GA 286

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ZU DIESER AUSGABE

#G286-1992-SE005 Wege zu einem neuen Baustil

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ZU DIESER AUSGABE

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Seit dem Kongreß in München zu Pfingsten 1907 («Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen», GA 284/285) wurde die von Rudolf Steiner von dem Beginn seiner anthro­posophischen Lehrtätigkeit an erstrebte Erweiterung in das Kunstgehiet hin­ein immer intensiver in Angriff genommen. Es fanden - nachdem bei diesem Münchner Kongreß 1907 zum erstenmal ein Mysterienspiel aufgeführt wor­den war - nunmehr jeden Sommer bis 1913 Festspielwochen in Verbindung mit Vortragszylden Rudolf Steiners statt. Die immer stärker als unbefriedi­gend empfundene Tatsache, für diese Veranstaltungen auf gemietete und oft unzureichende Räume angewiesen zu sein, führte bei leitenden Persönlichkei­ten der Gesellschaft zu der Initiative, der Anthroposophie eine eigene Wir­kensstätte zu bauen. Als Bauort wurde München gewählt, da die meisten Trä­ger der Bauinitiative dort lebten und arbeiteten.

Rudolf Steiner selbst betrachtete sich in dieser Sache nur als den künstle­rischen Beauftragten: «Ich glaubte, meine Kraft auf den Ausbau der inneren geistigen Arbeit der Anthroposophie konzentrieren zu müssen und nahm dankbar die Initiative hin, derselben eine eigene Wirkensstätte zu schaffen. In dem Augenblicke aber, in dem die Initiative ihrer Verwirklichung entgegen-ging, war die künstlerische Ausgestaltung für mich eine Sache der inneren geistigen Arbeit. Ich hatte mich dieser Ausgestaltung zu widmen. Ich machte geltend, daß aus denselben Grundlagen, aus denen die Gedanken der Anthro­posophie kommen, auch die künstlerischen Formen des Baues kommen müs­sen, wenn er eine wirkliche Umrahmung der anthroposophischen Weltan­schauung sein solle. - Daß dieses nicht in der Art einer strohernen Allegorik der Bauformen oder eines vom Gedanken angekränkelten Symbolismus zu geschehen hat, liegt im Wesen der Anthroposophie, die nach meiner Überzeu­gung eben zur wirklichen Kunst führt.

Der Gedanke, den Bau in München aufzuführen, konnte nicht ausgeführt werden, da maßgebende künstlerische Kreise dort Einwendungen gegen die Bauformen machten. ob diese Einwendungen später überwunden worden wären, braucht nicht besprochen zu werden. Die Träger der Bauabsicht woll­ten die Verzögerung nicht und nahmen deshalb das Geschenk von Dr. Emil Grosheintz, das in einem von ihm schon vorher erworbenen Baugrund auf dem Dornacher Hügel bestand, dankbar an.

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So konnte 1913 der Grundstein zu dem Bau gelegt und sogleich mit der Arbeit begonnen werden. - Die Träger der Bauabsicht haben mit Rücksicht auf eine Gestalt meiner Mysteriendramen, die Johannes Thomasius heißt, den Bau genannt. Ich habe im Laufe der Jahre, in denen gebaut wurde, öfters ausgesprochen, daß ich im Aufbau der anthroposophischen Weltanschauung vor vielen Jahren von der Betrachtung Goethescher Vorstel­lungsart ausgegangen bin, und daß für mich deren Heim ein ist. Daraufhin haben vorzugsweise nicht-deutsche Mitglieder der Anthro­posophischen Gesellschaft den Entschluß gefaßt, fernerhin dem Bau den Namen zu geben [1918].

Da die Anthroposophie in der Zeit, in welcher mit dem Bau begonnen wurde, bereits wissenschaftlich vorgebildete und arbeitende Mitglieder auf den mannigfaltigsten Gebieten gefunden hatte und deshalb in Aussicht stand, die geisteswissenschaftlichen Methoden in den einzelnen Wissenschaften an-zuwenden, durfte ich vorschlagen, der Bezeichnung des Baues den Zusatz zu geben: .»*

Im April des Jahres 1911 war der Bauverein gegründet worden und im Ok­tober erschien dessen erste Orientierungsschrift, in der sich bereits der Plan ausgesprochen findet, mit dem Bau eine Hochschule für Geisteswissenschaft zu verbinden. Ende 1911 und Anfang 1913 fanden die beiden ersten General-versammlungen des Bauvereins statt und Rudolf Steiner sprach bei dieser Gelegenheit über den Ursprung der Architektur aus dem Seelischen des Men­schen und im Zusammenhang mit dem Gang der Menschheitsentwicklung. Nachdem im Mai 1913 offizieil bekanntgegeben worden war, daß das Baupro­jekt von München nach Dornach bei Basel verlegt worden ist, wurde im Januar 1914, während der Generalversanimlungszeit der Anthroposophi­sehen Gesellschaft in Berlin, das Doruacher Projekt im Modell und in Abbil­dungen vorgestellt und auch die künstlerischen Mitarbeiter berufen. Da schon im Münchner Projekt verschiedene den Hauptbau umschließende Wohnbau­ten für Mitglieder eingeplant waren, entstand daraus für Dornach nun die sogenannte «Anthroposophische Kolonie«. In einer Versammlung des Bau-vereins am 23. Januar 1914 sprach deshalb Rudolf Steiner über die für deren bauliche Gestaltung notwendig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte.

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* Aui »Das Goetheanum in seinen zehn Jahren« in dem Band «Der Goetheanum­gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze aus der Wochensehrift 1921 - 1925«, GA 36.

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Diese ersten drei Vorträge Rudolf Steiners über die neue Baukunst bilden Teil 1 der vorliegenden Publikation. Teil II bilden die diese drei Vorträge ge­wissermaßen fortsetzenden fünf Vorträge, die nun schon nach Beginn der Bauarbeiten im Sommer 1914 in Dornach gehalten worden sind und von Ma­rie Steiner nach Rudolf Steiners Tod unter dem Titel «Wege zu einem neuen Baustil» erstmals herausgegeben worden waren. Innerhalb der Gesamtaus­gabe wurden nun die drei Berliner mit den fünf Dornacher Vorträgen zusam­mengefaßt.

Die äußere Situation, in der Rudolf Steiner diese Vorträge in Dornach ge­halten hat, charakterisiert Marie Steiner in ihrem Vorwort zur ersten Auflage mit dem Satz: «Wir lagerten uns abends auf den aufgeschichteten Brettern der großen Schreinerei, in der die riesigen Säulenstämme zusammengefügt wur­den, zwischen den nun zur Ruhe gekommenen, noch kurz zuvor rastlos arbei­tenden Maschinen.» Etwas ausführlicher berichtet davon Natalie Turgenieff­Pozzo, eine der Mitarbeiterinnen, in ihrer kleinen Schrift «Zwölf Jahre der Arbeit am Goetheanum, 1913 - 1925», Dornach 1926 und 1942:

«Im Sommer 1914 hielt uns Dr. Steiner nur ganz wenig Vorträge. Dafüt wurde in der Schreinerei ein kleiner Raum freigemacht von Spänen und Bret­tern, um einige StüMe zu stellen für die alten Mitglieder; die anderen setzten sich auf Hobelbänke, Kisten, Bretterhaufen, oder einfach auf den Boden. Die ungewöhnliche Vortragsumrahmung gefiel uns: weiße Bretter und farbige Kleider. Dr. Steiner kommt herein, er schaut sich um; denn er ist nie gleich-gültig für das Äußere. Er sieht die Farbenzusammenklänge, beobachtet die Gruppierungen der Menschen und schickt Grüße nach allen Seiten; er be­merkt alles, das Auditorium amüsiert ihn. - Diese Vorträge waren wie eine fröhliche Wissenschaft, hell und lebhaft. Von weitem hat man ihn damals oft für einen Jüngling gehalten. Es war dieser Sommer ganz besonders heiß, trotz­dem eilte man sehr mit der Arbeit. Ein gesehichdiches Gewitter drohte... Keine Minute durfte verlorengehen - bis zum Herbst sollte der Bau fertig sein... Doch es gelang uns nicht.»

Nur wenige Tage nach dem letzten dieser ersten fünf Dornacher Vorträge brach der Erste Weltkrieg aus. Trotz der dadurch ungeheuer erschwerten Ver­hältnisse wurde an dem Bau weitergearbeitet, bis e? in der Silvesternacht des Jahres 1922, immer noch nicht ganz vollendet, einem Brand zum Opfer fiel. Unmittelbar nach der' Brandkatastrophe beschrieb Rudolf Steiner die Ge­schichte des Baues unter dem Titel «Das Goetheanum in seinen zehn Jahren» (vgl. Fußnote auf Seite 6) in der Wochenschrift «Das Goetheanum».

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Nachdem der Wiederaufbau beschlossen war, sprach Rudolf Steiner anläß­lich der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft Weihnachten 1923/24 zum erstenmal über die neue Gestaltung. Um Ostern 1924 entstand das Außenmodell. Da die Öffentlichkeit am Wiederaufbau mit Pro und Kon­tra teilnahm, beschrieb Rudolf Steiner im Herbst 1924 in zwei Basler Zeitun­gen die für den neuen Bau notwendige Umgestaltung. (Siehe Anhang.)

Infolge seiner schweren Erkrankung und seines am 30. März 1925 erfolgten Todes war es Rudolf Steiner nicht mehr möglich gewesen, das noch fehlende Modell für die neue Innengestaltung zu schaffen. Aus diesem Grunde konnte der zweite Goetheanumbau, wie er sich seit dem Jahre 1928 auf dem Dorna­cher Hügel erhebt, nur in seiner Außengestaltung nach dem Modell Rudolf Steiners errichtet werden.

H.W.

VORWORT ZUR 1. AUFLAGE (1926)

#G286-1992-SE013 Wege zu einem neuen Baustil

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MARIE STEINER

VORWORT ZUR 1. AUFLAGE

(1926)

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Das fertig erbaute, in Schönheit erstrahlende Goetheanum hat nur wenige Jahre zu den Menschen sprechen dürfen. Die Fülle seiner Wunder erschloß sich nur einem kleinen Menschenkreis, wenn auch der Zustrom der Schaulu­stigen Tag für Tag den Hügel hinaufwogte, um neugierig, staunend, bewun­dernd, ergriffen das Herz dem Anhauch des Geistes zu öffnen, und dann, um eine Sehnsucht reicher, den Weg in die Welt der Banalität wieder zurückzu­nehmen. Eine kurze Spanne Zeit hatten Menschenseelen Wunderland er­blickt, waren über sich selbst hinausgehoben worden. Die es nicht waren, wurden von der Gegenkraft ergriffen: Haß und Zorn packte sie. Gleichgültig blieb niemand. Denjenigen aber, die gelernt hatten, die Sprache jener Formen zu verstehen, die sie selbst herausgemodelt hatten aus dem erdhaft harten und doch ätherisch so weichen Material des Holzes, denen und ihren Mitarbeitern am Werke der Erneuerung eröffneten sich immer tiefere, immer weitere Wel­ten-Zusammenhänge unter dem mächtigen Schwung jener Architrave, zwi­schen den Kapitälen und Sockeln jener Säulen, deren Motive im Wandel der Metamorphose unerwartet kühn und neu aufblühten. Sie schlangen sich orga­nisch ineinander hinüber, strebten aus ursprünglicher Einfachheit zur Kom­pliziertheit in der Gestaltung, um dann in durchinnerlichter Vereinfachung wieder abzuklingen.

Eine symphonisch sich weitende, zur Harmonie anschwellende Architek­tonik, aus Ätherwelten in Erdenmaterie hineingedichtet, Gestaltungsltrafte in den Raum sendend, die lebend-wirkend die bildefahigen Menschentriebe er­greifen und metamorphosieren mußten. Ein Traum in Holz und Ebenmaß, zu schön, um dauern zu können, zu rein, um nicht gehaßt zu werden bis zur Vernichtung; doch stark genug, um Neues Ähnliches zum Werden auf­zurufen.

Wachsendes, neu aufblühendes Leben ist die Antwort des Geistes auf den Vernichtungsschlag des Todes. Um Rudolf Steiners Aschenurne und um den aus der Asche des alten auferstehenden neuen Bau blüht reiches Leben. Die Brandfackel der Dornacher Silvesternacht wirft ihre Funken weit hinaus und wird zur Geistessaat. In Geisteskeimkraft wird sich jene Flamme wandeln.

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Wie schwach auch unser Tun sein mag, in dem vollbrachten Werke des Dahin­gegangenen liegt die Zukunft, welche die Menschheit dem zweiten Tode ent­reißt.

So wage ich es denn auch, dicse Vorträge zu veröffendichen, durch die uns Rudolf Steiner in die Werkstatt seines künstlerischen Geistes einführte, als wir mit ihm zusammen in den neu aufgeschlagenen Werkstätten des werdenden Goetheanums arbeiteten. Wir lagerten uns abends auf den aufgeschichteten Brettern der großen Schreinerei, in der die riesigen Säulenstämme zusammen­gefügt wurden, zwischen den nun zur Ruhe gekommenen, noch kurz zuvor rastlos arbeitenden Maschinen.

Wir lauschten seinen Worten, die uns in unversieglicher Fülle neue Gebiete des Geistes aufichlossen, neue Tiefen des Seins offenbarten. Wir wagten kaum, es wahrzuhahen, daß wir das alles erleben durften. Und wahrlich, zu genießerischem Erleben gab es neben Rudolf Steiner keine Gelegenheit. Es erlaubte dies nicht die Zeit und nicht die ethische Höhe seiner Persönlichkeit, die stets beispielgebend das ununterbrochene Eilen von einer Aufgabe zur anderen heischte. Die Seele mußte sich wappnen, um die Größe und Wucht des dahinrauschenden gigantisch-mächtigen Geiststromes in sich aufzuneh­men. Und wäre nicht die unendlich wohlwollende Liebenswürdigkeit und Güte des stets Gebenden, stets Schaffenden, die Seele hätte es kaum ertragen, so vieles über sich hinfluten zu lassen, ohne es verarbeiten zu dürfen. Nur wenn sie gewillt war, dies als ein notwendiges Opfer im Dienste der Mensch­heit hinzunehmen, erhob sie sich aus der schier zermalmenden Wucht der Überflutung. Dann trug seine Kraft wie auf Schwingen.

Die Arbeiten am werdenden Bau forderten die Gegenwart Rudolf Steiners, und so fand das frühere ununterbrochene Reiseleben im Dienste der Geistes­wissenschaft einen relativen Abbruch. Eine Fülle neuer Aufgaben war mit der Errichtung des Baues an Rudolf Steiner herangetreten, die er dankbar und willig auf sich nahm; aber nur nach langem, vor keiner Entmutigung zurück­weichendem Bitten und Drängen der Freunde in München, die dort die My­sterienspiele erlebt hatten und ihnen ein Haus bauen wollten, die auch dann, als die Baupläne in München nicht genehmigt wurden, mit dem gleichen Eifer ihre Ausführung in der Schweiz befürworteten. Viele Lasten nahm Rudolf Steiner damit auf sich, aber Dank erfüllte sein Herz, und dieser Dank und dieses Verantwortungsgefühl strömen warm und innig aus in all den Worten, mit denen er uns zur Arbeit und zur Erkenntnis anfeuerte.

So lauschten wir seinen Worten, die uns in neue Wesenstiefen führten. Wir

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lernten erkennen, wie in der Kunst der Mensch eins wird mit der göttlichen Schöpferkraft, wenn diese und nicht Nachahmung des Äußeren ihm Quell seines Schaffens ist; wie das Göttlich-Geistige als Kraftüberfülle in ihm wirkt und west, wenn er sich bewußt wird seines Zusammenhanges mit dem Wel­tenganzen. Durch Formung und Gestaltung desjenigen, was in den Weltge-setzen lebt, durch innerliche Einfühlung in die Geistzusammenhänge schafft er diejenige Kunst, die aus den Tiefen der Welt und der menschlichen Wesen­heit herausgeboren wird. Kein Ablauschen nur der Geheimnisse der Natur ist es, sondern ein Untertauchen in die verborgene, hinter ihr wirkende Geistig­keit. Feuerkraft durchpulste Rudolf Steiners Worte und belebte uns. Wir konnten unmittelbar erfühlen, wie die alten Kulturen aufgestiegen waren aus solchen impulsierenden Kräften der Kunst, und wie in unserer Zeit der Er­nüchterung und des Verfalls, der Verdorrung und Geistlosigkeit dieselben Möglichkeiten wieder geboten wurden auf höherer Stufe, auf der Stufe des erkennenden Bewußtseins. Feuer der Begeisterung durchrieselte uns und gab unsern Künstlern die Kraft, jahrelang mit Messer und Schläger in das Holz hineinzuarbeiten, mit spitzem, demantnem Stift zu ritzen in das Glas der ein-farbigen, nur an den verschiedenen Stellen des Baues in verschiedener Farbe erglänzenden Fenster. Bis von innen und außen der Bau dastand als ein von Menschenhand geformtes Kunstwerk, eine Reliefgestaltung der Innenfläche bietend, die Organ werden konnte für die Sprache der Götter, Fenster, die in dem farbigen Helldunkel ihrer Gebilde den Pfad zum Geiste, die Stationen des Weges in die geistige Welt zeigten. Diese durch die Bewegung der Formen lebendig gewordenen Wände, diese in den Fenstern durch die dichteren und dünneren Glasflächen hervorgezauberten Lichtgestaltungen forderten die Seelen auf, nun auch in Bewegting den Weg anzutreten zu denjenigen Orten, aus denen zu ihnen gesprochen wurde durch die in das Holz projizierten Ätherformen, durch die das Innen und Außen in geistig musikalischer Gliede­rung verbindenden Fenster. Alle früheren Bauwerke verwiesen auf das Zu­sammengewachsensein mit der Erde, ruhten in den irdischen Kräften; hier wurde die Wand lebendig, ließ wie ein lebendiger Organismus Erhöhungen und Vertiefungen gegliedert aus sich herauswachsen stellte eine fortlaufende Entwickelung dar.

»So findest du, o Mensch, den Weg zum Geiste!» Das sprach aus Formen und Fenstern des Goetheanums. In der Gotik war das Gebet: «Oh Vater der Welt, laß uns mit dir in deinem Geiste vereinigt sein.» Der den Menschen durchgeistigende, der verborgene Geist, läßt ihn die Welt erfühlen in ihren

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Formen und Bewegungen, die heute wie Rätsel vor uns stehen. Rudolf Steiner faßt den neuen baukünstierischen Gedanken zusammen in den Worten: «Wir gehen in Verehrung in den Geist ein, auf daß wir eins werden mit dem Geiste, der sich um uns ausgießt in den Formen, und der in die Bewegung kommt, weil hinter den Geistern der Form die Geister der Bewegung stehen.»

Das menschliche Wesen in seinem innern lebendigen Werden will heute in dem Bauwerk zum Ausdruck kommen, das im alten Griechenland Wohnhaus des Gottes, in der Gotik das Haus der betenden Gemeinde war.

Die Vorträge, in denen Rudolf Steiner so zu uns über den neuen Baustil sprach, über Reliefkunst und über das Wesen der Farbe, liegen nur in mangel­haften, lückenhaften Nachschriften vor. Es fehlen manchmal die Zeichnun­gen, auch Zitate, die jetzt, nach so langer Zeit, nicht mehr aufzufinden sind, wenn ein Name vom Nachschreibenden zufällig überhört war.* Dennoch ist die Fülle der geistig-künstlerischen Offenbarungen eine so große, daß ich es als meine Pflicht betrachte, sie der Menschheit zugänglich zu machen. Die Serie dieser Vorträge wurde unterbrochen durch den hereinbrechenden Welt­krieg, auf den wie prophetisch der letzte Vortrag in seinem wehmutsvollen Ausklingen hinweist. Unsere Künstler wurden einer nach dem andern auf den Kriegsschauplatz abberufen. Es blieben mit wenigen Ausnahmen nur diejeni­gen Männer zurück, die den neutralen Ländern angehörten, und die Frauen. Zunächst folgte für uns ein von Rudolf Steiner gegebener Samariterkurs. Vier Jahre lang hörten wir die Kanonen im nahen Elsaß donnern; sie bildeten die täglich neu erschütternde Begleitung zu den Hammerschlägen an dem Werke des Friedens und der Menschenverbrüderung. Rudolf Steiners steter Gedanke und lastende Sorge in dieser Zeit war die Herbeiführung des Friedens, des Verständnisses für seine Notwendigkeit. Seine warnende Stimme wurde über­hört. Trotz der tiefen Wehmut, in die ihn die Tragik des Weltgeschehens ver­setzte, waren die Worte, die er zu den Arbeitenden am Bau sprach, so lichivoll und freundlich wie jedes von ihm geformte Tor, jede Treppe, die ihr Willkom­men dem Eintretenden zuriefen und ihn aufforderten, ganz Mensch zu sein unter Menschen, im Dienste der durchhellenden und durchsonnenden Kraft des Geistes.

Um von diesen Treppen, diesen Toren und Reliefmotiven einen Eindruck zu vermitteln, sind den Vorträgen eine Reihe von Abbildungen zugefügt. Das erste Bild zeigt das fertig erbaute Goetheanum mit seinen Doppelkuppeln im

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* Konnten bereits für die 2. Auflage nachgewiesen werden. (Hrsg.)

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Blütenblust der Juralandschaft. Diese Ineinanderfügung der beiden unglei­chen Kuppeln erregte die staunende Bewunderung der Architekten und Inge­nieure. Das war eine mathematische Aufgabe, deren Lösung sie sich nicht zugetraut hätten. Ein bekannter Architekt aus Kalifornien, der eine große Reihe öffendicher Bauten dort ausgeführt hat, konnte sich nicht genug tun in bewundernder Anerkennung: «Der dieses Problem gelöst hat, ist ein mathe­matisches Genie ersten Ranges. Wer das vermocht hat, ist ein Meister der Mathematik, ein souveräner Beherrscher unseres Fachs. Hier müssen wir Ar­chitekten lernen. Der das aufgerichtet hat, erobert die Höhen, weil er die Tie­fen beherrscht.»

So erkannte auch hier, wie in anderen Gebieten, fachmännisches Können in Rudolf Steiner den Meister

Dornach, April 1926. Marie Steiner

I «UND DER BAU WIRD MENSCH» MARIE STEINER VORBEMERKUNG ZUR ERSTEN AUSGABE (1945)*

#G286-1992-SE023 Wege zu einem neuen Baustil

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I

«UND DER BAU WIRD MENSCH»

MARIE STEINER

VORBEMERKUNG ZUR ERSTEN AUSGABE

(1945)*

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«Und der Bau wird Mensch»: dies ist das letzte der Worte, die bei feierlichen Gelegenheiten uns entgegenklingen, wenn der Dornacher Chor die sogenann­ten Fensterworte spricht, d.h. die in Gedankenformen gebrachten Inhalte der Fenstermotive des Goetheanum-Baues. Was Rudolf Steiner bei vielen Gele­genheiten über das Werden der Baukunst und ihre Wandlungen gesprochen hat, das gibt uns der hiermit veröffentlichte Vortrag vom 12. Dezember 1911 am genauesten wieder. In immer neuen Bildern laßt er vor unserm inneren Auge das geistig-kosmische und dann menschlich-seelische Geschehen vor­übergleiten, das sich in diesen Formen ausdrückt, und mit der fortschreiten­den Menschheitsentwicklung zu neuen Formen sich umwandeln wird. Die Kräfte, die in den zur Erde tendierenden Strahlungen der Gestirne, aber auch in dem zur Gottheit hinstrebenden Seelenleben der Menschheit wirken, schu­fen die Formen der Bauten. Und so wird auch in der Zukunft das Übersinn­liche sich dem Sinnlichen einprägen durch neue, schon im Werden begriffene, sich von innen heraus metamorphosierende Formen, deren Gestaltung der jeweilig erreichten Kulturstufe entsprechen wird.

Das in Holz ausgeführte erste Goetheanum mit seiner handgeschnitzten Plastik, seinen sich organisch wandelnden Formen und seinen den Raum überwindenden Farbwirkungen, welches ein Raub der Flammen geworden ist, sollte ursprünglich «Johannesbau« heißen. Die Initianten dieses kühnen Unternehmens hatten diesen Namen gewählt, weil in den Mysteriendichtun­gen Rudolf Steiners, welche in München in großem, aber geschlossenem Kreise aufgeführt wurden, die im Mittelpunkt stehende, nach geistiger Er­kenntnis ringende Gestalt den Namen Johannes Thomasius trägt. Da für die Darstellung dieser Mysteriendramen der nüchterne und unzureichende Raum gemieteter Theater nicht mehr genügte, war bei den Zuschauern der lebhafte Wunsch entstanden nach einer äußeren Umrahmung, die dem spirituellen In­halt der Mysterien und der nachfolgenden Vorträge entspräche, und auch der wachsenden Zahl der Besucher Raum gewähre. Aus diesem Zusammenhang

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* Für die Einzelausgabe des Vortrages vom 12. Dezember 1911.

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ergab sich dem für dieses Ziel sich einsetzenden Verein die Wahl des Namens. Anläßlich der ersten Generalversammlung des Johannesban-Vereins in Berlin hielt Rudolf Steiner diesen Vortrag, der uns einfährt in die übersinnlichen Tiefen der Baukunst und in ihre Zukunftsmöglichkeiten.*

* In die vorliegende Ausgabe wurde auch der anläßlich der zweiten Generalver­sammlung gehaltene Vortrag vom 5. Februar 1913 aufgenommen. (Hrsg.)

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DER URSPRUNG DER ARCHITEKTUR

AUS DEM SEELISCHEN DES MENSCHEN

UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DEM GANG

DER MENSCHHEITSENTWICKELUNG

Erster Vortrag, Berlin, 12. Dezember 1911

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Meine lieben Freunde! DerJohannesbau, insofern er umschließen soll die Wirkungsstätte unserer Geisteswissenschaft, soll etwas sein, was mit den Entwickelungsbedingungen der gesamten Menschheit rech­net. Und er wird entweder dieses sein, oder wird nicht dasjenige sein, was er eigentlich sein sollte. Bei einer solchen Angelegenheit hat man eine Verantwortung gegenüber alledem, was als geistige Gesetze, als geistige Mächte, als geistige Entwickelungsbedingungen der Mensch­heit uns bekannt ist und zu unserer Seele sprechen kann. Vor allen Dingen hat man auch eine Verantwortung gegenüber dem Urteil der zukünftigen Menschheit. Ein solches Veranrwortlichkeitsgefühl ist in unserer Zeit, in dem gegenwärtigen Menschheitszyklus noch etwas ganz anderes als es ein ähnliches Verantwortungsgefühl in den ver­flossenen Zeitaltern war.

Große, mächtige Kunst- und Kulturdenkmäler sprechen zu uns in der mannigfaltigsten Weise herüber aus dem Laufe der Zeit. Wie Kunst- und Kulturdenkmäler aus dem Laufe der Zeiten uns die inne­ren Verhältnisse der Menschenseelen in jenen Zeiten künden, darüber haben Sie eine schöne, bedeutungsvolle Betrachtung gerade heute morgen von dieser Stelle aus gehört. Wenn wir in unserem Sinne über etwas sprechen sollen, was all den Menschen, die an jenen Kultur­und Kunstdenkmälern beteiligt waren, ihr Verantwortlichkeitsgefühl in einer gewissen Weise leichter machte, als es uns gemacht wird, wenn wsr in unserer Sprache darüber sprechen wollen, dann müssen wir sagen: Diese Menschen der Vorzeit hatten noch andere Hilfen als unser Zeitenzyklus sie hat; ihnen halfen die Götter, die, diesen Men­schen unbewußt, in deren Unter- oder Unbewußtsein ihre eigenen Kräfte einströmen ließen. Und in einer gewissen Weise ist es Maja,

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wenn man glaubt, daß in den Denkapparaten oder in den Seelen derje­nigen, welche die ägyptischen Pyramiden, die griechischen Tempel und andere Kunstwerke gebaut haben, allein diejenigen Gedankenfor­men, Impulse und Intentionen wirksam waren für dasjenige, was uns entgegentritt, was im Laufe der Zeit den Menschen entgegentrat in den Formen, den Farben und so weiter, denn Götter wirkten mit durch die Hände, durch die Hirne, durch die Herzen der Menschen. Unsere Zeit ist, nachdem die vierte nachatlantische Kulturperiode vorübergegan-gen ist, der erste Zeitenzyklus, in welchem die Götter die Menschen auf ihre Freiheit hin prüfen, in welchem die Götter zwar ihre Hilfe nicht versagen, aber den Menschen nur dann entgegenkommen, wenn diese Menschen in eigenem freien Aufstreben aus ihrer individuellen Seele heraus, die sie nun erhalten haben durch genügend viele Inkarnationen, dasjenige aufnehmen, was von oben herunterströmt. Etwas Neues haben wir auch zu schaffen in dem Sinne, daß wir in ganz anderem Stile noch als es in den verflossenen Zeiten der Fall war, in freier Selbsttätig­keit aus den menschlichen Seelen heraus schaffen müssen. Bewußtsein, das geboren ist mit der Bewußtseinsseele, welche das Charakteristikon unseres Zeitenzyklus ist, das ist die Signatur unserer Zeit. Und mit Bewußtsein, mit voll durchleuchtetem Bewußtsein, in welches nichts aufgenommen werden kann aus dem bloß Unterbewußten herauf, müssen wir schaffen, wenn die Zukunft von uns ähnliche Kulturdoku­mente erhalten soll, wie wir sie von der Vergangenheit erhalten haben. Daher geziemt es uns wohl, heute den Versuch zu machen, unser Be­wußtsein anzuregen mit denjenigen Gedanken, die uns Licht bringen sollen über das, was wir zu tun haben. Und wir können nur etwas tun, wenn wir wissen, aus welchen Gesetzen, aus welchen spirituellen Grundimpulsen heraus wir handeln sollen. Das aber kann sich auf keinem anderen Wege ergeben, als wenn wir im Einklang arbeiten mit der gesamten Evolution der Menschheit.

Versuchen wir jetzt einmal, wenigstens ganz skizzenhaft, einige der Hauptgedanken vor unsere Seele hinzurücken, die uns befruchten können in bezug auf das, was wir mit diesem neuartigen, nicht bloß neuen Werke schaffen sollen.

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In gewisser Beziehung sollen wir ja einen Tempel bauen, der zu­gleich, etwa wie dies die alten Mysterientempel waren, eine Lehrstätte ist. «Tempel» benennen wir immer im Laufe der Entwickelungsge­schichte der Menschheit alle die Kunstwerke, die dasjenige umschlos­sen, was den Menschen das Helligste war. Und Sie haben ja heute morgen schon gehört, in welcher Art die verschiedenen Zeiten im Tempel das Seelische zum Ausdruck brachten. Wenn man mit dem von der Seele durchwärmten Auge tiefer eingeht auf das, was man vom Tempelgebäude, vom Tempelkunstwerke kennen kann, so stellt sich denn doch eine große Verschiedenheit dar in den einzelnen Tem­pelkunstwerken. Und ich möchte sagen: Besonders groß ist der Un­terschied zu jenen Tempelkunstwerken, von denen allerdings äußer­lich nur mehr wenig vorhanden ist, und die wir in ihrer Grundform, in ihrer ältesten Form, eigentlich nur entweder ahnen oder aus der Akasha-Chronik uns rekonstruieren können; jene Tempelformen, die wir als die der zweiten nachatlantischen Kulturperiode, herüber-gehend dann in die dritte, etwa bezeichnen können als die urpersi­schen Tempel, von denen etwas übergeflossen ist in die späteren Tem­pel... [Lücke in der Nachschrift] nur insofern sie von jener Gegend der Erde in ihrer Konfiguration beeinflußt sind. Übergegangen ist etwas von ihnen in die babylonisch-assyrische, überhaupt in die vor­derasiatische Tempelkunst.

Was war das Bedeutsamste jener Baukunst? - Äußere Dokumente sprechen, wie gesagt, nicht gerade viel von dieser Baukunst. Aber selbst wenn man nicht eingehen kann auf die Dokumente der Akasha­Chronik, sondern auf sich wirken läßt, was aus einer späteren Zeit erhalten ist, und hinweist darauf, wie Tempelbauten in einer so frühen Zeit in dem Gebiete, von dem gesprochen worden ist, ausgesehen haben können, so muß man sich sagen: Bei diesen Tempeln kam unge­heuer viel - ja, wohl alles - auf die Fassade an, auf die Art und Weise, wie einem der Tempel sich präsentierte, wenn man zum Eingange hin sich ihm nahte. Und würde man durch eine solche Fassade in das Innere des Tempels geschritten sein, so würde man in dem Tempel - je nachdem, ob man zu den mehr oder weniger profanen oder mehr oder

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weniger eingeweihten Persönlichkeiten gehört häue - aber auf jeden Fall die Empfindung gehabt haben: Da sagt mir die Fassade etwas, was wie in einer geheimnisvollen Sprache gesprochen ist; und drinnen finde ich dasjenige, was sich ausdrücken wollte in der Fassade.

Und wenden wir den Blick von diesen für die nicht-akashachronik-mäßige Forschung nur zu ahnenden Tempelbauten hinüber nach ge­wissen ägyptischen Tempeln oder anderen ägyptischen sakralen Bauten, wie den Pyramiden, so finden wir allerdings einen anderen Charakter. Wir nähern uns einem ägyptischen Tempelbau - und uns treten, geheimnisvoll grandios, Symbole, Kunstgebilde entgegen, die wir erst enträtseln müssen. Sphinxe, selbst die Obelisken, wir müssen sie erst enträtseln. Vor allen Dingen steht das Rätselhafte, dem wir uns in der Sphinx und in der Pyramide nähern, 50 vor uns, daß ein deut­scher Denker, Hegel, diese Kunst geradezu die Kunst des «Rätsels» genannt hat.

In der eigentümlichen pyramidal ansteigenden Form, ohne viele äußere Fensteröffnungen, umschließt sich uns etwas, was schon durch seine ganze Umschließung sich ankündigt als ein Geheimnis-volles, das von außen, jedenfalls zunächst durch die Fassade, nicht anders verraten wird als dadurch, daß uns zunächst ein Rätsel aufge­geben wird. Und wir treten ein und finden, neben den geheimnisvol­len Mitteilungen über allerlei Mysterien, geschrieben in der alten My­sterienschrift oder ihrer Nachfolgerin, im Allerheiligsten das, was des Menschen Herz und des Menschen Seele hinführen soll zu dem in tiefster Verborgenheit auch innerhalb des Tempels wohnenden Gott. Wir finden den Tempelbau als Umschließung des heiligsten Geheim­nisses der Gottheit und wir finden auf der anderen Seite den Pyrami­denbau selbst als Umschließung des heiligsten Geheimnisses der Menschheit: der Initiation, der Einweihung, als etwas, was sich von der Außenwelt abschließt, weil es sich abschließen soll in seinem in­neren, geheimnisvollen Gehalte.

Wenden wir von diesem ägyptischen Tempel den Blick hinüber nach der griechischen Tempelkunst, so finden wir dort allerdings fest­gehalten den Grundgedanken vieler ägyptischer Tempel, indem wir

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diese griechischen Tempel aufzufassen haben als die Wohnung des Göttlich-Geistigen, aber wir finden zugleich den äußeren Tempelbau selber in der Weise fortgeschritten, daß er in einer wunderbaren Dy­namik - nicht etwa bloß der Form, sondern der in den Formen leben­den inneren Kräfte - ein in sich Selbständiges ist, wie in einer inneren Unendlichkeit, wie in einer inneren Vollendetheit. Da wohnt der griechische Gott in einem Tempelkunstwerk. In diesem Tempel-kunstwerk - angefangen von den tragenden Säulen, die in jeder Weise in ihrer Dynamik sich als Träger erweisen und gerade so sind, daß sie das, was auf ihnen liegt, tragen können, ja tragen müssen - finden wir den Gott eingeschlossen in einem in sich Vollendetem; in einem, das innerhalb des Erdenseins ein in sich Unendliches darstellt, angefan­gen von dem Gröbsten bis in das Einzelnste hinein.

Und wir finden den Gedanken «des Menschen Teuerstes ausge­drückt im Tempelbau» festgehalten, wenn wir herankommen an den christlichen Tempelbau, der zunächst über einem Grabe oder auch über dem Grabe des Erlösers erbaut ist, der sich dann angliedert dem in die Höhe strebenden Turm und so weiter. Aber hier tritt uns ein merkwürdiges neues Moment entgegen, ein Moment, das im Grunde genommen die spätere Tempelkunst, die christliche Tempelkunst, ganz und gar unterscheidet von der griechischen. Der griechische Tempel ist gerade dadurch ein so Charakteristisches, daß er eben ein in sich Abgeschlossenes ist, ein in sich dynamisch Vollendetes. Das ist keine christliche Kirche. Ich habe einmal den Ausdruck gebraucht:

Ein Tempel der Pallas Athene oder des Apollon oder ein Zeus-Tempel braucht keine Menschenseele in seiner Nähe oder in seinem Innern, denn er ist zunächst gar nicht dazu veranlagt, daß ein Mensch in seiner Nähe oder in seinem Innern sein soll; sondern er soll dastehen in seiner grandios einsamen Unendlichkeit, bloß zeigend die Wohnung des Gottes. Der Gott wohnt in ihm, und dieses Wohnen des Gottes in ihm bildet seine in sich abgeschlossene Unendlichkeit. Und je weiter, möchte man sagen, die Menschen im Umkreise entfernt sind von einem griechischen Tempel, desto echter wirkt ein griechischer Tem­pel. Lassen Sie mich das Paradoxon aussprechen, denn so ist der griechische

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Tempel gedacht, und das ist nicht der Fall bei einer christ­lichen Kirche: Die christliche Kirche fordert den Gläubigen mit sei­nen Empfindungs- und Gedankenformen; und was wir betreten als Raum, es sagt uns, wenn wir es näher studieren, in jeder dieser einzel­nen Formen, daß es aufnehmen will die Gemeinde und die Gedanken und die Empfindungen und die Gefühle der Gemeinde. Und man hätte wohl kaum einen glücklicheren Instinkt entfalten können, als für den christlichen Tempel später das Wort «Dom» zu prägen, in welchem sich ausdrückt das Zusammendringen von Menschen, die «Beisammenheit» von Menschen, um das sonderbare Wort zu ge­brauchen. «Dom» ist innig verwandt mit «tum», wie es sich etwa im Wort «Volkstum» als Nachsilbe zum Ausdruck bringt.

Und wenn wir den Blick weiter wenden, zur Gotik hin, wie könn­ten wir verkennen, daß die Gotik noch mehr dahin strebt, in ihren Formen etwas auszudrücken, was keineswegs so in sich abgeschlos­sen ist wie etwa der griechische Tempelbau. Man möchte sagen: All-überall strebt die gotische Form über sich selbst hinaus, überall strebt sie darnach, etwas auszudrücken, was sich in dem Raume, in dem man ist, wie etwas Suchendes ausnimmt, wie etwas, das die Grenzen durchdringen und ins All sich verwehen will. Hervorgegangen aus der Empfindung von dynamischen Verhältnissen sind allerdings die gotischen Bogenformen; aber wie selbstverständlich fügt sich in sie ein dasjenige, was über diese Formen selber hinausführt, sie gleichsam durchdringlich machen will, und was in einer gewissen Beziehung dadurch so wunderbar wirkt, daß wir als etwas Naturgemäßes in einem gotischen Bau empfinden können - nicht müssen - die vielfar­bigen Fenster, die das Innere mit dem alldurchwebenden Licht ge­heimnisvoll in Verbindung setzen. Wie könnte es denn im äußeren Raumesweben etwas lichtvoll Grandioseres geben, als wenn wir in einem gotischen Dome stehen und durch die vielfarbigen Fenster das Licht webend in den Staubwölkchen schauen! Wie könnte man gran­dioser empfinden das Wirken einer Raumesbegrenzung, die, über sich selbst hinausgehend, nach dem All und seinen Geheimnissen strebt, wie sie sich ausbreiten im großen Werden!

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Wir haben den Blick schweifen lassen über eine längere Zeit tem­pelkünstlerischer Entwickelung ünd uns ist aufgefallen, wie ganz

regelmäßig, gesetzmäßig, die Tempelkunst in der Menschheitsevo­lution fortschreitet. Aber wir stehen in gewisser Weise vor einer Art Sphinx. Was liegt denn da zugrunde? Warum ist das gerade so geschehen? Gibt es eine Erklärung für die merkwürdige Fassade, die wir als die letzten Reste des ersten Stadiums der Tempelbau­kunst, die ich anzudeuten versuchte, in Vorderasien uns entgegen­treten sehen mit den merkwürdigen geflügelten Tieren, mit den ge­flügelten Rädern, mit den merkwürdigen Säulen und Kapitellen, die uns etwas sagen, etwas Merkwürdiges sagen, und in einer gewissen Weise ganz dasselbe sagen, was wir in der Seele erleben, wenn wir in den Tempel hineintreten? Gibt es vielleicht etwas Rätselvolleres an äußerer Formenkunst als so etwas, wenn wir es selbst in den Trümmern in einem heutigen Museum erblicken? Was hat denn das gemacht?

Es gibt eines, was uns sofort eine Erklärung gibt, was das gemacht hat. Aber diese Erklärung finden wir nicht anders, als wenn wir hin­einschauen in die Gedanken und Kunstintentionen derjenigen, die an diesem Tempelbauen beteiligt waren. Das ist allerdings zunächst eine Sache, die nur mit Hilfe des Okkultismus zu lösen ist. Was ist letzten Endes ein vorderasiatischer Tempel? Wo tritt uns in der Welt ein Vor­bild dafür entgegen?

Das Vorbild, das uns sogleich Licht wirft auf das, was hier gesche­hen ist, das ist in Folgendem gegeben: Sie denken sich einen Men­schen am Erdboden liegend und sich mit seinem Vorderleibe und sei­nem Antlitze aufrichtend. Und Sie haben in dem Menschen, der am Erdboden liegend sich aufrichtet, um seinen Körper einfangen zu las­sen von den herabströmenden höheren geistigen Kräften, um sich mit diesen in Verbindung zu setzen, dasjenige gegeben, was die anregende Inspiration geben kann für einen vorderasiatischen Tempel. Alle die Säulen, die Kapitelle, alle die merkwürdigen Gestalten dieses Tempels sind Symbole für das, was man empfinden kann, wenn man sich ge­genüberstellt einem so sich aufrichtenden Menschen, mit alledem,

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was sich in seinen Handbewegungen, in seinen Gesten und in seinem Antlitze verrät. Würde man nun mit dem geistigen Blick dieses Ant­litz durchbrechen, würde man eindringen in das Innere des Men­schen, in den Mikrokosmos, der ein Abdruck ist des Makrokosmos, so würde man finden insofern das menschliche Antlitz ein voller Ausdruck ist für das, was im Innern des Menschen, des Mikrokosmos ist - dasselbe Verhältnis zwischen dem menschlichen Antlitz und dem Innern, wie zwischen der Fassade des vorderasiatischen Tempels und dem, was in seinem Innern war. Ein sich aufrichtender Mensch ist ein vorderasiatischer Tempel; allerdings nicht kopiert, sondern als Motiv betrachtet mit alle dem, was er in der Seele anregt. Insofern wir physi­sche Menschen sind und die menschliche Leiblichkeit durch Anthro­posophie geistig geschildert werden kann, insofern ist der vorderasia­tische Tempel der Ausdruck des menschlichen Mikrokosmos. So ist aus der Erfassung des menschlichen Mikrokosmos mit dem Streben nach aufwärts jener Teil der menschlichen Baukunst erschlossen. Dieser physische Mensch hat seinen getreuen spirituellen Abdruck in jenen merkwürdigen Tempeln, von denen nicht viel anderes mehr als Trümmer erhalten sind. In allen Einzelheiten, bis zum geflügelten Rade und den Urformen dieser Dinge würde man nachweisen kön­nen, daß dies so ist. In lauten Tönen sprechen zu uns herüber die Zeiten: Der Tempel ist der Mensch!

Und der ägyptische und der griechische Tempel?

Wir können den Menschen nicht bloß vom antliroposophischen, sondern auch vom psychosophischen Standpunkte aus schildern, vom Standpunkte der Betrachtung der Seele. Nähern wir uns dem Menschen, insofern er uns auf der Erde in hauptsächlichster Art als Seelenwesen entgegentritt, dann ist uns dasjenige, was wir, wenn wir dem Menschen gegenübertreten, betrachten in seinem Auge, in sei­nem Antlitz, in seiner Geste, wahrhaftig zunächst ein Rätsel. Und wie mancher Mensch ist in dieser Beziehung ein großes Rätsel! Wahrhaf­tig, wenn wir in dieser Beziehung dem Menschen entgegentreten, so ist das nicht anders, als wenn wir dem ägyptischen Tempel entgegen­treten, der uns das Rätsel darbietet. Und wenn wir in sein Inneres

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hineintreten, so finden wir dort des menschlichen Seelischen Aller­heiligstes. Ab er wir finden es nur zuganglich denjenigen, die über das Äußere hinübergehen und in das Innere eintreten können. Eine Men­schenseele ist verschlossen in der innersten Cella, wie des Gottes Hei­ligtum, wie die Mysterierigeheimnisse selber im ägyptischen Tempel, in der ägyptischen Pyramide.

Aber nicht so verschlossen ist die Seele in dem Menschen, daß sie nicht in der Geste, in alle dem, was am Menschen uns entgegentireten kann, sich ausdrücken könnte. Der Leib kann, wenn die Seele ihn in ihrer Eigentümlichkeit durchdringt, zum äußeren Ausdruck der Seele werden. Dann erscheint uns dieser Menschenleib als etwas im höchsten Maße kunstlerisch in sich Vollendetes als ein Durchseeltes, als ein in sich vollendetes Unendliches Und suchen Sie sich etwas in der ganzen sichtbaren Schopfung das in sich ein so Vollendetes dar stellen wurde wie der menschliche Leib es ist, insofern dieser durch seelt ist: Sie werden innerhalb der sichtbaren Schopfung nichts finden

- nicht in bezug auf Dynamik - außer den griechischen Tempel, ihn, der den Gott in sich so einschließt, aber auch als Wohnung ihm zum Ausdruck dient in einem in sich vollendeten Unendlichen, wie der menschliche Leib der menschlichen Seele. Und insofern der Mensch als Mikrokosmos Seele in einem Leibe ist, ist der agyptische, ist der griechische Tempel - der Mensch.

Der sich aufrichtende Mensch das ist der onentalische Tempel Der Mensch der auf dem Erdboden steht, eine Welt in sich rätselvoll verschlossen halt aber diese Welt einstromen lassen kann in voller Ruhe in sein Wesen und ruhig den Blick horizontal nach vorn richtet, abgeschlossen nach oben und nach unten das ist der griechische Tempel. Und wiederum sprechen die Annalen der Weltgeschichte. Der Tempel - das ist der Mensch!

Und wir nähern uns unserer Zeit, jener Zeit, welche ihren Ur­sprung hat - wie wir unverbrüchlich zum Teil schon bewiesen haben und immer mehr werden beweisen können - in alledem, was hervor-gegangen ist aus dem althebräischen Altertum und dem Christentum, dem Mysterium von Golgatha, was aber zunächst sich selber hereindrängen

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mußte in jene Formen, die man übernommen hat von Ägyp­ten, von Griechenland, was aber immer mehr und mehr darnach strebte, diese Formen zu durchbrechen, so zu durchbrechen, daß sie als Raumesgrenzen - wie durchbrochen in sich selber - hinausweisen über den begrenzten Raum in das Weben des unendlichen Alls.

Alle Dinge, die in der Zukunft geschehen, sind in der Vergangen­heit schon veranlagt. In einer gewissen Weise rätselvoll veranlagt ist der Tempelbau der Zukunft in der Vergangenheit. Und indem ich über ein immerhin großes Rätsel der Menschheitsentwickelung zu sprechen habe, kann ich kaum anders, als dieses Rätsel selber in einer etwas rätselvollen Form zum Ausdruck zu bringen.

Wir hören von dem salomonischen Tempel bei mancherlei Gele­genheiten als von jenem Tempel, von dem wir wissen, daß in ihm zum Ausdruck kommen sollte der ganze Geist der Menschheitsentwicke­lung. Wir hören davon; an die Menschen der physischen Erde stellt man aber - und das ist das Rätselhafte an der Sache - die ganz vergebli­che Frage: Wer hat jenen salomonischen Tempel, von dem wir als einer grandiosen Wahrheit sprechen - wenn wir überhaupt im Ernst davon sprechen -, wer hat ihn mit physischen Augen gesehen? Ja, es ist ein Rätsel, was ich da sage! Herodot hat wenige Jahrhunderte, nachdem der salomonische Tempel aufgebaut gewesen sein mußte, Ägypten bereist, hat Vorderasien bereist. Aus seinen Reiseschilde­rungen, die sich wahrhaftig über viel Geringeres hermachen als über das, was der salomonische Tempel gewesen sein muß, wissen wir, daß er nur wenige Meilen vorbeigegangen sein mußte am salomonischen Tempel - aber er hat ihn nicht gesehen. Den salomonischen Tempel hatten die Leute noch nicht gesehen!

Das Rätselvolle ist nun, daß ich über etwas sprechen muß, was doch da war und was die Leute nicht gesehen haben. Aber es ist so. Nun, es gibt auch in der Natur etwas, was dasein kann und was die Leute doch nicht sehen. Der Vergleich ist aber nicht vollständig, und wer ihn ausnützen wollte, würde ganz danebenschießen. Es sind die Pflanzen, die in ihrem Samen enthalten sind; aber die Menschen sehen die Pflanzen in ihrem Samen nicht. Es sollte aber nun niemand weitergehen

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in diesem Vergleich, denn wer jetzt darnach den salomonischen Tempel interpretieren würde, der würde gleich etwas Falsches sagen. Soweit ich es selbst gesagt habe, ist der Vergleich durchaus richtig, der Vergleich des Pflanzensamens mit dem salomonischen Tempel.

Was will der salomonische Tempel? Er will dasselbe, was der Tem­pel der Zukunft wollen soll und allein wollen kann.

Man kann den physischen Menschen darstellen in der Anthroposo­phie. Man kann den Menschen, insofern er der Tempel der Seele selber ist und von der Seele durchseelt ist, darstellen in der Psychoso­phie. Und man kann den Menschen darstellen durch Pneumatoso­phie, insofern der Mensch Geist ist. Der geistige Mensch, dürfen wir ihn denn nicht so vor uns hinstellen, daß wir sagen: Zuerst erblicken wir den Menschen, der, am Boden liegend, sich aufrichtet; dann den Menschen, der in sich selbst geschlossen wie ein in sich gegründetes Unendliches vor uns steht mit dem gerade vor sich hingerichteten Blick; und dann erblicken wir den Menschen, der nach oben schaut, seelisch in sich gegründet, aber die Seele zum Geiste erhebend und den Geist empfangend. «Der Geist ist spirituell», das ist eine Tautolo­gie, aber sie kann uns doch klarmachen, was wir zu sagen haben: Der Geist ist das Übersinnliche, die Kunst kann nur im Sinnlichen formen und im Sinnlichen überhaupt zum Ausdruck kommen. Mit anderen Worten: Was die Seele als Geist empfängt, muß in die Form sich er­gießen können. So wie der sich aufrichtende Mensch, der in sich gefe­stigte Mensch zum Tempel geworden ist, so muß die Seele zum Tem­pel werden können, die den Geist empfängt. Dazu ist unser Zeitalter da, daß es den Anfang macht mit einer Tempelkunst, die laut zu den Menschen der Zukunft sprechen kann:

Der Tempel, das ist der Mensch, der Mensch, der in seiner Seele den Geist empfängt!

Aber es unterscheidet sich diese Tempelkunst von allen früheren. Und hier schließt sich das, was nunmehr im Inhaltlichen zu sagen ist, an den Ausgangspunkt unserer Betrachtung an.

Den äußeren Menschen, der sich aufrichtet, sieht man, den braucht man nur zu deuten. Den in sich selbst zu deutenden Menschen, den

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die Seele durchseelt hat, muß man fühlen und empfinden, das Deuten reicht da nicht hin. Er wurde empfunden - wie es Ihnen heute morgen so lebhaft zum Ausdruck gebracht worden ist -, er wurde empfun­den, wie wirklich ein griechisches Kunstwerk in uns sich empfinden muß, indem gesagt worden ist, man fühlt die Knochen knacken. - Es lebt in uns der griechische Tempel, weil wir es sind, insofern als wir durchseelter Mikrokosmos sind. Aber unsichtbar, übersinnlich ist die Tatsache der Geistempfängnis durch die Seele, und doch: sie muß sinnlich werden, soll sie Kunst werden!

Kein anderes Zeitalter vermag eine solche Kunst zu entwickeln als das unsrige und das kommende. Aber das unsrige muß den Anfang machen. Alles sind nur Versuche, alles sind nur Anfänge, in der Art etwa, wie der in sich selbst vollendete Tempel gestrebt hat in der bis­herigen christlichen Kirche das Mauerwerk zu durchbrechen und die Verbindung zu finden mit dem unendlichen Weben des All.

Was müssen wir nun bauen?

Die Vollendung von dem eben Angedeuteten müssen wir bauen! Aus dem, was uns die Geisteswissenschaft geben kann, müssen wir die Möglichkeit finden, jenen Innenraum zu schaffen, der in seinen Farben- und Formenwirikungen und in anderem, was er an künstle­rischen Darbietungen in sich enthält, zugleich abgeschlossen und zu­gleich in jeder Einzelheit so ist, daß die Abgeschlossenheit keine Ab­geschlossenheit ist, daß sie uns überall, wo wir hinblicken, auffordert, die Wände mit dem Auge, mit dem ganzen Gefühl und Empfinden zu durchdringen, so daß wir abgeschlossen sind und zugleich in der Ab­geschlossenheit der Zelle in Verbindung sind mit der Allheit des we­benden Weltgöttlichen.

«Wände haben und keine Wände haben», das ist es, was beantwor­ten wird die Tempelkunst der Zukunft: Innenraum, der sich selbst verleugnet, der keinen Egoismus mehr des Raumes entwickelt, der selbstlos in allem, was er an Farben, an Formen darbieten wird, nur da sem will, um das Weltall in sich hereinzulassen. Wie das die Farben können, inwiefern Farben sein können die Verbindung mit den Gei­stern der Umgebung, sofern sie in der geistigen Atmosphäre enthalten

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sind, versuchte ich schon darzustellen bei der Eröffnung unseres Stuttgarter Baues.

In der äußeren physischen Vollendung des Menschen, was ist da der übersinnliche Mensch? Wo tritt uns noch eine Andeutung entge­gen von dem überphysischen Menschen in dem äußeren physischen Menschen? Nirgends anders als da, wo der Mensch dem Worte das einverleibt, was in seinem Innern lebt, wo er spricht, wo das Wort Weisheit und Gebet wird und - ohne die gewöhnliche oder irgendeine sentimentale Nebenbedeutung dieser Worte - in der Weisheit und im Gebete dem Menschen[leibe] sich anvertrauend, Weltenrätsel um­hüllt! Das Wort, das in dem Menschen Fleisch geworden ist, das ist der Geist, das ist die Spiritualität, die sich ausdrückt auch im physi­schen Menschen. Und wir werden entweder den Bau schaffen, den wir schaffen sollen oder wir werden dies nicht tun, sondern es zu­künftigen Zeiten überlassen müssen. Wir werden es tun, wenn wir in der Lage sind, unseren Innenraum zum ersten Male in entsprechender Weise zu gestalten, so vollkommen als es heute geht, ganz abgesehen davon, wie der Bau nach außen sich darstellen wird. Da könnte er von allen Seiten mit Stroh umhüllt sein - das ist ganz gleichgültig. Der äußere Anblick ist für die äußere profane Welt da, die das Innere nichts angeht. Der Innenraum wird das sein, um was es sich handelt. Was wird er sein?

Er wird sich so darbieten, daß jeder Blick, den wir werfen, auf etwas fällt, das uns ankündigt: dies drückt in den Farben und Formen, in seiner ganzen Farben- und Formensprache, in all dem, was es ist, in all seinem real Lebendigen dasselbe aus wie das, was an diesem Orte getan und gesprochen werden kann, was der Mensch seinem eigenen Leiblichen anvertrauen kann als das Spirituellste an ihm. Und eins wird sein an diesem Bau, was in ihm als Weisheit, als Gebet Men­schenrätsel kündet, und dasjenige, was den Raum umschließt. Und naturgemäß wird es sein, daß das Wort, das hinausdringt in den Raum, sich selbst so begrenzt, daß es gleichsam auffällt an den Wän­den, und an den Wänden dasjenige trifft, was ihm so verwandt ist, daß es wieder zurückgibt an den Innenraum, was gegeben wird durch

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den Menschen selber. Von dem Zentrum des Wortes nach der Peri­pherie des Wortes wird ausgehen die Dynamik, und ein peripheri­sches Echö der Geisteskundschaft und Geistesbotschaft selber soll das sein, was als Innenraum sich darbietet, nicht als Fenster sich durchbrechend, sondern an seinen Grenzen, an dem, was er selber ist, zugleich begrenzt und zugleich sich frei öffnend nach den Weiten der spirituellen Unendlichkeit.

Das konnte bisher noch nicht da sein, denn erst die Geisteswissen­schaft ist imstande, solches zu schaffen. Aber die Geisteswissenschaft muß einmal solches schaffen. Schafft sie es nicht in unserem Zeitalter, so werden spätere Zeitalter es von ihr verlangen. Und ebenso, wie es wahr ist, daß in die Menschheitsentwickelung eintreten mußte der vorderasiatische Tempel, der ägyptische Tempel, der griechische Tempel, die christliche Kirche, ebenso wahr ist es, daß der geisteswis­senschaftliche Mysterienraum mit seinem Abschluß vor der materiel­len Welt, mit seinem Aufschluß gegenüber der spirituellen Welt, als das Kunstwerk der Zukunft aus dem Menschengeist entspringen muß. Nichts von dem, was schon da ist, kann an die Idealgestalt mah­nen, die da vor uns hintreten soll. Alles muß in einer gewissen Bezie­hung neu sein. Es wird selbstverständlich in unvollkommener Gestalt erstehen, aber das genügt zunächst, damit wird der Anfang gemacht sein. Gerade damit wird der Anfang gemacht sein für immer höhere und höhere Vollkommenheitsstufen auf demselben Gebiete.

Was brauchen die Menschen der Gegenwart, um sich einigermaßen reif zu machen für ein solches Tempelkunstwerk?

Es kann keine Kunst entstehen, wenn sie nicht aus dem Gesamtgei­ste eines Menschheitszyklus heraus entsteht. Oft noch klingen mir in den Ohren die Worte, die im zweiten meiner Studienjahre an der Wiener Technischen Hochschule der Architekt Ferstel, der Erbauer der Wiener Votivklrche, gesprochen hatte bei seiner Rektoratsrede, Worte, die mir dazumal wie ein Mißklang auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber doch wieder wie ein Ton, der unsere Zeit so recht charakterisiert, in der Seele tönten. Ferstel sagte damals die merkwür­digen Worte: Baustile werden nicht erfunden. - Hinzufügen muß

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man zu diesen Worten: Baustile werden geboren aus der Eigentüm­lichkeit der Völker heraus. - Nun, unsere Zeit zeigt bisher keinerlei Anlagen, Baustile zu finden in demselben Sinne, wie die alten Zeiten sie gefunden haben, und solche wieder vor die Welt hinzustellen. Baustile werden zwar gefunden, aber sie werden nur gefunden von dem Gesamtgeist irgendeines Menschheitszyklus.

Wie können wir uns heute irgend etwas von diesem Gesamtgeiste vor die Seele führen, der den zukünftigen Baustil, den wir heute mei­nen, finden soll?

Ich werde jetzt von einer ganz anderen Seite und von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus etwas zur Charakteristik dieser Sache zu sagen versuchen.

Es sind mir im Laufe der geisteswissenschaftlichen Wirksamkeit diese oder jene Künstler auf den verschiedensten Gebieten immer wieder und wieder gegenübergetreten, die eine gewisse Furcht, eine gewisse Scheu hatten vor der Geist-Erkenntnis, und zwar aus dem Grunde, weil die Geistesforschung ein gewisses Verständnis der Kunstwerke und auch der Impulse, welche den Kunstwerken zu­grunde liegen, zu eröffnen versucht. Wie oft kommt es vor, daß dasje­nige, was uns als Sage und Legende, aber auch als Kunstwerk entge­gentritt, durch die Geisteswissenschaft zu interpretieren versucht wird, das heißt zurückzuführen versucht wird auf die zugrundelie­genden Kräfte. Wie oft kommt es aber auch vor, daß sich gerade vor einer solchen Interpretation in begreIflicher Weise der Künstler zu­rückzieht, weil er - insbesondere wenn er auf einem Gebiet produk­tiv ist - sich sagt: Es geht mir alles Ursprüngliche verloren; was ich in die Form gießen will, alles - Inhalt wie Form - geht mir verloren, wenn ich in irgendein Begriffs- oder Ideengebilde bringe, was mir doch als lebendig erfühltes Kunstwerk oder wenigstens als lebendig erfühlte Intuition vor die Seele tritt.

Es gibt wenig Dinge, die mir Menschen sagen konnten im Laufe der Zeit, die ich besser verstehen konnte, als diese Furcht und diese Ängstlichkeit. Denn voll nachempfinden kann man, wenn man dafür Veranlagung hat, das Grauenerregende, das der Künstler empfinden

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müßte, wenn er einmal da oder dort sein eigenes Werk, oder ein Werk, das er liebt, analysiert fände: vom Verstande übernommen das Kunstwerk! Welch furchtbarer Gedanke für alles, was Künstler in unserer Seele ist! Fast drängt sich uns etwas wie Leichengeruch auf, wenn wir einen Goetheschen «Faust» vor uns liegen haben, und un­ten die Anmerkungen eines analysierenden Gelehrten [lesen], selbst wenn er zu den interpretierenden Philosophen gehört, nicht zu den interpretierenden Philologen bloß! Ja, was sollen wir dazu sagen? Ich möchte es Ihnen ganz kurz in ein paar Minuten an einem Beispiel klarmachen.

Ich habe hier vor mir die jüngste Ausgabe der «Legende von den sieben weisen Meistern», die jetzt (1911) bei Diederichs erschienen ist. Diese alte Legende - die in mannigfaltigen Wiedergaben, und auch so vorhanden ist, daß Stücke daraus, fast über ganz Europa zerstreut, immer wieder vorkommen - ist eine höchst merkwürdige Erzählung, die recht schön auch als Kunstwerk gebaut ist. Ich rede jetzt von der dichterischen Kunst; aber was man dieser gegenüber unternimmt, könnte man auch der Baukunst gegenüber unternehmen. Ich kann Ihnen jetzt nicht erzählen, was in zum Teil höchst derben Wendun­gen in der Legende von den sieben weisen Meistern enthalten ist, aber ich möchte das Gerippe in der folgenden Weise darstellen.

Ungeheuer lebendig ist in aufeinanderfolgenden Erzählungen, an ein Gerippe gehängt, das gegeben, was nun zum Ausdruck kommt. Überschrieben ist das Ganze: «Hier fanget an das Buch, das da sagt von dem Kaiser Pontianus und von seiner Frauen, der Kaiserin, und von seinem Sohne, dem jungen Herrn Dyocletianus, wie er den hen­ken wollte und ihn sieben Meister erlösten, alle Tage, jeglicher mit seinem Spruche.» Ein Kaiser ist vermählt mit einer Frau, von der er einen Sohn hat, der hier als Dyocletian geschildert wird. Die Frau stirbt, und der Kaiser heiratet eine andere Frau. Sein Sohn Dyocletian ist sein rechtmäßiger Nachfolger; von der zweiten Frau hat er keinen rechtmäßigen Nachfolger. Es rückt nun die Zeit heran, wo Dyocle­tian erzogen werden soll. Es wird ausgeschrieben, daß Dyocletian in der allerbedeutsamsten, befriedigendsten Weise erzogen werden soll

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durch die weisesten Leute des Landes, und es melden sich dann sieben weise Meister, die nun die Erziehung des Sohnes des Kaisers überneh­men sollen. Die zweite Frau des Kaisers will durchaus auch einen Sohn haben, um in irgendeiner Weise die Nachfolgerschaft des Stief-sohnes zu verhindern. Das gelingt ihr jedoch nicht. Da versucht sie nun, diesen Sohn des Kaisers in jeder Weise bei ihrem Gemahl anzu­schwärzen, und sie beschließt endlich, ihn auf irgendeine Weise zu beseitigen. Dazu ergreift sie alle möglichen Mittel. Nun stellte sich heraus, daß Dyocletian unterrichtet worden ist durch sieben Jahre hindurch von den sieben weisen Meistern, daß er Großartiges und vieles in der mannigfaltigsten, das heißt in der siebenfaltigen Weise gelernt hat. Aber er war in einer gewissen Weise sogar hinausgewach­sen über alles, was an praktischer Weisheit die sieben weisen Meister bezwungen hatten. Und so war es ihm gelungen, einen Stern am Ster­nenhimmel zu deuten. Dadurch konnte er sich sagen, er müsse wäh­rend sieben aufeinanderfolgenden Tagen, wenn er wieder zu seinem Vater zurückkäme, stumm bleiben, in keiner Weise etwas reden und wie ein Dummer sich darstellen. Nun wußte er aber ebenso, daß die Kaiserin auf seinen Tod sann. Daher bittet er jetzt die sieben weisen Meister, ihn vom Tode zu erretten. Und nun geschieht in sieben auf­einanderfolgenden Zeiten, in denen sich alles abspielt, das Folgende:

Der Sohn kommt nach Hause. Aber die Kaiserin hat dem Kaiser eine Geschichte erzählt, die einen großen Eindruck auf dessen Seele ge­macht hat, und die eben den Zweck hatte, den Kaiser zu bewegen, daß er den Sohn henken ließe. Der Kaiser ist auch ganz damit einverstan­den, denn die Geschichte hat ihn überzeugt. Der Sohn wird auch schon hinausgeführt zum Galgen, da treffen sie auf dem Wege den ersten der sieben weisen Meister. Nach dem ihm gemachten. Vorwurf, daß er den Sohn so dumm gelassen habe, äußert sich dieser erste der Meister und sagt, er wolle dem Kaiser eine Geschichte erzählen. Der Kaiser will sie hören. Ja, sagt der Weise, dann mußt du aber erst den Sohn nach Hause kommen lassen; denn ich will, daß der Sohn uns hört, bevor er gehenkt wird. - Der Kaiser willigt ein. Sie kommen nach Hause, und da erzählt der erste der sieben weisen Meister seine

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Geschichte. Auf den Kaiser macht diese Geschichte einen solchen Eindruck, daß er den Sohn nicht henken läßt, sondern ihn freiläßt. Am nächsten Tage aber erzählt die Kaiserin nun wieder dem Kaiser eine Geschichte, die wieder dazu führt, daß der Sohn zum Tode ver­urteilt wird. Schon wird er wieder hinausgeführt zum Galgen, da treffen sie auf dem Wege den zweiten der sieben weisen Meister, der ebenfalls dem Kaiser eine Geschichte erzählen will, bevor der Sohn gehenkt wird. Das geschieht, und die Folge davon ist, daß der Sohn wieder am Leben bleibt. Das wiederholt sich in dieser Weise sieben­mal hintereinander, bis der achte Tag da ist, und der Sohn sprechen kann. Auf diese Weise geschieht die Rettung des Sohnes, die da er­zählt ist.

Die ganze Erzählung, wie auch der ganze Abschluß, sind in einer hervorragenden Weise lebendig dargestellt. Ich möchte nun sagen:

Man nimmt auf der einen Seite das Buch in die Hand und versenkt sich darin und man hat seine große Freude an den großen, zum Teil derben Bildern; wunderbar geht man auf in der Schilderung von See­len. Aber eine solche Geschichte fordert es geradezu heraus, erklärt zu werden. Geradezu? - Nein, nur in unserer Zeit, weil wir im fünf­ten nachatlantischen Kukurzeitraum leben, wo der Intellekt die do­minierende und immer mehr und mehr dominierende Kraft ist. In dem Zeitalter, in welchem diese Geschichte geschrieben worden ist, hätte sie niemanden zu Erklärungen veranlaßt. Wir in unserer Zeit aber sind verurteilt dazu, eine Erklärung dafür zu geben, und dann entschließt man sich, eine solche zu geben. Wie nahe liegt sie? Der Kaiser hat eine Frau gehabt; von der ist ihm ein Sohn geblieben, der dazu bestimmt ist, von sieben weisen Meistern erzogen zu werden, und der seinem Bewußtsein nach herstammend ist aus der Zeit, als die Menschheit noch die hellseherische Seele hatte. Gestorben ist die hellseherische Seele, aber das menschliche Ich ist noch immer geblieben, und kann unterrichtet werden von den * sieben weisen Meistern», die uns in der mannigfaltigsten Gestalt entgegentreten.

Ich habe selbst einmal darauf aufmerksam gemacht, daß wir es bei den sieben Töchtern des midianitischen Priesters Jethro. welche Moses

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am Brunnen seines Schwiegervaters trifft, aber auch bei den sieben freien Künsten im Mittelalter im wesentlichen mit demselben zu tun haben.

Die zweite Frau, die nun kein göttliches Bewußtsein mehr ent­wickeln kann, das ist die jetzige Menschenseele, die deshalb auch kei­nen Sohn haben kann. Dyocletian, der Sohn, wird in der Verborgen­heit unterrichtet bei den sieben weisen Meistern, und er muß zuletzt befreit werden durch die Kräfte, die er sich bei den sieben weisen Meistern erworben hat.

Wir könnten so noch weitergehen und ein absolut richtiges Bild geben, und würden unserer Zeit selbstverständlich damit dienen. Aber nehmen wir jetzt unseren künstlerischen Sinn. Ich weiß nicht, inwiefern das, was ich jetzt zu sagen habe, ein Echo finden wird! Aber liest man das Buch, läßt man es auf sich wirken und ist dann sehr klug und erklärt es ganz richtig auch im Sinne unserer Zeit, wie es unsere Zeit verlangt, so kommt man sich doch so vor, als wenn man eigent­lich ein Unrecht, ein schweres Unrecht an dem Buch getan hat, weil man eigentlich ein strohernes Gerippe von allerlei abstrakten Begrif­fen hingestellt hat an die Stelle des lebendigen Kunstwerkes. Und es ändert nichts daran, ob dies richtig oder falsch ist, geistreich oder nicht geistreich. - Wir können noch weiter gehen.

Das größte Kunstwerk ist die Welt, entweder der Makrokosmos oder der Mikrokosmos. In Bildern oder Symbolen, in allerlei derglei­chen drückten die alten Zeiten aus, was sie auszudrücken hatten von den Geheimnissen der Dinge, und wir kommen mit der «uralten» Weisheit - die aber nur so alt ist, wie sie sich als Same vorbereitet hat für das fünfte nachatlantische Kulturzeitalter, wir kommen mit dem Intellekt, wir kommen mit der ganzen Geisteswissenschaft als einer Welterklärung. Das ist etwas ebenso Abstraktes und Trockenes ge­genüber der lebendigen Wirklichkeit, wie der Kommentar gegenüber dem Kunstwerk! Trotzdem es Geisteswissenschaft geben muß, trotz­dem unsere Zeit Geisteswissenschaft verlangt, müssen wir sie in ge­wisser Beziehung doch empfinden wie ein strohernes Gerippe gegen­über der lebendigen Wirklichkeit. Das ist in einer gewissen Weise

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nicht zu viel gesagt. Denn insofern Theosophie oder Geisteswissen­schaft nur unseren Verstand beschäftigt, insofern wir nur mit dem Intellekt dabei sind, insofern wir Schemen und allerlei Termini tech­nici prägen, besonders in den Teilen, die sich auf den Menschen selbst beziehen, insofern ist Theosophie ein ganz strohernes Gerippe. Und sie fängt erst an, etwas erträglicher zu werden da, wo wir ausmalen können zum Beispiel die verschiedenen Zustände von Saturn, Sonne und Mond und den früheren Erdenzeiten, oder die Tätigkeiten der verschiedenen Hierarchien. Greulich aber ist es, davon zu sprechen:

der Mensch bestehe aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich - oder gar aus Manas und Karna-Manas - und noch greulicher ist es, wenn man in Schemen und auf Tafeln diese Dinge zum Ausdruck gebracht hat. Ich kann mir kaum etwas Grauenvolleres denken als den ganzen, in sich grandiosen Menschen, und daneben auf einer Tafel den Menschen mit den sieben Menschengliedern; in einem großen Saal umgeben sein von einer großen Menschenzalil und neben sich zu haben eine Tafel mit der Skala der sieben menschlichen Grundteile. Ja, so ist es ! Aber so etwas müssen wir erfühlen. Wir brauchen diese Dinge nicht gerade vor unsere Augen hinzuhängen, denn sie sind nicht einmal schön, aber wir müssen sie vor unsere Seele hinhängen! Das ist die Mission unserer Zeit. Und man mag noch so viel gegen diese Dinge vom Standpunkte des Geschmackes, der künstlerischen Produktivität aus sagen - das gehört in unsere Zeit herein, das ist die Aufgabe unserer Zeit.

Aber wie kommen wir über dieses Dilemma überhaupt hinweg? Wir sollen in gewisser Beziehung auch öde Theosophen, Anthropo­sophen sein, sollen die Welt zerpflücken und zerblättern, grandiose Kunstwerke in Abstraktionen hineinziehen und sogar noch sagen:

Wir sind Theosophen! Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Nur durch ein einziges Mittel! Und dieses Mittel liegt darin, daß Geisteswissenschaft für uns ein Kreuz ist, daß Geisteswissenschaft für uns ein Opfer ist, daß wir sie wirklich so empfinden, daß sie uns fast alles nimmt, was die Menschheit bisher an lebendigem Weltinhalt

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gehabt bat. Und es gibt keinen Grad von Intensität, den ich schil-dern möchte um begreiflich zu tnachen, daß für alles, was lebendig sproßt - auch im Hergange der Menschheitsentwickelung und der göttlichen Welt - Geisteswissenschaft zunächst sein muß etwas wie ein Leichenfeld!

Aber wenn wir dann Geisteswissenschaft als Künderin des Größten, was es in der Welt gibt so empfinden, daß sie uns der größte Schmerz, die größte Entbeli'rung wird, so daß wir in uns einen der göttlichen Züge ihrer Mission in der Welt empfinden, dann wird sie zu dem Leichnam der sich aus dem Grabe erhebt, dann feiert sie die Auferstehung dann steht sie aus dem Grabe auf! Keiner wird eine Freude empfinden uber die Entblätterung und Verodung des Welten gehaltes, doch keiner kann die Produktivitat der weltengeheimnisse empfinde wie der welcher sich mit seiner Produktivität als eine Nachfolge des Christus empfindet der das Kreuz zur Schadelstatte getragen hat der durch den Tod gegangen ist Das ist aber auch auf dem Erkenntnisgebiete das Kreuz der Erkenntnis, das die Geisteswis senschaft auf sich nimmt um darinnen zu sterben und aus dem Grabe zu erfahren wie eine neue Welt aufsteigt, ein neues Lebendiges. Wer so - was dem Intellekt niemals gefallen darf - sein Seelenwe­sen wie ein lebendiges Inneres, wer wie durch einen Tod durchgeht in der Geisteswissenschaft selber, der wird auch das Leben fühlen als eine lebendige Kraft zu neuen künstlerischen Impulsen, wekhe das jenige in die Wirklichkeit umzusetzen vermögen, was ich Ihnen heute skizzieren konnte.

So eng hängt mit allem spirituellen Empfinden das zusammen, was wir tun sollen und wovon wir glauben, daß der Johannesbau-Verein ein Verständnis dafür eröffnen wird Ich glaube kaum nötig zu haben, weitere Worte zu sägen, um begreiflich zu machen, daß dieser Jo­hännesbäu für den Anthroposophen eine Herzensangelegenheit sein kann von jener Art die als Notwendigkeiten im Zeitenlaufe empfun­den werden Denn für die Beantwortung der Frage, ob in einem ge­wissen weiteren Sinne Anthroposophie heute verstanden wird, hängt zunächst außerordentlich viel von einer Antwort ab, die wir nicht mit

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Worten geben können, die wir nicht mit Gedanken ausdrücken kön­nen, sondern davon, daß wir zur Tat übergehen und daß ein jeglicher, wie es ihm möglich ist, in der einen oder andern Weise beitrage zu dem, was, in so schöner Weise verständnisvoll sich hineinstellend in die Evolution der Menschheit, unser Johannesbau-Verein will.

DER URSPRUNG DER ARCHITEKTUR AUS DEM SEELISCHEN DES MENSCHEN UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DEM GANG DER MENSCHHEITSENTWICKELUNG Zweiter Vortrag, Berlin, 5. Februar 1913

#G286-1992-SE049 Wege zu einem neuen Baustil

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DER URSPRUNG DER ARCHITEKTUR

AUS DEM SEELISCHEN DES MENSCHEN

UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DEM GANG

DER MENSCHHEITSENTWICKELUNG

Zweiter Vortrag, Berlin, 5. Februar 1913

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Meine lieben Freunde! Als der Johannesbau-Verein an unsere letzte Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft hier in Berlin eine Sitzung anschloß, hatte ich an Sie einige Worte zu richten über die Art, wie sich der Johannesbau in die ganze Entwickelung der Kunst, namentlich der architektonischen Kunst, hineinstellen soll; daß er sich nämlich - in dem Sinne, wie wir auch sonst dasjenige betrachten, was wir auf dem Gebiete der Theo-sophie oder Anthroposophie leisten wollen - als etwas Notwendiges hineinstellen soll in den ganzen geistigen Entwickelungsgang der Menschheit; so daß das, was durch Theosophie oder Anthroposophie zu geschehen hat, nicht erscheint als eine Art Willkür, nicht erscheint als etwas, das wir aus uns heraus als eine Art willkürliches Ideal gebä­ren, sondern so erscheint, wie wir dies als Notwendigkeit gleichsam ablesen aus jener Schrift, die uns den notwendigen Gang des mensch­lichen Geistes durch die Erdenentwickelung hindurch offenbart.

Nun, man kann viele Gesichtspunkte wählen, um diese eben cha­rakterisierte Notwendigkeit darzustellen. Damals habe ich von einem gewissen Gesichtspunkte aus gezeigt, wie dieses in die Menschheits­geschichte notwendige Hineinstellen desjenigen, was mit dem Jo­hannesbau gewollt wird, zu verstehen ist. Ein anderer Gesichtspunkt soll heute gewählt werden, so daß meine heutigen Betrachtungen in gewisser Beziehung eine Ergänzung bilden zu dem, was hier im De­zember 1911 vor Sie hingestellt worden ist.

Baukunst ist eigentlich an eine ganz bestimmte Voraussetzung ge­bunden, wenn wir Baukunst in dem Sinne auffassen, daß der Mensch gleichsam die Umhüllung schaffen will mit irgendwelchem Material, durch irgendwelche Formen oder sonstige Maßnahmen, sei es für

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profanes Wohnen und Sichbetätigen, sei es für religiöse Verrichtun­gen oder dergleichen. In diesem Sinne ist Baukunst, ist Architektur durchaus an das gebunden, was wir Seelisches nennen können, hängt zusammen mit dem Begriff des Seelischen, entspringt aus dem Seeli­schen und kann begriffen werden, indem begriffen wird der ganze Umfang des Seelischen.

Nun trat uns ja im Laufe der Jahre, in denen wir geisteswissen­schaftlich gearbeitet haben, das Seelische immer von drei Gesichts­punkten aus vor Augen: vom Gesichtspunkte der Empfindungsseele, vom Gesichtspunkte der Verstandes- oder Gemüts seele und von dem der Bewußtseinsseele. Dann aber tritt uns dieses Seelische auch auf, indem es sich gleichsam erst ankündigt, aber noch nicht so recht als Seelisches vorhanden ist, wenn wir von dem Empfindungs- oder astralischen Leib sprechen. Und wiederum tritt uns das Seelische auf, wenn wir sagen, das Seelische habe sich so weit entwickelt, daß es einen Übergang sucht zu dem Geistselbst oder Manas. Wenn Sie meine «Theosophie» anschauen, so werden Sie darin das dreifache Seelische finden als Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemüts-seele und Bewußtseinsseele, aber Sie werden angrenzend finden die Empfindungsseele an den Empfindungsleib, so daß Empfindungs­seele und Empfindungsleib wie zwei Seiten eines und desselben er­scheinen, die eine Seite mehr seelisch, die andere mehr geistig; und dann werden Sie finden, wieder sich zusammenschließend, Bewußt­seinsseele und Geistselbst; die Bewußtseinsseele die mehr seelische Seite darstellen, das Geistselbst dagegen die mehr geistige Seite.

Wer sich als Anthroposoph allmählich in ein solches Erfassen die­ser Begriffe hineinfindet, so wie es in diesen Tagen sehr schön unser verehrter Freund Arenson ausgeführt hat, der wird nicht bei den Worten Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Be­wußtseinsseele stehenbleiben können und nur das Bestreben haben, zu diesen Worten diese oder jene Definitionen zu suchen, sondern er wird als wahrer Anthroposoph die Sehnsucht haben, allmählich in seinem Gemüt vieles, vieles an Begriffen, an Empfindungen, an An­schauungen auszubilden, welche die eine Empfindung zu der anderen

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hinleitet und so weiter, um zu einem umfassenderen Verständnis zu kommen, das bei diesen Begriffen sich nach den verschiedensten Richtungen hin gliedert.

Für den Seher selbst schließen die angeführten Worte ja, man möchte sagen, ganze Welten ein. Darum wird man auch zu einem entsprechenden Verstandnis solcher Begriffe das hinzunehmen mus sen, was über die menschliche Entwickelung zum Beispiel in der nachatlantischen Zeit - dargestellt worden ist. daß der Empfindungs leib ganz besonders seine Entwickelung erfahren hat in der urpersl schen Kultur, die Empfindungsseele in der agyptisch chaldaischen Kultur, die Verstandes oder Gemutsseele in der griechisch romi schen Zeit die Bewußtseinsseele in der Zeit in der wir selbst leben, und daß wir den nachsten Zeitraum sozusagen als in seiner Entste hung schon jetzt herankommen sehen ja daß wir selber mit dem, was wir als Anthroposophie Theosophie wollen, an dem Herankommen dieses nächsten Zeitraumes arbeiten, der uns in einer gewissen Weise den Zusammenhang von Bewußtseinsseele und Geistselbst oder Ma nas zeigen soll

Baukunst Architektur wurde gesagt ist enge geknupft an den Begriff des Seelischen Da konnte nun jemand sagen Mußte dann die Baukunst nicht auch an die Entwickelung des Seelischen, so wie sie jetzt eben charakterisiert worden ist gebunden sein ? Und mußten dann nicht die Formen, die Gestaltungen der Architektur in ihrer Aufeinanderfolge gewisse Eigentumlichkelten zeigen, die mit dieser eben charakterisierten Entwickelung von Empfindungsleib Empfin dungsseele und so weiter zusammenhangen? Und wurde man dann nicht auch fur gewisse Zeiten zum Beispiel den ersten nachatlanti schen Zeitraum der den Atherleib besonders zur Ausbildung brachte

- gar keine Berechtigung haben so recht von Baukunst zu sprechen? Denn wenn Baukunst an Seelisches gebunden ist, so sollte sie auch erst dann wenn es sich zu entwickeln beginnt, anfangen aufzudam mern. Also sollte man vermuten, daß sie heraufzukommen beginne beim Empfindungsleib weil der gleichsam die andere Seite des Seeh schen ist und vorher mußte man auf Zeiten verwiesen werden in

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denen eine eigentliche Baukunst - in dem Sinne, wie wir die Baukunst charakteristisch auffassen - im Grunde genommen gar nicht vorhan­den wäre.

Nun ist es schon an sich schwierig, diese Frage vom Standpunkte der äußeren Geschichte zu beantworten; denn alles, was hinter den ägyptisch-chaldäischen Zeitraum zurückweist, ist aus historischen Denkmälern und Überlieferungen kaum mehr zu gewinnen, sondern eigentlich nur der hellseherischen Forschung zu entnehmen. Schon der Zeitraum des Zarathustra, den wir als den urpersischen bezeich­nen, liegt so weit zurück, daß historische Forschungen nicht in Betracht kommen, geschweige denn jener Zeitraum, den wir an die Entwickelung des Ätherleibes gebunden wissen, nämlich der ur­sprünglich indische Zeitraum.

Allerdings kann man auch mit dieser Sache sonderbare Erfahrun­gen machen, wenn man damit an die ganz gescheiten Leute der Ge­genwart herankommt. Da hat zum Beispiel jüngst einer von diesen gescheiten Leuten gesagt, daß diese nachatlantischen Zeiträume, wie sie sich zum Beispiel in meiner « Geheimwissenschaft» verzeichnet finden, nicht haltbar wären, denn wer die Sprachdenkmäler Indiens kenne, der würde niemäls glauben, daß die indische Kultur so weit der ägyptisch-chaldäischen vorangegangen wäre, wie es im Sinne dieser «Geheimwissenschaft» dargestellt wird. - Nun, man kann sich nur wundern, daß solche sehr gescheiten Leute der Gegenwart es noch nicht dazu gebracht haben, selbst wenn sie auch manchmal Sanskrit lesen können, ein Buch, das in ihrer Muttersprache geschrieben ist, verständig zu lesen. Denn es ist in der «Geheimwissenschaft» doch ausdrücklich ausgesprochen, daß diejenige Kultur Indiens, auch die Veden-Kultur, mit welcher es die äußere Wissenschaft zu tun hat, nicht diejenige ist, von der in der « Geheimwissenschaft» als von der urindischen Kultur, der ersten Kultur der nachatlantischen Zeit, gesprochen ist, sondern daß man es bei der Vedenkultur mit einer Zeit zu tun hat, die zu der dritten nachatlantischen Kulturpe­riode zu rechnen ist, die also zeitlich parallel verläuft mit der ägyp­tischchaldäischen Kultur. Die ursprüngliche indische Kultur dagegen

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war eine solche, von der keine äußeren Dokumente und auch keine äußeren Denkmäler und dergleichen vorhanden sind und von der in den Veden nur letzte Anklänge enthalten sind. Ich will mich dabei nicht weiter aufhalten, sondern sage dies nur, weil der eine oder andere von Ihnen diesen Einwand zu hö­ren bekommen könnte und vielleicht nicht gleich die Begriffe und Ideen bei der Hand hat, die einen solchen Einwand hinwegräumen können.

Also die vorhin angedeutete Frage bleibt bestehen, wonach wir beim ersten nachatlantischen Zeitraum in Zeiten zurückkommen müßten, in denen eine eigentliche Baukunst, wie für die späteren Zei­ten, noch nicht möglich sein konnte. Aber dann kommen wir wie an einen merkwürdigen Grenzpunkt, auf den auch die äußere Forschung weist; wir kommen gewissermaßen auf ein Vorstadium der Bau­kunst: auf das Hineinbauen der Räume für religiöse, für gottesdienst­liche Verrichtungen in Höhlen, hineingehauen in das Gestein, wie man es etwa in Indien oder auch in Nubien findet. Das ist in der Tat das Zeitalter, das auf der Grenze der Entwickelung des Seelischen aus dem Leiblichen steht. Diese Höhlenbauten bestätigen, was nach der Geistesforschung in bezug auf die Entwickelung des Seelischen er­wartet werden muß: Erst in der Zeit der Menschheitsentwickelung, in der wir die Seelenentwickelung aus der Leibesentwickelung heraus­kommen sehen, sehen wir aiach erst die wirkliche höhere Baukunst sich herausentwickeln aus dem, was vorher Felsenhöhlen, unterirdi­sche Felsenhöhlen waren, welche man hineingehauen hatte in das Erdreich selber.

Das Erdreich erscheint in dieser Beziehung wie das Leibliche, in das sich das menschlich Seelische erst hineinarbeitet, wie es ja auch in der Entwickelung des Menschen selber vor sich geht, wo sich das Seelische in das Leibliche, die Empfindungsseele in den Empfin­dungsleib hineinarbeitet. Und in dem Übergange von Höhlenräumen zu menschliche Verrichtungen umschließenden Architekturwerken sehen wir zugleich die Wichtigkeit des Überganges von der Kultur des Empfindungsleibes zu derjenigen der Empfindungsseele.

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Es werden Zeiten kommen, in denen man das, was Theosophie oder Anthroposophie gibt, ausarbeiten wird für alle Zweige des mensch­lichen Wissens, für alle Zweige der menschlichen Entwickelung. Und man wird finden, daß alles, was andere menschliche Weltanschau­ungen einseitig darstellen, zusammengezimmert ist aus irgendwel­chen ungenügenden Begriffen und Ideen, während Geisteswissen­schaft oder Anthroposophie das Umfassende zeigt, mit dem man überall wird hineinleuchten können. Man kann ganz beruhigt sein, auch wenn das die Leute heute noch nicht glauben. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß die Zeit die Beweise dafür liefern wird. Man muß sich nur Zeit lassen. Die Bestätigungen werden nach und nach heranrücken auf allen Gebieten des Lebens und der Entwicke­lung, auch auf dem Gebiete der Baukunst.

Und wenn wir jetzt die nachatlantische Entwickelung durchgehen, so sehen wir im Verlaufe der Zeiten die einzelnen Entwickelungsepo­chen gewissermaßen gebunden an das Seelische, an die Entwickelung der Empfindungsseele, dann an die der Verstandes- oder Gemütsseele und dann an die der Bewußtseinsseele, bis in unsere Zeit herein. Und in unserer Zeit selber sehen wir aufgehen, sich vorbereitend erst, die Zeit, die aus der Bewußseinsseele das Geistselbst oder Manas heraus-arbeitet, so daß wir gleichsam vor einem Umgekehrten stehen wie in derjenigen nachatlantischen Epoche, da man von dem Leiblichen auf ein Seelisches überging. So wie sich damals aus dem Empfindungs-leibe herausarbeitete die Empfindungsseele, so steht uns jetzt eine Zeit bevor, in der wir aus dem Seelischen wieder in ein Geistiges hin-einzuarbeiten haben. Für die Baukunst ergibt sich daraus, daß wir das Umgekehrte wieder zu erwarten haben. Das heißt, so wie man in je­nen früheren Zeiten in die Felsen Höhlen hineingehauen hat als die Vorstadien menschlicher Architekturwerke, so hätten wir jetzt, da­durch daß wir in der jetzt aufgehenden Zeit in den Geist hineinzu­arbeiten haben, das Komplement, das Gegenstück dazu zu schaffen.

Versuchen wir nun folgendes vor unsere Seele hinzustellen, und zwar zunächst ohne genauere Zeitangaben; denn jeder kann sich das, was zum Parallelismus notwendig ist, selber bilden.

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Nehmen wir einmal die Entwickelung durch Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele; zunächst also die Entwickelung durch die Empfindungsseele.

Indem der Mensch mit der Empfindungsseele begabt ist, setzt er sich in ein Wechselverhältnis zu der ihn umgebenden Welt. Durch die Empfindungsseele geht gleichsam das, was in der Welt als Wirklich­keit vorhanden ist, in die menschliche Seele, in das menschliche In­nere selber herein. Das Äußere wird zu einem Inneren auf dem Um­wege über das Erleben in der Empfindungsseele. Darum müßte es nun in der Entwickelung der architektonischen Kunst etwas geben, das sich gleichsam ganz naturgemäß aus dem Höhlenbau herausbe­gibt, und in sich selber so etwas zeigt, wie es für die Empfindungsseele charakteristisch ist. Das heißt, es müßte gleichsam so gebaut werden, das man ein Äußeres wie ein Inneres reprasentieren will. Hier brau­chen wir uns nun nur an den Pyramidenbau und ähnliche Bauten zu erinnern und können auch sogar neuerer wissenschaftlicher For­schungen gedenken, die gezeigt haben, wie in dem Pyramidenbau, in seinen Abmessungen, sich astronomisch-kosmische Verhältnisse wiederfinden, die man hineingebaut hat, und dann hat man vor sich, um was es sich handelt. Immer mehr und mehr wird man an der Pyra­mide entdecken die sonderbare Gliederung nach kosmischen Verhält­nissen. Astronomische Abmessungen finden sich wieder in dem Verhältnis der Basis zur Höhe zum Beispiel. Und wer die Pyramide studiert, kommt nach und nach zu der Empfindung: Mit der Pyramide haben die Pyramidenpriester dasjenige ausgedrückt, was in einem Bauwerke auszudrücken möglich war als Wahrnehmung kosmischer Verhältnisse. Wie wenn die Erde das, was aus dem Kosmos herein wahrgenommen wird, in sich selber hätte erleben wollen, so wurde die Pyramide hingestellt. Ganz so, wie die Empfindungsseele das äußere Wirkliche in sich belebt, und als Inneres darstellt, was draußen ist, in ihrer Art wiederholt, was draußen ist, so wiederholt die Pyra­mide in ihren Maßverhältnissen, in ihren Formen äußere kosmische Verhältnisse, zum Beispiel auch dadurch, daß das Sonnenlicht in einer bestimmten Art hereinfällt. Wie die äußere Wirklichkeit durch die

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Empfindungsseele im Innern des Menschen eine Art Repräsentanz findet, so nimmt sich die Pyramide aus wie ein großes Empfindungs-organ der gesamten Erdenkultur gegenüber dem Kosmos.

Gehen wir weiter. Wie müßte sich die Baukunst in einer Kultur-etappe verhalten, in der das Charakteristische die Verstandes- oder Gemütsseele ist ?

Die Verstandes- oder Gemütsseele ist im Menschen das innerlich Seelische, das am meisten in sich selber zu arbeiten hat, das auf der ja schon innerlichen Grundlage der Empfindungsseele dieses seelisch Innerliche weiter ausbaut, aber noch nicht so weit geht, es wieder zusammenzufassen zum eigentlichen Ich; also das Seelische gleich­sam ausbreitet und ausweitet, ohne es in dem Mittelpunkt des Ich gipfeln zu lassen. Derjenige Mensch, welcher gerade dieses Seelen-glied ausgebildet hat, tritt uns entgegen namentlich durch den Reich­tum seines Seelenlebens, durch die vielen inneren erkämpften und errungenen Seeleninhalte und Seelenerlebnisse; er hat weniger das Bedürfnis, Systeme aus den innerlichen Erlebnissen aufzubauen, son­dern gibt sich mehr der Breite dieser inneren Erlebnisse hin. Die Ver­standes- oder Gemütsseele ist eben innerlich sich selber tragendes, innerlich sich abschließendes, sich innerlich totalisierendes Leben der Seele.

Was würde das für eine Baukunst sein müssen, die einem solchen Seelischen entsprechen würde ? Es müßte diejenige Baukunst sein, welche weniger wie der I'yramidenbau etwas wie eine Art von Abbild oder Repräsentation der kosmischen Verhältnisse zeigt, dafür aber mehr ein in sich abgeschlossenes, totales Wesen selber sein müßte; et­was, was sich selber trägt, und was sozusagen - ganz der Verstandes-oder Gemütsseele entsprechend - in dem Tragen der einzelnen Teile die Breite der Entwickelung zeigt, und weniger darauf bedacht ist, das, was in der Breite der Entwickelung da ist, zusammenzuschließen. Niemand, der die Eigenart der Verstandes- oder Gemütsseele kennt, wie sie eben charakterisiert worden ist, kann daran zweifeln, daß die griechische und auch noch die römische Baukunst wie ein äußeres Bild des Verstandes- oder Gemütsseelenlebens zu verstehen ist.

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Betrachten wir die griechische Baukunst, zum Beispiel den griechi­schen Tempelbau, wie wir ihn schon öfter betrachtet haben, indem wir ihn auffaßten als das Haus des Gottes selber, so daß der Gott darinnen wohnt, und das ganze Haus sich darstellt als Wohnung des Gottes, das Ganze innerlich gerundet als eine innerliche Totalität. Wir haben aus der Anschauung des griechischen Tempels heraus so­gar sagen können: Dieser griechische Tempel macht keinen Anspruch darauf, daß ein Mensch oder eine Menschengemeinde darinnen ist. Er ist der Wohnsitz des Gottes und kann ganz allein, abgeschlossen, als eine Totalität für sich, dastehen, so wie die Verstandes- oder Gemüts­seele eine innerliche Totalität, ein in sich abgeschlossenes innerliches Leben ist, das aber noch nicht zur Egoität hin geht, das aber doch, wenn auch unbewußt, das Darleben des Gottes im Menschen ist. Und wenn wir dann sehen, wie im griechischen Tempelbau das eine das andere trägt, wie alles darauf beruht, daß die Säulen in die Höhe stre­ben und die Balken tragen, wie die gegenseitigen Kräfteverhältnisse zu einer Totalität zusammengeschlossen sind, ohne daß sich das Ganze in irgendeiner Weise systematisch nach einer Einheit, nach einer Spitze hin gliedert, so finden wir darin - und in der römischen Baukunst ist eigentlich dasselbe der Fall - jene Breite, jene Weite, die wir in der Verstandes- oder Gemütsseele selber finden.

Gerade das ist überall das Auffällige der griechisch-römischen Bau­kunst, daß sie auf der Statik, auf dieser reinen Statik der einzelnen Kräfte beruht, die tragend oder lastend sich entfalten. Eines aber kann man beim griechischen Tempel vergessen: man kann vergessen, daß er eine «Schwere» hat. Denn wer naturgemäß empfindet, der wird oder kann wenigstens das Gefühl haben, daß die Säulen etwas sind, was wie aus der Erde herauswächst. Und bei dem, was wirklich aus der Erde herauswächst, bei der Pflanze, hat man nicht das Gefühl der lastenden Schwere. Daher strebt auch die Säule im griechischen Tem­pel nach und nach dahin, gleichsam dem Pflanzenstengel ähnlich zu werden, wenn es auch erst in der korinthischen Säule sichtbar wird. Und darum liegt für die Empfindung das Lastende nicht bei der Säule, sondern für die Empfindung ist die Säule ein Tragendes. Aber wenn

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man dann hinaufkommt zum Balken, zum Architrav, dann hat man unmittelbar das Gefühl: das lastet auf der Säule, das heißt, das Bau­werk ist innerlich von Statik durchdrungen. Und wer sein Seelenleben in sich herangebildet hat, der hat auch das Gefühl, daß die Empfin­dungen, Gefühle und Begriffe, zu denen er gekommen ist, die er sich innerlich herangearbeitet hat, sich innerlich ebenso tragen wie die Säule den Balken trägt. Weil in der Zeit, da die griechisch-römische Baukunst entsprungen ist, in der Menschheit die Verstandes- oder Gemütsseele besonders ausgebildet war, deshalb strebte die Seele, wenn sie sich ausdrücken wollte in der Sprache der Architektur, ganz von selbst dahin, das innerlich Erlebte sich stützend in der Statik her­vorzutreiben. Nicht in der Absicht, sondern in dem Sichausleben der Menschenseelennatur lag es, in der Architektur sich ein Abbild des Seelischen zu schaffen.

Und dann ging allmählich die Entwickelung über zur Bewußt­seinsseele. Der Bewußtseinsseele ist es wesentlich, das, was die Seele erlebt, zusammenzufassen in dem Totalgefülil: « Du bist! Und du bist dieser eine Mensch, diese eine Persönlichkeit, diese eine Individuali­tät.» - Indem man in der Verstandes- oder Gemütsseele lebt, lebt der Gott in einem; aber man läßt den Gott gleichsam hineinleben in alle Vibrationen des Seelischen, man ist seiner gewiß, so daß man es nicht zusammenzufassen braucht wie in einem Punkte und sich nicht zum Bewußtsein zu bringen braucht: «Du bist identisch mit deinem Gött­lichen.» - Das aber muß man in der Bewußtseinsseele. In dieser ist es nicht so, daß der Mensch innerlich in sich ruht wie in der Verstandes-oder Gemütsseele, sondern in der Bewußtseinsseele strebt der Mensch aus sich heraus, um sein Ich willkürlich zur Realität, zur Existenz zu entfalten.

Wenn man für das Formen der Worte ein Empfinden hat, so sieht man förmlich, wie die Worte, die jetzt gerade als das Charakteristikon der Bewußtseinsseele ausgesprochen worden sind, sich wie ganz von selbst formen zu dem gotischen Pfeiler und dem gotischen Bogen, wo wir durch die Umschlüsse ein Bauwerk vor uns haben, das nicht mehr das ruhige Insichbeharren ausdrückt, sondern das Streben, durch

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seine Formen aus der bloß innerlichen Statik herauszukommen. Wie groß ist doch der Unterschied zwischen dem Balken, der in voller statischer Ruhe getragen wird von seiner Säule, und den gegenseitig sich stützenden Bogen, die in der Spitze zusammenkommen und sich halten, wo alles drängt zu einer Spitze, genau so, wie die menschliche Seelenkraft in der Bewußtseinsseele sich zusammendrängt.

Und wer sich hineinversetzen kann in den fortgehenden Gang der Menschheitsentwickelung, der fühlt - besonders beim Verfolgen der italienischen oder französischen Baukunst -, wie bei dem Übergange von der Entwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele in die Ent­wickelung der Bewußtseinsseele hinein es nun nicht mehr auf ein ru­higes statisches Sichstützen und Sichtragen aus der inneren Totalität heraus ankommt, und man nun nicht mehr, wie in der griechischen Baukunst, innerliche Geschlossenheit in der Form anstrebt, sondern wie man ins Dynamische überzugehen sucht, gleichsam herauszu­kommen sucht aus seiner Haut, um, wie in der Bewußtseinsseele, in Zusammenhang zu treten mit der Realität der Außenwelt. Die goti­schen Bogen öffnen sich in langen Fenstern dem Lichte des Himmels. Das ist nicht so in der griechischen Baukunst. Beim griechischen Tempelbau wäre es für die Auffassung ganz dasselbe, ob Licht herein-fällt oder nicht. Das Licht ist dabei nur zufällig. Für den gotischen Dom ist das nicht gleichgültig; der gotische Dom ist nicht denkbar ohne das Licht, das sich in den bunten Fenstern bricht.

Da spürt man, wie die Bewußtseinsseele sich hineinsteilt in die To­talität der Welt, wieder hinausstrebt in die allgemeine Existenz. Die Gotik ist also dasjenige baukünstlerische Streben, das charakteristisch ist für das Zeitalter der Entwickelung der Bewußtseinsseele.

Und jetzt kommen wir in unser Zeitalter herein, in dem eine Welt­anschauung, die nicht aus der Willkür, sondern aus den Notwendig­keiten der menschlichen Entwickelung heraus arbeiten will, sich klar werden muß, daß sich der Mensch wieder herausarbeiten muß aus dem Seelischen ins Geistige hinein, daß der Mensch im Geistselbst geistig in sich selber ruht. Wie nur der Vorbote dieses Prozesses er­scheint dabei der gotische Bau mit seiner besonderen Architektur der

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durch die Fenster durchbrochenen Wand, mit seinem Sichöffnen für das, was hereinkommen kann, für das, was jetzt kommen muß! Wie der rechte Vorbote dessen, was jetzt kommen soll - wo die Wand notwendig zu einer Gliederung hinführt und in dieser Beziehung auch nur FülIsel, Dekoration ist, nicht das Umschließende, wie die Wände des griechischen Tempels -, wie ein Vorbote erscheint dieser gotische Bau zu dem, was nun der neue Bau für die Umschließung der kommenden Weltanschauung werden muß, der neue Bau, dessen we­sentliche Eigentümlichkeiten von mir schon da oder dort angedeutet worden sind und von dem einige Wesentlichkeiten sogar schon ver­sucht worden sind, zum Beispiel beim Stuttgarter Bau.

Das Wesentliche wird sein, daß nun das Komplement auftritt zu dem Vorstadium der Architektur, zum Höhlenbau, wo der Felsen selbst materiell das abschloß, was hineingehauen worden ist; daß un­ser neuer Bau sich wie nach allen Seiten öffnet, daß seine Wände nach allen Seiten offen sind, allerdings nicht nach dem Materiellen, sondern offen sind hin nach dem Geistigen. Und dies werden wir dadurch erreichen, daß wir die Formen so gestalten, daß wir vergessen kön­nen, daß außer unserem Bau noch irgendeine Stadt oder dergleichen da ist. Im Stuttgarter Bau ist schon ein solcher Versuch gemacht wor­den; dessen Wände sind trotz des materiellen Abschlusses offen, dem Geiste nach offen. Auch im neuen Bau werden wir die Formen, das Dekorative, das Malerische so gestalten, daß die Wand durchbrochen ist, so daß wir durch Farbe und Form hindurchempfinden: trotzdem wir abgeschlossen sind, erweitert sich der geistig-seelische Ausblick in die Weltenweiten. Wie man in der Pyramide hereingenommen hatte die Maßverhältnisse des Kosmos, so nehmen wir das, was wir durch Anthroposophie, Theosophie erleben können, und schaffen ihm Formen, schaffen ihm Farben, schaffen ihm Umrisse, schaf­fen ihm Gestalt, Figurales, schaffen das alles aber so, daß gerade durch das, was wir an den Wänden schaffen und an die Wände hin­zaubern, diese Wände selber verschwinden, und das Abgeschlos­sene von uns so erlebt wird, daß wir überall die Illusion empfin­den können: es erweitert sich hinaus in den Kosmos, in die Weltenräume,

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so wie die Bewußtseinsseele, wenn sie einmündet in das Geistselbst, sich hinauslebt aus dem bloßen Menschlichen in das Geistige.

So wird in der neuen Baukunst auch die Bedeutung der Einzelsäule zu etwas ganz anderem aufrücken. Hat man es - wie beim griechi­schen Tempel - mit statischen Verhältnissen zu tun, mit Verhältnis­sen, bei denen es hauptsächlich auf die Innerlichkeit ankommt, so ist es selbstverständlich, daß sich die Säulenformen, die Kapitälformen wiederholen. Denn wie könnte man sich eine Säule an der einen Stelle anders denken als eine andere in der Nachbarschaft, wenn sie ganz genau dasselbe zu tun haben ? Sie muß ebenso gestaltet sein wie die andere. Es kann gar nicht anders sein, weil ja jede Säule dieselbe Aufgabe hat.

Haben wir es jetzt bei der neuen Baukunst mit dem Hinausgehen in den Kosmos zu tun, der nach allen Seiten in der verschiedensten Weise differenziert ist, sollen wir vergessen, daß wir in einem Innen-raume sind, so bekommen die Säulen eine ganz neue Aufgabe, eine Aufgabe, die etwa die ist eines Buchstabens, der über sich selbst hin-ausweist, indem er mit den andern Buchstaben ein Wort bildet. So schließen sich die Säulen, nicht in einer Verschiedenheit, sondern wie die einzelnen Buchstaben zu einer gewichtigen Schrift zusammen, die hinausweist nach außen zum Kosmos, von innen nach außen. Und so werden wir bauen: von innen nach außen! Und so, wie das eine Kapi­täl auf das andere vorhergehende folgt, so werden sie sich zusam­menschließen und werden etwas aussprechen als eine Totalität. Das wird etwas sein, was über den Raum hinausführt. Und was wir sonst anbringen werden, zum Beispiel innerhalb der Kuppel, das wird so angebracht werden, daß wir nicht das Gefühl haben werden: wir sind durch eine Kuppel abgeschlossen-, sondern daß die ganze Malerei die Kuppel scheinbar durchstößt, sie hinwegschafft ins Unendliche. Dazu wird man allerdings lernen müssen, ein wenig so zu malen, wie Johannes Thomasius malt für das Empfinden Straders, so daß dieser das Gefühl bekommt: «Die Leinwand, ich mochte sie durchstoßen, zu finden, was ich suchen soll.»

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Man wird schon einmal einsehen, daß in den Mysterienspielen kein Wort umsonst geschrieben ist, sondern immer aus dem Ganzen her­aus und daß sich alle Dinge, die wir wollen aus den Vorbedingungen unserer Kultur heraus, notwendig zusammenschließen. Heute wollte ich nur ein Gefühl dafür hervorrufen, daß die neue Baukunst in der ganzen Behandlung der Wände, der architektonischen Motive, der Säulen, und in der Verwendung alles Dekorativen auf ein Vernichten des Materiellen gehen muß, gleichsam die Wand überwinden und die Perspektive nach außen öffnen muß, so daß auch das Malerische die Wand überwinden muß; ich wollte ein Gefühl dafür hervorrufen, daß das alles eintreten und versucht werden muß durch die neue Bau­kunst und daß das eine Notwendigkeit ist gegenüber dem Gang der Menschheitsentwickelung, wie wir ihn als einen notwendigen erkennen.

Allerdings nimmt es sich, angesichts der Notwendigkeit eines sol­chen Baues aus dem Entwickelungsgang der Menscheit heraus, wie eine Jämmerlichkeit aus, daß es so schwierig ist, den Bau wirklich durchzubringen, und jämmerlich sind auch alle die Einwände, die da gemacht werden von den Behörden in München, auch von den Künstlern, die aufgerufen worden sind, darüber zu urteilen und die gesagt haben, der Bau erdrücke die Nachbarschaft. Vielleicht haben sie ein kleines Magendrücken bekommen darüber, daß der Bau die Nachbarschaft erdrücken könnte, daß er so aus ihr herauswächst, in eine sehr weite Umgebung hinein. Innerlich drückend werden sie ihn zunächst empfinden.

Solche Einwände, die von Künstlern gemacht wurden, die da glau­ben, auf der Höhe der Kunst ihrer Zeit zu stehen, sie erscheinen als ein grotesk Komisches, wenn man aus der Entwickelung der Menschheit heraus die Dinge bedenkt. Da hat zu unserm lieben Freunde, der uns als Architekt hier hilft, einer, der ein freier Künstler sein will, gesagt, daß der Baumeister sich nicht niederzwingen lassen müsse vom Bau­herrn, sondern als freier Künstler schaffen, so wie er will. Ein schöner Grundsatz ist das, denn nehmen wir an, der Bauherr bestellt ein Wa­renhaus, so würde er doch nicht sehr zufrieden sein, wenn der «freie

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Künstler» ihm eine Kirche hinbaute. Nun, solcher Schiagworte gibt es viele. Aber man ist durch Aufgabe und Material beschränkt. Da hat das Wort «freier Künstler» einfach keinen Sinn. Denn ich möchte wissen, was der «freie Künstler» machen wird, wenn er die Absicht hat, aus der freien Künstierschaft heraus ein plastisches Kunstwerk auszuführen, den Ton formt und eine Venus schaffen will, und statt der Venus daraus ein Schaf wird ? Ist er dann ein freier Künstler ? Hat das Wort «freie» Kunst den geringsten Sinn, wenn Raffael den Auf­trag bekommt, die Sixtinische Madonna zu malen und es wäre eine Kuh daraus geworden ? Da wäre Raffael ein «freier» Künstler gewe­sen - aber er hätte keine Sixtinische Madonna geschaffen! So wie man zu gewissen Dingen nur eine Zunge braucht, so braucht es auch hier nur eine Zunge. Denn solches Argumentieren hat nichts zu tun mit den notwendigen realen Bedingungen der Menschheitsentwickelung, sondern es kommt darauf an, ob man eine Wahrheit im Sinne hat, die sich auf Tun, auf Wirken, die sich auf Arbeiten bezieht. Denn Wahr­heiten, die fruchtbar sein sollen, die «wahr» sein sollen, müssen so begründet sein in den Notwendigkeiten der Menschheitsentwicke­lung. Allerdings werden sie immer so sein, daß auf sie anwendbar sein wird, was Schopenhauer gesagt hat in bezug auf die Wahrheit, die hereintritt in die Menschheitsentwickelung. Denn Schopenhauer hat gesagt: «In allen Jahrhunderten hat die arme Wahrheit darüber errö­ten müssen, daß sie paradox war, und es ist doch nicht ihre Schuld. Sie kann nicht die Gestalt des thronenden allgemeinen Irrtumes anneh­men. Da sieht sie seufzend auf zu ihrem Schutzgott, der Zeit, welcher ihr Sieg und Ruhm zuwinkt, aber dessen Flügelschläge so groß und langsam sind, daß das Individuum darüber hinstirbt.»

Hoffen wir, liebe Freunde, und wollen wir das Unsere dazu tun, weil es gut sein könnte für unsere Sache, daß unser Schutzgeist sich erbarmt und seine Blicke auf uns wendet, damit wir, erkennend die Notwendigkeit unseres Baues, auch in Bälde imstande sind, diese der Menschheitsentwickelung entsprechende Umhüllung für Anthropo­sophie oder Geisteswissenschaft wirklich herstellen zu können!

GESICHTSPUNKTE ZUR BAULICHEN GESTALTUNG DER ANTHROPOSOPHISCHEN KOLONIE IN DORNACH Dritter Vortrag, Berlin, 23. Januar 1914

#G286-1992-SE064 Wege zu einem neuen Baustil

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GESICHTSPUNKTE ZUR BAULICHEN GESTALTUNG

DER ANTHROPOSOPHISCHEN KOLONIE

IN DORNACH

Dritter Vortrag, Berlin, 23. Januar 1914

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Meine lieben Freunde! Es hat sich ja im Zusammenhange mit der Er-richtung unseres Johannesbaues in Dornach ergeben, daß eine Anzahl unserer Freunde, unserer Mitglieder, den Wunsch gefühlt haben, sich um diesen Johannesbau herum, beziehungsweise in der Nähe dessel­ben, irgendeine Heimstätte zu schaffen, und es haben schon eine An­zahl von Mitgliedern dort sich für das Erwerben von Besitzungen angemeldet und in Aussicht genommen, für das ganze Jahr oder für einige Zeit im Jahr bleibende Heimstätten zu schaffen. Selbstver­ständlich, meine lieben Freunde, sind die Worte, die ich gerade in diesem Moment, im Anschluß an das eben Gesagte, vorbringen möchte, nicht so gemeint, als ob ich mich auch nur im Geringsten hineinmischen möchte in das, was von diesen Kolonisten um unsern Johannesbau in Dornach herum unternommen wird. Es ist ja selbst­verständlich, daß nach der ganzen Art, wie wir unsere anthroposo­phische Bewegung auffassen, die Freiheit jedes einzelnen Mitgliedes im ausgiebigsten Maße gewahrt werden muß. Um also nach der einen oder anderen Richtung einen Zwang auch nur anzudeuten, habe ich nicht zu sprechen; aber um Wünschenswertes zum Ausdruck zu bringen, darf ich vielleicht doch zu Ihnen sprechen.

Nicht wahr, wir werden also jetzt in Dornach den Johannesbau als solchen haben, für den wir uns bemüht haben, eine ja doch wirklich in ganz neuem Sinne gehaltene Architektur zu finden, um einmal in den Bauformen das auszudrücken, was wir wollen, und um einmal etwas zu schaffen, was in dem schon öfter angedeuteten Sinne eine nicht nur würdige, sondern auch richtige Umhüllung für unsere Sache darstel­len kann.

Herr Dr. Grosheintz hat Ihnen in verschiedenen Abbildungen yor­geführt die Anstrengungen, die zu diesem Ziele gemacht worden sind.

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Es werden sich, wenn dazu die Gelder ausreichen, Baulichkeiten un­mittelbar um den Johannesbau herum finden, einzelne Häuser, von denen Sie ja schon gesehen haben, daß sie in unmittelbarer Nähe des johannesbaues liegen werden. Und diese Häuser werden so zu bauen versucht werden, daß sie wirklich auch in ihrer künstlerischen Ausge­staltung ein Ganzes geben können mit dem Plane des Johannesbaues selbst.

Es ist mancherlei notwendig, um ein solches Ganzes herzustellen. Wir haben ja - das lag in der Natur der Sache, denn weiter brauchten und konnten wir auch nicht sein -, wir haben ja bis jetzt nur die Mög­lichkeit gehabt, die eben charakterisierte Idee für das kleine Häuschen durchzuführen, das Sie dort (im Modell) an einer Stelle sehen, und das zunächst dazu dienen soll, daß in ihm die Glasfenster hergestellt wer­den sollen; sodaß also Herr Rychter und vielleicht sonst noch jemand darin sich unterbringen können, und in den übrigen Räumen die Glasfenster hergestellt werden können. Als zweites, was schon gewis­sermaßen eine ganz definitive Form hat, haben wir das sogenannte «Kesselhaus» anzusehen. Dieses Kesselhaus mußte ja auf das mo­derne Material Eisenbeton hin gedacht werden. Und so war das Pro­blem zu lösen, wie man einen solchen Riesenschornstein - der selbst­verständlich, wenn er so dastehen würde, wie heute Schornsteine in der Nähe von Gebäuden stehen, eine Scheußlichkeit wäre -, wie man einen solchen Schornstein im Zusammenhange mit dem Gebäude ar­chitektonisch auf das entsprechende Material hin gedacht durchführt.

In der kleinen Figurenform, die Sie hier sehen (im Modell) und in dem, was Herr Dr. Grosheintz als Abbild dieses Kesselhauses gezeigt hat, werden Sie gesehen haben, daß versucht worden ist, auch die Architektur dieses Bauwerkes zu lösen. Und wenn es einmal dastehen wird und namentlich, wenn es einmal beheizt sein wird - denn das Hervorgehen des Rauches aus dem Schornstein ist mitgedacht in der Architektur-, dann wird man vielleicht empfinden können, daß diese Formen sinngemäße Schönheit trotz ihres prosaischen Zweckes ha­ben. Man wird vielleicht gerade dadurch, daß die Aufgabe des Gebäu­des wirklich auch in den Formen zum Ausdruck kommt, empfinden

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können, daß diese Formen nicht nur rein nach den Prinzipien der alten Utilitätsbaukunst gebildet worden sind, sondern zugleich so, daß eine innere ästhetische Formung stattgefunden hat. In dem Zu­sammendenken der beiden Kuppeln mit einer Ausweitung, die nach den verschiedenen Seiten hin verschieden geformt ist, und am Schorn­stein in einem Aufspringen von, man kann nicht sagen «blattähnli­chen» Gebilden, denn ein Mitglied, das dieses Modell gesehen hat, hat sie zum Beispiel «ohrenartig» gefunden; aber man braucht es nicht als solche Formen zu definieren, die Formen müssen nur richtig sein -, durch all diese Formen wird wohl erreicht werden können, daß man empfinden wird, daß selbst ein solches, ganz modernen Zwecken der Heizung dienendes Gebäude - der Johannesbau und die unmittelbar um ihn herumliegenden Gebäude werden von hier aus geheizt wer­den -, in ästhetisch befriedigende Formen gebracht werden kann.

Zu einer solchen Sache nun - die anderen Dinge sind also nur provi­sorisch und es wird sich ergeben können, inwiefern sie provisorisch sind -, damit man weiß, was man zu diesem Formen braucht, ist not­wendig, daß man zuerst kenne eine genaue, spezifizierte Angabe alles dessen, was in dem Gebäude drinnen geschehen soll, zu welchem Zwecke es dienen soll. Ich möchte sagen: weiß man, wieviele Räume, zu welchen Zwecken dienende Räume gebraucht werden, wieviele Arten des Aufganges, wieviele Arten der Aussicht und so weiter je­mand haben will, und weiß man ferner genau den Ort, wie das betref­fende Gebäude zum Johannesbau liegt, nach Norden oder Süden, dann kann man für jede solche Angabe eine entsprechende Architek­tur finden.

Darum also wird es notwendig sein, daß alle diejenigen Freunde, die Kolonisten werden wollen und daran denken, sich in der Nähe des Johannesbaues etwas zu erbauen, wirklich sich ein wenig, wenigstens in einem weiteren Sinne, anschließen an das, was für die Gebäude in der unmittelbaren Nähe des Johannesbaues verfolgt werden muß, wenn wir unseren Prinzipien nicht untreu werden wollen. Denn als erstes liegt ja vor, daß durch die äußere Bauart, durch den ganzen Stil für die Außenwelt wird hervortreten sollen, daß alle diese Häuser

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gewissermaßen zusammengehören, ein Ganzes bilden. Selbst dann, wenn andere Häuser dazwischen liegen sollten, würde es dennoch wünschenswert sein, daß gerade diejenigen Häuser, die von Koloni­sten erbaut werden, so gebaut werden, daß man es den Häusern ansieht: sie gehören zu diesem Ganzen. Man wird vielleicht in der Außenwelt sagen: Das sind verdrehte Menschen! - Nun gut, aber man soll es spüren - gleichgültig, ob man es bejahend oder verneinend ansieht -, und wir sollen Veranlassung dazu geben, daß man spürt, daß in dieser Weise - wenn auch vielleicht gestört durch manches andere, was dazwischen steht - der Komplex der zum Johannesbau hingebauten Gebäude ein ideelles Ganzes bildet.

Das ist der eine Gesichtspunkt, der wirklich notwendig ist zu be­rücksichtigen. Der andere aber ist der, daß wir ja wirklich etwas wol­len, was eine gewisse Bedeutung hat in der Kulturentwickelung der Gegenwart. Wir wollen, meine lieben Freunde - und das sehen Sie ja an den Formen des Johannesbaues selbst -, daß tatsächlich einfließe unsere geisteswissenschaftliche Gesinnung auch in den Baustil und in die künstlerischen Formen auf allen Gebieten. Ebensowenig wie wir in der Lage wären, wenn uns heute jemand fragen würde: Wie übt man die Kunst des Tanzes am besten aus?, zu sagen: Gehen Sie zu dem oder jenem, der hat diese oder jene Methode -, sondern geradeso, wie wir da genötigt wären, unser Eigenes zu suchen in der Eurythmie, so müssen wir auch verstehen lernen, in den anderen Kunstformen unser Eigenes zu suchen und dadurch für die, die verstehen wollen, etwas hinzustellen, was vielleicht wirklich nur einer so produktiven Geistesströmung möglich ist, wie sie die geisteswissenschaftliche Gesinnung gibt.

Ich habe öfter schon darauf aufmerksam gemacht, wie es när blei­bend in den Ohren nachklingt, was der Architekt Wilhelm Ferstel, nachdem er die Wiener Votivkirche gebaut hatte und zum Rektor der Wiener Technischen Hochschule gewählt worden war, sagte, als er einen Vortrag hielt über Baukunst; wie sein eigentlicher Tenor in die­sem Vortrag war: Baustile werden nicht erfunden! - Man kann gegen diesen Satz viel einwenden, man kann ihn auch beweisen, beides kann

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gleich richtig sein. Sie werden nicht erfunden, die Baustile, aber aus der Richtigkeit des Satzes, daß sie nicht erfunden werden, folgt durchaus noch nicht, daß man einfach den gotischen Baustil nimmt, wie ihn Ferstel genommen hat und das etwas vergrößerte Konditor-werk, dieses Zuckerwerk der Wiener Votivklrche hinstellt. Es folgt auch durchaus noch nicht aus jenem Satze, daß Baustile deshalb auch in unserer Gegenwart nur dadurch gebildet werden dürfen, daß man gleichsam im eklektischen Sinne alte Baustile modifiziert, immer wie­der und wieder sie zusammenschweißt und auf diese Weise das oder jenes dann zustande bringt.

Gerade die geisteswissenschaftliche Gesinnung soll zeigen, daß es möglich ist, vom Innern des Geisteslebens aus wirklich Kunstformen in den Baustil hineinzubringen. Und daß dies auch beim Privathaus möglich ist, sollten wir der Welt beweisen. Wir sollten Verständnis für unsere Sache von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen können. Wir werden dadurch, daß wir von diesem Gesichtspunkte auszuge­hen vermögen, einen ungeheuer bedeutsamen ideellen Wert für un­sere Kultur schaffen.

So würde es gewiß, ohne daß auf die Freiheit irgendeines Mitgliedes ein Einfluß ausgeübt werden soll, schön sein, wenn sich die Koloni­sten zusammenfänden und aus ihrem eigenen freien Willen, aber mit der Erkenntnis unserer Grundsätze, etwas Einheitliches zustande bringen würden. Müssen wir ja schon, da dies sich zunächst einmal nicht ändern läßt - es wird vielleicht später anderswerden -, mit dem Faktor rechnen, daß in der Nähe des Johannesbaues ein Haus steht, das jetzt noch nicht beseitigt werden kann und die Schönheit nicht erhöhen wird; aber es steht nun einmal da und es kommt ja nicht darauf an, daß wir alles «schön» machen, sondern daß wir das, was wir machen, in unserem Sinne schön machen.

Daher hat es mich in einer gewissen Weise wirklich betrübt, möchte ich sagen, als mir in den verflossenen Wochen Baupläne, Bau­vorschläge über Häuser zu Gesicht gekommen sind, die von den Ko­lonisten dort gebaut werden sollen. Sie waren selbstverständlich in der allerbesten Absicht gedacht, aber sie wiesen durchaus alle Scheußlichkeiten,

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Scheusähgkeiten eines furchtbaren Baustiles auf. Es kann wirklich anders gemacht werden, wenn man den guten Willen dazu mitbringt. Es ist ja selbstverständlich, daß mit mancherlei Hemmnis-sen und Hindernissen wird gerechnet werden müssen, allein, welche neue Strömung, die sich in die Welt einzuleben hat, findet keine Hemmnisse oder Hindernisse ?

In das, was durch die Vereinigung der Mitglieder der Kolonie - der Kolonisten also selber - etwa morgen entstehen könnte, will ich mich nicht hineinmischen; aber es würde mir betrüblich erscheinen, wenn etwas anderes entstehen könnte oder würde als das, was im Sinne der eben ausgesprochenen Worte gelegen ist. Es wird ja durchaus möglich sein, wenn wir alle unsere Sorgfalt darauf verwenden, daß das eben Charakterisierte in Erfüllung geht. Wenn freilich Kolonisten nicht die Geduld haben könnten, um abzuwarten, bis der Zeitpunkt erst da ist, in dem eventuell angegeben werden kann, wie das eine oder das an­dere gut zu machen wäre, dann wird sich nichts Günstiges machen lassen.

So sehr einzusehen ist, daß es mancher von den Kolonisten eilig haben könnte damit, sein Bauprojekt zu bekommen, so wäre es doch wünschenswert, daß die Kolonisten, die es ernst meinen mit unserer Sache, sich ein wenig in Geduld fassen, um die Dinge im Einklange mit den Intentionen entstehen zu lassen, von denen ich nicht sagen kann, daß sie die unsrigen sind durch unseren Willen, sondern daß sie sich ergeben aus dem, was wir aus der geisteswissenschaftlichen Ge­sinnung herausholen müssen. Es könnte dadurch in der Tat etwas entstehen, wo von vielleicht die Welt zunächst einen Eindruck emp­fängt, über den sie lacht. Mag sie es tun! Aber die Zeit, wo man dar­über lacht, wird schon aufhören. Wenn man niemals etwas so Gear­tetes unternehmen würde, so würde man in der menschheitlichen Entwickelung nie vorwärts kommen.

Es braucht niemand zu glauben, daß er auch nur für das Allerge­ringste Unbequemlichkeiten in seinem Hause haben müsse, wenn die Grundsätze eingehalten werden, von denen ich gesprochen habe. Aber eines wird allerdings dazu notwendig sein: daß nicht jeder der

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Kolonisten sozusagen seinen eigenen Weg geht, sondern daß das, was getan wird, in einer gewissen Harmonie getan werde, daß man sich gegenseitig besprechen und aneinander halten kann.

Was in dem Baustil der Kolonistenhäuser die ganze Kolonie als eine ideelle Einheit erscheinen lassen wird, das wird ja ein äußerer Ab­druck sein einer Harmonie, die eine innere sein wird. Ich sage das, was ich jetzt sage, teilweise als Wunsch, teilweise als Hypothese, teilweise als etwas, ja, ich weiß selbst nicht, was ich für ein Wort wählen soll:

es soll eben ein Abdruck sein der inneren Harmonie der in dieser Kolonie Wohnenden!

Es wird dem Sinne der Anthroposophischen Gesellschaft nach ja unmöglich sein, daß in dieser Kolonie jemals die geringste Unfried­lichkeit oder gegenseitige Unverträglichkeit oder auch nur ein böses Wort von einem Mitglied der Kolonie zu einem andern gehe, oder auch nur ein schiefes Gesicht von einem zum andern jemals gezogen werde. Und das wird schön sein, wenn sich das auch in den äußeren Formen sozusagen wie der personifizierte Friede über alles ausgießen wird. Aber auch selbst dann, wenn es wirklich einmal vorkommen sollte, daß durch eine Kleinigkeit im Gemüte der eine oder andere zu einem schiefen Mund oder einem schiefen Gesicht veranlaßt sein könnte, so wird er, weil Formen Gedanken anregen, die Augen in diesem schiefen Gesicht auf die gemeinsamen friedlichen Formen len­ken und es wird gleich ein friedsames Lächeln über das verzogene Gesicht streichen.

Wenn wir dies alles bedenken, dann haben wir ja wirklich die Gründe für den Impuls, dort etwas Einheitliches zu schaffen. Qlau­ben Sie ja nicht, daß dieses Einheitliche bedingen wird, daß ein Haus so sei wie das andere. Im Gegenteil! Die Häuser werden sehr vonein­ander verschieden sein und alles wird einen sehr individuellen Cha­rakter tragen müssen. Ein menschlicher Organismus kommt ja auch nicht dadurch zustande, daß man sagt: Ein Arm ist so, eine Hand ist so... [Lücke]. Würde man jemals den Arm oder die Hand oben statt dem Kopf draufgesetzt haben, so würde niemals ein Organismus ent­stehen können. Ebenso wird die Form eines Hauses, die nach der

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einen Seite hin richtig sein wird, nicht nach der andern Seite hin rich­tig sein. Das alles wird aber tief durchdacht sein müssen für unsere Zwecke.

Und dann, wenn wir in der Lage sind, das alles wirklich in Szene zu setzen, dann sind auch noch andere Gesichtspunkte zu betrachten. Denken Sie einmal, wir waren hier in dieser Woche vereinigt. Am Montag tagte da drüben im Nebensaal irgendeine theosophische Ge­sellschaft mit einem Vortrag von dem und jenem; an einem andern Tag tagte wieder eine andere Gesellschaft mit etwas anderem und an einem dritten Tag sogar eine «Anthropos»-Gesellschaft und so wei­ter. Denken Sie nun einmal, wenn es vorkommen könnte, daß der Sohn, die Tochter, der Enkel oder Neffe oder irgend so jemand von einem unserer Mitglieder sich irgendeiner «Anthropos»-Gesellschaft oder gar irgendendeiner theosophischen Gesellschaft anschlösse, und es dahin käme, daß einmal später Häuser unserer Kolonie sich verer­ben würden an solche Mitglieder einer Familie, so würden wir nicht nur so «nachbarlich» die Vorträge der anderen Gesellschaften haben, sondern auch mitten unter uns drinnen die Gesinnungen und so weiter dieser Gesellschaften haben.

Man muß also schon heute wohl bedenken, welche Schwierigkeiten im Laufe der Zeit erwachsen können und wie man diesen Schwierig­keiten begegnen kann. Man wird ihnen nur begegnen können, wenn man eine solche Vereinigung der Kolonisten schafft, durch die Mittel und Wege gefunden werden können, daß die Besitztümer der Mit­glieder der Antliroposophischen Gesellschaft auch wirklich bei Mitgliedern der Antliroposophischen Gesellschaft in Zukunft ver­bleiben. Daß dies nur durch die verschiedensten Wege wird möglich sein, das wird sich dann für Sie morgen beim Durchsprechen der praktischen Grundsätze herausstellen. Selbstverständlich dürfen Er­ben niemals beeinträchtigt werden, aber man kann auch ohne Be­einträchtigung der Erben die Möglichkeit schaffen, daß gerade das, was man dort in der Kolonie besitzt, nicht auf solche Erben jemals übergehen könnte, die nicht Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft sind.

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Diese Kolonie als eine solche von Mitgliedern der Anthroposophi­schen Gesellschaft in alle Zukunft zu erhalten, das wäre denn doch schon sehr wünschenswert; nicht aber bloß daran zu denken, wie schön es ist für sich selber, dort zu wohnen, wie es nett ist, es nicht weit zu haben zu den Veranstaltungen des Johannesbaues und dort mit Anthroposophen zusammen zu sein. Bloß daran für sich zu den­ken, das würde noch weniger als für irgend etwas anderes gerade bei dieser Sache im Sinne unserer Geistesströmung liegen. Daß heute unsere Geistesströmung noch mit gewissen Opfern verbunden sein muß, das stellt sich ganz besonders dann heraus, wenn die Prinzipien, die Impulse unserer Geistesströmung in die praktische Wirklichkeit umgesetzt werden müssen. Daß wir nicht von jedem beliebigen, ganz außerhalb unserer Sache stehenden Architekten unsere Häuser bauen lassen können, das sollte mehr oder weniger selbstverständlich sein. Daß wir den anthroposophischen Charakter der Kolonie zum Aus­druck bringen wollen, das sollte wiederum selbstverständlich sein.

Das sind gewisse Gesichtspunkte, die ich Ihnen vorlegen möchte, selbstverständlich, wie ich schon sagte, nicht um einen Zwang aus­zuüben, aber als etwas, von dem Sie bei näherer Überlegung zugeben werden, daß man es nicht umgehen kann, wenn irgend etwas dabei herauskommen soll aus der ganzen Sache unseres Johannesbaues und damit unserer antliroposophischen Sache dienen soll.

Sehen Sie, wir mußten von München fortgehen, weil wir dort kein Verständnis fanden, zunächst rein für das, was wir künstlerisch wol­len. Da draußen in Dornach, wo wir nun sein können, können wir uns in die Lage versetzen, in gewisser Beziehung Modell zu bilden für das, was unsere Geistesströmung der Zukunft bringen soll. Und es wäre ein Mißverstehen unserer Bewegung, wenn wir es nicht tun wollten, wenn wir uns durch kleinliche Rücksichten oder durch irgend etwas anderes davon abhalten lassen würden, die Gesichtspunkte einzuhal­ten, die besprochen worden sind. Es sollte im Grunde genommen jeder, der dort bauen will, einsehen, daß es für ihn eine Notwendig­keit ist, sich einer Vereinigung der Kolonisten wirklich anzuschlie­ßen. Vielleicht würde es sogar das allerbeste sein, wenn gerade das

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Künstlerische der Sache einer Art Komitee oder Kommission unter­worfen würde. Man braucht diese Sache nicht zu erzwingen, aber wie schön wäre es, wenn wirklich alle Kolonisten darin zusammenstim­men würden, daß sie sich sagen: Man unterwirft am besten einer Art von Kommission das, was da an Häusern und so weiter zustande kommen soll. - Wenn wir das wirklich durchführen können, daß wir, insofern wir Kolonisten sind, zeigen: wir können einmal eine Reihe von uns mit einem gemeinsamen Willen durchdringen und können diesem Willen die Richtung geben, die durch unsere anthroposophi­sche Gesinnung vorgezeichnet ist, dann werden wir dort etwas Mu­sterhaftes schaffen. Und es wird das, was dort entsteht, eine Probe dafür sein, wie gut oder wie schlecht unsere Sache verstanden worden ist. Von einem jeden Haus, das als Scheusal hingebaut wird von einem beliebigen Architekten, wird man sagen: Ein neuer Beweis dafür, wie wenig man heute in unserer Gegenwart noch verstanden wird in be­zug auf unsere anthroposophische Bewegung! Und von jedem Haus, das ein Formausdruck unserer anthroposophischen Gesinnung sein wird, wird man sagen: Wie froh kann es einen machen, daß doch schon ein inneres Verständnis bei dem einen oder andern für das da ist, was wir wollen!

Es wäre mir so sehr lieb gewesen, wenn das, was ich beabsichtigt habe für diese Generalversammlung, hätte zustande kommen kön­nen. Wir wollen sehen, was davon morgen noch zustande kommen kann, wenn auf Grund der Thesen: Wie sollen wir, jeder einzelne von uns, unter unseren Mitmenschen am besten anthroposophisch arbei­ten und wie können wir unsere anthroposophische Gesinnung am besten zeigen und unsere Erfahrung in den Dienst der Welt stellen ? -eine recht anregende Diskussion bei dieser Generalversammlung in freier Aussprache zustande gekommen wäre. Aber, meine lieben Freunde, dadurch, daß wir uns bemühen, just bloß das Weisheitsgut der anthroposophischen Bewegung an den Mann oder die Frau zu bringen, tun wir allein noch nicht dasjenige, was wir tun müssen, wenn wir unserer Bewegung in der Welt Boden schaffen wollen. Wir müssen wirklich dafür sorgen, daß dasjenige, was uns als Geistesgut

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gegeben ist, in sachgemäßer Weise der Welt entgegentritt in der Ver­körperung desjenigen, was außen von uns geschaffen wird, so wie die alten Baustile Verkörperungen der alten Kulturideen waren.

Wenn es uns gelingt, etwas recht Einheitliches dort zu schaffen und dieses Einheitliche recht gut als etwas der antliroposophischen Bewe­gung zu Bewahrendes auch juristisch zu sichern, dann haben wir den Beweis geliefert, daß wir unsere Bewegung verstehen. Möchte das wirklich so eintreten, daß recht viele solcher - auch in Bau- und son­stigen Formen - künstlerischen Elemente bei dieser Gelegenheit, wo es sein kann, uns einen Beweis dafür liefern: die antliroposophische Bewegung wird schon verstanden!

Wahrhaftig, eine Sekte, irgendeine Gemeinschaft, die diese oder jene Dogmen vertritt und verbreitet, wollen wir ja nicht sein. Wir wollen etwas sein, das es mit den Kulturaufgaben ernst nimmt. Das können wir aber nur dann für den Fall des Johannesbaues und der damit verbundenen Kolonie, wenn wir im Sinne des jetzt Ausgespro­chenen handeln.

Ich denke, meine lieben Freunde, daß in diesen kurzen Worten vielleicht einige Gesichtspunkte für Ihre Maßnahmen bei der Kolo­nisierung um den Johannesbau herum gegeben sein könnten.

II WEGE ZU EINEM NEUEN BAUSTIL DER GEMEINSAME URSPRUNG DER DORNACHER BAUFORMEN UND DES GRIECHISCHEN AKANTHUS-ORNAMENTES Erster Vortrag, Dornach, 7. Juni 1914

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WEGE ZU EINEM NEUEN BAUSTIL

DER GEMEINSAME URSPRUNG

DER DORNACHER BAUFORMEN UND DES

GRIECHISCHEN AKANTHUS-ORNAMENTES

Erster Vortrag, Dornach, 7. Juni 1914

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Meine lieben Freunde! Ein Gedanke, der uns bei diesem Bau wohl oftmals kommen kann, das ist der Gedanke der Verantwortung, die wir zu tragen haben gegenüber den opferwillig dargebrachten Wer­ten, welche unsere lieben Freunde zu diesem Bau zur Verfügung ge­stellt haben. Diejenigen, die sich einmal bekannt gemacht haben da­mit, wie groß eigentlich nach und nach diese Werte geworden sind, werden begreifen, daß gegenüber solcher Opferwilligkeit das richtige Äquivalent ein wirklich starkes Gefühl der Verantwortlichkeit sein muß, dahingehend, daß auch zustande gebracht wird dasjenige, was man erhoffen darf von diesem Bau.

Nun, jeder, der, ich möchte sagen, nur einmal einen Blick geworfen hat, gar nicht auf das Ganze, das man ja noch nicht überschauen kann, sondern nur auf das Einzelne, wird sich klar sein darüber, daß dieser Bau abweicht eigentlich von allem, was sich in der bisherigen Entwik­kelung der Menschheit als dieser oder jener Baustil darstellt, der nun einmal vor dem Urteil der Menschheit gerechtfertigt ist. Rechtferti­gen kann ja eine solche Unternehmung selbstverständlich nur die Tat­sache, daß das Gewollte annähernd gelingt. Aber jeder erste Anfang kann ja naturgemäß nichts anderes sein, als daß sozusagen das Gelin­gen nur in recht primitiver Weise eintreten kann. Gegenüber dem, was man etwa wollen könnte, wird dasjenige, was uns möglich sein wird zu vollbringen, nur ein kleiner, vielleicht winzig zu nennender Anfang sein. Aber man wird vielleicht doch in diesem Anfange die Linie sehen, nach welcher eine spirituelle Umgestaltung künstle­rischer Stilmäßigkeit sich in der weiteren Zukunft der Menschheit vollziehen muß.

Allerdings müssen wir uns darauf gefaßt machen, meine lieben Freunde, daß wenn die Sache einmal fertig sein wird, insbesondere

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von sogenannter fachmännischer Seite die mannigfaltigsten Vorwürfe kommen werden und das hier Gemachte unsachgemäß, vielleicht so gar dilettantisch gefunden werden wird. Das alles wird uns aber nicht beirren können, denn es ist nur in der Natur der Tatsachen gelegen, daß fachmännische Urteile am wenigsten dann zurechtkommen, wenn irgend etwas als etwas Neues in die Welt gestellt worden ist. Wir werden uns aber nicht bedrückt fühlen gegenüber abfälliger Kri­tik, die gegenüber unserem künstlerischen Wollen auftreten könnte, wenn wir - ich möchte sagen, für uns selbst wie einen Trost für unser Verantwortlichkeitsgefühl - den Gedanken uns vor Augen führen, daß gerade in unserer Zeit im Grunde genommen die Entstehung der Künste, die Entstehung der einzelnen Formen und Motive der Kün­ste, von fachmännischer Seite recht stark mißverstanden wird. Und da wird uns allmählich das Verständnis kommen, daß wir mit dem, was wir hier wollen mit diesem Bau, den, ich möchte sagen, «Urkräften künstlerischen Wollens » - wie es einem entgegentreten kann, wenn man auf die Entstehung der Künste einmal das geistige Auge lenkt -viel näher kommen, als ihm dasjenige nahekommt, was so vielfach als künstlerische Auffassung in der Gegenwart sich geltend macht. Man versteht heute wenig mehr von dem, was eigentlich einmal mit der künstlerischen Auffassung gemeint war im Entwickelungsgang der Menschheit. Daher braucht es nicht zu überraschen, wenn so etwas wie unser Bau, der wiederum im Einklang sein will mit dem Urwol­len, mit der Entstehung der Künste, vielleicht gerade von denjenigen, die der Richtung und der Tendenz der Gegenwart huldigen, nicht gerade wohlwollend aufgenommen wird.

Ich möchte heute, um den Gedanken, den ich angedeutet habe, Ihnen näherzubringen, ausgehen von der Betrachtung eines sehr be­kannten künstlerischen Motivs, des sogenannten Akanthusblattes, und möchte zeigen, wie das, was wir wollen, im vollen Einklang steht mit jenem Wollen - sagen wir künstlerischem Wollen - der Mensch­heit, das sich ausdrückt in der Entstehung des Akanthusblattes. Nur muß das, was wir wollen, weil es selbstverständlich viele Jahrhun­derte, ja Jahrtausende nach der Entstehung des Akanthusblattes

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liegt, eben etwas ganz anderes werden, als es danials geworden ist, da man das Akanthusblatt in die korintliische Säule zum Beispiel eingefügt hat.

Meine lieben Freunde, wenn ich dabei kurz etwas Persönliches be­rühren darf, so möchte ich sagen, daß meine eigene Wiener Studien­zeit gerade in diejenige Zeit der Wiener Entwickelung fiel, in welcher die großen Bauten, die Wien sein gegenwärtiges Gepräge gegeben ha­ben - das Parlamentsgebäude, das Rathaus, die Votivklrche, das Burgtheater - ihre Vollendung gefunden haben. Die großen Baumei­ster dieser Bauten lebten noch: Hansen, der Regenerator, der Erneue­rer der griechischen Architektur; Schmidt, der eigenartige Ausgestal­ter der Gotik; Ferstel, der die Votivkirche gebaut hat. Und bekannt wird ja vielleicht sein, daß das Burgtheater in Wien gebaut worden ist nach den Plänen desjenigen Künstlers, welcher dazumal in den sieb­ziger, achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für künstlerische Empfindung und künstlerische Ausgestaltung architektonischer, plastischer Formen tonangebend geworden ist: das Burgtheater ist ausgeführt nach den Plänen des großen Architekten Gottfried Sem­per. An der Hochschule hatte ich selbst zum Lehrer einen genialen Verehrer und Anhänger Gottfried Sempers in dem ausgezeichneten Ästhetiker Joseph Bayer, so daß ich dazumal leben durfte sozusagen in der ganzen Auffassung der Formenwelt, der architektonischen und plastischen Formenwelt und der Ornamentik, wie sie inauguriert worden ist durch den genialen Gottfried Semper.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, es war dazumal etwas, ich möchte sagen, in der ganzen Atmosphäre der Anschauungen, die sich geltend machten auf der einen Seite, um zu begreifen das kunstgeschichtliche Werden, auf der andern Seite, um sich hineinzufinden in künstle­risches Gestalten, es war in der Atmosphäre der Auffassungen und Empfindungen dazumal etwas, das ich kurz so aussprechen möchte:

es konnte einen zur Verzweiflung bringen trotz aller Genialität, die damals wirkte. Gottfried Semper war gewiß eine geniale Persönlich­keit, allein es hatte dazumal auch die ganze künstlerische Auffassung derjenige Zug der allgemeinen Menschheits- und Weltauffassung ergriffen,

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der hervorging aus der materialistischen Deutung des Darwi­nismus und der Entwickelungslehre. Und so konnte man ilnmer wiederum das Materialistische auch in der Kunstauffassung dazumal hervortreten sehen. Da mußte man vor allen Dingen sich gut bekannt­machen mit den äußeren Techniken des Flechtens und Webens. Und aus der Art, wie, ich will sagen, Stoffe gewebt oder wie Zäune gefloch­ten wurden, so daß man die einzelnen Stöcke in gewisser Weise inein­ander zu stecken haue, damit sie hielten und sich ineinander fügten, wurden erst abgeleitet die architektonischen Formen; so daß man förmlich eingepfropft bekam den Satz: Das Ornament ist eine Form der äußeren Technik.

Ich deute damit etwas an, was weiter ausgeführt werden könnte, doch jetzt will ich nur aufmerksam machen auf den Zug der Zeit, der sich damals geltend machte: alles, was künstlerisch ist, schließlich zu­rückzuführen auf das Äußere der Technik. Ich möchte sagen, man war auf einen gewissen Utilitätsstandpunkt gekommen, und das Künstlerische sah man an wie eine Weiterführung desjenigen, was sich ergab aus dem, wie man die Dinge gebrauchte. Daher hörte man in der damaligen Zeit auf Schritt und Tritt, wo es um künstlerische Themata sich handelte, besonders um Themata des Omamentes, immer wiederum von den Eigenarten der Techniken sprechen.

Nun, das alles war gewissermaßen nur eine Nebenströmung der großen materialistischen Strömung, die im 19. Jahrhundert waltete und die man nennen könnte: die materialistische Auffassung des Künstlerischen überhaupt. Wie sich das Materialistische eben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf allen Gebieten besonders gel­tend machte, das war eine Auffassung, die einen in der Tat zur Ver­zweiflung brachte. Denn wirklich, ich erinnere mich noch, wie viele schlaflose Nächte in jener Zeit mir das korinthische Kapitäl gemacht hat. Nicht wahr, dieses korinthische Kapitäl, das hat ja zu seinem Hauptteil, zu seinem Hauptschmuck sagen wir - obwohl es in der Zeit, von der ich spreche, fast verboten war, von Schmuck zu spre­chen - das Akanthusblatt. Was lag selbstverständlich näher als zu sa­gen: Nun, das Akanthusblatt, auch das der korinthischen Säule, ist

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einfach entstanden durch naturalistische Nachahmung des Blaues der Akanthuspflanze, die man ja überall findet. - Nun, für denjenigen, der künstlerisches Empfinden hat, ist es wirklich ein hartes Stück, sich vorzustellen, daß irgendeirimal begonnen worden sein soll damit, daß man sozusagen ein Unkrautblau genommen habe, eben ein Akan­thusblatt, und daß man das plastisch ausgestaltet und an die korin­thische Säule angeklebt habe.

Nehmen wir einmal, um uns zu orientieren, die Form des Akan­thusblattes. Ich möchte es gewissermaßen schematisch aufzeichnen, dieses Akanthusblatt. So etwa ist dieses Blatt von Acanthus spinosus, der gewöhnlichen Bärenklaue, geformt:

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Das soll also dazu gedient haben, plastisch ausgestaltet und in dieser Ausgestaltung an die korinthische Säule geklebt zu werden.

Nun kommt allerdings etwas anderes noch dazu. Nämlich Vitruv, der bedeutende Bearbeiter der künstlerischen Traditionen des Alter­tums, bringt eine Anekdote, die sehr bekannt ist, und diese Anekdote hat mit dazu geführt, die «Korbhypothese> des korinthischen Säu­lenkapitäls zu begründen. Man kann sie schon so nennen, denn wozu wurden nach und nach für die materialistische Kunstauffassung die Kapitäle der korinthischen Säulen? Zu Körbchen, die ringslierum von Akanthusbläuern getragen waren. Man kann, wenn man den Dingen genauer nachgeht, den Eindruck bekommen, daß hier etwas Symptomatisches,

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Bedeutsames vorliegt. Denn gerade an diesem Punkte zeigt es sich, daß das Verständnis der feineren spirituellen Zusaminenhänge der Menschheitsentwickelung den nachforschenden Menschen einen « Korb> gegeben hat und gleichsam wie eine Art Denkmal dieses «Korbes> steht diese Korbhypothese der korinthischen Säulen­kapitäle da.

Was erzählt Vitruv denn eigentlich? Er erzählt, daß Kallimachos, der korinthische Bildhauer, einmal ein irgendwie zufällig dastehendes Körbchen gesehen habe, und am Grunde dieses Körbchens seien ringsherum diese Akanthusblärter gewachsen. - Also sagt man: Kalli­machos habe angeschaut ein Körbchen, umgeben von Akanthusblät­tern, und habe gesagt: Ja, das gibt das korinthische Kapitäl. - Das ist der reinste Materialismus, den man sich denken kann. Nun, ich werde gleich nachher sagen, wie es sich mit dieser Vitruvanekdote eigentlich verhält, was sie für eine Bedeutung hat.

Die Hauptsache, die hier zugrunde liegt, ist diese, daß man allmäh­lich - und im Laufe der neueren Zeit im Grunde genommen ganz -verloren hat das Verständnis für das innere Prinzipielle des künstle­rischen Schaffens. Und wenn man dieses innere Prinzipielle des künstlerischen Schaffens nicht wieder finden wird, wird man eigent­lich das, was mit den Formen gewollt ist, was den Formen unserer Kapitäle, ja den Formen unseres ganzen Baues zugrunde liegt, nie­mals verstehen. Die Menschen, welche - jetzt symbolisch gesprochen

- der «Korbhypothese> huldigen, werden uns niemals richtig verste­hen können.

Dasjenige, was allem künstlerischen Schaffen zugrunde liegt, ist ein Bewußtsein, welches, ich möchte sagen, vor den Pforten der histori­schen Entwickelung der Menschheit - der äußeren historischen Ent­wickelung, die durch äußere Dokumente festgelegt ist - haltmacht. Ein gewisses Bewußtsein, das vor den Pforten dieser historischen Entwickelung im Menschen tätig war, und das noch ein Überbleibsel des alten Hellsehertums der Menschheit war, das war etwas, was ebenso dem vierten nachatlantischen Zeitraume angehörte. Wenn auch die ägyptische Kultur dem dritten nachatlantischen Zeitraume

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angehört, so ist doch das, was zur Kunst hintendiert in der ägypti­schen Kultur, dem vierten nachatlantischen Zeitraume angehörig. Im vierten nachatlantischen Zeitraume hat sich dieses Bewußtsein so gel­tend gemacht, daß inneres GefüM, innere Empfindung des Menschen Platz gegriffen hat, - so Platz gegriffen hat, daß man fühlte, wie die Bewegung des Menschen, wie Haltung und Geste die menschliche Form und die menschliche Figur herausentwickeln aus dem Ätheri­schen ins Physische.

Sie werden mich verstehen, wenn Sie sich darüber klar sind, daß für jene Zeiten mit einer, ich möchte sagen, richtigen Auffassung des künstlerischen Wollens, viel wichtiger als die Anschauung einer Blume oder einer Ranke das Gefühl war: ich muß etwas tragen, schwer tragen; ich beuge den Rücken und mache mit meiner mensch­lichen Figur die Kraftentwickelung, die mich Menschen nötigt, mich so zu bilden, um die Last zu tragen.

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Man fühlte in sich gewissermaßen das gebildet, was man in der eige­nen Geste ausführen muß. Und so führte man die Greifbewegung, so zum Beispiel auch das Tragen mit der Hand, aus. Man fühlt dieses Tragen mit den Händen, wo man nötig hat, die Hände nach auswärts zu spreizen. Da entstanden die Linien und Formen, die ins künstle­rische Gestalten übergingen. Man füMt sozusagen an der eigenen Menschlichkeit, wie der Mensch über das, was er mit den Augen sieht und mit den übrigen Sinnen wahrnimmt, hinausgehen kann, wenn er sich einfügt einem Allgemeinen. Und ich möchte sagen: schon bei

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diesem Allgemeinen, wenn man nicht mehr bloß hinzuschlendern braucht, sondern genötigt ist, sich zu fügen dem Tragen einer Last, da ordnet man sich ein dem Organismus der ganzen Welt. Und aus dem Fühlen solcher Linien, die man in sich selber zu bilden hat, entstanden jene Linien, die zur künstlerischen Gestalt führten. Das sind Linien, die nicht in der äußeren Wirklichkeit zu finden sind.

Nun tritt einem in der spirituellen Forschung eines oftmals entge­gen. Ich möchte sagen, wie ein wunderbares Akashabild tritt einem immer wiederum entgegen das Einfügen einer Anzahl von Menschen in ein Ganzes; aber ein gesetzmäßiges, harmonisches Einfügen von Menschen in ein Ganzes. Denken Sie sich das etwa so: Wir hätten eine Art Bühne, rings herum, wie amphitheatralisch, Sitze, wo Zuschauer sind, und es wurden Menschen einen Umgang formieren. Die gehen herum im Innern, sie haben einen Umgang zu formen. Nicht etwas naturalistisch Gebildetes, sondern etwas Höheres, Übersinnliches sollte vor des Menschen Auffassung treten. Denken Sie sich, das ist in der Aufsicht gezeichnet:

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Ich zeichne es nun in der Seitenansicht, also schematisch: Eine An­zahl von hintereinander gehenden Menschen. Die bilden sozusagen den Umzug, der da im Kreise herumgeht; die andern sitzen im Kreise und schauen zu.

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#Bild s. 87

Nun handelt es sich darum, daß diese Personen etwas Wichtiges darstellen, etwas, was es sozusagen nicht ausgebildet gibt auf der Erde, sondern wovon es auf der Erde nur Analogien gibt; daß sie etwas darstellen, was den Menschen in Zusammenhang brachte mit dem großen Weltenzusammenhang. Und da liegt nun ja nahe, vor diesen Menschen der damaligen Zeit darzustellen das Verhältnis der Erdenwirkungen zu den Sonnenwirkungen. Wie kann der Mensch fühlen das Verhältnis der Erdenwirkungen zu den Sonnenwirkun­gen? Wenn er es ähnlich fühlt, wie man fühlen kann zum Beispiel das Getragensein, das heißt, wenn man eine Last trägt. Man kann also fühlen das Verhältnis der Erden- zu den Sonnenwirkungen so: Alles Irdische steht nur eben auf der Bodenfläche der Erde auf, und indem es sich von der Erde entfernt - das alles ist eigentlich nur in Kräften gedacht -, spitzt es sich zu. Also man fühlte sozusagen das Verbun­densein des Menschen mit der Erde dadurch, daß man ein nach unten Breites und nach oben sich Zuspitzendes darstellte. Gar nichts ande­res! Das heißt, indem man diese Kraftwirkung so fühlte, sagte man:

ich fühle mich stehen auf der Erde.

Nun wurde der Mensch ebenso gewahr seine Zugehörigkeit zur Sonne. Dieses Hereinwirken der Sonne auf die Erde, man fühlte es, indem man die Kraftlinien eben so gestaltete, daß die Sonne, indem sie um die Erde herumgeht, in dieser Weise ihre Strahlen der Reihe nach hereinsendet, sie nach unten zuspitzend, weil die Sonne scheinbar um die Erde herumgeht.

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#Bild s. 88a

Denken Sie sich diese beiden Darstellungen in Abwechslung, so können Sie sehen das Erden- und das Sonnenmotiv, das von diesen umhergehenden Menschen immer getragen wurde. Das gehörte zu dem, was in alten Zeiten im Umgang vorgeführt wurde. Da saßen die Menschen herum, und da gingen herum die Darsteller. Die einen tru­gen das Erdenmotiv, die andern gleichsam dasjenige, was man als Hinaufleben zur Sonne darstellte, denn so konnte man das Herein-strahlen des Sonnenmäßigen auch darstellen. Und sie wechselten ab:

Erde - Sonne, Erde - Sonne, und so weiter.

#Bild s. 88b

Diese Kraft, ich möchte sagen, diese kosmische Kraft: Erde -Sonne, fühlte man. Dann erst dachte man darüber nach, wie man das nun am besten machen könnte. Und da stellte sich heraus, daß man als Mittel, gleichsam als ein Kunstmittel, um das am besten zu machen, am besten eine solche Pflanze oder einen solchen Baum verwendet, der seine Wipfelentfaltung nach oben so hat, daß er unten breit ist und nach oben spitz zuläuft, und daß man dann abwechselt mit Palmen. So daß sich herausbildete das Hintereinandertragen von solchen

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Pflanzen, die etwas wie breite Knospen darstellen, welche sich nach oben zuspitzen, und von Palmen. Palmen als Entfaltung der sonnen-halten Kräfte, und nach oben sich zuspitzende Knospen als charakte­ristisch für die Erdenkräfte.

Man produzierte sozusagen, indem man fühlen lernte das Hin­eingestelltsein in den Kosmos als Mensch, gewisse Formzusam­menhänge, und man benützte nur die pflanzlichen Mittel zur Darstel­lung. Man griff dabei, um das nicht künstlerisch erst fabrizieren zu müssen, zu den pflanzlichen Mitteln. Aus dem lebendigen Erfühlen des Weltenzusammenhanges heraus ist das künstlerische Schaffen entstanden, das deshalb auch einem Entfalten des Schaffensdranges entspricht, der im Menschen liegt, und nicht einer bloßen Nach­ahmung irgendeines bloß äußerlich Natürlichen entspricht. Alles äußerlich Natürliche ist lediglich, indem es künstlerisch nachgeahmt wurde, erst später in die Kunst hineingekommen. Als man nicht mehr gewußt hat, daß man Palmen genommen hat, um Sonnenkräfte aus­zudrücken, da hat man, indem man einen solchen Zweig aufgemalt hat, geglaubt, die Alten hätten die Absicht gehabt, eine Palme zu ko­pieren. Das war aber niemals der Fall, sondern sie haben die Palmen verwendet, weil sie die Sonnenkräfte darstellten. So ist alles wirkliche künstlerische Schaffen hervorgehend aus einer in der menschlichen Natur steckenden Überfülle von Kräften, die im äußeren Leben nicht zum Ausdruck kommen können, die sich daher ausleben wollen, in­dem der Mensch sich bewußt wird seines Zusammenhanges mit dem Weltenganzen.

Nun beirrte alles Nachdenken und Empfinden - sowohl gegenüber der Naturwissenschaft, wie auch gegenüber dem Künstlerischen -, es beirrte alles Empfinden und Vorstellen ein Gedanke, der aus der Menschheit recht schwer auszutreiben sein wird. Das ist der Ge­danke, daß alles Komplizierte aus Einfachem entsteht. Das ist nicht wahr! Das menschliche Auge zum Beispiel ist in seiner Konstruktion viel einfacher als das Auge vieler niederer Tiere. Die Entwickelung geht vielfach so vonstatten, daß das Komplizierte vereinfacht wird, daß das Verschlungene zur geraden Linie abgerundet wird. Das Vereinfachte

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ist vielfach in der Entwickelung das Spätere. Erst wenn man das einsehen wird, wird man einen richtigen Begriff von wahrer Entwickelung erlangen.

Dasjenige, was sich nun damals den Menschen darbot, und was alles für die Zuschauer ringslierum dargestellt wurde und durchaus die Darstellung von lebendigen kosmischen Kräften war, das wurde später vereinfacht zu jenem Ornamente, in dessen Linie man zusam­menfaßte dasjenige, was damals der Mensch, indem er diese Dinge darstellte, lebendig erfühlte. Und wenn ich darstellen wollte, wie man zusammengefaßt hat aus dem Komplizierten der Menschheitsentwik­kelung ins Einfache die Linie zu einem Ornament, das zum Schmucke dienen soll, so könnte ich mich folgender Zeichnung bedienen:

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Denken Sie sich das abwechselnd, so haben Sie die vereinfachte Wie­dergabe jenes Umganges, den ich angeführt habe als Erdenmotiv, Sonnenmotiv - Erdenmotiv, Sonnenmotiv. Da haben Sie das, was der Mensch erlebt hat, zusammengefaßt in das ornamentartige Motiv. Dieses ornamentartige Motiv figurierte schon in der mesopotami­schen Kunst und ist auch in die griechische Kunst herübergekommen als die sogenannte Palmette, in dieser oder einer ähnlichen Form, die dem Lotosblatt ähnlich ist.

Diese Abwechslung von Erden- und Sonnenmotiv, die bot sich so­zusagen dem menschlichen Empfinden dar als Schmuckmotiv, als richtiges ornamentales Schmuckmotiv. Daß man in diesem ornamentalen

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Schmuckmotiv eine ins Unbewußte übergegangene Nachbil­dung eines uralten Tanzmotives, eines feierlichen Tanzes zu sehen hat, das wußte man später nicht mehr. Aber erhalten hat sich das im Palmettenmotiv.

Nun ist es interessant, das Folgende ins Auge zu fassen. Wenn Sie gewisse dorische Säulen betrachten, so finden Sie da, wo die dorischen Säulen bemalt worden sind, ein höchst interessantes Motiv, das ich in dieser Weise zeichnen möchte. Unter dem, was das Kapitäl zu tragen hat, finden wir folgendes: Hier würde der obere Wulst der dorischen Säule sein; hier unten aber finden wir bei gewissen dorischen Säulen als Malerei rund um die Säule herum nur etwas modifiziert angebracht das Erdenmotiv und das Sonnenmotiv. Oben haben Sie den dorischen Wulst, unten ringsherum gemalt die ornamentalen Motive zum Schmuck der Säulen. So sehen Sie tatsächlich an gewissen dorischen Säulen unten gemalt die Palmette, so ausgeführt, daß sie wirklich einen Umgang gibt: Erde - Sonne, Erde - Sonne und so fort.

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In Griechenland, dem vorzüglichsten Gebiete, in dem der vierte nachatlantische Zeitraum zu seinem vollen Ausdruck kam, vermählte sich nün das, was aus Asien herüberkam, mit all dem, was ich jetzt erzählt habe, und was in Griechenland an dorischen Säulen in Nachbildung

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sichtbar ist, mit dem eigentlich dynamisch-architektonischen Prinzip des Tragens, weil in Griechenland zunächst die Erfassung des Ich im menschlichen Leibe in vollkommenster Weise zum Ausdruck kam. Und deshalb war es in Griechenland, wo ein solches Motiv zum Ausdruck kommen konnte: daß das Ich, wenn es im Leibe ist, sich verstärken muß, wenn es eine Last trägt. Das Ganze fühlt man in der Volute:

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Dieses Starkmachen, das ist dasjenige, was man in der Volute fühlt. Den Menschen, indem er sein Ich verstärkt im vierten nachatlanti­schen Zeitraum, den sehen wir ausgedrückt in der Volute. Und so gewinnen wir die Grundform der ionischen Säule, ich möchte sagen, wie wenn der Atlas die Welt trägt, aber noch unausgebildet, indem die Volute zum Träger wird.

Nun brauchen Sie sich nur vorzustellen, daß das, was in der ioni­schen Säule nur angedeutet ist, das Mittelstück, nach unten sich zur vollständigen Volute ausbildet, dann haben Sie die korinthische Säule: nichts anderes, als die Miuelstücke gleichsam nach unten ausgedehnt,

#Bild s. 92b

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so daß die Natur des Tragens zur Vollständigkeit wird. Und nun denken Sie sich dieses Tragende als plastisches Gebilde, dann haben Sie gleichsam die in sich gekrümmte Merischenkraft. Das Ich umgebogen, hier Last tragend.

Ein künstlerisches Prinzip liegt nun darin, meine lieben Freunde, daß man dasjenige, was irgendwie ausgebildet ist im Großen, im Klei­nen, en miniature wiederholt, oder umgekehrt. Wenn Sie sich nun die korinthische Säule so ausgebildet denken, daß sie hier die haupttra­gende Volute hat, und Sie wiederholen nun dieses künstlerische Mo­tiv hier, wo es nur zum Schmuck dient, so haben Sie gleichsam pla­stisch eingefügt dasjenige, was das ganze Kapitäl ist, noch ringsherum im Schmuck. Und jetzt denken Sie sich, daß sich vermählt das dori­sche Malmotiv, das hervorgegangen ist aus der ornamentalen Nach-malerei des vorgeführten uralten Sonnenmotivs, vermählt mit dem, was an der korinthischen Säule angebracht ist; denken Sie sich, daß die Intuition entsteht, das, was ringslierum ist, ähnlich zu gestalten dem, was man früher gemalt hat: und man hat das Gemalte der dori­schen Säule plastisch ausgestaltet. Ich kann das dadurch versinnli­chen, daß ich das plastische Motiv zunächst Ihnen zeige, an das ich angemalt habe die Palmette [siehe Abbildung folgende Seite]. Der Drang ist entstanden, die Palmette zu sehen an dem Motiv, das sich hier so ergeben hat. Es ist aber nicht zu einem solchen Anmalen dieses Tragmotivs gekommen, sondern es ist dazu gekommen, daß man, was man dorisch bloß gemalt hat, korinthisch plastisch gestaltet hat; das heißt, man hat hier plastisch ausgestaltet, und ließ das Palmeuenblatt bis unten hin gehen. Links habe ich gezeichnet eine Palmerte [siehe Abbildung], rechts den Anfang, der entsteht, wenn die Palmette pla­stisch ausgestaltet wird. Da würde, wenn ich weiter fortfahren würde, die dorische gemalte Palmette in die korinthische plastische Palmeue ausgestaltet. Und so würden wir, wenn ich nicht die Palmette malen würde, überall bekommen das Akanthusblau.

Das Akanthusblatt entsteht, indem die Palmette plastisch umge­wandelt wird. Also aus dem Drang, hier die Palmeue nicht aufzuma­len, sondern sie plastisch zu gestalten, ergibt sich diese Form; und aus

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dem bloßen Träger wird, indem man immer mehr in Komplikationen übergeht, dasjenige, wovon es einem Menschen ein Gefühl sein kann zu sagen: das hat eine gewisse Allichkeit mit dem Akanthusblau. Und man hat diese Sache, die man früher selbstverständlich nicht Akanthusblau genannt hat, von da an Akanthusbiatt genannt. Aber der Name hat mit dem, was dargestellt wurde, ebensoviel zu tun wie mit der Lunge und den Lungenflügeln der Ausdruck «Flügel». Und das ganze Unsinnige der naturalistischen Nachahmung des Akan­thusblattes entfällt, weil dasjenige, was man Akanthusblatt nennt, gar nicht entstanden ist aus der naturalistischen Nachbildung des Akan­thusblattes, sondern durch Umbildung des alten Sonnenmotivs, der Palmette, die man plastisch gemacht, statt daß man sie gemalt hat. So sehen Sie, daß aus einem inneren Erfassen desjenigen, was mit der Geste des menschlichen Ätherleibes zusammenhängt - denn damit hängt die Bewegung einer Kraftlinie zusammen, die man an sich selbst auszuführen hat -, durch die Wahrnehmung dessen, was aus dem menschlichen Ätherleib fließt, wirklich diese künstlerischen Formen geflossen sind.

Meine lieben Freunde, was an der Kunst künstlerisch ist, das hat mit Naturnachahmung so wenig zu tun, wie etwa in der Musik man mit Naturnachahmung etwas machen kann. Auch in den sogenannten nachahmenden Künsten ist dasjenige, was nachgeahmt wird, etwas im Grunde genommen Nebensächliches, Sekundäres, etwas Zweitrangi­ges. Daher ist alles naturalistische Empfinden dem wahren künstle­rischen Empfinden eigentlich schnurstracks zuwiderlaufend. Und wenn man unsere Formen vielleicht grotesk finden wird, so werden wir uns damit trösten können, daß diejenige künstlerische Auffas­sung, welche diese Formen grotesk findet, es glücklich dazu gebracht hat, das Akanthus-Kapitälmotiv, das rein aus dem Geiste heraus ge­schöpft ist und in seiner weiteren Fortbildung eine entfernte Ähnlich­keit mit dem Bärenklaublatt erlangte, dieses Motiv aufzufassen gerade als naturalistische Nachahmung des Bärenltlaublaues. Künftige Zei­ten künstlerischer Auffassung werden solche Dinge gar nicht mehr verstehen können, die in unserer Zeit nicht nur etwa die Kunstgelehrten

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beherrschen, welche die Kunst verstehen sollten, sondern die wirklich auch das künstlerische Schaffen beherrschen. Dasjenige, was im materialistischen Darwinismus nachwirkt als materialistische Auf­fassung, das tritt auch im künstlerischen Schaffen uns entgegen, in­dem man die Kunst immer mehr zur bloßen Nachahmung des Natür­lichen machen will. Ich möchte sagen, meine lieben Freunde, ich fühle mich glücklich in der Einsicht dieses Zusammenhanges gegenüber dem Akanthusblatte; denn es gibt dieses tatsächlich Aufklärung dar­über, daß auch die Urformen des künstlerischen Schaffens aus der menschlichen Seele herausgequollen und nicht durch Nachahmung eines Äußeren entstanden sind.

Im Grunde genommen konnte ich so gründlich hineinsehen in die Urform des Künstlerischen auch erst, nachdem ich selber unsere For­men hier gebildet habe. Wo man solche Formen fühlt, wo man aus dem Urquell des Menschentums Formen zu schaffen hat, da fühlt man, wie im Grunde genommen in derselben Weise auch das künstle­rische Schaffen in der Menschheitsentwickelung seinen Anfang ge­nommen hat. Es ist ein eigentümliches Karma, daß während ich tief beschäftigt war - aber nachdem schon die Formen unseres Baues fer­tig waren -, eine künstlerische Intuition zu verfolgen - die sich im Jahre 1912 während der Berliner Generalversammlung ergeben hatte -, daß ich da, während ich sie in der Anlage verfolgte, nun, um mehr zu verstehen, dasjenige untersuchte, was ich mit den Formen gemacht habe. Denken über das, was als künstlerische Form entste­hen soll, kann man erst hinterher. Wenn man sie erst versteht und nachher ausführt, dann werden sie sicher nichts nutzen. Schafft man aus Begriffen und Ideen heraus, dann wird es ganz gewiß nichts wert sein. Aber gerade das, was ich so recht anschaute und anschaulich machte an dem Akanthusblatte, und was ich an diesem als Irrtum zeigte, das gibt auch den inneren Zusammenhang dessen, was hier geisteswissenschaftlich walten wird, mit dem, was künstlerisch aus­gedrückt wird mit unserem Bau.

Einen merkwürdigen Fall [von Übereinstimmung mit der äußeren Kunstforschungl fand ich, der allerdings nicht mit der Entwickelung

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zusammenhängt, wie ich sie eben gegeben habe. Sie ist nirgends zu finden, sie hat sich mir ergeben aus der hellseherischen Forschung heraus. Aber in einem Punkte fand ich hinterher einen merkwürdigen Zusammenhang mit meinem Landsmann im weiteren Sinne, Riegl. Er trägt schon den eigentümlichen Namen Riegl, der zwar nicht vor­nehm, aber um so österreichischer klingt. Dieser Riegl ist nicht auf sehr viel gekommen; aber als Konservator gerade eines Ornamenten-museums in Wien hat sich ihm immerhin die Anschauung ergeben, daß diese Ornamente nicht so entstanden sind, wie es sich der «Sem­perismus » am Ende des 19. Jahrhunderts gedacht hat. Er kam auf Gedanken, die wirklich in der Linie liegen, in der die Umwandlung des Palmettenmotivs in das Akanthusmotiv liegt, so daß wirklich für diesen Punkt ein vollständiger Zusammenhang sich ergibt zwischen der okkulten Forschung, die sich mir ergeben hat in den letzten Tagen, und der äußeren Kunsiforschung, die auch schon stößt auf diese Entstehung des sogenannten Akanthusblattes aus der Palmette. «Palmette» ist natürlich ebenso nur ein Wort; es ist in Wahrheit das Sonnen-Erdenmotiv, um das es sich handelt.

Natürlich bringt einen so etwas, was Riegl gegeben hat, erst recht wieder zur Verzweiflung. Denn er kann nicht einsehen, woher das Palmettenmotiv kommt und daß es zusammenhängt mit im Men­schen wirkender, bewegender Kraft. Und so ist es denn erklärlich, daß man, ich möchte sagen, selbst im Kleinen bemerken kann, wie [beherrschend die materialistische Kunstauffassung geworden ist; denn wenn auch] der gute Riegl - obwohl er nicht auf sehr viel ge­kommen ist - zwar, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, «auf­muckt» gegen die Kunstgelehrten, die also gewissermaßen alles «ver­sempert» haben und meistens Naturalisten sind, so sagt er doch, daß in bezug auf das Akanthusblatt alle Kunstgelehrten noch zehren von der alten Vitruvanekdote. - Man kann aber nicht sagen, daß alle davon zehren. Man kann auch die Behauptung finden: Die alte Vitruvanek­dote gilt nicht einmal als Anekdote, sie ist eine Erfindung des Kalli­machos; sie wird aber immer Vitruv nacherzählt. - Bei Riegl wie­derum - er deutet die Anekdote nur kurz an; sie sei zu bekannt, als

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daß er in alle Einzelheiten eingehen wolle - ist nur eine Merkwürdig­keit, und das ist das, was er ausläßt, und das ist nun sehr charakteri­stisch! Er deutet an - das übrige brauche man nicht auszuführen, es sei zu bekannt -, Kallimachos hätte eben ein Körbchen gesehen; rings-herum waren Bärenklaublätter, und da sei ihm der Gedanke an das korinthische Kapitäl aufgegangen. - Also auch Riegl läßt eines aus, und das zeigt, wie unsere Zeit zur Verzweiflung an der Erkenntnis auf solchem Gebiete kommen muß, wenn sie wirkliche Einsicht erstrebt; er läßt das aus, was zum Wichtigsten der ganzen Vitruverzählung gehört.

Was das Wichtigste ist, das ist nämlich dies, daß der Kallimachos das, was er sieht, auf dem Grabe eines korinthischen Mädchens sieht. Das ist das Allerwichtigste. Denn das besagt nichts Geringeres, als daß Vitruv, wenn er es auch weise verschweigt, andeuten will, daß Kallimachos ein Hellseher war, der über dem Grabe eines Mädchens aufstreben sah das Sonnenmotiv im Kampfe mit dem Erdenmotiv, und darüber das Mädchen sah, schwebend in reinem, ätherischem Leibe. - Ja, da konnte einem eine Andeutung kommen, die man ver­wenden kann: nämlich das Sonnen-Erdenmotiv zu dem Säulenkapi­täl. Wenn man hellseherisch über dem Grabe einer jungfräulich Ver­storbenen sieht, was im Ätherischen wirklich vorhanden ist, kann man verstehen, daß von der Palmette das Akanthusblatt geworden ist, ringsherumwachsend um den sonnenmäßig sich erhebenden Äther-leib des jungfräulichen Mädchens. Es ist, als ob die Menschen niemals die spätere römische Plastik der Pytri-Clytia mit verständnisvollem Blick angeschaut hätten, worin nichts anderes zu sehen ist in Wirk­lichkeit als eine hellseherische Impression, die man haben kann über den Gräbern gewisser Personen, wo, wie aus dem Blütenkelch, der Kopf herauswächst einer, wenn auch nicht jungfräulichen, so doch außerordentlich edlen Römerin.

Wir werden das, was der Erzählung des Vitruv zugrunde liegt, erst verstehen, meine lieben Freunde, wenn bei uns einmal das unglückse­lige Prinzip überwunden sein wird, das in der Frage liegt: «Was be­deutet dieses oder jenes?» Wenn dieses unglückselige Prinzip, das

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hinter jedem gleich eine Bedeutung sucht und sagt, das bedeutet den physischen, das den Ätherleib, das den Astralleib und so weiter, und das überall symbolische Bedeutungen sucht, wenn dies aus unserer Bewegung herausgebracht sein wird, dann wird man verstehen, was den künstlerischen Formen wirklich zugrunde liegt: entweder das unmittelbare Erfassen der eigenen geistigen Bewegung, oder die Anschauung des Ätherischen, wobei das eine mit dem anderen über-einstimmt.

In der Tat erscheint einem das Akanthusblatt, das sich richtig aus­bildet in dem hellseherischen Bild, wenn es sich in richtiger Weise über einem Grabe zeigen kann.

Wenn Sie das alles zusammennehmen, meine lieben Freunde, wer­den Sie begreifen, wie notwendig es ist zum Verständnis der Formen, die unseren Innenraum auskleiden, oder, wenn ich das Wort gebrau­chen darf, ihn schmücken sollen, daraufzukommen, welchem künst­lerischen Prinzip sie entsprungen sind. Ich habe früher einmal den trivialen Vergleich gebraucht - den man nur zu verstehen braucht, wenn er auch trivial ist, so ergibt er doch das, was er geben soll - :

Wenn man verstehen will, was in unserem Innenraum sein wird, in diesen zwei zusammengehörenden Halb- oder Dreiviertelbauten, so möge man sich erinnern an das Prinzip des Gugelhupftopfes, des Topfes, in dem man einen Napfkuchen bäckt.

In diesem Topf entsteht der Napfkuchen, und wenn der Gugelhupf herauskommt, zeigen sich an der Oberfläche des Gugelhupfes alle die Formen, die an den Wänden des Topfes im Negativ sind:

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Das Prinzip ist wirklich bei der Innendekoration des Baues richtig anzuwenden, nur daß eben nicht ein Gugelhupf drinnen sein wird,

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sondern daß lebend und webend drinnen sein soll das lebendige Wort der Geisteswissenschaft in der ihr möglichen Form. Das, was hier umschlossen ist in den Raumformen, was darin gesprochen und ge­trieben wird, soll sich so anpassen, wie sich der Napfkuchenteig anpaßt der Negativform des Napfkuchentopfes. Fühlen soll man in dem, was an den Wänden ist, das lebendige Negativ dessen, was da gesprochen und getan werden soll. Das ist das Prinzip der Innendeko­ration. Was ist eine solche Form? Eine solche Form ist nichts anderes als folgendes: Denken Sie sich einen Teil unseres lebendigen geistes-wissenschaftlichen Wortes an diese Wände anstoßend, diese Wand in seinem ureigentlichen Wortsinne so aushöhlend - dann entsteht die Form, die dem Worte entspricht. Daher sind diese Innenformen auch so gebildet. Sehen Sie sich sie an. Wenn sie einmal ganz fertig sein werden, dann werden sie aus der Fläche herausgearbeitet sein; das werden die Formen der Baudekorationen. Diese Formen sind alle in die Fläche hineingearbeitet. Daher war es mir wenigstens von Anfang an recht, daß wir so arbeiteten, daß, wenn wir hier mit Hohleisen und Schlegel arbeiten, wir von vorneherein eine Fläche haben, mit der linken Hand das Stemmeisen in der Richtung schlagend, in der die Fläche zuletzt liegen muß. So schlagen wir von vornherein in der Richtung. Andererseits halten wir das Grabeisen so, daß es senk­recht aufsteht.

Es wäre mir sehr lieb gewesen, aber es hat sich nicht durchführen lassen, wenn von Anfang an eine solche Fläche gar nicht entstanden wäre. [Am Architrav gezeigt!] Diese Fläche wird dann erst richtig werden, wenn hier noch etwas fort ist. Die Rundung hier muß noch fort. Es wäre besser gewesen, wenn man von Anfang an mit dem Grab-eisen gearbeitet hätte, dann würde diese Rundung nicht entstanden sein, sondern von vorneherein eine Fläche. Worauf es ankommt, ist, daß man nach den Modellen fühlt, wie die Innendekoration die Hülle ist, die nach innen sich plastisch ausbildende Hülle für dasjenige, was uns erfüllt als Geisteswissenschaft in diesen Räumen; und wie die Innendekoration so ist, daß sie eigentlich ein gegraben ist, so wird die äußere Dekoration so werden, daß etwas aufgetragen ist. Das Innere

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muß immer den Charakter des Hineingegrabenen tragen. [Beim Ar­beiten] am Modell konnte man es so empfinden, denn es handelte sich wirklich um räumlich formgemäßes innerliches Empfinden.

Das ist dasjenige, was heute unbefriedigt läßt, selbst bei einer sol­chen Schrift wie die von Adolf Hildebrand. Der Mann hat gewisse Begriffe von Formwirkung; aber das, was ihm fehlt, das ist das inner­liche Durchfühlen der Form, so daß man in der Form drinnensteckt, während für Hildebrand das Auge sich der Form gegenüber befind­lich fühlen soll. Hier [es wird auf eine Form gedeutetl soll es so sein, daß man die Form innerlich erlebt, so daß man, indem man das Grabeisen in gewisser Weise hält, lieben lernt die Fläche, die man hier ausführt, die man hier mit dem Schlegel entstehen läßt. Und ich muß gestehen, ich kann nicht anders, als eine solche Fläche immer etwas zu streicheln, wenn sie entstanden ist. Es handelt sich darum, daß man sie lieb gewinnen kann, so daß man in ihr lebt mit inner­licher Empfindung und nicht als etwas, was bloß mit dem Auge angeschaut werden soll.

Neulich hat einmal jemand nach einem Vortrag gesagt, ein sehr gescheiter Mensch hätte sich darüber aufgehalten, daß man so nach äußeren Dingen strebe; das habe sich ihm daran gezeigt, wie die Sache aufgefaßt wird; so zum Beispiel, daß die inneren Säulen von verschie­denen Hölzern sind. Das sei doch eine solche Äußerlichkeit, da ar­beite man mit ungeheuren Äußerlichkeiten. - Sehen Sie, der gescheite Mann kann nicht begreifen, daß die Säulen von verschiedenem Holz sein sollen. Aber der wirkliche Grund, warum er das nicht begreifen kann, ist der, daß er nicht nachdenkt darüber, was er zu denken hätte, wenn ihn jemand fragen würde: Wozu ist es notwendig, daß auf der Violine verschiedene Saiten sind? Man könnte ja bloß vier A-Saiten aufspannen! - Es handelt sich eben um Realitäten auch hei den ver­schiedenartigen Holzverwendungen. Sowenig wie auf einer Violine nur A-Saiten sein können, sowenig können wir nur eine Holzart haben. Das hängt mit realen inneren Notwendigkeiten zusammen.

Man kann von diesen Dingen immer nur bloß Einzelheiten andeu­ten. So ist es zum Beispiel etwas ungeheuer Weises und etwas zugleich

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recht Intimes, was der ganzen Auffassung unseres Baues zugrunde liegt und im Bau zum Ausdruck kommen muß: es kommen selbstver­ständlich lauter Formen zum Ausdruck, die es in der äußeren physi­schen Welt gar nicht gibt. Wenn sich etwas an einer Form mit etwas im tierischen oder menschlichen Leibe vergleichen läßt, so beruht das darauf, daß die höheren Geister, die in der Natur formen, nach diesen Kräften schaffen, so daß die Natur dasselbe ausdrückt, was wir aus­drücken hier an diesem Bau. Aber nicht um Nachahmung der Natur handelt es sich, sondern um den Ausdruck dessen, was wirklich als reine ätherische Form vorhanden ist, wie wenn etwa der Mensch sich sagt: Wie muß ich mich selber vorstellen, wenn ich jetzt absehen will von der äußeren Sinnenwelt, wenn ich eine Umgebung haben will, die mir in Formen ausdrücken soll mein Inneres?

Ich bin mir klar darüber, daß die plastischen Formen, die an den Säulenkapitälen und im weiteren Innenraum zum Ausdruck kom­men, mancher kritisch anschauen wird, jedoch keine einzige dieser Formen ist ohne Begründung. Derjenige, der hier unten (es wird ge­zeigt auf ein Säulenmotiv) die Säule an dieser Seite mit Schlegel und Grabmeißel haut, der wird hier (an anderer Stelle) auch so hauen, daß er hier höher haut und hier tiefer. Ganz unsinnig wäre es, hier Sym­metrie zu verlangen. Nicht Symmetrie, sondem lebendiger Fort­schritt soll drinnen sein. Im Grunde genommen folgt aus der Tatsa­che, daß wir die zwei runden Bauten mit den zwei unvollkommenen Kuppeln haben, des Zusammenschließens eines größeren und eines kleineren Rundbaues mit Kuppel, auch alles in der inneren Ausklei-dung mit Säulen und Architraven. Und ich kann das nicht deutlicher aussprechen als indem ich sage: wenn nur der Radius der kleineren Kuppel um ein weniges größer oder kleiner wäre im Verhältnis zur größeren Kuppel, so müßten diese Formen, diese einzelnen Formen ganz anders sein, als sie hier aussehen; geradeso wie der kleine Fin­ger eines Knirpses anders aussieht als der eines riesig gewachsenen Menschen.

Nicht nur die Größenunterschiede, sondern auch die Formunter­schiede waren es, die, während wir die Formen zu entwickeln hatten,

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das ungeheure Verantwortungsgefühl hervorbrachten, daß tatsäch­lich bis in die Einzelheiten hinein alles so sein muß, wie es ist; genauso wie das einzelne Glied des lebendigen Organismus im lebendigen Or­ganismus drinnen stehen muß und wie niemand sagen könnte: Ich möchte die menschliche Nase umformen, ich möchte da, wo jetzt die Nase ist, ein anderes Organ anbringen. - Sie würden sagen: Das hat keinen Sinn. - Aber es ist so: Die große Zehe müßte anders sein und die kleine auch, wenn die Nase anders wäre. Wie niemand die Nase umformen will, der bei gesunder Vernunft ist, so kann hier niemand irgendeine andere Form bilden als die, die hier ist. Wäre diese Form anders, so müßte der ganze Bau anders sein, denn das Ganze ist organisch lebendig gedacht in seinen Formen.

Darin besteht allerdings der Fortschritt, meine lieben Freunde, der zu machen ist, daß dasjenige, was in Urzeiten der Kunst gleichsam wie ein gedankenloses Wahrnehmen der menschlichen Geste emp­funden worden ist und dann umgesetzt wurde in künstlerische For­men, daß das nunmehr wirklich bewußt in das menschliche Fühlen hereintritt, so daß wir jetzt in den Innendekorationen wirklich leben­dige Ätherformen haben und wir empfinden: dasjenige, was leben soll in solchem Raume, muß wirklich hier sich so abdrücken. Wahr­haftig, es kann nicht anders sein.

Sehen Sie, in den letzten Tagen hat mir zweimal ein Mann geschrie­ben, der jetzt nicht mehr unserer antliroposophischen Bewegung an­gehört, der zwar früher mit uns verbunden war, aber seit zehn Jahren nicht mehr zu uns gehört. Er hat mir geschrieben, warum er nicht die Fenster machen dürfe, er könnte so etwas außerordentlich gut ma­chen. Und er wurde wirklich recht zudringlich. Aber wenn Sie die Fenster einmal sehen werden, werden Sie einsehen, daß niemand die Fenster machen kann, der nicht bis zum letzten Augenblick, bis zum heutigen Tage mit uns gelebt hat. So wie sich in einer weichen Ton-masse nichts anderes abdrücken kann als meine Hand, wenn ich sie hineindrücke - wie das nicht ein Ochsenkopf sein kann-, so muß sich abdrücken in der Innendekoration dasjenige, was unsere Geisteswis­senschaft ist, und so muß diese Geisteswissenschaft durch die Fenster

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hereinlassen das Sonnenlicht in solcher Weise, wie es dieser Geistes­wissenschaft angemessen ist. Der ganze Bau ist wirklich - verzeihen Sie diesen trivialen Vergleich - nach dem Prinzip des Gugelhupfes, des Napfkuchens gebildet, aber so, daß nicht ein Kuchen sich darin bildet, sondern Geisteswissenschaft ihn erfüllt mit all ihrem Heiligen und ihrem Hehren, das uns beseelt. So war es immer wirklich in der Kunst. So war es dazumal, als die Menschen empfunden haben in ihrem dumpfen, mystischen, menschlichen Gefühl die Abwechslung von Erden- und Sonnenprinzip im lebendigen Tanz, beim ornamentalen Darstellen dieses Tanzes im Palmettenmotiv. So ist es auch da, wo durchdrungen werden muß die äußere sinnliche Hülle von Natur-und Menschensein, und wo gerade - wenn wir so glücklich sind, den Bau ausführen zu können - verschiedenes, was hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren ist, in den Formen zum Ausdruck kom­men soll. Wie das innere Fortschreiten Bezug hat zu den Sympto­men, die von Evolution zu Evolution gehen, das wird sowohl an die­sen Maßverhältnissen als an den Formen oder am Zeichnerischen und Malerischen an diesem Bau wahrgenommen werden können.

Ich möchte sagen, deshalb wollte ich diese Betrachtung vor Ihnen anstellen, damit Sie sich nicht verleiten lassen sollen durch das, was moderne Kunstauffassung hervorgebracht hat. Sie hat von dem wirk­lichen Verständnis einen «Korb bekommen. Das druckt sich in schöner Weise darin aus, daß man glaubt, daß das korinthische Säulen­kapitäl ein von Bärenklaublättern umgebenes Körbchen sein soll. In Wahrheit ist aber etwas tief aus der Menschheitsentwickelung Ent­sprossenes im korinthischen Säulenkapitäl zum Ausdruck gekommen. So wird man in dem, was uns da umgibt, zum Ausdruck gekommen fühlen etwas, was da lebt in den Tiefen der menschlichen Natur, die hinter den Erlebnissen und Tatsachen des physischen Planes liegen.

Nur über diesen Punkt unseres Baues und im Zusammenhang damit über ein Kapitel der Kunstgeschichte wollte ich heute zu Ihnen sprechen, meine lieben Freunde.

Vielleicht bietet sich weiterhin Gelegenheit in den kommenden Wochen, über ähnliche Dinge in Anknüpfung an dieses oder jenes

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Motiv unseres Baues in solcher Weise zu Ihnen zu sprechen. Ich werde jede sich bietende Zeit benutzen, jede mögliche Gelegenheit ergreifen, die sich bieten kann, um durch solche Betrachtungen näher zu kommen dem, was wirklich als Kompliziertes, aber durchaus gei­stig Natürliches und Notwendiges unsern Bauformen zugrunde liegt.

In unserer Zeit ist es ja gar nicht leicht, über Kunstprobleme zu

sprechen, da wirklich der Naturalismus, das Imitationsprinzip mit aller Kraft die Kunst beherrscht. Für die Künstler selbst ist der Na­turalismus aus etwas höchst Einfachem gekommen - für die Künstler selbst -, für die anderen Menschen allerdings aus etwas weniger Ein­fachem. Der Künstler muß selbstverständlich, wenn er lernt, die Vor-lagen seines Meisters nachbilden; er muß nachbilden, um etwas zu lernen. Und aus einem Instinktiven heraus - indem man das Schüler-prinzip zum Meisterprinzip erhoben hat und den Meister beseitigt hat, weil man keine Autorität haben will - macht man das Schüler-prinzip zum Meisterprinzip und imitiert die Natur. Für die Künstler ist das sehr bequem, weil die Künstler nicht weiter kommen wollen als bis zur künstlichen Nachahmung dessen, was ihnen ein Vorbild ist. Für den Laien liegt heute das Naturalistische noch viel näher.

Wo soll denn der Laie eigentlich einen Anhaltspunkt haben, was soll er denn um Gottes willen machen für seine naturalistische Beur­teilung, um etwas denken zu können, wenn er solche Formen sieht? Hier wird er gezwungen sein, wenn er lauter solche Sachen sieht, sich an den Kopf zu greifen; er muß mit der Schulter zucken. Was ist denn das? - wird er fragen. Er wird schon froh sein, wenn er irgendwo wenigstens einen Anhaltspunkt hat. Wenn er zum Beispiel findet: Ein bißchen sieht das hier schon einer Nase ähnlich, wenn auch negativ, -so ist er doch froh, wenigstens einen geringen Anhaltspunkt zu ha­ben. Der Laie ist heute, wo ihm das fehlt in den verschiedensten Kün­sten, was hinter dem bloß Natürlichen liegt, unendlich froh, wenn er sagen kann: das sieht dem oder jenem ähnlich; ungeheuer froh ist er dann über das, was er da oder dort erkennt. Warum sollte es dann nicht auch zu der künstlerischen Verwirrung kommen können, das­jenige darzustellen, was nur einem Äußerlichen ähnlich schaut? Aber

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das wirklich Künstlerische schaut nicht einem andern ähnlich, son-dern ist für sich selber etwas.

Und wiederum war es von diesem Gesichtspunkte aus, ich möchte

sagen, zum Verzweifeln, als auch die künstlerische Praktik heraufkam infolge der materiahstisch-künstlerischen Auffassung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, daß unsere Maler, von den Bildhau­ern gar nicht zu reden, sich eigentlich nur die Aufgabe stellten: wie kriege ich das heraus, was zum Beispiel dort als Dunstmasse in der Ferne erscheint?, als man die verschiedensten Versuche machte, her­auszukriegen in reiner Imitation, was in der Natur gegeben ist. Es war zum Verzweifeln. Es kamen geniale Sachen zustande, aber wozu denn das alles wirklich? Es ist ja in der Natur trotzdem viel besser da. Die Künstler haben in diesem Bestreben, nachzuahmen, verspielt; es ist wirklich in der Natur besser da. Die Antwort darauf ist in dem Vor­spiel zur «Pforte der Einweihung» zu finden.

Wir gingen kürzlich in Paris durch die Ausstellung des Luxem­bourg. Da stand etwas. Ja, es war zunächst recht, recht schwer zu entziffern, was das eigentlich war. Aber man konnte allmählich da­hinter kommen: es soll doch vielleicht eine menschliche Gestalt vor­stellen. Aber nun war diese Gestalt in sich so verrenkt - ich werde es nicht nachmachen, da man sich zu sehr anstrengen müßte, um die Schulter nicht mehr vom Knie unterscheiden zu können. Das Ding ist recht häßlich, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, selbst in dem Falle, wenn es einem in der Natur entgegentreten würde, würde es in der Natur noch leichter verständlich sein als in diesem Kunst­werk». Es ist heute so, wie wenn man wirklich keine Ahnung davon hätte, [was plastisch dargestellt werden kann]; daß zum Beispiel ir­gendein Motiv, das man sich ausdenkt, ganz unsinnigerweise nun pla­stisch dargestellt wird, während gar keine Notwendigkeit da ist, das Motiv plastisch darzustellen. Was plastisch dargestellt werden soll, das muß von Anfang an in der Plastik drinnen gedacht sein und nur plastisch gedacht sein. So wird kein wirklicher Plastiker im künstle­rischen Sinne zahlreiche von den Dingen, die Rodin gemacht hat, der Plastik zurechnen. Rodin ist ein Bildner von nicht plastischen Motiven,

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die er äußerlich genial macht, aber die Frage muß jedem künstle­rischen Empfinden kommen: wozu das Ganze? - denn es ist nicht plastisch gedacht.

Das hängt alles zusammen, meine lieben Freunde [mit der allgemei­nen materialistisch-naturalistischen Kunstauffassung Erinnern Sie sich an dasl, was ich erzählt habe aus der Zeit als ich noch jung war. Ich war wirklich noch ein sehr junger Dachs, als ich den Semperismus aufzunehmen hatte, ich war höchstens 24 oder 25 Jahre alt. Aber es war dazumal schon so, daß es einen zur Verzweiflung bringen konnte, und das ist auch heute noch nicht ausgelöscht.

Daher bitte ich Sie, versuchen Sie immer wieder und wiederum, zuwege zu bringen - gerade diejenigen, die so hingebungsvoll, so opfervoll arbeiten an dem Bau, der so viel Opferwilligkeit unserer Freunde fordert -, auszugehen bei aller Formung von innerlicher Empfindung, von innerlichem Nachfühlen dessen, was da werden soll, und wirklich im Leben mitzuempfinden die Formen, die entste­hen sollen, um uns frei zu machen von vielem, was man in der Gegen­wart Kunst nennt. Dann wird vielleicht auch dasjenige als etwas Fruchtbares sich uns ergeben, daß wir in einem neuen Sinne wissen werden: Das ist Kunst, was in der Entstehung der Kunst aus den Tie­fen der menschlichen Wesenheit herausgeboren ist, was man in unse­rer Zeit so mißverstehen kann, daß man das umgewandelte Erden­Sonnenprinzip als Nachbildung des Bärenklaublattes aufgefaßt hat. Wenn sich die Leute einmal herbeilassen werden, nicht zu glauben, daß die Anekdote des Vitruv darauf beruht, daß Kallimachos ein Körbchen gesehen habe und ringsherum Akanthus blätter, und daß er das, was er sah, an die Säule geklebt hat, sondern wenn man hinhor­chen wird, wie Vitruv erzählt, daß Kallimachos das als Gesicht gehabt hat auf dem Grabe eines korinthischen Mädchens, dann wird man auch glauben können, daß er das hellseherisch gesehen hat, dann wird man auch zu besserem Verständnis der Kunstentwickelung kommen. Dann wird man einsehen, daß uns hellseherische Entwickelung hin-aufführt in das Gebiet, das hinter dem sinnlichen Gebiete liegt. Und dann wird man auch sehen, daß das göttliche Kind der hellseherischen

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Anschauung - wenn auch nur unbewußt in der Seele als Empfindung getragen - die Kunst ist, und daß diejenigen Gebilde, welche mit dem bellseherischen Auge in den höheren Welten geschaut werden, gleich­sam die Schattenbilder herunterwerfen auf den physischen Plan.

Und wenn man an unserem Bau wird erfassen wollen dasjenige, was im Geiste lebt, und was die Kraft hat, daß es sich eindrückt dem, was uns als Hülle umgibt in unserem Bau, wenn man das sehen wird in dem, was ausgedrückt ist rund um uns herum in den äußeren Hül­len, dann wird man verstehen, was wir wollen, denn man wird in den Formen, die als künstlerische, ich möchte sagen, Eindrucksformen uns da umgeben, den Abdruck dessen sehen, was in lebendigen Wor­ten getan, gesagt, gewirkt werden soll in unserem Bau. Ein lebendiges Wort ist es - ist unser Bau!

Habe ich so versucht, etwas, wenn auch nur spärlich, anzudeuten und über das Innere zu sagen, so werden wir demnächst auch etwas andeutend geben können über das Malerische und das Äußere.

DER DORNACHER BAU - EIN HAUS DER SPRACHF Zur Einweihung des Künstlerateliers Zweiter Vortrag, Dornach, 17. Juni 1914

#G286-1992-SE112 Wege zu einem neuen Baustil

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DER DORNACHER BAU - EIN HAUS DER SPRACHF

Zur Einweihung des Künstlerateliers

Zweiter Vortrag, Dornach, 17. Juni 1914

#TX

Meine lieben Freunde! Mehr noch als das letzte Mal, als ich am Bau-platz zu Ihnen sprechen durfte, mahnt mich die heutige Gelegenheit an das Wort und an die Empfindung, die ich schon dazumal ausge­sprochen habe, an die Empfindung, die wir diesem unserer geistes-wissenschaftlichen Sache gewidmetem Bau gegenüber haben müssen: die Empfindung der großen Verantwortung gegenüber dem, was die Freunde unserer anthroposophischen Sache nach den großen Opfern, die sie für diese gebracht haben, von uns fordern dürfen. Heute - da wir gewissermaßen den ersten Teil unserer Baulichkeiten seinem Zwecke übergeben - ist ja die beste Gelegenheit, um an diese Verant­wortung erinnert zu werden, erinnert zu werden durch eine Betrach­tung, die uns herauserwachsen kann aus den Aufgaben, die uns ge­stellt sind, und aus den Zielen, die wir verfolgen können.

Meine lieben Freunde, indem wir uns sozusagen in diesen Räum­lichkeiten hier fühlen, die als ihren nächsten Zweck den haben, für unseren Bau die Glasfenster zu liefern, darf und muß uns eigentlich der Gedanke bewegen, wie wir dem, was wir mit diesen Baulichkeiten zu leisten haben, eigentlich mit unserem menschlichen Können, mit dem, was wir vermögen, doch nicht gewachsen sind. Und ich glaube, daß es eine gute, eine heilsame Empfindung ist, wenn wir die Empfin­dung des Nichtgewachsenseins durch alle unsere Arbeit weiter fort-tragen werden. Denn nur so werden wir dasjenige erreichen, was so­zusagen das Möglichste von uns zu Erreichende ist. Wir werden die Anfänge einer künstlerischen Umhüllung unserer geisteswissen­schaftlichen Arbeit in der Weise zu Ende führen, wie es in unserer Zeit und mit unseren Mitteln möglich ist, wenn wir eben immer das Gefühl haben: der eigentlichen Aufgabe sind wir dabei doch wirklich recht wenig gewachsen. Jedesmal, wenn wir unseren Bauplatz betre­ten, fühlen wir uns, ich möchte sagen, ganz wie umgeben von dem

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Fluidum, das uns überall einflößt: Tue dein Möglichstes, wozu deine Kräfte und dein Können ausreichen, denn in bezug auf das, was ge­leistet werden soll, kannst du nicht genug tun; und tust du dein Möglichstes, so ist es eben noch lange, lange nicht genug. -

Etwas, wie ein unbestimmtes Gefühl, wie eine unbestimmte Ahnung, daß uns eine große Aufgabe umschwebt, sollte uns beim Betreten dieses Bauplatzes beseelen. Und in diesem Augenblick, meine lieben Freunde, darf uns insbesondere diese Empfindung durchseelen, in diesem Augenblick, da wir diesen Nebenbau unseres Hauptbaues zunächst der Seele unseres lieben Freundes Rychter und den Seelen seiner Genossen übergeben, auf daß zunächst hier dasje­nige Künstlerische geschaffen werde, das in der besten Weise dazu dienen kann, ein organisches Glied zu sein an dem ganzen Organis­mus unseres Baues.

Wenn wir hier durch dieses Tor in diesen Raum hineintreten, wer­den wir da nicht das Gefühl haben: Ach, ist es denn nicht doch eigent­lich eine Gnade, Gelegenheit zu haben, als ein einzelner Mensch in unserer Gegenwart an solchem Werke, wie die Glasfenster es sind, mitarbeiten zu dürfen? - Und wenn wir die Aufgabe bedenken, die gerade die Fenster an u'iserem Bau haben werden, so wird uns das bedeutungsvolle Geistige, von dem man wünschen möchte, daß es immer mehr raunen und rauschen möge wie Wellen heilsamer Gei­stigkeit durch diese Räume, so recht, ich möchte sagen, seelisch-milde umwehen.

Wir werden ja, wenn dieser Bau fertig sein wird, vielleicht oftmals sogar ein bedrückendes Gefühl haben, das man vielleicht in die Worte kleiden kann: Wie notwendig, ach, wie notwendig ist es, über alles Persönliche hinauszuwachsen, wenn es einen Sinn haben soll, For­men, wie die hier gemeinten, als Umrahmung für unsere geisteswis­senschaftliche Sache zu haben. - Und das ist in gewisser Beziehung wiederum das Befriedigende an diesem Bau. Und unsere lieben Ar­chitekten, Ingenieure und die gesamten Mitglieder, die an dem Bau arbeiten, werden wohl gekräftigt werden können von diesem befrie­digenden Gefühl, daß neben all den Sorgen und Mühen, die der Bau

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doch macht, dieser Bau für uns selber ein schönes, herrliches Erzie­hungsmittel werden kann; ein Erziehungsmirtel über alles Persön­liche hinaus. Denn wahrlich, es erfordert mehr, meine lieben Freunde, als die Darlebung eines persönlichen Gefühles. Indem wir an die Aufgaben herantreten, die einzelnen Formen durchdenken, durchfühlen, durchempfinden, fühlen wir gewissermaßen immer neue Aufgaben, von denen wir vorher keine Ahnung hatten. Wir füh­len, daß da etwas Geheimnisvolles um uns waltet, das uns abfordert, die besten Kräfte unserer Seele, unseres Herzens, unseres Verstandes zu Hilfe zu nehmen, um etwas zu schaffen, was weit, weit über unsere Persönlichkeit hinauswächst. Aufgaben uns stellen zu lassen durch das, was jeden Tag um uns herum entsteht, dazu kann dieser Bau uns erziehen. Dann legt er uns nahe die Empfindung, die sich mit so heili­gen Tönen eingraben kann in die menschliche Seele, die Empfindung:

Oh, um wieviel größer sind doch die Weltenmöglichkeiten als wir kleine Menschen, und um wieviel größer muß dasjenige werden, was als unser Bestes aus unserem Wesen herauswachsen kann, wenn es gewachsen sein soll unserer Aufgabe gegenüber der objektiven Welt; um wieviel größer muß das sein als dasjenige, was wir umfassen und umschließen können im Rahmen unseres persönlichen Selbstes!

Dazu kann uns der Bau und auch dasjenige Gebäude, das wir jetzt als eine erste Fortsetzung des Hauptbaues eröffnen dürfen, ein Erzie­hungsmittel sein. Je mehr dieser Bau ein Erzieher für uns sein kann, desto mehr werden wir ein richtiges Verhältnis zu ihm gewinnen. Schon jetzt, wenn man den unfertigen Bau betritt, insbesondere auch, wenn man diese Räume betritt, die in gewisser Beziehung die Fortset­zung des Hauptbaues darstellen, muß man oftmals denken: Mit wel­chen Gefühlen werden wir in diesen Bau hineingehen? Werden wir nicht oftmals von dem Gefühl beschlichen werden: Ach, könntest du doch alle, alle Menschen in solche Räume hineinführen! Verdienst du es denn, das, was du als dein Heiligstes erstrebst, von solcher Umhül­lung umhüllt zu haben, da du doch etwas geschaffen hast in dieser Umhüllung, wovon du andere Menschen ausschließest? Möchtest du nicht am liebsten alle, alle Menschen hineinführen? - Insbesondere

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möchten wir zweifellos alle die Menschen hineinführen, denen die Aufgabe zukommen wird, solche Bauten wie diesen, wenn er Nach­ahmer, wenn er Nachfolger finden soll, für die Menschheit zu er­bauen.

Ich möchte dies an irgend etwas anknüpfen, meine lieben Freunde. Ich will an etwas gerade Naheliegendes anknüpfen. Ich denke zum Beispiel an manche Gebäude, die jetzt aufgeführt worden sind in un­serer Zeit mit genialen Architektenkräften und die, obwohl sie keinen neuen Stil bringen und nicht von neuen Geistesfunken durchsät sind, doch geniale architektonische Schöpfungen sind. Aber ein gemeinsa­mes Kennzeichen tragen sie alle: Man kann sie bewundern von außen, wenn man sie betrachtet, man kann in sie hineingehen und kann sie bewundern von innen, aber so umschlossen, wie man sich umschlos­sen fühlt von seinen Sinnesorganen, so fühlt man sich in diesen Bau­lichkeiten nicht. Warum fühlt man sich so nicht? Man fühlt sich in ihnen nicht so, weil sie stumm sind, weil sie nicht sprechen, meine lieben Freunde. Und diesen Ausspruch möchte ich Ihnen am heutigen Abend erhärten.

Nehmen wir Gebäude, die gerade so recht im Sinn unserer Zeit heute ausgeprägt werden. Überall fühlen wir, daß die Menschen hin­ein- und hinausgehen, ohne bei diesem Hineingehen zusammenzu-wachsen mit der Architektur, mit den Formen, mit dem ganzen Künstlerischen des Baues. Und überall fühlen wir, daß dasjenige, was gesprochen werden soll durch die künsderischen Formen, heute not­wendig ist, der Menschheit auf andere Weise übermittelt zu werden. Immer mehr und mehr wächst unter der Menschheit der Gegenwart das Bedürfnis, durch äußere Gesetze, durch äußere Verordnungen und Veranstaltungen, die mit dem Wort Deltret bezeichnet werden, Ordnung und Sicherheit, Frieden und Harmonie zu schaffen. Daran soll mit keiner Silbe, nicht einmal mit einer Meinung Kritik geübt werden, denn das ist das Selbstverständliche in unserer Zeit. Aber es soll dazu kommen dasjenige, was in einer anderen Art die Fortent­wickelung der Menschheit bedeutet. Vielleicht wird noch nicht mit unserem Bau schon alles das erreicht werden, weil wir eigentlich nur

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die ersten primitiven Anfänge aufrichten können. Aber wenn in der Menschheitskultur dasjenige einmal zur Ausbildung kommt, was in­tendiert wird mit diesem Bau, wenn dasjenige, was wir wollen, wirk­lich erreicht sein wird, werden wir die uns von den Göttern gestellte Aufgabe erfüllen. Wenn die Ideen zu solchen Kunstwerken einmal in der Kultur Nachfolger finden werden, dann werden die Menschen, die durch die Pforten solcher Kunstwerke gehen und sich beeindruk­ken lassen von dem, was in diesen Kunstformen spricht, wenn sie gelernt haben, die Sprache dieser Kunstwerke mit dem Herzen, nicht nur mit dem Verstande zu verstehen, dann werden diese Menschen ihren Mitmenschen nicht mehr Unrecht tun, denn sie werden von den künstlerischen Formen Liebe lernen; sie werden lernen, in Harmonie und Frieden mit ihren Mitmenschen zusammenzuleben. Friede und Harmonie wird sich ergießen in die Herzen durch diese Formen. Ge­setzgeber werden solche Bauten sein. Und dasjenige, was nicht errei­chen können äußerliche Veranstaltungen, das werden erreichen die Formen dieser unserer Gebäude!

Meine lieben Freunde, laßt noch so viel die Menschen nachsinnen, wie sie durch äußere Einrichtungen Verbrecherisches und Vergeheri­sches aus der Welt schaffen: wahre Heilung vom Bösen zum Guten wird in der Zukunft für die Menschenseelen darin liegen, daß die wahre Kunst jenes geistige Fluidum in die menschlichen Seelen und in die menschlichen Herzen senden wird, so daß diese Menschenseelen und -herzen - wenn sie das Fluidum auf sich wirken lassen von dem, was geworden ist in architektonischer Skulptur und anderen Formen

- dann, wenn sie lügnerisch veranlagt sind, aufhören zu lügen; daß, wenn sie friedensstörerisch veranlagt sind, aufhören, den Frieden ihrer Mitmenschen zu stören. Baulichkeiten werden zu sprechen beginnen. Eine Sprache werden sie sprechen, die heute die Men­schen noch nicht einmal ahnen.

Heute versammeln sich die Menschen in Kongressen, um über den Weltfrieden zu verhandeln. Sie glauben, daß das, was von Mund zu Ohr geht, wirklich Friede und Harmonie schaffen könne. Aber Kon­gresse schaffen nicht Frieden und Harmonie. Friede, Harmonie,

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menschenwürdige Zustände werden erst erflleßen können, wenn die Görter zu uns sprechen werden. Wann werden die Götter zu uns sprechen?

Nun, wann spricht ein Mensch zu uns? Wenn er einen Kehlkopf hat. Niemals würde der Mensch zu uns sprechen können, wenn er keinen Kehlkopf hätte. Was die Götter der Natur dem Menschen mit seinem Kehlkopf gegeben haben, wir fügen es dem Weltenganzen ein, wenn wir die rechten künstlerischen Formen finden; die sind dann das, wodurch die Götter zu uns sprechen. Nur müssen wir verstehen, wie wir uns hineinzufügen haben in den großen Zusammenhang des hiermit Angedeuteten. Freilich wird uns dann umsomehr das Gefühl beschleichen: Ach, wie wird es uns nur möglich werden, alle Men­schen durch diese Tore hineinzuführen! Und wie wird uns aus diesem Wunsche, da wir ihn jetzt noch nicht erfüllen können, die Sehnsucht erwachsen, so für unsere geistige Strömung zu wirken, daß die Mög­lichkeit hierzu immer mehr herbeigeführt werden könne.

Meine lieben Freunde, Kunst ist die Herbeiführung der Organe, auf daß durch sie die Götter zu den Menschen sprechen können. Aus diesem Kapitel habe ich schon manches angedeutet; ich habe in frühe­ren Zeiten schon darauf hingewiesen, wie der griechische Tempel in seinen Formen ganz erbaut war so, daß er eine Wohnung des Gottes darstellte. Ich möchte heute noch etwas hinzufügen.

Versuchen wir die Form, gewissermaßen die Grundform des grie­chischen baukünstlerischen Systems zu empfinden. Da werden wir sehen, daß gerade dasjenige, was aus der griechischen Empfindung eingeflossen ist in das baukünstlerische System, uns so recht zeigt, wie dieses Eingeflossene ganz aus dem Sinn und der Bedeutung der vier­ten nachatlantischen Epoche herausgeflossen ist. Worauf beruht denn die griechische Empfindung? Worauf beruht sie denn? Gewiß, es ist viel über sie zu sagen; ein einzelnes charakteristisches Moment möchte ich nur hervorheben.

Wir haben hier [es wird zu zeichnen begonnen] die Wandumrah­mung des griechischen Tempels, darauf lastend die Horizontale, und wenn etwas über die Horizontale hinausgeht, dieses so zusammengefügt,

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daß die Kraft selber es zusammenhält, daß sich die Kräfte gegen­seitig stützen, so wie wir, wenn wir bauen, zwei Balken in dieser Weise zusammenlegen.

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Was ist die Voraussetzung des Empfindens gegenüber diesem Sy­stem? Die Voraussetzung ist, daß da unten [es wird der Pfeil gezeich­net] die Erde mit ihrer Schwerkraft empfunden wird. Das ist die Voraussetzung dieses Empfindens. Und verwandeln wir jetzt dieses Empfinden in ein, ich möchte sagen, anschauliches Wort, so können wir sagen: In der vierten nachatlantischen Kulturperiode wurde emp­funden, wie der Gott den Menschen den Erdenschauplatz geschenkt hat, wie die göttliche Kraft überfließt in die menschliche künstlerische Tätigkeit, so daß mit den Kräften, die die Götter mit der Erde dem Menschen gegeben haben, die Schwerkraft zu überwinden ist. Das wird dadurch ausgedrückt, daß man dem Gott, der dem Menschen die Erde gegeben hat, durch die Systematisierung der Schwerkraft Wohnung schafft.

Diese Wohnung des Gottes ist nicht zu denken ohne das griechi­sche Territorium; oder auch die späteren römischen Tempel sind nicht zu denken ohne das umliegende Territorium. Das gehört dazu.

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Ich habe schon einmal betont: Ein griechischer Tempel ist fertig abge­schlossen für sich, auch wenn keine Menschen drinnen sind. Denn er ist gedacht als die Wohnung des Gottes, der etwa seine Bildsäule darin hat. Und die Menschen mögen weitherum wohnen in der Gegend, im Territorium, und wenn auch niemand den Tempel betritt sozusagen, das Ganze ist fertig, denn es steht darin in der Gegend als das Wohn­haus des Gottes. Und selbst als der Tempel schließlich dann die schmückenden Formen annimmt, sehen wir sozusagen noch in allen Einzelheiten dieser Formen, wie der Mensch dasjenige, was er aus seiner Verehrung für die Götter tun zu müssen glaubt, an diesen Göt­terwohnhäusern anbringt. Erinnern Sie sich, wie, als ich das letzte Mal zu Ihnen sprach, ich zu zeigen versuchte, wie das Kapitälmotiv hervorging aus dem Tanzmotiv, aus dem Tanzmotiv jenes Tanzes, der getanzt worden ist, um die Götter der Natur zu verehren. So bringt der Mensch erst im Bilde, später in der Plastik, in dem griechischen Kapitäl, an dem Wohnhaus des Gottes zunächst dasjenige an, was er sich selber vorstellt, als mit sich verlebendigt, zum Ruhm und zur Verehrung der Götter.

Und gehen wir jetzt gleich, indem wir einiges überspringen, zu den Formen der christlichen Baukunst, der ersten christlichen Baukunst über. Ein Gedanke vor allen Dingen muß uns da in die Empfindung treten, wenn wir vorschreiten vom griechischen Tempel zu der christ­lichen Kirche.

Der griechische Tempel steht im Territorium drin, er gehört zum Territorium dazu. Die Menschen sind nicht im Tempel;. draußen um den Tempel herum wohnen sie. Der Tempel gehört dem Lande, er ist als das Heiligtum des Landes gedacht. Er heiligt seinerseits alle, auch die alleralltäglichsten Beschäftigungen der Menschen im Lande um­her. Erdendienst wird dadurch zum Gottesdienst, daß der Gott in seinem Wohnhaus steht oder sitzt als Herrscher und teilnimmt an der Landarbeit und dem Gewerbe der umherwohnenden Menschen. Und mit dem Gotte vereint fühlt sich der Mensch, indem er seine Verrich­tungen im Lande herum treibt. Man möchte sagen: Gottesdienst ist vom Erdendienst noch nicht getrennt. Es wächst noch aus dem

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Menschlichen, manchmal Allzumenschlichen heraus der Tempel als dasjenige, was teilnimmt an demjenigen, was heilvoll oder unlieilvoll ringsherum vorgeht. «Erde, sei fest!», das ist die Gesinnung während des vierten nachatlantischen Zeitraumes, da die Menschen noch ver­wachsen sind mit der Erde, die ihnen von den Göttern übergeben ist, da das Ich des Menschen noch wie in einem Traumbewußtsein schlummert, wo der Mensch noch wie im Zusammenhang sich fühlt mit dem Gruppen-Ich der ganzen Menschheit. Dann wächst der Mensch heraus aus diesem seinem Gruppen-Ich, er wird immer indi­vidueller und individueller, und er nimmt den Dienst, den er seinem Geistigen leistet, heraus aus dem Territorium, er sondert ihn ab von dem Leben des Alltags.

In der ersten christlichen Zeit fühlt der Mensch nicht mehr so, wie er in der griechischen Zeit gefühlt hat. Hatte der Grieche, der auf seinem Felde sät, in seinem Gewerbe arbeitet, die sichere Empfindung in seiner Seele: Da steht der Tempel, darin wohnt der Gott, ich bin in seiner Nähe, ich kann hier an dem Orte bleiben, kann hier mein Ge­werbe, meine Landarbeit verrichten, der Gott wohnt in dem Tempel -so wird nun der Mensch individueller, ein stärkeres Ichgefühl tritt in ihm auf. Damit sondert sich heraus dasjenige, was durch die althebrä­ische Zeit lange, lange Zeit hindurch vorbereitet worden und im Chri­stentum besonders herausgekommen ist. Damit sondert sich heraus aus der menschlichen Seele das Bedürfnis, den Dienst, den man dem Gotte darbringt, aus dem Alltag herauszugliedern, abzusondern. Die christliche Kirche entsteht, indem man den Bau aus dem Territorium herausnimmt. Das Territorium wird selbständig, und der Bau wird selbständig darin, er wird ein Territorium für sich. Während, ich möchte sagen, der griechische Tempel noch ein Altar war für das ganze Land, wird jetzt durch die Wände der Kirche das Land von dieser abgeschlossen. Es wird ein abgeschlossener Raum hergestellt, in dem sich diejenigen, die den Dienst verrichten, absondern. Die Formen der christlichen Kirche, die Formen auch der romanischen Baukunst gliedern sich nach und nach diesem individuellen Bedürfnis des Menschen für das Geistige ein, und wir verstehen diese Formen

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nur, wenn wir sie aus dieser Formulierung heraus betrachten: War der Grieche so hineingestellt in das ganze Erdendasein, daß er sich sagte: Ich kann hier bleiben bei meiner Herde, bei meinem Gewerbe, meiner Landarbeit, denn der Tempel steht dort wie ein Altar für das ganze Land und darin wohnt der Gott - so kam jetzt durch das Chri­stentum die andere Empfindung herauf, und es sagte sich der Mensch:

Ich muß mich absondern von meiner Arbeit, von meinem Gewerbe, denn in der Kirche da drinnen wird der Gott gesucht. - Individuali­siert wird, möchte ich sagen, Erdendienst und Himmelsdienst. Die Formen gleichen sich nach und nach dem Individualitätsbedürfnis der Menschen an, so daß die christliche Kirche immer mehr die Form annahm, die nicht mehr taugen würde für die griechisch-römische Baukunst, die Form, die schon in ihrer Formgestaltung zeigte, daß die Gemeinde hineingehört, daß sie umschließen soll die Gemeinde. Wie­derum abgesondert von der Gemeinde entstehen nach und nach die abgesonderten Gebäude für die Priesterschaft, für die Lehrerschaft. Man möchte sagen, eine abgesonderte Welt entsteht für diejenigen, die die geistige Welt suchen auf einem Territorium, das sie sich selber erst in Wände eingeschlossen haben. Das entsteht! Früher war esso, daß die ganze Erde so empfunden wurde von den Griechen und Römern, wie später die von Wänden umgebene christliche Kirche. Was der griechi­sche Tempel selber war, das wird jetzt zum Altargehäuse. Ein Abbild der Welt hatte man gesucht in den Formen der Kirche, während man früher die Welt selber nahm und ihr nur dasjenige gab, was sie nicht den äußeren Sinnen zeigte: das Wohnhaus des Gottes.

Und nun, meine lieben Freunde, ist im Grunde genommen die Gotik nur ein Seitenzweig desjenigen, was sich schon früher vorbereitete. Das wesentliche der Gotik besteht darin, daß der Wand abgenommen wird das Tragen und daß das Lastende auf die Pfeiler übertragen wird (siehe Zeichnung Seite 124).

Worauf aber geht diese ganze Konstruktion, daß die Lasten auf den Pfeilern ruhen, und daß man die Pfeiler so gestaltet, daß sie die Last aufnehmen können, zurück? Nun, das System des griechischen Tem­pels beruht auf einem ganz anderen Gedanken als das hier Aufgezeichnete.

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Beim griechischen Tempel ist es so, wie wenn der Mensch selber mit der Schwerkraft der Erde entstiegen wäre, im Erdreich die Schwerkraft kennengelernt hätte und nun, auf die Erde gestellt, die Schwerkraft benützt und zugleich überwindet. Das ist der griechische Tempel als Wohnhaus des Gottes. Wenn wir auf die tragenden Pfeiler der Gotik übergehen, so haben wir es nicht mehr mit der reinen Wir­kung der Schwerkraft zu tun, sondern hier arbeitet der Mensch; zum gotischen Bau ist es notwendig, daß herbeigebracht wird die Kunst des Handwerks, des höheren und des niedrigen Handwerks. Aus dem Bedürfnis, ein Territorium zu schaffen, welches die Gemeinde um­schließt, entsteht in der Gotik noch dazu das Bedürfnis, etwas zu schaffen, woran gleichsam die Kunst der Gemeinde teilnimmt, so daß man in den einzelnen Formen, man möchte sagen, fortgesetzt sieht dasjenige, was die Leute gelernt haben. Es strömt zusammen die Kunst der Handwerker, und wer die gotischen Formen studiert, der schaut diesen Formen ab die Kunst der Handwerker, die in der Stadt dazu beigesteuert haben, die zusammengearbeitet haben.

In den altromanischen Kirchen haben wir noch, daß das Gebäude die Gemeinde, nicht nur den Gott umfassen soll. In der gotischen Kirche haben wir das Gebäude, das die Gemeinde baut, den Gott zu umfassen, zu dem aber beigesteuert haben die Leute des Handwerks. Nicht nur gehen sie hinein in die Kirche, sondern sie arbeiten als Ge­meinde an dem Bau mit. Und diese Art Menschenarbeit fließt mit dem Göttlichen zusammen in der Gotik. Die Menschenseelen nehmen das

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Göttliche entgegen nicht mehr als selbstverständlich; sie vereinigen sich nicht nur und lauschen dem vom Altar herabkommenden Worte des Geistes, sondern sie arbeiten auch zusammen und bringen das, was sie gelernt haben, ihrem Gotte entgegen. Ich möchte sagen: die gotischen Kirchen sind das kristalijsierte Handwerk.

Und nun kann man über dasjenige, was dann gekommen ist, da es im wesentlichen eine Erneuerung der klassischen Baukunst ist, leicht hinweggehen. Es ist nicht nötig, daß wir in diesem Zusammenhang über die Renaissance sprechen. Aber von dem, was das fünfte nach-atlantische Zeitalter von uns fordert, von dem wollen wir sprechen, meine lieben Freunde.

Sehen wir uns das Tragende und das Lastende am griechischen Tempel recht genau an. Verfolgen wir es selbst bis zum Punkte hin, wo es in der Gotik das kristallisierte Handwerk wird. Indem wir es durchfühlen, indem wir uns mit unserem künstlerischen Empfinden hineinversetzen, müssen wir dem anfühlen: Der griechische Tempel ist etwas in sich selber mit den irdischen Kräften Ruhendes. Darauf kommt es im Grunde an, daß alle diese Bauwerke mit ihren Kräften etwas im Irdischen Ruhendes sind. Gerade beim griechischen Tempel zeigt es sich, wo Sie den Blick hinrichten, überall, möchte ich sagen, daß er auf die Schwerkraft, auf sein Zusammengewachsensein mit der Erde verweist. Am griechischen Tempel können wir überall etwas von der Schwerkraft studieren. Sein Zusammengewachsensein mit der Erde verrät er uns in seinen Formen.

Stellen Sie sich jetzt einmal - wir kommen auf diese Weise am schnellsten zum Ziel - dasjenige vor, in der Grundform möchte ich sagen, was jedem bei unserem Bau gleich von außen entgegentreten wird. Ich will ganz schematisch zeichnen (siehe Zeichnung Seite 126).

Was ist. das Charakteristische an diesem Motiv? Vergleichen Sie dieses Motiv mit dem des griechischen Tempels, dann werden Sie den Unterschied finden. Das griechische Motiv steht für sich da, es ist, wenn es zum Beispiel Wand ist, abgeschlossene Wand, die senkrecht herunterfällt. Dieses Motiv hier ist nicht nur Wand, sondern es hat nur einen Sinn, wenn die Wand lebendig wird, wenn sie nicht bloß

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Wand ist, sondern wenn sie aus sich die ganze Sache herauswachsen läßt. Die Wand ist nicht bloß Wand, sie ist lebendig. Wie der leben­dige Organismus Erhöhungen und Vertiefungen gegliedert aus sich herauswachsen läßt, so wachsen aus der Wand die Formen heraus und die Wand wird damit zu einem Lebendigen. Das ist der Unter­schied.

Stellen Sie sich den griechischen Tempel vor. Wenn da noch so viele Säulen davorstehen, so ist er doch durch die Schwerkraft dirigiert. Hier aber bei der neuen Zeichnung steht nicht bloß etwas vor uns als Wand, hier wachsen die Formen aus der Wand heraus. Das ist das Wesentliche, worauf es ankommt. Und wenn wir einmal im Innern unseres Gebäudes werden herumgehen können, dann werden wir viele plastische Formen finden: eine fortlaufende Reliefskulptur an den Kapitälen, den Sockeln, den Architraven. Welchen Sinn haben sie? Den Sinn haben sie, daß sie aus der Wand herauswachsen, ja, daß sie aus der Wand so herauswachsen, daß die Wand der Grund und Boden ist, ohne den sie nicht da sein könnten.

Nun, meine lieben Freunde, viel, viel solch Reliefartiges in Holz-schnitzerei wird sich finden in unserem Innenraum. Lauter Formen werden da zu finden sein, die nicht in der physischen Welt sonst vor­handen sind, die aber eine fortlaufende Entwickelung darstellen, wie

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wenn man mit einigen kräftigen Takten hinten zwischen den Saturn säulen beginnen würde und so symphonisch in Harmonie fortgehen würde, um mit einem Finale im Osten zu schließen. Aber Formen sind es, Formen, die ebensowenig in der äußeren physischen Wein vorhanden sind, wie Melodien äußerlich vorhanden sind. Diese For men sind lebendig gewordene Wände. Physische Wände werden nicht lebendig, aber Ätherwände, geistige Wände werden lebendig.

Ich müßte viel sprechen, wenn ich auseinandersetzen wollte, da im Grunde genommen die Reliefkunst erst dadurch ihren wirklichen Sinn erhält; aber ich will nur eine Andeutung machen von dem, was ich eigentlich meine. Ein sehr bedeutender Künstler der Gegenwart spricht über die Reliefkunst. Er spricht manches Gescheite darüber. Er spricht über seine Vorstellungsweise von der Reliefkunst. Da sagt er: «Um sich diese Vorstellungsweise recht deutlich zu machen, denke man sich zwei parallelstehende Glaswände und zwischen die­sen eine Figur» - im Durchschnitt also so etwa gezeichnet; hin­schauen würde man dann so in der Richtung des Pfeiles; durch die Glaswände hindurch können wir jetzt die Figur anschauen - «deren

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Stellung den Glaswänden parallel so angeordnet ist, daß ihre äußer -sten Punkte sie berühren. Alsdann nimmt die Figur einen Raum von gleichem Tiefenmaße in Anspruch und beschreibt denselben, indem ihre Glieder sich innerhalb desselben Tiefenmaßes anordnen. Auf

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diese Weise einigt sich die Figur, von vorn durch die Glaswand gese­hen, einerseits in einer einheitlichen Flächenschicht als kennt] liche s Gegenstandsbild - andererseits wird die Auffassung des Volumens der Figur, welches an sich ein kompliziertes wäre, durch die Auffas­sung eines so einfachen Volumens, wie es der Gesamtraum darstellt, den sie einnimmt, ungemein erleichtert. Die Figur lebt sozusagen in einer Flächenschicht von gleichem Tiefenmaße und jede Form strebt, in der Fläche sich auszubreiten, das heißt sich kenntlich zu machen.. »

Was heißt das? Das heißt, der Betreffende sucht sich einen Begrit vom Relief zu machen. Aber er macht sich diesen Begriff des Reliets vom Auge aus, und er zeigt uns das so deutlich wie möglich, indem er sagt, das Relief entsteht, wenn man sich die Hinterwand als eine Glas wand denkt und das, was vor der Glaswand liegt, durch eine andere Glaswand abgeschlossen denkt. Also auf das Auge hin macht er den Begriff des Reliefs, und um dies zu veranschaulichen, wählt er die beiden Glaswände, auf denen sich gleichsam die ganze Figur proji­ziert. Dieser Hildebrandschen Glaswände-Auffassung steht die un­sere gegenüber, die übergeht von dem, was sich durch Glaswände und Projektionen veranschaulicht, zu dem, was lebt. Unsere Darstellung will das Relief als etwas Lebendiges veranschaulichen, so daß es als Relief und nur als Relief dargestellt wird. Ein Relief hat gar keinen Sinn, wenn man die Figuren nur an einer Wand anbringt, sondern es hat nur dann einen Sinn, wenn man die Anschauung hervorruft, daß die Wand selber lebe und die Figur hervorbringen kann.

Meine lieben Freunde, es gibt ein Relief, das ganz sinnvoll schon in die große Welt hineingestellt ist; nur können wir dieses Relief nicht ordentlich beobachten. Es gibt ein Relief, das nach dem richtigen Be­griffe gebaut ist, so daß die Wände das hervorbringen, was die Relief-darstellung ist. Diese Reliefdarstellung ist die Erde, die Erde mit ihrer Pflanzenwelt. Nur müßten wir von der Oberfläche der Erde in den Weltenraum hinaustreten, um dieses Relief zu studieren. Die Erde ist die Fläche, die lebendig ist, welche aus sich hervorbringt ihr Gebilde. So aber muß auch unser Relief sein, so daß wir der Wand ihre Lebendigkeit

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glauben, wie wir sie der Erde glauben, die aus ihrem Schoße die Pflanzenwelt hervorbringt. Dann erreicht man die wirkliche Re­liefkunst. Was über dieses Prinzip der Reliefkunst hinausgeht, das versündigt sich schon an dem Prinzip der Reliefkunst. Wenn wir auf das Relief der Erde herunterschauen, so wandeln Menschen und Tiere darauf, aber die gehören nicht zu dem Relief. Selbstverständlich kann man auch sie auf das Relief bringen, weil die Künste nach allen Rich­tungen erweitert werden können, aber es ist nicht mehr reine Relief­kunst.

Unser Bau soll durch seine Innenformen sprechen, aber sprechen soll er die Sprache der Götter. Meine lieben Freunde, gedenken Sie, wie eigentlich die Menschen auf der Erde, das heißt unmittelbar auf ihrer Oberfläche leben. Wir brauchen jetzt gar nicht einmal unsere geisteswissenschaftlichen Lehren heranzuziehen, wir brauchen bloß die Paradiesessage heranzuziehen. Wäre der Mensch im Paradies ge­blieben, so hätte er das wunderbare Relief, das Bild der Erde mit den Pflanzenformen von außen her gesehen. So aber wurde er auf die Erde herabversetzt und lebt in diesem Relief drinnen; er konnte es nicht von außen beobachten. Er ist aus dem Paradies ausgezogen, und die Sprache der Götter kaim nicht hinaussprechen zu den Menschen, denn die Sprache der Erde übertönt die Sprache der Götter. Belau­schen wir die Organe der Götter, die sie selbst geschaffen haben, die sie als Elohim der Erde den Menschen gegeben haben, belauschen wir die ätherischen Formen der Pflanzen und bilden wir sie nach in unse­ren Formen an den Wänden, dann schaffen wir - so wie die Natur im Menschen den Kehlkopf zum Sprechen geschaffen hat -, dann schaf­fen wir die Kehlköpfe, durch die die Götter zu uns sprechen können; belauschen wir unsere Formen an den Wänden, die da sind die Kehl-köpfe für die Götter und wir suchen den Weg zurück zum Paradies.

Meine lieben Freunde! Über das Malerische werde ich bei einer anderen Gelegenheit sprechen. Heute möchte ich nur noch über das­jenige sprechen, was gewissermaßen in unser Reliefartiges und in un­sere Skulptur hineingestellt ist, dem zunächst gewidmet ist dieser Bau, den wir heute eröffnen dürfen. Wir haben versucht, uns eine Empfindung

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zu verschaffen von der Art, wie das Relief jenes Organ der Göt­ter werden kann, durch das sie zu uns sprechen können. Wir werden einmal Gelegenheit haben, davon zu sprechen, wie die Farben Organe der Götterseele werden müssen. Wenig, wenig Sinn hat unsere Ge­genwart für solche Betrachtungen, wie sie uns beseelen müssen, wenn wir wirklich unsere Aufgabe gegenüber unserem Bau erfüllen wollen.

Wir haben gesehen, wie der griechische Tempelbau das Wohnhaus des Gottes war, wie die christliche Kirche die Umrahmung war für die Gemeinde, die mit ihrem Gotte vereint sein wollte! Was soll unser Bau werden? Er zeigt wiederum selbst schon in seinem Grundriß und in seiner Kuppelform das Charakteristische dessen, was er werden soll:

#Bild s. 133

Zweigliedrig ist er ja auch, aber die beiden Glieder sind in ihren architektonischen Formen völlig gleichwertig. Es ist nicht der Unter­schied wie zwischen dem Altargehäuse und dem Gläubigenhaus der christlichen Kirche. Der Unterschied in der Größe bedeutet nur, daß

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hier, in der großen Kuppel, das Physische größer ist, und daß in der kleinen Kuppel hler versucht worden ist, das Geistige überragend zu machen. Aber es ist eine Erhebung zum Geiste schon durch diese Form ausgedrückt. Wie ein solches Erheben zum Geiste entspricht dem, daß im Bau ein Organ geschaffen wird, daß die Götter zu uns sprechen können; das muß sich in allen Einzelheiten ausdrücken.

Wenn ich sagte, daß derjenige, der den Bau vollständig verstehen wird, das Lügen und das Unrechttun verlernen wird, daß der Bau ein Gesetzgeber sein kann, Sie können es an den einzelnen Formen stu­dieren. Vielfach finden Sie in den Architraven und den sonstigen For­men dieses eigentümliche Zeichen [es wird zu zeichnen begonnen]. An keiner Stelle ist dieses Eigentümliche ohne inneren Wert. Wie nichts im Kehlkopf des Menschen ohne inneren Wert ist und wie nicht ein Wort herauskommen würde, wenn der Kehlkopf nicht am entsprechenden Orte eine entsprechende Form hätte, so auch, wenn Sie hier eingraben, wenn sich hier die Hohlform eingräbt und hier darüber eine Art Bedachung sich wölbt [es wird weitergezeichnet]:

#Bild s. 135

so entspricht das ganz genau der Tatsache, daß erfüllt sein soll dieser Bau von den Empfindungen der Herzen, die in Liebe zusammen­strömen sollen.

So wirkt im Grunde genommen in dieser ganzen Architektur nichts für sich allein. Nichts ist so angeordnet, daß es für sich allein ist. Das eine strebt zum andern, und jedes strebt dem andern entgegen. Oder, wenn es dreigliedrig ist, so schließt die Mitte die beiden Formen zusammen. Das sind, etwas radikal gezeichnet, die Fenster- und

Türformen:

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#Bild s. 137

Nun, meine lieben Freunde, dasjenige, was in den Skuipturformen lebt, ist dreidimensional und das Relief ist die Überwindung des Zweidimensionalen - der Fläche - in die dritte Dimension hinein. Das ergibt sich nicht dadurch, daß man sich auf den Standpunkt des Beob­achtens und Anschauens stellt, sondern wenn man lebendiges Emp­finden dafür hat, wie die Erde Pflanzen aus sich herauswachsen läßt.

Werde ich einmal von Malerei sprechen, so wird sich ergeben die Bedeutung des Zusammenhanges des Innern, des Seelischen im Uni­versum mit der Farbe. Es hätte keinen Sinn, jemals mit Farben zu malen, wenn die Farbe nicht noch etwas anderes wäre, als was sie für die äußere physikalische Betrachtung ist. Den Satz: Farbe ist die Spra­che der Naturseele, die Sprache der Seele des Universums - diesen Satz zu erläutern, wird Aufgabe einer späteren Betrachtung sein.

Jetzt aber will ich noch aufmerksam machen darauf, wie durch un­sere Glasfenster herbeigeführt werden soll die Verbindung des Äußeren

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mit dem Inneren. Jedes unserer Glasfenster wird einfarbig sein, aber wir werden doch an den verschiedenen Stellen verschiedene Far­ben haben. Darin drückt sich aus, daß geistig-musikalisch gegliedert sein muß der Zusammenhang des Äußeren mit dem Inneren. Und innerhalb des Glasfensters selber, da es einfarbig ist, wird es nur geben die Gliederung in dichtere und dünnere Flächen, das heißt, wir wer­den Flächen vor uns haben, wo uns die Materie dichter, materieller entgegentritt, und Flächen, wo uns die Materie dünner, substantiell in dünneren Verhältnissen entgegentritt. Das Licht wird stärker einfal­len durch die dünneren Stellen der Glasfenster; es wird schwächer einfallen durch die dickeren Stellen und dadurch dunklere Farben ge­ben. Geist und Materie in ihrem Zusammenhange, sie werden emp­funden werden können in dem, was die Glasfenster ausdrücken. Aber die ganze Innenfläche soll sprechen wollen, sozusagen Organ sein für die Sprache der Götter. Und wie wir sagen, der Mensch hat einen Kehlkopf, durch diesen bist du imstande zu sprechen, so werden wir die Empfindung haben können: diese ganze Reliefgestaltung ist Or­gan für die Sprache der Götter, die zu uns sprechen sollen von allen Seiten des Universums. Es sind überall Sprachorgane der Götter.

Was können wir wollen, wenn wir also suchen unsere Wände zu durchdringen, wenn durch die Art, wie diese Wände geformt sind, diese sich selbst vernichten wollen, sobald wir den Weg finden, durch die Wände durchzudringen, weil wir die Wände zu Organen der Sprache der Götter machen?

Da können wir nichts anderes anstreben, als zu zeigen, daß der Mensch, wenn er so zu sich sprechen läßt die Götter durch ihre Or­gane, indem er die Wand durchbricht, den Weg sucht zu dem Geiste. Und so werden wir diese Fenster anschauen; sie sollen uns darstellen in ihrem Helldunkel, in ihrem farbigen Helldunkel: So findest du, o Mensch, den Weg zum Geiste!

Da wird uns gezeigt werden, wie die Seele, wenn sie in der Nacht schläft und außer dem Leibe ist, im Verhältnis steht zu der geistigen Welt. Da wird uns gezeigt, in welchem Verhältnis die Seele zu der geistigen Welt steht, wenn sie entkörpert ist zwischen Tod und neuer

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Geburt. Da wird sich uns zeigen, wie der Mensch, wenn er an die Schwelle herantritt, den «Abgrund» empfindet; die Stationen des Weges in die geistige Welt hinein werden sich uns zeigen. Sie werden auftauchen wie gleichsam Gestaltungen des Lichtes selber, vom We­sten herein uns die Geheimnisse der Initiation zeigend. Das wird das Eigentüniliche sein, daß wir hier Wände schaffen wollen, die sich selbst aufheben, selber vernichten durch ihre Formung. Das «Wie­wir-die-Wände-Durchbrechen», das müssen uns die Darstellungen der Fenster zeigen; sie müssen uns Gestalten zeigen, denen wir be­gegnen, wenn wir den Weg suchen zu diesen geistigen Welten, oder ihn unbewußt gehen; sie müssen uns zeigen, wie wir uns verhalten müssen zu den geistigen Welten.

Ja, meine lieben Freunde, hat man den griechischen Tempel als ein Wohnhaus des Gottes gebaut, hat man später Wohnhäuser für die Gemeinde gebaut, die mit ihrem Gotte vereint sein wollte, so waren das alles Umhüllungen, die als Umhüllungen dazu da waren, um etwas abzuschließen. Unser Bau soll nicht abschließen. Seine Wände sollen leben, aber so leben, wie es der Reliefdarstellung in Wahrheit entspricht; er soll in seinem Relief ausdrücken dasjenige, was wir als lebendiges Relief der Pflanzenwelt erlebt hätten, wenn wir sozusagen nicht aus dem Paradies vertrieben worden wären. Dann würden wir dasjenige gewahr, was als sprechendes Relief die Erde aus ihrem Schoß in den Pflanzenformen heraustreibt, was über die geologische Gliederung der Gebirge hervorkommt und diese nur an denjenigen Stellen kahl sein läßt, wo sie kahl zu sein haben. Wenn wir da sitzen werden in unserem Bau, so müssen wir die Empfindung haben, daß wir ruhen können und daß dann die Götter zu uns sprechen. In dem Augenblicke aber, wo wir in unserem Empfinden den Übergang fin­den von dem «Ruhigseinkönnen», von dem «Ruhigsitzen» und «Die-Götter-zu-uns-sprechen-Lassen», zu der Empfindung, daß wir jetzt in Bewegung kommen wollen, etwas tun wollen, um den Weg zu den Göttern zu finden, in diesem Augenblick müssen wir - um Bewe­gung, aber innere Bewegung zu haben - die Wände durchbrechen. Und dann müssen wir wissen, was wir tun müssen, was wir in der

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geistigen Welt zu tun haben. Wenn wir die Wände durchbrechen, dann müssen diese Fenster da sein, die unsere Seelen auffordern, nun auch in Bewegung den Weg anzutreten zu denjenigen Orten, aus de nen zu uns durch die Formen der Wände gesprochen wird. Und wir müssen das Gefühl haben: Hier sitze ich; die Organe der Geister sind rund um mich herum; ich muß mir nur die Fähigkeit aneignen, die Sprache, die durch diese Formen gesprochen wird, zu verstehen, aber in meinem Herzen muß ich sie verstehen, nicht anfangen nur aus­zudeuten.

Wer auszudeuten beginnt, was diese Formen «bedeuten», der ist auf dem falschen Wege, meine lieben Freunde, der kommt nicht zu­recht. Er steht ungefähr auf demselben Boden wie jener, der die alten Mythen und Sagen symbolisch, allegorisch deutet und glaubt, damit Theosophie zu treiben. Nun, ein solcher Mensch, der die Mythen und Sagen und ebenso unsere Formen deuten wollte, der würde vielleicht sehr gescheit und geistreich sein, wäre aber so wie der, der unter das Kinn schauen wollte, um die Symbolik unseres Kehlkopfes zu deu­ten. Nein, nicht dadurch verstehen wir die Sprache der Götter, daß wir mit unserem menschlichen Verstande die Eulenspiegelei begehen, so wie Mythen und Sagen, auch unsere künstlerischen Formen sym­bolisch oder allegorisch zu deuten, sondern nur dadurch werden wir die Sprache der Götter verstehen, wenn wir sie mit unserem Herzen verstehen wollen. Dann wird in uns lebendig werden, daß wir emp­finden: Hier sitzest du, und die Geister der Welt sprechen zu dir! -Und wenn wir so zu beleben verstehen diese Empfindung, was die Seele zu tun hat, um den Weg zu finden dahin, woher die Sprache der Geister kommt, dann richten wir den Blick dahin, wo die Wände durchbrochen sind durch die Fenster. Und da, wo die Wände durch­brochen sind, wird uns gezeigt werden, was im Menschen lebt, wenn er den Weg vom Physischen zum Geistigen bewußt oder unbewußt zu gehen hat.

In diese Worte, meine lieben Freunde, möchte ich ausklingen lassen dasjenige, was ich als eine Betrachtung mit Ihren Herzen und Seelen anstellen wollte heute, wo wir dieses Haus übergeben der Sorgfalt

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und der sorgfältigen Arbeit unseres Freundes Rychter und seiner Ge­nossen. Mögen sie es empfangen so, daß sie etwas verspüren von der Heiligkeit ihrer Aufgabe, von jener Helligkeit, die eben angedeutet worden ist. Daher darf gesagt werden: Da oben im Hauptbau auf dem Hügel arbeiten wir zunächst noch daran, die Sprachorgane für den Geist zu schaffen, um den Menschen, die da sitzen werden, zu zeigen, daß durch solche Sprachorgane die Götter zu uns sprechen können. Dann aber muß in uns das heilige Verlangen entstehen, zu den Orten dieser Geister die Wege, die Pfade zu finden. Dasjenige, was in diesen Räumen von unserem Freunde Rychter und seinen Genossen erarbei­tet werden wird, es wird hinaufgetragen werden hier über den Hügel, und es wird dasjenige sein, was in die durchbrochenen Stellen der Wände gesetzt wird, und was die Seelen derjenigen, die sich vereini­gen werden oben in dem Bau, in Bewegung bringen wird, was ihnen den Pfad weisen wird, den Pfad zu dem Weg des Geistes.

Möge diese heilige Stimmung in diesem Raume walten, möge sozu­sagen jeder Strich in das Glas im Bewußtsein dieser Empfindung ge­macht werden, daß sich darstellt das Bild: Ich habe hier zu bilden dasjenige, was die Seelen, die lauschen werden oben, mit ihren Emp­findungen durch die Räume führen wird zu den Orten der Geister. Ich habe die Empfindungen in den Seelen so rege zu machen mit mei­nen Gebilden, daß der Weg zu dem angedeutet wird durch das Hell-dunkel der Glasfarben, woher sprechen die geistigen Welten durch die Formen des Baues, durch die Innenformen des Baues - und mögen die Schwierigkeiten noch so groß dann sein, möge es in bezug auf mancherlei selbst mißlingen und in bezug auf anderes nur recht un­vollkommen gelingen, was gewollt wird - eine große Hilfe, daß es gelinge, wird die Empfindung sein, die eben ausgesprochen wurde, wenn eben diese Empfindung in diesen Räumen hier walten wird.

Nicht darum war es mir zu tun, meine lieben Freunde, am heutigen Abend Euch zu bringen allerlei, was Künstlerisches verständlich ma­chen kann allein, sondern darum war es mir zu tun, daß an dem heu­tigen Abend etwas aus meinem Herzen in Eure Herzen übergehen kann von der Empfindung, nilit der ich Euch durchdringen möchte

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und von der ich möchte, daß sie Eure lebenden Herzen durchtränken möchte, der Empfindung, welche innerlich durchpulst ist von der Heiligkeit der Arbeit gegenüber dem, was unser Bau werden soll. Besser als durch Worte, meine lieben Freunde, weihen wir ein diese Arbeitsstätte - denn eine Arbeitsstätte soll sie sein -, wenn wir jetzt, indem wir sie durch das Tor wieder verlassen, uns konzentrieren mit allen Kräften unseres Herzens auf die Liebe zur Menschen- und Gei­steswelt, damit gefunden werde durch dasjenige, was in diesen Räu­men geschaffen werden wird, der Weg zum Geiste; zum Geiste, von dem ausgehen wird, wenn der Mensch ihn in Liebe findet, Friede und Harmonie unter den Menschen auf Erden. Dann aber, wenn alles be­seelt ist von diesem Geist, den ich herbeirufen möchte durch diese Worte in diesem Raum am heutigen Abend, wenn alles, was über diesen Hügel hin gearbeitet wird, mit diesem Geist der Liebe, der zugleich doch immer der Geist des echten Künstlertums ist, erfüllt ist, dann wird von diesem Hügel, von dem, was ihn bedeckt, ausstrahlen in die Welt der Geist des Friedens, der Geist der Harmonie, der Geist der Liebe. Dann wird die Möglichkeit herbeigeführt werden, daß das­jenige, was auf diesem Hügel geschaffen wird, Nachfolger finden wird, damit recht viele Zentren solch irdisch-geistigen Friedens, solch irdisch-geistiger Harmonie, solch irdisch-geistiger Liebe in der Welt gedeihen werden. Möchten wir in solcher Friedens-Harmonie und Liebesgesinnung das Lebendige unseres Werkes ergreifen, auf daß uns vorkommen möge dieses Werk selber wie etwas, das aus dein Geiste des Daseins als ein Lebendiges herauswächst, auf daß, wäh­rend da waren Gebäude, die Wohnhäuser waren der Götter, Wohn­häuser der Gemeinde, auf daß da werde ein Sprachorgan für den Geist und ein Wegweiser zum Geiste. Gewohnt hat der Gott im griechi­schen Tempel, wohnen kann die Gemeinde mit ihrem Geiste in dem romanischen, im gotischen Bau, sprechen aber soll die Geisterwelt durch den Bau der Zukunft. Das Haus der Erdenkräfte und der Er­denformen haben wir hingehen sehen über die Menschheitsentwicke­lung, das Haus des Zusammenseins der Menschenseele mit der geisti­gen Welt haben wir dahingehen sehen über die geistige Entwickelung

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der Erde; das Haus der Sprache, das sprechende Haus, das in all sei­nen Wänden lebendige Haus, meine lieben Freunde, laßt uns das in Liebe zur wahren Kunst und damit auch in Liebe zur wahren Geistig­keit und damit auch in Liebe zu allen Menschen erbauen!

DER NEUE BAUKÜNSTLERISCHE GEDANKE Dritter Vortrag, Dornach, 28. Juni 1914

#G286-1992-SE144 Wege zu einem neuen Baustil

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DER NEUE BAUKÜNSTLERISCHE GEDANKE

Dritter Vortrag, Dornach, 28. Juni 1914

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Meine lieben Freunde! Ich denke, es ist recht gut, wenn wir im Fort-gange unseres Baues versuchen, immer weiter und weiter in seinen Sinn hineinzuwachsen. Wir haben ja damit begonnen durch die bei­den Betrachtungen, die wir schon angestellt haben, und werden, so gut es geht, in den nächsten Zeiten durch weitere solche Betrachtun­gen versuchen, gewissermaßen eben eins zu werden mit dem, was hier entstehen soll.

Zunächst möchte ich Sie erinnern an eine Bemerkung, die ich ge­macht habe gelegentlich der Eröffnung des Hauses, das gewidmet sein soll der Ausarbeitung der Fenster zu unserem Bau. Diese Bemerkung hat sich ja bezogen auf die Entwickelung, ich möchte sagen, des bau-künstlerischen Gedankens, der baukünstierischen Vorstellungen. Ich will nur ganz kurz rekapitulieren dasjenige, was ich dazu auch nur andeutungsweise habe bemerken können.

Von dem griechischen Tempel ist gesagt worden, daß er gewisser-maßen eins bildet mit der ganzen Landschaft, sich hineinstellt in die ganze Landschaft, und daß die Landschaft eigentlich mit ihm zusam­mengewachsen ist, so daß der Tempel «das Wohnhaus des Gottes» ist, daß in diesem Tempel nichts zu sein braucht als geistig der Gott anwesend und physisch sein Bildnis, und daß das Wesentliche in der Formgebung des Tempels darauf beruht, daß gleichsam jeder Mensch bei seiner alltäglichen Beschäftigung in der Landschaft weiß: inner­halb des Gebietes, in dem ich diese oder jene Arbeit verrichte, bin ich nicht mit der Erde bloß allein, sondern ich bin zusammen mit der geistigen Welt. Und das Wahrzeichen dafür, daß man, indem man einfach die Erde bewohnt, zusammen ist mit der geistigen Welt, das ist die Tatsache, daß in der Landschaft drinnen der Tempel gleichsam wie ein Altar steht.

Wir haben dann gesehen, wie ein gewisser Fortschritt im baukünst­lerischen Gedanken darin liegt, daß die christliche Baukunst das Gebäude

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absonderte von der Landschaft, daß gewissermaßen die Alltäg­lichkeit und die gehobene Stimmung, durch die man sich zum Geiste erhebt, zwei werden, so daß der christliche Bau nicht mehr eigentlich eins ist mit der Landschaft, sondern weil er dem Geiste abgesondert von der Landschaft dient, nun gleichsam ausdrückt: Wenn der Mensch sich zum Geiste erheben soll, dann muß er hinausgehen aus der Alltäglichkeit, er muß sich in abgesonderter Stätte aufhalten und da mit dem Geiste vereinigt sein. - Dadurch konnte der christliche Bau nicht mehr das sein, was der griechische und auch noch der römi­sche Bau war, sondern er wurde in sich selbst eine Zweiheit: das Haus der Gemeinde und das abgesonderte Haus für den Altar und die Prie­sterschaft. Der Mensch ist herausgetreten aus der Alltäglichkeit und auf den Boden getreten, auf dem er sich fühlt hinaufschauend zum Geiste, und entgegen kommt ihm der Geist durch das Gehäuse des Altars.

Mit dieser Fortentwickelung des baukünstlerischen Gedankens ist selbstverständlich gegeben die Umformung der alten griechischen Bauform, die rein aus statischen und dynamischen Verhältnissen, aus Verhältnissen des Raumes und der Schwerkraft herausgewachsen ist, wie ich es angedeutet habe, in diejenige Form, die sich gewissermaßen dem Absonderungsgedanken der Gemeinde anpaßt.

Und rücken wir dann vor zum gotischen Dom, so haben wir gleich­sam eine weitere Form des baukünstlerischen Gedankens. Wir haben das Streben der Gemeinde, nicht nur die eigene Persönlichkeit des Einzelnen hineinzutragen in das Tempelhaus, sondern auch die Ar­beit des Einzelnen hineinzutragen; und das drückt sich aus in den Formen der gotischen Baukunst. Man fühlt gleichsam, wie das, was in der Umgebung gearbeitet worden ist, in den baukünstlerischen For­men zusammengetragen worden ist und sich wie eine Bitte, wie eine Händefaltung erhebt zu dem Geistigen.

Ich habe dann gesagt, wie nun ein wirklicher Fortschritt im bau­künstlerischen Gedanken in unserer Zeit sich wieder vollziehen muß, und wie er sich nur dadurch vollziehen kann, daß gewissermaßen die Annäherung zum Geistigen, die sich immer mehr vollzogen hat von

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dem griechischen bis zum gotischen baukünstlerischen Gedanken, sich allmählich verwandelt in ein Einswerden mit dem Geiste. Das heißt, das Haus, das dem Zusammenleben mit dem Geiste nunmehr gewidmet sein muß, muß eine innige Gemeinschaft der Form mit dem Geistigen selbst darstellen. Man könnte dann sagen, wenn man nicht versucht ist, die Sache bloß abstrakt zu meinen, sondern sie mit dem ganzen Gefühl, mit der ganzen Seele umfassen kann: Alles das, was mit der Geisteswissenschaft sich in unser Seelisches einlebt, das ist wieder das Leben in der Form, die wir errichten. Frei erscheint der Geist, wie heruntergestiegen nun zum Menschen.

Während der Grieche wie einen Mtar den Tempel in die Landschaft gestellt hat, stellt die Zukunft und - insofern wir arbeiten aus dieser Zukunft heraus mit unserem Bau - die Gegenwart den Geist selbst in seiner Ausdrucksform hinein in das Landschaftsgebiet. Und es muß dann selbstverständlich durch das, was der Geist in seinen Formen zum Ausdruck bringt, gegeben sein etwas, was wie eine Sprache zu den Menschen der Gegenwart spricht, wie ich das verschiedene Male angedeutet habe. Zu alledem aber ist notwendig, meine lieben Freunde, daß wir versuchen, den Geist zu verstehen in seiner For­mengebung. Wir haben, um den griechischen Tempel zu begreifen, das letzte Mal versucht, ich möchte sagen, das rein Physikalische des Raumes und der Schwerkraft uns klarzumachen. Aber der Geist ist nicht bloß ein Mechaniker und Dynamiker, er zeigt sich nicht nur in Raum- und Kraftverhältnissen, der Geist ist lebendig, und die Folge davon ist, daß sein Ausdruck im Bau ein lebendiger, ein richtig leben­diger ist. Das, was ich damit gesagt habe, werden wir nicht dadurch besser verstehen, daß wir nun etwa anfangen, den Geist in symboli­scher Weise zu deuten, sondern dadurch, daß wir anfangen, die For­men wirklich als lebendige zu fühlen, daß wir die Formen empfinden als Organe eines Sprechens aus der geistigen Welt.

Können Formen sprechen aus der geistigen Welt? Formen können vielerlei sprechen aus der geistigen Welt heraus. Nehmen wir einen Gedanken, der uns gerade besonders naheliegt, weil er auf der einen Seite der Ausdruck des Höchsten ist und auf der anderen Seite in

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seiner luziferischen Prägung in das Niedrigste eintaucht: den Gedan­ken des Ich, den Gedanken der Selbstheit.

Es ist ja nicht zu leugnen, daß beim bloßen Ausdruck des Wortes «Ich», «unser Selbst>, der Mensch eigentlich noch nicht besonders viel denken kann. Es werden noch mancherlei Zeitepochen hinunter-fließen müssen in der Menschheitsgeschichte, bis eine vollbewußte Vorstellung in der Seele auflebt, wenn das Wort «Ich» oder das Wort «Selbst» ausgesprochen wird. Aber in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden, und zwar, wenn man vom rein mathe­matischen Formwissen zum Formfühlen übergeht, dann wird man stets empfinden bei dem völligen Kreis die Ichheit, die Selbstheit. Kreis fühlen würde heißen Selbstheit fühlen. Kreis fühlen in der Ebene, Kugel fühlen im Raum, ist Selbstheit fühlen, Ich fühlen. Wenn Sie sich das klarmachen, werden Sie auch das weitere leicht verstehen. Wenn Sie sich klarmachen, daß im Grunde genommen der wirklich lebendig empfindende Mensch, wenn er einem Kreise gegenüber­steht, in seiner Seele auftauchen fühlt das Gefühl der Ichheit, das Ge­fühl der Selbstheit, so daß, indem er das Kreisrund sieht, oder nur ein Stück von dem Kreis sieht, oder wenn er ein kleines Stück Kugel-schale sieht, er fühlt, daß das hindeutet auf das «Sich-selbständig-Fühlen». Wenn der Mensch so fühlt, dann lernt er in Formen leben. Und es ist gewissermaßen das Charakteristische des lebendigen Füh­lens, in den Formen leben zu können. Nun werden Sie, wenn Sie dieses in Betracht ziehen, zu dem weiteren leicht übergehen können.

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So wie ich die Kreislinie hier gezeichnet habe, ist sie zunächst ganz ungegliedert [1]. Sie kann aber in zweifacher Weise gegliedert sein, so

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daß sie aussendet solche Vorsprünge [2]. Das wäre eine Gliederung. Eine andere charakteristische Gliederung wäre diese [3]. Beide For­rnen sind eigentlich nur gegliederte Kreise. - Was bedeuten diese Gliederungen? Diese Gliederung [2] bedeutet, daß das Selbst, das Ich, in Beziehung getreten ist zur Außenwelt. Wenn wir dem bloßen Kreis gegenüberstehen, dann können wir das Gefühl haben, daß die ganze übrige Welt nicht da sei, daß nur das sich im Kreise Abschließende da sei. Wenn wir den gegliederten Kreis betrachten, dann können wir nicht mehr das Gefühl haben, daß das, was durch den Kreis ausge­drückt ist, allein in der Welt ist. Die Gliederung der Kreislinie drückt aus einen Kampf, gewissermaßen eine Wechselbeziehung mit der Außenwelt. Und es ist charakteristisch, daß derjenige, der nun sich lebendig hineinfühlt in die Form bei dem gegliederten Kreis [2], fühlt:

das Innere ist stärker als das Äußere! Und beim zackig ausgebildeten Kreis [3]: das Äußere hat sich eingebohrt und ist stärker als das, was im Kreise liegt. Und geht man nun durch irgendeinen Raum, der ir­gendwie Stücke von Kreislinien oder Kugelflächen hat, und merkt man daran solche Gliederungen, so kann man, indem man einfach die Linien verfolgt, von der Zackenhnie das Gefühl haben: Ah, hier siegt das Äußere! Und bei der Wellenlinie: Ah, hier siegt das Innere! Und es beginnt unsere Seele mitzuerleben mit der Form. Wir schauen sie nicht bloß an, sondern wir haben das lebendige, auf- und abwogende Gefühl «Überwindung und Übergriff», «Überwindung und Besie­gung» in der Seele, das heißt, unsere Seele gerät in Lebendigkeit, sie lebt mit der Form mit. Und das ist das Wesen des künstlerischen Empfindens, dieses Einswerden mit der Form, dieses Mitleben mit der Form. - Aber wir können weitergehen. Denken Sie sich die Glie­derung nicht so einfach, wie sie hier ist, sondern so [4]:

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Das heißt, die Form bewegt sich nach der einen Richtung hin und sie ist Tat. Meine heben Freunde, wer einigermaßen sich hineinlebt in diese Form, der hat unmittelbar das GefüM: sie geht weiter, sie be­wegt sich. So finden wir in den Formen selbst das Charakteristikum der Bewegung.

Ich habe in der einfachen Weise Ihnen hier etwas aufgezeichnet, was Sie in dem Bau kompliziert finden werden, aber Sie finden doch eine ganz bestimmte Einheit. Nämlich, wenn Sie sich den Westein­gang denken, und Sie würden nach dem kleinen Raum hin vorschrei­ten, so würden Sie alle Formen so finden im Innern des Raumes, daß Sie für das vollständige Empfinden das Gefühl hervorrufen: Es geht das Ganze von Westen nach Osten weiter. - Das ist in den Formen ausgedrückt. Sie werden dies ideell im Gedanken, indem Sie von We­sten aus den Bau betreten, so erfühlen, daß Sie sich sagen werden: Ich bin jetzt in dem Wagen, der mich dem geistigen Osten zuführt. - Und das ist der Sinn der Reliefgliederungen, daß sie nicht bloß uns aufneh­men als tote dynamische oder mechanische Formen, sondern daß wir gleichsam in ein Vehikel, in einen Wagen hineingehen, der uns weiter-führt. Geistig ist es nicht wahr, geistig selbstverständlich ist es nicht wahr, daß, wenn wir da drinnen sein werden, in unserem Bau, wir da ruhen werden; sondern geistig werden wir weitergeführt, im Aus­druck, im Sinn.

Sie sehen daraus, daß der ganze Grundcharakter der Form damit hier ein anderer ist als der Grundcharakter jener Formen, die bei den drei Stufen des baukünstlerischen Gedankens, die ich beschrieben habe, vorhanden waren. Der baukünstlerische Gedanke war bisher der Gedanke des ruhenden leblosen Mechanischen, nun aber beginnt der baukünstlerische Gedanke der Gedanke des Sprechens zu werden, der Gedanke des innerlich Beweglichen, der Gedanke desjenigen, was uns mit sich fortreißt. Und das soll das Neue sein in dem ganzen Gedanken in bezug auf diese eine Seite. Dem muß allerdings die Grundform entsprechen. Wie entspricht ihm die Grundform?

Nun, ich habe gesagt, meine lieben Freunde, daß das Selbst, das Ich, im Grunde genommen der nächstliegende Eindruck ist, nänilich der

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Eindruck der Kreis- oder Kugelrundung. Warum das? Nun, weil im Grunde genonimen die einfache Kugel oder der einfache Kreis das Überschaulichste ist, das Allerüberschaulichste. Man braucht näm­lich unendlich wenig, um etwas als Kreis zu erkennen. Was braucht man denn, um etwas als Kreis zu erkennen? Nun, man braucht nichts weiter, als den, ich möchte sagen, banalsten Gedanken, den es über­haupt geben kann: daß etwas von seinem Mittelpunkt überall gleich weit absteht. Sobald man sich vorstellt: hier sind überall Punkte, die gleich weit abstehen von einem mittleren Punkt, so hat man den Überblick über die Kugel oder den Kreis. Es ist das Unschwerste, was man in Gedanken vollziehen kann. So daß man sagen kann: Der Kreis als Form ist das wenigst Geheimnisvolle, was es gibt. Und schließlich entspricht das ja auch zunächst der äußeren Wirklichkeit, denn die Selbstheit, mit der jedes Wesen auftritt, von der einfachsten Zelle bis zum komplizierten Menschen, das ist der alleralltäglichste Eindruck, der allereinfachste Eindruck, gerade wie der Eindruck des Kugeligen, des Kreises, der allereinfachste Eindruck ist.

Aber hinter dem Ganzen steckt etwas Tieferes, und ich bitte Sie, jetzt mit mir zu verfolgen einen Gedanken, der für denjenigen, der sich recht genau diesen Gedanken klarmacht, etwas außerordentlich Tiefes einschließen kann. Ich bitte mir zu folgen bei folgendem Gedanken.

Sehen Sie, eine etwas kompliziertere Form als die des Kreises ist die Ellipse. Ich will ganz trocken die Ellipse aufzeichnen, so wie man eben gewöhnt ist, sie zu sehen; sie braucht nicht eine genaue Ellipse zu sein, sondern nur im allgemeinen die Ellipsenform zu haben. Die triviale Einfachheit des Gedankens verläßt einen, wenn man vom Kreis zur Ellipse vorschreitet. Da hat man nicht mehr die Gleichheit, aber die Regelmäßigkeit ist doch in der Ellipse, und da muß ich eben bitten, daß die, die sich mit Geometrie befaßt haben - höflicherweise wollen wir voraussetzen, daß sich alle damit befaßt haben, aber daß sie schon etwas davon vergessen haben -, sich hineinfinden in den folgenden Gedanken:

Es herrscht auch in der Ellipse eine Regelmäßigkeit. So wie der

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Kreis eine Beziehung hat zu einem Punkt, so hat die Ellipse Bezie­hung zu zwei Punkten. Und wenn Sie irgendeinen Punkt der Ellipse betrachten und ziehen die Verbindung mit den zwei Punkten, so sind natürlich diese Linien ganz verschieden voneinander, aber immer,

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wenn Sie hier sich eine Linie aufzeichnen, und Sie nehmen das eine Stück von der Ellipse zu dem einen Punkt, und tragen es sich da auf, und Sie nehmen das andere Stück und tragen es daneben auf, und Sie nehmen jetzt dieses und das andere Stück, so gibt das immer dieselbe Länge. Da haben Sie das, daß Sie die Entfernung jedes Punktes von diesen zwei Punkten addieren können, und Sie bekommen immer dieselbe Länge. So einfach ist das alles beim Kreis, daß wir nicht zu denken brauchen. Nun aber müssen wir addieren. Beim Kreis sind die Linien alle gleich bis zum Mittelpunkt; hier müssen wir erst den Gedanken haben, daß wir addieren.

Nun können Sie selbstverständlich sagen: Ja, aber ich addiere gar nicht, wenn ich eine Ellipse sehe. - Sie nicht, aber der Astralleib, der addiert jetzt, und was der Geometer bewußt tut, das tut der Astral­leib unbewußt. Er ist tatsächlich ein fertiger Geometer. Und was Sie alles wissen im Astralleib, davon, verzeihen Sie den Ausdruck, da­von haben Sie keine Ahnung; da sind Sie ein ungeheuer weiser Geo­meter, bloß daß das, was Sie im Astralleib von dieser Geometrie wissen, erst unter - verzeihen Sie den Ausdruck, aber heute ist er ja

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erlaubt... [es war sehr heiß an dem Tage] - erst unter Schwitzen her­auskommen muß in das Bewußtsein, wenn man es sich aneignen will im Bewußtsein. Aber da unten im Astralleib, da ist das alles vorhan­den, und wenn die Lehrer der Geometrie anwenden könnten statt der Methoden, die sie haben, eine Presse oder eine Pumpe, um das, was im Astralleib ist, heraufzupumpen, dann brauchten sie nicht zu lehren. Alles würde von selbst heraufkommen. - So also addieren Sie die zwei Entfernungen von den zwei Punkten und kriegen immer dasselbe. Und eine Ellipse schön finden, was heißt das im tieferen Grunde? Das heißt: mein Astralleib addiert und kriegt immer die­selbe Summe. Und nun denken Sie sich einmal, daß Sie addieren, ohne daß Sie es wissen und jedesmal dieselbe Summe kriegen: da freuen Sie sich ein bißchen. Und jetzt gehen Sie zu diesem Punkte:

Oh Freude, dieselbe Summe! Zu diesem Punkte gehen Sie: Oh Freude, dieselbe Summe! - Darin besteht das lebendige Miterleben mit der Ellipse.

So ist beim Kreis die geringste Freude vorhanden, denn er ist tri­vial, man überschaut ihn leicht. Bei der Ellipse erlebt man schon eine größere Freude, weil man da innerlich tätig sein muß. Und je mehr man innerlich tätig sein muß, desto mehr ist man glücklich. Das ist gerade dasjenige, was vielen so schwer einzusehen ist, daß der Mensch in seinem Innern eigentlich tätig sein will; wenn er faul sein will, so ist das bloß im Bewußtsein. Sein Astralleib ist nicht bloß weiser, sondern auch emsiger; er möchte immer tätig sein.

Jetzt gibt es eine andere Linie, die besteht allerdings immer aus zwei Stücken. Warum, das wissen die, die Geometrie kennen. Sie besteht gleichsam aus zwei symmetrischen Ästen, - das ist die Hyperbel. Sie hat auch zwei solcher Punkte, die hier ungefähr liegen. Nun kann man wiederum Linien ziehen zu diesen zwei Punkten. Das Eigentümliche ist nun da, daß wir nicht addieren, sondern subtrahieren. Wir kriegen immer dasselbe, wenn wir die kleinere von der größeren abziehen. Da subtrahiert unser Astralleib und freut sich, daß die Differenz immer dieselbe bleibt. In diesem innerlichen Gleichgefühl hat unser Astral­leib das Miterleben der Entstehung der Hyperbel.

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Also ein Rechner sind wir in den Untergründen des Bewußtseins, und durch eine unbewußte Rechnung verschaffen wir uns das Regel­mäßige der Form. Wir addieren und subtrahieren. Aber wir können auch multiplizieren. Das geht dann so vor sich, daß wir wiederum zwei Punkte haben. Dann muß beim Multiplizieren das so sein: wenn wir das mit dem und das mit dem multiplizieren, so kriegen wir wie­derum eine Linie, die zwar ähnlich schaut der Ellipse, die aber nicht dasselbe ist. Diese Linie [1], die enthält also eine innere Multiplika­tion. Diese Linie, die hat etwas Geheimnisvolles schon an sich. Der Kreis ist ein recht trivialer Wicht, die Ellipse ist schon komplizierter, die Hyperbel ist noch komplizierter, denn ich glaube, der gewöhn­liche Mensch sieht gar nicht einmal eine einzige Linie in den zwei Ästen, der gewöhnliche Verstand glaubt, es seien zwei Linien, das sind sie aber nicht. Diese Linie, die ist durch etwas anderes geheimnis­voll, denn je nach der Art, was da herauskommt bei der Multiplika­tion, ändert diese Linie [1] sich in diese sonderbare Form [II]. Das ist dieselbe Linie, die Multiplikationslinie, die Lemniskate, die eine so große Rolle spielt bei allen okkulten Untersuchungen. Und es kann soweit kommen mit der Linie, daß sie diese Form [III] annimmt.

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Ja, sehen Sie, das sind wieder zwei Linien, aber innerlich ist es bloß eine Linie, und wenn man im Astralischen sie als eine Linie empfindet, so weiß man, daß diese Form [III] nur ein spezieller Fall ist von der Form [II]. Aber denken Sie sich: die Überkreuzung verschwinde nun in die vierte Dimension und mit ihr die Linie [bei 2] - nun kommt die Linie wieder heraus [bei 3] und kommt in das Physische, - nun ver­schwindet sie wieder [bei 5], nun kommt sie wieder heraus [bei 6]. Dadurch ist sie eins, daß sie immer wieder verschwindet in die vierte Dimension. Man kann sagen, diese Linie der Multiplikation hat schon drei verschiedene Formen.

Wir haben also eine Linie der Addition, eine Linie der Subtraktion, eine Linie der Multiplikation. Nun kann einer sagen, es müsse ja auch eine Linie der Division geben, der vierten Rechnungsart. Da müßte man die zwei Entfernungen dividieren, anstatt addieren, subtrahieren oder multiplizieren. Das heißt, es müßte möglich sein, daß unser Astralleib sich zwei Punkte fixiert, und nun irgendwie andere Punkte. Wenn er die größere Linie nimmt [a], und sie dividiert durch die klei­nere [b], bei dem Punkt wiederum die größere [c] durch die kleinere [d] und so weiter, so kriegt er auch eine Linie, nämlich diese [Kreis]. Alle Punkte sind so gewählt, daß ihre Abstände von zwei Punkten bei der Division dasselbe geben.

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Das heißt: Wir addieren und bekommen die Ellipse,

wir subtrahieren und bekommen die Hyperbel,

wir multiplizieren und bekommen die Cassinische Kurve, Lemniskate,

wir dividieren und bekommen den Kreis.

Und nun haben wir etwas höchst Merkwürdiges; höchst merkwür­dig ist das, was ich jetzt sage. Wenn man wirklich versucht, in die Tiefen der Natur einzudringen, so treten sie einem ganz merkwürdig vor die Seele. Wenn man den Kreis so anschaut, so sieht man, er ist ein ganz banaler Wicht, er ist etwas ganz Triviales; aber es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis. Er kann auch dadurch verstanden werden, daß man zwei Punkte nimmt und dividiert, und indem man überall dasselbe Resultat bekommt bei der Division, ergibt sich der Kreis. Der Kreis ist also etwas ganz Merkwürdiges: der gewöhnlich­ste Wicht, den man leicht überschauen kann, und zugleich das Ergeb­nis einer okkulten Division, das sich der Mensch zum Bewußtsein bringt. Geradeso ist es bei dem menschlichen Selbst: das gewöhnliche Selbst, der alltägliche Wicht, und das höhere Selbst, das Geheimnis­volle, das in den Tiefen unserer Seele ruht und das erst gesucht werden muß dadurch, daß man aus Ihin herausgeht und die Welt in Betracht zieht, mit der es in Beziehung steht. Wie der Kreis dasselbe ist, wenn wir sagen: er ist etwas ganz Triviales, er ist die einfachste Form - oder wenn wir sagen: er ist so, daß das Ergebnis der Division von zwei Punkten immer dasselbe ist -, wie wir denselben Kreis haben, so haben wir in uns selbst ein Zweifaches vor uns: das, was der Alltäg­lichkeit angehört, was leicht überschaubar ist, und das, was man nur begreift, wenn man zur ganzen Welt hinausgeht, wenn man es sozusa­gen als das komplizierteste Ergebnis des großen Weltenkampfes auf­faßt, wo Ahriman und Luzifer die Division ausführen, gegenüber welcher sich als Quotient zu halten hat unser höheres Selbst, wenn es eben zum Ausdruck kommen will.

Stücke von der Ellipse, Stücke von der Hyperbel werden Sie in unserem Bau überall finden; aber auch Stücke der Cassinischen Kurve, der Lemniskate, werden Sie an unserem Bau finden, und Ihr

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Astralleib wird in diesem Bau genügend Gelegenheit haben, solche Operationen zu machen. Ich will nur das eine erwähnen: Wenn ein­mal in unserem Bau die Menschen zur Brüstung sehen werden, wo die Orgel steht und wo die Sänger sein werden, dann wird die Seele Gelegenheit haben, diese Multiplikation auszuführen; wenn die Seele es auch nicht weiß, aber in ihren Tiefen erfühlt sie das, weil die Linie des Umbaues um die Orgel diese Linie ist. Diese Linie findet sich vielfach an unserem Bau.

Nach dem, was ich jetzt mitgeteilt habe über die doppelte Bedeu­tung des Kreises, wird es Ihnen naheliegen, zu sagen: Nun also, ich trete von Westen herein in unseren Bau, ich fühle mich umfangen von dem kreisrunden Bau, von dem kugeligen Abschluß nach oben. Das ist einfach zu überschauen, es ist das Abbild des menschlichen Selbst. Aber nun werde ich hinblicken in den Nebenbau, der etwas kleiner ist; der wird mir nicht sofort so verständlich sein. - Man wird schon fühlen: da ist etwas, was geheimnisvoll ist. Das rührt davon her, daß es auch die Kreisform ist, die aber so vorgestellt werden muß, daß sie das Ergebnis einer Division ist und dem anderen Raum nur äußerlich vollkommen gleich ist. Kreis und Kreis: Das eine aber ein Kreis, der dem Alltag sich anpaßt, das andere ein Kreis, der mit der ganzen Welt in Beziehung steht. So wahr wir in uns tragen niederes, gewöhnliches Selbst und höheres Selbst, und sie doch wieder eins sind, so wahr mußte unser Bau ein Doppelbau werden. Dadurch drückt er aus in seiner Form - nicht in symbolischer Weise, sondern in der Form selbst - die zwei Naturen des Menschen. Und indem man sich bei geöffnetem Vorhang im Bau fühlen wird, wird man ein Abbild des Menschen, nicht nur wie er im alltäglichen Leben ist, sondern des ganzen Menschen erfühlen. Und indem das der Fall ist, was gesagt worden ist, daß die Formen etwas wie eine Bewegung ausdrücken von Westen nach Osten, ist der Gang des gewöhnlichen Selbst zum höheren Selbst unmittelbar in der Form ausgedrückt.

Alle die Dinge, die ich jetzt ausgesprochen habe, sind so, daß sie in den Formen wirklich gefühlt werden können. Und indem einmal ein Bau dieser Art ausgeführt wird, wird gezeigt, wie die geistige Form

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der Natur und die höhere Geisteswelt auf naturgemäße und geistge­mäße Weise zum Ausdruck kommen können. Nicht der wird unseren Bau verstehen, der anfängt zu spintisieren und allerlei ausdenken wird, sondern der, der lebendig fühlen wird; der fühlen wird das Werden der Formen und das Sein der Formen. Deshalb will ich auch nicht in bildlichen Ausdrücken sprechen von dem Bau, sondern so, wie er entstanden ist, wie wirklich das geistige Wesen Form geworden ist und Bewegung geworden ist und in unseren Bau eingeflossen ist. Und wenn nun einfach jemand spintisieren würde, etwa einmal sich den Bau von innen ansehen würde und sagen würde: Ja, zwei Kup­peln, zwei Rundbaue: niederes Selbst und höheres Selbst; ein niede­res, ein höheres Selbst, also ein Einheit -, nun, dann könnte das ja eine ganz niedliche Spekulation sein, aber sie wäre nicht mehr wert als wenn jemand sagen würde: Nun, Maria und Thomasius in den My­sterienspielen sind eigentlich nur eine einzige Wesenheit. - Wer so sagt, der spintisiert, denn er erklärt etwas für eine abstrakte Wesen­heit, Die Einheit liegt im lebendigen Werden. Selbstverständlich kön­nen die lebendigen Werdekräfte Maria und Thomasius hervorbrin­gen, aber nur durch die Differenzierung. Und selbst bei dem Gleichen wird der wahre Okkultist nach den Mannigfaltigkeiten suchen, wäh­rend es ein schlechter Okkultismus wäre, das Mannigfaltige auf eine Einheit zurückführen zu wollen. Deshalb das Beispiel vom Kreis. Der Kreis ist nicht bloß ein Kreis, sondern der Kreis ist zwar das Allerein­fachste - alle Punkte von einem Mittelpunkt gleich weit abstehend -, aber er ist auch zugleich das Ergebnis einer Division. Da haben Sie das, was in der Außenwelt eine Einheit ist und zum Komplizierten der geistigen Welt wird.

Das sind so einige Bemerkungen, die ich habe machen wollen; an­dere werden wir noch machen bei einer anderen Gelegenheit, wenn ich noch über den Bau als solchen sprechen werde. Nun möchte ich von einer anderen Seite her ein paar andere Betrachtungen vor Ihre Seele rufen

Der Mensch, wie er als Mensch in die Welt tritt, ist eigentlich ein sehr kompliziertes Wesen. Wenn er so als Mensch in die Welt tritt -

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ich habe das ja schon oft erwähnt -, dann kann er zunächst nicht aufrecht stehen. Er kriecht; anfangs kriecht er sogar nicht einmal. Er lernt nach und nach die Kräfte bemeistern, die ihn aufwärts bringen. Versuchen wir einmal schematisch aufzuzeichnen, was da eigentlich vorliegt: Hier [es wird zu zeichnen begonnen] die Erde. Der Mensch, zunächst ein horizontales Wesen; er richtet sich auf, wird vertikal. Das ist eine Errungenschaft der menschlichen Natur selbst, sich in die Vertikale zu stellen. Nun, wer tut denn das eigentlich? Ich sagte: Es ist ein Ergebnis der menschlichen Natur selbst. Aber der Mensch hat Hilfe, Hilfe von allen Hierarchien, indem er seinen Lebenslauf durch­läuft. Was kommt ihm denn zu Hilfe, wenn er sich zum Stehen, zum Gehen erhebt? Zu Hilfe kommen ihm die Kräfte, die aus der Erde heraus wirken gegen die Weiten des Weltenraums zu. Diese Kräfte stellen Kräfte der Erde dar. Heute sprechen die Physiker nur von solchen Kräften der Erde, die eben physikalische Kräfte sind: Anzie­hungskraft, Schwerkraft. Aber die Erde ist nicht bloß ein physikali­scher Körper, sondern ein geistig-seelisches Wesen, und indem wir uns als Kind zum Aufrechtgehen aufrichten, da vereinigen wir uns mit den Willenskräften, die aus der Erde herausdringen. Der Wille der Erde durchdringt unser Sein. Wir lassen den Willen der Erde in uns einfließen und stellen uns in die Richtung des Willens der Erde auf­recht hinein. Verbündung mit dem Willen der Erde ist es. Aber dem Willen der Erde ist gegnerisch ein Wille, der vom Weltenall herein-wirkt; und der wirkt von allen Seiten herein. Indem wir uns aufrich­ten, wissen wir es zwar nicht, aber es ist der Fall. Es wirken überall,

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von allen Seiten, die Kräfte herein. Wir stoßen, indem wir uns aufrich­ten, immer an solche Kräfte an, die von außen hereinkommen.

Heute hat das auf der Erde keine besondere Bedeutung mehr, aber auf dem alten Mond hatte es noch eine große, eine riesengroße Bedeu­tung. Nämlich auf dem Mond war es so, daß der Mensch in einer gewissen Weise von seiner ersten Kindheit an bis später eine andere Richtung angenommen hat, daß er sich in die Willensrichtung des Mondes hineinzustellen hatte. Dadurch hat er die erste Anlage be­kommen zu der Schädeldecke. Heute haben wir sie schon ererbt, aber auf dem Mond mußten wir sie uns noch erwerben. Da arbeiteten wir in uns gegen die äußeren Willenskräfte. So etwa, wie eine Lokomotive arbeitet, wenn sie Schnee zurückschieben muß, so schob der Mensch die Willenskräfte des Kosmos zurück, und dadurch preßte sich sein weicher Schädel zur Schädeldecke. Heute brauchen wir das nicht mehr, heute ist es Vererbung; wir brauchen nicht mehr die Schädel-knochen zu bilden. Aber im Ätherleib, da bilden wir sie noch, indem

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wir uns aufrichten, da verdichtet sich das hier auf dem Kopfe noch, was Ergebnis ist des Kampfes zwischen den Kräften, die von der Erde ausstrahlen, und den Kräften, die von allen Seiten herankommen. So

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daß wir sagen können: Wenn wir den Ätherleib betrachten, da finden wir, noch, daß der Mensch mit den beiden Beinen gerade Linien auf­richtet und entgegenarbeitet den Kräften, die von außen kommen. Und der Ätherleib wird verdichtet, sodaß wir sagen können: da ent­steht diese Form. Wir richten uns auf. Die physischen Beine haben oben ihre Verbindung, die Ätherbeine gehen weiter hinauf. Dadurch verdichtet sich hier der Ätherleib des Kopfes, und durch die Bildung des Gehirns entsteht auch heute noch im Ätherleib der verdichtete Ätherkopf. Aber nicht nur geschieht das im Kindesalter, sondern, indem der Mensch sieben Lebensperioden durchmacht - vom ersten bis siebten Jahr, vom siebten bis vierzehnten Jahr und so weiter -, da bilden sich immer neue Linien, solche verschiedengeartete Kräfte, die nach oben gehen. So daß, wenn wir das Alter erreicht haben, von dem wir ja schon sagen dürfen, daß wir durch dieses Alter wirklich im vollen Sinne des Wortes Mensch geworden sind, wenn wir das fünf­zigste Lebensjahr überschritten haben - nicht wahr, das ist schon eine ganz respektable Menschheit -, dann haben wir zu den ersten starken Säulen, die wir während der ersten sieben Jahre gebaut haben, immer weitere Säulenpaare hinzugefügt. Im Ätherleib zeigen sie sich in ver­schiedenen Farben. Und jedesmal machen wir unsere Ätherdecke stärker, indem wir diese - man möchte sie «Lebenssäulen» nennen -, indem wir diese Lebenssäulen ausbilden. Mit den ersten sieben Jahren ist das erste Paar abgeschlossen, mit dem vierzehnten Jahr das zweite Paar, mit dem einundzwanzigsten Jahr das dritte Paar, mit dem neunundvierzigsten Jahr endlich das siebente Paar. Und mit jedem Paar solcher Lebenssäulen tragen wir sicherer unsere ätherische Schädeldecke.

Brauchen Sie noch mehr, als sich vorzustellen, daß der Mensch an-fängt zu leben, daß er das Leben durchwandert, und nach je sieben Jahren verschieden gestaltete Säulen in sich aufrichtet, die seine Schä­deldecke tragen ?! Brauchen Sie mehr? Sie brauchen nicht mehr. Wenn Sie das nehmen, haben Sie lebendig erfaßt die innere Form un­seres Baues, was den größeren Rundbau betrifft. Sie gehen im Westen hinein und sagen sich: Jetzt ist es so bis zum ersten Säulenpaar, wie

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der Mensch sich entwickelt in seinen ersten sieben Lebensjahren; weiter ist es so bis zum zweiten Säulenpaar, wie der Mensch sich ent­wickelt bis zum vierzehnten Lebensjahr, noch weiter bis zum einund­zwanzigsten Lebensjahr und so weiter, und immer haben Sie um sich die ätherische Decke Ihres Hauptes; Sie haben den lebendigen Menschen in die Formen ergossen, aber so, wie er ist, wie er lebt in seinem Ätherleibe.

Sehen Sie, das wird der Fortschritt von der Gotik zur geisteswis­senschaftlichen Baukunst sein: In der Gotik war das Gebet: «0 Vater der Welt, laß uns mit Dir in Deinem Geiste vereinigt sein!» So ist die Gotik geformt. Und diejenigen, die sich dazu bequemen werden, das anzunehmen, was diesem Gebet gewährt wird, die wirklich verstehen die lebendige Entfaltung der Geisteswissenschaft, die werden enträt­sein das Rätsel des Menschen in seinem Werden. Und dann wird der Mensch - nachdem die Formen des baukünstlerischen Gedankens ge­strebt haben, sich mit dem Geiste zu vereinigen, aber zunächst das Streben darstellend -, dann wird er fühlen, wie er als Mensch durch­geistigt wurde von dem verborgenen Geiste, und als Umhüllung ein Haus um sich haben kann, das unmittelbar das menschliche Wesen zum Ausdruck bringt, das menschliche Wesen in seinem inneren, seinem lebendigen Werden erfaßt.

«Wir leben in der Landschaft, aber der Geist ist unter uns » - so sagte der griechische baukünstierische Gedanke.

«Wir leben im Hause, oder besser gesagt, wir im Hause, und der Geist kommt zu uns in unseren Raum», - das ist der christ­liche baukünstlerische Gedanke.

«Wir weilen im Hause, aber wir erheben die Seele dadurch, daß wir uns ahnend zum Geiste erheben», - das ist der gotische baukünst­ierische Gedanke.

«Wir gehen in Verehrung in den Geist ein, auf daß wir eins werden mit dem Geiste, der sich ausgießt um uns herum in den Formen, weil um uns herum die Geister der Form sind, und der in Bewegung kommt, weil hinter den Geistern der Form die Geister der Bewegung stehen», -das ist der neue baukünstlerische Gedanke!

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So schreitet das Dasein über die Erdenentwickelung hin, und der Mensch hat die Aufgabe, den inneren Sinn und die innere Bedeutung dieses Daseins zu erfassen. Er geht nur dann mit der wirklichen Ent­wickelung mit, wenn er sich bemüht, in jeder Zeit mitzuerleben das, was ihm die geistige Welt gerade für die Entwickelungsepoche seiner Zeit gibt.

Warum gehen wir als Seelen durch verschiedene Inkarnationen, durch die aufeinanderfolgenden Inkarnationen? Nicht deshalb, um immer dasselbe zu erfahren, nicht deshalb, um immer wiederum und wiederum Renaissance nach Renaissance zu erleben, sondern um im­mer das Neue, das aus den geistigen Welten sich ergießt, in unsere Seelen aufzunehmen. In dieser Beziehung stehen wir wirklich an einem Punkte der Menschheitsentwickelung - auch in künstlerischer Beziehung, und in mancher geistiger Beziehung -, in dem deutlich der Geist zu uns von neuen Rätseln spricht. Und so, wie sich in, der Zeit der Renaissance der Mensch zunächst nur orientieren sollte an dem, was vergangen war, um sich hindurchzuarbeiten zu etwas Neuem, so ist es auch mit unserem äußeren Welterkennen und Weltenfühlen, Dasjenige, was die neuere Zeit seit dem 16. Jahrhundert gebracht hat, das war gerade die Vorbereitung nur zu dem Erfühlen der Welt in ihren Formen und in ihren Bewegungen, die jetzt wie Rätsel vor uns stehen.

Dies für heute. In einer nächsten Betrachtung werde ich versuchen, eine noch intimere Frage anzugreifen: Was uns wird bezüglich des Verhältnisses der lebendigen Seele durch die ganze Natur hindurch, wenn wir die Farbe, und mit der Farbe die malerische Kunst ins Auge fassen.

DIE WAHREN ÄSTHETISCHEN FORMGESETZE Vierter Vortrag, Dornach, 5. Juli 1914

#G286-1992-SE166 Wege zu einem neuen Baustil

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DIE WAHREN ÄSTHETISCHEN FORMGESETZE

Vierter Vortrag, Dornach, 5. Juli 1914

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Meine lieben Freunde! Wir haben in den letzten Auseinanderset­zungen gesprochen über den Geist, von dem die Formen unseres Baues durchtränkt sein sollen. Sie werden aus alledem, was gesagt worden ist, entnommen haben, daß diese Formen auf der einen Seite ebensowenig auf irgendeiner Imitation der äußeren physi­schen Welt beruhen, wie sie auf der anderen Seite auf einer bloßen Spekulation, auf einem bloßen Ausdenken beruhen. Das Gefühl, die Empfindung werden Sie erhalten haben, daß die Formen ge­sucht sind aus dem Geiste, aus jener Geisteswelt, in welche der Mensch hineingegliedert ist, die der Mensch auf dem Erkenntnis-wege der Geisteswissenschaft allmählich zu gewinnen hoffen darf. Insbesondere möchte ich Sie noch einmal erinnern an einen wichti­gen Umstand, den ich hervorgehoben habe. Das ist der, daß das menschliche Leben verläuft in Perioden, annähernd von sieben zu sieben Jahren, und daß, wenn wir diese siebenjährigen Perioden in ihrem Verlauf betrachten,. wir sagen können - ich habe das letzte Mal versucht, Ihnen das aus der geisteswissenschaftlichen Kosmo­logie heraus zu erklären: Der Mensch bekommt jedesmal nach sie­ben Jahren eine neue Stütze, so daß er, wenn er siebenmal sieben Perioden erlangt hat, das heißt um das fünfzigste Lebensjahr herum, sieben Paar solcher Stützen hat.

Wenn man sich also etwa denken würde, man betrete unseren Bau von Westen her, so würde man in den zwei ersten Säulen den Aus­druck haben für jene Stützen des menschlichen Lebens, die man nach Ablauf der ersten siebenjährigen Periode in sich selbst aufrichtet; bei dem zweiten Säulenpaar dasjenige, was man sich erwirbt nach der zweiten siebenjährigen Periode; und so schreitet es dann weiter fort, nur daß der Mensch diese Stützen gleichsam ineinanderschiebt, wäh­rend wir sie hier hintereinander im Raum aufzustellen haben. Man kann sich dann mit der Empfindung durchdringen: Wenn du von

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Westen nach Osten diesen Raum durchschreitest, so zeigt dir das, was du links und rechts auf dich wirken lassen kannst, dasjenige, was sich im menschlichen Leben selbst abspielt. - Daraus ersehen Sie, daß man sprechen kann von feststehenden Weltgesetzen, in die der Mensch eingegliedert ist, welche aber unendlich viel tiefer sind als das, was man gewöhnlich Naturgesetze, Gesetze der äußeren physischen Welt nennt, unendlich viel tiefer, und daß aus diesen tiefen Weltgesetzen heraus diese Dinge geformt sind.

Es würde natürlich sehr, sehr weitgehend sein, wenn man alle Ein­zelheiten schon jetzt von diesem Gesichtspunkt aus betrachten wollte; aber sie könnten so betrachtet werden. In der äußeren Gegen­wart, in der Gegenwart, die nichts von Geisteswissenschaft weiß, wird selbstverständlich noch wenig Verständnis zu finden sein für diese tieferen Gesetze alles Seins und Werdens. Und da wird man auch erfahren können, daß zum Beispiel irgend jemand die für ein äußeres Wissen ganz begreifliche Frage aufwirft: Ja, warum sind diese Säulen von verschiedenem Holz? - Wahrhaftig, etwas Allegorisches oder Symbolisches ist damit nicht gemeint, und derjenige, der diese Frage aufwirft, bedeutet uns mit dieser Frage nur, daß er eben niemals im Leben Gelegenheit hatte, über tiefere Weltgesetze nachzudenken, denn man müßte ihm die Antwort geben: Ja, warum betrachtest du es denn nicht als eine Notwendigkeit, daß auf einer Violine lauter A-Saiten angebracht sind? - Gerade dasselbe Verlangen, das der stel­len würde, der auf einer Violine nur A-Saiten anbringen wollte, würde der stellen, vielleicht ganz unbewußt und ungeahnt, der aus einem oberflächlichen Wissen heraus beurteilen wollte, warum die Säulen aus verschiedenem Holz sind.

Nun können wir ja, da wir noch öfter hier zusammen sein werden, die Dinge langsam entwickeln, meine lieben Freunde. Wir können dasjenige, was uns nützlich sein kann, gewissermaßen langsam zu unserer Empfindung kommen lassen. Daher möchte ich heute wie­derum nur einiges dazu beitragen, die Empfindungen zu vermitteln von dem Begründetsein ästhetischer Formgesetze auf der einen Seite im Kosmos, auf der anderen Seite in dem Mikrokosmos, in der

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menschlichen Natur. Es wird nicht mehr lange dauern, da wird er­gänzt werden dasjenige, was man heute Wissenschaft nennt, durch eine ungeheuere Erweiterung. Dann aber wird man erst verstehen, welches die wahren tieferen ästhetischen Formgesetze auch sind.

Um von dem, was ich nun mit mehr abstrakten Worten angeführt habe, eine konkretere Empfindung hervorzurufen, will ich zunächst etwas vor Ihnen auseinandersetzen, was einer kosmologischen, einer großen Weltentatsache entspricht.

Wir wollen annehmen, daß dieses hier die Sonne, dieses hier die Erde und dieses hier den Mond vorstelle.

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Selbstverständlich ist die Zeichnung nur schematisch, da ich ja dabei keine Rücksicht nehmen kann auf Größenverhältnisse und Entfer­nungsverhältnisse der entsprechenden Himmeiskörper; aber darauf kommt es jetzt nicht an.

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Wenn nun der okkulte Beobachter mit dem hellsichtigen Bewußt­sein sich in einer gewissen Weise in Verbindung setzt mit diesen drei Himmelskörpern, das heißt mit demjenigen, was sie geistig darstellen, dann stellt sich etwas heraus, was man nennen könnte: es wird das Weltall überflutet von den realen gegenseitigen Beziehungen der gei­stigen Wesen dieser Himmelskörper. Wesen wohnen, wie Sie schon oft gehört haben, auf allen Himmelskörpern, aber auf den Himmels-körpern wohnen nicht nur Wesenheiten, sondern sie schicken auch Wirkungen aus. Höhere Wesenheiten bewohnen dauernd die Him­melskörper; untergeordnete Wesen werden von einem zum anderen Himmelskörper geschickt und bewirken Strömungen im Weltall. Diese Strömungen sind oft nichts anderes als gewissermaßen Wege, welche gewisse elementare oder höhere Wesenheiten von einem Wel­tenkörper zum anderen nehmen. So daß man anfangs sieht, mit dem hellsichtigen Bewußtsein, wie, ich möchte sagen, weltenmagnetische oder -elektrische Strömungen von einem Himmelskörper zum ande­ren gehen; dann löst sich das bei genauerer Betrachtung auf in eine Schar, in einen Schwarm von geistigen Wesenheiten, die von einem Himrnelskörper zum anderen ziehen.

Nun stehen diese drei Himmelskörper - Sonne, Erde und Mond -in einem gewissen gegenseitigen Verhältnis; sie schicken ihre Wir­kungen einander zu. Von einer besonderen Art solcher Wirkungen möchte ich Ihnen heute sprechen, meine lieben Freunde. Zu diesem Zwecke möchte ich zunächst die Sonne schematisch so abteilen, wie sie wirklich dem okkulten Betrachter erscheint, wenn er seine Auf­merksamkeit auf das richtet, was ich angedeutet habe. Dann sieht man die Sonne, wenn man sie in Projektion anschaut, wie sie kreuzförmig in vier Partien, in vier Räume geteilt ist.

Das Merkwürdige ist, daß man eine gewisse Strömung, könnte man sagen, bemerkt, wenn man vom ersten Anblick redet; aber wenn man nicht von dem ersten Anblick redet, sondern von dem, was sich der genaueren Betrachtung ergibt, dann kann man davon sprechen, daß man es zu tun hat mit Scharen hin- und herwandernder Wesenheiten. Und so kann man eine solche Strömung wandernder Wesenheiten

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sehen, aus einer gewissen, man möchte sagen, «Kammer» der Sonne [1] zur Erde hin, in die Erde eindringend, die Erde durchlebend mit Sonnenheit, das heißt mit der geistigen Kraft der Sonne, dann wieder zurückkehrend zur Sonne und in diese Kammer hier [III] zurück-kehrend.

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Dies ist also eine kosmische Realität. Aber man sieht noch mehr. Man sieht wiederum Strömungen, beziehungsweise etwas wie Wan­derungen von Scharen geistiger Wesenheiten in der folgenden Art. Man sieht gleichsam in Strömen Wesenheiten umfluten und durchflu­ten den Mond. Diese Wesenheiten gehen aus von dieser Kammer der Sonne [IV], aber sie gehen auch nach der anderen Richtung und durchfluten in dieser Weise den Mond. [Es werden die beiden Strö­mungslinien von Kammer IV ausgehend durch den Mond in Kam­mer IV zurückkehrend, gezeichnet.]

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Nun sehen Sie gleichsam beschäftigt bis jetzt die Bewohner dreier Sonnenorte. [1, III, IV].

Aber es entsteht noch eine andere Wanderung oder Strömung. Während also diese Wesenheiten, nachdem sie den Mond durchflutet haben, und zwar in einer doppelten Strömung, immer wiederum in die Sonne, in die vierte Kammer, zurückkehren, bildet sich außerdem noch eine weitere Strömung, die darin besteht, daß gewisse Wesen­heiten die Wanderung bis zum Mond nicht mitmachen, sondern, ehe sie beim Mond ankommen, den Weg wiederum zurück zur Sonne nehmen. [Es wird der Weg von IV nach II gezeichnet.]

Von dieser Figur sieht man eine Art von Spiegelbild, möchte ich sagen, im Weltenall. [Es wird die Bewegung von IV durch den Mond nach II gezeichnet.] Dieses Spiegelbild wollen wir zunächst außer Betracht lassen für das, was uns jetzt besonders interessiert.

Ich werde nun das, was ich hier aufgezeichnet habe, etwas anders zeichnen; ich werde Sie zunächst auf den Weg dieses Anderszeich­nens bloß dadurch führen, daß ich das Kreuz in der Sonne etwas ge­dreht zeichnen werde... [Lücke in der Nachschrift, siehe unter Hin­weise]

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Die Sache ist ganz dieselbe, nur das Kreuz ist gedreht; dadurch sind die Linien etwas anders, aber es beginnen und münden die Linien in denselben Sonnenräumen. [Zu den bisherigen Strömungen werden ergänzend noch hinzugefügt die spiegelbildlichen Strömungen von Kammer IV zu II und von Kammer IV durch den Mond zu Kammer II: punktierte Linien.] Sie sehen, daß dieses Spiegelbild ergänzen würde die Figur, die da entstanden ist, die gleichsam in den Kosmos hineingezeichnet ist; Sie sehen, daß uns dieses Spiegelbild unsere Fi­gur zu einer richtig symmetrischen ergänzen würde. Das heißt aber nichts anderes, meine lieben Freunde, als daß in einer wunderbaren Weise sich dem hellsichtigen Bewußtsein ein Formenzusammenhang, gleichsam eine in den Kosmos hineingezeichnete Figur enthüllt, wel­che darstellt die gegenseitigen Wirkungen von Sonne. Mond und Erde.

Nun will ich die Sache aber noch etwas anders zeichnen. Ich will einmal die Voraussetzung machen, daß das, was wir gewöhnt sind, Ahriman und Luzifer zu nennen, hier dazukommt und drückt und Unordnung hineinbringt. Und ich will jetzt das, was hier als Sonne ist, etwas unregelmäßiger zeichnen; ich will auch einmal etwas unre­gelmäßiger zeichnen, was ich als Erde gezeichnet habe; unregelmäßi­ger, was ich als Mond gezeichnet habe, und jetzt will ich wiederum die Verbindungen ziehen. Was habe ich Ihnen aber jetzt gezeichnet? Nichts anderes, als was ich vorher kosmisch gezeichnet habe, nur etwas verschoben durch Ahriman und Luzifer. Ich habe Ihnen jetzt gezeichnet den menschlichen Blutkreislauf: wie das Blut von der lin­ken Herzkammer fließt durch den Körper: auf der einen Seite durch das Gehirn, auf der anderen Seite durch den ganzen übrigen Körper, und zurückkommt als venöses Blut [in die rechte Vorkammer]; dann hier den kleinen Kreislauf durch die rechte Herzkammer, durch die Lunge, zurückkommend zur sogenannten linken Vorkammer.

Sie sehen daraus, daß man ablesen kann aus dem Kosmos dasjenige, was der Mensch als Mikrokosmos ist, - nur daß über ihn Ahriman und Luzifer gekommen sind. So ist der Mensch mit dem Weltenall verbunden; so ist er ein wirklicher Ausdruck der großen kosmischen

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Zusammenhänge. Und Sie brauchen jetzt nur zu setzen: also ist im Menschen das Herz der Mikrokosmos für die Sonne, die Lunge der Mikrokosmos für die Erde - für diese Hierarchie der Kräfte -, und das Gehirn der Mikrokosmos für den Mond, und Sie haben einen viel­sagenden bedeutungsvollen Zusammenhang.

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Wenn nun jemand das, was ich hier gezeichnet habe, zur Figur machte, das heißt aus dem Kosmos abzeichnete, und das in irgend­einem Motiv erblicken würde, so würde er einfach in diesem Form-zusammenhang ein tiefes Weltgeheimnis empfinden. Wenn irgendein Linienzusammenhang zugrunde liegt einer solchen Figur, und viel­leicht nur einzelne von diesen Linien ausgedrückt sind, die anderen in ganz anderer Weise, so würde derjenige, der Sinn hat - nicht für ver­standesmäßiges Auffassen der Sache, sondern für unmittelbare Emp­findungen, die auf ihn wirken - in diesem Formzusammenhang selbst ein Geheimnis des Weltenalls empfinden, das heißt, er würde sagen:

Ja, was drückt mir denn diese Form aus? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen, aber ich ahne es, ich empfinde es, daß damit ein Geheimnis

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ausgedrückt ist. - Das ist es zuweilen, was uns die Seele in Begei­sterung versetzt, was uns das Herz höher schlagen läßt, wenn wir irgendwelche Formen empfinden. Wir können uns nicht immer zum Bewußtsein bringen, was darinnen liegt, aber unser Astralleib, unser Unterbewußtsein, in dem Sinne, wie ich es im letzten Vortrag hier angeführt habe, wie er das Mathematische enthält, so enthält er die Geheimnisse des Kosmos und empfindet es in der Tiefe. Wenn der Mensch sagt: Ich empfinde irgend etwas als Schönheit, aber ich kann mir nicht erklären, was es eigentlich ist, - ja, dann geht in seinem Astralleib irgend etwas vor. Das, was vorgeht in ihm, könnte man etwa ausdrücken, indem man sagt: er fühlt tief geheimnisvolle Myste­rien des Weltalls, und das drückt sich nicht aus in ihm durch Vorstel­lungen und Gedanken, sondern durch ein Gefühl: Ach, schön ist diese Form! - Der Grund, warum er dies als Wärme durch seine Seele, durch sein Herz ziehen fühlt, der Grund ist der, daß in diesem Augen­blick, wenn er im Astralleibe so bewußt wäre wie im Ich, er eine tiefe Erkenntnis durchschauen würde in bezug auf den Kosmos.

Aus diesen Dingen heraus, meine lieben Freunde, muß man all­mählich empfinden lernen, wie Kunst eigentlich sich in der Mensch­heitsentwickelung allmählich ergeben hat, und wie die wahren Kunst­werke im echten Goetheschen Sinne eine Manifestation höherer Naturgesetze sind, als man mit dem gewöhnlichen Menschen-Sinn und -Verstand nur ahnen kann.

Und gerade wenn wir zurückgehen in jene Zeiten menschlicher Kunstentwickelung, die dem heutigen Menschen nach seiner Ansicht vielfach nur als «primitive Kunst» gilt, werden wir von einer Ahnung der Wahrheit solcher Dinge berührt. Wir werden es aus dem Grund, weil ja in den alten Zeiten ein gewisses primitives atavistisches Hellse­hen ein Gemeingut der Menschheit war, und weil die Leute aus die­sem Hellsehen heraus Formen geschaffen haben. Wollen wir manche Formen gerade der primitiven Künste verstehen, dann müssen wir sie dem ursprünglichen Hellseherbewußtsein der Menschheit zuschrei­ben. Die Menschen haben das, was in ihrem Astralleib gelebt hat, als lebendige Bewegung erfaßt und haben es in sich selbst auszudrücken

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versucht, ich möchte sagen, im höheren Tanze - ich habe das ja auch schon in früheren Vorträgen erwähnt - und haben es dann umgesetzt vom dionysisch-Tanzhaften in das apollinisch-Zeichnerische-Maleri­sche. Dadurch aber sind die Formen entstanden, die uns aus den pri­mitiven Künsten manchmal heute eben nur primitiv erscheinen, die aber in Wahrheit aus einem tieferen Verständnis der geistigen Welt heraus erwachsen sind, welches dazumal durch das ursprüngliche primitive Hellsehen vermittelt worden war.

Daraus aber, glaube ich, kann sich leicht die Empfindung ergeben, daß im Sinne echter wahrer Kunst der Ausspruch, daß sich über den Geschmack nicht streiten läßt, dennoch ein ganz richtiger Ausspruch ist. Im Grunde genommen läßt sich ja natürlich über alles streiten, auch über Sätze der Mathematik. Wenn der eine einen mathemati­schen Satz ableitet und etwas anderes bekommt als ein anderer, der ihn auch ableitet, kann man natürlich streiten; der Streit kann viel­leicht sogar heftig werden, aber es hat eben einer einen Fehler ge­macht. Nun, so leicht ist das natürlich bei der Schönheit, bei der Kunst nicht zu durchschauen. Aber durcharbeiten kann sich der Mensch doch zu einer Anschauung, bei welcher er sich klar wird, daß allerdings das, was künstlerisch ist in einem höheren Sinne, ebenso feste Gesetze und feste Formen hat, sogar Formen hat, welche in den tieferen Wesensgesetzen des Kosmos voll. begründet sind. Vielleicht darf sogar zugegeben werden, meine lieben Freunde, daß man sich zu dem Satze «über den Geschmack läßt sich nicht streiten» erst müh sam im Leben durchringt, daß das eine Anschauung ist, die man sich erst allmählich erwirbt. Aber man kann im Laufe seines Lebens zu der Anschauung kommen, daß die Kunst eine Manifestation höherer Naturgesetze ist, die ohne die Kunst nicht offenbar werden würden

- ich gebrauche noch einmal das Goethesche Wort -, man kann zu der Überzeugung kommen, daß die Kunst diese Manifestation höherer Naturgesetze ist. um die sich eigentlich im Grunde genom­men nicht streiten läßt.

Nun müssen wir, wenn wir das, was eben jetzt weniger als ein Ge­danke, vielmehr als Empfindung angeregt sein sollte, uns vor Augen

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halten, dann auch uns allmälilich zu einer anderen Empfindung hin­durcharbeiten können, zu der Empfindung: Ja, was geschieht denn eigentlich mit uns, wenn wir wahrhaft künstlerische Formen genie­ßen? - Wir gehen aus uns heraus. Wir versenken uns mit unserer Seele in das, was kosmisch ist, was außer uns real ist. Daher ist es ganz und gar nicht unnatürlich, was in den letzten Betrachtungen ausgeführt wurde, daß ein Bau, der in die Gegenwart und Zukunft hineingehört, ganz bewußt darauf ausgehen muß, solche Formen zu schaffen, durch die der Mensch das Bewußtsein bloß physisch-sinnlicher Gegenwart überwindet und durch Architektur, Skulptur und all das, was an einem solchen Kunstwerk sein kann, sich geweitet fühlt ins kosmi­sche Weltenall hinaus. Um aber für alle Gebiete der Kunst von dieser Empfindung durchdrungen sein zu können, dazu wird noch manches notwendig sein, damit es unsere Wissenschaft zugebe.

Der Darwinismus und all das, was sich im 19. Jahrhundert daran angeschlossen hat, hat große Verdienste um den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis und der Kulturentwickelung, allein er hat auch große Einseitigkeiten gebracht, zum Beispiel da, wo man etwas, was nur einseitig eben gilt, als ein allgemeines Weltgesetz hin­stellt: das ist das Gesetz von der sogenannten «Auslese». Dieses Ge­setz zu kennen ist außerordentlich wichtig, aber es als allgemeines Gesetz hinzustellen, ist eben einseitig. Man kam dann dazu, etwa in der folgenden Weise darüber zu denken. Man sagt: Woher kommt es, daß die Lebewesen zweclimaßig aufgebaut sind? Sie zeigen eine zweckmäßige Einrichtung, woher kommt dieses? - Nun, da sagt der monistisch gefärbte Materialist der Gegenwart: So töricht wie un­sere Vorfahren sind wir nicht mehr, wir sind heute gescheite Leute, ganz gescheite Leute, daher glauben wir nicht, daß irgendwelche gei­stigen Wesenheiten in den Organismus, in das organische Wesen eine zweckmäßige Einrichtung hineingelegt haben, sondern es liegt in der Natur, daß ursprünglich Zweckmäßiges und Unzweckmäßi­ges, bunt durcheinander, entstanden ist. Das ist dann in den Kampf ums Dasein getreten. Das Zweckmäßige hat im Kampf ums Dasein gesiegt, hat das andere ausgerottet, und es hat sich nun vererbt, so

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daß nach einer gewissen Zeit nur das Zweckmäßige vorhanden ist. - So hat man kausal, aus der Ursache heraus, sich die Zweckmäßigkeit der Einrichtung des Organischen erklärt.

Auf eines speziell angewendet, heißt das: Man nehme einmal an, irgendein Lebewesen lebe in einer bestimmten Umgebung und zeige die merkwürdige Eigenschaft, daß es in seiner Färbung der Umge­bung ähnlich ist. Nehmen wir an, das Wesen lebt im Sand, der eine gewisse Färbung hat. Man bemerkt in solchen Fällen, daß solche We­sen die Färbung des Sandes annehmen. Da sagt derjenige, der an der zweckmäßigen Einrichtung, wie eben gesagt, festhält: Zweckmäßig ist es wohl, daß die Wesen die Färbung ihrer Umgebung haben; daher können die Feinde diese Wesen nicht sehen und können sie nicht ver­folgen; sie werden nicht gefressen. Sie haben also denjenigen, die an­ders gefärbt sind als der Sand, voraus, daß sie nicht gefressen werden. Also waren einmal Wesen entstanden, die gefärbt waren wie der Sand, und solche, die alle möglichen Farben hatten; aber die, die alle mög­lichen anderen Farben hatten, die wurden von den Feinden gesehen und gefressen; die hatten Nachteil im Kampf ums Dasein. Die ande­ren aber, die zufällig die Farbe des Sandes hatten, die blieben übrig und vererbten diese Eigenschaft auf die Nachkommen. Die anders­artig gefärbten sind ausgestorben, und die, die so wie der Sand sind, die haben sich im Kampf ums Dasein erhalten. - Ein sehr plausibler Gedankengang, der ja auch Jahrzehnte die menschlichen Gemüter be­herrscht hat. Man kennt nun aber in Strandgegenden eine Fülle dieser Art von kleinen Wesen, die ausgesprochen die Farbe des Sandes haben. Die würden also - nach dem materialistisch-monistisch gefärbten Dar­winismus - so entstanden sein, wie wir jetzt auseinandergesetzt haben. Aber die Tatsachen machen einen Strich durch die Rechnung, denn sobald sich die Wesen zeigen, werden sie doch gefressen von ihren Feinden, soviel die nur Lust dazu haben. Die ganze Sache beruht also gar nicht auf den Tatsachen, sondern man hat es mit Phantasiegebilden des Materialismus zu tun.

Anstelle von all solchen materialistischen Spekulationen und Phan­tasiegebilden wird einmal die richtige Einsicht treten, wenn sie auch

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heute noch für viele grotesk und paradox erscheinen mag. Man wird einmal wirklich einsehen, warum der Eisbär weiß ist und nicht schwarz oder braun. Es wird die Einsicht kommen, daß es ein astrales Wesen gibt, und daß jedes tierische Lebewesen einen Astralleib hat, und daß in diesem Astralleib Vorgänge seelischer Art vorhanden sind. Die Wesen, die da mit ihrer grauen Farbe im Sande laufen, haben selbstverständlich kein Ich, aber sie haben einen Astralleib, wenn auch einen primitiven. Dieser Astralleib tritt ins Verhältnis zur Farbe der Umgebung, und die Folge des Verhältnisses, ich möchte sagen, zur Grauheit der Umgebung, ist, daß diese aufgenommen wird in dem schwächeren Bewußtsein des Astralleibes und sich das ganze Wesen damit durchdringt. Geradeso, wie Sie, indem Sie hierherge­hen, sagen: Das ist Holz, ich weiß, daß das Holz ist -, so lebt das Wesen im Sand und durchdringt sich im Astralleib mit der Färbung des Sandes, und das Bewußtsein «Färbung des Sandes» durchlebt das ganze Wesen. Das Wesen nimmt die Farbe der Umgebung an, es durchtränkt sich mit der Umgebungsfärbung.

Natürlich ändert sich die Färbung durch jenen Kampf, der entsteht zwischen der unmittelbaren Umgebungsfärbung und dem direkten Sonnenlicht. Aber auch die Einwirkung des direkten Sonnenlichtes auf den Astralleib ist so, daß tatsächlich auf dem Umweg durch das Seelische in den Astralleib etwas eindringt, was wiederum ausstrahlt und das ganze Wesen durchdringt. Bis in die Färbungen der Vogelfe­dern hinein, bis in die Färbung der Pelze der Tiere wird man erken­nen, daß diese Färbungen das tiefere Ergebnis jenes Bewußtseins sind, welches entsteht zwischen dem Astralleib und der Umgebung. Das heißt: Das lebendige Wesen lebt und webt im flutenden Farbensein und identifiziert sich mit diesem flutenden Farbensein. Das tut der Mensch auch unter der Schwelle seines Ich, nur in einem höheren Sinn, das heißt unser Leben ist verbunden mit dem Leben des fluten-den Farbenmeeres. Bloß eines haben wir als Menschen voraus, das ich jetzt gewissermaßen nur andeutend ausdrücken kann. Denken Sie sich einmal - zum Vergleich sei es gesagt -, es gäbe Tiere, die immer unter dem Wasser schwimmen und nie an die Oberfläche kommen.

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Die haben Wasser in der Umgebung; sie richten sich nach dem ein, wie das ist, was sie aufnehmen aus dem Wasser. Andere müssen an die Oberfläche kommen und richten sich auch ein nach dem, was über der Oberfläche des Wassers ist. Statt des Wassers denken Sie sich nun ein flutendes Farben- und Lichtmeer. Alle Tiere leben wie unter der Oberfläche des Farben- und Lichtmeeres, daher richten sie ursprünglich ihre Färbung ein im Sinne dieses Farben- und Lichtmeeres.

Aber der Mensch ragt mit seinem Ich-Bewußtsein aus dem Farben-und Lichtmeer heraus und das gibt ihm sein Ich-Bewußtsein. Wo der Mensch beeinflußt werden soll in seiner Färbung, wie bei den ver­schiedenen Rassen, da geschieht die Beeinflussung nicht durch Farbe und Licht, sondern durch die Wärme- und klimatischen Verhältnisse. Aber aus einem ganz anderen Grunde sind die Kolibris in gewissen Gegenden an ihrer Außenseite mit allerlei Farben bedeckt, als der Mensch in diesen Gegenden mit negerhaftem Schwarz bedeckt ist. Bei den Kolibris sind es die Farben- und Lichtverhältnisse, bei dem Men­schen - zum Beispiel, daß der Neger schwarz ist - sind es die Wärme-und klimatischen Verhältnisse, weil eben der Mensch mit seinem Ich sich herausarbeitet aus dem Meere des Farbigen und dieses nur in seinem Astralleib verarbeitet. Sonst würde sicherlich - wenn ich mich radikal und daher auch natürlich paradox ausdrücken soll - der Land­mann, der immer unter Grünem lebt, wenn er nicht ein Ich hätte, durch das er hinausragt aus dem flutenden Farbenmeer, mit einer grü­nen Hautfarbe herumgehen; und der Städter, der immer unter grauen Häusern lebt und nur selten hinausgeht - wenn Ursprünglichkeit in diesem Wechselverhältnis wäre -, würde schrecklich grau aussehen in seiner Hautfarbe. Aber doch stecken auch wir drinnen, schwimmen gleichsam mit unserem Astralleib in dem flutenden Farbenmeer, nur haben wir das, was der Astraileib aus dem flutenden Farbenmeer auf­genommen hat, auf eine andere Art aufgenommen. Wir färben da­durch nicht unser Haar, tragen auch keine Federn, die wir färben würden durch das, was wir durch den Astralleib aufnehmen, dafür aber empfinden wir, ohne daß wir die Farbe ausbreiten an uns, an der

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Farbe. Würden wir das Grün aufnehmen in unseren Astralleib, oder Blau oder Rot, und es einfach ausbreiten, und uns nach der Färbung der Außenwelt die Eigenfärbung geben, dann würden wir ganz an­ders zur Farbenwelt stehen als jetzt. Aber das tun wir nicht. Wir neh­men die Farben in einem geistigen Sinne in uns herein und stehen dem Blau zum Beispiel so gegenüber, daß es für uns der Ausdruck wird der ruhigen Empfindung. Rot ist der Ausdruck des leidenschaftlich Feu­rigen, das heißt, es setzt sich für uns, weil wir mit unserem Ich aus dem flutenden Farbenmeer herausragen, in flutendes Empfinden um. Dieses bezeugt uns also, daß wir im Grunde genommen gegenüber dem Farbensein in dem Kosmos drinnen schweben, und daß wir im Grunde genommen, selbst wenn wir nur den natürlichen Farben ge­genüberstehen, gerade der Farbenwelt gegenüber, auch wenn sie nur die natürliche ist, schon versucht sind, ästhetisch zu empfinden, Schönheitsmaßstäbe anzulegen. Das aber bedingt, daß wir lernen, mit den Farben zusammenzuwachsen, daß wir lernen, in dem Farbigen wie in unserem Element zu leben.

Sehen Sie, selbst bei solchen Leuten, die in der Gegenwart nachden­ken über manches Künstlerische, findet man die Empfindung, die hiermit ausgesprochen ist, nicht sehr häufig. So zum Beispiel können Sie bei dem ausgezeichneten Künstler Hildebrand, den ich schon öf­ters angeführt habe, der immerhin ein geistvolles Buch geschrieben hat über künstlerische Formen, die Meinung finden, daß man eine bloße Farbe zum Malen eines Bildes nicht gebrauchen könne; erst wenn die Zeichnung entstünde, entstünde die Figuration. Das ist aber nicht richtig. Der betreffende Künstler glaubt, wenn ich eine Lein­wand vor mir habe und darauf Farbe auftrage, so stünde ich einfach der Farbe, sagen wir, dem Blau und Rot gegenüber. Während, wenn ich Grenzen, Konturen zeichne, ich einem Ausdruck gegenüber-stünde, so stünde ich, meint der betreffende Künstler, wenn ich eine Fläche mit der blauen oder roten Farbe überstreiche, keinem Aus­druck gegenüber. Das ist aber nicht wahr. Eine Fläche, die ich blau überziehe, drückt mir in Wahrheit aus das, was etwa in folgenden Worten gesagt werden könnte: An der Stelle des Raumes, die dir blau

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gegenübertritt, hast du das Gefühl, daß du immer tiefer und tiefer, ferner und ferner, wie ins Unendliche mitgehen kannst. Die blaue Farbe holt dich gleichsam, du kannst mit ihr immer weiter und weiter gehen. Von der roten Farbe dagegen hast du mehr das Ge­fühl: sie kommt mir entgegen, sie kommt auf mich zu, da bekämpft sie mich.

Das ist natürlich etwas radikal ausgedrückt, aber die ganze Far­benskala charakterisiert sich als Farbe bloß in dieser Weise, daß sie uns als ein unmittelbar Lebendiges gegenübersteht. Ebenso wie in scharf konturierten Formen etwas ausgesprochen wird, wird in der Farbengebung etwas voll Differenziertes vor uns hingestellt. Aber zu diesen Dingen durchzudringen, das wird erst wiederum die Aufgabe der zukünftigen Kunst sein. In welchem Sinne, meine lieben Freunde?

Wenn wir uns aufklären wollen über diesen Sinn, ja, da wollen wir einmal ins Auge fassen, was wir öfter schon gehört haben, wie der Geist der menschlichen Entwickelung eigentlich ist.

Die menschliche Entwickelung ist ja ausgegangen von primitiven, atavistischen, hellsichtigen Bewußtseinszuständen. Der Mensch hat sich dann allmählich heraufgearbeitet, auch noch durch die verschie­denen Kulturzustände, die wir kennengelernt haben, bis er in der Zeit der griechisch-lateinischen Epoche sozusagen sein Ich in der Ver­standes- oder Gemütsseele geboren hat. Und jetzt leben wir in der Zeit, wo das Ich heraufgeholt wird in die Bewußtseinsseele und dann allmählich hinaufzurücken hat in Geistselbst oder Manas.

Wenn wir in der Zeit, bevor das Ich, das Bewußtsein vom Ich gebo­ren worden war, das ins Auge fassen, was wir mit der Kunst in Zu­sammenhang bringen können, müssen wir sagen: da ist die Kunst hervorgegangen wie aus einem unmiuelbaren Belebtsein des Men­schen aus der geistigen Welt heraus; wie ein Ausdruck dessen, was man als Belebung empfunden hat in der geistigen Welt, entstanden allerlei künstlerische Formen. Ich will ein Beispiel sagen: Der Mensch geht bei hereinbrechender Nacht hinaus, er sieht den Mond; sein Be­wußtsein damals, als er noch atavistisches Hellsehen hatte, das wußte:

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Ja, jetzt beginnt dir aufzuleuchten der Zusammenhang zwischen dei­nem Gehirn und dem Mond, und das, was die Erde von ihrem Wesen erzählt, du atmest es mit deiner Lunge. Die Sonne ist untergegangen, aber das, was du von ihr in dir selbst trägst, was sie in dir erzeugt hat, das fühlst du als den Pulsschlag deines Herzens. - Und dann fühlte der Mensch, oder er sah es auch im atavistischen Hellsehen in diesen alten Zeiten: Ja, es besteht Zusammenhang zwischen Erde, Sonne und Mond. Oh, die Geister schweben auf und nieder. - Welcher Aus­druck für das Auf- und Niedersteigen der Geister zwischen Sonne und Mond könnte da wohl passend sein? Der Ausdruck:

«Wie Himmeiskräfte auf- und niedersteigen,

und sich die goldnen Eimer reichen»

drückt die Bewegung aus. Und man empfand: ich muß es ausdrücken, ich brauche es ja nur so zu machen - - oh, ich drücke aus die Bewe­gung! Was in die Hand wollte, wenn man es im Kosmos empfunden hatte, das drücke ich mit Kreide aus. [Es wurde offenbar gezeichnet, diese Zeichnung ist nicht überliefert.] Ich zeige das für die einfachste Form, für die komplizierteste ist es genauso.

Dann kam die Zeit für die Menschheitsentwickelung, wo das alte Hellsehen immer mehr heruntergegangen war; der Mensch wurde immer mehr und mehr herausgestellt in die bloße Wahrnehmung der äußeren Sinneswelt. Da kam nichts mehr herein in ihn von einer gei­stigen Welt aus. Es entstand die Notwendigkeit, woanders das herzu-nehmen, was man ausdrücken wollte. Ursprünglich lebte aller An­trieb zur Kunst in der eigenen menschlichen Wesenheit und ihrer Be­weglichkeit. Erst hatte der Mensch dasjenige, was er der Welt gegen­über empfand, nachzumachen, nachzubilden versucht, indem er mit seiner Hand, in seiner Hand ausdrückte die Form, die in seine Hand gefahren ist wie eine Kraft aus dem Kosmos. Dann sollte er das, was er in Gebärden ausdrückte, umsetzen in irgendeine Form. Es fiel dem Menschen nicht ein, etwas nachzuahmen. Was in ihm lebte, was in ihm pulsierte, was aus dem Kosmos in ihn hineinwuchs und ihn durchglühte, durchtränkte, durchwogte und durchwebte, das wurde

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so zur Kunst ohne Nachahmung, indem das innere Leben, das in ihm fortwellte, ihm einfach in ihm selbst das Werkzeug führte. Der Kosmos führte selber in ihm das Werkzeug.

Damit war es vorbei, als das alte atavistische Hellsehen und damit das Zusammenhängen des Menschen mit dem Kosmos aufgehört hat, und die imitative Kunst begann, das Nachahmen, weil man nicht mehr in sich hatte die Linienführung und das andere der Kunst, nicht mehr in sich hatte dies Gefühl: Ich will mich nähern der Gottheit; ja, da ist sie, die Gottheit, ich komme zu ihr. - In diesem Augenblick, wo man das Gefühl entwickelte, aufzugehen in der Gottheit, da wurde es einem «blau » vor den Augen; und wollte man es ausdrücken, man drückte es in Blau aus. Aber kam einem ein Feind entgegen, ein frem­des Wesen, das einen zurückstieß: Rot! Man hatte das als unmittel­bares Erlebnis, man brauchte nichts zu imitieren. Damit war es aus, als der atavistische Zusammenhang mit dem Weltenall aufhörte, und es begann die imitative Kunst, die in dem griechisch-lateinischen Zeitalter für die Plastik, und für die Malerei an der Wende zum fünften Zeitalter ihren Höhepunkt erlebte.

Meine lieben Freunde, auch die äußere Geschichte könnte diejeni­gen, die sehen wollten, lehren, daß die Dinge so sind. Versuchen Sie einmal bloß darüber nachzudenken, warum diejenigen Völkerschaf­ten, die von Nord- oder Mitteleuropa mit den Menschen der grie­chisch-lateinischen Kultur in Zusammenhang gekommen sind, bei diesen so lange als Barbaren gegolten haben, warum sie lange nicht sich in die Kunst hineinfinden konnten. Aus keinem anderen Grund, als weil diese keltisch-germanisch-slawischen Völkerschaften noch auf einer früheren Bewußtseinsstufe standen als die griechisch-latei­nischen Völker. Sie waren noch nicht angekommen bei der vollen Geburt des Ich, sie verstanden nichts von der imitativen Kunst. Sie bildeten gleichsam den Nachschub einer früheren Zeit. Man studiere daher die Kunst im Mittelalter, und man wird finden, daß das, was nicht imitative Kunst ist, eigentlich das Bedeutsame in der mittelalter­lichen Kunst bildet. Die architektonische Kunst, die Kleinkunst, in denen man nicht nachahmt, sondern aus dem Innern heraus schöpft,

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das ist da das Charakteristische, während sich erst nach und nach auch die nordischen Völker durchdringen mit dem, was das Imita­tive der Kunst ist.

Jetzt aber leben wir in einem Zeitalter, wo wieder die Menschheit sich versetzen muß in die geistige Welt, wo sie von der imitativen Kunst übergehen muß zu einer wahren künstlerischen Neuschöp­fung, wo alles neu werden muß. Wahrhaftig, die imitativen Künste haben mit den Schöpfungen Raffaels und Michelangelos und so wei­ter ihren Höhepunkt erreicht. Aber jetzt steht uns etwas anderes be­vor: ein bewußtes Eindringen in die geistige Welt, und damit ein Her­unterholen desjenigen, was in Formen und Farben in dem uns geistig umflutenden Weltmeer des Kosmos ist. Damit muß begonnen wer­den. Heruntergeholt aus der geistigen Welt muß das werden, was sich nicht durch Nachahmung dessen gewinnen läßt, was die Sinne in der äußeren Welt um uns herum wahrnehmen. Inwiefern das gewisse Formen bedingt, die mit unserem Bau zusammenhängen, davon ha­ben wir schon gesprochen. Inwiefern es uns hinweist auf ein ganz neues Studium auch des Malerischen, davon werden wir ein nächstes Mal sprechen. Ich wollte heute nur noch einiges beitragen zur Vertie­fung. der Empfindungen, die wir gewinnen müssen, wenn wir den notwendigen Übergang zu unserem eigenen tieferen Verständnis fin­den wollen, der sich ergeben muß, wenn die ja schon charakterisier­ten alten Kunstformen und Kunstgestaltungen in neue übergehen sollen.

Ich hoffe, daß gerade diejenigen unter unseren lieben Freunden, die so hingebungsvoll, so opferwillig, wie das jeder Tag uns zeigt, an dem künstlerischen Bezwingen der eben uns notwendig gewordenen For­men arbeiten, daran arbeiten, auf daß, wenn auch nur ein primitiver, so doch einmal ein Anfang gegeben wird in einer spiritualisierten Kunst, daß unsere lieben Freunde immer mehr Enthusiasmus, immer mehr und mehr Freude auch gewinnen in dem Bewußtsein, daß der Weltengeist von uns fordert, das Unsrige dazu beizutragen, um ein­zuwerfen in die menschliche Entwickelung dasjenige, was in unserem fünften und was beim Übergang in das sechste Zeitalter in die

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menschliche Entwickelung eingeworfen werden soll. Indem wir dies verstehen, meine lieben Freunde, verbünden wir uns mit dem Welten-geist, der in der Menschheitsentwickelung arbeitet, und den wir zu erkennen suchen durch dasjenige, was wir wahre und wahr empfun­dene Geisteswissenschaft nennen; jene Geisteswissenschaft, welche zugleich in all ihren Impulsen so ist, daß sie in das künstlerische Füh­len und das künstlerische Gestalten und das künstlerische Erleben und Erfühlen der Welt mit ihrem Erleben übergehen kann. Wahrhaf­tige Begeisterung und Hingabe ist notwendig! Aber diese Begeiste­rung und Hingabe wird uns werden, wenn wir in Liebe uns auf­schwingen zu dem Geiste, der die Menschheit geleitet hat von Anbeginn ihrer Entwickelung im Kosmos, und der auch uns nicht verlassen wird, wenn wir uns ihm von rechtem Herzen und im rech­ten Sinne widmen; wenn uns die Arbeit nicht zu einem sentimenta­len, sondern zu einem echten Gebet wird, zu jenem Gebet, das besteht in dem lebendigen Erfüllen unseres Inneren mit der Kraft, die uns aus dem Weltengeist, der uns führt, ergreift, und in dem lebendigen Erfühlen zugleich jener begeisternden Impulse, die in uns sein können, wenn wir wissen: Du läßest dir beschwingen dei­ner Hände und deiner Seele Arbeitskraft durch das, was als Geist in deinen Händen arbeiten mag!

In diesem Sinne wollen wir weiterarbeiten.

DIE SCHÖPFERISCHE WELT DER FARBE Fünfter Vortrag, Dornach, 26. Juli 1914

#G286-1992-SE186 Wege zu einem neuen Baustil

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DIE SCHÖPFERISCHE WELT DER FARBE

Fünfter Vortrag, Dornach, 26. Juli 1914

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Meine lieben Freunde! Lassen Sie uns heute die Betrachtungen, die wir hier angestellt haben über künstlerische Gegenstände, etwas fort-setzen. Es sollen ja Betrachtungen sein, die uns dienen können bei den Gedanken, mit denen wir die Arbeit, die uns hier obliegt, durchdrin­gen müssen. Wenn wir dasjenige, was wir gewissernnaßen als unsere Aufgabe, ganz primitiv erst, beginnen, mit richtigen Gedanken be­gleiten wollen, dann kann es von Wichtigkeit sein, manches uns vor die Seele zu führen, was aus der Betrachtung der menschlichen Kunst-leistungen und ihres Zusammenhanges mit der Menschheitskultur überhaupt unsere Seele beeindrucken kann.

Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter des 19. Jahrhun­derts, hat einen, man möchte sagen, radikal klingenden Ausspruch in bezug auf Goethe getan. Er hat nämlich gesagt, wann erst die Zeit kommen werde, in der die Menschheit das Allerwichtigste bei Goethe richtig einsehen würde. Er hat diesen Zeitpunkt in das Jahr 2000 ver­legt. Nicht wahr, es ist doch eine hübsche Zeit, die nach dieser An­schauung verlaufen soll, bis die Menschheit soweit gekommen sein wird, daß sie, nach dieser Ansicht, das Allerwichtigste bei Goethe verstehe. Und man kann ja auch, gerade wenn man auf unsere Zeit blickt, nicht die Neigung empfinden, einem solch radikalen Aus­spruch zu widersprechen. Denn was sieht Herman Grimm als das Wichtigste bei Goethe an? Nicht daß Goethe Dichter war, daß er dieses oder jenes einzelne Kunstwerk geschaffen hat, sondern das sieht er als das Wichtigste an, daß er alles, was er geschaffen hat, aus dem ganzen vollen Menschen heraus geschaffen hat, daß allen Einzel­heiten seines Schaffens die Impulse des vollen Menschentums zu­grunde lagen. Und man darf sagen, daß unsere Zeit recht weit entfernt ist von dem Begreifen desjenigen, was zum Beispiel eben in Goethe lebte als volles Menschentum. Selbstverständlich will ich gar nicht, indem ich dieses ausspreche, auf die ja oftmals gerügte spezialistische

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Betrachtungsweise der Wissenschaft verweisen. Die spezialistische Betrachtungsweise der Wissenschaft ist auf der einen Seite eine ge­wisse Notwendigkeit. Aber viel eingreifender als das Spezialistentum der Wissenschaft ist etwas anderes, ist das Spezialistentum unseres Lebens! Denn dieses Spezialistentum unseres Lebens führt dahin, daß immer weniger und weniger die einzelne Seele, die in diesen oder je­nen speziellen Vorstellungs- oder Empfindungsltreis eingerammt ist, die andere Seele, die wiederum in etwas anderem sich spezialisiert, verstehen kann. Und gewissermaßen Spezialistenseelen sind gegen­wärtig alle Menschen. Ganz besonders aber tritt uns entgegen diese Anschauung von der Spezialistenseele, wenn wir die Kunstentwicke­lung der Menschheit betrachten. Und gerade deshalb ist es notwendig

- wenn es auch nur in primitiven Anfängen geschehen kann -, daß in einer Weise, auf die aufmerksam gemacht werden konnte schon in früheren Vorträgen, wieder eine Art von Zusammenfassung des gan­zen Geisteslebens stattfindet. Und aus dieser Zusammenfassung des ganzen Geisteslebens wird dasjenige, was die künstlerische Form ist, hervorgehen. Wir brauchen gar nicht eine sehr weit ausgreifende Be­trachtung anzustellen, um das, was gesagt worden ist, zu belegen. Ich möchte, weil wir ja vielleicht uns am besten verständigen, wenn wir von etwas Naheliegendem ausgehen, auf ein ganz kleines Stück jener völlig unverständigen und oftmals so lächerlichen Angriffe gegen un­sere Geistesströmung verweisen, die gegenwärtig so zahlreich sich überall geltend machen.

Man findet es so billig da, wo man uns vor der Welt - man darf heute schon sagen, mit völlig aus der Luft Gegriffenem - anschwärzen will, zugleich etwa hinzuweisen darauf, daß wir ans vergangen haben damit, daß wir da oder dort unsere Räumlichkeiten in einer Weise gestalten, wie wir das für unseren Sinn angemessen finden. Man wirft uns vor, daß wir da oder dort unsere Versammlungslokale mit farbi­gen Wänden auskleiden, und man ergeht sich ja hinlänglich schon über die, wie man sagt, «Wunderlichkeit» unseres «Johannesbaues», von der man sagt, daß sie ja für eine wirkliche Theosophie - so drückt man sich aus - doch völlig unnötig sei. Ja, man betrachtet in gewissen

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Kreisen eine «wahre Theosophie» als einen von alierlei dunklen Ge­fühlen durchzogenen Seelenmischmasch, der ein wenig schwelgt darin, daß die Seele in sich ein höheres Ich entfalten könne, dabei aber nichts anderes als egoistische GefüMe im Auge hat. Und vom Stand­punkt dieses Seelerirnischmasches, dieser unklaren Duselei, findet man es überflüssig, wenn sich ausleben soll das, was eine geistige Strö­mung ist, in der äußeren Form, wenn diese äußere Form auch einge­ständlich eine anfängliche, primitive sein muß. Man denkt in diesen Kreisen, man könne ja überall, wo man sich befindet, über diesen Seelenmischmasch, über dieses unklare Duseln von dem göttlichen Ich im Menschen, schwätzen. Wozu sei es denn notwendig, daß da in Angriff genommen wird allerlei Ausleben in diesen oder jenen son­derbaren Formen?

Nun, meine lieben Freunde, es ist ja durchaus nicht die Anforde­rung zu stellen, daß solche Leute, die so etwas als Vorwurf drechseln, auch wirklich denken können; diese Anforderung kann man heute wirklich an die wenigsten Menschen stellen. Aber wir müssen doch über mancherlei Punkte vollständig zur Klarheit kommen, damit wir die entsprechenden Fragen in der eigenen Seele wenigstens richtig beantworten können.

Ich möchte Ihren geistigen Blick hinlenken auf einen Künstler, der zu Ende des 18. Jahrhunderts mit einer gewissen starken Begabung in das Kunstleben eingetreten ist als zeichnender, als malender Künst­ler: Carstens. Ich will durchaus nicht über den Wert der Carstens­schen Kunst sprechen, kein Bild seines Wirkens und auch nicht seine Biographie entrollen, meine lieben Freunde, sondern ich möchte nur aufmerksam machen, daß in Carstens, wenn nicht eine große maleri­sche, so doch eine große zeichnerische Kraft steckte. Wenn man nun in die Seele dieses Carstens hineinblickt, den Blick wendet auf seine künstlerische Sehnsucht, so kann man gerade bei ihm in einer gewis­sen Weise sehen, man möchte sagen, wo es fehlte. Er möchte den Stift ansetzen, er möchte Ideen zeichnen, malerisch verkörpern, nur ist er nicht in der Lage, in der noch, ich will sagen, Raffael oder Leonardo waren, oder, um aus dem Gebiet der Dichtkunst ein Beispiel zu geben,

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in der Dante war. Raffael, Leonardo, Dante sie lebten in einer vollen, in einer iahaltsvollen und zu gleicher Zeit in den Menschen­seelen wirklich lebenden Kultur darinnen, in einer Kultur, die die Menschenseele umspannte. Wenn Raffael Madonnen malte, so harte das einen tieferen Grund. Es lebte das, was eine Madonna ist, in den menschlichen Herzen, in den menschlichen Seelen, und - im edelsten Sinn sei das Wort ausgesprochen - aus der Seele des Publikums heraus strömte etwas entgegen den Schöpfungen dieser Künstler. Wenn Dante die menschliche Seele entführte bis in die geistigen Gebiete, so brauchte er doch nur seinen Inhalt, seinen Stoff zu nehmen unter demjenigen, was in gewisser Weise erklang in jeder menschlichen Seele. Man möchte sagen, diese Künstler hatten in der eigenen Seele etwas, was als Substanz in der allgemeinen Kultur vorhanden war. -Man nehme irgendein, und sei es ein noch so abgelegenes Werk der damaligen wissenschaftlichen Kultur in die Hand, man wird finden, daß für diese wissenschaftliche Kultur überall doch Anknüpfungs­punkte, Hinlenkungspunkte waren zu demjenigen, was in allen See­len, selbst bis in die untersten Kreise hinein, lebendig war. Die Ge­lehrten derjenigen Kulturkreise, aus denen Raffael seine Madonnen schuf, standen der Idee der Madonna durchaus anerkennend und so gegenüber, daß diese Idee der Madonna in ihnen lebte. Und so er­scheinen die Schöpfungen der Kunst wie ein Ausdruck des allgemei­nen, einheitlichen Geisteslebens. Das ist, was in einem einzelnen Menschen wiederum bei Goethe aufgetreten ist, in der Weise, wie es an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert sein konnte. Das ist es, was in unserer Zeit so wenig verstanden wird, daß Herman Grimm, wie gesagt, das Jahr 2000 abwarten wollte, bis einigermaßen ein solches Verständnis sich wiederum für die Welt eröffnet.

Fragen wir aber wieder bei Carstens an. Er nimmt Homers Ilias, und dasjenige, was er da liest an Vorgängen, das prägt er dann den Formen, die sein Stift schafft, ein. Ja, denken Sie, wie anders das 18. Jahrhundert und der Anfang des 19. Jahrhunderts zu den Gestalten Homers stand als etwa die Seele des Raffael zu den Gestalten der Ma­donna oder der anderen Motive dieser Zeit! Man möchte sagen, der

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Inhalt der Kunst war für die großen Epochen der Kunst ein selbstver­ständlicher, weil er aus dem floß, was die Herzen der Menschen im Innersten bewegte. Im 19. Jahrhundert begann die Zeit, wo der Künstler anfangen mußte, die Inhalte dessen, was er schaffen wollte, zu suchen. Wir haben es schnell erlebt, daß der Künstler gewisserma­ßen zu einer Art Kultur-Eremiten geworden ist, der es im Grunde genommen nur mit sich selbst zu tun hat, bei dem man sich frägt: Wie ist das Verhältnis zu seiner Gestaltenwelt bei ihm selber? - Man könnte die Geschichte der menschlichen Kunst des 19. Jahrhunderts aufrollen, um zu sehen, wie es in dieser Beziehung mit der Kunst ist.

Und so ist es dann gekommen, daß jenes nicht nur kühle, sondern kalte Verhältnis der Menschheit zur Kunst eingetreten ist, das ge­genwärtig besteht. Man denke sich heute einen Menschen in einer modernen Stadt, der durch eine Bildergalerie oder Bilderausstellung geht. Ja, meine lieben Freunde, da schaut nicht auf ihn dasjenige, was seine Seele bewegt, dasjenige, womit er innerlich vertraut ist, son­dern da schaut etwas ihm entgegen, was, radikal ausgedrückt, in einem gewissen Sinne für ihn zu einer Summe von Rätseln wird, die er erst lösen kann, wenn er sich einigermaßen vertieft in das beson­dere Verhältnis, das dieser oder jener Künstler zur Natur oder zu irgend etwas anderem hat. Da stehen wir vor lauter individuellen Rätseln oder Aufgaben. Und während man glaubt - das ist das Be­deutsame an der Sache -, während man glaubt, künstlerische Rätsel zu lösen, löst man eigentlich im höchsten Maße fortwährend un­künstlerische Aufgaben, nämlich psychologische Aufgaben der Art, wie der oder jener Künstler heute die Natur anschaut, oder Auf­gaben der Weltanschauung, oder dergleichen Aufgaben, die aber gar nicht in Betracht kommen, wenn man sich in die großen Kunst-epochen vertieft. Da kommen wirkliche künstlerische Aufgaben in Betracht, auch für den Beschauer, wirkliche ästhetische Aufgaben, weil das Wie etwas ist, was dem Künstler zu schaffen macht, während das Was nur die Substanz ist, etwas ist, was ihn umfließt, in das er eingetaucht ist. - Man könnte sagen: Unsere Künstler sind gar keine Künstler mehr, sie sind Weltbetrachter von einem besonderen Standpunkte

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aus, und was sie da beschauen, was ihnen da auffällt, je nach ihrem Temperament, das gestalten sie. Das sind aber psychologische weltanschauungsaufgaben, Aufgaben der Geschichtsbetrachtung und so weiter; aber das Wesentliche der künstlerischen Wie-Betrach­tung das ist etwas, was unserer Zeit fast vollständig abhanden gekom­men ist. Vielfach fehlt das Herz für solche künstlerische Wie-Betrach­tung.

Ein gut Stück Schuld an alledem, worauf mit wenigen Worten auf­merksam gemacht worden ist, hat unsere vom Grunde aus theoreti­sche Weltanschauung. So praktisch die Menschen in bezug auf Indu­strie, Technik, kommerzielle Verhältnisse geworden sind, so eminent theoretisch sind sie in bezug auf ihr Denken über die Welt geworden, in bezug auf die Vorstellungen, die sie sich über die Welt machen. Eine Brücke zwischen dem, was zum Beispiel unsere heutige Wissen­schaft betrachtet, und dem, was der Künstler als seine Weltbetrach­tung hat, ist nicht nur schwer zu schlagen, sondern es haben auch die wenigsten das Bedürfnis, sie zu schlagen. Und ein Wort, wie das von Goethe: Kunst ist die Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals zum Ausdruck kommen könnten - ist für unsere Zeit völ­lig unverständlich, wenn auch dieser oder jener glaubt, es zu verste­hen. Denn unsere Zeit hält fest an den alleräußerhchsten, den aller­abstraktesten Naturgesetzen, an den Naturgesetzen, die sich schon, man möchte sagen, an das Mathematische, an das abstrakteste Mathe­matische überall anlehnen, und will nicht gelten lassen irgendeine Vertiefung in die Wirklichkeit, die über das Abstrakt-Mathematische, oder das, was dem Abstrakt-Mathematischen ähnlich gebildet ist, hinausgeht. Und so ist es denn kein Wunder, wenn unserer Zeit eigentlich verlorengegangen ist jenes lebendige Element der Seele, welches in den Weltzusammenhängen wirksam jene Substantialität empfindet, die herausquellen muß aus diesen Weltenzusammenhän­gen, wenn Kunst entstehen soll.

Aus wissenschaftlichen Begriffen, auch aus den abstrakt-theo­sophischen Begriffen wird sich niemals eine Kunst, höchstens eine stroherne Allegorie oder ein steifer Symbolismus entwickeln lassen,

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aber keine Kunst. Dasjenige, was die heutige Zeit denkt, was Vorstel­lung über die Welt ist, ist an sich schon unkünstlerisch, strebt danach, unkünstlerisch zu werden.

Die Farben - was sind sie fur unsere wissenschaftliche Betrachtung geworden? Schwingungen des Abstraktesten in der Materie, des Äthers; Schwingungen des Äthers von soundsoviel Wellenlänge und so weiter. Man stelle sich nur einmal vor, wie weit entfernt die Wellen des schwingenden Äthers, die heute unsere Wissenschaft sucht, sind von dem unmittelbar Lebendigen der Farben. Wie ist es da anders möglich, als daß man eigentlich völlig vergißt, auf dieses Lebendige, auf dieses Unmittelbare der Farbe, wirklich zu achten. Wir haben bereits zum Schlusse der letzten hier angestellten Betrachtung darauf hingewiesen, wie dieses Element des Farbigen im Grunde genommen ein Flutendes, Lebendiges ist, in dem wir auch lebendig mit unseren Seelen darinnen leben. Und hingewiesen habe ich darauf, daß kom­men wird eine Zeit, in der man den lebendigen Zusammenhang der flutenden Farbenwelt mit dem, was sich äußerlich als gefärbte Wesen und Gegenstände zeigt, wiederum einsehen wird.

Dem Menschen ist es deshalb schwer, weil der Mensch aus dem Grunde, daß er während der Erdenevolution sein Ich auszubilden hat, aus diesem flutenden Farbenmeer gleichsam zu einer reinen Ich-Betrachtung heraufgestiegen ist. Mit dem Ich erhebt sich der Mensch aus dem flutenden Farbenmeer; die Tierwelt steht noch voll darin in diesem flutenden Farbenmeer, und daß das eine oder andere Tier die­ses oder jenes, grünes, braunes, rotes, schwarzes, weißes Gefieder oder Wollhaar hat, das hängt zusammen mit dem ganzen Verhältnis der Seele dieses Tieres zu dem flutenden Farbenmeer.

Das Tier betrachtet die Gegenstände mit seinem Astralleib, wie wir mit dem Ich sie betrachten, und es fließt ein in diesen Astralleib das, was an Kräften in den Gruppenseelen der Tiere vorhanden ist. Unsinn ist es, zu glauben, daß das Tier - auch die höheren Tiere - die Welt so sieht, wie der Mensch sie sieht. Aber völlig unverständlich ist in die­sem Punkt das Richtige dem Gegenwartsmenschen. Der Gegenwarts­mensch glaubt, wenn er bei einem Pferde steht, daß das Pferd ihn

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genauso sieht, wie er das Pferd sieht. Was ist natürlicher für den Ge­genwartsmenschen, als zu glauben, daß, weil das Pferd Augen hat, das Pferd ihn geradeso sieht, wie er das Pferd. Und doch ist dies eben ein völliger Unsinn. Denn geradesowenig, wie der Mensch ohne Hell-sehen einen Engel sieht, würde das Pferd ohne Heilsehen einen Men­schen sehen, denn der Mensch ist für das Pferd einfach nicht da als physisches Wesen, sondern nur als geistiges Wesen, und nur weil das Pferd mit einem gewissen Hellsehen begabt ist, nimmt das Pferd das für es engelhafte Menschenwesen wahr. Was das Pferd an dem Men­schen sieht, ist etwas ganz anderes, als was wir an dem Pferde sehen. Wie wir Menschen herumwandeln, sind wir auch für die höheren Tiere recht gespenstige Wesen. Wenn einmal die Tiere reden könnten, ihre eigene Sprache, nicht so, wie man jetzt die Tiere «sprechen» läßt, sondern in ihrer eigenen Sprache, dann würde der Mensch schon sehen, daß es dem Tier gar nicht einfällt, die Menschen als gleichartige Wesen zu betrachten, sondern als höherstehende, als gespensterartige Wesen. Wenn sie ihren eigenen Leib als aus Fleisch und Blut beste­hend ansehen, so werden sie ganz gewiß den Menschen nicht als aus Fleisch und Blut bestehend ansehen. Wenn man das ausspricht heute, so klingt das für die Gehirne der Gegenwart selbstverständlich wie der reinste Unsinn. So weit ist die Gegenwart von der Wahrheit ent­fernt.

In das Tier flutet herein durch seinen eigentümlichen Zusammen-hang zwischen Astralleib und Gruppenseele, die Empfänglichkeit für das lebendig Schöpferische der Farbe. Und geradeso, wie wir einen Gegenstand, der in uns Begierde erregt, anschauen und dann den Ge­genstand ergreifen mit einer Bewegung der Hand, so ist es beim Tier in dem Gesamtorganismus so, daß das unmittelbar Schöpferische in der Farbe einen Eindruck macht, und das fließt in die Federn oder Wolle hinein, und das färbt das Tier. Ich habe es schon früher ausgesprochen, daß unsere Zeit nicht einmal einsehen kann, warum der Eisbär weiß ist; die weiße Farbe ist das Ergebnis aus seiner Um­gebung heraus, und daß der Eisbär sich «weißt», bedeutet bei ihm auf einer anderen Stufe ungefähr dasselbe, als wenn der Mensch mit

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einer Bewegung die Hand ausstreckt und eine Rose pflückt, gegen-über der Begierde. Das lebendig Produktive der Umgebung wirkt auf den Eisbären so, daß es in ihm Triebhaftes auslöst und er sich«durch-weißt».

Für den Menschen ist eben dieses lebendige Weben und Wesen im Farbigen dadurch in die Untergründe gegangen, daß er sein Ich aus­zubilden begonnen hat. Niemals hätte der Mensch sein Ich ausbilden können, wenn er so lebendig in dem Farbenmeer drinnengeblieben wäre, daß er zum Beispiel über dem Eindruck einer gewissen Röte, sagen wir der Morgenröte, den Trieb entwickeln würde, diese Mor­genröte produktiv-imaginativ einzuprägen gewissen Teilen seiner Haut. Solches war noch vorhanden während der alten Mondenzeit. Da wirkte, sagen wir, die Betrachtung von einem solchen Natur-schauspiel wie Morgenröte noch so, daß sie das, was dazumal der Mensch war, beeindruckte und die Widerspiegelung des Eindrucks in die Eigenfärbung gleichsam zurückgeworfen wurde, die Wesen­heit des damaligen Menschen durchdrang und sich dann nach außen wiederum an gewissen Stellen seines Leibes ausdrückte. Dieses Drinnenstehen, dieses lebendige Drinnenstehen mit dem Leibe in dem flutenden Farbenmeer, das mußte für den Menschen während seiner Erdenzeit verlorengehen, damit er in seinem Ich seine eigene Weltanschauung entwickeln könne. Und der Mensch mußte in sei­ner Gestalt neutral werden gegenüber dem flutenden Farbenmeer. Die Hautfarbe des Menschen, so wie sie auftritt in den gemäßigten Zonen, ist im wesentlichen der Ausdruck des Ich, der Ausdruck der absoluten Neutralität gegenüber den äußeren flutenden Farbenwel­len, sie ist eine Folge des Emporsteigens über das flutende Farben­meer. Aber nehmen wir schon die primitivste Erkenntnis, die wir auf dem Boden der Geisteswissenschaft gewonnen haben, meine lie­ben Freunde, so werden wir uns erinnern, daß es des Menschen Auf­gabe ist, den Weg wiederum zurückzufinden.

Physischer Leib, Ätherleib und Astralleib, sie haben sich ausgebil­det während der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, das Ich während der Erdenzeit. Der Mensch muß die Möglichkeit finden, den Astralleib

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wiederum zu vergeistigen, wiederum zu durchdringen mit dem, was das Ich sich erarbeitet. Und indem der Mensch den Astralleib vergeistigt und so den Weg zurücklindet, muß er wiederum finden das flutende Farbenwellen und Farbenwogen, aus dem er emporge­stiegen ist zur Entwickelung des Ich, so wie der Mensch, wenn er aus dem Meer emporgestiegen ist, um sich schaut, was draußen ist. Und wir leben wirklich schon in einer Zeit, in der beginnen muß - wenn nicht das Mitleben des Menschen mit der Welt überhaupt absterben soll - dieses Untertauchen in die geistigen Fluten der Naturgewalten, das heißt der hinter der Natur liegenden Geistgewalten. Wir müssen wiederum die Möglichkeit gewinnen, nicht bloß die Farben anzu­schauen und sie da oder dort als Äußeres aufzustreichen, sondern wir müssen die Möglichkeit finden, mit der Farbe zu leben, die innere Lebekraft der Farbe mitzuerleben. Das können wir nicht, wenn wir bloß malerisch studieren, wie diese oder jene Farbe da oder dort spielt, indem wir die Farbe anglotzen; das können wir nur, wenn wir wiederum untertauchen mit der Seele in die Art, wie Rot, wie Blau zum Beispiel flutet; wenn uns das Farbenfluten unmittelbar lebendig wird. Wir können es nur, meine lieben Freunde, wenn wir in die Lage kommen, dasjenige, was in der Farbe ist, so zu beleben, daß wir nicht etwa Farbensymbolik treiben - das wäre natürlich der verkehrteste Weg -, sondern daß wir das, was schon in der Farbe ist, was in der Farbe drinnen ist, wie in dem Menschen, der lacht, die Kraft des La­chens drinnen ist, wirklich entdecken. Das können wir aber nur - da das eben eingetreten ist, worauf aufmerksam gemacht worden ist: daß der Mensch mit seinem Ich gleichsam emporgestiegen ist auch aus der flutenden Farbenwelt -, wenn wir den Weg zurücksuchen zur fluten-den Farbenwelt Wenn der Mensch heute nichts anderes erlebt, als, ich will sagen, hier rot, hier blau, so wie man heute die Empfindung des Roten und des Blauen oftmals hat, wenn der Mensch das Rot und das Blau so erlebt, daß er einfach empfindet: hier die rote, hier die blaue Fläche [es wurde gezeichnet, siehe Farbtafel nach S.192], dann kann er niemals vorrücken zu dem lebendigen Miterleben mit dem eigentlichen Wesen des Farbigen. Noch weniger kann er es natürlich,

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wenn er das Innere mit dem Verstandesmäßigen umkleidet und hinter dem Rot diese, hinter dem Blau jene Symbole empfindet. Das würde noch weniger zum Erleben des Farbenelementes führen. Dasjenige, worum es sich handelt, das ist, daß wir unsere ganze Seele hinzugeben verstehen demjenigen, was aus der Farbe zu uns spricht. Dann wer­den wir, indem wir dem Rot gegenübertreten, etwas empfinden wie ein Aggressives gegenüber uns selbst, etwas, was uns wie eine Attacke entgegengeht, etwas, was uns attackiert. Da kommt es heraus, wo das Rot ist, da kommt es auf uns zu. Wenn alle Damen rot gekleidet wären und herumgingen auf der Straße, so würde derjenige, der eine feine Empfindung für das Rot hat, ganz im Stillen glauben können, daß sie alle über ihn herfallen könnten, schon wegen ihrer Kleidung. Das Rot, es hat etwas Aggressives, etwas uns Entgegenkommendes. Das Blau, es hat etwas, was von uns fortgeht, was uns verläßt, dem wir mit einer gewissen Wehmut nachblicken, viefleicht mit Sehnsucht nach-blicken.

Wie weit man in der Gegenwart schon entfernt ist von einem solch lebendigen Verständnis des Farbigen, das kann aus etwas ersehen werden, auf das ich schon aufmerksam gemacht habe: Bei dem ausge­zeichneten Künstler Hildebrand wird ausdrücklich hervorgehoben, daß man ja die Farbe eben an der Fläche habe, und daß man weiter nichts habe als die Farbe auf der Fläche darauf; daß da nichts wäre als eben die mit der Farbe überstrichene Fläche; daß das etwas anderes wäre mit der Farbe als mit einer Form, die uns zum Beispiel Distanzen wiedergibt. Die Farbe gibt uns aber mehr als Distanzen. Und daß das selbst ein Künstler wie Hildebrand nicht empfindet, das muß man als ein tiefes Symptom für die ganze Art in unserer Gegenwart an­schauen. Es ist unmöglich, in die lebendige Natur der Farbe sich ein­zuleben, wenn man nicht übergehen kann von der Ruhe unmittelbar zur Bewegung, wenn man nicht unmittelbar sich klar ist: die rote Scheibe hier kommt auf dich zu, die blaue entfernt sich von dir, in entgegengesetzter Richtung bewegen sie sich. [Siehe die Farbtafel nach S.192] Und man kommt immer weiter, wenn man sich vertieft in dieses Lebendige der Farbe. Man kommt dazu, einzusehen, daß,

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wenn wir zum Beispiel zwei farbige Kugeln von dieser Art hätten, wir gar nicht mehr, wenn wir an die Farbe Glauben haben, uns vorstellen könnten, daß diese zwei Kugeln ruhig stehenbleiben; das kann gar nicht vorgestellt werden. Es wäre schon eine Ertötung des lebendigen Empfindens, wenn das vorgestellt würde, denn unmittelbar geht die lebendige Empfindung darin über, daß sich die rote und die blaue Kugel umeinander drehen, die eine auf den Betrachter zu, die andere von dem Betrachter ab. Und dasjenige, was an einer Figur rot gemalt ist, im Gegensatz zu dem, was blau gemalt ist, das stellt sich so zu dem Blau, daß wirklich durch die Farbe selbst Leben und Bewegung in das Figurale kommt. Und aufgenommen wird das Figurale von der leben­digen Welt dadurch, daß es in der Farbe leuchtet.

Wenn Sie Formen vor sich haben, so ist die Form allerdings das Ruhende, die Form bleibt stehen, sie steht da. Aber in dem Moment, wo die Form Farbe hat, in dem Moment hebt sich durch die innere Bewegung der Farbe die Form aus der Ruhe heraus, und es geht der Wirbel der Welt, der Wirbel der Geistigkeit durch die Form hin­durch. Färben Sie eine Form, so beleben Sie sie unmittelbar mit dem, was in der Welt Seele, Weltenseele ist, weil die Farbe nicht der Form allein gehört, weil die Farbe, die Sie der einzelnen Form erteilen, diese Form hineinstellt in den ganzen Zusammenhang ihrer Umgebung, ja, in den ganzen Zusammenhang der Welt. Man möchte sagen, man muß empfinden, wenn man eine Form färbt: Jetzt gehst du der Form entgegen so, daß du sie mit Seele begabst. - Seele hauchen Sie ein der toten Gestalt, wenn Sie sie mit Farben beleben.

Man braucht nur ein wenig näherzutreten diesem lebendigen inne­ren Weben der Farben, dann wird man empfinden, wie wenn man nicht gerade sich ihnen unmittelbar gegenüberstellte, sondern als wenn man etwas darüber- oder darunterstehe; wie selber wiederum die Farbe innerlich lebendig wird. Für den Abstraktling, für denjeni­gen, der die Farbe anglotzt und sie nicht lebendig durchlebt, für ihn kann sich eine rote Kugel um eine blaue herumbewegen, und er hat nicht das Bedürfnis, irgendwie die Bewegung zu ändern. Er mag ein großer Mathematikus, ein so großer Metaphysikus als möglich sein,

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aber mit der Farbe versteht er nicht zu leben, weil die Farbe wie ein Totes für ihn von einem Ort zum andern geht. Das tut sie nicht in Wirklichkeit, wenn man mit ihr lebt: Die Farbe strahlt, sie ändert sich in sich, und es wird unmittelbar eine Farbe, das Rot, wenn sie schrei­tet, sich bewegt, etwas vor sich hertreiben wie Orangeaura, wie Gelb-aura, wie Grünaura. Und bewegt sich die andere, die blaue Farbe, so wird sie vor sich hertreiben anderes. - Es ist leider nicht möglich hier, weil ich die Farben nicht habe, in entsprechender Weise das wirklich vollständig genau zu zeichnen, genau zu machen. [Siehe die Farbtafel]

So haben Sie hier eine Art von Farbenspiel. Sie haben dasjenige, was, man möchte sagen, wird, indem man die Farben miterlebt, so daß das Rot wie attacklerend, daß das Blau wie weggehend ist, daß man das Rot empfindet wie etwas, vor dem man davonlaufen möchte, dem man ausweichen möchte, das Blau wie etwas, dem man mit Sehnsucht nachgeht. Und könnte man unmittelbar das empfin­den an der Farbe, könnte man es miterleben mit der Farbe, daß Rot und Blau in der geschilderten Weise lebendig und beweglich wird, so würde man tatsächlich auch innerlich mit dem lebendig sich be­wegenden Farbenflutigen mitgehen, man würde in der Seele gleich­zeitig die wie im Wirbel übereinander sich lagernden Attacken und Sehnsuchten, das Fliehen und das hingebungsvolle Gebet, die hin­tereinander vorübergehen, man würde sie in seiner Seele nachemp­finden. Und würde man dies, in künstlerischer Weise selbstverständ­lich ausgeführt, zu einem Detail machen an einer Formgestalt, so würde man diese Formgestalt, die als Formgestalt ruhend ist, der Ruhe entreißen. In dem Augenblick, wo man zum Beispiel hier sich vorstellt, es wäre eine Formgestalt, und man würde das darauf ma­len, so würde man, während die Form ruhig vor einem steht, hier ein lebendiges Weben haben, das nicht bloß der Gestalt angehört, das aber den Kräften und dem webenden Wesen um die Gestalt herum mit angehört; das würde man haben. Man entreißt dadurch - durch Seele, das Materielle der Gestalt seiner bloßen Ruhe, seiner bloßen Gestaltigkeit. Es müßte einmal so etwas, möchte man sagen, von den schöpferischen Elementarmächten der Welt in diese Welt hineingemalt

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werden; denn all das, was der Mensch empfangen soll an Sehnsuchtsgewalten, ist etwas, was sich etwa in dem Blauen ausleben könnte. Das müßte der Mensch auf der einen Seite in seinem Haupte gestaltet tragen, und alles das, was in dem Roten ausgedrückt ist, das müßte der Mensch in der Gestalt haben, daß es hinaufflutet aus dem Organismus bis zum Gehirn. Und diese zwei Strömungen sind tätig im menschlichen Gehirnbau. Äußerlich die Welt - das, nach dem der Mensch Sehnsucht hat, und das immer überflutet wird durch das, was aus dem eigenen Leibe aufwärtsführt. Bei Tage ist es so, daß dasjenige, was in der blauen Hälfte ist, stärker flutet als dasjenige, was in der rot-gelben Hälfte ist. Bei Nacht ist es umgekehrt mit dem menschlichen physischen Organismus. Und ein getreues Abbild von diesem hier ist das, was wir gewöhnlich die zweiblättrige Lotos­blume nennen, die tatsächlich ebensolche Beweglichkeit und eben­solche Farbigkeit zeigt für den Betrachter. Und niemand wird je das, was in der Gestaltenwelt als das Produktive lebt, als der obere Teil des menschlichen Hauptes, richtig durchschauen können, wenn er nicht imstande ist, dieses verborgene Farbenfluten, das beim Menschen eben «verborgenes» Farbenfluten ist, wiederum zu ver­folgen.

Es muß, meine lieben Freunde, das Bestreben der Kunst werden, in das elementare Leben wieder unterzutauchen; die Kunst hat lange genug angeschaut, die Natur studiert, lange genug versucht, allerlei Rätsel der Natur zu lösen und in den Kunstwerken dasjenige in einer anderen Form wiederzugeben, was durch das Eindringen in die Natur geschaut werden kann. Dasjenige aber, was in den Elemen­ten lebt, das ist auch der heutigen Kunst noch ein Totes. Die Luft ist tot, das Wasser ist tot, das Licht ist tot, so wie sie heute gemalt wer­den, die Form ist tot, so wie sie heute von der Skulptur geboten wird. Eine neue Kunst wird aufgehen, wenn die Menschenseele lernen wird, sich in das Elementare, das lebendig ist, zu versenken und zu vertiefen. Man kann gegen das polemisieren, man kann meinen, daß man das nicht solle; da polemisiert aber nur die menschliche Trägheit dagegen. Denn entweder wird der Mensch sich mit seinem vollen

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Menschentum einleben in das Elementarische, die Elementargewal­ten, wird Geist und Seele des Äußeren aufnehmen, oder es wird die Kunst immer mehr und mehr zu der Eremitenarbeit der einzelnen Seele werden, wodurch ja recht Interessantes für die Psychologie die­ser oder jener Seele zum Vorschein kommen kann, wodurch aber nie­mals das erreicht werden wird, was die Kunst einzig und allein errei­chen kann. Man redet noch sehr, sehr von Zukunft, wenn man diese Dinge ausspricht, aber dieser Zukunft, ihr müssen wir gleichsam ent­gegensehen mit dem durch die Geisteswissenschaft befruchteten Auge, sonst sehen wir nur in das Tote, Absterbende der Menschen­zukunft hinein.

Deshalb ist es, daß ein innerer Zusammenhang gesucht werden muß zwischen alledem, was auf unserem Boden an Formen und Far­ben geschaffen wird, und demjenigen, was unsere Seele im allertief­sten Inneren bewegt als unsere geistige Erkenntnis, als dasjenige, was für uns im Geiste lebt, so wie in Raffael die Madonnen lebten und er deshalb der Künstler der Madonnen werden konnte; weil die Madon­nen in ihm lebten, so in ihm lebten, wie sie lebten bei dem Gelehrten, bei dem Ackerbauer, bei dem Handwerker seiner Zeit. Deshalb wurde er der wirkliche Künstler der Madonnen. Nur wenn es uns gelingt, lebendig in die Formen hineinzubringen, rein künstlerisch, ohne Symbolik, ohne Allegorie, dasjenige, was in unserer Weltan­schauung lebt nicht als abstrakte Gedanken, nicht als tote Erkenntnis, nicht als abstraktes Wissen, sondern als lebendige Substanz der Seele, dann ahnen wir etwas von dem, was mit dieser Kunstentwickelung, auf die eben hingedeutet worden ist, eigentlich gemeint ist.

Daher muß eine Einheit sein, wie sie etwa, man möchte sagen, durch ein besonderes Karma bei Goethe vorhanden war, zwischen dem, was geschaffen wird äußerlich und demjenigen, was die Seele in ihrem tiefsten Wesen durchdringt. Brücken müssen geschlagen wer­den zwischen dem, was für heute noch abstrakte Idee ist in dem Inhalt der Geisteswissenschaft, und demjenigen, was aus unserer Hand, aus unserem Meißel, aus unserem Pinsel herauskommt. An dem Schaffen dieser Brücken hindert heute eine vielfach äußerliche, eine abstrakte

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Kultur, die nicht lebendig werden läßt, was gemacht wird. Dann ist es begreiflich, daß der durchaus unbegründete Glaube auftaucht, daß geistige Erkenntnis das Künstlerische ertöten könnte. Es hat ge­wiß in vielen vieles ertötet; all die toten Allegoristereien und das Symbolisieren, all das Nachfragen: Was bedeutet dieses, was bedeu­tet jenes? - Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß man nicht immer fragen soll: Was bedeutet dieses? Was bedeutet jenes? -So wenig der Kehlkopf «etwas bedeutet», so wenig wir nach seiner «Bedeutung» zu fragen haben, sondern so, wie er das lebendige Or­gan ist für die menschliche Sprache, so müssen wir das, was in den Formen, was in den Farben lebt, als das lebendige Organ der geisti­gen Welt betrachten. Solange wir uns auf unserem Boden noch nicht gründlich abgewöhnt haben, nach Symbolen und Allegorien zu fra­gen, solange wir noch Mythen und Sagen allegorisch und symbo­lisch auslegen, statt den lebendigen Hauch des durch den ganzen Kosmos webenden Geistes zu verspüren und einzusehen, wie leben­dig eindringt in die Gestalten der Mythen- und Märchenwelt das, was im Kosmos lebt, so lange kommen wir nicht zur wahren geisti­gen Erkenntnis.

Aber ein Anfang muß gemacht werden! Er wird unvollkommen sein. Niemand soll glauben, daß wir den Anfang als das Vollkom­mene schon ansehen. Aber der Einwand ist ebenso töricht wie man­che andere Einwände, die die Gegenwart gegen unsere Geistesströ­mung macht, daß nichts zu tun habe mit dieser Geistesströmung dasjenige, was mit unserem Bau gewollt wird. Was die Leute meinen behaupten zu können, das wissen wir schon selber. Daß all das Ge­fasel vom «höheren Ich», all die Gefühlsduselei, die von der «Ver-göttlichung der Menschenseele» redet, daß all das selbstverständlich auch unter den gegenwärtigen äußeren Formen gefaselt werden kann, das, meine lieben Freunde, wissen wir schon auch. Und daß man auch, um Geisteswissenschaft in ihrem ideellen und begriff­lichen Charakter zu treiben, überall sich befinden könne, das wissen wir selbstverständlich auch. Daß aber Geisteswissenschaft, lebendig in die Seelen ergossen, eine Umgebung fordert, die anders ist als diejenige,

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die von der absterbenden Kultur geliefert wird, das empfin­den wir über die bloß ideell betriebene Geisteswissenschaft hinaus. Und jene Binsenwahrheit, daß man auch in anderen Zimmern als denjenigen, die mit unseren Formen lebendig sind, im ideellen Sinne Geisteswissenschaft treiben könne, das braucht uns wahrhaftig nicht von der äußeren Welt erst zugerufen zu werden. Aber ernst, ernster und immer ernster, meine lieben Freunde, muß dasjenige werden, was als das Ideal unserer Geisteswissenschaft uns in die Seele sich ergießen muß. Und wir brauchen noch vieles, um diesen Ernst, diese Triebkraft, diese innere seelische Triebkraft voll und ganz in uns aufzunehmen. Leicht kann man über diese Geisteswis­senschaft und ihr Ausleben in der äußeren Welt so sprechen, daß man dadurch nicht das Wesen und den Nerv dieser Geisteswissen­schaft trifft. Wenn man jetzt oftmals sieht, wie die stärksten Angriffe formiert werden gegen unsere geistige Strömung, wie sie gleichsam nur so auf uns niederhageln, dann hat man eine merkwürdige Emp­findung. Man liest diese oder jene Angriffe und man muß sich sagen, wenn man bei gesunden Sinnen ist: Was wird denn da eigentlich ge­schildert? Allerlei Phantastereien werden geschildert, die nicht das geringste mit uns zu tun haben! Und die werden dann angegriffen. So wenig Sinn ist in der Welt vorhanden, ein neues geistiges Element aufzunehmen, daß diese Welt eine nicht ähnliche, sondern ganz un­ähnliche Karikatur entwirft und dann von dieser unähnlichen Kari­katur spricht und gegen sie zu Felde zieht. Es gibt sogar Menschen, die glauben, man solle das Zeug widerlegen. Man kann sich dagegen wenden, aber man kann nicht widerlegen irgend etwas, was sich jemand ausdenkt und was keine Ähnlichkeit hat mit dem, was er schildern will. Aber welcher Sinn für Wahrheit und Wahrhaftig­keit solchen Dingen zugrunde liegt, darauf müssen wir wohl in un­seren Seelen achten, meine lieben Freunde, denn dadurch können wir stark werden in demjenigen, was uns aus der Geisteswissenschaft ersprießen soll, was aus der Geisteswissenschaft, ich möchte sagen, sich verlebendigend äußerlich im materiellen Dasein zutage treten soll. Daß die Welt nicht toleranter geworden ist, daß sie nicht verständiger

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geworden ist, zeigt sich gerade in der Stellung, die die Welt einnimmt heute gegenüber dieser Geisteswissenschaft. Nicht verstän­diger, nicht toleranter ist die Welt geworden.

Vielleicht bei nichts mehr als bei dem Vertiefen in solche Probleme wie das Farbenproblem ist, können wir sozusagen unser intimeres Zusammenschließen der Seele mit der Geisteswissenschaft feiern Denn wir gelangen wirklich, indem wir das Lebendige der Farben:

fluten selbst miterleben, wir gelangen, man möchte sagen, aus unserer eigenen Gestalt heraus und erleben mit das kosmische Leben. Farbe ist Seele der Natur und des ganzen Kosmos, und wir nehmen Anteil an dieser Seele, indem wir das Farbige miterleben. - Solche Hindeu­tungen möchte ich heute gemacht haben, um das nächste Mal weiter noch in das Wesen der Farbenwelt und das Wesen der Malerei einzu­gehen.

Meine lieben Freunde, ich mußte gerade diese Betrachtungen etwas durchsetzen mit einigen Hinweisen auf die ja von allen Seiten jetzt so über uns hereinkominenden Angriffe, die von einer Welt kommen die nun wirklich eigentlich im Grunde genommen nichts von dem verstehen kann, um was es sich in unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung handelt Man mochte nur wünschen, meine lieben Freunde, daß diejenigen, die innerhalb unserer Bewegung stehen, ge­rade durch eine Vertiefung nach allen Seiten, in der Richtung unserer Geistesstromung die Möglichkeit finden, zurechtzukommen gegen uber einer Tatsache, die ja wirklich eigentlich symptomatisch ist in unserer Zeit: das Hereinbrechen von Unwahrhaftigkeit und Un­wahrheit in der Auffassung desjenigen, was versucht, sich in die gei­stige Welt hineinzustellen. An uns wird es gewiß nicht liegen, unsere geistige Stromung wie etwas Eremitisches von der Welt abzuschlie­ßen; soviel die Welt davon haben will, wird sie haben können. Aber das, was sie wird nehmen müssen, wenn sie verstehen will unsere Richtung, das ist das Einheitliche in der ganzen Menschennatur, wo­durch jede Einzelheit der menschlichen Leistung aus dieser ganzen Menschennatur hervorgeht.

Dasjenige, was ich gesagt habe, habe ich im Grunde genommen

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auch nicht als Angriff gegen die Gegenwart gesagt, sondern ich habe es mit einer gewissen Wehmut gesagt, weil man sieht, daß, je weiter sich unser Wollen und unser Streben in unserer Strömung ausbreitet, um so böswilliger - wirklich, vielleicht nicht bewußt, aber mehr oder weniger unbewußt böswillig - sich die Gegenkräfte erheben; und weil noch nicht genugsam verbreitet ist auch in unseren Reihen die Art, wie man solche Dinge zu beurteilen hat, wie man doch auf den Standpunkt ernsthaftig sich zu stellen hat, daß etwas Neues, ein neuer Anfang mit unserer Bewegung zunächst wenigstens gemeint ist. Was über das «Meinen» hinausliegt, es wird gewiß kommen. Auch wir können mit unserem Bau doch nur etwas «meinen». Diejenigen, die mehr können werden als «meinen» in dieser Richtung, sie werden kommen - wenn auch vielleicht um die Zeit erst, von der Herman Grimm annimmt, daß man Goethe in vollem Sinne verstehen werde. Zum Verständnis eines solchen Satzes gehört eine gewisse Beschei­denheit, und die hat ja auch das Geistesleben der Gegenwart wenig. Geisteswissenschaft ist recht geeignet, uns diese Bescheidenheit, zugleich mit dem Ernst der Sache, in der Seele nahezubringen.

Einen betrübenden Eindruck macht dasjenige, was gerade jetzt von allen Seiten gegen unsere Geistesströmung auftritt, da die Welt an­fängt, etwas davon zu sehen. Solange sie bloß geistig da war, konnte die Welt nichts sehen; jetzt, da sie etwas sehen kann, was sie nicht versteht, jetzt fängt sie an, ich möchte sagen, aus allen Löchern heraus ihre mißtönenden Klänge zu blasen. Und das wird immer stärker und stärker werden. Aber, machen wir uns das klar, so werden wir aller­dings zunächst mit Wehmut, mit einer gewissen Wehmut erfüllt wer­den, aber die Kraft wird uns wachsen, einzutreten für das, was wir nicht bloß als Überzeugung, sondern als Leben aufnehmen, auch da wird Ätherisch-Lebendiges die Menschenseele durchdringen, und was leben wird in der Menschenseele, wird noch mehr sein als theore­tische Überzeugung, auf die die Gegenwartsmenschen heute noch so stolz sind. Derjenige, der solchen Ernst in seine Seele aufnimmt, der wird mit diesem Ernst auch die Zuversicht aufnehmen, daß die Wur­zeln unserer Welt, daß die Wurzeln unseres Menschendaseins, wenn

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sie im Geistigen gesucht werden, uns tragen können, und man braucht in der einen Zeit mehr, in der anderen weniger eine solche Zuversicht. Und ist es Wehmut, von der gesprochen werden kann, wenn man von dem Verhältnis unserer Geistesströmung zu dem Echo, das sie in der Welt findet, spricht, ist das Wehmut, so muß aus der Stimmung dieser Wehmut die Stimmung der Kraft hervorgehen, von der Ihnen gespro­chen worden ist, die aus der Erkenntnis stammt, daß des Menschen Lebensquellen im Geiste sind, und daß der Geist den Menschen her­ausführen wird aus alledem, worüber er, als über Disharmonie, nur Wehmut empfinden kann. Aus dieser Stimmung der Kraft wird man auch Stärke empfangen.

Mußte man von geistigen Angelegenheiten vielleicht ja gerade heute mit einer noch größeren Wehmut in der Brust sprechen, als die Wehmut ist, die eben jetzt wegen der Diskrepanz zwischen dem, was wir in unserer geistigen Bewegung wollen, und dem, was als Echo aus der Welt ihr entgegentönt, in uns fließt: es werden die Disharmonien der Welt in anderer Weise ablaufen, wenn die Menschheit einmal ein­sehen wird, was das geistige Licht vermag in den Menschenherzen anzuzünden, das wir mit unserer Geisteswissenschaft meinen. Und wenn wir auf das hinblicken, was einen heute mit Wehmut in den Geschicken Europas erfüllt, dann ist die Wehmut gegenüber unserer Bewegung nur eine kleine. Wie von solcher Wehmut durchdrungen, im Grunde genommen wie von Wehmut durchbebt, habe ich diese Worte zu Ihnen gesprochen, aber zugleich durchdrungen von der le­bendigen Überzeugung, daß, was auch in naher oder ferner Zeit an Schmerzlichem der europäischen Menschheit bevorstehen mag, in uns doch die Zuversicht leben kann, die hervorgeht aus der lebendi­gen Erkenntnis, daß der Geist den Menschen durch alle Wirrnisse siegreich hindurchführen wird. Wahrhaftig, wir dürfen auch in Tagen der Wehmut, in Stunden, die ein so ernstes Gesicht uns zeigen wie diese, ja, wir dürfen nicht nur, wir müssen von den heiligen Angele­genheiten unserer Geisteswissenschaft sprechen. Denn den Glauben dürfen wir haben, daß, so klein sich die Sonne dieser Geisteswissen­schaft heute noch zeigt, sie wachsen und immer mehr wachsen wird

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und immer leuchtender und leuchtender werden wird, eine Friedens-sonne, eine Sonne der Liebe und Harmonie über die Menschen hin.

Das sind auch ernste Worte, meine lieben Freunde, aber solche, die uns berechtigen, an die engeren Angelegenheiten der Geisteswissen­schaft gerade dann so recht seelenhaft, so recht herzhaft zu denken, wenn Stunden des Ernstes zu unseren Fenstern hineinschauen.

ANHANG DIE ENTWICKELUNG DER BAUKUNST IM ZUSAMMENHANG MIT DEN JAHRTAUSENDWENDEN I Stuttgart, 7. März 1914

#G286-1992-SE207 Wege zu einem neuen Baustil

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ANHANG

DIE ENTWICKELUNG

DER BAUKUNST IM ZUSAMMENHANG

MIT DEN JAHRTAUSENDWENDEN

I

Stuttgart, 7. März 1914

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Als das Jahr 1000 herannahte, lebte die europäische Menschheit in großer Furcht vor dem erwarteten Ende der Welt. Man erwartete die­ses in physischem Sinne als ein Sich-Auflösen der Erde in Rauch und Nebel. Es waren die ahrimanischen Geister, welche den Menschen diese Idee beibrachten, daß sich etwas Furchtbares auf dem physi­schen Plan abspielen werde, während sich in Wirklichkeit mancherlei in der geistigen Welt abspielte. Bei jedem Jahrtausend haben die luzi­ferischen und ahrimanischen Geister eine besondere Macht. Die Menschheit braucht auf das Zehnersystem, das heute das Vorherr­schende ist, nicht besonders stolz zu sein. Jedes Zahlensystem wird von bestimmten Geistern in die Welt gebracht, und ein jedes hat die Neigung, gewisse Tatsachen und Zusammenhänge von Tatsachen klarer zu zeigen und andere zu verdunkeln, zurücktreten zu lassen.

In dem Zehnersystem wirken nun sehr stark die ahrimanischen Im­pulse. Es läßt hervortreten die Tatsache, daß bei jedem Jahrtausend, also im Jahre 1000, 2000 und so weiter, ein besonders starker Angriff Luzifers und Ahrimans vereint stattfindet. In den anderen Jahrhunderten

* Aus dem Gedächtnis aufgezeichnete Notizen von einem internen Vortrag Ru­dolf Steiners. Der Name desjenigen, der diese Notizen niedergeschriehen hat, ist unbekannt.

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halten sie sich mehr das Gleichgewicht. In dem Jahrhundert aber, wo man schrieb 9.., also auch in unserem Jahrhundert 19.., wenn es gegen das neue Jahrtausend geht, vereinigen sie sich und wirken zusammen auf die Menschen ein. Diese Tatsache lebt noch in dem Volksglauben, daß während tausend Jahren Luzifer und Ahriman an der Kette liegen und daß sie dann für kurze Zeit losgelassen werden.

In den vorchristlichen Jahrtausenden 1000, 2000, 3000 v. Chr. war es so, daß dann zu gleicher Zeit ein besonders starker Einfluß der guten, fortschreitenden Mächte stattfand, der diese vereinigte luzife­risch-ahrimanische Wirkung im Zaume hielt und ein besonders Gutes daraus entstehen ließ. So sehen wsr, wse im Jahre 3000 v. Chr. die Pyramiden gebaut wurden. Im Jahre 2000 war es das Zeitalter Abra­hams und alles, was daraus entstand; zugleich ein Höhepunkt der babylonischen Kultur. Im Jahre 1000 v. Chr. war das Zeitalter Da­vids. Der Bau des salomonischen Tempels wurde vorbereitet. Im Jahre Null erschien der Christus. Wir haben oft auseinandergesetzt, wie nach den Evangelien, und besonders nach dem fünften Evange­lium, der Christus den Kampf mit Luzifer und Ahriman aufnehmen mußte. In den nachchristlichen Zeiten aber konnten die guten, fort­schreitenden Geister nicht mehr so eingreifen; die Menschheit wurde überlassen den Angriffen Luzifers und Ahrimans. Diese erreichten jedenfalls dieses, daß sie das Denken der Menschen verwirrten, daß sie einen Irrtum Zugang finden ließen, den Irrtum von dem heran-nahenden physischen Ende der Welt. Sie haben immer ein Interesse daran, daß die Dinge viel zu räumlich-zeitlich vorgestellt werden.

In dieser Zeit kam zum ersten Mal ein Beweis für das Dasein Gottes auf, den der Bischof von Canterbury brachte, sowie die Auffassungen seines Gegners Roscellin. In dieser Zeit war es auch, daß die Päpste, das Prinzip der christlichen Demut mit Füßen tretend, sich erhoben in außerer Macht, daß Kaiser Heinrich sich in Canossa vor dem Papst erniedrigen mußte, als die ganze äußere Kirche zu Gebräuchen kam, die ein Hohngelächter der ahrimanischen Geister erweckten.

Diese ahrimanischen Geister sind es, die jetzt wiederum ihren Ein­fluß geltend machen, da wir uns dem Jahre 2000 nähern. Aber die

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Entwickelung geht in Pendelscnlägen: im Jahre 1000 erwartete man das Ende der Welt, im Jahre 2000 erwartet man genau das Gegenteil, im Jahre 3000 wird man wiederum das Ende der Welt erwarten, aber die Welt wird dann so geworden sein, daß ganze Völkerschaften die­ses Ende der Welt herbeisehnen werden. Man kann es ohne Sentimen­talität sagen: die europäische Menschheit geht furchtbaren Zeiten entgegen.

Nehmen wir die Baukunst und die Einflüsse auf diese. Im Jahre 3000 v. Chr. wurden die Pyramiden gebaut, im Jahre 2000 kamen die Hüttenbauten (Abrahams Zeitalter). Im Jahre 1000 v. Chr. wurde der Tempel Salomos vorbereitet. Im Jahre 1000 n. Chr. konnte sich das Neue, das kommen sollte, nicht durchringen infolge der entgegenwir­kenden Kräfte Luzifers und Ahrimans. Wir sehen die Normannen, die aus Skandinavien sich über West- und Mitteleuropa verbreiteten, wie sie in ihren Holzbauten etwas auszudrücken versuchten, was nicht zur völligen Entwickelung hat kommen können. Gewisse Li­nien sind darin veranlagt, aber nicht weiter ausgearbeitet, weil der ahrimanische Einfluß es verhinderte. Statt dessen kam die Mauren­kultur auf und die Architektur von Cordova und Granada, der Huf­eisenbogen und der Spitzbogen, welche verdrängen den wahrhaft christlichen Rundbogen der romanischen Architektur. In der Mau-renkultur kann man unmittelbar den antichristlichen Einschlag sehen in dem Spitzzulaufen der Bögen, die eigentlich hätten rund sein sol­len. Das ist Ahrimans Zeichen. So wirkte Ahriman als der Antichrist in der Baukunst, indem er den runden romanischen Bogen ersetzte durch den Hufeisen- oder Spitzbogen. So wirkte er durch die Mauren und auch durch die Türken; so ließ er die Kunst der Normannen nicht zur Entwickelung kommen, deren Holzbauten, welche sie in ganz Europa errichteten, nicht dasjenige geben konnten, was sie hätten sein sollen. So kommt es, daß wir aus dem Jahre 1000 nicht die Bauwerke finden, wie aus früheren Jahrtausendwenden.

Jetzt soll aber von neuem die Architektur für das neue Jahrtausend geschaffen werden. Jetzt müssen wir ausdrücken die runden Linien, die Ahriman in den normannischen Bauten unterdrückte, wir müssen

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auslassen gewisse Linien, die man in diesen findet, dann hat man unseren Dornacher Bau, die wahre Fortsetzung der Holzbauten der Normannen.

Furchtbare Zeiten aber stehen der Menschheit in Europa bevor. Wir wissen, daß, wenn das erste Drittel dieses Jahrhunderts vorbei ist, der Christus geschaut werden wird in seiner Äthergestalt und daß dies einen gewaltigen Impuls abgeben wird neben all den untergehenden Neigungen dieses Jahrhunderts. In den älteren Zeiten, wie zum Bei­spiel beim Jahr 1000, mußten die Menschen wohl glauben, was Luzi­fer und Ahriman ihnen weismachten, weil sie den wahren, bewußten Christus-Impuls noch nicht in sich hatten. Wir aber müssen nicht mehr, wir sollen freiwillig diesen neuen Christus-Impuls aufnehmen, damit wir Luzifer und Ahriman Widerstand leisten können. Es wird so sein im 20. Jahrhundert, daß Luzifer und Ahriman sich insbeson­dere bemächtigen werden des Namens des Christus. Menschen wer­den sich Christen nennen, die von dem wahren Christentum keine Spur mehr in sich haben werden; und sie werden wüten gegen diejeni­gen, die sich nicht nur allein halten an das, was der Christus einmal nach der Überlieferung der Evangelien gesagt hat, sondern für welche gilt das Wort: «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erden-zeiten», die sich richten werden nach dem lebendigen, fortwirkenden Christus-Impuls. Gegen diese wird man wüten. Verwirrung und Ver­wüstung wird herrschen, wenn das Jahr 2000 herannaht. Und dann wird auch von unserem Dornacher Bau kein Holzstück mehr auf dem anderen liegen. Alles wird zerstört und verwüstet werden. Darauf werden wir von der geistigen Welt aus herabschauen. Aber wenn das Jahr 2086 kommt, wird man überall in Europa aufsteigen sehen Bau­ten, die geistigen Zielen gewidmet sind und die Abbilder sein werden von unserem Dornacher Bau mit seinen zwei Kuppeln. Das wird die goldene Zeit sein für solche Bauten, in denen das geistige Leben blühen wird.

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II

München, 30. März 1914 (Einleitung) *

Meine lieben Freunde, gestatten Sie mir einige Worte vorauszusenden über etwas, was vielleicht manchem von unseren Freunden erwünscht ist zu wissen.

Wir haben es bei dem Bau zu tun mit etwas, das in die. Welt zu stellen wir durch unser Karma verbunden sind. Die Art, wie die Sache von der Welt beurteilt worden ist, schon als das Projekt entstand, den Bau hier in München aufzurichten, zeigt uns, daß wir wirklich dieser Angelegenheit gegenüber in die Notwendigkeit versetzt worden sind, auf nichts zu schauen als das, was aus unserer geisteswissenschaftli­chen Überzeugung folgen kann. Wir müssen selbstverständlich vor­aussetzen, daß alle Außenstehenden das Unternehmen mißverstehen müssen. Dadurch, daß dieses Unternehmen, das für die Vorstellungs­weise der Gegenwart so fremd, unsere Geisteswissenschaft vor mehr Seelen der Außenwelt stellt, wird sie auch in Mitleidenschaft gezogen, indem sie auch mehr Feindliches erfahren muß als sie sonst hätte er­fahren müssen. Es ist schon einmal so in der Gegenwart, daß die Leute auf etwas aufmerksam werden, wenn sie mit der Nase darauf stoßen, und so wird man von der Geisteswissenschaft mehr wissen in der Welt, als es uns erwünscht ist, durch dieses Wahrzeichen, das für manche groß genug ist, nun auch ein Urteil über die geisteswissen­schaftliche Weltanschauungsströmung zu fällen. Wie diese Urteile sind, darüber kann sich ja jeder überzeugen. Wir aber müssen uns darüber klar sein, daß wir gegenüberstehen dem, was man nennen könnte den wirklichen inneren Pulsschlag der Zeit.

Als in der abendländischen Entwickelung, innerhalb der christ­lichen Zeitrechnung das Jahr 1000 heranrückte, ging durch die euro­päischen Seelen weit und breit das Fühlen, daß etwas Bedeutsames

* Der an diese Einleitung anschließende Vortrag findet sich in der Gesamtausgabe in «Vorstufen zum Mysterium von Golgatha» (Bibl. Nr.152).

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sich abspielen müsse in dem Gang der Weltordnung. Und weil das Empfinden immer mehr materialistische Formen annahm, dachte man sich dies Bedeutsame als den physischen Weltuntergang. Das ist nur eine ins Materielle umgesetzte Vorstellung von einem Welten­gesetz.

Es ist wirklich so, daß sich mit dem Ende eines Jahrtausends Vor­gänge abspielen, die bedeutungsvoll sind für das ganze Menschen­leben. Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht durch den Hinweis auf das Herankommen der Anschauung des Ätherleibes des Christus, der sich dem menschlichen Wahrnehmen immer mehr gel­tend machen wird, je mehr wir und die, die uns nachfolgen, dem Jahre 2000 entgegengehen.

Bedeutsame geistige Ereignisse stehen immer in der menschlichen Entwickelungsströmung darinnen, wenn ein solcher Zeitraum naht. Dieses 20. Jahrhundert, an dessen Ausgangspunkt wir stehen, ist wirklich für den geistigen Blick so sich darstellend, daß, je mehr es in die nächste Zukunft hineingeht, desto mehr luziferische und ahri­manische Kräfte die Menschheit umfangen werden. Luziferische und ahrimanische Kräfte, welche gegen den Christus-Impuls in der Welt arbeiten, machten sich ja auch geltend als Mißverständnis, wodurch die Seelen, die dem Jahr 1000 entgegengingen, von Welt­untergang sprachen.

Würden heute dieselben Denkgew6hnheiten herrschen, so würden die Seelen wieder von Weltuntergang sprechen. Dazumal, als das Ende des ersten christlichen Jahrtausends heranrückte, machten sich -nicht so sehr in den Vorstellungen, die äußerlich wahrnehmbar wa­ren, sondern in den Tiefen der Seelenentwickelung - antichristliche Impulse geltend, welche Denkformen in die Welt hineinstellten, wel­che direkt unter ahrimanischem und luziferischem Einfluß standen.

Damals war ein Werkzeug dieses Wirkens das aus dem Morgenland über Afrika nach Südeuropa hereindringende mohammedanisch-ara­bische Geistesleben. Wir haben da weniger an die Dogmen des Islam zu denken, an das, was da an Ideen in Spanien sich ausbreitete, als mehr an die in den Tiefen der Seelen wirkenden Impulse. Tief bedeutsam

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ist da eine Form, die uns entgegentriu: der Bogen, der oben in eine Spitze ausläuft.

In dieser Spitze liegt das Kaainszeichen des Ahriman. Solche Dinge werden in die menschliche Entwickelung hineingeschoben. Als ich nachforschte nach den inspirierenden Wesenheiten, die uns die Gnade verliehen, auf die Formen hinzuweisen, die wir am Dornacher Bau anwenden, da stellte sich heraus, daß das dieselben waren, welche gegen Ahriman und Luzifer ankämpften, als das erste Jahrtausend sich schloß. Als die normannischen Völker von Norden nach Süden zogen, brachten sie Bauformen mit, die in Holz ausgeführt wurden. Und wir, die einen neuen Baustil begründen wollen, der ja hier nur unvollkommen sein wird, weil wir für mehr nicht die Mittel haben, wir wurden nun inspiriert mit Bauformen, die im Großen und in Ein­zelheiten das Runde hervorheben. Es stellt sich die Sache so dar, daß das, was die Formen dieses unseres Baues sind und mit Holz ausge­füllt ist, bei den Normannen leer gelassen war, und umgekehrt, was damals ausgefüllt wurde, ist bei uns freier Raum, ist leer.

Wir waren sozusagen in die Notwendigkeit versetzt worden, den inspirierenden Wesenheiten mehr zu folgen als ihnen dazumal gefolgt wurde am Ende des ersten Jahrtausends, als diese Wesen sich Luzifer und Ahriman entgegensetzen wollten.

Mannigfaltiges hat sich seitdem geändert; im geistigen Leben der Menschheit ist viel vor sich gegangen. Wenn man das alles zusammen­fassen will, was man in die Formen des Baues hineinfügen will, muß man sich klar sein, daß vieles von dem, was sich christlich nennt und den Christus-Namen trägt, im antichristlichen Sinn wirkt, daß das der beste Kunstgriff luziferischer und ahrimanischer Mächte ist, unter dem Christus-Namen antichristliche Impulse in die Welt zu bringen. Wir müssen uns immer mehr bewußt werden, daß bis in die einzelnen Formen hinein alles Einzelne im Sinne der fortschreitenden geistigen Mächte der Menschheit gemacht ist, wenn auch unvollkommen, weil es ein Anfang ist.

Ich wollte damit unseren Bau nicht rühmen, sondern damit nur das sagen, was sich in unser Bewußtsein hereindrängen muß und was von

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mir ausgesprochen wird in der Absicht, daß Sie alle diesen Bau liebge-winnen, daß er Ihnen zu einer Herzenssache wird, von der Sie sozusa­gen denken lernen, daß sie ein Denkmal dessen ist, was wir nicht will­kürlich wollen, sondern wollen müssen. Je mehr wir diesen Bau lieben werden, desto mehr wird es gelingen, ihn so in die Welt zu stellen, wie es die fortschreitenden Wesenheiten im Sinne des Christus-Impulses in der Gegenwart wollen.

Schließen Sie diesen Bau und was damit zusammenhängt in Ihr Herz, denken Sie, daß es eine wichtige Sache ist, wenn wir Ende des Jahres ihn eröffnen können. Daß der Bau nicht hier aufgeführt wird, ist nicht unsere Schuld, es ist unser Karma. Es ist unser Schicksal, daß er an einem einsam gelegenen Ort aufgeführt wird, aber an einem Ort, der doch nach seiner lokalen Lage einige Wichtigkeit hat für das geistige Leben der neueren Zeit.

DER KÜNFTIGE BAUGEDANKE VON DORNACH Zum Wiederaufbau des Goetheanums

#G286-1992-SE215 Wege zu einem neuen Baustil

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DER KÜNFTIGE BAUGEDANKE VON DORNACH

Zum Wiederaufbau des Goetheanums

I

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Aus dem Vortrag in Dornach, 31. Dezember 1923, vormittags*

Meine lieben Freunde! Sie können sich denken, daß der Baugedanke von Dornach mich in der letzten Zeit recht beschäftigte, und es wird ja durchaus in der Notwendigkeit der Verhältnisse gelegen sein, daß wir diesen Baugedanken von Dornach möglichst bald zur Ausfüh­rung bringen. (...)

Nun möchte ich heute Ihnen sozusagen zunächst den Grundriß des Goetheanums auseinandersetzen, um dann morgen mehr über die Fassade, über die Außenseite, zu sprechen. Diesen Grundriß und die ganze Verteilung des Raumes, den das Goetheanum einnehmen soll, möchte ich in der folgenden Weise gestalten.

Das Goetheanum soll in der Zukunft weniger als das alte Goe­theanum ein Rundbau sein. Sie können ja heute leicht sagen, meine lieben Freunde: Warum stelle ich nicht das Modell vor Ihre Augen hin? - Ja, Sie müssen aber nicht vergessen, daß dieses neue Goethe­anum aus einem verhältnismäßig auch neuen Material, aus Beton, gebaut werden muß. Betonbauten zu einem entsprechend wirMich künstlerischen Stil zu führen, ist außerordentlich schwierig, und die Lösung dieses Problems erfordert sehr, sehr viel.

Sie wissen ja, daß ich versucht habe, ein Haus in Betonstil zu bauen, das Dr. Grosheintz sich errichtet hat hier in der Nähe. Allein, wenn ich auch heute noch glauben muß, daß dieser Stil für ein Wohnhaus wenigstens bis zu einem gewissen Grade - nur bis zu einem gewissen

* Aus «Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Antbroposopbi­schen Gesellschaft 1923/24», GA 260; ebenso die Ausführungen vom 1. Januar 1924 auf S. 223 ff.

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Grade - als ein befriedigender bezeichnet werden kann, ein zweites Haus genau so könnte doch nicht hingestellt werden. Jedenfalls aber war damit der Baustil für ein aus Beton gebautes Goetheanum noch nicht da, und es wird sich darum handeln, daß bei dem neuen Goe­theanum abgegangen wird von dem - im wesentlichen - Rundbau, daß man kommen wird wiederum zu einem nicht eigentlichen Rund­bau, sondern zu einem mehr rechteckigen, also Eckenbau.

Sie sehen ja, was man in diesem Baustil intendieren kann, auch an dem kleinen Bau unten, der zu einem Eurythmie-Übungssaal errich­tet worden ist. Der ist ja natürlich aus einem anderen Material, aber sie sehen daran, daß schon auch mit dem Eckenbau etwas zu erreichen sein wird.

Nun muß natürlich, da es sich für Eurythmie und Mysterienspiele um Bühnen handeln wird, der Eckenbau mit dem Rundbau kombi­niert werden. Außerdem muß das neue Goetheanum Räumlichkeiten enthalten für die verschiedenen Betätigungen. Wir werden Ateliers nötig haben, wir werden Vortragssäle nötig haben, denn der einzige kleine weiße Saal, in dem das Feuer zuerst ausgebrochen ist vor einem Jahre, hat sich ja wirklich als ein Raum erwiesen, der für unsere Zwecke durchaus nicht ausreichte. Und so würde das nächste Goe­theanum eben so gebaut werden müssen, daß es eine untere Etage, ein Erdgeschoß und eine obere Etage hat. Die obere Etage würde im wesentlichen der große Vortragssaal sein, der Zuhörer- und Zu­schauersaal für die eurythmischen und Mysterien- und sonstigen Aufführungen. Im Erdgeschosse würden sich dann unter diesem Vor­tragssaale, durch Wände abgeteilt, kleinere Säle finden, welche dazu dienen werden, Räume zu geben für künstlerische und wissenschaft­liche Arbeiten.

Auch gedenke ich einen Raum zu schaffen, der dienen soll der Ver­waltung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, so daß diese direkt vom Goetheanum aus verwaltet werden kann.

Nun möchte ich gerade aus diesem Baugedanken heraus ein gewis­ses Problem lösen, das mir auf diese Weise eine praktische Lösung zu finden scheint. Es wird der Grundriß sich ja so gestalten, daß wir nach

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rückwärts eine Bühne haben, die ein Rundbau sein wird. - Ich bitte, jetzt auf die Größenverhältnisse keine Rücksicht zu nehmen. - Diese Bühne wird im wesentlichen ein Halbkreis sein - im wesentlichen. Sie wird umfriedet werden von den Magazin-Aufbewahrungsräumen. Und es wird sich das Ganze nach vorne fortsetzen, oben in den Zu­schauerraum, unten in die einzelnen Säle, zwischen denen ein allge­meiner Gang sein wird in der Zukunft, so daß eine freiere Bewegung in diesem neuen Goetheanum möglich sein wird als im alten Goe­theanum. Im alten Goetheanum war man direkt im Innern, wenn man nach einem Vorsaale von außen hereintrat. Hier soll man zur freien Beweglichkeit einen geheizten Gang haben, in dem man sich in der verschiedensten Weise wird besprechen können und so weiter, von dem aus man den Zugang zu den einzelnen Sälen in dem Erdgeschoß haben wird.

Oben wird man dann durch Treppen, die hinaufführen, den großen Saal finden, von dem aus man auf die Bühne, beziehungsweise in den Raum hineinsehen wird, wo die Vorträge und sonstiges geleistet werden.

Das praktische Problem, von dem ich eben gesprochen habe, ist dieses: Man litt in dem alten Goetheanum namentlich dadurch, daß die Eurythmie-Übungen unmittelbar auf der Bühne stattfinden muß­ten. Nun kamen ja immer auswärtige Besucher, die sich die Sache anschauten, die hoffentlich auch in der Zukunft kommen werden, aber man brauchte ja zu den Arbeiten selber den Zuschauerraum, und so war niemals eine Verteilung möglich, wie sie eigentlich notwendig ist zu den Übungen und zu der entsprechenden Vorbereitung für

Aufführungen.

Dieses Problem möchte ich nun so lösen, daß im Erdgeschosse, also in der unteren Etage, genau derselbe Bühnenraum sein wird wie oben in der ersten Etage. Nur wird er in der ersten Etage bei denselben Abmessungsverhältnissen für die Aufführungen dienen, in der unte­ren Etage bloß für die Übungen. Es wird also ein unterer Übungs­raum sein, in dem man bis zur Generalprobe wird üben können, so daß der obere Raum immer frei sein wird. Der in der unteren Etage

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wird bloß für diejenigen, die an den Übungen teilnehmen, ein Vor­raum haben, in dem sie sich werden aufhalten können, sitzen können. In der oberen Etage wird die Bühne uninittelbar übergehen in den Zuschauerraum. Der Zuschauerraum wird ebenso groß sein wie der Grundriß des eckigen Gebäudes.

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Auf diese Weise wird man die Möglichkeit haben, wirklich prak­tisch in dem Raume zu arbeiten. Es wird nicht notwendig sein, die Höhe des neuen Goetheanums wesentlich größer zu machen als die Höhe des alten Goetheanums, da ich nicht wieder einen Kuppelbau auszuführen gedenke, sondern einen Abschluß nach oben versuche, der aus Flächen zusammengesetzt ist, die sich in ihrem räumlichen Zusammenstimmen, glaube ich, nicht weniger ästhetisch anziehend ausnehmen werden als ein Kuppelbau.

Wir werden also von der einen Seite durch eine Fassade, die ich morgen noch beschreiben werde, von der Hauptseite aus in das Goe­theanum eintreten können; wir werden dann die Treppe finden, um hinaufzugehen in den oberen Raum; wir werden einen Gang haben,

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um in die einzelnen Säle eintreten zu können und so weiter. Wir wer­den auch an den Seiten Zugänge finden und werden in diesem Raume die Anordnung dadurch namentlich treffen können, daß der Bühnen­raum in entsprechender Weise kleiner ist, im Grundriß kleiner ist als der Magazinraum, den ich durch Wände nach vorne fortzusetzen ge­denke, um die einzelnen Säle zu bekommen. Wir werden dadurch die Möglichkeit haben, nach oben solche Abschlüsse zu gewinnen, daß wir durch Oberlicht den ganzen Raum auch mit Tageslicht immer werden durchleuchten können, sodaß wir werden wechseln können mit Tageslicht, wenn es eben da ist, und mit künstlichem Lichte, wenn wir es brauchen.

Auf diese Weise wird es möglich sein, einen praktischen Bau zu haben, dessen Kubikraum möglichst ausgenützt werden kann. Man wird vieles zugleich in diesem Bau tun können, währenddem eigent­lich im alten Bau nur ein einziger Akt möglich war.

Sie müssen ja bedenken, meine lieben Freunde, daß dies nicht bloß sein soll eine Verbesserung, die dann von manchem vielleicht als eine Verschlimm-Besserung aufgefaßt werden könnte, sondern daß dies zusammenhängt mit der ganzen Entwickelung. Ich habe ja oftmals unter ihnen betont, daß derj enige, der in der Realität lebt und nicht in Ideen, die Realität der Zeit ganz besonders anerkennen muß. Die Zeit ist eine Realität. Allein, es ist schwer, Verständnis hervorzurufen für die Zeit als Realität. Es gibt heute noch Leute, die mit denselben Sät­zen die Dreigliederung des sozialen Organismus vertreten, wie ich sie vertreten habe aus den Zeitverhältnissen heraus 1919. Ja, die Ge­schichte schreitet jetzt so schnell vor, daß es eigentlich einem vor­kommt: Wenn heute einer die Dinge in derselben Weise vertritt, mit der man sie 1919 vertreten hat, man da um Jahrhunderte zurückge­blieben ist. Und so kann man auch wirklich, nachdem ja etwas gesche­hen ist in der anthroposophischen Bewegung, 1924 nicht ebenso bauen wie man 1913/1914 gebaut hat. 1913, 1914 ist die Idee des Goe­theanums lediglich hervorgegangen aus der Einsicht, daß für die My­sterienspiele ein künstlerischer Raum geschaffen werden müsse, und es war eigentlich damals nur an die Mysterienspiele und an die Vorträge

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gedacht. Nun hat sich seit jener Zeit vieles ereignet, ich wünschte nur, daß sich noch mehr ereignet hätte, aber ich hoffe, daß sich auch ohne die 75 Millionen Franken, von denen ich gesprochen habe, in kurzer Zeit noch manches ereignet. Und das muß durchaus berücksichtigt werden.

Dasjenige, was sich ereignet hat, ist ja, daß seit dem Jahre 1913 die Eurythmie sich erst entwickelt hat. 1913 war sie ja nicht da, sie hat sich erst entwickelt, daher kann nicht gesagt werden, daß dasjenige, was dazumal gut war, auch heute gut sein könnte. Außerdem, trotz­dem damals mir versichert worden ist, daß man den Bau mit einer Summe weit unter einer Million deutscher Reichsmark aufführen könne, hat er im Laufe der Zeit, wie Sie wissen, das mindestens Sie­ben- bis Achtfache gekostet. So wollen wir nicht wieder abstrakt rechnen, sondern wir wollen jetzt mit ganz bestimmten Zahlen rech­nen. Es muß der Bau jetzt so aufgeführt werden, daß wir in mog­lichster Bälde dasjenige ausführen können, was in unseren Statuten vorgezeichnet ist. Das kann aber nur geschehen, wenn wir den Bau in einer solchen Weise aufführen, wie ich es Ihnen angedeutet habe.

Es wird dennoch möglich sein, aus dem spröden Betonmaterial heraus Formen zu gewinnen, die dem künstlerischen Anschauen etwas Neues bieten können. Die alten Goetheanum-Formen - über diese Dinge werde ich noch heute abend einiges zu Ihnen zu sprechen haben -, die alten Goetlieanum-Formen, meine lieben Freunde, die werden schon der Geschichte angehören müssen, das heißt Ihren Herzen. Betonformen werden ganz andere sein mussen, und es wird auch manches getan werden müssen, was das spröde Betonmaterial auf der einen Seite wirklich so bezwingt, daß das menschliche Seelen-auge ihm künstlerisch folgen kann in seinen Formen; aber es wird auf der anderen Seite notwendig sein, manches scheinbar Dekorative, aber aus dem Betonmaterial Hervorgehende, künstlerisch, malerisch, plastisch zu schaffen, um eben das Betonmaterial einmal auch künst­lerisch zur Offenbarung zu bringen. Nun bitte ich Sie, diesen Keim-gedanken als denjenigen zu betrachten, aus dem nun wirklich das Goetheanum hervorgehen soll. Es ist von mir ja geltend gemacht worden,

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daß ich in bezug auf die künstlerische Herstellung des Goethe­anums allein arbeiten darf, und es wird nicht möglich sein, im weite­ren Umfange irgendwie von da und dort geholte Anerbietungen oder Ratschläge zu beobachten, wie sie schon in wohiwollender Weise selbstverständlich - gemacht worden sind. Es wird nichts nützen, mir zu sagen: Da oder dort sind Betonbauten aufgeführt worden, da oder dort arbeitet eine Fabrik rationell und so weiter. Wenn das Goe­theanum als Betonbau zustande kommen soll, so muß es aus einem ursprünglichen Gedanken hervorgehen, und alles, was im Betonbau bis jetzt geleistet worden ist, ist eigentlich keine Grundlage für das­jenige,was hier entstehen soll.

II

Aus dem Vortrag in Dornach, 1. Januar 1924

(...) Ich werde Sie jetzt bitten, übergehen zu dürfen zu der Behand­lung der Frage vom Wiederaufbau des Goetheanums. Und ich werde mir erlauben, zu dem gestern Gesprochenen noch einiges Wenige hinzuzufügen. (...)

Sie werden sich erinnern, daß von mir versucht worden ist, die Ge­staltung der Außenseite des Goetheanums, so gut es damals ging, als ein bauliches Problem zu lösen. Es war ja allerdings durch die Schnel­ligkeit, mit der dazumal verlangt wurde, daß der Bau in Szene gesetzt werden soll, manches schwieriger gemacht, als es eigentlich notwen­dig gewesen wäre, aber dennoch glaube ich, ist damals für den - im wesentlichen - Rundbau gefunden worden eine Gestaltung der Fas­sade, eine Gestaltung desjenigen, was an Pforten, an Fenstern, an Ge­simsen und so weiter nach außen hin dasjenige, was das Goetheanum als Inhalt hatte, wiedergab.

Jetzt wird ja der Bau im Wesentlichen so wirken sollen, wie ich es Ihnen gestern nun nicht als Rundbau im Grundrisse zu erklären versuchte,

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sondern wirken sollen als nur teilweise runder, teilweise ecki­ger Bau. Da wird es notwendig sein, gerade für diese Formen den aus dem Betonmaterial gemäßen modernen Stil zu finden.

Solche Dinge bedeuten ja irnimer außerordenlich große Schwierig­keiten. Es ist natürlich leichter, sozusagen abstrakt aus den Formen heraus zu arbeiten, dann das Material zu suchen, als das Material wie ein notwendig Gegebenes hinzunehmen, und aus dem Material die Formen herauszusuchen, die zum Teil eben gegeben sind durch die Verhältnisse, durch jene Verhältnisse, die ich Ihnen gestern geschil­dert habe. Nun möchte ich Ihnen, da wir zu Weiterem ja nicht Zeit haben, nur ein Wesentliches, die Portalform und Fensterform sozu­sagen, im Prinzip hier mitteilen, damit Sie sehen, wie nun versucht werden soll, die innere Gestaltungskraft, die in der alten Form lag, doch auch geltend zu machen in der neuen Form des spröden Betonmaterials.

Ich möchte erreichen, daß wirklich - geradeso, wie der Beton es fordern wird, wenn man eine flächige Abdachung nach oben hat, die in ihren Abfalls-Wandungen für das Auge eine bestimmte Druckge­walt darstellt-, ich möchte erreichen, daß diese Druckgewalt auch für das Auge durch das Portal, respektive die Fenstersimse abgefangen wird, und ich möchte erreichen, daß gleichzeitig auch innerlich geistig zum Vorscheine kommt, daß man es zu tun hat mit etwas, was einen als Portal aufnimmt, oder was als Fenster das Licht aufnimmt, um es in den Innenraum hineinzulassen. Ich möchte aber zugleich mit dieser Form erreichen, daß in gewisser Weise daran zur Offenbarung kommt, wie das Goetheanum sein soll eine Art Schutz für den, der Geistiges in diesem Goetheanum sucht. Das wird sich auch schon im Portal ausdrücken müssen. Und so möchte ich, daß etwa das Folgende zur Offenbarung kommt.

Wenn sich in dieser Weise das Dach erheben wird zum Beispiel nach Westen, nach vorne, dann möchte ich, daß nach diesem Dache zunachst erscheint eine Art kleine, aus dieser Bedachung herausge­wachsene, kleine folgende Form. Ich werde das, was einfarbig er­scheint, hier in verschiedenen Farben festhalten, damit Sie es leichter

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sehen können (siehe die Tafel auf Seite 226). Das wird also vorstehen (grün-gelb), so daß, wenn man am Portal ist, dieses über das Haupt des Eintretenden geht, wenn man uninittelhar am Portal beim Ein­tritte steht. Darunter wird erscheinen ein Stück, das man wird halten können für ein Stück des Pentagons, aber immerhin nur ein Stück (rötlich). Das Pentagon würde ja erst darüber fertig sein. Und das Ganze wird von einer Gestaltung getragen, die nun zurückgeht (blau). So daß also dasjenige, was sie als Formenrundung vom frühe­ren Goetheanum in Erinnerung haben werden, hier in seiner Eckig­keit erscheinen wird. Sie müssen sich also vorstellen, daß das hier gleichsam wie eine Bedachung weiter nach vorne liegt, das hier zu­rückgeht, das im Hintergrunde sichtbar wird (hell), und das Ganze soll nun getragen werden durch eine Säulenform links und rechts, die etwa die folgende Gestalt hat. So daß diese Säule oder dieser Pfeiler zu gleicher Zeit aufnimmt diese schützende Gestalt, die über dem Haupte des Eintretenden steht, also einerseits aufnimmt diese schüt­zende Gestalt in einer solchen Form (orange-gelb), aber nun gleich­zeitig die Bedachung trägt durch eine entsprechende Form, die aus ihm herauswächst.

Und wir werden die Möglichkeit haben - gerade innerhalb dieser Form, die dann angewendet werden soll auf Portale, Seiten- und Hauptportale, wie auch auf die Fensterbildungen -, wir werden die Möglichkeit haben, wirklich ein Ebenmaß dadurch zu erzielen für den äußeren Eindruck: so daß man gleichzeitig sehen wird, wie die Druckbelastung von oben ergriffen wird, auf der anderen Seite aber die Pfeiler sich erheben werden, um gewissermaßen dasjenige, was von innen herauskommend, sich offenbarend, aufgenommen werden muß, in der entsprechenden Weise zu stützen.

In dem entsprechenden Ebenmaß von Stütz- und Laste-Kräften liegt ja beim eckigen Bau dasjenige, worauf es ankommt. Wird er nun übergeführt bei uns in einen organischen Bau, so wird in jedem Gliede außerdem eine Offenbarung des inneren Wesens sein, das ja so gege­ben ist, daß nun die Säulen, die beim alten Bau von unten bis oben gingen, in der Weise umzuformen sein werden, daß sie gewissermaßen

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in dem unteren Stockwerke, in dem Erdgeschosse, sich entwickeln wie Wurzeln, aber natürlich architektonisch aufgefaßt; und daraus werden sich dann erst die wirklichen Säulen für die obere Etage, die wiederum zu Trägern des Ganzen sich entwickeln werden, erheben. Diese werden dann von innen aus das Dach - das innen nicht etwa waagrecht abgeschlossen ist, sondern so abschließend wie es auch die Kuppel war - in seinen Formen abschließen. Die Pfeiler und Säulen werden ja in Träger sich verwandeln, gleichzeitig aber auch wiederum das zum Ausdrucke bringen, was auf der anderen Seite beim alten Goetheanum durch Rundbau zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Nun, sehen Sie: Wir werden uns durch die Auskalkulierung bemü­hen müssen, daß eben die Formen so weit primitiv gemacht werden, prinzipiell andeutend gemacht werden, als es nötig ist, um den Bau in dieser Gestalt für etwa 3 bis 31/2 Millionen Franken auszuführen. Dann werden wir, wenn wir diesen Entschluß in bestimmter Weise einmal haben - und ich glaube, es ist kein anderer möglich -, dann werden wir hoffentlich recht bald zum Beginnen des Bauens schrei­ten können, und der Bau wird in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, wenn uns die Opferwilligkeit unserer Freunde nicht im Stiche läßt, sondern weiterfließt, als ein neues Goetheanum an der Stelle des alten, wenn auch in viel primitiverer, in viel einfacherer Gestalt er­stehen können.


III

DER WIEDERAUFBAU DES GOETHEANUMS

Aufsatz für die «Basler Nachrichten» vom 25./26. Oktober 1924

Da die Solothurner Regierung dem Modell-Entwurf des neuen Goe­theanums im Prinzip ihre Genehmigung erteilt hat, so wird in der allernächsten Zeit mit dessen Wiederaufbau durch die Anthroposo­phische Gesellschaft begonnen werden. Um den Abänderungsvorschlägen

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der Gemeinde Dornach und denen der Regierung gerecht zu werden, bedarf es bis zum Baubeginn nur noch geringer zeichneri­scher und rechnerischer Vorarbeiten.

Der neue Bau wird sich in seinen Formen allerdings stark von dem alten Goetheanum unterscheiden. Denn er wird ja nicht wie dieses aus Holz sein, sondern aus Beton. Dem hat sich das künstlerische Emp­finden bei der Ausgestaltung des Baugedankens zu fügen. Daß das Goetheanum nicht in einem beliebigen von außen bestimmten «Bau­stil« errichtet werden kann, ist klar. Denn es soll der Anthroposophie dienen, und diese will nicht einseitig eine theoretische Weltanschau­ung, sondern eine umfassende Gestaltung der menschlichen Lebens­führung aus dem Geiste heraus sein. Wenn sie künstlerisch vor die Welt tritt, so kann sie das nur so tun, daß ihre Geistesanschauung den Kunststil hervorbringt. Nicht in diesem eigenen Stil bauen, hieße das Wesen der Anthroposophie bei ihrem eigenen Haus verleugnen.

Man wird bei unbefangener künstlerischer Betrachtung finden, daß der Goetheanum-Stil nichts ablehnt, was an geschichtlichen Stilen heute noch Bedeutung hat, aber er geht nicht von dieser oder jener «Anregung» aus gegebenen Stilen aus, sondern es handelt sich bei ihm um ein Schaffen aus den Grundbedingungen alles Stilgefühles heraus. Aber die Formen, in denen man einen Stil schaffen kann, sind eben auch vom Material abhängig. Der alte Bau konnte in der Weichheit des Holzes aus dem Geiste anthroposophischer Anschauung dem Raume, in dem gearbeitet wurde, in allen Einzelheiten seine Gestal­tung geben; beim Beton mußten Formen gesucht werden, in denen der Raum aus seiner Natur heraus die Bildungen entfaltet, die die anthroposophische Arbeit aufnehmen können. Man bekam im we­sentlichen gerade verlaufende Linien und ebene Flächen für Umfas­sungsmauern und Bedachung, die in ihren Winkelneigungen sich zur Gesamtheit des Baugedankens zusammenschließen. Nur gegen die Portale hin und in denselben werden Linien und Flächenformen etwas kleiner und in ihrer Gliederung etwas mannigfaltiger.

Der ganze Bau erhebt sich auf einer Rampe, die allseitig einen künstlerischen Abschluß haben wird, und die ein Umschreiten des

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Baues möglich machen wird. Bei diesem Umschreiten tritt das wun­derbare Landschaftsbild der Umgebung vor das Auge des Besuchers.

Die Formen des Baues werden zu umschließen haben: ein unteres Geschoß, in dem Ateliers, Vortrags-, Übungsräume, Arbeitsstätten usw. sein werden; und ein oberes Geschoß, in dem der für neunhun­dert bis tausend Zuschauer oder Zuhörer berechnete Raum sich be­findet. Nach hinten schließt sich an das untere Geschoß eine Ver­suchsbühne, an das obere die Bühne, auf der die öffentlichen Vorfüh­rungen stattfinden werden. Außen soll der Bau die künstlerisch wahr sich gebende Umhüllung dessen sein, was darinnen an geistigem Erleben sich entfaltet. Zu den Portalen werden stilvolle Treppen vom Erdboden zur Rampe hinaufführen. Der notwendigen inneren Raumgestaltung der beiden Geschosse werden die Außenformen zu folgen haben; das Dach - diesmal nicht in Kuppelform - wird in sei­nen Linien- und Flächenformen auf der einen Seite dem ansteigenden Zuschauerraum zu folgen haben, auf der anderen Seite wird es sich künstlerisch der Umhüllung der beiden Bühnen mit ihren Magazin­Räumen anzuschließen haben. Im Innern wird die Aufgabe zu lösen sein, die den Raum zugleich zum Vortragssaal wie auch zum Euryth­mie- und Mysterien-Aufführungsraum gestaltet. Man wird zum Bei­spiel das Dehnen des Raumes nach oben in der Konfiguration von Säulen sehen. So wird wieder, wie beim alten Goetheanum, das, was Anthroposophie zu sagen hat, auch in den Bauformen und in dem ganzen Baugedanken empfunden werden können, in denen sie das Haus errichtet, in dem sie wirken soll.

Daß in dem Baugedanken etwas Monumentales sich herausgebildet hat, ist durch die Idee des Baues gekommen; was aber im ganzen und in jeder Einzelheit angestrebt worden ist, das ist in der Baugestaltung nicht unwahr zu sein, sondern in ihr ein künstlerisch völlig wahrheits­getreues Abbild von dem zu schaffen, was innerhalb aus Geist-Er­kenntnis heraus erarbeitet wird. Bei dem Erbauer ist die Meinung vorhanden, daß damit etwas geschaffen wird, mit dem der allgemeine, unbefangene Geschmack, der nichts von Anthroposophie weiß oder wissen will, durchaus mitgehen kann.

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IV

DAS ZWEITE GOETHEANUM

Aufsatz für die «National-Zeitung», Basel, vom 1. November 1924

Der Neubau des Goetheanums hat in der Presse viel von sich reden gemacht und das Interesse der weitesten Kreise geweckt. Wir sind nun beute in der Lage, ein Bild des zukünftigen Baues zu veröffentlichen. Gleichzeitig haben wir Herrn Dr. Rudolf Steiner ersucht, sich über den Gedanken, der dem Bau zugrunde liegt,

zu äußern. (Die Redaktion)

Der Wiederaufbau des Goetheanums stellte der Gestaltung des Bau-gedankens keine leichte Aufgabe. Eine völlige Umorientierung war notwendig, da der alte Bau im wesentlichen aus Holz war, der neue ganz aus Beton errichtet werden soll. Dabei durfte aber doch Anthro­posophie, zu deren Pflege der Bau bestimmt ist, sich durch seine Ge­staltung mit ihrem eigenen Wesen nicht in Widerspruch setzen. Sie will aus Geistesquellen schöpfen, aus denen geistgemänes Wissen für die Erkenntniskräfte fließt, aus denen aber auch für die empfindende Phantasie Kunstformen und Stil erströmen. Sie strebt nach den aller­ursprünglichsten Kräften der Erkenntnis, aber auch nach denen der künstlerischen Gestaltung und stilgemäßen Haltung. Grotesk wäre es, wenn gerade ihre Arbeitsstätte jemand bauen würde, der aus irgendeiner Kunstempfindung heraus mit nur äußerlichen Gefühlen vom Wesen der Anthroposophie den Baugedanken ersönne. Diese Arbeitsstätte kann nur bauen, wer jede Einzelheit der Form aus dem Wesen geistiger Anschauung künstlerisch so erlebt, wie er erkennend jedes Wort erlebt, das aus derselben Anschauung in Anthroposophie gesprochen wird.

Im Holz war durch die Weichheit des Stoffes eine Raumgestaltung möglich, die dem Schaffen der Natur in der organischen Form selbst nachstrebte. Der Organismus als Ganzes macht, zum Beispiel für das kleinste Gebilde - ein Ohrläppchen - eine Form notwendig, die nicht anders sein könnte. Mit dem künstlerischen Erleben in diesem organischen

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Schaffen der Natur aufgehen, konnte zu der Ausgestaltung eines «organischen Baustiles», im Gegensatz zu einem auf bloß Stati­sches oder Dynamisches sich stützenden, führen, wenn eben das Na­turhafte durch die schaffende Phantasie in das Geistgemäße gehoben wurde. So war zum Beispiel im alten Goetheanum ein Saal, den die Besucher betraten, bevor sie in den großen Zuschauerraum kamen. Man konnte in den Holzformen eine Gestaltung schaffen, die genau zeigte, der Raum ist bereit, von außen Eintretende aufzunehmen. Übergreifend über dieses Besondere der Formung war dann, was sich ergab durch die organische Eingliederung in den Gesamtbau. Damit war aber auch die Gestaltung nach außen gegeben. Sie brachte in künstlerischer Art zur Offenbarung, was in dem Bau für die Zwecke der anthroposophischen Arbeit gestaltet und geglie­dert war.

Einer solchen Bildung des Baugedankens fügt sich der Beton nicht in der gleichen Weise wie das Holz. Darin ist der Grund zu suchen, warum die Ausgestaltung des Modell-Entwurfes fast ein volles Jahr in Anspruch nahm. - In das Holz arbeitet man die Raumform hinein; man läßt durch Vertiefung (concav) einer Hauptfläche die Form ent­stehen. Beton dagegen ist ein Material, aus dem man die Form durch Erhöhung (convex) der Haupffläche so herausarbeiten muß, wie man sie zur Begrenzung des notwendigen Raumes braucht. Das macht sich dann auch geltend in der Bildung der nach außen gehenden Formen. Flächen- und Linienführungen, Winkelgestaltungen usw. sind so zu halten, daß, was im Innern gestaltet und gegliedert ist, wie in die Außenformen drückt und dadurch sich offenbart.

Zu alledem kommt noch, daß bei diesem zweiten Goetheanum mit dem Raume ökonomischer verfahren werden muß als beim ersten. Dieses war eigentlich im Innern nur ein Raum, der so gestaltet war, daß er für Vorträge und Aufführungen in gleicher Art eine künstle­rische Umrahmung bildete. - Jetzt aber wird man zwei Geschosse haben, ein unteres, das Arbeits-, Vortragsräume und eine Versuchs-bühne umfassen soll, und ein oberes, das Zuschauerraum und Bühne

- was wieder auch Vortragsraum sein kann - enthalten soll.

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Dieser Gliederung im Innern mußte die künstlerische Linien- und Flächengestaltung nach außen hin folgen. Man sehe sich daraufhin die Dachform an - die diesmal nicht Kuppel ist. Man wird, wenn man die Formen durchfühlt, doch finden, wie versucht ist, die Aufgabe zu lösen, das Dach nach der einen Seite hin in die Formen künstlerisch zu bringen, die dem ansteigenden Zuschauerraum gemäß sind, während es nach der andern Seite in die Umschließung des Bühnenraumes mit seinen Magazinen usw. verlaufend gedacht ist. Man wird bei künstle­risch unbefangener Betrachtung vielleicht doch herausfinden, wie die in der Gestaltung des Grundrisses liegenden Notwendigkeiten bei Ausgestaltung des Baugedankens bis in die gewagte Formung der Westfront gewirkt haben.

Der Bau wird auf einer Rampe stehen. Diese wird einen Umgang um den Bau auf gegenüber dem Erdboden erhöhter Fläche möglich machen. Zu den Portalen wird man über groß angelegte Treppen ge­langen, die vom Erdboden aus auf die Rampe führen werden. Unter der Rampe werden die Garderoben- und sonstigen Nebenräume sich befinden.

Der Aus gestalter des Baugedankens hat die Überzeugung, daß den Formen der Hügelgruppe, auf der das Goetheanum stehen darf, die­ser Betonbau in seiner Gestaltung ganz besonders entsprechen wird. Als er den Holzbau gestaltete, war er mit diesen Naturformen noch nicht so vertraut wie jetzt, wo er auf ein Jahrzehnt zurückblicken darf, in dem er sie kennen und lieben gelernt hat, so daß er gegenwärtig in einem ganz anderen Sinne aus ihrem Geiste heraus den Baugedanken schaffen konnte als vor elf Jahren.

(An dem hinteren Teil des Baues werden gemäß dem Wunsch der Gemeinde Dornach und der Solothurner Regierung noch Abände­rungen stattfinden; diese sind hier noch nicht inbegriffen.)

HINWEISE

#G286-1992-SE233 Wege zu einem neuen Baustil

#TI

HINWEISE

#TX

(Angaben zu bestirntnten Auflagen beziehen sich auf Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe)

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht ani Schluß des Bandes.

ZU TEIL I

Textgrundlagen: Die drei Vorträge vom 12.Dezember 1911, 5.Februar 1913 und vom 23.Januar 1914 wurden von Walter Vegelahn, Berlin, mitstenographiert. Dem Druck liegt seine Klartextübertragung zugrunde. Für die Mitschrift des Vortrages vom S. Februar 1913 konnten Kurznoti­zen von einer anderen Hand zugezogen werden. Bemerkungen in runden Klammern stammen aus den Nachschriften, dagegen solche, die in ecki­gen Klammern stehen, gehen auf die Herausgeber zurück.

Zu Seite

27 heute morgen . . . gehört: Bezieht sich auf einen Vortrag von Dr. Ernst Wag­ner über «Die Kunstwerke als Dokumente der Menschheitsentwicklung». Niheres ist nicht bekannt.

29 Akasha-Chronik: Aus orientalischer Tradition stan'tnende Bezeichnung für das Weltgedächtnis, eine geistige Essenz, in der die Spuren alles dessen be­wahrt sind, was je von bewußten Wesen in der Welt bewirkt wurde. Siehe «Aus der Akasha Chronsk» (1904 08), GA 11

30 Hegel (hat) diese Kunst geradezu die Kunst des Ratseis genannt In dem von Rudolf Steiner benutzten Exemplar von Hegels «Vorlesungen uber As thetik , Berlin 1835, 2. Tesl, 1. Abschnitt, 1. Kap. «Die unbewußte Symbo 11k« findet sich folgende Stelle von Rudolf Steiners Hand angestrichen »Die Werke der agyptischen Kunst in ihrer geheimnisvollen Symbolik sind des halb Ratsel das objektive Ratsel selbst Als Symbol fur diese eigentliche Bedeutung des ägyptischen Geistes können wir die Sphinx bezeichnen. Sie ist das Symbol gleichsam des Symbolischen selber.»

31 Ich hahe einmal den Ausdruck gehraucht: Vostrag vom 11.6.1908 in »Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen», GA 102, und Vor­trag vom 4.8.1908 in «Welt, Erde und Mensch», GA 105.

36 Wir hören von dem salomonischen Tempel hei mancherlei Gelegenheiten:

Siehe «Die Tempellegende und die Goldene Legende», GA 93.

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36 Herodot, um 484-430 v.chr., ältester griechischer Geschichtsschreiber.

Machte große Reisen nach Asien, Ägypten, usw.

37 Man kann den . . . Menschen darstellen in der Anthroposophie... in der

Psychosophie . . . und Pneumatosophie: In den Jahren 1909, 1910 und 1911

hatte Rudolf Steiner zu jedem Thema jeweils vier Votträge gehalten: »An­

throposophie, Psychosophie, Pneumatosophie», GA 115.

39 versuchte ich schon darzustellen bei der Eröffnung unseres Suttgarter Baues:

Vortrag Stuttgart, 15.Okt.1911 in «Bilder okkulter Siegel und Säulen»,

GA 284/285.

40 Heinrich von Ferstel, 1828-1883, a. 0. Professor der Baukunst in Wien. In

seiner Rede als neu antretender Rektor der Wiener Technischen Hochschule

am 9. Oktober 1880 sagte er: «Der größte Irrtum unseres Jahrhundetts be­-

stand in dem Glauben, daß derKunstausdeuck eines Volkes, der doch nur

ein Resultat aller äußeren Umstände und Einflüsse sein kann, durch persön­

lichen Willen, durch angestrengtes Bemühen Einzelner oder gar durch be­

hördliche Vorschriften umgestaltet und festgesteHt werden könne. Unter

der erdrückenden Last von Verirrungen, welchen die Architektur auf die­

sem Wege veriallen war, gelangte endlich die Überzeugung zum Durchbru­

che, daß Baustile überhaupt nicht erfunden werden können demzufolge

auch die Kunst nur auf dem natürlichen Prozesse alles Werdens und Entste­

hens ihre Entwicltlung finden könne . . . Architekten sind nur die Priester

jener Himmelstochter, welche mit unvergänglicher Schrift ihre Ideen in

Stein verkörpert.« Zitiert aus «Reden gehalten bei der Feierlichen Inaugura­

tion des für das Studienjahr 1880/81 gewählten Rektors der k. k. Techni­

schen Hochschule in Wien, Heinrich Freiherr von Ferstel, o. ö. Professor

der Baukunst«, Wien o.J. (Seite 39f.)

42 Legende von den sieben weisen Meistern: «Die deutschen Volksbücher, her­

ausgegeben von Richard Benz. Die sieben weisen Meister» bei Eugen Diede-­

richs, Jena 1911.

44 Ich habe selbst einmal darauf aufmerksam gemacht: Vortrag über Moses,

Berlin, 9. März 1911 in «Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen

Fragen des Daseins«, GA 60.

46 Saturn, Sonne und Mond. . . frühere Erdenzeiten. . . Tätigkeiten der ver­

schiedenen Hierarchien: Vgl. »Die Geheimwissenschaft im Umriß» (1910),

GA13.

Wir sind Theosophen: Diesen Ausdruck gebrauchte Rudolf Steiner, weil er

damals noch innerhalb der Theosophischen Gesellschaft lehrte.

49 unsere letzte Generalversammlung der Deutschen Sektion: Im Dezember

1911 hatte die letzte Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theo­

sophischen Gesellschaft stattgefunden, ein Jahr später wurde die Deutsche

Sektion neu gebildet als Anthroposophische Gesellschaft. Der Vortrag vom

S. Febtuar 1913 fand in den Tagen der ersten Generalversammlung der An­

throposophischen Gesellschaft statt.

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49 aus jener Schr'ft: Geeneint ist die sogenannte Äkitsha-chronik, vgl. Hinweis zu Seite 29.

50 metne »Theosophie»: «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welt-erkenntnis und Menschenbestiminung» (1904), GA 9.

Adol Arenson, 1855-1936, damals . er der . . . . .

Stuttgart. Er hatte in den Tagen der Generalversatnmlung der Anthroposo­phischen Gesellschaft, am 3.Februar 1913, einen Vortrag gehalten «Zum Studium der Geisteswissenschaft», Berlin 1914.

52 Da hat... einer von diesen gescheiten Leuten gesagt: Ließ sich nicht feststel­len.

60 von mir schon da oder dort angedeutet worden . . . Stuttgarter Bau: Vgl. Hin­weis zu Seite 39.

61 wie Johannes Thomasius malt: Vgl. «Die Pforte der Einweihung» (8 Bild) in «Vier Mysteriendramen« (1910 13) GA 14

62 Freunde, der uns als Architekt hier hilft. carl Schmid curtius gest 1931 Archstekt des ersten anthroposophischen Gesellschaftshauses in Stuttgart 1911 - 1914 leitender Architekt des Bauprojektes Munchen/Dornach

64 Emil Grosheintz 1867 1946 Dr med dent in Basel Mstbegiunder des Pa racelsus Zweiges Basel, 1908 1913 im Vorstand der Deutschen Sektion stellte 1912 seinen Dornacher Landbesitz fur das Bauprojekt zur Verfügung. Von 1913 bis 1915 zweiter, dann erster Vorsitzender des Bauvereins.

65 Idee für das kleine Häuschen . . . Glasfenster hergestellt werden können: Das sogenannte «Glashaus« steht heute noch.

Herr Rychter: Vgl. Hinweis zu Seite 114.

«Kesselhaus»: Heute «Heizhaus» genannt.

69 Eurythmie: Die durch Angaben Rudolf Steiners entwickelte neue Raumbe­wegungskunst. Siehe «Die Entstehung und Entwickung der Eutythmie«, GA 277a.

Architekt Wilhelm Ferstel: Vgl. Hinweis zu Seite 40.

70 in der Nähe des Johanneshaues ein Haus steht, das jetzt noch nicht beseitigt werden kann: Bezieht sich auf das heute «Rudolf Steiner-Halde» genannte Gebäude, das erst im Jahre 1921 übernommen werden konnte und dann von Rudolf Steiner entsprechend umgebaut worden ist. Siehe Erich Zimmer, «Rudolf Steiner als Architekt von Wohn- und Zweckbauten», Stuttgart

1971.

71 was durch die Vereinigung der Mitglieder der Kolonie. . . etwa morgen ent­stehen könnte: Es wurde daraufhin von und für Mitglieder der Anthroposo­phischen Gesellschaft der Verein »Anthroposophen-Kolonie Dornach», Vorsitz Dr. Emil Grosheintz, gegründet. Später nannte sich der Verein «Anthroposophische Kolonie», von 1921 an «Kolonie am Goetheanum in

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Dornach». Weihnachten 1923 wurde der Verein liquidiert und seine Aufga­ben vom «Verein des Goetheanum» übernommen.

71 Bauprojekte der Kolonisten: Rudolf Steiner hat später verschiedene Wohn-häuser gestaltet. Siehe Erich Zimmer, »Rudolf Steiner als Architekt von Wohn- und Zweckbauten», Stuttgart 1971.

73 tagte da drüben im Nebensaal: Die Veranstaltungen dieser Generalver­sammlungstage fanden im sog. Architektenhaus in Berlin statt, dessen Räume für derartige Veranstaltungen gemietet werden konnten.

ZU TEIL II

Textgrundlagen: Für diese Vorträge Rudolf Steiners stand kein Berufs­stenograph zur Verfügung. Es liegen nur die mehr oder weniger mangel­haften Mitschriften von stenographiekundigen Zuhörern vor. Auch wa­ren die Umstände, unter denen nur mitgeschrieben werden konnte, sehr

ungünstig. Hedda Hummel, die einige Vorträge ganz oder auch teilweise mitschrieb, berichtet in ihrem Brief an Marie Steiner vom 25.9.1914, daß sie «bei denkbar schlechtester Sitzgelegenheit (am Boden)» mitgeschrie­ben habe.

Für die erste von Marie Steiner 1926 herausgegebene Auflage lag da­mals nur ein von den verschiedenen Mitschreibern gemeinsam erstellter Text vor. Für die 1957 durch Assja Turgenieff herausgegebene zweite Auflage konnte dieser Text aufgrund von inzwischen vorliegenden ur­sprünglichen Einzelmitschtiften neu geprüft und die mathematische Seite des 3. Vortrages von Carl Kemper und Dr. G. A. Balaster gemeinsam

durchgearbeitet werden. Seither sind dem Archiv der Rudolf Steiner­Nachlaßverwaltung noch weitere Unterlagen - teilweise Originalsteno­gramme - zugekommen. Für die vorliegende 3. Auflage wurden deshalb sämtliche Unterlagen nochmals durchgearbeitet. Dadurch konnten er­neut wesentliche Korrekturen vorgenommen werden. Gewisse Ergän­zungen von offensichtlichen Lücken in der Nachschrift wurden durch die Herausgeber in eckige Klammern gestellt.

Für den ersten Vortrag stand zusätzlich die Nachschrift von der Klein­odienkünstlerin Berta Meyer-Jacobs zur Verfügung; für den zweiten Vortrag ebenfalls sowie die Nachschrift von Elisabeth Vreede. Für den dritten Vortrag liegt nur der schon gedruckt gewesene Text nach der Nachschrift von Hedda Hummel vor. Der vierte Vortrag - früher nach der Nachschrift von Hedda Hummel gedruckt - konnte durch das Origi­nalstenogramm von Franz Seiler korrigiert und ergänzt werden. Der fünfte Vortrag - früher nach einem gemeinsam erstellten Text von Elisabeth

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Vreede, clara Michels und Hedda Hummel gedruckt - konnte eben­falls durch das Originalstenogramm von Franz Seiler korrigiert werden.

Zu den Zeichnungen im Text: Die Originalzeichnungen Rudolf Stei­ners existieren nicht mehr. Er zeichnete damals noch ticht, wie später, auf abnehthbares schwarzes Papier, sondern direkt auf die Wandtafel. Darum liegen nur die Wiedergaben durch die Mitschreiber vor, wobei offensicht­lich einige Zeichnungen fehlen. So weit als möglich ist dies im Text zu kennzeichnen versucht worden. Für &e zweite Auflage sind die Zeich-­nungen von Assja Turgenieff in der von ihr ausgearbeiteten Hell-Dunkel-Technik ausgeführt worden; für die vorliegende dritte Auflage mußten an einigen dieser Zeichnungen kleine Korrekturen vorgenommen werden.

Zu der Zeichnung auf Seite 170: Diese Zeichnung entspricht der Wie-­dergabe durch die Stenographin Hedda Hummel. In der ersten und zweiten Auflage war diese Zeichnung abgeändert worden, weil die Strö­mungsrichtungen aus dem überlieferten Text schwer zu entnehmen sind. Aus dem genauen Zusammenschauen aller heute vorliegenden Unterla­gen kommt man auf die folgenden vier Aufbauphasen, die dann mit der überlieferten Zeichnung übereinstimmen:

1. die drei Himmelskörper, S. 168.

2. die Teilung der Sonne in vier Kammern und die Strömung von I durch die Erde zurück nach III, S. 170.

3. eine Doppelströmung, ausgehend von IV durch den Mond, zurück-kehrend nach IV in beiden Richtungen. Bis dahin sind nur drei Son­nenorte beteiligt, S. 171.

4. Zwei weitere Strömungen von IV nach II, die eine direkt, die andere von IV durch den Mond nach II als eine «Art Spiegelbild» der ersteren,

S. 173.

Zu den einzelnen Hinweisen des zweiten Teiles: Die für die zweite Auflage von Assja Turgenieff, carl Kemper und Dr. G. A. Balaster erstellten Hinweise wurden für die dritte Auflage lediglich um einige Nachweise ergänzt.

zu Seite

79 opferwillig dargebrachten Werten: Der erste Goetheanumbau wurde aus­schließlich durch Spendengelder und freiwillige Mitarbeit errichtet.

81 Die großen Baumeister: Theophil Hansen, 1813-1891, dänischer Architekt in Wien, wo er zuerst in frührniuelalterlichen Stilen baute und später zum Hauptvertreter der klassizierenden Richtung wurde. Baute u. a. das Parla­mentagebäude.

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81 Friedrich von Schmidt, 1825-1891, deutscher Architekt, baute in Wien als

Hauptvertreter der Gotik das Rathaus u. a.

Heinrich von Ferstel, 1828-1883, Professor am Wiener Polytechnikum,

baute die gotische Votivkirche, die Nationalbank, das österreichische Mu­

seum für Kunst und Industrie, die Universität in italienischer Renaissance.

Gottfried Semper, 1803-1879, deutscher Architekt, baute in Dresden, Zü­

rich und Wien. Hauptwerk: »Der Stil in den technischen und tektonischen

Künsten«, Frankfurt 1860 bis 1863.

Joseph Bayer, 1827-1910. Professor der Ästhetik an der Wiener Techni­

schen Hochschule von 1871 bis 1898. Werke: »Ästhetik in Umrissen»,

2 Bände, 2. Auflage Prag 1863 u. a. Vergleiche über ihn: »Die k. k. Techni­

sche Hochschule in Wien 1815 bis 1915«, Gedenkschrift von Hofrat

Prof. Dr. Joseph Neuwirth, Wien 1915.

83 Vitruv: Vitruvius Pollio, Kriegsbaumeister unter Cäsar und Augustus, ver­

faßte zwischen 16 und 13 v.Chr. nach griechischen Quellen und eigener

Erfahrung »De architectura» in zehn Büchern. Übersetzung von Reber,

1865. Die Anekdote lautet wörtlich:

«Die erste Erfindung eines solchen Kapitäls aber wurde - wie erzählt wird

- auf folgende Weise gemacht. Eine Bürgertochter aus Korinth, bereits hei­

ratsfähig, wurde krank und starb; nach ihrem Leichenbegängnis sammelte

die Amme die Spielsachen, an denen sich das Mädchen bei Lebzeiten ergötzt

hatte, legte sie zusammen in einen Korb, trug diesen zu dem Grabmal, stellte

ihn oben darauf und deckte ihn, damit sich die Sachen länger als unter freiem

Himmel erhielten, mit einer Dachplatte zu. Jener Korb war nun zufällig über

eine Akanthuswurzel (Bärenklau) gesetzt worden; da trieb die vom Ge­

wichte gedrückte, in der Mitte befindliche Akanthuswurzel um die Früh­

lingizeit Blätter und Stengel, und ihre Stengel, an den Seiten des Korbes

emporwachsend und von den Ecken der Dachplatte durch den Druck der

Last hinausgedrückt, wurden gezwungen, nach außen hin Schneckenwin­

dungen zu bilden.

Da bemerkte Kallimachos, der wegen der Gewähitheit und Feinheit seiner

Arbeiten in Marmor von den Athenern Katatechnos (der Kunstvolle) ge-­

nannt worden war, im Vorübergehen an diesem Grabmale jenen Korb und

ringsum die hervorsprossenden zarten Blätter, und entzückt über die Art

und Neuheit der Form, machte er nach diesem Vorbilde bei den Korinthiern

Säulen, stellte die zusammenstimmenden Maßverhaltnisse derselben fest,

und von da ausgehend, entzifferte er die Gesetze für die Errichtung von

Bauwerken korinthischer Ordnung.»

85 . . . herausentwickeln aus dem Ätherischen ins Physische: Früher: «...heraus-­

entwickelt ins Physische und ins Ätherische». Sinngemäße Korrektur.

Man fühlte in sich gewissermaßen das gebildet: Früher: «... gebunden«.

Sinngemäße Korrektur.

86 Akashabild: Vgl. Hinweis zu Seite 29.

#SE286-239

86 Ich zeichne... Eine Anzahl von hintereinander gehenden Menschen: Dieses pflanzenliafte Erden- und Sonnenmotiv, abwechselnd von schreitenden Ge-­stalten getragen, wie Rudolf Steiner es aus seiner geisteswissenschaftlichen Forschung heraus beschreibt, ist seitdem auf einer Vase frühgriechisch-geo-­metrischen Stils gefunden worden -schematisch wiedergegeben so:

#Bild s. 239

Der Hinweis stammt von Assja Turgenieff (1890-1966) für die Auflage von

1954. Wo sie die Vasen gesehen hat, wurde von ihr jedoch nicht festgehalten.

88 denn so konnte man das Hereinstrahlen des Sonnenrnäßigen auch darstellen:

Rudolf Steiner bezeichnete das Sonnenlicht als weniger als schwer, so daß

das herunterstrahlende Licht eine hinaufziehende Kraft ist, zum Beispiel

auch in einer naturwissenschaftlichen Diskussion vom 29. Dezember 1922

(«Licht gleich negative Gravitation»), abgedruckt in Mathematische Sen­

dungen Nr.6 (1930), herausgegeben von der mathematisch-astronomischen

Sektion am Goetheanum, Dornach. - Von einem anderen Aspekt spricht

Rudolf Steiner über die Formkraft dieser Motive als Licht und Schwere in

den Vorträgen »Mysterienstätten des Mittelalters - Rosenkreuzertum und

modernes Einweihungsprinzip», GA 233 a. Darin wird Licht durch ein mit

der Spitze nach unten gerichtetes Dreieck und Schwere durch ein mit der

Spitze nach oben gerichtetes Dreieck charakterisiert. Ihr Ineinandergreifen

ergibt das Hexagramm, den »Salomonischen Selalüssel» zur Formenwelt.

Solche geisteswissenschaftlichen Hinweise werfen ein Licht auf Natur- und

Kunstgestaltungen, verschiedene Kulturstile und das kompositionelle Ele­

ment als solches.

93 Das Akanthusblatt entsteht, indem die Palmette plastisch umgewandelt

wird: Der strenge Formeharakter der gemalten Palmette, wie sie zum Bei­

spiel in der archäologischen Abteilung des Altropolis-Museums in Athen zu

sehen ist, wird in den ersten Übergangsitadien ins Plastische noch bewahrt.

Da wird das Palmette"snotiv nur als schwache, noch nicht plastische Erhö­

hung aus dem Stein herausgemeißelt, was man am Erechtheiontempel in

Athen und auch in Delphi sehen kann. Erst in Verbindung mit dem korinthi­

sehen Kapitäl verliert sich allmählich die ursprüngliche Palmettenform in die

immer naturalistischer anmutende des sogenannten Akanthusblattes. So ist

der Hinweis auf das ursprüngliche Palmettenmotiv wie auf die ionische Vo­

lute, die sich beide im korinthischen Kapitäl verbinden, für deren Verständ­

nis von besonderer Bedeutung.

Über das Akanthusblatt siehe auch F. Kempter, »Akanthus - Die Entste­

hung eines Ornaenentenotivs», Leipzig-Straßburg-Zürich 1934.

#SE286-240

97 Alois Riegl, 1858-1905. Sein Werk »Stilfragen - Gettindlegungen zu einer

Geschichte der Ornanientik» erschien 1893 in Berlin. Die hierin Frage kom­

mende Stelle lautet: «...Ich karin und will mich auf den Gegenstand nur

insoweit einlassen, als es für den allgemeinen Garig unserer Untersuchung

über das antike Pflanzenranken-Ornament notwendig ist. Was sich daraus

zweifellos ergeben wird, das ist die dringende Notwendigkeit, das Kapitel

von der Entstehung des Akarithusornaments einmal einer gründlichen Be­

arbeitung zu unterziehen. Ich hoffe aber auch wenigstens einen Teil der Fach-

genossen dähin zu überzeugen, daß der Akanthus nicht im Wege der unmit­

telbaren Nachbildung eines Naturvorbildes, sondern infolge eines völlig

künstlerischen, ornamentgeschichtlichen Entwicklungsprozesses entstan­

den ist.«

99 die spätere römische Plastik der Pytri-Clytia: Porträtbüste der Ovidschen

Nymphe Clytia, die vor Liebe zum Sonnengott vergeht und in eine Blume

verwandelt wird. Standort: Britisches Museum, London.

101 Es wäre besser gewesen, wenn man von Anfang an mit dem Grabeisen ge­

arbeitet hätte: Die drei bis fünf Meter hohen und breiten Architrave waren

aus übereinandergeschichteten, schematisch profilierten Holzplatten zu-

sammengeleimt. Das ergab riesige Holzmassen, die man - als Vorbereitung

für das Schnitzen - begann von Arbeitern mit der Axt abhauen zu lassen.

Dem entgegen stand der Entschluß verschiedener Künstler, die Formen von

Anfang an aus dem rohen Holz mit dem Schnitzmesser zu suchen, dem

Rudolf Steiner in diesem Vortrag entgegenkam. Immer wieder leitete er die

Künstler an, Wärme, Empfindung in die bewegte, auch «doppeltgebogene«

Fläche zu legen. Erst dadurch bekommt die Form Ausdruck, «Duktus«, sie

spricht aus, was sie will, wird zum «Schein des Lebens« und «Schein der

Bewußtheit«. Gerade darin unterscheidet sich diese Formgebung von dem

Suchen nach bewegten Formen, wie sie aus der Jahrhundertwende als Ju­

gendstil bekannt sind.

102 Adolf Hildebrand, 1847-1921, Bildhauer. Schrieb »Das Problem der Form

in der bildenden Kunst«, Straßburg 1913.

Säulen von verschiedenen Hölzern: Das erste Paar Säulen mit dazugehö

rigem Architrav war aus Weißbuche, das zweite aus Esche, das dritte aus

Kirsche, das vierte aus Eiche, das fünfte aus Rüster, das sechste aus Ahorn,

das siebente aus Birke. Rückwärtslaufend waren im kleinen Kuppelraum die

je sechs Säulen aus zwei verschiedenen Holzarten. Anschließend an den gro­

ßen Kuppelraum: das erste Säulenpaar außen aus Birke, innen aus Ahorn;

das zweite außen aus Ahorn, innen aus Rüster; das dritte außen aus Rüster,

innen aus Eiche; das vierte außen aus Eiche, innen aus Kirsche; das fünfte

außen aus Kirsche, innen aus Esche; das sechste außen aus Esche und in­

nen aus Weißbuche. Unter dem abschließenden Baldachin aus Esche im

Osten sollte die plastische Holzgruppe aus Rüster stehen. Die Außenarchi­

tektur war amerikanische Eiche, der Vorraum im Westen aus Rotbuche. Die

beiden Kuppeln ließ Rudolf Steiner aus akustischen Gründen unter den mit

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dem Malgeund versehenen Sperrholzplatten noch mit einer Korkschicht decken.

103 Ich bin mir klar darüber, daß die plastischen Formen . . . mancher kritisch

anschauen wird: In den beiden früheren Auflagen hieß es gemäß Nach-schrift »Ich bin mir klar darüber, die plastischen Formen wird jeder schauen». Sinngemäße Korrektur durch die Herausgeber.

Nicht Symmetrie, sondern lebendiger Fortschritt soll drinnen sein: Die archi­tektonische Symmetrie - nicht zum Beispiel die plastische der Kapitäle -, die rechts und links von der Mitte Liegendes aufeinander bezieht in den frühe­ren Baustilen, wird rein abstrakt mathematisch zu einer Linie verbunden. Außerdem kann auch nicht von einer Symmetrieachse gesprochen werden in Bauten, wo zum Beispiel die rechts und links von einer Säule liegenden Bo­gen zueinander symmetrisch stehen. Anders ist es im Goethearium, wo tat­sächlich nur eine Symmetrieachse durch die Wandlung der rechts und links liegenden Formen durch die Metamorphose real-künstlerisch entstand. Da-­mit war in die Architekturgeschichte ein neues Element eingetreten. Dieses «Fortschreiten der Säulen von den einfachsten Kapitäl- und Sockelformen bis zu dem mittleren Komplizierten, dann wiederum das Zurückgehen bis zu dem Einfachen, also die Auflösung der allseitigen Symmetrie in einen entwscltlungsgemäß metamoephosischen Fortgang« (Vortrag Dornach, 16.Okt.1920 in »Der Baugedanke von Dornach«, Dornach 1942) ist von Rudolf Steiner durch die Ausgestaltung des Kongreßraumes in München, Pfingsten 1907 veranlagt worden. Daraus entstand der ellipsoide Modellbau in Malsch (1909) und der Gewölbesaal im ersten Stuttgarter Zweighaus (1911), vgl. «Bilder okkulter Siegel der Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen«, GA 284/285. Seine volle Ausge­staltung fand dieser Gedanke in dem zu Dornach im Jahre 1913 begoeinenen Doppelkuppelbau des ersten Goetheanum, das ganz in Holz ausgeflihrt in der Silvesternacht 1922/23 bis auf den Betonunterbau niederbrannte. In dem unfertigen großen Saal des aus Beton errichteten zweiten Goethearium

- dem letzten Werk Rudolf Steiners - war architektonisch veranlagt in dem gegen die Bühne zu sich öffnenden Trapezgrundriß der gleiche fortschrei­tende Entwicklungsgedanke zu sehen.

106 ein Mann..., der jetzt nicht mehr unserer anthroposophischen Bewegung angehört: Es ließ sich nicht feststellen, um wen es sich gehandelt hat.

109 Vorspiel zur «Pforte der Einweihung«: Die Pforte der Einweihung (Initis-­tion) - Ein Rosenkreuzermysterium durch Rudolf Steiner, in »Vier Myste-­riendramen« (1910-1913), GA 14.

Auguste Francois René Rodin, 1840-1917, französischer Bildhauer.

114 Thaddeus Rychter, Kunstmaler. Wurde im erste Weltkrieg einberufen und lebte danach in Jerusalem. und Warschau, wo er nach Beginn des zweiten Weltkrieges starb.

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119 ich habe in früheren Zeiten schon darauf hin gewiesen, wie der griechische Tempel: In der Zeit, als der Modellbau in Malsch entstand, vgl. z.B. Vortrag Berlin, 11.6.1908 in »Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Men­schen», GA 102.

122 die Gesinnung während des vierten nachatlantischen Zeitraumes: Über die Aufeinanderfolge der Kulturepochen und die Entstehung des menschlichen individuellen Bewußtseins aus dem Gruppen-Ich siehe Rudolf Steiner, »Die Geheimwisienschaft im Umriß«, GA13.

128 Ein sehr bedeutender Künstler der Gegenwart spricht über die Reliefkunat:

Zitat aus Adolf Hildebrand »Das Problem der Forus in der bildenden Kunst«, Straßburg 1913.

132 Über das Malerische werde ich bei einer anderen Gelegenheit sprechen: Im Vortrag vom 26.7.1914 (in vorliegendem Band). Vgl. auch »Das Wesen der Farben», GA291.

135 Vielfach finden Sie in den Architraven und den sonstigen Formen dieses eigentümliche Zeichen: An den Stellen, wo durch Biegungen in der Form die Flächen konkav wurden, differenzierte Rudolf Steiner diese Flächen - da wo die Biegung am stärksten war - durch Hineinschnitzen einer weiteren Ver­tiefung. Das war zum Beispiel an den beiden unteren Wölbungen des ersten Architravs über den Saturnsäulen zu sehen. (Vgl. Abbildung S. 104/105).

137 unsere Glasfenster: Mit den in farbigem Glas radierten Fenstern inaugurierte Rudolf Steiner im Jahre 1913 bis 1914 nicht nur eine neue »Glassehnitt»-Technik, sondern auch eine neue Vitrailkunst. Für das Radieren der farbigen Glasscheiben wurde das Künstletatelier gebaut und die kostbaren Glas­scheiben bestellt, noch bevor man wußte, wie eigentlich an diesen Fenstern zu arbeiten wäre. Es gab nur die richtunggebende Anweisung Rudolf Stei­ners, daß durch das herausradierte Glas eine Lichtgravur entstehen soll. Nach einigem Suchen war aber bald die dafür nötige Installation hergestellt:

Berieselung, bewegliche Brücken für die Künstler, Motoren mit daran ange­brachten biegsamen Wellen und aus Amerika geholten Natursteinen ver­schiedener Größe und Stärke - Karborundum-Scheiben genannt. Für Fach-­leute ist es ein Rätsel, daß das Karborundum und die biegsame Welle im Sommer 1914 als ihnen noch unbekannte, eben in den Handel gekommene Arbeitswerkzeuge von Dornacher Künstlern für das Glasradieren damals schon verwendet worden sind. Die biegsame Welle erlaubt aber nicht nur das Glasradieren in großem Maßstab, sondern die Arbeit geht dadurch auch von vorneherein im durchscheinenden Licht als ein aus dem Hell-Dunkel entstehendes Bild, was sie total unterscheidet von dem aus ältesten Zeiten stammenden Kameenachnitt, dessen Technik in das Böhmische Glassehlei­fen übergegangen ist.

Außer dem roten Eingangsfenster waren im Saal des ersten Goetheanums je zwei grüne, blaue, violette und rosa Fenster, alle in Triptychon-Form. Das mittlere Fenster war durchschnittlich etwa 4 m hoch und 1,40 m breit, die

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Seitenfenster etwa 3,70 m hoch. und 0,70 m breit. Die gleichen Motive sind auch für die Fenster des zweiten Goetheanums verwendet, doch wurden die drei Motive eines Triprychons in das von Rudolf Steiner angegebene läng­liche Format der gegenwärtigen Fenster gebracht.

139 «Abgrund»: Geisteswissensehaftliche Bezeichnung für das Schwellenerleb­nis. Vgl. z.B. Rudolf Steiner, »Vier Mysteriendramen«, GA 14, und »Die Geheimnisse der Schwelle» (7. Vortrag), GA 147

147 in seiner luziferischen Prägung: Siehe Rudolf Steiner, »Die Geheimwissen­schaft im Umriß», Abschnitt »Die Weltentwiekelung und der Mensch»,

GA13.

in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden: Dieses sagt

ganz einzigartig Angelus Silesius in seinem Spruch:

«Ich weiß nicht, was ich bin

Ich bin nit, was ich weiß

Ein Ding und nit ein Ding

Ein Stüpfhin und ein Kreis.»

Es ist anzunehmen, daß Angelus Silesius Johann Scheffler, 1624-1677) mit der Geometrie vertraut war. In der Einleitung zu seiner deutschen Über-setzung von. Keplers «Harmoniees Mundi» schreibt M. Caspar, er habe die Übersetzung nach dem Buch, das im Besitze von Johann Scheffler war, besorgt.

wenn man vom rein mathematischen Formwissen zum Formfühlen über­geht: Hierzu eine Stelle aus Rudolf Steiners Vorträgen über »Erziehungs­kunst. Methodisch--Didaktisches» (1. Vortrag), GA 294: »Daher werden wir im Zeichnen nicht darauf ausgehen: Du sollst dieses oder jenes nachah­men; sondern wir werden ihm ursprüngliche Formen im Zeichnen beibrin­gen, werden ihm beibringen, einen Winkel so zu machen, einen anderen so; wir werden versuchen, ihm den Kreis, die Spirale beizubringen. Wir werden also von den in sich geschlossenen Formen ausgehen, nicht davon, ob die Form dieses oder jenes nachalimt, sondern wir werden sein Interesse an der Form selbst zu erwecken versuchen. - Ensinern Sie sieh an den Vortrag, in welchem ich versucht habe, ein Gefühl zu erwecken für die Entstehung des «Akanthusblattes«. Ich habe darin ausgeführt, daß der Gedanke, man habe dabei das Blatt der Akanthuipflanze nachgeahmt in der Form, wie er in der Legende auftritt ganz falsch ist sondern das Akanthusblatt ist einfach ent standen aus einer inneren Formgebung heraus, und man hat naehtraglich gefühlt das sieht der Natur ahnlich Man hat also nicht die Natur nachge ahmt. Das werden wir beim zeichnerischen und malenschen Element zu berücksichtigen haben Dann wird endlich das Furchtbare aufhoren was so sehr die Gemuter der Menschen verwustet Wenn ihnen etwas vom Men sehen Gebildetes entgegentntt dann sagen sie Das ist naturlich das ist unnaturlich Es kommt gar nicht darauf an das Urteil zu fallen Dies ist

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nchtig nachgeahmt, usw. Diese Ähnlichkeit mit der Außenwelt muß erst als ein Sekundires aufleuchten. Was im Menschen leben muß, muß das in­nere Verwachsensein nüt den Formen selbst sein. Also man muß, selbst wenn man eine Nase zeichnet, ein inneres Verwachsensein mit der Nasen­form haben, und nachher erst stellt sich die Ähnlichkeit mit der Nase heraus.»

150 Zu den Kurven: Um die eigene Arbeit an diesen Kurven zu erleichtern, seien ihre Konstrnktionen hier kurz beschrieben. Eine eingehendere Behandlung findet man zum Beispiel in Carl Kemper «Der Bau», Stuttgart 1966; 1974.

Ellipse: Man wählt zuerst zwei Punkte (Brennpunkte) F und F', dann ir­gendwo daneben eine Strecke SS', die größer ist als der Abstand FF . Auf SS' wählt man jetzt einen ersten Punkt 1. Dieser Punkt teilt SS' in die beiden Teilstrecken I und 1'. Mit der ersten im Zirkel schlägt man einen Kreisbogen um F, mit der zweiten um F ,. Die Schnittpunkte der beiden Kreisbögen sind zwei erste Punkte i der Ellipse. In gleicher Weise entstehen aus weiteren Punkten 2, 3, 4... der Strecke SS' weitere Pasre von Teilitrecken: 2 und 2 ,,3 und 3',4und4',... und damit weitere Punkte 2, 3,4,... der Ellipse.

#Bild s. 244

Die Konstruktion der Hyperbel, der Cassiniichen Kurve und des Divi­sionskreises verläuft ganz ähnlich der vorigen Konstruktion. Immer hat man mit zwei zusammengehörigen Strecken wie I und I ,,2 und 2' usw. je einen Kreisbogen um F beziehungsweise F' zu schlagen. Die Punkte der Kurve

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entstehen als Schnittpunkte dieser Kreisbögen. Für jede der Kurven benötigt man jedoch, gemäß ihrem Gesetze, eine andere Hilfsfigur' welche die Paare zusammengehöriger Strecken liefert.

152 Hyperbel: Die Strecke SS' ist im Unterschied zur Ellipse kleiner als FF' zu wählen und die Pui'kte 1, 2, 3, 4... auf der Verlängerung von SS' statt im Innern der Strecke.

#Bild s. 245

154 Cassinische Kurve: Paare von Strecken, die miteinander multipliziert immer

gleichviel ergeben, findet man zum Beispiel mit Hilfe eines Kreises (Mittel­punkt M). Auf den Sehnen durch einen festen Punkt P im Innern des Kreises entstehen solche Paare von Strecken. Zeichnet man mit diesen Strecken die Kreisbögen um F und F', so entsteht eine Cassinische Kurve, es sei denn, daß die Maße so ungünstig gewählt wurden, daß die Kreisbögen sich nicht schneiden. Man wird aber mit zufallig gewählten Maßen kaum je die Lem­niskate erhalten. Diese hat genau aufeinander abgestimmte Maße. Die ganze Konstruktion ist am besten zu überschauen, wenn man von den Maßen der Lemniskate ausgeht. Es ist dann leicht zu sehen, wie die anderen Formen daraus hervorgehen:

Wie immer sind am Anfang die Brennpuiskte F und F' zu wählen. Darauf zeichnet man irgendwo ein Quadrat, dessen Seite gleich ist dem Abstand der Brennpunkte. Der Mittelpunkt des Quadiates sei M, die Mitte einer Qua-­dratseite sei P. Dann ist der Kreis durch die Ecken des Quadrates gerade derjenige, der zusammen mit P auf eine Lemniskate (Form II) führt. Ein größerer Kreis läßt die ellipsenähniiche Form I, ein kleinerer die aus zwei zusammengehörigen Ästen bestehende Form III entstehen. Zwischen I und II gibt es die eingeschnürte Übergangsform.

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#Bild s. 246

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155 Divissionskreis: Paare von Strecken, die beim Diridieren imener denselben

Quotienten ergeben, findet man auf den Strahlen eines Büschels init dem

Scheitelpunkt S, wenn sie mit zwei Paaallelen geschnitten werden. Man er-hält eine günstige Figur, wenn der Abstand der Parallelen gleich demjenigen der Brennpunkte gewählt wird und 5 irgendwo zwischen den Parallelen an--genommen wird.

#Bild s. 247

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Zur Cassinischen Kurve: In dem Vortrag, den Rudolf Steiner am 8.April 1911 am internationalen Philosophen-Kongreß in Bologna gehalten hat, gibt er diese drei cassinischen Formen als »Seelenübung» an:

»Besonders bedeutungsvoll können mathematische Gebilde werden, in­sofern in ihnen Sinnbilder von Weltvorgängen gesehen werden. Ein gutes Beispiel ist die sogenannte >Cassinische Kurve> mit ihren drei Gestalten, der cllipsenähnlichen Form, der Lcmniskate und der aus zwei zusammengehöri­gen Ästen bestehenden Form. Es kommt in einem solchen Falle darauf an, die Vorstellung 50 zu erleben, daß dem Übergang der einen Kurvenform in die andere entsprechend mathematischer Gesetzmäßigkeit gewisse Empfin­dungen in der Seele entsprechen.« (Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Theosophie, in «Philosophie und Anthroposophie«, GA 35.

158 es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis: Die in diesem Vortrag behan­delten Aspekte des Kreises oder der Kugelform geben neue Anhaltspunkte zum Studium des Rundbaues in den verschiedenen Kulturepochen. Aus anderen Voraussetzungen bauten altasiatische Völker ihre Rundbauten als Rom. Der christliche Rundbaugedanke, auch wenn er frühere Bauformen zum Teil übernimmt, will damit doch ganz andere geistige Inhalte zum Aus­druck bringen. Vergleiche den Vortrag Rudolf Steiners über den Gralstempelgedanken vom 13. Dezember 1919 in «Die Sendung Michaels. Die Offen-­barung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens«, GA 194, und über den griechisch-lateinischen Rundbau die Vorträge »Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstlerischer Umwand­lungsimpulse«, Dornach 1937 Abgesehen von den geschichtlich bekannten Rundbauten Europas und Asiens spricht Rudolf Steiner auch von einem um die Jahrtausendwende vom Norden Europas gekommenen Rundbauimpuls. Im Vortrag vom 30. März 1914 (siehe Seite 211) schildert er, wie diese nor­mannischen Holzbauten im Gegensatz standen zu dem als luziferisch-ähri­manischen Einschlag bezeichneten, nach oben spitz auslaufenden Bogen des mohammedanisch-arabischen Stils. In unmittelbaren Zusammenhang mit diesen nordischen Holzbauten stellt Rudolf Steiner das, was mit den Formen des Goetheanum gewollt war. - Abgesehen von einigen altnorwegischen, in oktaedrischem Grundriß gebauten Holzkirchen könnten vielleicht die beiden auf der Insel Bornholm vorhandenen Steinkirchen Zeugnis von diesem nordischen Rundbauimpuls ablegen. Auch spricht der schwedische Forscher Olaus Rudheck in seinem Werk «Atland oder Marinhem«, gewöhnlich ge­nannt «Die Atlantica«, 3 Bände Stockholm 1672-1698 von »runden Sälen mit "Stabbar" ringsherum an den Wänden als der vorzüglichsten Tempelform und sagt weiter, daß diese Form eine ursprüngliche Bauart im Norden war. (Stabbar sind grobe Holzstämme' zum Sitzen ausgehöhlt und werden noch in vielen Gegenden Schwedens von den Bauern benutzt.) Ferner schreibt Johan Göstaf Hallman in seiner Beschreibung über Kiöping, eine der ältesten Städte Schwedens (Stockholm 1728): «in der ersten christlichen Zeit

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wollten die Könige und die Prirster und die Weisen im Lande dem Volk seine alte Gewohnheit lassen, das gepredigte Gotteswort in rundgeformten Bauten zu hören, um bei dem einfachen Volk kein Ärgernis zu erwecken und es so besser in seinem neuen Glauben halten zu können.»

158 Wie der Kreis dasselbe ist, wenn wir sagen: erist etwas ganz Triviales, er ist die einfachste Form - oder wenn wir sagen: erist so, ,laß das Ergebnis der Division von zwei Punkten immer dasselbe ist -, wie wir denselben Kreis haben, so haben wir in uns selbst ein Zweifaches vor uns: das, wst, 4er Alltäglichkeit angehört, was leicht überschaubar ist, und das, was man nur begreift, wenn man zur ganzen Welt hinausgeht, wenn man es sozusagen als das komplizier-teste Ergebnis des großen Weltenkampfes auffaßt, wo Ahriman und Luzifer die Division ausführen, gegenüber welcher sich als Quotient zu haken hat unser höheres Selbst: Jahre nach Rudolf Steiners Tod entdeckte Carl Kem­per aufgrund der Ausführungen dieses Vortrages, daß der Grundriß des Goetheanums ein Divisionskreis war mit dem Verhältnis 1:3. Vgl. hierzu Carl Kemper, «Der Bau« (Der Grundriß des Goetheanum aus dem Divi­stonskreis), Stuttgart 1966; 1974.

160 Der Mensch, wie er als Mensch in die Welt tritt: Über das Hineingestelltsein des Menschen in den Raum und über den Zusammenhang der architek-­tonischen Formen des Goetheanumbaues mit dem Erleben der Raumes-richtungen als Gefühls-, Willens-- und Denkimpulse, und über die Weiter­entwicklung des Menschen im Fortschreiten der Willeosrichtung durch die Metamorphose der Säulen- und Architravmotive innerhalb der geschicht­lichen Aufeinanderfolge der Kulturentwicklung siehe die Vorträge: «Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit«, GA 184, sowie »Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichdichen Werdens und künstlerischer Umwandlungs­impulse», Dornach 1934. Eine in das Wesen des Dornacher Baues einfüh­rende Aufzeichnung Rudolf Steiners in ein Notizbuch (Archivnummer 247) zum Vortrag vom 28.Juni 1914 lautet:

«Die Menschen brauchen zunächst nur zu wollen im Weiterschreiten von Säule zu Säule

Das Gefühl für das Leben etwacht im rechten Sinn. wenn sie die Säulen verstelm

Inder Kuppel = die Seele In den Formen = der Leib Wille - vorrückend

Gefühl - aufsteigend

Denken - abschließend»

171 Lücke in der Nachsehrift: Der folgende Passus, gesprochen während dei verschiedenen Versuche, die Rudolf Steiner beim Aufzeichnen der Zeich­nung gemacht hat, wurde weggelassen, da sich aus den nur ungenügend

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festgehaltenen Worten die verschiedenen Versuche nicht rekonsteujeren lassen:

»Ich müßte dann, wenn ich diese Drehung so ausgefühit habe, mir vor­stellen, daß dieser Sonnenraum hier der da war und wenn ich diese Linie zeichnen wollte, die zum Mond hinführt, so müßte ich jetzt die Verbindung so zeichnen . . . Und dementsprechend will ich diese Zeichnung ausführen, nur die entsprechende Linie etwas verlängern. Ich würde dann Folgendes bekommen . . . ich würde dann müssen das, was ich hier gezeichnet habe. . . ich will lieber es umgekehrt drehen, dann werden wir uns besser verstehen können... so daß, wenn wir hier I haben, hier II, da III, da IV, wir jetzt haben hier III, hier II, hier I und hier IV. Wenn ich dieselbe Zeichnung übertragen will auf dieses, so muß ich die Sache so zeichnen: Ich zeichne dieselben Strömungen, nur zeichne ich die Sonne verschoben, gedreht; hier den Mond, hier die Erde.» Dann geht der Text weiter wie gedruckt: «Die Sache ist ganz dieselbe...«

174 wie die wahren Kunstwerke im echten Goetheschen Sinne eine Manifestation höherer Naturgesetze sind: Wörtlich: »Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verbor­gen geblieben.« Sptüche in Prosa, Zur Kunst. Grundlegend behandelt Rudolf Steiner diesen Goetheschen Gedanken in seinem ersten Vortrag »Goethe als Vater einer neuen Aesthetik», gehalten im Wiener Goetheverein am 8.No-vember 1888, der den Ausgangspunkt bildet für die von ihm inaugurierte Kunstrichtung. Siehe »Kunst und Kunsterkenntnis»' GA 271.

180 daß wir lernen, in dem Farbigen wie in unserem Element zu leben: Vgl. Hinweis zu Seite 203.

Künstler Hildebrand: Vgl. Hinweis zu Seite 102.

182 Wie Himmelskrafte auf- und niedersteigen: Goethe, »Faust I», Studierzim­mer.

186 Herman Grimm . . . Ausspruch in bezug auf Goethe: Herman Grimm,

1828-1901, Kunsthistoriker und Schriftsteller, schrieb in seinen «Fragmen-­ten «, zwei Bände, 1900, II. Bd. (Aufsatz «Secession») :« Das Wunderbare bei Goethe, das auch heute erst hervorzutreten beginnt, ist die durch seine Existenz bewiesene Einheit sämtlicher geistiger Arbeit . . . Alles künstle­rische Schaffen ist identisch. Goethe verfocht nicht nur diese Identität aller. geistigen Arbeit, sondern er bewies es durch seine Lebensführung. Völlig wird das erst um das Jähr 2000 etwa begriffen worden sein. In diesem Sinne ist Goethe der erste Sezessionist gewesen. Er beruhte auf sich. Er wollte nicht mit andern zugleich betrachtet werden. Er konkurrierte mit niemand. Er erkannte, daß, was er auch tat, zu der Arbeit, der er seine Kraft zuwandte, noch etwas anderes, allgemeines gehöre. Etwas Geistiges höchster Art, von dem bei seiner Beurteilung ausgegangen werden müsse.«

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188 Asmus Jakob Carstens, 1754-1798. Vgl. über ihn Herman Grimm, »Frag-­

mente II», in dem Aufsatz »Secession«.

Raffael oder Leonardo: Vgl. Rudolf Steiner »Kunstgeschichte als Abbild

innerer geistiger Impulse», GA 292.

189 Herman Grimm . . . das Jahr 2000 abwarten wollte. Vgl. Hinweis zu

Seite 186.

191 Goethe: Kunst ist die Manifestation...: Vgl. Hinweis zu Seite 174.

192 Gruppenseelen der Tiere: Siehe »Die Geheimwissenschaft im Umriß«,

GA13.

194 während der alten Mondenzeit. . . Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit: Siehe

»Die Geheimwissenschaft im Umriß«, GA13.

196 Hildebrand: Vgl. Hinweis zu Seite 102.

198 vollständig genau zu zeichnen: Siehe den Sonderhinweis auf Seite 252.

202 Angriffe. . . gegen unsere geistige Strömung: Erfolgten damals insbesondere

von theologischer Seite. Siehe hierzu den damals (1914) entstandenen Arti­

kel Rudolf Steiners »Was soll die Geisteswissenschaft und wie wird sie von

ihren Gegnern behandelt?» in «Philosophie und Anthroposophie», GA 35.

203 um das nächste Mal weiter noch in das Wesen der Farbenwelt und das Wesen

der Malerei einzugehen: Erfolgte im Oktober 1914 in den Vorträgen «Der

Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstle­

rischer Umwandlungsimpulse«, Dornach 193Z Siehe auch die späteren

Vorträge »Das Wesen der Farben«, GA 291, und Rudolf Steiners Farbsltiz­

zen.

205 wenn wir auf das hinblicken, was einen mit Wehmut in den Geschicken

Europas eifüllt: Diese Worte wurden gesprochen am 26.Juli 1914, in den

Tagen der ungeheuren Spannung vor Ausbruch des ersten Weltkrieges am

1.Aug,ist 1914.

216 Abbildung des Modells: Siehe den Sonderhinweis auf Seite 252.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.