95. Bd., Heft 10).

86 jesuitenpater: Otto Zimmermann. Siehe Hinweise zu S. 85 und 87.

Adolphe Ferriere, 1879 - 1960, schweizer Soziologe und Pädagoge. Zu Ferrie`res Verleumdungen siehe S. 240 ff. in diesem Band und die Hinweise dort.

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87 die jesuitische Literatur..., die seit der kirchlichen Verurteilung der anthroposophischen Schnften im Juli 1919: Mit dieser «kirchlichen Verurteilung» ist das Dekret gemeint, das die Kongregation des Heiligen Offiziums von Rom am 18. Juli 19i9 erlassen hatte und das auf die Frage antwortete, «ob die Lehren, die man heute theosophische nennt, mit der katholischen Lehre sich vereinigen lassen, und ob es darum erlaubt sei, sich theosophischen Gesellschaften anzuschließen, ihren Versammlungen beizuwohnen, ihre Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Schriften (libros, ephemerides, diaria, scripta) zu lesen». Die Antwort hieß: «Negative in omnibus» - «nein in allen Punkten» (Acta Apostolica Sedis 1 l, 1919, 3l7). Otto Zimmermann und andere katholische Geistliche dehnten dann diesen Beschluß auch auf die anthroposophischen Schriften aus. - Die «jesuitiscbe Literatur» bezieht sich u. a. auf den Aufsatz Zimmermanns: «Die kirchliche Verurteilung der Theosophie», in: «Stimmen der Zeit» (siehe Hinweise zu S. 85), 50. Jg., Nov. 1919, 98. Bd., Heft 2.

Otto Zimmermann: Siehe die Hinweise oben (ab S. 85).

Max Dessoir, 1867 - I947, Psychologe und Ästhetiker. - Siehe über ihn: Rudolf Steiner:

«Von Seelenrätseln» (i917), GA 21.

87/88 Ich habe Ihnen das vor einiger Zeit charakterisiert: Am 3. Dezember 1919, nicht gedruckt.

88 Dessoirsches Buch: Max Dessoir: «Vom Jenseits der Seele. Die Gebeimwissenscbaft in kritischer Beleuchtung», Stuttgart 1917. - 2. Aufl. ebenda 1918, mit banaler Erwiderung auf Rudolf Steiners «Von Seelenrätseln» (siehe Hinweis oben) im Vorwort zur zweiten Auflage. - Vgl. hierzu u. a. auch Rudolf Steiners Vortrag «Wissenschaftliche Zeiterscheinungen» vom 26. Juni 1917, in: «Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus» (i7. Vorträge, Berlin 1917), GA 176; und Friedrich Rittelmeyers Aufsatz «Max Dessoir und Rudolf Steiner», in den «Süddeutschen Monatsheften», Jg. 1917, Heft I.

Artikel ... für das Brockhaussche Konvursationslexikon: Es handelt sich um einige Artikel für die i5. Auflage von «Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens«, Leipzig 1919 ff., von denen aber nur zwei, die über «Ätherleib» und über «Franz Hartmann» (i 838 - 19i2), Arzt und Theoioph, von Rudolf Steiner eingesandt worden zu sein scheinen. Während der letztere Artikel gar nicht aufgenommen wurde, erschien der erstere in einer von Dessoir veränderten und etwa auf ein Siebtel gekürzten Fassung. - Zu dieser Angelegenheit siehe die Darstellungen von WaltherJohannes Stein und Alfred Meebold, in: «Die Drei», Monatsschrift, Stuttgart 1922, 2. Jg., Heft 7/8, S. 626 bzw. 627f.

Im folgenden seien hier der Originaltext Rudolf Steiners (1.) sowie die gedruckre Dessoirsche Fassung (2.) wiedergegeben:

(1.) Aetherkö,per (Aetherleib). Ein dem gröbern (äußerlich wahrnehmbaren) Menschenkörper (und dem der andern Lebewesen) zu Grund liegender feinerer Körper (Leib). Er wird von der neueren Theosophie gekennzeichnet als das System von Kräften, welche ihren gesetzmäßigen Inhalt aus der geistigen Unterlage der Welt haben und die ihre Ausgestaltung (Objectivierung) in den organischen Formen des physisch-wahrnehmbaren Leibes finden. Mit der speculativ-mysrischen «Lebenskraft» der alten Vitalisten hat der Aetherkörper nichts gemein. Wohl aber fällt er zusammen mit dem «Schema« genannten «inneren Menschen» früherer Philosophien und kommt auch im Welrbilde von Origenes, Augustinus vor. 1n der neueren Zeit fand er einen Vertreter in den Philosophen Troxler, J. H. Fichte u. A. Bei Kant findet er sich, wiewohl von Skepticismus umweht in den Träumen eines Geistersehers als seelischer innerer Mensch, der alle

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Gliedmaßen des äußeren Menschen der Möglichkeit nach in sich trägt. - Der neueren Theosophie ist der Aetherkörper eine Realität, welche wahrnehmbar wird, wenn die «inneren Sinne» des Beobachters durch entsprechende seelische Schulung aus ihrem latenten Zustande, in dem sie im gewöhnlichen Menschenleben sind, zum Erwachen und Wahrnehmen gebracht werden. Er erweist sich dann als ein in feinen Gestaltungen wechselndes (niemals feste Formen annehmendes) Kraftsystem, das den physischen Leib durchflutet und in der Gegend des vorderen physischen Leibes (wie eine Art Spiegelbild des Rückgrades) ins Unbestimmte (in die Kräfte des Kosmos) übergeht. Er bildet ein Zwischenglied zwischen dem physischen Leib und den höheren Bestandteilen des Menschen, der Seele und dem Geist. Im Schiafzustand bleibt der Aetherleib mit dem physischen Leibe voll verbunden, während Seele und Geist sich von der Region der Sinnesorgane und des Centralnervensystems sich loslösen (nicht aber von den andern Organen und dem sympathischen Nervensystem). Beim Träumen ist wohi der Geist von den sinnesorganen und dem Centralnervensystem, nicht aber die Seele von diesem losgelöst.

(Die Loslösung ist nicht als eine räumiiche, sondern als eine dynamische zu denken). - Im Tode lösen sich Aetherleib, Seele und Geist (die Seele wird auch Astralleib, der Geist des Menschen «Ichleib» genannt) vom physisch-wahrnehmbaren Leib los (räumlich und dynamisch); diese drei Glieder der menschlichen Wesenheit bleiben noch kurze Zeit (mehrere Tage) verbunden; dann löst sich der Aetherleib von Seele und Geist. Er geht dann gesetzmäßig in die allgemeinen Kosmischen Kräfte über: ein Teil in die Aethersphäre der Erde, ein anderer Teil in die nicht zur Erde gehörige Aetherwelt. Diese Auflösung des Aetherleibes ist der Zeit und auch dem Charakter des Vorganges nach für verschiedene Menschen ganz individuell-verschieden. Eine Beobachtung der Gesetze dieser Auflösung gehört zu den schwierigsten Problemen der Geisteswissenschzft. Diese Art der Auflösung hängt mit dem Charakter des physischen Erdenlebens zusammen und bildet einen Teil der Schicksalsursachen, welche Seele und Geist betreffen, nachdem diese nach ihrer Trennung vom Aetherleibe in die geistige Welt übergegangen sind.

(2.) Ätherleib, Ätherkörper, nach den Lehren der neueren Theosophie ein dem gröberen (äußerlich wahrnehmbaren) Körper des Menschen und der anderen Lebewesen zugrunde liegender Körper (Leib). Er soll wahrnehmbar werden können, wenn die «inneren Sinne» des Beobachters durch entsprechende seelische Schulung zum Erwachen gebracht sind, und soll sich dann als ein Kraftsystem erweisen, das in seinen Gestaltungen wechselt und niemals feste Formen annimmt.

88 Mittelsman Gemeint ist Alfred Meebold, 1863 - 1952.

94 Ich habe Ihnen vor einiger Zeit hier davon gesprochen, wie ein Freund unserer Sache Zellen niedergeschrieben bar: Es handelt sich hierbei um das Gedicht «Nzrkose» von

Karl Thylmann (1888 - 1916). Die entsprechenden Zeilen lauten: «... Warte mein ganzes Fleisch, die Luft Granit, / Die Luft sternbrüchig flimmernder Granit... / So ist der Tod! Die Luft wird Sterngranit / Die Luft ist sternig flimmernder Granit...». In: «Karl Thylmann - Briefe>, hg. von Joanna Thylmann, o. J., S. 165. - Rudolf Steiner hatte auch im Vortrag vom 15. November 1919 in Dornach über diese Zeilen und ihre Bedeutung gesprochen: «Solch einen Eindruck muß man verstehen... Denn in dem Ringen um die Zukunftsweisheit ist eines der häufigsten Erlebnisse gerade dieses, daß die Welt um einen herum driickt, wie wenn die Luft plötzlich zu Granit erstarren würde. Man kann wissen, warum diese Dinge so sind. Man braucht ja nur zu bedenken, daß es das Bestreben der ahrimanischen Mächte ist, die Erde zum völligen Erstarren zu bringen. » 1n: «Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis» (15 Vorträge, Dornach 1919), GA 191.

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101 meine «Philosophie der Freiheit»: Siehe Hinweis zu S. 48.

«Magistur artium liberalium»: Fällt an deutschen Universitäten heute als bloßer in der Anrede ungebräuchlicher Nebentitel mit dem Doktorat der Philosophie zusammen. In England hat er sich in der Form des «Master of Arts» noch erhalten.

106 in den letzten drei Stunden als Episode eingeschoben: Es handelt sich um drei Lichtbildervorträge vom 23., 24. und 25. Januar 1920. Erschienen unter dem Titel «Architektur, Plastik und Malerei des Ersten Goetheanum«, Dornach 1982.

Ich habe in einem der letzten Vorträge hier davon gesprochen: Gemeint ist der Vortrag

vom 17. Januar i920, in diesem Band.

und haben auch davon schon gesprochen: Siehe u. a. den Vortrag vom 14. Dezember i919, in GA i94 (siehe Hinweis zu S. 9).

107 ein feinsinniger Mann... einen Vortrag hielt: Es handelt sich um Moriz Carrie`re. Siehe «Die sittliche Weltordnung«, Leipzig 1877, S. 1 - 13, Zur Einleitung: «Die sittliche Weltordnung in den Zeichen und Aufgaben unserer Zeit«, Rede gehalten am 3. September 1870 in einer Volksversammlung in München. (In der i. Auflage des vorliegenden Bandes (1966) wurde der Redner irrtümlicherweise als Johannes Scherr identifiziert, da Rudolf Steiner von diesem gerade anschließend an diese Stelle spricht.)

schrieb derselbe Mann einen Aufsatz «Die Idee des Vollkommenen und das Seinsollende», 4. Kap. in «Die sittliche Weltordnung« (siehe oben), S. 149 - 176.

108 Johannes Scherr, 1817 - i 886, Schriftsteller, Kultur- und Literaturhistoriker; zuletzt Professor am Polytechnikum in Zürich.

116 RaffaelSanti, i483 - I520, italienischer Maler, neben Michelangelo und Leonardo wichtigster Meister der italienischen Renaissance.

118 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen: Matth. 24, 35; Mark. i3, 31; Luk. 21, 33.

120 Während des Vortrages vom 31. Januar 1920 sind zwei Tafelzeichnungen entstanden (Nr. 7 und 8). Eine der Tafeln konnte dem Text nicht eindeutig zugeordnet werden und wird deshalb in den Mzrginalien nicht aufgeführt. Im separaten Band der Reihe «Rudolf Steiner, Wandtzfelzeichnungen zum Vortragswerk« wird die Tafel als Nr. 8 abgedruckt erscheinen.

Den inneren Zusammenhang kennen Sie, ich habe öflers davon gesprochen: Zur Beziehung der Anthroposophie zur Dreigliederung des sozialen Organismus siehe z. B. den Vortrag vom 3. Okt. i919, in: «Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftIicher Erkenntnis« (15 Vorträge, Dornach i919), GA 191.

Ich habe Sie auch darauf aufmerksam gemacht: Vgl. hierzu den Anfang dieses Zyklus im Vortrag vom 9. Januar. - Vgl. ferner z. B. den Zyklus «Die soziale Frage als Bewußtseinsfrzge« (8 Vorträge, Dornach 1919), GA 189, oder die Vnrträge vom i2. Dez. 19i9, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens« (12 Vorträge, Dornach 19i9), CA 194, und vom 30. Nov. 19i8, in: «Die soziale Grundforderung unserer Zeit - In geänderter Zeitlzge« (12 Vorträge, Dornach, Bern i9i8), GA i86.

l26 was ich Ihnen hier schon auseinandergesetzt habe: Siehe den Vortrag vom 23. Oktober 1919, in: «Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis« (i5 Vorträge, Dornach 1919), GA 191.

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128 »Fürst dieser Welt»: Joh. 12, 31; 14, 30; 16, 11. Gebräuchlich wurde der Ausdruck durch Luthers Lied «Ein` Feste Burg ist unser Gott».

129 Woodrow Wilson, 1856 - 1924, Präsident der USA von 1912 bis 1920. Er verkündete 1918 als Haupt der Entente die auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker aufgebauten «Vierzehn Punkte» für die Neugestaltung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg. Die «Vierzehn Punkte» stellte Wilson in seiner Rede «Programm des Weltfriedens. Ansprache an den Kongreß» vom 8. Januar 1918 auf. Siehe «Die Reden Woodrow Wilsons», englisch und deutsch, Bern 1919.

130 Erich Ludendorff, 1865 - 1937, deutscher General. Im Ersten Weltkrieg Generalstabchef Hindenburgs.

Clemenceau:Siehe Hinweis zu S. 65.

das habe ich ja oft gesagt. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt: Siehe u. a. folgende Vorträge: 18. und 19. Oktober und 9. November 1919, in GA 191 (siehe Hinweis zu S. 126); 28. Dezember 1918, in GA 187 (siehe 1. Hinweis zu S. 69).

Daher habe ich öflerjetzt auseinandergesetzt in der Einleitung zur eurythmischen Vorstellung: Siehe die Einleitungen zu den Vorstellungen vom 25. und 31. Januar 1920 (letztere fand gerade vor dem hier gehaltenen Vortrag statt), gedruckt in: «Eurythmie. Die Offenbarung der sprechenden Seele. Eine Fortbildung der Goetheschen Metamorphosenanschauung im Bereich der menschlichen Bewegung» (Ansprachen 1918 - 1924), GA 277. (Die Einleitung vom 31. Januar ist dort gekürzt wiedergegeben.)

134 « Vom MenschenrätseL Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen und Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten» (1916), GA 20.

137 Es ist öflers von mir auseinandergesetzt worden: Siehe z. B. die Vorträge vom 28. und 29. Nov., 6., 7., 12. und 13. Dez. 1919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheiinnisse des Menschenwesens» (12 Vorträge, Dornach 1919), CA 194; den Vortrag vom 18. Okt. 1918, in: «Geschichtliche Symptomatologie» (9 Vorträge, Dornaeh 1918), GA 185; und vom 6. Nov. 1919, in: «Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen»

(9 Vorträge, versch. Orte 1919), GA 329. - Vgl. ferner den 1922/23 gehaltenen Zyklus «Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung> (9 Vorträge. Dornach 1922/23), CA 326.

Ich habe ja öflers darauf hin gewiesen: Siehe z. B. den Vortrag vom 12. Dez. 1919, siehe Hinweis oben.

138 Baco von Verulam (Francis Bacon), 1561 - 1626, englischer Staatsmann, Advokat, Philosoph, Humanist, Essayist und Arzt. Begründer des Empirismus. Er sah in der Naturforschung die einzige Quelle für gesichertes Wissen, und mit ihr das Heraufkommen einer Ära der totalen Erneuerung des Geistes- und Wirtschaftslebens. Seine Denkweise kommt in charakteristischer Weise zum Ausdruck in seiner Utopie «Novz Atlantis» (dt.: «NeuAtlantis. Eine utopische Erzählung», Leipzig, Reclam, o. J. (1926).

Thomas Hobbes, 1588 - 1679, englischer Philosoph. Er faßte seelische und gesellschaftliche Erscheinungen als bewegte Körper auf, deren Veränderungen sich mechanisch erklären ließen.

John Locke, 1632 - 1704, englischer Philosoph, Mediziner und Theologe.

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138 David Hume, 1711 - I776, englischer Philosoph und Historiker.

Herbert Spencer; i820 - 1903, englischer Philosoph.

Isaac Newton: Siehe Hinweis zu S. 19.

Charlas Darwin: Siehe Hinweis zu S. i4.

144 Ernst Haeckel, i834 - 19i9, Zoologe und Naturforscher.

145 Prosahymnus «Die Natur»: Dieser Aufsatz Goethes entstand um 1780 und erschien im «Tiefurter Journal», 32. Stück, I782, unter dem Titel «Fragment« und ohne Angabe eines Autors. Später trug er den Titel «Die Natur. APhoristisch». Wiederabgedruckt in «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Rudolf Steiner, photomechanischer Nachdruck nach der Erstauflage in Kürschners

euiythmisch vorgeführt: Goethes Prosahymnus «Die Natur» wurde erstmals am 15. Januar 19i9 aufgeführt. Die Eurythmieformen sind abgedruckt in «Rudolf Steiner - Eurythmieformen«, Bd. 111, Eurythmieformen zu Dichtungen von Johann Wolfgang von Goethe, GA K 23, S. 26 - 35.

als ich in den neunzigerJahren... das «Fragment» über die Natur mit einer Erklärung herausgegeben habe: Rudolf Steiners Aufsatz «Zu dem über die Natur« erschien in den «Schriften der Goethe-Gesellschaft«, 7. Bd., 1892, und ist abgedruckt in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie i 884 - 1901. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde», GA 30. In dieser Schrift befaßt sich Rudolf Stetner u. a. mit der Frage, inwieweit das «Fragment» Goethe oder dessen Freund Georg Christoph Tobler zugeschrieben werden kann. - Siehe hierzu auch die Ansprache, die Rudolf Steiner anläßlich einer eurythmischen Aufführung am 17. April 1920 gehalten hat. In: «Eurythmie. Die Offenbarung der sprechenden Seele« (Ansprachen i9i8 - 24), GA 277, und im dritten Band der «Eurythmieformen« (siehe oben), S. XIX. Die Ansprache ist an beiden Orten gekürzt wiedergegeben.

in einem Blatte ein sonderbarer Aufsatz ... in diesem Sonntagsblatt eine Fortsetzung: Artikel im Sonntagsblatt der «Basler Nachrichten» i920, Nr. 2 (11. Jan.) von Paul Wernle: «Der Verfasser des Fragments im Journal von Tiefürt». - Fortsetzung des Themas ebenda, Nr. 5 (i. Febr.), von H. Trog: «Zur Verfasserschaft des Fragments über die am Schluß der neuen Ausgabe des Journals von Tiefurt hinzufügte, ersehen, daß kein anderer als Goethe selbst die Aufmerksamkeit seines nächsten Freundeskreises auf Tobler als den Verfasser hingelenkt hat ... Aber unter den Goetheforschern gibt es wunderliche Köpfe, die es besser wissen als Goethe selbst... (denn) Rudolf Steiner war bei seinen Erläuterungen zum Fragment im Besitz alles für die Entscheidung der Verfasserfrage notwendigen Materials, das gegen Goethe und für Tobler spricht. Trotzdem hält er an der geistigen Urheberschaft Goethes durchaus fest und will Tobler nur die Rolle eines Berichterstatters, der sich möglichst genau an den Wortlaut des Gehörten hält, lassen; als einen will er Toblers Anteil bezeichnen. Die Gründe, die Steiner dabei bestimmen, liegen im inneren Zusammenhang der späteren naturwissenschaftlichen Ideen Goethes mit dem in diesem Fragment ausgesprochenen Lebensprogramm, das allem Goetheschen Denken über die Natur zugrunde liege

Zudem kommt mir vor, Rudolf Steiner habe das Fragment unrichtig interpretiert, wenn

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er alle möglichen späteru naturphilosophischen Ideen Goethes hier in kein`haftem Zu- stand vorfinden will. Mit Naturforschung scheint mir das Fragment überhaupt keine Beziehungen zu haben, so sehr es auch ein Naturforscher nachträglich auf seinen Ideen über Natur auspressen mag. Weit eher möchten wir`s ein Glaubensbekenntnis nennen; Religion lebt darin, obschon das Gegenteil dessen, was der Durchschnitt unter versteht . . . »

146 John Wiclzff um 1325 - 1384, englischer Reformator (Doctor evangelicus). Er griff das ganze System der mittelalterlichen Kirche scharf an und übersetzte die Bibel ins Englische. 1415 wurde er vom Konstanzer Konzil zum Ketzer erklärt.

147 William Shakespeare, 1564 - 1616.

148 Jakob Böhme, 1575 - 1624, deutscher Mystiker und Philosoph. - Vgl. den Vortrag über Jakob Böhme vom 3. Mai 1906, in: «Die Welträtsel und die Anthroposophie» (22 Vorträge, Berlin 1905/06), GA 54.

Jakob Balde, 1604 - 1668, neulateinischer Dichter.

151 Wir haben gesehen: Die Ereignisse, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begonnen und zum i. Weltkrieg geführt haben, beleuchtet Rudolf Steiner auf verschiedensten Ebenen:

- Das Wirken der Geister der Finsternis, die nach einem Kampf im Himmel im Jahre 1879 von Michael auf die Erde gestürzt worden waren und da weiterwirkten: Siehe z. B. die Vorträge vom 26. Okt. 1917, in: «Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis» (14 Vorträge, Dornach 19I7), GA 177; und vom 6., 11. und 13. Nov. 19i7, in: «Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen» (9 Vorträge, div. Orte 19i7), GA 178.

- Das Wirken gewisser Eingeweihter, die von der Notwendigkeit eines Weltkrieges sprachen, der den europäischen Südstaaten und dem europäischen Osten ein anderes Antlitz geben müsse: Siehe u. a. den Vortrag vom 9. Jan. 1920 in diesem Band.

- Das Nichthereinlassen einer geistigen Welle als Ursache für den Weltkrieg: Siehe u. a. die Vorträge vom 1. Jan. 1919, in: «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht» (8 Vorträge, Basel, Domach i918l19), GA I87; und vom 20. Dez. 19i8, in: «Die soziale Grundforderiang unserer zeit - In geiinderter Zeitlage» (12 Vorträge, Dornach, Bern 1918), GA 186; sowie vom 30. Jan. 1920 in diesem Band.

- Verursachusg des Krieges durch materialistische Menschen, die in den letztenJahrzehnten des l9. Jahrhunderts starben, ohne dabei geistige Begriffe mitnehmen zu können: geschildert im Vortrag vom 29. Sept. 1917, in: «Die spiriruellen Hintergründe...» (siehe oben).

- Politische Gründe werden ausführlich dargestellt u. a. im Vortrag vom 9. Nov. 1918, in: «Entwick1ungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils» (8 Vor- träge, Dornach 19i8), GA I85a.

- Siehe im weiteren u. a. den Zyklus «Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit. Erster Teil«, (13 Vorträge, Dornach, Basel i9i6), GA 173.

Ich habe Sie hingewiesen auf die Tatsache: In den Vorträgen vom 30. und 31. Januar 1920, in diesem Band.

155 Wodan: (auch Woran, Odin). Die in der germanischen Mythologie an der Spitze der nordischen Götterwelt stehende Gottheit.

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155 Saxnot: Bei den alten Sachsen Name des Gottes, der sonst Ziu oder Tyr genannt wird. - Über Saxnot oder Sahsnot siehe Ludwig Laistner, in: «Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte», Stuttgart I892.

im letzten Sonntagsvortragu: Gemeint ist der Vortrag vom 1. Februar in diesem Band.

157 Meister Eckhart, um 1260 - 1327, deutscher Mystiker, Dominikaner, Magister. Lehrte in Paris, Straßburg und Köln. Predigte auf leitendem Posten in Orden und Kirche. Sein Hauptwerk basiert auf der Scholastik und den Schriften des Dionysius Areopagita. Nachschriften seiner in sprachschöpferisch bereichertem Mittelhochdeutsch gehaltenen Predigten, Lehrreden und Traktate kursierten z. T. ohne Kontrolle des Redners. Meister Eckhart starb, als Ketzer angeklagt, im Verlaufe des Verfahrens.

Johannes Taular, um 1300 - 1361, deutscher Mystiker, Dominikaner, Prediger. Schüler von Meister Eclthart. Er wirkte als Beichtvater und predigte hauptsächlich in seiner Heimatstadt Straßburg, zeitweilig auch in Basel.

Wenn zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, dann bin ich mitten unter euch: Matt. i8, 20.

161 Ich habe in früheren Vorträgen wiederholt gezeigt: Siehe z. B. den Vortrag vom 26. Okt. i917, in: «Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis« (14 Vorträge, Dornach 1917), GA 177. Vgl. ferner die Vorträge vom 30. März, 4. und 29. April i906, in: «Das christliche Mysterium» (3i Vorträge, versch. Orte

1906/07), GA 97.

«Vierzehn Punkte»: Siehe Hinweis zu S. 129.

163 Herman Grimm, I828 - 1901, Kunst- und Literaturwissenschaftler.

von der Herman Grimm mit Recht sagt «Goethe», Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin (i877), 2 Bde, 8. Auflage Stuttgart und Berlin i903, 2. Band, 23. Vorlesung, S. 171 f., wörtlich: «Längst hatte ... die große Laplzce-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergange der Erde Platz gegriffen. Aus dem in sich rotirenden Weltnebel - die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - formt sich der centrale Gastropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als erstarrende Kugel, in unfaßbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit einbegriffen, durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurückzustürzen: ein langer, aber dem heutigen Publikum völlig begreiflicher Proceß, für dessen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens mehr bedürfe, als die Bemühung irgend einer außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten.

Es kann keine fruchtlosere Perspective für die Zukunft gedacht werden, als die welche in uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich nothwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Vergleiche zu diesem letzten Schöpfungsexcrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu erltlären die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.»

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163 ImmanuelKant 1724 - I804, Philosoph, Mathematiker, Naturwissenschafter. ZurKantLaplaceschen Theorie siehe Kants «Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt«, nebst zwei Supplementen, Leipzig o. J. (i755).

Pierre Simon Laplace, 1749 - 1827, frz. Mathematiker und Astronom. - «Tralte de Me`canique ce~leste«, 5 Bde., Paris 1799 - 1825 (dt.: «Mechanik des Himmels«, Berlin).

l64 in der letzten Nummer unserer Zeitschrtft: Gemeint ist die Wochenschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus«, hg. vom Bund für Dreigliederung des Sozialen Organismus (s. Hinweis zu S. 52); verantwortlicher Schriftleiter war Ernst Uehli. Sie erschien von Juli 1919 bis Juni 1922. Dann wurde sie umbenannt in «Anthroposophie. Wochenschrift für freies Geistesleben«. Diese wurde 1931 mit der Zeitschrift «Die Drei« vereinigt und als Monatsschrift herausgegeben. - Hans Erhard Lauer: «Deutschlands Wiedergeburt aus dem Geiste Goethes», ebenda, 1. Jg., 1919/20, Nr. 30 (Jan. 1920).

«sacro egoismo»: Sacro egoismo per l`Italia: Wort des italienischen Ministerpräsidenten Antonio Sitlandra am 18. Oktober 19i4 zu den Beamten bei der Übernahme des Ministerium des Äußeren.

167 Öffentlicher Vortrag: Basel 20. Oktober i919: «Geisteswissenschaft (Anthroposophie) und die Bedingungen der Kultur in Gegenwart und Zukunft«:

.... Das Geistesleben hat allmählich einen ganz abstrakten Charakter angenommen. Denken Sie einmal nach, wie sich die religiöse, die ästhetische, die künstlerische Weltanschauungs-Überzeugung - sagen wir - eines Kaufmanns oder eines Industriellen oder eines Staatsbeamten gestaltet. Das ist eine Sache für sich, die er in seiner Seele erlebt; die reicht in das Kontobuch oder in dasjenige, was er in seinem Büro tut, nicht hinein. Da werden auf dem Gebiete, auf dem er seine Ideen erzeugt, nicht zugleich die Ideen und Impulse geschaffen, die darin in seinem Kontobuch zum Ausdruck kommen. Auf dem steht höchstens: Mit Gott! - aber das ist auch alles, wodurch die Tätigkeit, die da drinnen zum Ausdruck kommt, zusammerihängt mit dem, was er als ein abstraktes Geist- und Seelenleben durch die Welt rrägt...>.

In:

168 Ich habe in früheren Jahren oftmals und sehr scha,f auf diese Dinge hin gedeutet Siehe z. B. den Vortrag vom i2. Nov. 1916, in: «Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben> (10 Vorträge, Dornach 1916), GA 172.

169 ich habe es Ihnen gestern charakterisiert: Im Vortrag vom 6. Februar in diesem Band.

170 Versailler Vertrag: Der Friedensvertrzg zwischen Deutschland und 26 Feindesmächten nach dem ersten Weltkrieg, unterzeichnet 28. Juni i919, ratifiziert 10. Januar 1920. Die Vereinigten Staaten haben den Versailler Vertrag nicht ratifiziert.

171 Rabindranath Tagore: Siehe Hinweis zu S. 12. - «Nationalismus«, Deutsch von H. Meyer. Franck, Leipzig o. J. (19i8).

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171 das ich ja vor Ihnen schon ausgesprochen habe: Siehe die Vorträge vom 19. Aug. 1918, in: «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen» (9 Vorträge, Dornach 1918), GA 183; und vom 1. und 20. Dez. 1918, in: «Die soziale Grundforderung unserer Zeit - In geänderter Zeitlage» (12 Vorträge, Dornach u. Bern 1918), GA 186.

173 Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz, 1646 - 1716, deutscher Philosoph, Gelehrter und Staatsmann, Jurist, Physiker, Mathematiker, Arzt, Theologe und Philologe. - Die Differentialrechnuag ermöglicht die Rechnung mit den Differentialen, d. h. unendlich kleinen Differenzen, und ist zusammen mit der Integralrechnung für alle Probleme der exakten Narurwissenschaften und der Mechanik von großer Bedeutung. Die Differentialund Integrafrechnung, zusammen Infinitesimalrechnung genannt, wurde Ende des 17. Jhs. von Leibniz und Newton, unabhängig voneinander, geschaffen.

Kopernikus: Siehe Hinweis zu S. 29.

Galilei:Siehe Hinweis zu S. 29.

Lesen Sie einmal bei Rabindranath Tagore nach: In der oben genannten Vortragssamm

lung «Nationalismus».

176 ich habe ja öfter hier schon die Psychoanalyse analysiert: Siehe z. B. die Vorträge vom 13., i4., 15. und 16 Sept. 1915, in: «Probleme des Zusammenlebens in der Anthroposophischen Gesellschaft. Zur Dornacher Krise vom Jahre 19i5» (7 Vorträge (etc.), Dornach 1915), GA 253; vom 13. Nov. i916, in: «Das Karma des Berufes ...» (Siehe Hinweis zu S. i68); und vom 10. und 11. Nov. 1917, in: «Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen» (9 Vorträge, div. Orte 1917), CA 178.

Ich habe Sieja aufmerksam gemacht auf das Prachtbuispiel: Diese Fallstudie der Psychoanalyse schilderte Rudolf Steiner in den Vorträgen vom 10. und 11. November 1917 (siehe oben). Siehe auch die Berliner Vorträge vom 22. Jan. und 12. März 1918, in: «Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseinsnotwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft» (21 Vorträge, Berlin 1918), GA 181.

178 William James, 1842 - 1910, der bedeutendste amerikanische Vertreter der modernen introspektiven Psychologie und des Pragmatismus. Professor für Philosophie an der Harvard Universität. Verfasser zahlreicher philosophischer und psychologischer Werke.

180 Ich habe zum Beispiel erwähnt: Siehe z. B. im Vortrag vom 6. Dez. 1919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheininisse des Menschenwesens« (12 Vorträge, Dornach 1919), GA 194.

Zwölftafelgesetz: (lat.: Lex duodecim tabularum). Das römische Recht wurde ab 450 v. Chr. auf 12 ehernen Tafeln festgehalten und als Quelle allen Rechts auf dem Forum Romanum aufgestellt. Nur Bruchstücke sind davon erhalten.

wir haben es ja auch schon öfter erwähnt: Die Wanderungen, die von der sinkenden Atlantis aus stattfanden, hat Rudolf Steiner in seinen Vorträgen oft erwähnt und beschrieben. Siehe u. a. auch in seiner Schrift «Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910), GA l3, das Kapitel «Die Weltenentwickelung und der Mensch«.

183 in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache»: «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Alteruims« (1902), GA 8.

188 den ich Ihnen einmal hier als Repräsentanten der gegenwärtigen Zeit... charakterisiert habe: Im Vortrag vom 30. Sept. 1917, in: «Die spirituellen Hintergründe ...«, GA 177 (siehe 1. Hinweis zu S. 161).

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188 David Lloyd George, 1863 - 1945, englischer Ministetpräsident 1916 - 1922. Über die erwähnten Ausführungen im Parlament: «Basler Nachrichten«, 76. Jahrg. 1920 (8. Februar): Tagesbericht (7. Februar). Der Schweizerische Press-Telegraph brachte letzter Tage einen Spezialbericht aus London, der Lloyd Georges Auffassung über die russische Frage wie folgt definierte: «Feststehende Tatsache ist, daß die antibolschewistische Richtung im russischen Bürgerkrieg zusammengebrochen ist. Solange die Antibolschewisten noch kampffähig waren, war England genötigt, sie ebenso zu untersrützen, wie seiner zeit England durch die Russen im Kampf gegen Deutschland untersrützt wurde, während die Bolschewisten Deutschland halfen ... Der Zusammenbruch der Antibolschewisten ist nicht etwa auf ein Versagen der englischen Untersrützung zurückzuführen ... Das beste, was jetzt getan werden kann, ist - für den Fall, daß es überhaupt durchgeführt werden kann - mit dem Bolschewismus einen annehmbaren Frieden zu schließen. »

habe ich hier in der Schweiz immer wieder und wiederum genau dasselbe über Woodrow Wilson gesagt: Siehe z. BödenVortrag vom 1. Okt. 1917, in: «Die spirituellen Hintergründe ...», GA 177 (siehe 1. Hinweis zu S. 161); oder den Basler Vortrag vom 20. Okt.

1919, in: «Die Befreiung des Menschenwesens ...», GA 329 (siehe 1. Hinweis zu S. 137).

192 Wie Sie wissen, ist es den Katholiken verboten: Siehe Hinweis zu S. 87.

Heraklit, 540 - 480 v. Chr., griechischer Philosoph.

Sokrates, 469 - 399 v. Chr., griechischer Philosoph.

Plato, 427 - 347 v. Chr., griechischer Philosoph.

194 ich habe Ihnen immer von Zeit zu Zeit die haßlichen Angrtffe, die von jener Seite kommen, mitgeteih: So z. B. im Vortrag vom 19. Aug. 1918, in: «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen« (9 Vorträge, Dornach 1918), GA 183; und im Vortrag vom 6. Dez. 1919 (vgl. auch 30. Nov.), in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens» (12 Vorträge, Dornach 1919), GA 194.

195 Encephalitis lethargica: Eine damals epidemisch auftretende Gehirnentzündung, welche zu Trägheit und partiellen Lähmungserscheinungen führte.

196 Schon öfters habe ich Sie darauf aufmerksam gemacht: Siehe nebst dem Vortrag vom 11. Jan. 1920 in diesem Band u. v. a. die Vorträge vom 10. und 17. Okt. 1919, in: «Soziales Verstiindnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis« (15 Vorträge, Dornach 1919), GA 191.

198 Das habe ich j` schon öfters ausgeführt: Siehe z. B. in den Vorträgen vom 17. Juli 1915 in: «Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft» (13 Vorträge, Dornach 1915), GA 162; vom 7. Dez. 1919, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens« (12 Vorträge, Dornach 1919), GA 194; oder im Wiener Vortrag vom 6. April 1914, in: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» (8 Vorträge, Wien 1914), GA 153.

Tatsache..., die ich auch öfters erwahnt habe: Vgl. z. B. die Vorträge vom 28. und 29. August 1919, in: «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1)» (14 Vorträge, Stuttgart i919), GA 293.

199 Fräulein Scholl, Fra.~ulein Laval, Herrn Dr. Grosheintz: Der Vortragende nannte die Namen dreier Zuhörer.

203 was ich in meiner « Th eosophie » über die Verwandtschaft der höheren Sinne mit dem Tastsinn gusagt habe: Siehe «Theosophie. Eine Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung« (1904), GA 9, Kap. Die drei Welten, 1. Die Seelenwelt.

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203 was auch schon Goethe bemerkt hat: Bezieht sich ev. auf die Stelle: «Der Chirurg muß mit Geistesaugen, oft nicht einmal vom Tastsinn unterstützt, die innere verletzte Stelle zu finden wissen ...« (Sophien-Ausgabe, 11. Abt., 8 Bd.: Zur Morphologie, 111. Teil, «Versuch einer allgemeinen KnochenIehre. Tibia und Fibula», S. 2I8.

Lehre von den ,pezifischen Sinnesenergien: Begründet von dem Physiologen Johannes Müller (i801 - 1858).

206 869 auf dem achten ökumenischen Konzil: Siehe Hinweis zu S. I 8.

210 gestern in St. Gallen: Es handeIt sich um den bisher nicht gedruckten MitgIiedeivortrag

«Die erzieherischen Kräfte in der Volksgemeinschaft» vom i2. Februar 1920.

211 die ich ja in andern Zusammenhängen öfter beschrieben habe: Die traumhafte Imaginarion der alten Mondenzeit wird von Rudolf Steiner oft beschrieben. Eine ausführliche Darstellung findet sich z. B. auch in seinen Schriften «Aus der Akasha-Chronik» (1904 - i908), GA Ii, und »Die Geheimwissenschaft im Umriß (19i0>, GA i3 (Kap. Die Weltentwickelung und der Mensch). - Über den Zusammenhang des heutigen Gedächtnisses mit jener alten Bewußtseinsform siehe z. B. auch die Vorträge vom 26. und 27. Aug. 1916, in: «Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte» (15 Vorträge, Dornach 1916), GA 170.

sagte ich Ihnen: Im Vortrag vom 13. Februar 1920 in diesem Band.

220 Wie ich schon ausgeführt habe in einer früheren Betrachtung: Siehe z. B. den Vortrag vom 8. Februar 1920 in diesem Band.

223 Ereignis von Versailles: Siehe Hinweis zu S. 170.

224 ich habe das in anderem Zusammenhange hier ausgeführt: Siehe den Vortrag vom 16. Februar i919, in: «Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage« (8 Vorträge, Dornach 1919), GA 189 (über Geistesleben, Staatsleben und Wirtschaftsleben und ihr Verhältnis zu vorgeburtlichem, irdischem und nachtod1ichem Leben).

Grigortjjefimowitsch Raspuün, 1871 - 1916, russischer Mönch und angeblicher Wundertäter. Einflußreicher Ratgeber des Zaren Nikolaus 11 und besonders der Zarin. Wurde 1916 von einer Gruppe hochgestellter russischer Persönlichkeiten ermordet.

227 William James: Siehe Hinweis zu S. 178.

Spencer: Siehe Hinweis zu S. 14.

Henri Bergson, 1859 - 1941, französischer Philosoph.

Kant:Siehe Hinweis zu S. 163. (Kant wurde geboren, lebte und starb in Königsberg.)

229 Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht: Diese Metamorphose hat Rudolf Steiner öfter dargestellt. Siehe z. B. den Zyklus «Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte« (15 Vorträge, Dornach 1916), CA 170, weiter die Vorträge vom 18., 25. und 26. Aug. und 2. Sept. 1918, in: «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen« (9 Vorträge, Dornach 1918), GA 183; und vom 27. und 29. Dez. 1918, in: «Wie kann die Menschheit den Christus wiedeifinden? Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht« (8 Vorträge, Base1, Dornach I918/19), CA 187, und andernorts.

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233 Ernest Renan, 1823 - 1892, französischer Gelehrter, Philosoph und Orientalist. Prof. für hebräische, chaldäische und syrische Sprache am Colle`ge de France. War zuerst Geistlicher. - «La guerre entre la France et l`Allemagne«, in: «Revue des deuz Mondes«, 40. Jg., Bd. 89, Paris 1870 (15. Sept.): «Lz grandeur intellectuelle et morale de l`Europe repose sur une triple alliance, dont lz rupture est un deuil pour le progre`s, l`alliance entre la France, l`Allemagne et l`Angleterre. Unies, ces trois grandes forces conduiraient Ie monde et le conduiraient bien, entrainant ne`cessairement zpres elles les autres e`lements, considerables encore, dont se compose le re`seau europe`en. «

235 Herman Grimm, «Fragmente«, I. Band, Berlin und Stuttgart 1900, S. 212: «Wir von heute (189i) haben nicht mehr wie ich als Kind (geb. 1828) einstmals die Freiheitskriege gegen den ersten Napoleon als letzte große Erfahrung hinter uns, sondern die Freiheitskriege der sechziger und siebziger Jahre gegen Österreich und Frankreich. Wir sind einmal ein Volk gewesen, in dessen Schoße dem Kinde einzuprägen war, es werde sich nie freiwillig zugreifend an den Schicksalen des Landes beteiligen dürfen. Heute wird der Deutsche dazu gezwungen. Vor fünfzig Jahren wäre es ein unerhörtes Beginnen gewesen, die Erziehung so einzurichten, daß man dem Kinde ltlarmachte, es werde einmal der Bürger eines einigen großen deutschen Kaiserreiches sein, und unter seinen Pflichten gegen Gott, Kaiser und Vaterland werde auch die einmal an es herantreten, aus eigener Beurteilung der Bedürfnisse seines Vaterlandes einen Vertreter seiner Meinungen in ein deutsches Parlament zu wählen. Dergleichen nur zu äußern, würde wie Hochverrat geklungen und dem, der es ausgesprochen hätte, vielleicht den Lebensruin eingetragen haben.«

236 das ich Ihnen hier vor Wochen geschildert habe: Bezieht sich wahrscheinlich auf den Vortrag vom 15. Dez. i9i9, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheirnnisse des Menschenwesens« (12 Vorträge, Dornach 1919), GA 194.

237 Ignaz Paul Vital Trnxler, 1780 - i866, Arzt, Philosoph und Pädagoge. Professor in Basel und Bern.

Gotthilf Heinrich von Schubert, i780 - i860, Arzt und Naturphilosoph.

Leibniz:Siehe Hinweis zu S. i73.

Marcus Tullius Cicero, 106 - 43 v. Chr., römischer Staatsmann, Redner und Schriftsteller.

238 «Platz an der Sonne»: Wort des Reichskznzlers Bernhard Fürst von Bülow in der Reichstagssitzung vom 6. Dez. 1897 mit Bezug auf die Besitzergreifung von Kiautschou, das wohl ursprünglich zurückgeht auf das bekannte angebliche Gespräch zwischen Alexander dem Großen und Diogenes von Sinope.

Karl Marx, 18 i 8 - i 883, Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und des historischen Materialismus. Er verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens in England.

Friedrich Engels, i 820 - 1895, marxistischer Soziologe, theoretischer Begründer des Kommunismus. Freund von Karl Marx. Er übernahm frühzeitig die Filiale des väterlichen Barmer Geschäftes in Manchester und verfaßte unter den in England gewonnenen Ein- drücken das Werk «Die Lage der arbeitenden Klassen in England«, Leipzig 1845.

240 Adolphu FeHere, 1879 - 1960, schweizer Soziologe und Pädagoge.

von dem ich Ihnen erza`hh habe, daß er die Verleumdung weitergetragen hat- ich wahre

der «Rasputin» des deutschen Kaisers: Ferriere hatte in der Zeitschrift «Suisse-Be1gique- Outremer«, i. Jg., Nr. 3 - 4, Juli/Aug. 1919, S. 19, in seinem Aufsatz «Lz Ioi du progre`s

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economique et la justice sociale. 11. L`organisme social« die Behauptung aufgestellt: «Quel abime, si nous passons d`un Emile Waxweiler ä un Rudolf Steiner! L`un est, au premier abord, obscur dans sa terminologie, mais sa pense`e est d`une clarte` aigue~. L`autre de`veloppe ses pense`es en une langue que ses intimes pourront trouver claire; mais sa pense`e nous parait e`minemment obscure! L`ecrivaln allemand est the`osophe. On affirme qu`il fut le conseiller intime, le confident et l`inspirateur de Guillaume 11; par de`fe`rence nous ne repe`terons point l`expression de de Guillaume 11, par laquelle nous l`avons entendu de`signer.» Oder, wie Rudolf Steiner diesen Text im Vortrag vom 21. Dezember 1919 auf Deutsch wiedergab: «Welch ein Weg ist von den klaren Gedanken

von Waxweiier bis zu den obskuren Gedanken von Rudolf Steiner! Aber dieser Herr ist ja auch gewesen der Intimus von Guillaume 11 und es wird gesagt, daß er mit wichtigen Ratschlägen gerade in den letzten Jahren dem Wilhelm 11. beigestanden hat, so daß man auch diesen Mann den Rasputin bei Wilhelm 11. nennen kann. Wir wollen uns nicht zum Vermittler dieses Gerüchtes machen ... », in: «Weltsllvester und Neujzhrsgedanken»

(5 Vorträge, Stuttgart i9i9/20), GA 195. - Rudolf Steiner kam in der Einleitung zum Dornacher Vortrag vom 7. Dezember i9i9 sehr ausführlich auf diese Verleumdung und die damit zusammenhängende Gesinnung zu sprechen, in: «Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Gehein`nisse des Menschenwesens» (i2 Vorträge, Dornach 1919), GA i94, Anhang.

deutscher Kaiser: Wilhelm 11. (frz.: Guillaume 11), 1859 - 1941, Kaiser von I888 - 19i8.

Rasputin:Siehe S. 224 f. in diesem Band und Hinweis dort.

Roman Boos, 1889 - i952, anthroposophischer Redner und sozialwissenschaftlicher Schriftsteller, Pionier der Dreigliederungsbewegung.

in emem «Offenen Brief», und ich habe in einem Einschiehsel in diesen Brief Die Antwort von Dr. Boos auf Ferriere erschien in der Zeitschrift «Suisse-Belgique Outremer», i920, Nr. 5, S. i5 ff. Das «Einschiebsel» von Dr. Steiner bestand aus einem Brief von ihm an Boos vom i6. Dezember i919, den Boos in seinen «Offenen Brief» aufnahm. Dieser Brief Dr. Steiners ist im Original nicht erhalten und in der genannten Zeitschrift in französischer Übersetzung erschienen; der ursprüngliche Wortlaut Dr. Steiners ist also nicht bekannt. Im folgenden sei der Brief in einer Rückübersetzung wiedergegeben:

Sehr geehrter Herr Doktor,

Auf Ihren Brief betr. den Angriff des Dr. Ad. Ferriere ist meine Antwort die folgende: Ich habe im Laufe meines Lebens nie die geringste Gelegenheit gehabt, auch nur ein einziges Wort mit Wilhelm II. zu wechseln. Ich gehöre zu denen, welche den Ex-Kaiser nur ganz selten und von weitem gesehen haben. Das erste Mal in Weimar beim Begräbnis der Großherzogin Sophie, als er dem Sarge nacbschritt. Das zweite Mal in einem Berliner Theater, als er in der Kaiserlichen Loge siß, das dritte Mal in der Friedrichstraße in Berlin, als er, umgeben von seinen Generälen, vorbeiführ, auf dem Rückweg von einer militärischen Übung. Wenn ich von diesem allem eine so klare Erinnerung habe, so ist es gerade weil ich außer bei diesen drei Gelegenheiten den Kaiser nie gesehen habe. Im übrigen habe ich mich auch niemals darum bemüht, mit dieser Persönlichkeit weder direkt in Verbindung zu treten, noch indirekt einen Kontakt anzuknüpfen.

Dr. Ferrie`re verbreitet also eine dreiste Verleumdung, die er mit Redensarten

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ausschmückt, deren groteske Logik komisch wirken würde, wenn man nicht einen moralischen Abscheu dabei empfinden müßte.

Ich hatte bisher nicht von dieser Attacke gehört. Aber ich muß es mir versagen, in irgendeine sachliche Diskussion einzutreten über einen Artikel, dessen Autor von den ersten Zeilen an seine Haltung der Wahrheit gegenüber so definiert wie Dr. Ferrie`re, der die elementarsten Regeln der Moral mit Füßen tritt.

Mit freundlichem Gruß gez. Dr. Rudolf Steiner

240 Nun mußte der Mann gestehen, daß er gelogen hat: Die Redaktion der Zeitschrift brachte in derselben Nummer, unmittelbar anschließend an den «Offenen Brief« von Dr. Boos, die Antwort Dr. Ferrieres darauf: «Nous avons communique` la lettre ouvert de M. Roman Boos ä notre correspondant, qui nous re`pond ce qui suit: «

241 Die weiteren vom Vortragenden verlesenen Stellen lauten imfranzös. Text: «A l`e`poque oü j`al &rit mon article, je ne connaissals Mr. Rudolf Steiner que par ses imprtmes. Depuis lors, j`ai appris ä le connaitre par des personnes qui le connaissent du pre`s. Mon opinion s`est transforme`e du tout au tout er j`avais pre`pare` un article oü je marquais mon respect pour la porte`e morale de son oeuvre personelle. J`avoue que la lettre de M. R. Boos refroidit quelque peu mon ardeur.« - Bei Ferrie`re: «Je pourrais re`pondre une foule de choses ä cette lettre. A quoi bon? Une des qualite`s latines est d`etre bref.

J`ai eu tort, je le reconnais, de quitter le terrain des faits contrölables. Je retire mes affirmations erronees et j`en conclus que les bruits qui courent, meme s`ils e`manent de plusieurs milieux differents er de gens qu`on a lieu de croire bien informe`, peuvent etre faux. Dont acte.>

245 daß ...ich auch hier in der Schweiz: Im öffentlichen Vortrag «Anthroposophie und Sozialwissenschaft. Geisteswissenschaftliche Ergebnisse über Recht, Moral und soziale Lebensfonmen» vom i4. Nov. i917 in Zürich, in: «Die Ergänzung heutigerWissenschaften durch Anthroposophie« (8 Vorträge, Zürich i917/i8), CA 73, wandte sich Rudolf Steiner gegen Wilson, der aus naturwissenschaftlichen Vorstellungen die soziale Struktur erfassen wollte. Die erwähnten Schwierigkeiten Wilsons nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten führten schließlich dazu, daß der Versailler Vertrag, an dem Wilson so entscheidend mitgewirkt hatte, von den Vereinigten Staaten nicht ratifiziert wurde. Anstelle von Wilson wurde im Herbst 1920 mit erdrückender Majorität der Republikaner Harding gewählt.

Die «Imperial Federation League» wurde im Jahre 1884 in England gegründet. Als Machtfaktor wurde dieser Imperialismus des «Greater Britain« namentlich um die Jahrhundertwende sichtbar durch die Wirksamkeit vonjosuph ChamburIain (1836 - 1906).

249 Dionysius Areopagita: Er gehörte zu dem Areopaggericht in Athen und wurde von Paulus für das Christentum gewonnen (siehe Apostelgeschichte 17,34). Seine Schriften wurden erst im 6. Jh. erwähnt. Unter seinem Namen sind außer den Abhandlungen

«Von den göttlichen Namen« und «Von der mystischen Theologie« die beiden zusam

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mengehörenden Abhandlungen «Von der himmlischen Hierarchie« und «Von der kirchlichen Hierarchie» überliefert.

250 Karl der Großu, 742 - 814, ab 768 König der Franken, ab 800 römischer Kaiser. Wurde

als erster deutscher Kaiser in Rom gekrönt, von Papst Leo 111.

25I Otto I, der Große, 9i2 - 973, Sohn Heinrichs des 11., Kaiser von 936 - 973.

Istwan (Stephan) «der Heilige», 969 - i038. Von i000 bis zu seinem Tode König von Ungarn. Er führte nach Bewältigung eines heidnisch-reaktionären Aufstandes die von seinem Vater, Herzog Geisa, begonnene Christianisierung der seit der Niederlage auf dem Lechfeld (955) auf das eigene Gebiet zuriickgedämmten Ungarn gegen viele Wider- stände des heidnischen Adels durch. Er festigte gleichermaßen Staat und Kirche. Heiligsprechung I087.

Dantus Formel des Imperialismus: In «De monarchia», Basel i559, (dt.: «Über die Monarchie»), I. Buch, Kap. VIII und IX: «Also befindet sich das Menschengeschlecht in gutem, ja bestem Zustande, wenn es sich nach Kräften Gott ähnlich macht. Aber das Menschengeschlecht wird am gottähnlichsten, wenn es möglichst eins ist, denn die wahre Einheit findet sich in Gott allein ... Das Menschengeschlecht kommt dann der Einheit am nächsten, wenn es sich ganz in einem vereinigt, und dies ist nur möglich, wenn es in seiner Gesamtheit einem Oberherrn untertan ist« - in einer anderen Übersetzung: «Es ist der Schrift gemäß Gottes Absicht, daß alles Erschaffene das Ebenbild Gottes trage. Das Menschengeschlecht nähert sich diesem Abbilde, wenn es eine Einheit bildet, denn Gott ist die höchste Einheit ... Das Menschengeschlecht ist der Sohn des Himmels, der Himmel aber wird von einem einzigen Beweger gelenkt - Gott. Also ist es mit dem Menschengeschlecht am besten bestellt, wenn ei von Einem regiert wird.»

253 Hirtenbrief eines Erzbischofs: Gemeint ist der Erzbischof von Salzburg, Johannes Baptist Katschthaler, i832 - 19i4. Sein Hirtenbrief vom 2. Febr. 1905 «Die dem katholischen Priester gebührende Ehre» ist publiziert in: Carl Mirbt: «Quellen zur Geschichte des Papsttums und des Römischen Katholizismus», 4. Auflage Tübingen I924, Kap. 645, S. 497 - 499. Nachfolgend die auf die priesterliche Konsekrationsgewalt bezügliche Stelle: «Ehret die Priester, denn sie haben die Gewalt zu konsekrieren. - Kraft der Weihe hat der katholische Priester und wieder nur er, und nicht die protestantischen Pastoren, diese wunderbare Gewalt. - Die Gewalt zu konsekrieren, den Leib des Herrn mit dem kostbaren Blute, mit Seiner ganzen heiligen Menschheit und Seiner Gottheit unter den Gestalten des Brotes und des Weines gegenwärtig machen; Brot und Wein verwandeln in den wahren Leib und das kostbare Blut unseres Herrn, welch` hohe, erhabene, ganz wunderbare Gewalt! Wo im Himmel ist eine solche Gewalt, wie die des katholischen Priesters? Bei den Engeln? Bei der Mutter Gottes? Maria hat Christum, den Sohn Gottes, in ihrem Schoße empfangen und im Stalle zu Bethlehem geboren. Ja. Aber erwäget, was bei der heiligen Messe vorgeht! Geschieht nicht unter den segnenden Händen des Priesters bei der heiligen Wandlung gewissermaßen dasselbe? Unter den Gestalten des Brotes und Weines wird Christus wahrhaft, wirklich und wesentlich gegenwärtig und gleichsam wiedergeboren. Dort zu Bethlehem gebar Maria ihr göttliches Kind und wickelte es in Windein, der Priester tut gleichsam dasselbe und legt die Hostie auf das Korporale. Einmal hat Maria das göttliche Kind zur Welt gebracht. Und sehet, der Priester tut dies nicht einmal, sondern hundert- und tausendmal, so oft er zelebriert.

Dort im Stalle war das göttliche Kind, das durch Maria der Welt gegeben ward, klein, leidensfahig und sterblich. Hier auf dem Altare unter den Ha n den des Priesturs ist es Christus in seiner Herrlichkeit, leidensunfa`hig und unsterblich, wie er im Himmel sitzt,

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zur Rechten des Vaters, glorreich triumphierend, vollkommen in jeder Beziehung. - Machen sie den Leib, das Blut des Herrn bloß gegenwärtig? Nein. Sondern sie opfern, sie bringen dem himmlischen Vater das Opfer dar. Es ist dasselbe, was Christus blutigerweise auf Kalvaria und unblutigerweise beim letzten Abendmal getan hat. Dort hat der ewige Hohepriester Jesus Christus Sein Fleisch, Sein Blut und Leben selbst dem himmlischen Vater zum Opfer gebracht, hier in der heiligen Messe tut Er dasselbe durch seine Stellvertreter, die katholischen Priester. Die Priester hat er an Seine Stelle gesetzt, damit sie dasselbe Opfer, das Er dargebracht, fortsetzen. 1hnen hat Er das Recht über Seine heilige Menschheit übertragen, ihnen gleichsam Gewalt über Seinen Leib gegeben. Der katholische Priester kann Ihn nicht bloß auf dem Altare gegenwärtig machen, Ihn im Tabernakel verschließen, Ihn wieder nehmen und den Gläubigen zum Genusse reichen, er kann sogar Ihn, den menschgewordenen Gottessohn, für Lebendige und Tote als unblutiges Opfer darbringen. Christus, der eingeborene Sohn Gottes des Vaters, durch den Himmel und Erde geschaffen sind, der das ganze Weltall trägt, ist dem katholischen Priester hierin zu Willen. -« (Hervorhebungen nach dem bei Mirbt wiedergegebenen Original.)

253 Mohammed: (arab. «der Gepriesene«), um 570 - 632, Prophet und Begründer des Islam.

254 Joseph Chamberlain, i836 - 19i4, britischer Staatsmann. Siehe auch Hinweis zu S. 245.

255 was ich Ihnen vor einigen Stunden hier charakterisiert habe: Im Vortrag vom 15. Februar 1920 in diesem Band.

Ludwig XIV., 1638 - i7i5, König von Frankreich, genannt der «Sonnenkönig». ihm zugeschrieben wird das Wort «L`etat c`est moi«.

259 Mein Reich ist nicht von dieser Welt: Joh. 18, 36.

263 FranzJoseph 1,1830 - 1916, ab I848 Kaiser von Österreich.

264 Gustav Noske, i868 - 1946, Hnlzarbeiter, später Redaktor sozialdemokratischer Zeitungen, legte im November 1918 in Kiel den Matrosenaufstand bei, wurde am 6. Januar 1919 Oberbefehlshaber aller Truppen in Berlin und am 13. Febr. i919 Reichswehrmtnister. 1m Februar i920, als Rudolf Steiner diese Vorträge hielt, hatte er dieses Amt noch inne: bis zum 30. März i920.

265 was russischer Zarismus war, das he?ßt heute ... Lenin und Twtzk`j, Bolschewismus: Über den Zusammenhang zwischen den beiden Vertretern des Bolschewismus und dem Zarismus sprach Rudolf Steiner verschiedentlich. Siehe z. B. in «Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen> (9 Vorträge, 19i9), GA 329, die Diskussion nach dem Vortrag vom 11. März 1919; oder die Fragenbeantwortung zum Vortrag vom 25. Oktober 1919, in: «Soziale Zukunft» (6 Vorträge, Zürich 1919), GA 332a.

Deutsche Reichskanzler: Caprivi (i890 - 1894), Hohenlohe (1894 - 1900), Bülow (1900 - 1909), Bethmann Hollweg (1909 - 1917).

Philpp Scheidemann, 1863-1939, Buchdrucker, Journalist, Schriftleiter, sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter (seit 1903), Staatssekretär unter Reichskanzler Max von Baden (Okt. 1918), Mitglied der Regierung der Volksbeauftragten (9. November i918).

271 «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» (1904/05), CA 10.

272 Lloyd Guorgu: Siehe die Hinweise zu S. 64 und 188.

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274 «Der Staat»: Woodrow Wilson: «The State», 1889.

ein Deutscher... dieses dicke Buch ins Deutsche übersetzt: «Der Staat. Elemente historischer und praktischer Politik«, autorisierte Übersetzung von Günther Thomas, Berlin u. Leipzig 1913.

277 Aurelius Augustinus, 354 - 430, Kirchenlehrer und bedeutendster Philosoph des christlichen Altertums. - «De civitate dei« («Uber den Gottesstaat«), 22 Bücher.

278 Wenn der frühere deutsche Kaiser... hinschreibt Wilhelm 11. schrieb 189i ins Goldene Buch der Stadt München: «Regis voluntas suprema lez». Vgl. J. von Kürenberg: «War alles falsch? Das Leben Kaiser Wilhelms 11.«, Basel/Olten 1940, S. 190.

Er sagt: Wilson: «Der Staat« (siehe Hinweise zu S. 274), Kap. XIV, S. 441.

279 Das schildert er... mit folgenden Sa`tzen: Ebenda, S. 225.

282 Cluny: Städtchen im franz. Department Saöne-et-Loire. Zentrum der im Benediktinerorden entstandenen «Kongregation von Cluny«, oder dem «Orden der Cluniacenser«, einer Vereinigung verschiedener Klöster mit dem Abt von Cluny als Oberhaupt. Dem aus dem Orden hervorgegangenen Papst Gregor VII. gelang es durch eine Reformation, die Herrschaft des Staates und des Kaisertums abzuwerfen. Die Äbte wurden von Rom aus den Bischöfen gleichgestellt und mit Privilegien versehen. Zunehmender Reichtum führte zur Verweltlichung des Ordens.

Papst Gregor VII: (Hildebrand), Papst i073 - i085. (Siehe auch Hinweis oben.)

284 Zum Abschnitt «Das muß aber ... » zeichnete Rudolf Steiner zwei schräg schraffierte Kreise an die Tafel, die aber nicht eindeutig den Zusammenhang zum Text erkennen lassen. Die Marginalien für diese Tafel wurden deshalb weggelassen. Die Tafel erscheint im separaten Band «Rudolf Steiner, Wandtafelzeichnungen zum Vortragswerk« als Nr. 18.

286 in meinen «Kernpunkten»: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (19i9), GA 23.

287 Königin von England: Victoria, 1818 - 190i, Königin von England I837 - i901.

DerKaiser von Österreich: FranzJoseph I., 1830-1916, Kaiser von Österreich 1848-1916. «Davongejagt» wurde Kaiser Karl 1., I887 - 1922, Kaiser von Österreich i9i6 -19i8.

288 Waldo,fschula: Gemeint ist hier die freie Waldotfschule in Stuttgart, die am 7. September l919 eröffnet und am 8. März 1920 von der zuständigen württembergischen Behörde genehmigt worden war. - Das «Loch« im württembergischen Schulgesetz bestand darin, daß es die Möglichkeit der freien Lehreranstellung offen ließ. Diese Möglichkeit war zu Beginn der Schule geradezu eine Existenzfrage, da nicht genügend examinierte und zugleich befähigte Lehrer vorhanden gewesen wären, die das Risiko dieser Anstellung auf sich nehmen wollten. Dieses «Loch» wurde allerdings nach einiger Zeit zugemacht. Ferner bestand ursprünglich die Möglichkeit, unbeschränkt Kinder in die erste Klasse aufzunehmen. Auch diese Freiheit wurde später eingeschränkt.

291 f. Der Brief aus Kristlania ist nicht bekannt. Die darin erwähnten Personen und die Monatsschrift konnten nicht ermittelt werden.

293 Reise n«ch Deutschland: Rudolf Steiner fuhr ein paar Tage später für zwei Wochen nach Stuttgart (zweiter naturwissenschaftlicher Kurs (GA 321), Gründung der Aktiengesellschaft «Der Kommende Tag« etc.)

TEXTÄNDERUNGEN

#G196-1992-SE319 Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung

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TEXTÄNDERUNGEN

Größere Textänderungen in der 2. Auflage von 1992 gegenüber der 1. Auflage von 1966

#TX

S. 31, Z. 14ff.

1. Auflage: Und diese Illusionsfähigkeit, sie hängt eben zusammen mit seiner Möglichkeit, nicht fortwährend in Fiebrigkeit oder in Ohnmacht zu sein, das heißt, nicht zum hellen Bewußtsein aufzusteigen. Läßt er dann die Zügel schießen, bleibt er nicht Herr der Illusion ...

2. Auflage: Und diese Illusionsfähigkeit, sie hängt eben auch zusammen mit seiner Möglichkeit, nicht fortwährend in Fiebrigkeit oder in Ohnmacht zu sein, das heißt, zum hellen Bewußtsein aufzusteigen. Läßt er dann die Zügel schießen, bleibt er also nicht Herr der Illusion ...

S. 40, Z. l6

1. Auflage: ein umfassendes Weisheitsgut in Urteilen da war

2 Auflage: ein umfassendes Weisheitsgut in Urzeiten da war

S. 41, Z. 9

1. Auflage: Dasjenige, woran appelliert wird

2. Auflage: Dasjenige, woran nicht appelliert wird

S. 72, Z. 6

1. Auflage: Nun kann also der Mensch

2. Auflage: Nun kann der Mensch

S. 108, Z. 11i

1. Auflage: Es hat also damals auch ein Mann

2. Auflage: Es hat damals auch ein Mann

S. 121, Z. 8ff.

1. Auflage: nachzudenken, nachzusprechen. [Fehlende Passage]

2. Auflage: nachzudenken, nachzusprechen. Und insbesondere mit Rücksicht darauf, daß ja noch einige unserer englischen Freunde da sind, muß ich das Folgende berühren, das aber auch für die anderen hier sitzenden Freunde von da oder dorther von Wichtigkeit erscheinen kann.

S. 122,

Z. 13, 1. Auflage: eine reine Gliederung

Z. i6, 2. Auflage: eine reinliche Gliederung

S. 122,

Z. 15f., 1. Auflage: das in der Mitte stehen soll zwischen den drei Gebieten

Z. I8f., 2. Auflage: das in der Mitte stehen soll zwischen den beiden anderen Gebieten.

S. 129,

Z. 3 ff., 1. Auflage: Lassen wir hereinträumen in unser Denken, so vermischen wir das, was wir bloß haben sollten durch unser vorgeburtliches Leben, mit dem, was zwischen Geburt und Tod, nämlich im Traume sich abspielt.

Z. 6ff., 2. Auflage: Lassen wir Träume herein in unser Denken, so vermischen wir das, was wir bloß haben sollten durch unser vorgeburtliches Leben, mit dem, was zwischen Geburt und Tod sich abspielt.

320

S. 178, Z. i5

1. Außage: mit Bezug auf seine wichtigsten Bedingungen

2. Auflage: mit Bezug auf seine wichtigsten Dinge

S. 179, Z. 7ff.

1. Auflage: Ich will ja nicht behaupten, daß heute alle diejenigen, die zu ihrem Glaubensbekenntnis - aber in dieser Beziehung bedeutet das nicht viel - die Anthroposophie gemacht haben, alle lebensgeschickte Menschen seien; ich wage das wirklich nicht zu behaupten. Ich möchte nicht diese Unhöflichkeit begehen, sogleich zu behaupten, daß alle Anthroposophen lebensgeschickte Menschen seien. Aber was in der realen Bewegung der Anthroposophischen Gesellschaft sich äußert, das ist ja vielfach dasjenige, was von außen hineingetragen wird. Von innen hinaus wird heute wirklich noch recht weniges getragen. Und erst dann wird die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft das für die Welt sein können, was sie sein soll, wenn nicht nur mystische Neigungen, Lebensfremdheit, falscher Idealismus, Tantentum - nein, so ähnliche Dinge meine ich bloß - hineingetragen werden in die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, ich könnte auch sagen Onkeltum, sondern wenn aus ihr heraus getragen wird dasjenige, was in ihr eigentlich nicht bloß gemeint ist, sondern zu holen ist als eine Anregung des Seelenlebens, die in die Glieder übergeht, die den ganzen Menschen ergreifen kann, nicht bloß das Glaubensbekenntnis, und die durch die Menschen in die Angelegenheiten der Welt eingreifen kann. Das ist es, um was es sich hauptsächlich handelt. Darin sollte man den ganzen Lebensernst suchen.

2. Auflage: Ich will ja nicht behaupten, daß heute alle, die Anthroposophie zu ihrem Glaubensbekenntnis gemacht haben, lebensgeschickte Menschen seien. Ein Glaubensbekenntnis bedeutet in dieser Beziehung nicht viel. Ich wage wirklich nicht zu behaupten, daß alle Anthroposophen lebensgeschickte Menschen seien. Aber sehen Sie, was in der realen Bewegung der Anthroposophischen Gesellschaft sich äußert, das ist ja vielfach das, was von außen hineingetragen wird. Von innen hinausgetragen wird heute noch wirklich recht Weniges. Und erst dann wird die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft das für die Welt sein können, was sie sein soll, wenn nicht nur mystische Neigungen, Lebensfremdheit, falscher Idealismus, Tantentum - ich könnte auch sagen Onkeltum; nein, so ähnliche Dinge meine ich - hineingetragen werden, sondern wenn das hinausgetragen wird, was in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zu holen ist: eine Anregung des Seelenlebens, die in die Glieder übergeht, die den ganzen Menschen ergreift - nicht bloß das Glaubensbekenntnis - und dadurch die Menschen in die Angelegenheiten der Welt eingreifen können. Das ist es, um das es sich hauptsächlich handelt. Darin sollte man den ganzen Lebensernst suchen.

S. 181, Z. 20 ff.

1. Auflage: Aber das, was jetzt die europäische Bevölkerung bildet, ist nicht etwa bloß die Nachkommenschaft von dem, was später wiederum aus Asien herübergezogen ist, sondern was heute Europa bevölkert, ist allerdings zum Teil Nachkommenschaft dessen, was von Asien herübergezogen ist, aber auch dessen, was früher ...

2. Auflage: Aber das, was jetzt die europäische Bevölkerung bildet, ist zwar zum Teil, aber nicht etwa bloß die Nachkommenschaft von dem, was später wiederum aus Asien herübergezogen ist, sondern was heute Europa bevölkert, ist auch die Nachkommenschaft dessen, was früher...

S. 258, Z. 23

1. Auflage: von etwas wirklichem Übersinnlichen

2. Auflage: von etwas Wirklichem, Übersinnlichen

NAMENREGISTER

#G196-1992-SE321 Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung

#TI

NAMENREGISTER

#TX

* = ohne Namensnennung

Augustinus, Aureljus 277

Baco von Verulam (Francis Bacon) 138ff., 163

Bacon, siehe Baco von Verulam

Balde, Jakob, siehe Baldus, Jacobus

Baldus, Jacobus 148

Bergson, Henry 227

Bethmann Holiweg, Theobald von 265

Bismarck, Fürst Otto von 236

Bohme, Jakob 148

Boos, Roman 240f.

Bruno, Giordano 42

Bülow, Bernhard Fürst von 238

Caprivi, Leo Graf von 265

Carri~re, Moriz 107*

Chamberlain, Joseph 254 f., 259

Cicero, Marcus Tulljus 237

Cl~menceau, Georges 65, 130

Cotta (Familie) 15

Czernin, Ottokar 62

Dante Alighieri 251

Darwin, Charles 14, 1>~2, 144ff.

Dionysios Areopagita 249

Dessoir, Max 87f.

Doldinger, Friedrich 67*

Engels, Friedrich 238

Ferri~re, Adolphe 86, 240ff.

Fichte, Johann Gottlieb 15, 46

Franz Joseph 1. 263, 287

Friedjung, Heinrich 45*

Galilei, Galileo 29, 42, 173

Gervinus, Georg Gottfried 46

Goethe, Johann Wolfgang von 15, 32*, 4Sf., 82, 127, i44ff., 148, 164, 203, 235

Gregor VII., Papst 282

Grelling, Richard 85

Grimm, Herman 163, 235

Grosheintz, Emil 199

Habsburger 134, 273

Haeckel, Ernst 144, 146f.

Hamerling, Robert 46, 82

Hebbel, Friedrich 82

Hegel, Friedrich Wilhelm 15, 4Sf.

Heraklit 192

Herder, Johann Gottfried 15, 4Sf.

Hobbes, Thomas 142

Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig 265

Hohenzollern 273

Hume, David 142

Istwan (Stephan) 1. 251

James, William 178, 227

Jesuiten 18f., 85ff.

Kant, Immanuel 163, 227

Karl der Große 2S0 f., 262, 283

Katschthaler, Johannes Baptist 253*

Kautsky, Karl 21

Kopernikus, Nikolaus 29, 42, 173

Laplace, Pierre Simon 163

Laval, Frl. 199

Leibniz, Gottfried Wilhelm i73, 237

Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) i3, 170, 222f., 238, 265

Leo III., Papst 2S0*, 283*

Lloyd George, David 64f., 188ff., 272

Locke, John 142

Ludendorff, Erich 130

Ludwig XIV. 2SS

Marx, Karl 238

Meebold, Alfred 88*

Meister Eckhart 157

Mohammed 253f.

Newton, Isaac 19,32,142, 144 f., 163 f., 173

Noske, Gustav 264 f.

Otto 1. 2S1

Ottonen 283

Plato 82, 192

322

Raffael Santi 116 f., 125

Rasputin, Grigorij Jefimowitsch 224 f., 240

Renan, Ernest 233

Reutlingen, Stadtpfarrer von 51 *

Scheidemann, Philipp 265

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 15

Scherr, Johannes i08

Schiller, Friedrich 4Sf.

Schirmer, Herr 291 f.

Scholl, Mathilde i99

Schubert, Gotthilf Heinrich von 237

Shakespeare, William i47f.

Sokrates 192

Spencer, Herbert 14, 142, 144, 227

Stein, Walter Johannes S1

Tagore, Rabindranath 12, 171, 173

Tauler, Johannes 1S7

Thomas, Günther 274*

Thylmann, Karl 94*

Traub, Friedrich SI*, S2~

Trotzkij, Leo Davidowitsch (Bronstein) 81, 170, 222f., 238, 26S

Troxler, Ignaz Paul Vital 237

Wiclif, John 146

Wilhelm II. 240*, 278*

Wilson, Woodrow 129, 161, 188f., 245,

272ff., 27Sf., 283, 290

Zimmermann, Otto 86*, 87f.

Steiner, Rudolf 52f., 83f., 88, 241, 292

Werke:

Die Philosophie der Freiheit (GA 4) 48, 74, 101, 110

Das Christentum als mystische Tatsache

(GA 8) 183

Theosophie (GA 9) 203

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (GA 10) 271

Die Geheimwissenschaft im Umriß

(GA 13) 20, 2S, 27, 39, 44, S7, iii, 158, 160, 180, 191, i97, 201, 202, 216

Vom Menschenratsel (GA 20) 134 Die Kernpunkte der soz. Frage (GA 23) 67, 68, 78, 164, 286, 292

Aufsatz: ~ddeenabwege und Publizisten­moral* (in GA 24) 53*, 83f.

AUSFÜHRLICHE INHALTSANGABEN

#G196-1992-SE323 Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung

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AUSFÜHRLICHE INHALTSANGABEN

#TX

ERSTER VORTRAG, Dornach, 9. Januar 1920 9

Notwendigkeit des Eingreifens der Wissenschaft von der Initiation in das äußere Leben. Westen: Streben nach Humanität als Ideal der Uneingeweihten in der englischsprechenden Bevölkerung. Lehre der Eingeweihten über die Notwendigkeit des Verschwindens der romanischen und mitteleuropäischen Kultur und über die Notwendigkeit einer Weltherrschaft der englischsprechenden Kultur. Osten: Rabindranath Tagore, ein uneingeweihter Idealist. Das Verschwindenlassen der Zivilisation von der Erde und ein Fortleben der Menschheit olirie die Erde als Erstrebenswertes für die Eingeweihten. Der Leiiinismus als Weg hierzu.

- Einrichtung des Lebens nach traditionellen Instinkten im Westen. Instinktunsicherheit in Mittel- und Osteuropa. Intellektualismus und Emotionalismus als Zwiespalt im heutigen Menschen. Wiedererwekkung des Wirklichkeitssinnes durch Geisteswissenschaft. Karl Kautsky als sozialistischer Theoretiker.

ZWEITER VORTRAG, 10. JanUar 1920 23

Die Illusion und das Böse als große Rätsel des Lebens. Ihr Zusammenhang mit Krankheit und Tod. Leben und Bewußtsein und ihr Verhältnis zueinander während der verschiedenen planetarischen Verkörperungen der Erde. Zerstörungsprozeß durch das Nerven-Sinnessystem und Belebungsprozeß durch das Rumpf- und Gliedmaßensystem. Die Wirkung zweier gleichartiger, aber wesensartig verschiedener Weltensphären: der Erden-Sonnensphäre und der Mondsphäre. Der Mensch als Haupteswesen ist ein Mondenwesen, aufnehmend die Strömungen des sOnnenhaften; der übrige Mensch ist ein Sonnenwesen, aufnehmend die Strömungen der Mondenkräfte. Mit der Mondensphäre durchdringt auch das Luziferische unsere Hauptesorganisation. Das Hereinspielen der Illusionskräfte in den Menschen durch die Mondensphäre. Die Erde als Einschluß in der Erden-Sorinensphäre wirkt in das hinein, was uns von der Sonne zukommt. Das Sichverselbständigen-Wollen der Erde gegenüber dem Planetensystem und die Erdenschwere bewirken die Selbständigkeit des Menschen. Extreme Erdenwirkung als Ursache des Bösen. Ausgleichende Wirkung des Sonneiihaften ermöglicht dem Menschen, anstatt der Illusion zu verfallen, Intelligenz zu entwickeln; anstatt dem Bösen zu verfallen, selbständig zu werden. Sprichwort: Der Mond ist ein Lügner. Heutige mechanisch-mathematische Anschauung des Kosmos.

324

DRITER VORTRAG, 11. Januar 1920 38

Hauptesorganisation und Rumpf-Gliedmaßenorganisation des Menschen. Tätigkeit der Mondenkräfte in der Hauptesorganisation, Tätigkeit der Erden- und Sonnenkräfte in der Rump?Gliedmaßenorganisauon. - Zwei Eintwicklungsformen in der Menschheit vor dem Mysterium von Golgatha: Einerseits eine alte heidnische Kultur mit einheidichem Charakter durch die über die ganze Erde hin ausgebreitete Offenbarung. Weisheiten über Natur und Weltenall als Inhalt dieser Urweisheit. Offenbarung erfolgt durch die Hauptesorganisation. Menschheitsreligion. Andererseits das althebräische, jüdische Volks - tuin. Offenbarung erfolgt durch die übrige Organisation des Menschen. Der Mensch als Iniialt dieser Offenbarung. Volksreligion. - Die gnostische Auffassung des Mysteriums von Golgatha als Rest der alten heidnischen Weisheit. Das Eirifließen der jüdischen Offenbarung in ein romisch-katholisches Erfassen des Christentums. Fortpflanzung der jüdischen Verkündigung in den Kirchen des Abendlandes. Letzte Reste der altheidnischen Weisheit in der Naturwissenschaft. Dadurch Unvermögen der Naturwissenschaft, den Menschen zu begreifen und Unvermögen der Theologie, die Natur zu begreifen. Agnostizismus als Folge. Heutige nationale Politik als Fortsetzung der althebräischen Politik, ohne Vordringen zum Christentum. Niedergang des deutschen Geistes nach Goethe und Ruf nath einem neuen Anfang. Notwendigkeit einer auf neuerfaßter Christlichkeit aufgebauten Moral. Das Hereinwollen einer neuen Geistigkeit in die Menschheitsentwicklung. Kampf der Gegner gegen die neue Geistigkeit.

VIERTER VORTRAG, 16. Januar 1920 55

Die menschliche Seelenentwicklung in der nachatlantischen Zeit. Das Jüngerwerden der Menschheit in bezug auf ihr Lebensalter. Parallelität zwischen leiblicher und geistiger Entwicklung der Menschheit der urindischen Zeit bis ins sechste Lebensjahrzehnt hinein. Das Miterleben der kosrnischen Ereignisse im urindischen Zeitraum durch das Haupt. Das Herunterrücken der Entwicklungsfähigkeit des Menschen von der urindischen Zeit bis heute: urindische Zeit 49. - 56. Lebensjahr, urpersische Zeit 42. - 49. Lebensjahr, ägyptische Zeit 35. - 42. Lebensjahr, griechisch-lateinische Zeit 28. - 35. Lebensjahr, unser Zeitraum 21. - 28. Lebensjahr. Das Ende der Entwicklung der physischen Menschheit auf der Erde zum Zeitpunkt, wo die Entwicklungsgrenze beim 13., 14. Lebensjahr liegen wird. Berechnungsmethoden für das menschliche physische Leben in der modernen Wissenschaft. Erleben von Offenbarungen

325

durch das physische Gehirn in alten Zeiten und heutige Notwendigkeit, sich zur Geisteswissenschaft hinzuwenden. Das Morschwerden der noch unter dem Einfluß der alten plastischen Leiblichkeit entstandenen Staatsgebilde. Czernin über Österreich. Notwendigkeit des dreigeteilten sozialen Organismus. Die Entwicklungsfähigkeit des heutigen Menschen bis zum 27. Lebensjahr. Lloyd George als typischer Vertreter der heutigen Menschheit. Die Unangemessenheit der Olympischen Spiele in unserer Zeit. Notwendigkeit der Entwicklung neuer sozialer Gebilde. Die Verleumdungsfeldzüge der Gegner der Anthroposophie. Energie im Seelerileben als Erfordernis für die Zukunft der Menschheitsentwicklung.

FÜNFTER VORTRAG, 17. Januar 1920 71

Das Jüngerwerden der Menschheit in bezug auf Entwicklungsfähigkeit in der nachatlantischen Zeit. Entwicklungsfähigkeit des heutigen Menschen nur bis zum 27. Lebensjahr. Befruchtung der Menschheit durch die Wissenschaft der Initiation als einzige heutige Möglichkeit für das Vorwärtsschreiten der Menschlieitsentwicklung. Einseitige Verbreitung von Wahrheiten aus der Initiationswissenschaft durch anglo-amerikanische Eingeweihte. Appellation der Initiationswissenschaft an den Einzelnen anstelle einer früheren massenhypnotischen Wirkungsweise. Sozialmoral bedingt ein Zusammenwirken der Menschen, aus der Kraft von 1ndividualitäten heraus. Das Vertrauen der Menschen untereinander als wichtigstes Sozialmotiv der Zukunft. Bis ins 15. Jahrhundert hatten die Gedankenformen der Menschen - aufgrund anderer Vorstel

lungen über das Mysterium von Golgatha - eine Realität im Übersirinlichen. Seit dem 16. Jahrhundert Gedankenformen ohne Bedeutung im Ui~~i,iislichen. Das Zerbrechen der aus neuzeitlichen Gedankenformen heraus entwickelten Sozialeinrichtungen. - Die Entwicklung der Sprache. Zunehmende Wirkung Ahrimans in der Sprachenrwicklung. Erfordernis eines anderen Verstehens der Menschen untereinander als nur durch die Sprache. Die Gefährlichkeit des Sich-tragen-Lassens vom stereorypen Sprachgebrauch für die Ausarbeitung von Gedanken. - Die Verleumdung und Lügen der Gegner der Geisteswissenschaft und der Dreigliederungsbewegung in deutschen Zeitungen.

SECHSTER VORTRAG, 18. Januar 1920 89


Das Hereinwirken der Kräfte der Toten in die physische Welt. Aufhören der physischen Verkörperungen um das Jahr 5700 bei normalem

Fortgang der Entwicklung. Heutiges und späteres Verhältnis der Lebenden

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und der Toten zur Erde. - Das Übersetzen übersinnlicher Erlebnisse in die Sprache des gesunden Menschenverstandes. Wahrhaftigkeit in bezug auf sinnliche Erfahrungen als Anforderung, um zu einem Verständnis übersinnlicher Erfahrungen zu kommen. Nationale Interessen verhindern wahrheitsgemäßes Denken. Das gegenseitige Vertrauen als Hauptprinzip des sozialen Zusammenlebens und das Vertrauen in bezug auf die Erkenntniswege der Initiationswissenschaft. Das Verwobensein des Denkens mit dem Lichte und das Ausfließen des Ich in das Licht beim Übertritt des Menschen über die Schwelle des Todes. Ein Wiedererleben des Ich durch das Einswerden mit den Kräften der Erde, namentlich der Schwerkraft. Das durch die heutige Schulerziehung angewöhnte Denken und der in freier Geistigkeit entwickelte gesunde Menschenverstand. Verschiedene Beweggründe der Menschen, um zu einer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zu kommen. Notwendige Änderung des ganzen Seelengefüges. Entwicklung eines freien Denkens durch ein aktives Ich-Erleben, anstelle des passiven Erlebens der bloßen Ich-Spiegelung. - Der Dornacher Bau und die Notwendigkeit, materielle Opfer zu seiner Vollendung aufzubringen.

SIEBENTER VORTRAG, 30. Januar 1920 106

Notwendigkeit eines geistigen Einschlages in unsere Zeit. Johannes Scherr und seine Forderung nach einem «Ideal-Realismus»; die Sehnsucht nach Erneuerung des geistigen Lebens vor etwa 50 Jahren. Die in den letzten Jahrzehnten Europa überflutende Welle des Materialismus und als Folge davon die Unempfänglichkeit des Menschen für eine aus der geistigen Welt hereinwollende spirituelle Welle. - Das Denk-, Gefühls- und Willensleben des Menschen. Wesenheit des Denkens: Unwillkürliches träumerisches Denken nebst vom Willen durchpulstes Denken; Freiheit des Menschen durch letzteres. Willkürliches, freimachendes Denken verläuft in Bildern. Unser heutiges Denken als Fortentwicklung der Bild-Erlebnisse unserer Seelen im Mondendasein; Hineinspielen der Zustände des Mondendaseins und damit eines luziferischen Elementes in unser unwillkürliches Denken. - Wesenheit des Wollens und Handelns: Beeinflussung des Gleichgewichtes der Erde durch unsere Handlungen. All unser Umformen, Umordnen der Weltdinge zu Kunstwerken, Maschinen usw. als Handlungen mit Zukunftsbedeutung. Eingreifen des Ahrimanischen durch das nur vom Nützlichkeitsstandpunkt und nur auf die Gegenwart bezogene Handeln. Das Sinnbekommen unserer jetzigen Handlungen im Jupiterdasein. Erhö

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hung des menschlichen Daseins durch Handeln ohne Nützlichkeitsgründe. Raffael und seine Kunstwerke. - Die Verpflichtung des Menschen, sich selber in der Erdenentwicklung weiterzubringen. Notwendigkeit eines geistigen Erfassens des Mysteriums von Golgatha. Das Schicksal Europas und der ganzen Erde.

ACHTER VORTRAG, 31. Januar 1920 120

Die Geisteswissenschaft und die bedeutsamsten Forderungen der Gegenwart und Zukunft. Das Hereinschleichen traumhafter Elemente ins Denken bei Übernahme fertiger Urteile. Die Dreigliederung des sozialen Organismus und der Vorwurf an die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, sie beschäftige sich mit Politik. Die Trennung von Geistesleben, Rechts- oder Staatsleben und Wirtschaftsleben als Forderung der Dreigliederungsidee. Notwendigkeit der Klarheit und innerlichen Wahrhaftigkeit im Denken. Der luziferische Charakter in allem mit dem Rechtsleben verknüpften Geistesleben. Das ahrimanische Element im vom Staate verwalteten Wirtschaftsleben. - Begabungen, Talente der Menschen als Nachklänge aus dem vorgeburtlichen übersinnlichen Leben. Bedeutung von brüderlichem oder egoistischem Handeln im Wirtschaftsleben für das nachtodliche übersinnliche Leben. Bedeutung des Rechts- oder Staatslebens für das irdische Leben zwischen Geburt und Tod. Trennung von Überirdischem und Irdischem durch die Dreigliederung. Luziferisierung durch das Hereinspielen des für unsere Zeit abnormen Träumerischen in unser Denken. Unser Schlafen in bezug auf den Willen. Das Entgegenarbeiten allem Schläfrigen und Träumerischen in der Eurythmie. Durchdringung unseres Lebens mit Bewußtsein als Grundforderung unserer Zeit. Spiritisrnus als luziferischahrimanischerWeg in die geistige Welt. Die Notwendigkeit der Erneuerung des Geisteslebens. Das Sich-Sträuben der Menschen gegen das Hereindringen des Geistigen in die physisch-sinnliche Welt. Die Notwendigkeit der Aufnahme der Initiationswissenschaft ins soziale Leben. Die Menschheit vor der Alternative: entweder Bolschewismus über die ganze Welt oder Dreigliederung. Geschichte und Schicksal Europas.

NEUNTER VORTRAG, 1. Februar 1920 135

Das Hereinwirken treibender Kräfte aus der geistigen Welt in unser geschichtliches Erdenwirken durch führende Persönlichkeiten. Sprung im geschichtlichen Werden im 15. Jahrhundert: Änderung des Seelenlebens in verschiedener Weise bei den verschiedenen Völkern. Vom 3., 4., bis zum 15. Jahrhundert Versuch eines großen Teils der Europäer,

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ein religiöses Verhältnis zum Christentum zu bekommen. Erneuerung der Denkweise und Begründung der Wissenschaft im I6., I7. Jahrhundert durch Baco von Verulam (Bacon). Tiefstand der geistigen Erkenntniskräfte des Menschen. Das Experiment als Ausgangspunkt für eine Wissenschaft mit Erkenntnissen lediglich über die außermenschliche Natur, Verschwinden des Verständnisses für die Impulse des sozialen und moralischen Wollens zugunsten einer bloßen Nützlichkeitsmoral. Trennung von wissenschaftlichem Streben und konservierter Religion. - Fortwirken der Baconschen Denkweise bei Darwin. Haeckels Anwendung des Darwinismus auf den Menschen und Verwandlung des Darwinismus in eine Religion. Goethes Opposition gegen das Begreifen des bloß Außermenschlichen; sein «Fragment über die Natur». In Mitteleuropa Opposition auf religiösem Gebiet durch die Reformation und ihre Folgen. - Allmähliches Versickern des Goetheschen Impulses in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert. Ausbreitung des englischen Parlamentarismus. -Bacon, Shakespeare,Jakob BöhmeundJacobus Baldus, vier einflußreiche Persönlichkeiten und ihre Inspiration durch dieselbe Initiierten-Persönlichkeit. Die von ihnen ausgehenden Geistesströmungen. - Die Notwendigkeit der Erlangung neuer Geisteskräfte, um zu einem neuen Verständnis des Mysteriums von Golgatha zu kommen.

ZEHNTER VORTRAG, 6. Februar 1920 151

Die europäische Krisis seit den letzten 60 Jahren. Kampf konservierter Vorstellungen mit den in den Untergründen der Seelen wurzelnden Forderungen nach einem neuen Europa. Die Gestaltung Europas zur Zeit der Völkerwanderung durch den geistigen Einschlag des Christentums. Notwendigkeit eines neuen geistigen Einschlags und eines neuen Verständnisses des Mysteriums von Golgatha. - Das Fehlen einer Menschenerkenntnis in unserer heutigen Wissenschaft, und wirkliche, den Menschen aus überirdischen Verhältnissen heraus verstehende Menschenerkenntnis in der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Die Mystik Meister Eckharts und Johannes Taulers und ihr Hinwegführen vom Christus-Impuls. Entwicklungen unserer heutigen Wissenschaft ohne Rücksicht auf deren Hineingestelltsein in das Weltenganze. Menschenerkenntnis als Forderung für einen sozialen Aufbau. - Begründung von Menschengemeinschaften in alten Zeiten durch die Blutsverwandschaft. Luzifer und Ahriman als frühere Gegner der Blutsverwandtschaft und heutige Verführer durch dieselbe. Verantwortung der englischsprechenden Bevölkerung vor der Welt, den Geist nicht länger zurückzuweisen. Notwendigkeit, über nationale Interessen hinaus-

329

zugehen und sich für die Angelegenheit der ganzen Menschheit zu interessieren. Der Stil des Dornacher Baus und sein Zusammenhang mit Menschenkenntnis und -verständnis.

ELFTER VORTRAG, 7. Februar 1920 167

Trennung von Weltanschauung und äußerem praktischen Leben in den letzten Jahrhunderten. Das Geschicktwerden im äußeren Leben durch die Denk- und Vorstellungsart, zu der die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft heranerziehen will. Heutige Sackgasse des Lebens durch die seit dem 15. Jahrhundert vertretenen zwei Strömungen der einseitigen Idealisten und Mystiker und der einseitigen Praktiker. Der Widerspruch zwischen aus mittelalterlichen Verhältnissen heraus gebildeten Staatsverhältnissen und den industriell-kommerziellen Verhältr`issen. Die aus dem Krieg heraus entstandenen Staatsgebilde als Rahmen für die sozialistischen Theorien. Das Aufhalten der gesunden Menschheitsentwicklung in Europa durch den Bolschewismus. Die Wirklichkeisfremdheit der heutigen Zeit. Das Hinaufschauen zur geistigen Welt in Asien; Rabindranath Tagore als Repräsentant der asiatischen Menschheit. Mechanistische Kultur in Europa und Amerika. Die folgende Wiederverkörperung östlicher Seelen im Westen, westlicher Seelen im Osten. Zwei Ängste der gegenwärtigen Menschheit: Angst vor dem Erkennen der morschgewordenen Kultur- und Zivilisationsformen als eigentliche Kriegsursache und Angst vor dem Vorräcken in immer größere Bewußtheit des seelischen Lebens. Die Flucht der Menschen ins Unbewußte. Die Psychoanalyse als Produkt der Angst vor dem Bewußtsein. Ein Beispiel aus der Psychoanalyse. William James. Eurythmie auf das Überbewußtsein gegründet. Notwendigkeit, die Anthroposophie in die Angelegenheit der Welt eingreifen zu lassen.

ZWÖLFTER VORTRAG, 8. Feburar 1920 180

Änderung der Seelenverfassung und der Anschauung über Notwendigkeiten des sozialen Lebens im Laufe der Zeiten. - Die Wanderungen der AtIantier nach Europa und Asien. Asien: Aufnahme und Ausbildung des Geistigen im Seelischen ohne Beteiligung des Körperlichen. Die uralteWeisheitAsiens. Europa:Aufnahmedes GeistigendurchdasWerk zeug des Körpers, zum Beispiel des Gehirns. Herüberkommen eines aus der asiatischen Urweisheit herausgebildeten Christentums nach Europa. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts allmächliches Verrauchen des kosmischen Geistes, Naturgeistes in den europäischen Leibern und Versinken des Verständnisses für das Christentum. - Unterschied in der feinen

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Konstitution zwischen den westlichen und östlichen Menschen der Gegenwart, z. B. im Blut. - Das Vertrocknen der Leiber im Westen. Notwendigkeit des Hereinlassens einer Neubildung in die Menschheit, verbunden mit einem neuen Verständnis des Christentums. Kriegskatastrophen alle 15 - 20 Jahre als Folge einer Ablehnung dieser Neubildung. - DieWirklichkeitsfremdheitführenderMenschenwie Lloyd Georgeund Woodrow Wilson. Notwendigkeit einer gewissen Aufklärung über den Menschen als Allgemeinbildung. Die notwendige Gewinnung eines unmittelbaren Verständnisses von Mensch zu Mensch durch entsprechende Ausbildung der menschlichen Geisteskräfte. Das richtige Aufnehmen geisteswissenschaftlicher Bücher in die ganze Seelenkonstitution. - Ein neues Verständnis des Mysteriums von Golgatha als Zeifforderung. Die notwendige Umwandlung der Lässigkeit und Schläfrigkeit der Menschen in Beweglichkeit und Emsigkeit des inneren Seelenlebens.

DREIZEHNTER VORTRAG, 13. Februar 1920 196

Alte Mysterien und heutige Hochschulen. Altes Wissen um den Zusammeniiang des Menschen mit dem Kosmos, Wiederhinlenken des Blickes von der Erde zum Kosmos durch die Geisteswissenschaft. - Die Metamorphose des menschlichen Seelenlebens. Gedächtnis: starke Abhängigkeit von der Leibeskonstitution; individuell. Intelligenz: weniger abhängig von der Leibeskonstitution; Spiegelung durch den Leib; ein der Menschlieit mehr oder weniger Gemeinsames. Sinnestätigkeit: am unabhängigsten von der Leibeskonstitution; Sehvorgang als Beispiel. Beziehung des Ich zu den drei oberen Seelentätigkeiten Gedächtnis, Intelligenz und Sinneswahrnehmung-Sinnestätigkeit. Entwicklung des Gedächtnisses aus einer traumhaften Imagination der Mondenzeit, der Intelligenz aus einer schlafenden Inspiration der Sonnenzeit, der Sinnestätigkeit aus einer dumpfen Intuition der Saturnzeit. Veranlagung der verschiedenen Sinne während der Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenentwicklung. Das Gewahrwerden des Ichs von den Seelentätigkeiten durch die Leibesorganisation. - Der Leib des Menschen als Tempel der Götter. Das Weben und Leben der Angeloi in den Organen des menschlichen Gedächtnisses, der Archangeloi in denen der menschlichen Intelligenz und der Archai in denen der menschlichen Sinnestätigkeit. Die Beziehung des Seelischen im Menschen zu geistigen Substanzen (Angeloi, Archangeloi, Archai) und die Beziehung des menschlichen Leibes zu Nahrungsmitteln. Notwendigkeit, das Bewußtsein im Menschen zu erwecken, daß er durch seine Konstitution mit der geistigen Welt in Beziehung stehe. Daraus hervorgehende praktische

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Wirksamkeit, z. B. im Erziehungswesen. - Über die Organisation der Gegnerschaft.

VIERZEHNTER VORTRAG, 14. Februar 1920 211

Die drei Seelenfähigkeiten Gedächtnis, Intelligenz und Sinnestätigkeit. Ihr unterschiedliches Verbundensein mit der physischen Leiblichkeit. Veranlagung der Seelenfähigkeiten in Bewußtseinsformen früherer Erdenzustände; ihre Beziehung zu den Hierarchien. Gedächtnis: Mond (traumhafte Imagination) - Angeloi. Intelligenz: Sonne (schlafende Inspiration) - Archangeloi. Sinnestätigkeit: Saturn (dumpfe Intuition) - Archai. - Die drei unteren, an die physische Leiblichkeit gebundenen Seelenfähigkeiten Fühlen, Begehren, Wollen. Ihre Bedeutung für die zukünftigen Erdenzustände. Fühlen: Jupiter (vollbewußte Imagination) - Mineralreich. Begehren: Venus (vollbewußte Inspiration) - Pflanzenreich. Wollen: Vulkan (vollbewußte Intuition) - Tierreich. Aufgezehrtwerden der mineralischen Welt durch die Gefühlslträfte während der Erdenzeit, der Pflanzenwelt durch das Begehren während derJupiterzeit, des Tierreichs durch das Wollen während der Venuszeit. Die drei unteren Fähigkeiten in der menschlichen Organisation. Hereinspielen der unteren Fähigkeiten in die oberen. - Entwicklungswelle seit dem 15. Jahrhundert mit dem Ziel, die oberen Fähigkeiten frei zu machen von den unteren. Das zukünftige Vertrocknen der physischen Menschen und der unteren Seelenfähigkeiten und die Notwendigkeit, die höheren Seelenfähigkeiten mit Offenbarungen aus der geistigen Welt zu erfüllen. - Die soziale Welt als Ergebnis der unteren Seelenfähigkeiten. Vorbereitung einer sozialen Ordnung im Leninismus und Trotzkljismus, die von vertrocknenden oberen Seelenfähigkeiten ohne Befruchtung durch geistige Offenbarung bestimmt wird. Gefahr der Erstarrung der Menschheitszivilisation. Die Notwendigkeit der Dreigliederung der öffentlichen Angelegenheiten: der Trennung des Staates vom geistigen und wirtschaftlichen Leben.

FÜNFZEHNTER VORTRAG, 15. Februar 1920 228

Hindeuten der menschlichen physischen Organisation auf Irdisches, und darin auf Vergangenheit und Zukunft. Die Hauptesorganisation des Menschen als Metamorphose der Rumpf- und Gliedmaßenorganisation des vorigen Erdenlebens; die Rumpf- und Gliedmaßenorganisation als Grundlage für die Hauptesorganisation des künftigen Erdenlebens. - Auftreten von Neigungen aus der vierten nachatlantischen Kultur in unserer fünften durch die Kopforganisation der sich wiederverkörpernden

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Menschen. Notwendigkeit für die Menschen, sich als eine in die Zeit gestellte Zweiheit zu fühlen. Zukünftige Betrachtung der verschiedenen Volker und Rassen aufgrund seelisch-geistiger Erkenntnisse; Anthroposophie anstatt bloße Anthropologie. - Bedingung eines friedlichen Zusammengehens zwischen der französischen Nation, dem englischen Staat und dem deutschen Volke für das Heil Europas, eine häufig aufgetretene Meinung während des Krieges. Die historische Entwicklung des französischen Volkes zu einer einheitlichen Nation im Gegensatz zur Entwicklung des deutschen Volkes. Verständnis für das juristisch-staatliche Wesen im französischen Volk, die Prädestination des deutschen Volkes, Verständnis für das Spirituelle zu entwikkeln, Verständnis für das Wirtschaftsleben im englisch-amerikanischen Volk. Notwendigkeit, das Verhältnis der Dreigliederung im geschichtlichen Zusammenhang zu erkennen. - Die Verleumdungen des Monsieur Ferriere.

SECHZEHNTER VORTRAG, 20. Februar 1920 244

Die Unwahrhaftigkeit in bezug auf geschichtliche Erscheinungen in unserer Zeit. - Der alte orientalische Imperialismus: keine Unterscheidungen der physischen und geistigen Wirklichkeiten. Der Herrscher als Gott, als physisch erschienener Sohn oder Vater des Himmels, die Paladine als höhere Wesen. - Die zweite Form des 1mperialismus: Herrscher und Paladine als Gottgesandte, vom Göttlichen Durchdrungene. Kirchliche Hierarchien als Abbild der himmlischen. Alles wird als Symbol, Zeichen betrachtet. Spaltung der zweiten Form des Imperialismus in zwei Abarten: Kirchengemeinschaften und Reichsgemeinschaften. Die römische Kirche und das «Heilige Römische Reich Deutscher Nation». Papst und Kaiser. Protestantismus als Protest gegen die reale Bedeutung der gottesgesandten irdischen Menschen. Aus der ersten Form des Imperialismus Erhaltenes in der katholischen Kirche - ein Hirtenbrief als Beispiel -, in der Verbreitungsart des Mohammedanismus und in der Despotie des russischen Zarismus. - Die dritte Form des 1mperialismus: der anglo-amerikanische Wirtschaftsimperialismus, beginnend mit den Umwälzungen im England des 17. Jahrhunderts. Parlamentarismus, Volkswille und nur geduldetes Königtum. Die Phrase als herrschendes Element anstelle von Zeichen und Symbol. Aufbau eines Kolonialreiches als unter der Phrase bestehende Wirklichkeit. Aufgabe der dritten Phase des Imperialismus, die geistige neben der physischen Wirklichkeit anzuerkennen. Eindringen des Geistesreiches in einen durch die Phraseriliaftigkeit entstehenden leeren Raum.

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SIEBZENTHER VORTRAG, 21. Februar 1920 260

Die phraserihaft gewordenen alten Realitäten als Boden für ein neues Geistesleben im anglo-amerikanischen Imperialismus. Das Wirtschaftsleben als einzige Realität unter der Phrase. NotwendigeErkenntnis, daß neben der physischen Wirklichkeit des Wirtschaftens eine geistige Wirklichkeit hinzu kommen muß. Vorhandensein der Vorbedingung für diese Erkenntnis bei den westlichen Völkern. - Die Unfähigkeit im Mittelalter, durch die Symbole zu geistigen Wirklichkeiten vorzudringen; Unklarheiten über die eigene soziale Organisation. Das deutsche Kaisertum seit 1871 als Illusion; die sich daraus entwickelte Wirklichkeit: die politischen Verhältnisse seit November 1918. - Die Geheimgesellschaften der englischsprechenden Welt. Exoterische Phrase im öffentlichen Leben; nicht mehr verstandene, phrasenhafte Symbolik in den Geheimgesellschaften. Die äußere Macht der Geheimgesellschaften und die Indiskutabilität der religiösen Bekenntnisse als ihr Grundprinzip. - Die Phrasenhaftigkeit unseres Zeitalters; die Benennungen Whigs und Tories als Beispiel. Notwendigkeit der Dreigliederung, um die Wahrheit anstelle der Phrase zu setzen. Spätere Einsicht in die Notwendigkeit der Erneuerung der geistigen Welt, ausgelöst durch ein Schamgefühl über die erkannte Phraseniiaftigkeit und Illusion. - Symbole in geschichtlichen Erscheinungen; Habsburger und Hohenzollern. Woodrow Wilsons Buch «Der Staat» als PhrasenKodex.

ACHTZEHNTER VORTRAG, 22. Februar 1920 275

Die geschichtliche Entwicklung des Imperialismus. Erstes Stadium: Herrscher als göttliches Wesen,` sein Wille als indiskutabler Machtfaktor. Zweites Stadium: Betrachtung von Personen, Gegenständen, Taten etc. als Symbol, Zeichen. Aufkommen des persönlichen Urteils und der Möglichkeit zur Diskussion und Kritik. Drittes Stadium: Phrasenhaftigkeit in bezug auf das Seelenieben. Woodrow Wilsons «Der Staat» als Kodex der Phraseologie. Notwendigkeit der Einsicht darüber, daß nur das wirtschaftliche Leben eine Realität ist und daß ein neues Geistiges in der Welt verbreitet werden müsse. Forderung nach Umwandlung des menschlichen Denkens und Empfindens. - Art und Weise des Schilderns in der Anthroposophie: in Bildern, nicht durch Definition und Urteile. - Die römisch-katholische Kirche als Schattenbild des ersten Stadiums des Imperialismus. Feindschaft zwischen katholischer Kirche und Geheimgesellschaften. Der Staat als Schattenbild des zweiten Stadiums

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des Imperialismus. - Zukünftiger Ruf nach einer Erkenntnis des Geistigen, ausgelöst durch das Schamgefühl über die erkannte Phrasenhaftigkeit. Notwendigkeit einer Dreigliederung des sozialen Organismus. Ein Spielen mit Wortrepräsentanten alter Begriffe anstatt eines wirklichen Denkens in unserem Zeitalter. Notwendigkeit, den sozialen Organismus als ein Lebendiges anzusehen. Verantwortung der englischsprechenden Weltorganismen, wirkliche Spiritualität in das äußere Wirtschaftsimperium hineinzubringen. Verwirklichung eines unsichtbaren Reiches Cliristi durch den Willen des einzelnen, im befreiten Geistesleben lebenden Menschen. - Über die Gegnerschaft der Geisteswissenschaften.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.