GA 234

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VORBEMERKUNG

#G234-1959-SE007 Anthroposophie Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren

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VORBEMERKUNG

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Wir entnehmen dem Werke «Mein Lebensgang» von Rudolf Steiner folgenden Passus, der als Begleitwort dienen soll der Veröffentlichung jener gesprochenen Vorträge, die zunächst auf drin­genden Wunsch der Mitglieder der Anthroposophischen Gesell-schaft als Privatdrucke erschienen und jetzt der Öffentlichkeit in Buchform zugänglich gemacht werden

«Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse vor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und verkäuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (spä­ter Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut ge­macht worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung ,Nur für Mitglieder' nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja fallen gelassen.

Hier in meinem ,Lebensgang' ist notwendig, vor allem zu sagen, wie sich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke, in das einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstel­len der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alledem auseinander, was an Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben,

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was sich mir in ,geistigem Schauen' immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - wurde.

Neben diese Forderung, die ,Anthroposophie' aufzubauen und dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist -Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukom­men, was aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte.

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evange­lien und den Schrift-Inhalt der Bibel überhaupt in dem Lichte dar­gestellt zu hören, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen über diese der Menschheit gegebenen Offen­barungen hören.

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten wurden, kam dazu noch ein Anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie bekannt. Man konnte zu ihnen ebenso sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Hal­tung dieser internen Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schrif­ten nicht sein konnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, die ich für die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an bestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen.

So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Unter­gründen stammt. Die ganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drin­nenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.

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... Schon wegen dieses Arbeitens aus der Wirklichkeit der Seelenbedürfnisse der Mitglieder, müssen die Privatdrucke anders beurteilt­werden, als das in die volle Öffentlichkeit von Anfang an Gesandte. Als mündliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen waren die Inhalte dieser Drucke gemeint. Und, worüber gesprochen wurde, war abgelauscht den im Laufe der Zeit auftretenden Seelenbedürf­nissen der Mitglieder.

Was in den veröffentlichten Schriften steht, ist den Forderungen der Anthroposophie als solcher entsprechend; an der Art, wie die Privatdrucke sich entfalteten; hat im angewendeten Sinne die Seelenkonfiguration der ganzen Gesellschaft mitgearbeitet...

Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre... Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken... von der Einrichtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mit nicht nach-gesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.

Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings nur demjenigen zugestanden werden können, der kennt, was als Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als ,anthropo­sophische Geschichte' in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.»

ERSTER VORTRAG 19. Januar 1924 Anthroposophie, die Menschensehnsucht der Gegenwart

#G234-1959-SE011 Anthroposophie Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren

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ERSTER VORTRAG

19. Januar 1924

Anthroposophie, die Menschensehnsucht der Gegenwart

Meine lieben Freunde!

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Wenn ich nun versuchen werde, eine Art von Einführung in die Anthroposophie selbst zu geben, so soll das so geschehen, daß dar­innen womöglich eine Anleitung zugleich gegeben ist für die Art, wie man vor der Welt Anthroposophie heute vertreten kann. Aber ich will eben doch einige einleitende Worte der Sache noch voraus-schicken. Es wird gewöhnlich nicht genügend berücksichtigt, daß ja das Geistige ein Lebendiges ist; und dasjenige, was lebt, muß auch im vollen Leben erfaßt werden. Wir dürfen einfach nicht, indem wir uns als die Träger der anthroposophischen Bewegung in der Anthro­posophischen Gesellschaft fühlen, die Hypothese voraussetzen, jeden Tag beginne die anthroposophische Bewegung. Sie ist eben mehr als zwei Jahrzehnte da, und die Welt hat Stellung zu ihr genommen. Daher muß bei jeder Art, sich im anthroposophischen Sinne zur Welt zu verhalten, dies Gefühl stehen, daß man es zu tun hat mit etwas, wozu die Welt Stellung genommen hat; es muß im Hintergrunde stehen, dieses Gefühl. Hat man dieses Gefühl nicht und denkt, man vertritt einfach da im absoluten Sinne, wie man es auch vor zwei Jahrzehnten hätte machen können, Anthroposophie, dann wird man immer weiter und weiter darinnen fortfahren, diese Anthroposophie vor der Welt in ein schiefes Licht zu bringen. Und das ist ja gerade genug geschehen. Es sollte eben dem ein Ende ge­macht werden auf der einen Seite, und es sollte auf der anderen Seite demgegenüber ein Anfang gegeben werden durch unsere

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Weihnachtstagung. Diese darf nicht ohne Auswirkung bleiben, wie ich schon nach den verschiedensten Richtungen hin angedeutet habe.

Gewiß, es kann nicht jedem Mitgliede der Anthroposophischen Gesellschaft zugemutet werden, irgendwie sozusagen nun sich neue Impulse zu geben, wenn ihm das nicht seiner Seelenverfassung nach gegeben ist. Jeder hat das Recht, weiter, ich möchte sagen ein teil­nahmsvolles Mitglied zu sein, das die Dinge aufnimmt, und das sich damit begnügt, die Dinge aufzunehmen. Wer aber teilnehmen will an der Vertretung der Anthroposophie vor der Welt in irgendeiner Form, der kann nicht vorübergehen an dem, was ich auseinandergesetzt habe. In dieser Beziehung muß in die Zukunft hinein nicht nur in Worten, sondern im Tun die vollste Wahrheit herrschen.

Nun, meine lieben Freunde, ich werde ja noch öfter solche einleitenden Worte sprechen. Wollen wir nun damit beginnen, eine Art von Einführung in die anthroposophische Weltanschauung zu geben.

Wer über Anthroposophie etwas sprechen will, muß voraussetzen, daß zunächst dasjenige, was er sprechen will, eigentlich nichts an­deres ist als im letzten Grunde das, was das Herz seines Zuhörers durch sich selber sagt. In aller Welt ist niemals durch irgendeine Initiations- oder Einweihungswissenschaft irgend etwas anderes beabsichtigt gewesen, als auszusprechen, was im Grunde genommen die Herzen derjenigen durch sich selbst sprechen, die das Betref­fende hören wollen. So daß eigentlich das im allereminentesten Sinne der Grundton anthroposophischer Darstellung sein muß, aufzutreffen auf das, was das tiefste Herzensbedürfnis derjenigen Men­schen ist, die Anthroposophie nötig haben.

Wenn man heute auf diejenigen Menschen hinschaut, die über die Oberfläche des Lebens hinauskommen, so sieht man ja, daß alte, durch die Zeiten gehende Empfindungen einer jeden Menschenseele sich erneuert haben. Man sieht, daß die Menschen heute in ihrem Unterbewußtsein schwere Fragen haben, Fragen, die nicht einmal in klare Gedanken gebracht werden können, geschweige denn durch dasjenige, was in der zivilisierten Welt vorhanden ist, eine Antwort

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finden können. Aber vorhanden sind diese Fragen. Und sie sind tief vorhanden bei einer großen Anzahl von Menschen. Sie sind eigentlich vorhanden bei allen wirklich denkenden Menschen der Gegenwart. Wenn man aber diese Fragen in Worte faßt, so scheint es zunächst, als ob sie weit hergeholt wären, und sie sind doch so nahe. Sie sind in aller unmittelbarster Nähe der Menschenseele, der denkenden Menschen.

Zwei Fragen kann man aus dem ganzen Umfang der Rätsel, die heute den Menschen bedrücken, zunächst stellen. Die eine Frage, sie ergibt sich für die Menschenseele dann, wenn diese Menschenseele auf das eigene menschliche Dasein schaut und auf die Weltumgebung. Die Menschenseele sieht den Menschen hereinkommen durch die Geburt in das irdische Dasein. Sie sieht das Leben verlau­fen zwischen der Geburt oder Empfängnis und dem physischen Tode. Sie sieht dieses Leben verlaufen mit den mannigfaltigsten inneren und äußeren Erlebnissen. Und diese Menschenseele sieht auch draußen die Natur, all die Fülle der Eindrücke, die da an den Menschen herankommen, und die nach und nach die Menschenseele erfüllen.

Und da steht nun diese Menschenseele im Menschenleibe und schaut vor allen Dingen eines: Die Natur nimmt eigentlich alles das­jenige auf, was die Menschenseele vom physischen Erdendasein sieht. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist, dann nimmt die Natur in ihren Kräften durch irgendein Element - feuerbestattet oder erdbestattet zu werden ist ja kein so großer Un­terschied -, es nimmt die Natur durch irgendein Element den menschlichen physischen Leib auf. Aber was tut sie mit diesem phy­sischen Leib? Sie vernichtet ihn. Die Menschenseele schaut gewöhn­lich nicht nach, welche Wege die einzelnen Substanzen dieses phy­sischen Menschenleibes nehmen; aber wenn man an denjenigen Stätten, wo eine eigentümliche Art von Bestattung ist, einmal Be­trachtungen anstellt, dann vertieft sich sozusagen dieses eindrucks­volle Nachsehen dessen, was die Natur mit all dem unternimmt,

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was am Menschen physisch-sinnlich ist, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist. Es gibt ja unterirdische Gewölbe, da werden die menschlichen Leichname aufbewahrt, abgeschlossen, aber an der Luft aufbewahrt. Sie vertrocknen. Und was hat man nach einiger Zeit? Man hat nach einiger Zeit an diesen Leichen die verzerrte menschliche Gestalt, bestehend aus schon in sich zerstäub­tem kohlensaurem Kalk. Und wenn man nur ein wenig diese kohlen-saure Kalkmasse, die in Verzerrung die menschliche Gestalt nach­ahmt, rüttelt, so zerfällt sie in Staub.

Das gibt einen tiefen Eindruck dessen, was die Seele überkommt, wenn sie nachsieht, was eigentlich geschieht mit dem, wodurch alles von dem Menschen verrichtet wird zwischen Geburt und Tod. Und der Mensch sieht dann auf die Natur hin, die ihm ja seine Erkennt­nis liefert, aus der er alles, was er Einsichten nennt, eigentlich schöpft, und sagt sich: Diese Natur, die hervorsprießen läßt aus ihrem Schoße die wunderbarste Kristallisation, diese Natur, welche jeden Frühling aus sich hervorzaubert die sprießenden, sprossenden Pflanzen, diese Natur, welche die berindeten Bäume jahrzehntelang erhält, diese Natur, welche die Erde anfüllt mit den Tierreichen der mannigfaltigsten Art, von den größten Tieren bis zu den winzigsten Bazillen, diese Natur, welche hinaufschickt dasjenige, was sie als Wasser in sich trägt in die Wolken, diese Natur, auf die herunterstrahlt dasjenige, was doch in einer gewissen Unbekanntschaft von den Sternen herunterströmt - diese Natur, sie verhält sich zu dem, was der Mensch innerhalb ihrer zwischen Geburt und Tod an sich trägt so, daß sie es bis in die vollständigste Verstäubung vernichtet. Für den Menschen ist die Natur mit ihren Gesetzen die Vernich­terin. Man steht vor der menschlichen Gestalt; diese menschliche Gestalt, die man im Auge hat mit all dem Wunderbaren, das sie an sich trägt - und sie trägt das Wunderbare an sich, denn sie ist voll­kommener als alle anderen Gestalten, welche auf der Erde auffind­bar sind -, diese menschliche Gestalt, sie steht da. Und auf der anderen Seite steht die Natur mit ihren Steinen, mit ihren Pflanzen,

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mit ihren Tieren, mit ihren Wolken, mit Flüssen und Bergen, mit alledem, was aus dem Sternenmeere herabstrahlt, was von der Sonne auf die Erde herunterströmt an Licht und Wärme, und diese Natur, sie duldet in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit nicht die menschliche Gestalt. Dasjenige, was als Mensch dasteht, wenn es der Natur über­geben wird, wird zerstäubt. Das sieht der Mensch. Er bildet sich nicht Ideen darüber, aber in seinem Gemüte sitzt es tief. Jedesmal, wenn der Mensch vor dem Anblicke des Todes steht, setzt es sich tief in sein Gemüt hinein. Denn nicht aus bloßem egoistischem Ge­fühl heraus, nicht aus einer bloßen oberflächlichen Hoffnung, fort­zuleben nach dem Tode, formt sich wiederum tief im Gemüte unter­bewußt eine Frage, die unendlich bedeutungsvoll in der Seele sitzt, die Glück und Unglück der Seele bedeutet, auch wenn sie nicht formuliert wird. Und alles dasjenige, was für das Bewußtsein schick­salsmäßig beim Menschen auf Erden Glück und Unglück bedeuten mag, es ist im Grunde genommen ein Geringfügiges gegenüber dem, was sich an Unsicherheit des Fühlens formuliert aus dem Anblicke des Todes. Denn da formuliert sich die Frage also: Woher kommt diese menschliche Gestalt? Ich sehe hin zu dem wunderbar geform­ten Kristall, ich sehe hin zu den Gestalten der Pflanzen, ich sehe hin zu den Gestalten der Tiere, ich sehe hin, wie die Flüsse über die Erde rollen, ich sehe die Berge, ich sehe alles das, was aus den Wol­ken spricht, was von den Sternen herunter spricht. Ich sehe alles das, so sagt sich der Mensch, aber von alledem kann nicht die mensch­liche Gestalt kommen, denn alles das hat nur Vernichtungskräfte, Zerstäubekräfte für die menschliche Gestalt an sich.

Und da entsteht die bange Frage vor dem menschlichen Gemüte, vor dem menschlichen Herzen: Wo also ist die Welt, aus der die menschliche Gestalt kommt? Wo ist sie, diese Welt? Aus dem An­blick des Todes geht die bange Frage hervor: Wo ist die Welt, diese andere Welt, aus der die menschliche Gestalt kommt?

Sagen Sie nicht, meine lieben Freunde, daß Sie diese Frage noch nicht in dieser Weise formuliert gehört haben. Wenn man hinhört

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auf das, was die Menschen aus ihrem Kopfe heraus der Sprache anvertrauen, hört man diese Frage nicht formuliert. Wenn man hintritt vor die Menschen, und die Menschen die Klagen ihrer Herzen vorbringen - sie bringen manchmal die Klagen ihrer Her­zen vor, indem sie irgendeine Kleinigkeit des Lebens auffassen und über diese Kleinigkeit des Lebens allerlei Betrachtungen anstellen, die sie als Nuance in ihre ganze Schicksalsfrage einfügen -, wer diese Sprache des Herzens versteht, der hört das Herz sprechen aus dem Unterbewußten heraus: Welches ist die andere Welt, aus der die menschliche Gestalt kommt, da doch der Mensch dieser Welt mit seiner Gestalt nicht angehört?

Und so stellt sich vor den Menschen hin die Welt, die er erblickt, die er anschaut, die er wahrnimmt, über die er seine Wis­senschaft formt, die Welt, die ihm die Unterlage gibt für die Wir­kungen seiner Kunst, die Welt, die ihm die Gründe gibt für seine religiöse Verehrung - so stellt sich hin diese Welt, und der Mensch steht auf Erden und hat in den Tiefen seines Gemütes das Gefühl: dieser Welt gehöre ich nicht an; es muß eine andere geben, die mich aus ihrem Schoße in meiner Gestalt hervorgezaubert hat. Welcher Welt gehöre ich an? - So tönt es aus den Herzen der Menschen der Gegenwart. Das ist die umfassende Frage. Und wenn die Men­schen unbefriedigt sind in dem, was ihnen die heutigen Wissen­schaften geben, so ist es aus dem Grunde, weil sie diese Frage in den Tiefen ihres Gemütes stellen und die Wissenschaften weit da­von entfernt sind, irgendwie auch nur diese Frage zu berühren: Welches ist die Welt, der der Mensch eigentlich angehört? denn die sichtbare Welt ist es nicht.

Meine lieben Freunde, ich weiß ganz gewiß: Das, was ich zu Ihnen gesprochen habe, nicht ich habe es gesprochen, ich habe nur dem, was die Herzen sprechen, Worte verliehen. Und darum handelt es sich. Denn nicht darum kann es sich handeln, an die Menschen irgend etwas heranzutragen, was den Menschenseelen selber unbe­kannt ist - das kann Sensation geben -, sondern darum handelt es

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sich, kann es sich allein handeln, dasjenige in Worte zu bringen, was die Menschenseelen durch sich selber sprechen. Was der Mensch auch von sich selber nur ansieht, was er von seinen Mitmenschen ansieht, soweit es sichtbar ist, es gehört nicht in die übrige sichtbare Welt hinein. Kein Finger - so kann sich der Mensch sagen -, den ich an mir habe, gehört in diese Welt der Sichtbarkeit herein, denn diese Welt der Sichtbarkeit trägt für jeden Finger bloß die Ver­nichtungskräfte in sich.

Und so steht der Mensch zunächst vor dem großen Unbekannten. Aber er steht vor diesem Unbekannten, indem er sich selber als einen Angehörigen dieses Unbekannten ansehen muß. Das heißt aber mit anderen Worten: in bezug auf alles dasjenige, was der Mensch nicht ist, ist es um ihn herum geistig Licht; in dem Augenblicke, wo der Mensch auf sich selbst zurücksieht, verdunkelt sich die ganze Welt und es wird finster, und der Mensch tappt im Finsteren, indem er das Rätsel seines eigenen Wesens durch die Finsternis trägt. Und so ist es, wenn der Mensch sich von außen ansieht, wenn er sich drin­nenstehen findet in der Natur als ein äußeres Wesen. Er kann als Mensch an diese Welt nicht heran.

Und wieder, nicht der Kopf, aber die Tiefen des Unbewußten formulieren sich Fragen, die Unterfragen sind dieser allgemeinen Frage, die ich eben erörtert habe. Indem der Mensch sein physisches Dasein, das sein Werkzeug ist zwischen Geburt und Tod, betrachtet, weiß er: Ohne diese physische Welt kann ich dieses Dasein zwischen Geburt und Tod gar nicht leben, denn ich muß fortwährend Anlei­hen machen bei diesem Dasein der sichtbaren Welt. Jeder Bissen, den ich in den Mund nehme, jeder Trunk Wasser ist aus dieser Welt der Sichtbarkeit, der ich ja gar nicht angehöre. Ich kann ohne sie im physischen Dasein nicht leben. Habe ich eben einen Bissen zu mir genommen aus einer Substanz, die ja dieser sichtbaren Welt angehören muß, und gehe ich unmittelbar, nachdem ich diesen Bis­sen zu mir genommen habe, durch die Pforte des Todes - in dem Augenblicke gehört dasjenige, was der Bissen in mir ist, den Vernichtungskräften

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dieser sichtbaren Welt an. Und daß er in mir selbst nicht den Vernichtungskräften angehört, davor muß ich mein Wesen, mein eigenes Wesen bewahren. Aber nirgends draußen in der sichtbaren Welt ist dieses eigene Wesen zu finden. Was tue ich denn mit dem Bissen, den ich in den Mund nehme, was tue ich mit dem Trunk Wasser, den ich in den Mund nehme, durch mein eige­nes Wesen? Wer bin ich denn, der die Substanzen der Natur emp­fängt und umwandelt? Wer bin ich denn? Das ist die zweite Frage, die Unterfrage, die aus der ersten entsteht.

Ich gehe nicht nur, indem ich mich in ein Verhältnis setze zu der Welt der Sichtbarkeit, durch die Finsternis, ich handle in der Fin­sternis, ohne zu wissen, wer handelt, ohne zu wissen, was das We­sen ist, das ich als mein Ich bezeichne. Ich bin ganz hingegeben an die sichtbare Welt; aber ich gehöre ihr nicht an.

Das hebt den Menschen heraus aus der sichtbaren Welt. Das läßt ihn sich selber erscheinen als Angehörigen einer ganz anderen Welt. Und die bange, die große Zweifelsfrage steht da: Wo ist die Welt, der ich angehöre? - Und je mehr die menschliche Zivilisation vorgeschritten ist, je mehr die Menschen intensiv denken gelernt haben, desto mehr ist diese Frage eine bange Frage geworden. Und sie sitzt heute in den Tiefen der Gemüter. Die Menschen teilen sich, insofern sie der zivilisierten Welt angehören, eigentlich nur in zwei Klassen in bezug auf diese Frage. Die einen drängen sie hinunter, würgen sie hinunter, bringen sie sich nicht zur Klarheit, aber leiden darunter, als unter einer furchtbaren Sehnsucht, dieses Menschenrätsel zu lö­sen; die anderen betäuben sich gegenüber dieser Frage, reden sich allerlei Dinge aus dem äußeren Dasein vor, um sich zu betäuben. Und indem sie sich betäuben, tilgen sie in sich selber das feste Ge­fühl des eigenen Seins aus. Nichtigkeit befällt ihre Seele. Und die­ses Gefühl der Nichtigkeit sitzt heute im Unterbewußten unzäh­liger Menschen.

Das ist die eine Seite, die eine große Frage mit der erwähnten Unterfrage. Sie ersprießt, wenn der Mensch sich von außen ansieht

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und sein Verhältnis als Mensch zwischen Geburt und Tod zur Welt auch nur ganz gedämpft, unterbewußt wahrnimmt.

Die andere Frage aber entsteht, wenn der Mensch in sein eigenes Inneres sieht. Da ist der andere Pol des menschlichen Daseins. Da drinnen sitzen die Gedanken. Sie bilden die äußere Natur ab. Der Mensch stellt durch seine Gedanken die äußere Natur vor. Der Mensch entwickelt Empfindungen, Gefühle über die äußere Natur. Der Mensch wirkt durch seinen Willen auf die äußere Natur. Der Mensch sieht zunächst auf sein eigenes Inneres zurück. Das wogende Denken, Fühlen und Wollen steht vor seiner Seele. So steht er mit seiner Seele in der Gegenwart darinnen. Dazu kommen die Erinne­rungen an gehabte Erlebnisse, die Erinnerungen an Dinge, die man in früheren Zeiten des gegenwärtigen Erdendaseins gesehen hat. Das alles füllt die Seele aus. Was ist es?

Nun bildet sich der Mensch nicht klare Ideen über dasjenige, was er da eigentlich in sich drinnen behält; aber das Unterbewußte bildet diese Ideen. Eine einzige Migräne, die die Gedanken ver­scheucht, macht sogleich das Innere des Menschen zu einer Rätselfrage. Und jeder Schlafzustand macht es zu einer Rätselfrage, wenn der Mensch regungslos daliegt und ihm die Möglichkeit fehlt, durch seine Sinne sich in Korrespondenz mit der Außenwelt zu setzen. Der Mensch fühlt, sein physischer Leib muß rege sein, dann treten die Gedanken, die Gefühle, die Willensimpulse in seiner Seele auf. Aber der Stein, den ich soeben betrachtet habe, der vielleicht diese oder jene Kristallgestalt hat - ich wende mich von ihm ab, nach einiger Zeit wende ich mich ihm wieder zu -, er ist so geblieben, wie er ist. Mein Gedanke, er steigt auf, er stellt sich als Bild in der Seele dar, er glimmt wieder hinunter. Er wird als unendlich viel wertvoller empfunden als die Muskeln, als die Knochen, die der Mensch in sich trägt, aber er ist etwas Verfliegendes, er ist ein bloßes Bild. Er ist weniger als ein Bild, das ich an der Wand hängen habe; denn das Bild, das ich an der Wand hängen habe, bleibt eine Zeit­lang bestehen, bis es durch seine Substanz zerfällt. Der Gedanke

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fliegt vorüber. Der Gedanke ist ein Bild, das fortwährend entsteht und vergeht, ein fluktuierendes, ein kommendes und gehendes Bild, ein Bild, das in seinem Bilddasein sein Genüge hat. Und dennoch, blickt der Mensch in das Innere seiner Seele hinein, er hat nichts anderes als diese Vorstellungsbilder. Er kann nicht anders sagen als: sein Seelisches besteht in diesen Vorstellungsbildern.

Noch einmal blicke ich auf den Stein hin. Er ist da draußen im Raume. Er bleibt. Ich stelle ihn jetzt vor, ich stelle ihn in einer Stunde vor, ich stelle ihn in zwei Stunden vor. Der Gedanke ver­schwindet immer wiederum dazwischen, er muß immer erneuert werden. Der Stein bleibt draußen. Was trägt den Stein von Stunde zu Stunde? Was läßt den Gedanken fluktuieren von Stunde zu Stunde? Was erhält und bewahrt den Stein von Stunde zu Stunde? Was ver­nichtet den Gedanken immer wiederum, so daß er neuerdings ange­facht sein muß an dem äußeren Anblick? Was ist das, was den Stein erhält? Man sagt: er ist. Das Sein kommt ihm zu. Dem Gedanken kommt nicht das Sein zu. Der Gedanke kann die Farbe des Steins erfassen, der Gedanke kann die Form des Steins erfassen; aber das­jenige, wodurch der Stein sich bewahrt, kann er nicht fassen. Das bleibt draußen. Das bloße Bild tritt in die Seele hinein.

Und so ist es mit jeglichen Dingen der äußeren Natur in dem Verhältnis zur Menschenseele. Der Mensch kann auf diese Men­schenseele hinblicken als auf sein eigenes Inneres. Die ganze Natur spiegelt sich in dieser Menschenseele. Aber seine Seele hat nur fluk­tuierende Bilder, die gewissermaßen die Oberflächen der Dinge ab­heben, aber das Innere der Dinge dringt nicht in diese Bilder hin­ein. - Ich gehe mit meinen Vorstellungen durch die Welt. Ich hebe überall die Oberfläche von den Dingen ab, aber dasjenige, was die Dinge sind, bleibt draußen. Ich trage meine Seele durch diese Welt, die mich umgibt, aber diese Welt bleibt draußen. Und dasjenige, was drinnen ist, an das kommt die Außenwelt mit ihrem eigentlichen Sein nicht heran. - Und wenn der Mensch im Anblicke des Todes vor der Welt, die ihn umgibt, so dasteht, muß er sich sagen: Dieser

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Welt gehöre ich nicht an, denn ich dringe an diese Welt nicht heran, mein Wesen gehört einer anderen Welt an; diese Welt, ich kann an sie nicht herandringen, solange ich im physischen Leibe lebe. Und dringt mein Leib nach meinem Tode an diese äußere Welt heran, so kann er nicht heran, denn dann ist jeder Schritt, den er macht, Vernichtung für ihn. - Da draußen ist die Welt. Dringt der Mensch in sie hinein, sie vernichtet ihn, sie duldet ihn nicht in sich mit sei­ner Wesenheit. Will aber die äußere Welt in die Menschenseele hinein, so kann sie das auch nicht. Die Gedanken sind Bilder, die außerhalb des Wesens, des Seins der Dinge stehen. Das Sein der Steine, das Sein der Pflanzen, das Sein der Tiere, das Sein der Sterne, der Wolken, es kommt nicht herein in die Menschenseele. Eine Welt umgibt den Menschen, die nicht an seine Seele heran kann, die draußen bleibt.

Auf der einen Seite bleibt der Mensch - es wird ihm das klar im Anblicke des Todes - außerhalb der Natur. Auf der anderen Seite bleibt die Natur außerhalb seiner Seele. Der Mensch blickt sie als ein Äußeres an. Es muß ihm die bange Frage aufsteigen nach einer anderen Welt. Der Mensch blickt nach dem, was ihm am intim­sten, am vertrautesten ist in seinem eigenen Inneren. Der Mensch blickt hin nach jedem Gedanken, nach jeder Vorstellung, nach jeder Empfindung, nach jedem Gefühl, nach jedem Willensimpuls: an nichts dringt die Natur, in der er lebt, heran; er hat sie nicht.

Da ist die scharfe Grenze zwischen dem Menschen und der Na­tur. Der Mensch kann nicht an die Natur heran, ohne daß er ver­nichtet wird. Die Natur kann nicht in das Innere des Menschen hinein, ohne daß sie zum Schein wird. Der Mensch hat, indem er sich selber in die Natur hineindenkt, die krasse Vernichtung allein, die er vorstellen muß. Der Mensch hat, indem er in sich hineinblickt und frägt: Wie steht die Natur zu meiner Seele? nichts anderes als den wesenlosen Schein in seiner Seele von der Natur.

Aber indem der Mensch diesen Schein in sich trägt von Mineralien, Pflanzen, Tieren, Sternen, Sonnen, Wolken, Bergen,

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Flüssen, und indem er in sich trägt in seiner Erinnerung den Schein von all den Erlebnissen, die er durchgemacht hat mit diesen Reichen der äußeren Natur, hat der Mensch, indem er alles dieses als sein flutendes Inneres erlebt, aufsteigend in diesem Fluten sein eigenes Seinsgefühl.

Und wie ist es nun? Wie erlebt der Mensch dieses Seinsgefühl? Er erlebt es etwa in der folgenden Weise. Das kann man vielleicht nur durch ein Bild ausdrücken. Man schaue hin auf ein weites Meer. Die Wogen gehen auf und ab. Da eine Woge, dort eine Woge, überall Wogen, die von sich aufbäumendem Wasser herrühren. Da wird der Blick gefesselt durch eine besondere Woge. Denn diese eine besondere Woge zeigt, daß in ihr etwas lebt, daß das nicht bloß aufgepeitschtes Meer ist, daß hinter dieser Woge etwas lebt. Aber das Wasser umhüllt dieses Lebende von allen Seiten. Man weiß nur, daß etwas drinnen lebt in dieser Woge, aber man sieht auch in die­ser Woge nichts anderes als das dieses Leben umhüllende Wasser. Die Woge sieht aus wie die anderen Wogen. Nur an der Stärke ihres Aufspringens, an der Kraft, mit der sie sich hinstellt, hat man das Gefühl, da lebt etwas Besonderes in ihr. Sie geht wieder hinun­ter, diese Woge. An einer anderen Stelle erscheint sie wiederum; wiederum verdeckt das Wasser der Woge dasjenige, was sie inner­lich belebt. So ist es mit dem Seelenleben des Menschen. Da wogen auf Vorstellungen, Gedanken, da wogen auf Gefühle, da wogen auf Willensimpulse; überall Wogen. Eine der Wogen, die taucht herauf in einem Gedanken, in einem Willensentschluß, in einem Gefühl. Ich ist da drinnen. Aber die Gedanken oder die Gefühle oder die Willensimpulse, sie verdecken wie das Wasser in der Wasserwoge das Lebendige. Sie verdecken dasjenige, was als Ich drinnensteckt. Und der Mensch weiß nicht, was er selbst ist. Denn alles, was sich ihm zeigt an der Stelle, von der er nur weiß: da wogt mein Selbst herauf, da wogt mein eigenes Sein herauf - all dasjenige, was sich ihm zeigt, ist nur Schein. Der Schein in der Seele verdeckt das Sein, das ja ganz gewiß da ist, das der Mensch erfühlt, innerlich erlebt.

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Aber der Schein deckt es ihm zu, wie das Wasser der Wasserwoge ein Lebendiges zudeckt, das heraufkommt aus den Tiefen des Mee­res, das man nicht kennt. Und der Mensch fühlt sein eigenes wahres Wesen verhüllt durch die Scheingebilde seiner eigenen Seele. Und es ist, als ob der Mensch sich fortwährend an sein Sein anklammern wollte, als ob er es irgendwo erfassen wollte. Er weiß, es ist da. Aber in dem Augenblicke, wo er es erfassen will, entschlüpft es ihm schon wieder, eilt von ihm fort. Der Mensch ist nicht imstande, das, was er weiß, was er ist, ein seiendes Wesen, in dem Gewoge seiner Seele zu erfassen. Und wenn dann der Mensch darauf kommt, daß dieses wogende Scheinleben der Seele etwas zu tun hat mit jener an­deren Welt, die ihm vor die Vorstellung tritt, wenn er in die Natur hinausschaut, dann tritt erst recht ein furchtbares Rätsel auf. Das Naturrätsel ist wenigstens ein solches, das sozusagen im Erleben vorhanden ist. Das Rätsel der eigenen Seele ist nicht im Erleben vor­handen, weil es selber lebt, weil es sozusagen lebendes Rätsel ist, weil es auf die fortdauernde Frage des Menschen: was bin ich? das­jenige vor ihn hinstellt, was bloßer Schein ist.

Indem der Mensch in das eigene Innere blickt, wird er gewahr, daß dieses Innere ihm fortwährend die Antwort gibt: Ich zeige dir von dir selbst nur einen Schein; und schreibst du dich von einem geistigen Dasein her, ich zeige dir in deinem Seelenleben von die­sem geistigen Dasein einen Schein.

Und so treten prüfende Fragen von zwei Seiten an das Menschen­leben heute heran. Die eine Frage, sie entsteht daraus, daß der Mensch gewahr wird:

Es gibt eine Natur, aber der Mensch

kann an diese Natur nur heran,

indem er sich von ihr vernichten läßt.

Die andere:

Es gibt eine Menschenseele, aber die Natur

kann an diese Menschenseele nur heran,

indem sie zum Scheingebilde wird.

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Diese beiden Erkenntnisse leben in dem Unterbewußtsein des heu­tigen Menschen.

Und nun wendet sich der Mensch hin zu dem, was da lebt, aus alten Zeiten in unsere Gegenwart herein übertragen. Da steht die unbekannte Natur, die des Menschen Vernichterin ist; da steht das Scheingebilde der Menschenseele, an das diese Natur nicht herange­bracht werden kann, obzwar der Mensch sein physisches Dasein nur unter den Anleihen an diese Natur vollenden kann. Da steht der Mensch sozusagen in einer doppelten Finsternis. Und die Frage taucht auf: Wo ist die andere Welt, der ich angehöre?

Und die geschichtliche Tradition steigt auf. Da gab es einmal eine Wissenschaft, die sprach von dieser unbekannten Welt. Man wendet sich zurück in alte Zeiten. Man bekommt große Ehrfurcht vor dem, was alte Zeiten wissenschaftlich bekunden wollten von dieser anderen Welt, die überall in der Natur drinnenliegt. Wenn man aber die Natur nur richtig zu behandeln weiß, enthüllt sich vor dem menschlichen Blick diese andere Welt.

Aber das neuere Bewußtsein hat diese alte Wissenschaft fallen gelassen. Sie gilt nicht mehr. Sie ist überliefert, aber sie gilt nicht mehr. Der Mensch kann nicht mehr das Vertrauen haben, daß ihm dasjenige, was einmal die Menschen in einer alten Zeit wissenschaft­lich über die Welt erkundet haben, heute auf seine bange Frage, die aus diesen zwei unterbewußten Tatsachen sprießt, Antwort gibt. Da tut sich ein zweites vor dem Menschen kund: die Kunst.

Aber wiederum zeigt sich in der Kunst eines. In der Kunst zeigt sich, wie aus alten Zeiten Kunstbehandlung heraufkommt: Durch­geistigung des physischen Stoffes. Der Mensch kann durch Tradition manches von dem empfangen, was an alter künstlerischer Durch­geistigung erhalten geblieben ist. Aber gerade wenn in seinem Unter­bewußtsein eine echte Künstlernatur sitzt, fühlt er sich heute unbe­friedigt, weil er dasjenige nicht mehr handhaben kann, was selbst noch Raffael hineingezaubert hat in die menschliche irdische Gestalt als den Abglanz einer anderen Welt, der der Mensch mit seinem

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eigentlichen Sein angehört. Wo ist denn heute der Künstler, der die physisch-irdische Substanz in einer solchen Weise stilvoll zu behan­deln weiß, daß diese physisch-irdische Substanz den Abglanz jener an-deren Welt zeigt, der der Mensch eigentlich angehört?

Bleibt als drittes aus alten Zeiten traditionell erhalten die Reli­gion. Sie weist die menschliche Empfindung, das menschliche Frommsein auf jene andere Welt hin. Einstmals ist diese Religion dadurch entstanden, daß der Mensch die Offenbarungen der Natur, die ihm eigentlich so fern steht, empfangen hat. Und wenn wir den geistigen Blick um Jahrtausende zurücksenden, dann treffen wir auf Menschen, die auch gefühlt haben: Es gibt eine Natur, aber der Mensch kann an diese Natur nur heran, indem er sich von ihr ver­nichten läßt.

Ja, auch die Menschen vor Jahrtausenden haben das in den Tiefen ihrer Seele empfunden; aber sie blickten hin - noch bei den Ägyp­tern war das so - auf den Leichnam, der gewissermaßen wie in eine Art Weltenmoloch hineingeht in die äußere Natur, als Leichnam vernichtet wird. Sie sahen nach; aber sie sahen: in dasselbe Tor, hin­ter dem der menschliche Leichnam vernichtet wird, geht auch die menschliche Seele. Niemals hätten diese Ägypter ihre Mumien gebil­det, wenn der Mensch nicht, nachschauend in alten Zeiten der Seele, gesehen hätte: durch dasselbe Tor hindurch, durch das der Leichnam geht, hinter dem die Leichname vernichtet werden, geht auch die Seele. Aber die Seele geht weiter. Diese Menschen der alten Zeiten fühlten, wie diese Seele größer und größer wird und aufgeht in den Kosmos. Und dann sahen sie dasjenige, was in die Erde hinein ver­schwunden ist, in die Elemente hinein verschwunden ist, sie sahen es wie wiederum aus den Weltenweiten, aus den Sternen zurück­kommen; sie sahen im Tode die Menschenseele verschwinden, zu­nächst hinter das Tor des Todes, dann hinter dem Tor des Todes sahen sie diese Menschenseele auf dem Wege zur anderen Welt, und sie sahen sie wieder zurückkommen aus den Sternen. Das war die alte Religion: Weltenoffenbarung. Weltenoffenbarung aus der

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Stunde des Todes, Weltenoffenbarung aus der Stunde der Geburt. Die Worte haben sich erhalten. Der Glaube hat sich erhalten. Aber dasjenige, was er enthält, hat es noch einen Bezug zur Welt?

Es ist in weltenfremder Literatur, religiöser weltenfremder Literatur und Tradition erhalten. Es steht ferne der Welt selbst. Und keine Beziehung mehr kann der Mensch der gegenwärtigen Zivili­sation von dem, was ihm religiös überliefert ist, zu demjenigen erblicken, was jetzt die bange Frage ist. Denn er schaut in die Natur hinaus, sieht allein, indem er auf den Tod hinblickt, den mensch­lichen physischen Leib durch das Tor des Todes gehen und jenseits des Todes der Vernichtung anheimfallen. Dann sieht er hereinkom­men durch die Geburt die menschliche Gestalt. Und er muß sich sagen: Woher kommt sie? Überall, wohin ich schaue, erblicke ich nichts, woher sie kommt. - Denn aus den Sternen sieht er sie nicht mehr kommen, wie er nicht mehr den Blick dafür hat, sie jenseits der Pforte des Todes zu erblicken. Und Religion ist zum inhaltslosen Worte geworden. Der Mensch hat um sich herum in der Zivilisation dasjenige, was alte Zeiten als Wissenschaft, als Kunst, als Religion besessen haben. Aber die Wissenschaft der Alten ist fallengelassen worden. Die Kunst der Alten wird nicht mehr in ihrer Innerlichkeit empfunden, und was ihr als Ersatz entgegentritt, ist dasjenige, was der Mensch nicht aus der physischen Substanz heraufheben kann bis zum Erstrahlen des Geistigen in dem physischen Stoffe.

Und geblieben ist aus alten Zeiten das Religiöse. Aber das Reli­giöse knüpft nirgends an die Welt an. Trotz des Religiösen bleibt die Welt im Verhältnis zum Menschen jenes Rätsel. Dann blickt der Mensch in sein Inneres hinein. Er hört die Stimme des Gewissens sprechen. In alten Zeiten war die Stimme des Gewissens die Stimme desjenigen Gottes, der die Seele führte über die Regionen hin, in denen der Leichnam vernichtet wird, der die Seele führte und ihr die Ge­stalt gab zum irdischen Leben: Derselbe Gott war es, der dann in der Seele sprach als die Stimme des Gewissens. Jetzt ist auch die Stimme des Gewissens äußerlich geworden. Die Moralgesetze führen sich

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nicht mehr zurück auf die göttlichen Impulse. Der Mensch blickt zunächst auf das Historische. Der Mensch blickt auf dasjenige, was ihm aus alten Zeiten geblieben ist. Er kann nur die Ahnung haben: Die beiden großen Daseinsfragen haben die Alten in anderer Weise empfunden, als du sie heute empfindest; daher haben sie sich in einer gewissen Weise Antwort geben können. Du kannst dir nicht mehr Antwort geben. Die Rätsel schweben vor dir, vernichtend für dich, weil sie dir nach dem Tode nur deine Vernichtung, weil sie deiner Seele im Leben nur den Schein zeigen.

So steht einmal der Mensch heute vor der Welt. Und aus dieser Empfindung heraus entstehen jene Fragen, die Anthroposophie beantworten soll. Die Herzen sprechen aus diesen beiden Empfin­dungen heraus. Und die Herzen sprechen: Wo ist die Welterkennt­nis, welche diesen Empfindungen gerecht wird?

Diese Welterkenntnis möchte Anthroposophie sein. Und sie möchte so überWelt und Menschen sprechen, daßwiederum etwas da sein kann, was verstanden werden kann mit dem modernen Bewußt­sein, wie verstanden worden ist alte Wissenschaft, alte Kunst, alte Religion mit dem alten Bewußtsein. Anthroposophie hat durch die Stimme des menschlichen Herzens selber ihre gewaltige Aufgabe. Sie ist nichts anderes als Menschensehnsucht der Gegenwart. Sie wird leben müssen, weil sie die Menschensehnsucht der Gegenwart ist. Das will Anthroposophie sein. Sie entspricht dem, was der Mensch am heißesten ersehnt für sein äußeres, für sein inneres Da­sein. Und die Frage entsteht: Kann es heute eine solche Welt­anschauung geben? Der Welt hat diese Antwort zu geben die Anthroposophische Gesellschaft. Die Anthroposophische Gesell­schaft muß den Weg finden, die Herzen der Menschen aus ihren tiefsten Sehnsuchten heraus sprechen zu lassen. Dann werden diese menschlichen Herzen eben auch die tiefste Sehnsucht nach den Ant­worten empfinden.

ZWEITER VORTRAG 20. Januar 1924 Das meditative Bewußtsein

#G234-1959-SE028 Anthroposophie

#TI

ZWEITER VORTRAG

20. Januar 1924

Das meditative Bewußtsein

#TX

Gestern hatte ich darauf hinzuweisen, wie der Mensch nach zwei Seiten hin sich betrachten kann, und wie nach diesen zwei Seiten hin an den Menschen das Welten- und das Menschenrätsel herantritt. Wenn wir noch einmal hinblicken auf dasjenige, was sich uns gestern ergeben hat, so sehen wir auf der einen Seite das, was zu­nächst auf dieselbe Weise wahrgenommen wird wie die äußere physische Welt. Wir sehen den menschlichen physischen Leib. Wir nennen ihn deshalb physischen Leib, weil er für unsere physischen Sinne so vor uns dasteht wie die äußere physische Welt. Aber wir müssen zugleich gedenken des gewaltigen Unterschiedes gerade dieses physischen Menschenleibes von der äußeren physischen Welt. Und wir haben ja diesen gewaltigen Unterschied gestern daran wahrzunehmen gehabt, daß in dem Augenblicke, wo der Mensch, durch die Pforte des Todes tretend, den physischen Leib den Ele­menten der äußeren physischen Welt übergeben muß, daß in diesem Augenblicke dieser physische Leib von der äußeren Natur vernichtet wird. Die äußere Natur hat also nicht in ihren Aufbaukräften, son­dern in ihren Zerstörungskräften dasjenige, womit sie den mensch­lichen physischen Leib behandelt. Und wir müssen daher das, was dem menschlichen physischen Leib seine Gestalt gibt vor der Geburt oder von der Empfängnis bis zum Tode, ganz außerhalb der phy­sischen Welt suchen. Wir müssen von einer zunächst anderen Welt sprechen, die diesen physischen Menschenleib aufbaut, denn die äußere physische Natur kann ihn nicht aufbauen, sie kann ihn nur vernichten.

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Aber auf der anderen Seite sind zwei Dinge da, welche diesen physischen Menschenleib in ein ganz nahes Verhältnis zur Natur bringen. Auf der einen Seite bedarf dieser physische Menschenleib der Substanzen für seinen Aufbau, gewissermaßen als seiner Bau­materialien, obwohl das im uneigentlichen Sinne gesprochen ist, er bedarf der Substanzen der äußeren Natur, oder wenigstens können wir sagen, er bedarf der Aufnahme der Substanzen der äußeren Natur.

Und doch, wenn wir, sei es in den Ausscheidungen, die sich er­geben, sei es, daß der ganze physische Leib des Menschen uns nach dem Tode als Leichnam entgegentritt, wenn wir das betrachten, was dieser physische Leib nach außen offenbart, so sind es doch wie­derum die Substanzen der äußeren physischen Welt; denn wo wir auch dieser physischen Leib betrachten, seien es die einzelnen Aus­scheidungen, sei es die Abscheidung des ganzen physischen Leibes mit dem Tode, er stellt sich uns dar als offenbarend dieselben Sub­stanzen, die wir auch in der äußeren physischen Welt finden. So daß wir sagen müssen: Was auch immer in diesem Wesen des Men­schen vor sich geht, Anfang und Ende der inneren Prozesse, der inneren Vorgänge sind verwandt der äußeren physischen Welt.

Aber die materialistische Wissenschaft zieht aus der eben erwähn­ten Tatsache einen Schluß, der ganz und gar nicht gezogen werden kann. Wenn wir auf der einen Seite sehen, daß der Mensch durch Essen oder Trinken oder durch Atmen die Substanzen der äußeren physischen Welt in sich aufnimmt, daß er durch Ausatmen, Aus­scheiden oder im Tode diese Substanzen wiederum an die äußere Welt abgibt als solche Substanzen, die mit denen der äußeren Welt übereinstimmen, so können wir doch nur sagen, daß wir es da mit einem Anfang und mit einem Ende zu tun haben. Was dazwischen im menschlichen physischen Leibe vor sich geht, das ist damit nicht ausgemacht.

Man spricht so leichten Herzens von dem Blute, das der Mensch in sich trägt. Aber hat jemals ein Mensch dieses Blut im lebenden

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menschlichen Organismus selber untersucht? Das kann man ja gar nicht mit physischen Mitteln. So daß also nicht ohne weiteres der materialistische Schluß gezogen werden darf: dasjenige, was in den Körper hineingeht und was wieder aus ihm herausgeht, das ist auch in dem menschlichen Organismus drinnen.

Aber jedenfalls sehen wir, schon wenn die Aufnahme von äußeren physischen Substanzen, sagen wir zum Beispiel im Munde beginnt, daß sogleich eine Verwandelung eintritt. Wir brauchen ja nur ein Körnchen Salz in den Mund zu nehmen, sofort muß es aufgelöst werden. Es tritt sofort eine Verwandlung ein. Der menschliche phy-sische Lelb in seinem Innern ist nicht gleich der äußeren Natur. Er verwandelt dasjenige, was er aufnimmt und verwandelt es wiederum zurück. So daß wir im menschlichen physischen Organismus etwas zu suchen haben, was in seinem Anfange bei der Aufnahme der physischen Substanzen ähnlich ist der äußeren Natur, was bei seiner Ausgabe ähnlich ist der äußeren Natur. Dazwischen aber liegt das­jenige, was eben erst erkannt werden muß im Menschenwesen.

Stellen Sie sich einmal dasjenige vor, was ich gesagt habe. Wir haben das, was der menschliche physische Organismus aufnimmt, und wir haben das, was er ausgibt, auch als seinen ganzen Leib aus­gibt. Dazwischen liegen die Vorgänge, die im menschlichen Orga­nismus vorsichgehen zwischen der Aufnahme und der Ausgabe. Wir können gar nicht bei dem, was der menschliche physische Organis­mus aufnimmt, irgend etwas über das Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur sagen. Denn man möchte das aussprechen: Wenn es schon so ist, daß die äußere physische Natur den Leichnam des Men­schen vernichtet, auflöst, zerstäubt, der Mensch zahlt der äußeren Natur in bezug auf seinen eigenen Organismus das wiederum zu-rück. Er löst auch alles auf, was er von der äußeren Natur empfängt. Also wenn wir bei denjenigen Organen beginnen, durch die der Mensch Physisches aufnimmt, kommen wir zu keinem Verhältnis zur äußeren Natur, denn die vernichten die äußere Natur. Wir kom­men allein zu einem Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur,

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wenn wir auf das hinschauen, was der Mensch ausscheidet. Mit Be­zug auf die Gestalt, die der Mensch ins physische Leben hereinträgt, ist die Natur eine Zerstörerin; in bezug auf dasjenige, was er aus-scheidet, nimmt sie das auf, was der menschliche Organismus liefert. SO daß der menschliche physische Organismus an seinem Ende sich selber ganz ungleich, aber der äußeren Natur sehr ähnlich wird. Der menschliche physische Organismus macht sich der äußeren Natur erst ähnlich, indem er ausscheidet.

Wenn Sie dies bedenken, dann werden Sie sich sagen: Draußen in der Natur sind die Substanzen der verschiedenen Naturreiche. Sie sind heute nun einmal, wie sie eben geworden sind; aber sie sind ganz gewiß nicht immer so gewesen. Das gibt ja selbst die physische Wissenschaft zu, daß, wenn man zurückgeht im Zeitenverlaufe und man zu alten Zuständen des Irdischen kommt, diese ganz anders sind als heute; also dasjenige, was uns draußen in den Reichen der Natur umgibt, ist erst zu dem geworden, was es heute ist. Und wenn man auf den menschlichen physischen Leib hinsieht, so muß man sich sagen: Der menschliche physische Leib vernichtet, was er auf­nimmt, zunächst in sich, verwandelt es - wir werden schon darauf kommen, daß er es in Wirklichkeit vernichtet, aber sagen wir zu­nächst verwandelt -, jedenfalls muß er es zu einem gewissen Zu­stande bringen, aus dem heraus er es dann weiterführen kann bis zu der heutigen physischen Natur. Das heißt, wenn Sie sich auf der einen Seite irgendwo im menschlichen Organismus einen Anfang denken, wo die Substanzen beginnen sich bis zu den Ausscheidungen hin zu entwickeln, und dann die Erde sich denken, so muß die Erde nur in einer langen Zeit irgendwo irgendwie zurückgehen zu einem Zustande, in dem sie einmal war, und in dem heute das Innere des menschlichen physischen Organismus ist. Sie müssen sagen: Es muß irgendwo in der Vergangenheit die ganze Erde in einem Zustande gewesen sein, worin heute irgend etwas im Innern des Menschen ist. Und in der kurzen Spanne Zeit, in der sich im menschlichen Or­ganismus ein in ihm organisch Verwobenes in die Ausscheidungen

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verwandelt, in dieser kurzen Zeit wiederholen die inneren Vorgänge des menschlichen Organismus dasjenige, was im Laufe langer Zeit-räume von der Erde selber vollzogen worden ist.

Wir schauen daher auf die äußere Natur und sagen uns: Das­jenige, was heute äußere Natur ist, es war einmal ganz anders. Aber wenn wir auf den Zustand, in dem diese äußere Natur einmal war, hinschauen und etwas ähnliches finden wollen, dann müssen wir in unseren eigenen Organismus hineinschauen. Da ist noch der Erden-anfang drinnen. Jedesmal, wenn wir essen, kommen die Eßmate­rialien im Innern durch die Verwandelung, die sie durchmachen, in einen Zustand, in dem die ganze Erde einmal war. Und die Erde hat im Laufe langer Zeiträume sich weiter entwickelt, ist das gewor­den, was sie heute ist. Wir haben dasjenige, was im Menschen vor­handen ist als ein Zustand seiner verzehrten Nahrungsmittel, die sich entwickeln bis zu den Ausscheidungen. In dieser Entwickelung eines kurzen Zeitraumes liegt, kurz wiederholt, der ganze Erden-prozeß.

Sehen Sie, man kann auf den Frühlingspunkt blicken, in dem jähr­lich im Frühling die Sonne aufgeht. Er verschiebt sich, er schreitet vorwärts. In alten Zeiten, sagen wir im ägyptischen Zeitraum, war der Frühlingspunkt im Sternbilde des Stieres. Er ist fortgeschritten durch das Sternbild des Stieres, des Widders, steht heute im Stern­bild der Fische. Und dieser Frühlingspunkt läuft immer weiter und weiter. Er läuft im Kreise herum. Er muß nach einiger Zeit wie­derum zurückkommen. Der Sonnenaufgangspunkt durchläuft einen Himmelskreis in 25920 Jahren. Die Sonne durchläuft diesen Kreis jeden Tag. Sie geht auf, sie geht unter und durchläuft dabei dieselbe Bahn, die der Frühlingspunkt durchläuft. Wir blicken auf den lan­gen Zeitraum von 25 920 Jahren als der Umlaufszeit des Frühlings-punktes. Wir blicken auf den kurzen Zeitraum eines Sonnenauf­und -unterganges bis zum Zurückkommen wiederum zum Auf­gangspunkte - auf einen vierundzwanzigstündigen Zeitraum blik­ken wir. Da durchläuft die Sonne denselben Kreis in kurzer Zeit.

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So ist es mit dem menschlichen physischen Organismus. Im Laufe längerer Jahre hat die Erde aus Substanzen bestanden, die gleich denen sind, die wir in uns tragen, wenn wir einen gewissen Grad der Verdauung erreicht haben, gerade den Zwischenpunkt zwischen der Aufnahme und der Ausscheidung, wo sich die Aufnahme in die Ausscheidung verwandelt; da tragen wir in uns den Erdenanfang. In kurzer Zeit bringen wir es bis zu der Ausscheidung. Da sind wir der Erde ähnlich. Da werden die Stoffe in der Form, wie sie heute sind, der Erde übergeben. Wir tun mit unserem Ernährungsprozeß im physischen Leib etwas ähnliches, wie es die Sonne tut bei ihrem Um­gang gegenüber dem Frühlingspunkte. Wir dürfen daher hinaus-schauen auf das physische Erdenrund und dürfen sagen: Heute ist dieses physische Erdenrund bei Gesetzen angekommen, welche die Gestalt unseres physischen Organismus auflösen. Aber diese Erde muß einmal in einem Zustande gewesen sein, wo auf sie Gesetze wirkten, die heute unseren physischen Organismus dahin bringen, wo eben die Nahrungsmittel sind, wenn sie zwischen Aufnahme und Ausscheidung in der Mitte drinnenstehen. Das heißt, wir tragen die Gesetze des Erdenanfangs in uns. Wir wiederholen dasjenige, was einmal auf der Erde da war.

Nun, so können wir sagen: Wenn wir unseren physischen Or­ganismus ansehen als dasjenige, das die äußeren Stoffe aufnimmt und sie wiederum abschiebt in der Form von äußeren Stoffen, so ist dieser physische Organismus in einem gewissen Sinne also hin-organisiert auf die Aufnahme und Ausscheidung der heutigen Sub­stanzen; aber in sich trägt er etwas, was im Erdenanfange vorhan­den war, was heute die Erde nicht mehr hat, was aus ihr verschwun­den ist, denn die Erde hat die Endprodukte, nicht aber die Anfangs-produkte. Wir tragen also etwas in uns, was wir suchen müssen in sehr, sehr alten Zeiten innerhalb der Konstitution der Erde. Und was wir so in uns tragen, was zunächst die Erde als Ganzes nicht hat, das ist dasjenige, das den Menschen hinaushebt über das physische Erdendasein. Das ist dasjenige, was den Menschen dazu bringt, sich

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zu sagen: Ich habe in mir den Erdenanfang bewahrt. Ich trage, in-dem ich durch die Geburt ins physische Dasein hereintrete, immer etwas in mir, was die Erde heute nicht hat, aber vor Jahrmillionen gehabt hat.

Sie sehen daraus, daß wir, wenn wir den Menschen eine kleine Welt nennen, nicht bloß Rücksicht darauf nehmen können, wie die Welt um uns herum heute ist, sondern daß wir über den heutigen Zustand in die Entwickelungszeiten hineingehen müssen, daß wir, um den Menschen zu verstehen, uralte Erdenzustände ins Auge fas­sen müssen.

Dasjenige, was auf diese Art an dem Menschen noch vorhanden ist, was die Erde nicht mehr hat, kann aber dennoch vor der mensch-lichen Beobachtung auftreten. Und das geschieht dadurch, daß der Mensch zu dem greift, was man meditieren nennen kann. Man ist gewöhnt, die Vorstellungen, durch die man die äußere Welt wahr­nimmt, einfach in sich entstehen zu lassen, die äußere Welt durch diese Vorstellungen abzubilden. Und in den letzten Jahrhunderten hat sich der Mensch so stark gewöhnt, nur die äußere Welt abzu­bilden, daß er gar nicht dazu kommt, sich innerlich bewußt zu wer­den, daß er ja auch selber Vorstellungen von innen heraus frei bil­den kann. Solche Vorstellungen von innen heraus frei bilden, heißt meditieren: sich im Bewußtsein durchdringen mit Vorstellungen, die nicht von der äußeren Natur kommen, mit Vorstellungen, welche aus dem Innern herausgeholt werden, wobei man vorzugsweise auf­merksam ist auf diejenige Kraft, die diese Vorstellungen heraus-treibt. Man kommt dann dazu, zu fühlen, wie wirklich im Menschen ein zweiter Mensch steckt, wie wirklich im Menschen etwas inner­lich fühlbar werden kann, was man so erlebt, wie zum Beispiel die Muskelkraft, mit der man einen Arm ausstreckt - man erlebt diese Muskelkraft. Wenn man denkt, erlebt man gewöhnlich nichts; aber durch das Meditieren ist es möglich, die Gedankenkraft, die Kraft, durch die man die Gedanken bildet, in einer solchen Weise zu verstärken, daß man sie innerlich so erlebt wie die Muskelkraft, wenn

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man den Arm ausstreckt. Und das Meditieren hat einen Erfolg, wenn man sich zuletzt sagen kann: Ich bin eigentlich in meinem gewöhnlichen Denken ganz passiv. Ich lasse mit mir etwas gesche­hen. Ich lasse mich von der Natur ausstopfen mit Gedanken. Aber ich will mich nicht weiter ausstopfen lassen mit Gedanken, sondern ich versetze in mein Bewußtsein hinein diejenigen Gedanken, die ich haben will, und ich gehe von einem Gedanken zu dem anderen über nur durch die Kraft dieses inneren Denkens selber. - Da wird das Denken immer stärker und stärker, wie die Muskelkraft stärker wird, wenn man den Arm gebraucht. Da merkt man zuletzt, daß dieses Denken ebenso ein Spannen, ein Tasten, ein innerliches Er-leben ist wie das Erleben der Muskelkraft. Hat der Mensch sich so innerlich erlebt, daß er sein Denken in sich fühlt, wie man sonst nur die innere Muskelkraft fühlt, dann tritt sofort dasjenige vor sein Bewußtsein, was er zunächst in sich trägt als Wiederholung eines alten Erdenzustandes. Er lernt erkennen diejenige Kraft, welche die von ihm genossenen Speisen im physischen Leibe umwandelt und wiederum zurückverwandelt. Und indem er dazu kommt, in sich diesen höheren Menschen zu erleben, der so real ist, wie nur der physische Mensch ist, kommt er zugleich dazu, die äußeren Dinge der Welt nun auch mit diesem erkrafteten Denken anzuschauen.

Nun, meine lieben Freunde, denken Sie sich: mit einem solchen erkrafteten Denken schaue ich auf einen Stein, meinetwillen auf einen Salzwürfel oder auf einen Quarzkristall. Ich schaue mit dieser innerlichen Erkraftung auf einen Stein. Da ist es so, daß es mir vorkommt, wie wenn ich einem Menschen begegne: den habe ich doch schon gesehen? Ich erinnere mich dadurch, daß ich ihn wieder vor mir sehe, an Erlebnisse, die ich vor zehn, zwanzig Jahren mit ihm gehabt habe. Mittlerweile war er meinetwillen in Australien oder irgendwo. Dasjenige, was jetzt als Mensch vor mich hintritt, zaubert mir herauf das Erlebnis, das ich mit ihm vor zehn oder zwanzig Jahren gehabt habe. Schaue ich einen Saizwürfel, schaue ich einen Quarzkristall an mit dem erkrafteten Denken, sofort steht vor

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mir, wie dieser Saizwürfel, dieser Quarzkristall einmal war, wie wenn die Erinnerung an einen Urzustand der Erde aufgehen würde. Damals aber war dieser Saizwürfel nicht he::aedrisch, also nicht sechsflächig, sondern alles war in einem welligen, webenden Stein­weltenmeer. Der Urzustand der Erde geht so auf, wie an den gegen­wärtigen Gegenständen eben eine Erinnerung aufgeht.

Und dann blicke ich zum Menschen zurück, und ganz derselbe Eindruck, den ich sonst vom Urzustand der Erde habe, stellt sich mir dar in einem zweiten Menschen, den der Mensch in sich trägt. Und ganz derselbe Eindruck stellt sich mir dar, wenn ich nun nicht Steine ansehe, sondern wenn ich Pflanzen ansehe. Und ich komme dazu, mit einem gewissen Recht neben dem physischen Leib von einem Ätherleib zu sprechen. Die Erde war einstmals Äther. Sie ist aus dem Äther das geworden, was sie heute ist in ihren unorga-nischen, in ihren leblosen Dingen. Die Pflanze trägt noch dasjenige in sich, was ein uralter Zustand der Erde war. Und ich selber auch:

als einen zweiten Menschen, als den Ätherleib des Menschen.

Das alles, was ich Ihnen schildere, kann Beobachtungsgegenstand des erkrafteten Denkens werden. So daß wir sagen können: Gibt sich der Mensch Mühe, das erkraftete Denken zu haben, dann schaut er an sich, an der Pflanze, und indem er auf die Mineralien sieht, in Erinnerung an uralte Zeiten, die die Mineralien wachrufen, außer dem Physischen Ätherisches.

Nun aber, was weiß man denn aus dem, was einem so in einer höheren Beobachtung entgegentritt? Man weiß daraus, daß die Erde einmal in einem ätherischen Zustande war, daß der Äther geblieben ist, daß er heute noch die Pflanzen durchsetzt, die Tiere durchsetzt, denn auch an ihnen nimmt man ihn wahr, daß er den Menschen durchsetzt.

Aber nun tritt ein weiteres auf. Die Mineralien erblicken wir äther-frei. Die Pflanzen erblicken wir mit Äther begabt. Aber wir lernen zu gleicher Zeit den Äther überall sehen. Er ist heute noch da. Er füllt den Weltenraum aus. Er nimmt nur nicht teil an der äußeren

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mineralischen Natur. Er ist überall da. Und wenn ich nur die Kreide aufhebe, da merke ich, in dem Äther geht allerlei vor. Oh, das ist ein verwickelter Prozeß, ein verwickelter Vorgang, wenn ich die Kreide aufhebe. Mein Arm und meine Hand heben die Kreide auf. Dasjenige, was da meine Hand tut, das ist die Entwickelung einer Kraft in mir. Diese Kraft in mir ist während des wachen Zustandes vorhanden; während des schlafenden Zustandes ist sie nicht vor­handen. Wenn ich das, was der Äther tut, verfolge, die geschilderte Verwandlung der Nahrungsmittel, so ist das durch den Wach- und durch den Schlafzustand hindurch vorhanden. Das könnte man zu­nächst, wenn man oberflächlich wäre, beim Menschen ja bezweifeln, aber bei den Schlangen nicht, denn die schlafen, um zu verdauen. Aber dasjenige was dadurch geschieht, daß ich den Arm hebe, das kann nur im wachen Zustand geschehen. Der Ätherleib hilft mir nichts zu diesem Heben. Aber dennoch, wenn ich nur die Kreide hebe, muß ich Ätherkräfte überwinden, muß ich in den Äther hin-einwirken. Aber der eigene Ätherleib kann das nicht. Ich muß also einen dritten Menschen in mir tragen, der das kann.

Diesen dritten Menschen, ihn finde ich nicht in irgend etwas ähn­lichem draußen in der Natur zunächst. Diesen dritten Menschen, der sich bewegen kann, der Dinge heben kann, der seine eigenen Glie­der heben kann, ihn finde ich nicht in der äußeren Natur. Aber die äußere Natur, in der überall Äther ist, die tritt ja in Beziehung zu diesem - sagen wir - Kräftemenschen, zu diesem Menschen, in den der Mensch selber die Kraft seines Willens hineingießt.

Zunächst kann man diese innere Kräfte-Entfaltung nur an sich selber durch ein inneres Erleben wahrnehmen. Wenn man aber die Meditation weiter treibt, wenn man nicht nur das innerlich tut, daß man Vorstellungen selber schafft, von einer Vorstellung zur an-deren übergeht, um so das Denken zu erkraften, sondern wenn man, nachdem man ein solches kraftvolles Denken sich errungen hat, es innerlich wieder abschafft, sich ganz leer im Bewußtsein macht, dann erreicht man etwas Besonderes. Ja, wenn man sich von den

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gewöhnlichen Gedanken, die man passiv erwirbt, freimacht, schläft man ein. In dem Augenblick wo der Mensch nicht mehr wahrnimmt, nicht mehr denkt, schläft er ein, weil das gewöhnliche Bewußtsein eben passiv erworben ist. Ist es nicht da, schläft er ein. Aber wenn man die Kräfte entwickelt, durch die man das Ätherische sieht, hat man ja einen innerlich erstarkten Menschen. Man fühlt die Gedan­kenkräfte, wie man sonst die Muskeikräfte fühlt. Wenn man diesen erstarkten Menschen wiederum wegsuggeriert, dann schläft man nicht ein, dann exponiert man sein leeres Bewußtsein der Welt. Dann tritt dasjenige objektiv in den Menschen herein, was der Mensch spürt, indem er seine Arme bewegt, indem er geht, indem er seinen Willen entfaltet. In der Welt des Raumes ist nirgends zu finden, was da als Kräfte im Menschen wirkt. Aber es tritt in den Raum herein, wenn man in der Weise, wie ich es geschildert habe, leeres Bewußtsein erzeugt. Dann entdeckt man auch objektiv diesen dritten Menschen im Menschen. Schaut man dann wiederum in die äußere Natur hinaus, dann merkt man: Ja, der Mensch hat einen Ätherl eib, die Tiere haben einen Ätherleib, die Pflanzen haben einen Ätherleib. Die Mineralien haben keinen. Die erinnern nur an den ursprünglichen Erdenäther. Aber überall ist Äther. Wo man hin-schaut, hingeht, überall ist Äther. Aber er verleugnet sich. Warum? Weil er sich nicht als Äther gibt.

Sehen Sie, wenn Sie mit dem meditativen Bewußtsein, wie ich es zunächst geschildert habe, an die Pflanzen herantreten, so haben Sie ein Ätherbild. Treten Sie an den Menschen heran, Sie haben ein Ätherbild. Wenn Sie aber an den allgemeinen Äther in der Welt herantreten, dann sind Sie so, wie wenn Sie im Meere schwimmen würden: Überall ist nur der Äther. Er gibt kein Bild; aber er gibt in dem Momente ein Bild, wo ich nur die Kreide erhebe: da er­scheint im Ätherischen ein Bild, wo mein dritter Mensch seine Kraft entwickelt.

Stellen Sie sich dieses Bild vor: Die Kreide liegt da zunächst, meine Hand ergreift die Kreide, hebt sie auf. Das Ganze kann ich

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ja meinetwillen nachbilden in Augenblicksaufnahmen. Das, was sich da entwickelt, das hat im Äther ein Gegenbild. Aber dieses Gegenbild im Äther wird erst in dem Momente gesehen, wo ich durch das leere Bewußtsein wahrnehmen kann, wo ich den dritten Menschen wahrnehmen kann, nicht den zweiten ätherischen Men­schen, sondern wo ich den dritten Menschen wahrnehmen kann. Das heißt, der allgemeine Weltenäther wirkt nicht als Äther, er wirkt so wie der dritte Mensch.

#Bild s. 39

Und ich kann sagen: Ich habe zunächst den physischen Leib (Oval), dann den ätherischen Leib, den ich wahrnehme durch das meditative Bewußtsein (gelb), dann den dritten Menschen, ich nenne ihn den astralischen Menschen (rötlich). Ringsherum überall habe ich aber dasjenige, was hier das zweite war in der Welt, den Weltenäther (gelb). Dieser Weltenäther, er ist zunächst wie ein unbestimmtes Äthermeer.

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Nun, in dem Moment, wo ich irgend etwas, was von meinem dritten Menschen kommt, in diesen Äther hineinstrahle, da antwor­tet er mir, wie wenn er gleich wäre meinem dritten Menschen; da antwortet er mir nicht ätherisch, da antwortet er mir astral. So daß ich überall im weiten Äthermeere durch meine eigene Tätigkeit etwas entfessele, was meinem eigenen dritten Menschen ähnlich ist.

Was ist denn das, was da sonst im Ätherischen als ein Gegenbild ist? Ich hebe die Kreide auf, meine Hand geht von unten nach oben. Das Ätherbild geht von oben nach unten. Es ist das richtige Gegen­bild. Es ist eigentlich ein astralisches Bild, aber es ist ein bloßes Bild. Aber dasjenige, durch das dieses Bild hervorgerufen wird, ist der heutige reale Mensch. Lerne ich nun durch dasjenige, was ich früher gesagt habe, zurückschauen in der Erdenentwickelung, lerne ich dasjenige, was kurz wiederholt wird auf die Art, wie ich es be­schrieben habe, anwenden auf die große Entwickelung, da stellt sich mir dann das Folgende heraus:

#Bild s. 40

Ich habe der heutigen Erdenzustand. (Siehe Zeichnung) Ich gehe zurück zu einer Äthererde. In der finde ich noch nicht dasjenige,

#SE234-041

was da durch mich entfessek wird im umliegenden Äther. Ich muß noch weiter zurückgehen und komme zu einem noch früheren Erden-zustand, in dem die Erde gleich meinem eigenen Astralleib war, in dem die Erde astralisch war, in dem die Erde ein Wesen war, wie mein dritter Mensch selber ist. Und dieses Wesen, ich muß es suchen in längst vergangenen Zeiten, in viel mehr vergangenen Zeiten, als diejenigen sind, in denen die Erde eine Äthererde war. Aber indem ich da weit zurückgehe in der Zeitenentwickelung, ist es ja wirklich nicht anders, ak wenn ich im Raume einen fernen Gegenstand sehe, meinetwillen ein Licht, das bis hierher leuchtet. (Es wird gezeich­net.) Es ist dort, es leuchtet bis hierher, entwickelt Bilder, geht bis hierher. Hier habe ich es verlassen; hier habe ich für den Raum nur die Zeit. - Dasjenige, was meinem eigenen Astralleib gleich ist, war in uralten Zeiten vorhanden, aber es ist immer noch da. Die Zeit hat nicht aufgehört zu sein, sie ist noch da. Und wie im Raume das Licht bis hierher leuchtet, so wirkt dasjenige, was in einer längst vergangenen Zeit liegt, in die heutige Gegenwart herein. Es ist also im Grunde genommen die ganze Zeitentwickelung noch da. Es ist nicht verschwunden was einmal da war, wenn es so etwas ist, wie dasjenige, was im äußeren Äther meinem eigenen astralischen Leibe ähnlich ist.

Ich komme da also zu etwas, was im Geiste vorhanden ist und die Zeit zum Raume macht. Und es ist ja nicht anders, ak wenn ich meinetwillen durch einen Telegraphen weithin korrespondiere; so korrespondiere ich, indem ich die Kreide aufhebe und ein Bild im Äther erzeuge, mit demjenigen, was für die äußere Anschauung längst vergangen ist.

Wir sehen, wie der Mensch in die Welt hineingestellt wird in einer ganz anderen Weise, als ihm das zunächst erscheint. Aber wir begreifen auch, warum fur den Menschen Welträtsel auftauchen Der Mensch fühlt in sich wenn er sich das auch nicht klarmacht -heute macht es ja nicht einmal die Wissenschaft sich klar -, der Mensch fühlt in sich, daß er ein Ätherisches hat, das die Speisen umwandelt und wiederum zurückverwandelt. Er findet das in den

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Steinen nicht, sondern die Steine waren in uralten Zeiten noch vor­handen als allgemeiner Äther. Aber in diesem allgemeinen Äther ist wirksam dasjenige, was noch weiter zurückliegt. Der Mensch trägt also eine uralte Vergangenheit schon, wie wir sehen, in zwei­facher Weise in sich: eine spätere Vergangenheit in seinem Äther-leib und eine noch weiter zurückreichende Vergangenheit in seinem Astrall eibe.

Wenn der Mensch sich heute der Natur gegenüberstellt, betrach­tet er eigentlich gewöhnlich nur das Leblose. Das Lebendige selbst in den Pflanzen betrachtet er ja nur dadurch, daß er die Substanzen und die Gesetze in den Substanzen, die er im Laboratorium erkun­det hat, dann auf die Pflanzen anwendet. Das Wachsen läßt er aus, er kümmert sich nicht um das Wachsen, um das Leben in den Pflan­zen. Die heutige Wissenschaft betrachtet ja schon die Pflanzen so wie einer, der ein Buch in die Hand nimmt und bloß die Buchstaben-formen anschaut und nicht liest. So betrachtet die heutige Wissen­schaft alle Dinge der Welt.

Ja, im Grunde genommen, wenn man so ein Buch aufschlägt und nicht lesen kann, müssen einem die Formen sehr rätselhaft erschei­nen. Man kann doch wirklich nicht begreifen, warum da eine Form ist, die just so ausschaut: b, a, dann eine solche:?, und eine solche: d

- bald. Was tut das nebeneinander? Es ist ja rätselhaft. Das ist ja ein Welträtsel. - Das, was ich Ihnen dargelegt habe als eine Be­trachtungsart, ist ein Lesenlernen in der Welt und im Menschen. Und durch das Lesenlernen kommt man allmählich der Lösung der Rätsel nahe.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, ich wollte Ihnen heute nur einen allgemeinen Gang des Menschensinnens geben, durch den man hin­ausgelangen kann aus dem verzweiflungsvollen Zustand, in dem der Mensch sich befindet, und den ich Ihnen gestern geschildert habe. Wir werden aufsteigend betrachten, wie man im Lesen der Erschei­nungen draußen in der Welt und im Lesen der Erscheinungen im Menschen immer weiter und weiter dringen kann.

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Damit aber macht man ja schließlich Gedankengänge durch, die dem heutigen Menschen ganz ungewohnt sind. Und was ist das Gewöhnliche? Das Gewöhnliche ist, daß nun die Menschen sagen:

das verstehe ich nicht. Aber was heißt denn das: das verstehe ich nicht? Das heißt ja nichts anderes als: es stimmt mit demjenigen, was mir in der Schule beigebracht worden ist, nicht überein, und ich bin gewöhnt worden, so zu denken, wie ich in der Schule angeleitet worden bin. Aber die Schule baut doch auf der richtigen Wissenschaft auf. Ja, aber diese richtige Wissenschaft! Wer ein bißchen alt geworden ist wie ich, hat mancherlei da mit­erlebt. So erlebte man zum Beispiel, daß für jenen Prozeß, den ich hier ja auch heute angedeutet habe, Aufnahme von Nahrungsmit­teln, Verwandlung von Nahrungsmitteln im menschlichen Orga­nismus, verschiedenerlei notwendig ist. Man zählt auf: Eiweißstoffe, Zucker und Stärkeprodukte, Fette, Wasser und Salze, das ist für den Menschen notwendig. Nun experimentiert man.

Wenn man so etwa zwanzig Jahre zurückgeht, da haben die Ex­perimente ergeben, daß der Mensch im Tag mindestens 120 Gramm Eiweiß zu sich nehmen müsse, sonst könne er nicht leben. Das war vor zwanzig Jahren Wissenschaft. Was ist heute Wissenschaft? Heute ist Wissenschaft, daß man mit 20-50 Gramm ausreicht. Das ist heute Wissenschaft. Dazumal war es Wissenschaft, daß man, wenn man die 120 Gramm nicht hat, ein kranker Mensch wird, unterernährt wird. Heute ist Wissenschaft, daß es nicht zuträglich ist, mehr als höchstens 50 Gramm zu haben, man reicht aber auch mit 20 aus. Und wenn man mehr genießt, so bilden sich im Darm faulige Substanzen, die den Körper mit einer Art von Selbstvergif­tung behandeln. Es ist also schädlich, mehr als 50 Gramm Eiweiß aufzunehmen. Das ist heute Wissenschaft.

Aber das ist ja nicht nur Wissenschaft, das ist zu gleicher Zeit Leben. Denn denken Sie sich nur einmal, vor zwanzig Jahren, als es wissenschaftlich war, daß man mindestens 120 Gramm Eiweiß haben muß, wurde den Menschen gesagt: Ihr müßt halt solche Nahrungsmittel

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zu euch nehmen, wobei ihr 120 Gramm Eiweiß in euch be­kommt. - Man müßte dann bei dem Menschen auch voraussetzen, daß er das alles bezahlen kann. Das geht in die Nationalökonomie hinein. Man hat sorgfältig dazumal beschrieben, wie es unmöglich ist, durch Pflanzenkost zum Beispiel diese 120 Gramm Eiweiß auf-zunehmen. Heute weiß man, daß die nötige Eiweißmenge bei jeder Nahrung in den Menschen kommt; denn wenn er einfach genügend Kartoffeln ißt, er braucht nicht einmal viel zu essen, wenn er Kar­toffeln ißt mit etwas Butter, so gibt das die nötige Menge Eiweiß-stoff. Es ist heute ganz absolut wissenschaftlich sicher, daß das so ist. Und dabei ist die Sache noch so: Wenn der Mensch sich anfüllt mit den 120 Gramm Eiweiß, wird sein Appetit höchst unsicher. Wenn er aber bei einer Nahrung bleibt, die ihm die 20 Gramm Eiweiß liefert, und es passiert ihm wirklich einmal, daß er eine Nah­rung zu sich nimmt, die nicht die 20 Gramm hat, durch die er also unterernährt würde, so schmeckt es ihm nicht mehr. Sein Instinkt wird wiederum sicher. Nun ja, dabei gibt es natürlich immer noch unterernährte Menschen. Das kommt von anderen Dingen, das kommt dann jedenfalls nicht von zu geringem Eiweiß. Aber es gibt ganz sicher zahllose Menschen, die, weil sie mit Eiweiß sich über-füttern, Selbstvergiftungen durchmachen und allerlei andere Dinge. Ich will jetzt nicht sprechen über die Natur der Infektionskrank­heiten, aber am leichtesten ist der Mensch zugänglich für die soge­nannte Infektion, wenn er 120 Gramm Eiweiß zu sich nimmt. Da kriegt er am leichtesten Diphtherie oder selbst Pocken. Wenn er nur 20 Gramm zu sich nimmt, wird er sehr schwer angesteckt.

Es war also einmal wissenschaftlich: Man braucht soviel Eiweiß, daß man sich damit selbst vergiftet und daß man sich jeder mög­lichen Ansteckung dadurch aussetzt. Das war vor zwanzig Jahren Wissenschaft! Ja, sehen Sie, was man so denkt, das liegt in der Richtung des Wissenschaftlichen; aber wenn man anschaut, was in ganz wich­tigen Dingen vor ganz kurzer Zeit wissenschaftlich war und was

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heute wissenschaftlich ist, dann kommt man doch zu einer wesent­lichen Erschütterung dieses Wissenschaftlichen.

Das ist etwas, was man auch als ein Gefühl aufnehmen muß, wenn jetzt etwas auftritt wie die Anthroposophie, die das Denken, das ganze Sinnen des Menschen, die ganze Seelenverfassung eben in eine andere Richtung bringt, als diejenige ist, die nun eben gang und gäbe ist. Ich wollte also nur sozusagen auf etwas hinweisen, was zunächst wie eine Anleitung erscheint, in ein anderes Sinnen und in ein anderes Denken hineinzukommen.

DRITTER VORTRAG 27. Januar 1924 Der Übergang vom gewöhnlichen Wissen zur Initiationserkenntnis

#G234-1959-SE046 Anthroposophie

#TI

DRITTER VORTRAG

27. Januar 1924

Der Übergang vom gewöhnlichen Wissen zur Initiationserkenntnis

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Heute möchte ich noch einen der Vorträge halten, in dem ich hin-weisen möchte von einem gewissen Gesichtspunkte aus auf die Be­ziehung des exoterischen Lebens zu dem esoterischen Leben, ich könnte auch sagen, auf den Übergang vom gewöhnlichen Wissen zu der Initiationserkenntnis, wobei das durchaus gilt, was ich ja bei der Beschreibung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, in dem Mitteilungsblatt für Mitglieder, schon vorgebracht habe: daß nämlich alles, was Initiationswissenschaft ist, wenn es in die entsprechenden Ideen gebracht wird, durchaus von jedem Menschen, der nur vorurteilslos genug ist, eingesehen werden kann. So daß man nicht sagen kann, man müsse erst selber der Initiation teilhaftig werden, um dasjenige zu durchschauen, was von seiten der Initia­tionswissenschaft gesagt werden kann. Aber ich möchte heute die Beziehung desjenigen, was als Anthroposophie auftritt, zu dem, was ihre Quelle, die Quelle der Anthroposophie, die eigentliche Initia­tionswissenschaft ist, das möchte ich heute einmal erörtern, und dann werden die drei Vorträge, die ich nun mit dem heutigen zu­sammen zu halten habe, eine Art Einleitung bilden zu dem, was nun das nächste Mal kommen wird als Vorträge in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft: die Gliederung des Menschen nach physischem Leib, Ätherleib und so weiter.

Wenn wir uns das heutige Bewußtsein des Menschen ansehen, so müssen wir sagen: Er steht auf der Erde da, schaut in die Weiten des Kosmos hinaus, ohne bei sich zu fühlen eine Beziehung desjenigen,

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was ihn auf der Erde umgibt, und seiner selbst zu diesen Weiten des Kosmos. Denn man nehme nur einmal, wie abstrakt be­schrieben wird, was Sonne ist, von all denjenigen, die heute An­spruch darauf machen, gültige Erkenntnis zu vertreten. Man nehme, wie alles das beschrieben wird von den gleichen Menschen, was Mond ist, wie wenig eigentlich daran gedacht wird, ob denn, ab­gesehen davon, daß einem die Sonne im Sommer warm macht, im Winter einen kalt läßt, daß der Mond ein beliebter Genosse von Liebenden ist in gewissen Verhältnissen, ob abgesehen davon an die Beziehung des Menschen, der auf der Erde hier wandelt, zu den Weltenkörpern gedacht wird.

Und dennoch, man braucht, um diese Beziehungen zu erkennen, nur ein wenig jenen Blick in sich zu entwickeln, von dem ich Ihnen in der vorletzten Stunde hier sprach, den Blick für das, was Men­schen einmal gewußt haben, Menschen, die näher standen der großen Welt als die heutigen Menschen, Menschen, die ein naives Bewußtsein gehabt haben, mehr einen Erkerintrisinstinkt gehabt haben als eine verstandesmäßige Erkenntnis, die aber dennoch zu sinnen wußten über die Beziehung der einzelnen Gestirne zum We­sen und Leben des Menschen.

Nun, diese Beziehung des Mensthen zu den Gestirnen und damit zu dem ganzen Weltenall, muß wiederum in das Bewußtsein der Menschen hinein. Und sie wird hineinkommen, wenn Anthropo­sophie in der richtigen Weise gepflegt wird.

Der Mensch vermeint heute, sein Schicksal, sein Karma hier auf der Erde zu haben; er blickt nicht nach den Sternen hinauf, um in ihnen Andeutungen für dasjenige zu finden, was Menschengeschick ist. Anthroposophie soll eben den Anteil des Menschen an der über-sinnlichen Welt ins Auge fassen. Aber alles, was den Menschen zunächst umgibt, gehört ja eigentlich nur zu seinem physischen Leib und höchstens zu seinem Ätherleib. Und wenn wir noch so weit hinausschauen in die Sternenwelten, wir sehen die Sterne durch ihr Licht. Licht ist eine Äthererscheinung. Alles was wir in der Welt

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wahrnehmen durch das Licht, ist eine Äthererscheinung. So daß wit noch so weit hinausblicken können im Weltenall, über das Äthe­rische kommen wir, indem wir einfach den Blick herumschweifen lassen, nicht hinaus.

Aber das menschliche Wesen geht ins Übersinnliche. Der Mensch trägt sein übersinnliches Wesen aus dem vorirdischen Dasein in das irdische herein, und er trägt es nach dem Tode wiederum hinaus, dieses übersinnliche Wesen, sowohl aus dem physischen, wie aus dem ätherischen Wesen.

Im Grunde genommen ist nichts von den Welten, die der Mensch betreten hat, bevor er auf die Erde herabgestiegen ist, die er betreten wird, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen sein wird, es ist nichts von diesen Welten im weiten Umkreise, der um uns herum auf der Erde oder im Kosmos draußen ist.

Aber zwei Tore sind, die hinausführen aus der Welt des Phy­sischen und aus der Welt des Ätherischen in das Übersinnliche hin­ein. Das eine Tor ist der Mond, das andere Tor ist die Sonne. Und wir verstehen Mond und Sonne nur im rechten Sinne, wenn wir uns be­wußt werden, daß sie Tore sind zur übersinnlichen Welt, Tore zur übersinnlichen Welt, die sehr viel zu tun haben mit dem, was der Mensch als sein Schicksal hier auf der Erde erlebt.

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus zunächst einmal das Mondendasein. Der Physiker weiß nichts über dieses Monden­dasein, als daß durch den Mond das zurückgeworfene Sonnenlicht erscheint. Er weiß: Mondenlicht ist ein zurückgeworfenes Sonnen­licht. Aber dabei bleibt er stehen. Er berücksichtigt nicht, daß das­jenige, was als solcher Weltenkörper vor unserem physischen Auge als Mond sichtbar wird, einmal verbunden war mit unserem Erden-dasein.

Der Mond war einmal eingegliedert in das Erdendasein; er war ein Stück Erde. Er hat sich in Urzeiten von der Erde losgetrennt und wurde ein eigener Weltenkörper draußen im Himmelsraume. Aber nicht nur das, daß er ein eigener Weltenkörper im Himmelsraume

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wurde, was zuletzt ja doch auch als eine physische Tatsache aus­gelegt werden kann, ist der Fall, sondern noch etwas wesentlich anderes.

Wer mit vollem Ernste zurückgeht in der Betrachtung der Menschheitszivilisation und Menschheitskultur, der findet,wie in alten Zeiten über die Erde eine Urweisheit verbreitet war, eine Urweisheit, von der eigentlich vieles abstammtvon dem, was noch in unsere Zeiten hereinragt und eigentlich viel gescheiter ist als dasjenige, was heute durch die Wissenschaft erkundet werden kann. Und wer sich von die­sem Gesichtspunkte aus zum Beispiel einmal die Veden Indiens oder die Yogaphilosophie betrachtet, der wird vor allen Dingen eine tiefe Ehrfurcht bekommen vor dem, was ihm da mehr in dichterischer Form, in einer heute ungewohnten Form entgegentritt, was aber noch eigentlich um so mehr Ehrfurcht einflößen muß, je mehr er sich darein vertieft. Und wenn man nicht mit der heutigen trockenen nüchternen Art an diese Dinge herantritt, sondern wenn man sie in all ihrer innerlich aufrüttelnden und doch tiefen Weise auf sich wirken läßt, dann kommt man eben dazu, auch aus äußeren Doku­menten es begreiflich zu finden, wenn Geisteswissenschaft, Anthro­posophie, sagen muß aus ihren Erkenntnissen heraus: Es hat einmal eine, wenn auch nicht in Form des Verstandes auftretende, sondern mehr in dichterischer Form über unsere Erde sich ausbreitende Urweisheit gegeben.

Aber der gegenwärtige Mensch ist ja durch seinen physischen Leib darauf angewiesen, dasjenige, was ihm an Weisheit entgegen­tritt, immerhin so zu begreifen, daß das Werkzeug dieses Begreifens das Gehirn ist. Dieses Gehirn als Werkzeug des Begreifens hat sich erst im Laufe langer Zeiten entwickelt. In der Zeit, als die Urweis­heit auf Erden war, war ein heutiges Gehirn nicht vorhanden. Die Weisheit war dazumal Geschöpfen eigen, die nicht in einem phy­sischen Leib lebten.

Es gab einmal Genossen der Menschen auf der Erde, die nicht in einem physischen Leib lebten. Und das waren die großen Urlehter

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der Menschheit, die von der Erde verschwunden sind. Nicht nur daß der physische Mond in den Weltenraum hinausgegangen ist, diese Wesenheiten sind mit dem Monde in das Weltenall hinausgegan­gen. So daß derjenige, der mit wirklicher Einsicht nach dem Monde hinsieht, sich sagt: Da droben ist eine Welt, welche Wesen in sich hat, die einmal hier auf Erden unter uns lebten, uns gelehrt haben in unseren früheren Erdenleben, und die sich jetzt nach der Monden­kolonie zurückgezogen haben. - Nur dann, wenn man in dieser Art die Dinge betrachtet, kommt man auf die Wahrheit.

Nun, der Mensch innerhalb seines physischen Leibes kann heute eigentlich nur - wenn ich so sagen darf - in ganz schwachem Aufguß dasjenige betrachten, was einmal Urweisheit war. Er besaß etwas von dieser Urweisheit in uralten Zeiten, wo eben diese Urweis­heitslehrer die Lehrer der Menschen waren. Da nahm er auf mit sei­nem Instinkt, nicht mit dem Verstande, diese Urweisheit auf den­jenigen Wegen, durch die höhere Wesenheiten als solche, die in einem physischen Leibe sind, ihm sich offenbaren konnten.

Und so weist uns all dasjenige, was mit dem Monde zusammen-hängt, auf die menschliche Vergangenheit. Diese menschliche Ver­gangenheit ist für den heutigen Menschen abgestreift. Er hat sie nicht mehr. Aber er trägt sie doch in sich. Und während wir zwi­schen unserer Geburt und unserem Tode mit jenen Wesenheiten, von denen ich eben gesprochen habe, die einstmals Erdenwesen waren, jetzt Mondenwesen geworden sind, während wir in unserem heutigen Zustande zwischen Geburt und Tod mit diesen Wesen­heiten nicht eigentlich uns begegnen, begegnen wir ihnen sehr wohl im vorirdischen Dasein, in dem Dasein zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Und dasjenige, was wir in uns tragen und was uns immer weist über unsere Geburt hinaus in ein früheres Dasein, was herauftönt aus unserem Unterbewußtsein, nicht zur vollen ver­standesmäßigen Klarheit kommt, was daher vielfach mit Gemüt und Gefühl des Menschen zu tun hat, das weist nicht nur den Instinkt der Liebenden nach dem Mondenschein hin, sondern das weist gerade

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denjenigen nach dem Mondenschein hin, der auf diese unter­bewußten Impulse der menschlichen Natur einen Wert legen kann.

Dasjenige, was wir unbewußt in uns tragen, das weist uns nach dem Monde hin. Und ein Zeugnis dafür mag uns schon das sein, daß eben der Mond einmal mit der Erde vereinigt war, und die Wesen, die ihn bewohnen, auch einmal mit der Erde vereinigt wa­ren. In dieser Art ist der Mond ein Tor zum Übersinnlichen. Und wer ihn richtig studiert, der wird auch aus seiner äußeren physischen Beschaffenheit einen Anhaltspunkt dafür gewinnen, daß er ein Tor zum Übersinnlichen ist.

Denn versuchen Sie nur einmal, sich die Art zu vergegenwartigen, in der der Mond mit seinen Bergen und so weiter beschrieben wird. All das weist Sie darauf hin, daß diese Berge, diese ganze Monden­konfiguration so nicht sein können, wie sie auf der Erde sind. Es wird ja immer betont, daß der Mond keine Luft, kein Wasser hat zum Beispiel. Es ist anders. Es ist eben so mit der Mondenkonfigura­tion, daß sie ist, wie die Erdenkonfiguration einmal war, ehe sie ganz mineralisch geworden ist.

Ich führe Ihnen das heute aphoristisch an. Ich müßte eine ganze Anzahl meiner Bücher vorlesen, müßte manches aus Zyklen vor­lesen, wenn ich das zusammenfassen sollte als Ergebnis desjenigen, was hier schon entwickelt worden ist, was ich jetzt vorbringe. Aber ich will zunächst ja nur charakterisieren, einleitend, wie Anthropo­sophie vorgeht. Sie führt in der Art, wie ich es gezeigt habe, aus dem Physischen wiederum hinaus in das Geistige. Und naturgemäß denken lernt der Mensch durch Anthroposophie, während er ja heute gar nicht naturgemäß denken kann.

Sehen Sie, der Mensch weiß heute, daß die physische Substanz seines Leibes oftmals in seinem Erdenleben ausgewechselt wird. Wir schuppen fortwährend ab. Wir schneiden uns die Nägel. Aber so geht alles aus dem Inneren nach der Oberfläche, und schließlich ist dasjenige, was im Zentrum unseres Leibes ist, an der Oberfläche. Wir schuppen es ab. Und keiner von Ihnen, meine lieben Freunde,

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darf glauben, daß dasjenige, was von Fleisch und Blut, überhaupt von physischer Substanz heute hier auf diesem Stuhle sitzt, auch da gesessen hätte, wenn Sie vor zehn Jahren dagewesen wären. Das alles ist ausgetauscht. Was ist denn geblieben? Ihr Seelisch-Geistiges ist geblieben. Davon weiß man heute wenigstens, wenn man es auch nicht immer bedenkt, daß alle die Menschen, die heute hier auf ihren Stühlen sitzen, nicht dieselben Muskeln und dieselben Knochen gehabt hätten vor zehn oder zwanzig Jahren, wenn sie hier gesessen hätten.

Wenn die Leute nach dem Mond hinaufschauen, so haben sie so ungefähr das Bewußtsein: dasjenige, was die äußere physische Sub­stanz des Mondes ist, war vor Jahrmillionen schon so. Es war näm­lich ebensowenig so, wie der heutige physische Leib des Menschen vor zwanzig Jahren so war. Allerdings, die physischen Substanzen der Sterne tauschen sich nicht so schnell aus. Aber so lange brauchen sie nicht dazu, als die Physiker heute für die Sonne berechnen. Diese Rechnungen stimmen totsicher, aber sie sind falsch. Ich habe das früher schon öfter erwähnt. Sehen Sie, ich sagte, Sie können berech­nen, wie sich die innere Konfiguration Ihres Herzens zum Beispiel verändert, sagen wir, von Monat zu Monat. Nun rechnen Sie es aus durch drei Jahre hindurch. Und Sie rechnen dann ganz exakt, wie nun diese Konfiguration des Herzens vor 300 Jahren war, oder wie es in 300 Jahren sein wird. Sie kriegen sehr schöne Zahlen heraus. Die Rechnung ist absolut richtig. Rechnungen können ganz richtig sein - aber das Herz war ja noch nicht da vor 300 Jahren, wird auch nach 300 Jahren nicht da sein.

So rechnen aber heute die Geologen. Sie beobachten die Schichten der Erde, rechnen aus, wie sich diese Schichten im Laufe der Jahr­hunderte verändern, multiplizieren die Sache und sagen: Nun ja, vor 20 Millionen Jahren war es so! Es ist genau dieselbe Rechnung mit demselben Sinn - nur war alles das von der Erde vor 20 Millionen Jahren noch nicht da und wird nach 20 Millionen Jahren wieder nicht da sein.

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Aber ganz davon abgesehen: Geradeso wie der Mensch dem Stoff­wechsel unterliegt, so unterliegen alle Hirumelskörper dem Stoff­wechsel. Und wenn Sie hinaufsehen nach dem Monde: vor einer gewissen Anzahl von Jahrtausenden war die Substanz, die wir heute sehen, ebensowenig in dem Monde drinnen, wie Ihre Substanz vor zehn Jahren auf dem Stuhl gesessen hat. Dasjenige, was den Mond erhält, das sind die Wesenheiten, das ist das Geistig-Seelische in ihm; geradeso wie das Geistig-Seelische in Ihnen das ist, was Sie erhält.

Und erst, wenn wir wissen, daß einmal der physische Mond hin­ausgegangen ist in den Weltenraum! - Aber dasjenige, was da physisch hinausgegangen ist, das wechselt fortwährend seine Sub­stanz, diejenigen Wesenheiten aber, die den Mond bewohnen, sie bleiben auf ihm, die sind das Bleibende, ganz abgesehen nun von ihrem Wandel auch durch wiederholte Mondenleben und so weiter; aber darauf wollen wir heute nicht eingehen.

Wenn man den Mond derart betrachtet, so bekommt man schon eine Art Wissenschaft vom Monde, die sich nicht nur in den Kopf, die sich in das Herz des Menschen einschreibt. Man bekommt eine Beziehung zu dem geistigen Kosmos, betrachtet den Mond als das eine der Tore zu dem geistigen Kosmos. Alles was in den Tiefen unseres Wesens drunten vorhanden ist, nicht nur die unbestimmten Liebesgefühle, um es nochmals zu erwähnen, sondern alles was in den unterbewußten Tiefen der Seele vorhanden ist, was das Ergebnis ist früherer Erdenleben, hängt mit dem Mondendasein zusammen. Mit demjenigen, was unser gegenwärtiges Dasein ist, mit dem ent­reißen wir uns dem Mondendasein. Fortwährend entreißen wir uns dem Mondendasein. Wenn wir durch unsere Sinne nach außen sehen oder hören, wenn wir mit unserem Verstande denken, wenn wir also dasjenige, was nicht aus den Tiefen des Seelenlebens herauf-kommt und was wir deutlich als ein Vergangenes, das in uns wir­kend war, erkennen, wenn wir nicht das betrachten, sondern wenn wir betrachten, was uns immer wieder in die Gegenwart hereinreißt,

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dann werden wir ebenso an das Sonnendasein gewiesen, wie wir durch das Vergangene an das Mondendasein gewiesen werden. Nur daß die Sonne auf uns wirkt auf dem Umwege durch den phy­sischen Menschenleib. Wenn wir uns selbständig durch unsere Will­kür dasjenige aneignen wollen, was uns die Sonne gibt, so müssen wir eben diese Willkür, diesen Verstand in Erregung bringen. Und mit dem, was wir Menschen heute durch unseren regsamen Ver­stand einsehen, durch unsere Vernunft, kommen wir lange nicht so weit, als wir instinktiv dadurch kommen, daß einfach eine Sonne im Weltenall ist.

Ein jeder weiß, oder kann es wenigstens wissen, daß die Sonne nicht nur uns jeden Morgen aufweckt, um uns aus der Finsternis zum Licht zu rufen, sondern daß die Sonne in ihm Quell der Wachs­tumskräfte ist, aber auch Quell der seelischen Wachsturnskräfte.

Dasjenige, was in diesen seelischen Kräften aus der Vergangenheit herüberwirkt, hängt mit dem Monde zusammen, dasjenige, was in der Gegenwart wirkt, aber wozu wir uns eigentlich durch unsere Willkür erst entwickeln werden in der Zukunft, das hängt von der Sonne ab.

Ebenso wie der Mond auf unsere Vergangenheit weist, so weist uns die Sonne auf die Zukunft. Und wir blicken hinauf zu den bei­den Gestirnen, zu dem des Tages, zu dem der Nacht, und blicken oben auf die Verwandtschaft dieser beiden Gestirne, denn sie sen­den uns beide dasselbe Licht. Und wir blicken in uns, blicken auf all dasjenige, was in unser Schicksal einverwoben ist durch das, was wir in der Vergangenheit durchgemacht haben als Menschen und er­blicken in diesem in unser Schicksal als Vergangenes Einverwobenes unser inneres Mondendasein. Und wir erblicken in dem, was im­merzu als Schicksal bestimmend herantritt in der Gegenwart, das Sonnenhafte, nicht nur dasjenige, was in der Gegenwart wirkt, son­dern was in die Zukunft hineinwirkt. Und wir sehen, wie sich Ver­gangenes und Zukünftiges im Menschenschicksal ineinanderwebt.

Und wir können im Menschenleben dieses näher betrachten, wie also Vergangenes und Zukünftiges zusammenhängt. Nehmen wir

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an, zwei Menschen finden sich zu irgendeiner Lebensgemeinschaft in einem gewissen Lebensalter. Wer nicht nachdenkt über so etwas, wer nicht nachsinnt, nun, der sagt: Da war ich, da war der andere, da war der Ort, zum Beispiel Müllheim, und in Müllheim haben wir uns gefunden. Er denkt nicht weiter darüber nach.

Derjenige, der tiefer nachdenkt, verfolgt das Leben des einen, der vielleicht 30 Jahre alt geworden ist, das des anderen, der vielleicht 25 Jahre alt geworden ist, als sie sich gefunden haben. Er wird sehen können, wie merkwürdig, wie wunderbar das Leben dieser beiden Menschen von ihrer Geburt auf Erden an, Schritt für Schritt sich so entwickelt hat, daß sie zuletzt an diesem Ort sich zusammen­gefunden haben. Man kann schon sagen: Von den entferntesten Orten finden sich die Leute dann irgendwo einmal in der Mitte des Lebens zusammen. Und es ist so, als ob sie alle ihre Wege so ange­ordnet hätten, daß sie sich zusammenfinden.

Aber das alles können sie ja nicht mit Bewußtsein voneinander gemacht haben, denn sie hatten sich noch gar nicht gesehen, oder wenigstens nicht so beurteilt, daß sie in einer solchen Weise sich finden. Das alles verläuft im Unbewußten. Wir machen die Wege zu wichtigen Lebensabschnitten, zu wichtigen Lebenspunkten im tiefsten Unbewußten. Und aus diesem Unbewußten heraus wird das Schicksal zunächst gewoben.

Wenn wir dann solch einen Menschen hören wie Goethes Freund Knebel, der im höchsten Alter gesagt hat: Schaue ich zurück in mein Leben, so kommt es mir vor, als ob jeder Schritt derart angeordnet gewesen wäre, daß ich an einem bestimmten Punkte zuletzt ankom­men mußte - so fangen wir an, solche lebenserfahrenen Leute zu verstehen.

Dann aber tritt der Moment ein, wo dasjenige, was nun zwischen diesen Menschen sich abspielt, in vollem Bewußtsein sich abspielt. Sie lernen sich kennen, sie lernen ihre Eigenschaften, Tempera­mente, Charaktere kennen, sie finden Sympathien oder Antipathien miteinander und so weiter.

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Prüfen wir nun, wie das mit dem Weltenall zusammenhängt, so finden wir: Dasjenige, was Mondenkräfte sind, war wirksam in den Wegen, die die Menschen genommen haben bis zu dem Momente, wo sie sich gefunden haben. Dann beginnt die Sonnenwirkung. Da treten sie gewissermaßen in das helle Licht der Sonnenwirkung ein. Da sind sie mit ihrem eigenen Bewußtsein immer dabei und da be­ginnt Zukunft die Vergangenheit zu beleuchten, wie draußen im Weltenall die Sonne den Mond beleuchtet. Und indem die Zukunft die Vergangenheit beleuchtet, erhellt wiederum die Vergangenheit die Zukunft des Menschen, wie der Mond die Erde mlt zurückgeworfe­nem Lichte beleuchtet.

Nun frägt es sich aber, ob wir im Leben auch unterscheiden kön­nen zwischen den Dingen, die sonnenhaft im Menschen sind, und denen, die mondenhaft im Menschen sind. Schon das Gefühl kann manches doch unterscheiden, wenn man es tiefer und nicht ober­flächlich nimmt. Schon in der Kindheit, schon in der Jugend des Menschen begegnet dieser anderen Menschen, die nur in ein äußeres Verhältnis zu ihm treten, an denen er vorübergeht, die an ihm vorübergehen, vielleicht aber trotzdem recht viel mit ihm zu tun haben. Sie alle waren in der Schule; der geringste Teil von Ihnen kann sagen, daß er Lehrer gehabt hat, zu denen er tiefere Be­ziehungen gehabt hat; aber es wird immerhin den einen oder den anderen geben, der sich sagen wird: 0 ja, da war ein Lehrer, der hat auf mich einen solchen Eindruck gemacht, daß ich habe werden wollen wie er; oder auch, er hat auf mich einen solchen Eindruck gemacht, daß ich ihn am liebsten von der Erde wegwühschte. Es kann Antipathie sein, es kann Sympathie sein.

Und auch im späteren Leben tritt das so ein. Wir finden andere Menschen. Sie beschäftigen sozusagen unseren Verstand nur, höch­stens den ästhetischen Sinn. Denken Sie nur, wie oft kommt es vor, daß jemand einen anderen Menschen kennengelernt hat; trifft er dann da oder dort Menschen, die den auch kennen, so verständigt man sich miteinander, indem man ihn für einen Prachtkerl oder

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einen ekelhaften Kerl erklärt. Es ist ein ästhetisches Urteil, oder aber es ist ein verstandesmäßiges Urteil. Es gibt aber anderes. Es gibt menschliche Beziehungen, die nicht bloß im Verstande oder im ästhetischen Urteil sich erschöpfen, sondern die auf den Willen gehen, und zwar sehr stark auf den Willen gehen, wo wir nicht bloß in der Kindheit sagen, wir möchten so werden wie dieser, oder wir möchten ihn wegwünschen von der Erde - wenn ich die radikalen Dinge anführe -, sondern wo wir im tiefsten Unterbewußten in unserem Willen berührt werden, wo wir sagen: Der Mensch, der uns da begegnet, ist nicht nur von uns angeschaut worden so, daß wir ihn gut oder böse, gescheit oder töricht finden und dergleichen mehr, sondern wir möchten gerne das tun aus uns heraus, was sein Wille will, und wir möchten gar nicht den Verstand anstrengen, um ihn zu beurteilen; wir möchten all das, was er als Eindruck auf uns gemacht hat, in unsern Willen aufnehmen.

Es gibt diese zwei Verhältnisse zu den Menschen. Die einen wir­ken auf unseren Verstand oder hochstens auf den ästhetischen Sinn, die anderen wirken auf unseren Willen, in unsere tiefere seelische Wesenheit hinein. Wofür ist das ein Zeugnis? Sehen Sie, wirken Menschen auf unseren Willen, fassen wir nicht nur eine starke Anti­pathie oder Sympathie, sondern möchten wir willentlich das, was wir als Sympathie und Antipathie empfinden, ausleben, dann waren diese Menschen mit uns im vorigen Erdenleben irgendwie verbun­den. Machen die Menschen nur einen Eindruck auf unseren Ver­stand oder ästhetischen Sinn, dann treten sie in unser Leben herein, ohne mit uns im vorigen Erdenleben verbunden gewesen zu sein.

Aber schon daraus sehen Sie: Im Menschenleben, im menschlichen Schicksal namentlich, wirken zusammen Vergangenheit und Gegen­wart in die Zukunft hinein. Denn dasjenige, was wir nun mit den Menschen erleben, trotzdem sie nicht in unseren Willen hinein-sprechen, das wird im folgenden, im zukünftigen Erdenleben wie­derum zum Ausdruck kommen.

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So wie in derselben Bahn Sonne und Mond kreisen, miteinander eine Beziehung haben, so haben im Menschenwesen Vergangen­heit - Menschen-Mondenhaftes - und Zukunft - Menschen­Sonnenhaftes - miteinander zu tun. Und wir können schon dazu kommen, zu Sonne und Mond hinauf zu schauen und in ihnen nicht nur die äußeren Lichtkörper zu sehen, sondern das, was uns in den Weiten des Kosmos draußen unser eigenes Schicksal in seinem In­einanderverwobenwerden abspiegelt. Wie das Mondenlicht in das Sonnenlicht, das Sonnenlicht in das Mondenlicht übergeht, so gehen in unsere Schicksale immer Vergangenheit und Zukunft ineinander über, verweben sich ineinander. Ja, im einzelnen Falle der Men­schenbeziehung verweben sie sich ineinander.

Nehmen wir die Wege, die die Menschen durchgemacht haben, der einedurch 30 Jahre, der andere durch 25 Jahre. Sie treffen sich. Alles, was sie durchgemacht haben, der eine bis zum 25. Jahre, der andere bis zum 30. Jahre, gehört dem Mondenhaften im Menschen an. Jetzt aber, indem sie sich kennen lernen, indem sie sich bewußt gegenübertreten, treten sie in das Schicksalmäßig-Sonnenhafte ein und verweben nun Zukunft und Vergangenheit miteinander, um wiederum weiter das Schicksal zu weben für künftige Erdenleben.

Und so sieht man an der Art und Weise, wie das Schicksalhafte an den Menschen herantritt, wie in dem einen Falle Mensch auf Mensch wirkt nur auf den Verstand, auf den ästhetischen Sinn, im anderen Falle aber auf den menschlichen Willen und das mit dem Willen verbundene Gefühl.

Sehen Sie, so weit, als ich Ihnen bisher die Dinge erzählt habe -wie gesagt, ich will heute nur aphoristisch erzählen, um Ihnen den Weg der Anthroposophie und den Weg ihrer Quelle, der Initiations­wissenschaft, darzulegen, wir werden es in der Zukunft in allen Einzelheiten genau machen -, so weit kann dieses durch unmittel­bare Erkenntnis von jedem erlebt werden. Und man kann erkennend auf das Schicksal hinblicken. Jenes eigentümliche, innere intime Herauftauchen des anderen Menschen in einem selbst weist auf vergangenes

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Karma hin. Wenn ich einen Menschen so empfinde, daß er eigentlich mich innerlich ergreift, nicht nur in den Sinnen und im Verstande, sondern innerlich erfaßt, daß mein Wille daran enga­giert ist, wie er mich erfaßt, ist er karmisch aus der Vergangenheit mit mir verknüpft. Mit einem etwas feineren, intimeren Sinne kann der Mensch also fühlen, wie ein anderer mit ihm karmisch ver­knüpft ist.

Wenn nun aber dasjenige eintritt, was als eine gewisse Stufe beim Menschen kommen kann, wenn er durchmacht, was ich beschrieben habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten ?» oder im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft», dann erlebt er die ganze Sache noch in wesentlich anderer Weise. Wenn also beim Menschen die Initiation eintritt, dann erlebt er nicht nur den anderen Menschen, mit dem er karmisch verknüpft war, in der Art, daß er sich sagt: er wirkt auf meinen Willen, er wirkt in meinem Willen -, sondern er erlebt den anderen Menschen tatsächlich per­sönlich in sich. Und tritt einer, der initiiert ist, einem anderen Men­schen, mit dem er karmisch verbunden ist, entgegen, dann ist dieser andere Mensch so in ihm mit einer selbständigen Sprache, mit selb­ständigen Äußerungen und Offenbarungen, daß er aus ihm spricht, wie sonst ein Mensch, der neben uns steht, zu uns spricht. Was also sonst nur gefühlt wird im Willen, die karmische Verbindung, die tritt für den Initiierten so auf, daß der andere Mensch aus ihm redet, wie sonst ein neben ihm stehender Mensch. So daß also für den mit Initiationswissenschaft Ausgestatteten das karmische Gegenübertreten bedeutet: der andere Mensch wirkt nicht nur auf seinen Wil­len, sondern er wirkt in ihm so stark, wie sonst ein neben ihm ste­hender Mensch wirkt.

Sie sehen, dasjenige, was sonst in einer unbestimmten, bloß wil­lens- und gemütshaften Weise sich ankündigt für das gewöhnliche Bewußtsein, das wird für das höhere Bewußtsein zur völligen Kon­kretheit erhoben. Sie werden sagen: Ja, dann geht aber derjenige, der initiiert ist, in sich mit dem Bündel all der Leute herum, mit

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denen er karmisch verbunden ist. - Es ist aber auch so. Erkenntnis erlangen beruht eben nicht bloß darauf, daß man etwas mehr reden lernt, als die andern Leute reden, aber geradeso redet wie diese, sondern es ist wirklich das Erwerben eines andern Stückes Welt.

Will man also reden darüber, wie Karma in den Menschen wirkt, so daß ihr gegenseitiges Schicksal gezimmert wird, so muß man die Bekräftigung seiner Rede hernehmen können von dem Wissen, wie die anderen Menschen in einem reden, wie sie wirklich zu einem Stück des eigenen Menschen werden.

Stellt man das aber dann dar, so braucht es für den, der nicht initiiert ist, nichts Jenseitiges zu bleiben, sondern er kann sich sagen und wird es sich bei gesunden Sinnen sagen: Gewiß, sprechen höre ich den, der mit mir karmisch verbunden ist, nicht in mir; aber ich fühle ihn. Ich fühle ihn in meinem Willen und in der Art und Weise, wie mein Wille aufgerüttelt wird durch ihn. Und man lernt verstehen diese Aufrüttelung des Willens. Man lernt dasjenige ver­stehen, was man im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt, und was man durch nichts anderes verstehen kann als dadurch, daß man es hört aus der Initiationswissenschaft schildern in seiner wahren konkreten Bedeutung.

Worauf es mir aber heute ganz besonders ankam, das ist dies, daß nun wirklich das, was sonst in einer gewissen nebulosen Art in das Bewußtsein eintritt, dieses Gefühl von karmischer Verknüpftheit mit dem anderen, für den Initiierten ein konkretes Erlebnis wird. Und so wie man das für das Karma, für das Schicksal des Menschen schildern kann, so kann man das schildern für alles dasjenige, was Initiationswissenschaft wirken kann.

Es kann noch manches andere dem Menschen ankündigen, wie er karmisch mit einem anderen verbunden ist. Einzelne von Ihnen werden wissen, wenn Sie das Leben betrachten: Man begegnet Men­schen im Leben, von denen man nicht träumt; man kann lange mit ihnen zusammenleben, man kann nicht von ihnen träumen. Anderen Menschen begegnet man - man kriegt sie aus dem Traume gar

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nicht wieder los. Kaum hat man sie gesehen, so träumt man schon in der nächsten Nacht von ihnen, und immer wieder und wiederum treten sie in den Träumen auf.

Träume sind dasjenige, was im Unterbewußten besonders figuriert. Menschen, von denen wir gleich träumen, wenn wir sie erleben, das sind sicher solche, mit denen wir karmisch verbun­den sind. Menschen, von denen wir nicht träumen können, machen nur einen oberflächlichen Eindruck auf unsere Sinne; wir begegnen ihnen im Leben, ohne daß wir karmisch mit ihnen verbunden sind.

Was in den Tiefen unseres Willens lebt, ist ja wie ein wacher Traum. Und für den Initiierten wird dieser wache Traum eben ein vollinhaltliches Bewußtsein. Daher hört er denjenigen, der karmisch mit ihm verbunden ist, aus sich sprechen. Selbstverständlich bleibt er immer vernünftig, so daß er nicht herumgeht und mit allen möglichen Leuten, die mit ihm sprechen, dann auch aus diesen als Initiierter spricht; aber er gewöhnt sich unter Umständen auch an, in ganz konkreter Weise, auch wenn er ihnen nicht räumlich gegen­übersteht, die Menschen, die mit ihm karmisch verbunden sind und aus ihm sprechen, wie im Zwiegespräch richtig anzusprechen, wobei durchaus Dinge zutage treten, die auch eine reale Bedeutung haben. Doch das sind Dinge, die ich dann in der Zukunft einmal schildern werde.

So kann man das Bewußtsein des Menschen vertiefen beim Hin­aufschauen in die Weiten des Kosmos, so kann man es vertiefen beim Hineinschauen in den Menschen. Und je mehr man in den Menschen selber hineinschaut, desto mehr lernt man dasjenige ver­stehen, was in den Weiten des Kosmos ist. Man sagt sich dann: Ich blicke nicht mehr in der Weise bloß in die Gestirnwelt hinein, daß ich da leuchtende Scheiben oder leuchtende Kugeln sehe, sondern es erscheint mir das, was im Kosmos draußen ist, als kosmisch gewo­benes Schicksal. Die menschlichen Schicksale auf der Erde sind dann die Abbilder der kosmisch gewobenen Schicksale. Und wenn man gründlich weiß, daß sich die Substanz in einem Weltenkörper ändert,

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austauscht, wie die Substanz des Menschen, dann wird man wissen, daß es gar keinen Sinn hat, von abstrakten Naturgesetzen bloß zu reden. Man darf die Naturgesetze nicht als etwas ansehen, was Erkenntnis gibt. Es ist damit geradeso wie bei Versicherungs-gesellschaften. Man versichert dort sein Leben. Wodurch können solche Versicherungsgesellschaften bestehen? Dadurch, daß man eines Menschen wahrscheinliche Lebensdauer ausrechnet. Aus der Anzahl derjenigen Menschen, die von so und so viel Fünfundzwan­zigjährigen das 30. Lebensjahr erreichen und so weiter, kann man dann ausrechnen, wie viele Jahre wahrscheinlich ein Dreißigjähriger noch lebt; danach versichert man ihn. Und man kommt gut durch mit der Versicherung. Das Versicherungsgesetz gilt. Aber keinem Menschen würde es einfallen, das mit seinem innersten Wesen nun in Einklang zu bringen. Sonst müßte er doch sagen: Ich bin dazumal mit 30 Jahren versichert wQrden, weil mein wahrscheinlicher Tod mit 55 Jahren eintritt. Er müßte sich sagen: Jetzt muß ich doch ster­ben mit 55 Jahren. Er wird niemals die Konsequenz daraus ziehen, trotzdem die Rechnung durchaus stimmt; aber die Konsequenz be­deutet gar nichts für das wirkliche Leben.

Naturgesetze sind auch nur errechnet. Sie sind gut dafür, daß wir sie technisch verwenden können; sie sind gut dazu, Maschinen machen zu können, wie wir die Menschen versichern können nach Versicherungsgesetzen; aber in das Wesen der Dinge führen sie nicht hinein. In das Wesen der Dinge führt nur das wirkliche Er­kennen der Wesenheiten selber hinein.

Was die Astronomen ausrechnen an Naturgesetzen des Himmels, das ist im Menschenleben wie die Versicherungsgesetze. Was eine wirkliche Initiationswissenschaft über das Wesen dessen, was da als Sonne und Mond ist, erkundet, das ist so, wie wenn ich denjenigen, der nach seiner Police lange gestorben sein müßte, nach zehn Jahren doch noch finde. Es lag in seinem Wesen, weiterzuleben.

Das wirkliche Geschehen hat im Grunde genommen gar nichts mit den Naturgesetzen zu tun. Die Naturgesetze sind gut für die

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Anwendung der Kräfte. Aber die Wesenheit muß durch Initiations­wissenschaft erkannt werden.

Nun, damit habe ich Ihnen den dritten der Vorträge gegeben, durch die ich eigentlich nur andeuten wollte, wie der Ton sein soll in der Anthroposophie. Wir werden nun beginnen, die Konstitution des Menschen in etwas anderer Weise zu schildern, als es in meiner «Theo sophie» geschehen ist, aufbauend eben eine anthroposophische Wissenschaft, eine anthroposophische Erkenntnis aus den Fundamen­ten heraus. Sehen Sie die drei Vorträge, die ich bisher gehalten habe, gewissermaßen als Probe an, wie anders als das gewöhnliche Bewußt­sein dasjenige Bewußtsein spricht, das in die wirkliche Wesenheit der Dinge hineinführt.

VIERTER VORTRAG 1. Februar 1924 Das erkraftete Denken und der zweite Alensch Das Atmungsweben und der Luftmensch

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VIERTER VORTRAG

1. Februar 1924

Das erkraftete Denken und der zweite Alensch

Das Atmungsweben und der Luftmensch

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Ich werde nun in den mehr elementarischen Betrachtungen, die ich in der letzten Zeit begonnen habe, heute nach einer gewissen Richtung hin fortfahren. Ich habe in dem ersten Vortrage dieser Serie darauf aufmerksam gemacht, wie von zwei Seiten her dem Menschen das wirklich innerliche Herzensbedürfnis erwächst, die Wege der Seele zur geistigen Welt hin zu finden, oder wenigstens zu suchen. Die eine Seite ist diejenige, die von der Natur her kommt, die andere Seite ist diejenige, die von der inneren Erfah­rung, von den inneren Erlebnissen her kommt.

Nun wollen wir uns heute doch noch einmal in ganz elementarer Weise diese beiden Seiten des menschlichen Lebens vor Augen stel­len, um dann zu sehen, wie tatsächlich im Unterbewußten Impulse wirken, die von da aus den Menschen in alles hineintreiben, was er an Erkenntnis anstrebt aus den Bedürfnissen seines Lebens heiaus, was er an Künstlerischem anstrebt, was er an Religiösem anstrebt und so weiter. Ich möchte sagen, Sie können ganz einfach den Ge­gensatz, den ich hier meine, an sich selbst in jedem Augenblicke betrachten.

Nehmen Sie eine ganz einfache Tatsache: Sie sehen sich selber in irgendeinem Teil Ihres Körpers einmal an. Sie sehen Ihre Hand an. Sie sehen Ihre Hand genau ebenso an, was zunächst das Anschauen, die Erkenntnis betrifft, wie Sie irgendeinen Kristall, irgendeine Pflanze, irgend etwas in der Natur anschauen.

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Indem Sie diesen Teil Ihres physischen Menschen sehen und mit der Anschauung durch das Leben gehen, finden Sie eben jenes, ich möchte sagen, in das ganze menschliche Erleben tragisch Ein­greifende, von dem ich gesprochen habe. Sie finden, das, was Sie da sehen, wird einmal Leichnam, wird zu etwas, von dem man sagen muß: Nimmt die äußere Natur es auf, so hat diese äußere Natur eben nicht die Fähigkeit, nicht die Macht, etwas anderes zu tun damit, als es zu zerstören. In dem Augenblicke, wo der Mensch in­nerhalb der physischen Welt Leichnam geworden ist und in irgend­einer Form dieser Leichnam den Elementen übergeben wird, ist keine Rede mehr davon, daß die menschliche Gestalt in all das Sub­stantielle, das Sie anschauen können an sich selbst, hineingegossen ist, das diese menschliche Gestalt erhalten kann.

Nehmen Sie alle Naturkräfte zusammen, die Sie zum Inhalte irgendwelcher äußeren Wissenschaft machen können - alle diese Naturkräfte sind einzig und allein imstande, den Menschen zu zer­stören, aufzubauen niemals. Jede vorurteilsfreie Betrachtung, die nicht aus der Theorie heraus, sondern aus den Erfahrungen des Lebens heraus geholt ist, führt dazu, sich zu sagen: Wir schauen um uns herum die Natur, die wir begreifen - wir wollen jetzt nicht von dem reden, was zunächst durch äußeres Erkennen nicht zu be­greifen ist -, wir schauen die Natur, insofern sie zu begreifen ist. Ja, wir sind als Menschheit in der neueren Zeit so stolz darauf ge­worden, das, was wir durch unsere Einsicht in die Natur erhalten, als die Summe der Naturgesetze anzusehen; wir fühlen uns ungemein vorgeschritten, indem wir so und so viele Naturgesetze kennen ge­lernt haben. Das Reden über den Fortschritt ist sogar durchaus be­rechtigt. Aber es ist doch einmal so, daß alle diese Naturgesetze in ihrer Wirkungsweise nur die eine Möglichkeit haben, den Menschen zu zerstören, ihn niemals zu bilden. Die menschliche Einsicht gibt ja zunächst keine Möglichkeit, etwas anderes durch das Hinausschauen in die Welt zu erhalten als diese den Menschen zerstörenden Natur­gesetze.

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Nun blicken wir in unser Inneres. Wir erleben, was wir unser Seelenleben nennen: unser Denken, das ja mit einer ziemlichen Klar­heit vor unserer Seele stehen kann; unser Fühlen, das schon weniger klar vor unserer Seele steht, und unser Wollen; nun, das steht mit voller Unklarheit vor der Seele. Denn zunächst kann kein Mensch mit dem gewöhnlichen Bewußtsein davon sprechen, daß er eine Ein­sicht darin hat, wie irgendeine Absicht, einen Gegenstand zu ergrei­fen, hinunterwirkt in diesen ganzen komplizierten Organismus von Muskeln und Nerven, um Arme und Beine zuletzt zu bewegen. Das­jenige, was da hineinarbeitet in unseren Organismus, vom Gedan­ken ausgehend bis zu dem Augenblick, wo wir wieder den Gegen­stand gehoben sehen, ist in völliges Dunkel gehüllt. Aber es wirkt ein unbestimmter Impuls in uns zurück, herauf, der uns sagt: ich will das. Dadurch schreiben wir uns auch das Wollen zu. Und so sagen wir von unserem Seelenleben, wenn wir in uns hineinschauen:

Nun ja, wir tragen in uns ein Denken, ein Fühlen, ein Wollen.

Aber nun kommt die andere Seite, die schon in einer gewissen Beziehüng wiederum ins Tragische hineinführt. Wir sehen, daß mit jedem Schlafe dieses ganze Seelenleben des Menschen versinkt und jedesmal beim Aufwachen neu entsteht. So daß, wenn wir einen Ver­gleich gebrauchen wollen, wir sehr gut sagen können: dieses Seelen-leben ist so wie eine Flamme, die ich anzünde und dann wieder aus-lösche.

Aber wir sehen mehr. Wir sehen, daß mit gewissen Zerstörungen in unserem Organismus dieses Seelenleben mit zerstört wird. Wir sehen außerdem dieses Seelenleben abhängig von der körperlichen Entwickelung dieses Organismus. Im kleinen Kinde ist es traumhaft vorhanden. Es wird allmählich heller und heller. Aber dieses Heller-werden hängt ja ganz mit der Entwickelung des körperlichen Orga­nismus zusammen. Und wenn man alt wird, wird es wiederum schwächer. Das Seelenleben hängt mit der Entwickelung und mit der Dekadenz des Organismus zusammen. Wir sehen also, wie das auf-flammt, abglimmt.

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So gewiß wir auch wissen: Das, was wir da als seelisches Leben haben, hat ganz gewiß ein Eigenleben, ein Eigendasein, aber es ist abhängig in seinen Erscheinungen von dem physischen Organismus, so ist das doch nicht alles, was wir über dieses Seelenleben sagen können. Sondern dieses Seelenleben hat einen Einschlag, der vor allen Dingen dem Menschen wertvoll sein muß im Leben, denn von diesem Einschlag hängt eigentlich sein ganzes Menschentum, seine menschliche Würde ab. Das ist der moralische Einschlag.

Wir können noch so weit in der Natur herumgehen, moralische Gesetze können wir aus der Natur nicht gewinnen. Die moralischen Gesetze müssen ganz innerhalb des Seelischen erlebt werden. Aber sie müssen auch innerhalb des Seelischen befolgt werden können. Es muß also eine Auseinandersetzung bloß im Innern des Seelischen sein. Und wir müssen es ansehen als eine Art Ideal des Moralischen, daß wir als Menschen auch Moralprinzipien folgen können, die uns nicht aufgedrängt sind. Solange wir sagen müssen: Das, was uns unsere Triebe, Instinkte, Leidenschaften, Emotionen und so weiter aufdrängen, ist in uns - gut, es muß der Mensch dies oder jenes verrichten; der Mensch kann nicht ein abstraktes Wesen werden, das bloß moralischen Gesetzen folgt. Aber das Moralische beginnt eben doch erst dann, wenn diese Emotionen, Triebe, Instinkte, Lei­denschaften, Temperamentsausbrüche und so weiter unter die Herrschaft dessen gebracht werden, was einer rein seelischen Aus­einandersetzung mit den rein geistig erfaßten moralischen Gesetzen entspricht.

In dem Augenblicke, wo wir uns unserer menschlichen Würde recht bewußt werden und fühlen, daß wir nicht sein können wie ein Wesen, das nur von der Notwendigkeit getrieben wird, erheben wir uns tatsächlich in eine Welt, die eine ganz andere ist als die natür­liche Welt.

Und was nun das Beunruhigende ist, was, solange eine mensch­liche Entwickelung besteht, immer dazu geführt hat, über das un­mittelbar sichtbare Leben hinauszustreben, das rührt eigentlich -

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so sehr dabei unterbewußte und unbewußte Momente mitspielen -von diesen Gesetzen her, daß wir uns auf der einen Seite anschauen als körperliches Wesen, aber dieses körperliche Wesen angehörig sehen einer Natur, die es nur zerstören kann; daß wir auf der ande­ren Seite uns innerlich erfahren als ein seelisches Wesen; dieses seelische Wesen aber, das glimmt auf, das glimmt ab, und ist doch mit unserem Wertvollsten verbunden, mit dem moralischen Ein­schlag.

Und es ist nur einer ganz tiefen Unehrlichkeit unserer Zivilisation zuzuschreiben, wenn die Menschen sich in einer furchtbaren Illusion einfach über das hinwegsetzen, was in diesem polarischen Gegen-satze zwischen dem Anschauen des Äußeren und dem Erfahren des Inneren besteht. Erfaßt man sich, ohne eingeengt zu sein in jene Fäden, in jene Maschen, in die wir hineingezwängt werden heute durch unsere Erziehung, dadurch, daß diese Erziehung nach einem ganz bestimmten Ziele hin tendiert - hebt man sich ein wenig über dieses Eingezwängtsein hinaus, dann kommt man doch gleich dazu, sich zu sagen: Du Mensch, du trägst in dir dein Seelenleben, dein Denken, dein Fühlen, dein Wollen. Das hängt zusammen mit der Welt, die dir vor allen Dingen wertvoll sein muß, mit der moralischen Welt, vielleicht mit dem, womit diese moralische Welt wieder zusammenhängt, mit dem religiösen Quell alles Seins. Aber das, was du als diese innerliche Auseinandersetzung hast, wo ist es denn, während du schläfst?

Man kann natürlich über diese Dinge philosophisch phantasieren oder phantastisch philosophieren. Dann kann man sagen: Der Mensch hat in seinem Ich, das heißt in dem gewöhnlichen Ich-Bewußtsein eine sichere Grundlage - das beginnt bei dem heiligen Augustinus so zu denken, das setzt sich fort über Cartesius, das gewinnt einen etwas koketten Ausdruck im Bergsonianismus der Gegenwart -, aber jeder Schlaf widerlegt das. Denn von dem Augenblicke, wo wir einschlafen, bis zu dem Augenblicke, wo wir aufwachen, ver-fließt eine Zeit für uns. Wenn wir auf sie zurückschauen im wachen

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Zustande, so ist das Ich eben nicht da als Erlebnis innerhalb dieser Zeit. Es ist ausgelöscht. Und was da ausgelöscht ist, hängt mit dem Wertvollsten, mit dem moralischen Einschlag in unserem Leben zusammen.

So daß wir sagen müssen: Dasjenige, wovon wir in brutaler Weise überzeugt sind, daß es da ist, unser Leib, der ist ganz gewiß aus der Natur heraus entstanden. Aber die Natur hat nur die Macht, ihn zu zerstören, auseinanderzustieben. Dasjenige, was wir auf der anderen Seite erfahren, unser eigenes Seelenleben, das entschlüpft uns in jedem Schlafe; das ist abhängig von jedem Aufstieg oder Abstieg unserer Leiblichkeit. Sobald man sich ein wenig erhebt über die Zwangslage, in die der heutige Zivilisationsmensch durch seine Erziehung versetzt ist, sieht man sofort ein, daß - mögen auch noch so viele unterbewußte, unbewußte Elemente da mitspielen -jedes religiöse, jedes künstlerische, überhaupt jedes höhere Streben der Menschen durch die ganze menschliche Entwickelung hindurch an diesen Gegensätzen hängt.

Gewiß, Millionen und aber Millionen von Menschen machen sich das nicht klar. Aber ist es denn nötig, daß sich der Mensch das, was für ihn zum Lebensrätsel wird, ganz klar macht? Wenn die Men­schen von dem, was sie sich klarmachen, leben sollten, so würden sie bald sterben. Der größte Teil des Lebens verfließt eben in dem, was aus unklaren, unterbewußten Tiefen in die allgemeine Lebens-stimmung herauffließt. Und wir dürfen nicht sagen, nur derjenige empfinde die Lebensrätsel, der sie in einer intellektuell klaren Weise formulieren kann und einem auf dem Präsentierteller bringt:

erstes Lebensrätsel, zweites Lebensrätsel und so weiter. Auf diese Menschen ist sogar das Allerwenigste zu geben. Dasjenige, was da wie tief unten sich bewegt, das sind die Lebensrätsel, die eben er­lebt werden. - Da kommt irgendein Mensch. Er hat das oder jenes, vielleicht etwas sehr Alltägliches zu sprechen; aber er spricht so, daß er mit der Aussicht, aus seinem Sprechen etwas zu erreichen für das Leben, durchaus nicht froh wird. Er will etwas, will's wieder

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nicht. Er kommt nicht zum Entschluß. Er fühlt sich nicht recht wohl bei dem, was er selber denkt. Ja, woher kommt das? Weil er keine Sicherheit hat in den unterbewußten Tiefen seines Wesens über die eigentliche Grundlage des Menschenwesens und der Menschen­würde. Er fühlt die Lebensrätsel. Und das, was er fühlt, kommt eben aus dem polarischen Gegensatz heraus, den ich charakterisiert habe: Daß man sich auf der einen Seite nicht halten kann an die Leiblichkeit, auf der anderen Seite nicht halten kann an die Geistig­keit, wie man sie erlebt; denn die Geistigkeit wird einem fortwäh­rend klar als ein Auf- und Abglimmendes, und die Leiblichkeit wird einem als dasjenige klar, was aus der Natur stammt, was aber von der Natur nur zerstört werden kann.

Und so steht der Mensch da. Auf der einen Seite schaut er nach außen hin seinen physischen Leib an. Sein physischer Leib gibt ihm fortwährend ein Rätsel auf. Auf der anderen Seite schaut er sein Seelisch-Geistiges an, und dieses Seelisch-Geistige gibt ihm fortwäh­rend ein Rätsel auf. Und dabei ist das größte Rätsel dieses: Wenn ich nun wirklich einen moralischen Impuls empfinde und muß meine Beine in Bewegung setzen, um irgend etwas zur Realisierung dieses moralischen Impulses zu tun, so komme ich in die Lage, mei­nen Körper aus dem moralischen Impuls heraus zu bewegen. Ich habe einen moralischen Impuls, sagen wir den Impuls eines Wohl­wollens. Er wird wirklich zunächst rein seelisch erlebt. Wie dieser Impuls des Wohlwollens, der rein seelisch erlebt wird, hinunter-schießt in die Körperlichkeit, ist für das gewöhnliche Bewußtsein nicht zu durchschauen. Wie kömmt ein moralischer Impuls dazu, Knochen in Bewegung zu setzen durch Muskeln? Man kann solch eine Auseinandersetzung als theoretisch empfinden. Man kann sagen, das überlassen wir den Philosophen, die werden darüber schon nachdenken. Gewöhnlich macht's ja die heutige Zivilisation so, daß sie diese Frage den Denkern überläßt, und dann das, was die Denker sagen, verachtet oder wenigstens gering schätzt. Nun ja, dabei wird nur der menschliche Kopf froh, das menschliche Herz

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nicht; das menschliche Herz empfindet dabei eine nervöse Unruhe und kommt nicht zu irgendeiner Lebensfreude, Lebenssicherheit, Lebensgrundlage und so fort. Von der Art des Denkens aus, die schon einmal die Menschheit seit dem ersten Drittel des 15. Jahr­hunderts angenommen hat, die so großartige Erfolge auf dem Ge­biete der äußeren Naturwissenschaft errungen hat, gelangt man eben durchaus nicht dazu, irgend etwas dazu beitragen zu können, diese beiden Dinge, Rätselhaftigkeit des menschlichen physischen Leibes, Rätselhaftigkeit der menschlichen Seelenerfahrungen, irgend­wie zu durchdringen. Und gerade aus der klaren Einsicht heraus in dieses kommt Anthroposophie und sagt sich: Gewiß, das Denken, wie es sich nun einmal herausgebildet hat in der Menschheit, ist machtlos gegenüber der Wirklichkeit; wir mögen noch soviel den­ken, wir können mit unserem Denken nicht im geringsten in ein äußeres Naturgeschehen unmittelbar eingreifen. Aber mit unserem bloßen Denken können wir auch nicht in unseren eigenen Willens-Organismus eingreifen. Man muß nur einmal die ganze Machtlosig­keit dieses Denkens gründlich empfinden, dann wird man schon den Impuls erhalten, über dieses gewöhnliche Denken hinaus-zugehen.

Aber man kann nicht hinausgehen durch Phantasterei, man kann auch nicht von irgendeinem anderen Orte aus anfangen, über die Welt nachzudenken, als vom Denken. Nun ist es aber ungeeignet, dieses Denken. Da handelt es sich darum, daß man eben einfach durch die Lebensnotwendigkeiten dazukommt, von diesem Denken aus einen Weg zu finden, durch den dieses Denken sich tiefer in das Sein, in die Wirklichkeit hineinbohrt. Und dieser Weg bietet sich nur durch dasjenige, was Sie zum Beispiel in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» als die Medi­tation beschrieben finden.

Wir wollen uns dies heute nur skizzenhaft vor die Seele stellen, denn wir wollen sozusagen die Skizze eines anthroposophischen Ge­bäudes in ganz elementarer Art liefern. Wir wollen wieder anfangen

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mit dem, womit wir vor zwanzig Jahren angefangen haben. Wir können sagen: Die Meditation besteht eben darinnen, das Denken in anderer Weise zu erleben, als man es gewöhnlich erlebt. Heute erlebt man das Denken so, daß man sich von außen anregen läßt; man gibt sich hin an die äußere Wirklichkeit. Und indem man sieht und hört und greift und so weiter, merkt man, wie sich gewisser­maßen im Erleben das Aufnehmen von äußeren Eindrücken fortsetzt in Gedanken. Man verhält sich passiv in seinen Gedanken. Man gibt sich hin an die Welt, und die Gedanken kommen einem. Auf diese Weise kommt man nie weiter. Es handelt sich darum, daß man be­ginnt, das Denken zu erleben. Das tut man, indem man einen ein­fach überschaubaren Gedanken nimmt, diesen leicht überschaubaren Gedanken im Bewußtsein gegenwärtig sein läßt, das ganze Bewußt­sein auf diesen überschaubaren Gedanken konzentriert.

Es ist nun ganz gleichgültig, was dieser Gedanke für die äußere Welt bedeutet. Worauf es ankommt, ist lediglich, daß man das Be­wußtsein mit Außerachtlassung von allem anderen Erleben auf die­sen einen Gedanken konzentriert. Ich sage, es muß ein überschau-barer Gedanke sein. Sehen Sie, ich wurde einmal gefragt von einem sehr gelehrten Manne, wie man meditiert. Ich gab ihm einen furcht-bar einfachen Gedanken. Ich sagte ihm, es käme nicht darauf an, ob der Gedanke irgendeine äußere Realität bedeute. Er solle denken:

Weisheit ist im Licht. Er solle immer wieder und wieder seine ganze Seelenkraft dazu verwenden, zu denken: Weisheit ist im Licht. Ob das nun wahr oder falsch ist, darauf kommt es nicht an. Es kommt ebensowenig darauf an, ob irgend etwas ein weltbewegendes Ding ist oder ein Spiel, wenn wir unseren Arm anstrengen, um es in Be­wegung zu setzen und immer wieder in Bewegung zu setzen. Wir verstärken dadurch unsere Armmuskeln. Wir verstärken unser Den­ken, indem wir uns anstrengen, immer wieder und wiederum diese Tätigkeit auszuüben, gleichgültig, was der Gedanke bedeutet. Wenn wir uns immer wieder und wieder seelisch anstrengen, ihn im Be­wußtsein gegenwärtig zu machen und das ganze Seelenleben darauf

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zu konzentrieren, so verstärken wir unser Seelenleben, wie wir die Muskelkraft unseres Armes verstärken, wenn wir sie immer wieder und wieder auf dieselbe Tätigkeit hin konzentrieren. Aber wir müs­sen einen leicht überschaubaren Gedanken haben. Denn haben wir den nicht, so sind wir allen möglichen Rankünen der eigenen Organisation ausgesetzt. Man glaubt ja gar nicht, wie stark die sug­gestive Kraft ist, die von Reminiszenzen des Lebens und dergleichen herkommt. In dem Augenblick, wo man nur einen komplizierteren Gedanken faßt, kommen gleich von allen möglichen Seiten dämo­nische Gewalten, die einem dies oder jenes ins Bewußtsein hinein-suggerieren. Man kann nur sicher sein, daß man mit voller Beson­nenheit in der Meditation lebt, mit derselben Besonnenheit, mit der man sonst im Leben steht, wenn man vollbewußter Mensch ist, wenn man tatsächlich einen ganz überschaubaren Gedanken hat, in dem nichts anderes drinnenstecken kann als das, was man gedanklich erlebt.

Wenn man so die Meditation einrichtet, mögen alle möglichen Leute sagen: du unterliegst einer Autosuggestion oder derglei­chen - das ist natürlich alles unsinniges Zeug. Es kommt lediglich darauf an, ob man es dahin bringt, einen überschaubaren Gedanken zu haben oder einen Gedanken, der irgendwie durch unterbewußte Impulse in einem wirkt. Nun hängt es ja allerdings davon ab - ich habe das oftmals gesagt -, was der Mensch für Fähigkeiten hat; bei dem einen dauert es lang, bei dem andern kurz. Aber der Mensch kommt durch solche Konzentration dazu, sein Seelenleben, insofern es denkendes Seelenleben ist, zu verstärken, in sich zu er­kraf ten. Und das Ergebnis wird eben dann nach einiger Zeit dieses, daß der Mensch sein Denken nicht so erlebt wie im gewöhnlichen Bewußtsein. Im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt der Mensch so seine Gedanken, daß sie machtlos dastehen. Es sind eben Gedanken. Durch solche Konzentration kommt der Mensch dazu, die Gedanken auch wirklich so zu erleben wie ein innerliches Sein, wie er erlebt die Spannung seines Muskels, wie er erlebt das Ausgreifen, um einen Gegenstand zu erfassen. Das Denken wird in ihm eine Realität.

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Er erlebt gerade, indem er sich immer mehr und mehr ausbildet, einen zweiten Menschen in sich, von dem er vorher nichts wußte.

Und dann beginnt für den Menschen der Augenblick, wo er sich sagt: Nun ja, ich bin der Mensch, der sich zunächst äußerlich an­schauen kann, wie man die Dinge der Natur anschaut. Ich fühle innerlich sehr dunkel meine Muskelspannungen, aber weiß eigent­lich nicht, wie meine Gedanken in diese Muskelspannungen hinun­terschießen. Aber wenn der Mensch also, wie ich es geschildert habe, sein Denken verstärkt, dann fühlt er gewissermaßen rinnen, strö­men, pulsieren das erkraf tete Denken in seinem Wesen. Er fühlt einen zweiten Menschen in sich. Aber dies ist ja zunächst eine abstrakte Bestimmung. Die Hauptsache ist, daß in dem Augenblicke, wo man diesen zweiten Menschen in sich fühlt, die außerirdischen Dinge einen so anzugehen beginnen, wie einen vorher nur die irdischen Dinge angegangen haben. Ich meine die räumlich außer-irdischen Dinge. In dem Augenblicke, wo Sie fühlen, wie der Gedanke innerliches Leben wird, wo Sie das rinnen fühlen wie die Atemzüge, wenn Sie auf sie aufmerksam sind, in dem Augenblicke fühlen Sie zu Ihrer ganzen Menschlichkeit etwas Neues hinzu. Vor­her zum Beispiel fühlen Sie: Ich stehe auf meinen Beinen. Da unten ist der Boden. Der Boden trägt mich. Wäre er nicht da, und böte mir die Erde nicht einen &den, ich müßte ins Bodenlose versinken. Ich stehe auf etwas.

Nachher, wenn Sie Ihr Denken in sich erkraftet haben, den zwei­ten Menschen in sich fühlen, da beginnt für den Augenblick, wo Sie sich besonders für diesen zweiten Menschen interessieren, das was Sie irdisch umgibt, Sie nicht mehr so stark wie vorher zu inter­essieren. Nicht als ob man ein Träumer, ein Schwärmer werden würde. Man wird es nicht, wenn man in einer innerlich klaren und ehrlichen Weise zu solchen Stufen der Erkenntnis vorrückt. Man kann ganz gut wiederum mit aller Lebenspraxis in die Welt des gewöhnlichen Lebens zurück. Man wird nicht ein Phantast, der sagt: Ach, ich habe die geistige Welt kennengelernt, die irdische ist

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minderwertig, wesenlos, ich beschäftige mich nur mehr mit der geistigen Welt. Bei einem wirklichen geistigen Weg wird man nicht so, sondern man lernt erst recht das äußere Leben schätzen, wenn man wiederum in dasselbe zurückkehrt. Und die Momente, wo man aus demselben herausgeht in der Art, wie ich es geschildert habe, und wo das Interesse sich heftet an den zweiten Menschen, den man in sich entdeckt hat, können ohnedies nicht lange festgehalten wer­den; denn werden sie in innerlicher Ehrlichkeit festgehalten, dann gehört eine große Kraft dazu, und diese Kraft kann man nur durch eine gewisse Zeit, die im allgemeinen nicht sehr lange ist, auf ein­mal aufrechterhalten.

Aber verbunden ist dieses Hinlenken des Interesses auf den zwei­ten Menschen damit, daß einem die räumliche Umgebung der Erde so wertvoll zu werden beginnt wie sonst dasjenige, was auf der Erde herunten ist. Man weiß, der Erdboden trägt einen. Man weiß, die Erde gibt einem aus ihren verschiedenen Naturreichen die Substanzen, die man essen muß, damit der Leib immer fort und fort durch die Nahrung die Anregung erhält, die er braucht. Man weiß, wie man auf diese Weise mit der irdischen Natur zusammenhängt. Geradeso wie man in den Garten gehen muß, um sich dort ein paar Kohlköpfe zu pflücken, sie dann zu kochen, damit man sie ißt, wie also notwendig ist dasjenige, was da draußen im Garten ist, wie es einen Zusammenhang hat mit dem, was man zunächst als erster physischer Mensch ist, so lernt man jetzt erkennen, was einem der Sonnenstrahl, was einem das Mondenlicht ist, was einem all dasjenige ist, was Sternengefunkel um die Erde herum ist. Und man erlangt eine Möglichkeit, über dasjenige, was räumlich um die Erde herum ist, nach und nach in bezug auf den zweiten Menschen so zu denken, wie man vorher gedacht hat mit Bezug auf seinen ersten physischen Leib, in bezug auf seine phy­sische Erdenumgebung.

Und man sagt sich: Dasjenige, was du da in dir trägst als Muskeln, als Knochen, als Lunge, Leber und so weiter, das hängt zusammen

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mit dem Kohlkopf oder dem Fasanen und so weiter, die da draußen in der Welt sind. Dasjenige aber, was du jetzt als zweiten Menschen in dir trägst, was du dir zum Bewußtsein durch die Verstärkung deines Denkens gebracht hast, das hängt zusammen mit Sonne und Mond, mit dem ganzen Sterngefunkel, das hängt zusammen mit der räumlichen Umgebung der Erde. Man wird vertraut, eigentlich vertrauter mit der räumlichen Umgebung der Erde, als man so als gewöhnlicher Mensch, wenn man nicht gerade Nahrungsmittel­hygieniker oder so etwas ist, mit der irdischen Umgebung vertraut ist. Man gewinnt wirklich eine zweite, zunächst räumlich zweite Welt. Man lernt sich als einen Bewohner der Sternenwelt ebenso ein­schätzen, wie man sich vorher eingeschätzt hat als einen Bewohner der Erde. Vorher hat man sich nämlich nicht als einen Bewohner der Sternenwelt eingeschätzt; denn die Wissenschaft, die nicht bis zum Erkraften des Denkens geht, bringt es ja nicht dazu, dem Men­schen das Bewußtsein beizubringen, daß er für einen zweiten Men­schen einen solchen Zusammenhang mit der räumlichen Erden-umgebung hat, wie er als physischer Mensch mit der physischen Erde hat. Das kennt sie nicht. Sie rechnet; aber was da die Rechnung selbst der Astrophysik und so weiter zutage fördert, all das liefert ja nur Dinge, die den Menschen eigentlich nichts angehen, die höch­stens seine Wißbegierde befriedigen. Denn schließlich, was hat es denn für eine Bedeutung für den Menschen, für das, was er inner­lich erlebt, wenn man weiß, wie man sich nun denken kann -stimmen tut's ja noch außerdem nicht -, daß der Spiralnebel in den «Jagdhunden» entstanden ist oder noch heute in seinen Gestaltun­gen verläuft. Es geht ja den Menschen nichts an. Der Mensch steht ja zur Sternenwelt so, wie irgendein leibfreies Wesen, das von irgendwoher käme und auf der Erde sich aufhielte, zu der Erden welt stünde, das keine Nahrung und so weiter zu nehmen brauchte, sie nicht zum Stehen brauchte und so weiter. Aber tatsächlich, der Mensch wird aus einem bloßen Erdenbürger ein Weltenbürger, wenn er in dieser Weise sein Denken erkraftet.

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Und nun entsteht ein ganz bestimmter Bewußtseinsinhalt. Es ent­steht der Bewußtseinsinhalt, der sich in der folgenden Weise charak­terisieren läßt. Wir sagen uns: Daß Kohlköpfe sind, Getreide draußen ist, das ist gut für uns, das baut uns den physischen Leib auf, wenn ich diesen Ausdruck, der nicht ganz richtig ist, jetzt ge­brauchen darf nach der allgemeinen trivialen Anschauung; es baut uns unseren physischen Leib auf. Und ich konstatiere einen gewissen Zusammenhang zwischen dem, was da draußen in den verschiede­nen Reichen der Natur ist, und meinem physischen Leib.

Aber mit dem erkrafteten Denken beginne ich einen ebensolchen Zusammenhang zu konstatieren zwischen meinem zweiten Men­schen, der in mir lebt und demjenigen, was im außerirdischen Raum uns umgibt. Man sagt sich zuletzt: Wenn ich in der Nacht hinaus­gehe und mich nur meiner gewöhnlichen Augen bediene, sehe ich nichts. Wenn ich bei Tag hinausgehe, macht mir das Sonnenlicht, das außerirdische, alle Gegenstände sichtbar. Ich weiß zunächst nichts. Wenn ich mich bloß auf die Erde beschränke, so weiß ich:

da ist ein Kohlkopf, dort ist Quarzkristall. Ich sehe beides durch das Sonnenlicht, aber ich interessiere mich auf Erden nur für den Unter­schied zwischen dem Kohlkopf und dem Quarzkristall.

Nun beginne ich zu wissen: ich bin selber als zweiter Mensch aus dem gemacht, was mir den Kohlkopf und den Quarzkristall sichtbar macht. Das ist ein ganz bedeutsamer Sprung, den man in seinem Bewußtsein macht. Es ist eine völlige Metamorphose des Bewußt­seins. Und von da ab beginnt das, daß man sich sagt: Stehst du auf der Erde, so siehst du das Physische, das mit deinem physischen Menschen zusammenhängt; erkraftest du dein Denken und wird ebenso wie vorher das Physische der Erde für dich eine Welt war, die dich angeht, das außerirdische räumliche Dasein eine Welt, die dich angeht, nämlich dich und den Menschen, den du erst in dir ent­deckt hast, dann schreibst du, so wie du der physischen Erde den Ursprung deines physischen Leibes zuschreibst, dem kosmischen Äther, durch dessen Wirkungen die irdischen Dinge erst sichtbar

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werden, dein zweites Dasein zu. Und du sprichst jetzt aus deiner Erfahrung heraus so, daß du sagst, du hast deinen physischen Leib und du hast deinen Ätherleib. - Es macht natürlich nicht den Inhalt einer Erkenntnis, wenn man bloß systematisiert und den Menschen aus verschiedenen Gliedern bestehend denkt, sondern es macht erst eine wirkliche Einsicht, wenn man die ganze Metamorphose des Bewußtseins ins Auge faßt, die dadurch entsteht, daß man einen solchen zweiten Menschen in sich wirklich entdeckt.

Ich greife mit meinem physischen Arm, und meine physische Hand umfaßt einen Gegenstand. Ich fühle gewissermaßen die Strö­mung, die da greift. Durch dieses Erkraften des Gedankens fühlt man den Gedanken, wie er in sich beweglich nun auch eine Art Tasten im Menschen bewirkt, eine Art Tasten, das nun auch in einem Organismus lebt, in dem ätherischen Organismus, in dem feineren übersinnlichen Organismus, der ebenso da ist wie der physische Organismus, der nur nicht mit dem Irdischen zusammen-hängt, der mit dem Außerirdischen zusammenhängt.

Jetzt kommt der Moment, wo man genötigt ist, ich möchte sagen, wiederum um eine Stufe herunterzusteigen; denn zunächst kommt man schon durch ein solches imaginatives Denken, wie ich es be­schrieben habe, dazu, dieses innerliche Ertasten eines zweiten Men­schen in sich zu fühlen, kommt auch dazu, das im Zusammenhange zu sehen mit den Weiten des Weltenäthers, wobei Sie sich unter diesen Worten nichts vorstellen sollen als dasjenige, wovon ich eben geredet habe, nicht von irgendwo anders her einen Inhalt dazu neh­mend. Aber man ist jetzt genötigt, um weiterzukommen, wiederum zu dem gewöhnlichen Bewußtsein zurückzukehren.

Nun, sehen Sie, da liegt es uns nahe, wenn wir an den physischen Leib des Menschen denken, in der Art, wie ich es eben jetzt beschrie­ben habe, uns zu fragen: Wie steht dieser physische Leib des Men­schen denn eigentlich zu der Umgebung? Er steht ganz zweifellos zu der physischen Erdenumgebung in einer Beziehung, aber wie?

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Wenn wir den Leichnam nehmen - er ist ja ein getreues Abbild des physischen Menschen auch während des Lebens - ja, dann sehen wir in scharfen Konturen Leber, Milz, Niere, Herz, Lunge, Knochen, Muskeln, Nervenstränge. Das kann man zeichnen, das hat scharfe Konturen. Dadurch ist es ähnlich dem Festen, ähnlich dem­jenigen, was in festen Formen vorkommt. Aber mit diesem Kontu­rierten im menschlichen Organismus hat es ja seine eigene Bewandt­nis. Es gibt eigentlich nichts Trügerischeres als jene Handbücher, die heute von Anatomie oder Physiologie handeln, denn die Men­schen kommen zu der Ansicht: da ist eine Leber, das ist das Herz und so weiter; sie sehen das alles in scharfen Konturen und stellen sich vor, daß die scharfe Konturiertheit wesentlich ist. Man stellt sich schon den menschlichen Organismus so wie ein Konglomerat von festen Dingen vor. Das ist er gar nicht, höchstens zu 10 Prozent, die übrigen 90 Prozent sind nichts Festes im menschlichen Organismus, sind flüssig oder gar luftförmig. Der Mensch ist zu 90 Prozent min­destens eineWassersäule, wenn er lebt. So daß man sagen kann: Der Mensch gehört allerdings seinem physischen Leibe nach der festen Erde an, dem, was die älteren Denker im besonderen die Erde ge­nannt haben; aber dann beginnt dasjenige, was im Menschen flüssig ist. Man wird nicht eher auch in der äußeren Wissenschaft zu einer vernünftigen Anschauung über den Menschen kommen, ehe man nicht wiederum den festen Menschen für sich unterscheidet und dann den Flüssigkeitsmenschen, dieses innerliche Wogen und Weben, in dem es wirklich ausschaut wie in einem kleinen Meere.

Aber einen eigentlichen Einfluß auf den Menschen hat das Irdische nur in bezug auf das, was in ihm fest ist. Denn auch draußen in der Natur können Sie sehen, wie da, wo das Flüssige beginnt, sofort eine innere Gestaltungskraft auftritt, die mit einer sehr großen Einheitlichkeit wirkt.

Wenn Sie das gesamte Flüssige unserer Erde nehmen, ihr Wasser:

es ist ein großer Tropfen. Wenn das Wasser frei sich gestalten kann, wird es tropfenförmig; überall wird das Flüssige tropfenförmig.

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Dasjenige, was erdig ist - fest ist, sagen wir heute -, das tritt in bestimmten Gestalten auf, die man als besondere Gestalten erken­nen kann. Das Flüssige hat immer das Bestreben, tropfig zu werden, die Kugelform anzunehmen.

Und woher kommt denn das? Nun, wenn Sie den Tropfen, ob er nun klein ist oder ob er erdengroß ist, studieren, so finden Sie überall, der Tropfen ist das Abbild des ganzen Weltenalis. Selbst-verständlich ist es nach heutigen gewöhnlichen Begriffen falsch, aber es ist so zunächst nach dem Anblick - und wir werden in der riächsten Zeit schon sehen, wie dieser Anblick doch gerechtfertigt ist -, es ist nach dem Anblick richtig: das Weltenall erscheint uns wie eine Hohlkugel, in die wir hineinschauen.

Jeder Tropfen, ob er klein oder groß ist, erscheint uns als eine Spiegelung des Weltenalls selber. Ob Sie den Regentropfen nehmen, oder ob Sie das ganze Erdengewässer nehmen, da sehen Sie an der Oberfläche ein Bild des Weltenalls. Sobald man nämlich ins Flüs­sige hineinkommt, kann man dieses Flüssige nicht mehr aus den irdischen Kräften erklären. Wenn Sie die unendlichen Bemühungen sehen werden oder mit Bewußtsein anschauen werden, die Kugel­form des Erdengewässers aus den irdischen Kräften selber zu er­klären, so werden Sie finden, wie vergeblich diese Bemühungen sind. Aus der irdischen Anziehungskraft und so weiter erklärt sich nicht die Kugelform des Erdengewässers. Die Kugelform 4es Erden­gewässers ist nicht durch Anziehungskraft sondern durch Druck von außen zu erklären. Da kommen wir sogleich dazu, auch in der äußeren Natur einzusehen, daß wir zur Erklärung des Flüssigen aus dem Irdischen hinausgehen müssen. Und von da aus kommen Sie nun zum Erfassen dessen, wie es beim Menschen ist.

Solange Sie bei dem, was im Menschen fest ist, bleiben, können Sie beim Irdischen bleiben, wenn Sie seine Gestalt verstehen wollen. In dem Augenblicke, wo Sie an sein Flüssiges herankommen, brau­chen Sie den in diesem Flüssigen wirkenden zweiten Menschen, zu dem Sie durch das erkraftete Denken kommen.

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Jetzt sind wir zum Irdischen wieder zurückgekehrt. Wir finden im Menschen das Feste. Das erklären wir mit unseren gewöhnlichen Gedanken. Was im Menschen flüssig ist, können wir seiner Form nach nicht verstehen, wenn wir nicht in ihm wirksam denken diesen zweiten Menschen, den wir im erkrafteten Denken in uns selber als den Ätherleib des Menschen erfühlen.

Und so können wir sagen: Der physische Mensch wirkt im Festen, der ätherische Mensch wirkt im Flüssigen. Der ätherische Mensch ist damit noch immer etwas Selbständiges natürlich; aber sein Mittel, zu wirken, ist das Flüssige.

Und nun handelt es sich darum, weiterzukommen. Denken Sie, wir haben nun wirklich uns so weit gebracht, dieses erkraftete Den­ken innerlich zu erleben, also den ätherischen Menschen, diesen zweiten Menschen zu erleben; das setzt voraus, daß wir eine starke innere Impulsivität entfalten.

Nun, Sie wissen ja, wenn man sich ein bißchen anstrengt, so kann man nicht nur sich zum Denken anregen lassen, sondern sich sogar die Gedanken wiederum verbieten. Man kann aufhören zu denken. Das besorgt die physische Organisation. Wenn man müde wird und einschläft, dann hört man auf zu denken. Nun, es wird schwerer, das, was man mit aller Anstrengung in sich hineinversetzt hat, dieses erkraftete Denken, das Ergebnis der Meditation, auch wiederum willkürlich auszulöschen. Ein gewöhnlicher machtloser Gedanke ist verhältnismäßig leicht auszulöschen. Man haftet schon mehr inner­lich-seelisch an dem, was man da an erkraftetem Denken in sich entwickelt hat. Man muß dann eine stärkere Kraft gewinnen kön­nen, um es sich wieder absuggerieren zu können. Dann aber tritt etwas Besonderes ein.

Wenn Sie das gewöhnliche Denken haben, nun ja, es ist angeregt von der Umgebung oder von den Erinnerungen an die Umgebung. Wenn Sie irgendeinen Gedankenweg machen, dann ist ja noch die Welt da. Sie schlafen ein, dann ist sie auch noch da. Aber Sie haben sich ja gerade aus dieser Welt der Sichtbarkeit hinausgehoben im

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erkrafteten Denken. Sie haben sich in Zusammenhang gebracht mit der außerirdisch räumlichen Umwelt. Sie betrachten das Verhältnis der Sterne jetzt zu sich, wie Sie früher das Verhältnis der Gegen­stände der Reiche der Natur um sich herum betrachtet haben. Sie haben sich mit alledem jetzt in Beziehung gesetzt. Jetzt können Sie das unterdrücken. Aber indem Sie es unterdrücken, ist auch die äußere Welt nicht da, denn Sie haben ja eben Ihr Interesse diesem erkrafteten Bewußtsein zugewendet. Da ist die äußere Welt nicht da. Sie kommen zu dem, was man leeres Bewußtsein nennen kann. Das gewöhnliche Bewußtsein kennt die Leerheit des Bewußtseins nur im Schlafe; dann ist es aber Unbewußtsein.

Aber das ist ja eben, was man jetzt erreicht: voll bewußt zu blei­ben, keine äußeren sinnlichen Eindrücke zu haben und dennoch nicht zu schlafen, bloß zu wachen. Aber man bleibt nicht bloß wachend. Jetzt, wenn man das leere Bewußtsein dem Unbestimmten, dem überall Unbestimmten entgegensetzt, jetzt dringt die eigent­liche geistige Welt herein. Man sagt: Da kommt sie. Während man früher nur hinausgesehen hat in die außerirdische physische Um­gebung, die eigentlich ätherische Umgebung ist, während man das Räumliche gesehen hat, kommt jetzt wie von unbestimmten Fernen durch dieses Kosmische herein von allen Seiten ein Neues, das ei­gentliche Geistige. Das Geistige kommt von dem Weltenende zuerst herein, wenn man diesen Gang, den ich beschrieben habe, durch-macht.

Und jetzt tritt zu der früheren Metamorphose des Bewußtseins ein Drittes hinzu. Jetzt sagt man sich (es wird gezeichnet) : Du trägst deinen physischen Leib an dir (innerer Kreis) und deinen Ätherleib (blau), den du im erkrafteten Denken ergriffen hast, und du trägst noch etwas in dir - ich bitte, ich rede von der Welt der Scheinbar­keit, wir werden in den nächsten Tagen sehen, inwiefern es berech­tigt ist. Indem da von dem Ätherischen geredet wird: aus dieser Welt des Räumlichen kommt es, aber was da weiter ist außerhalb (rötlich), das kommt herein vom Unbestimmten. Man verliert auch

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das Bewußtsein, daß es aus dem Räumlichen kommt; das durchsetzt einen wie ein dritter Mensch. Durch den Äther des Kosmos läuft es heran, durchsetzt einen als ein dritter Mensch. Und man beginnt mit Recht durch Erfahrung davon zu reden: man hatte den ersten Men­schen, den physischen Menschen; den zweiten Menschen, den äthe­rischen Menschen; den dritten Menschen, den astralischen Men­schen - stoßen Sie sich nicht an Worten, das wissen Sie ja, daß Sie das nicht sollen -, man trägt den astralischen Menschen, den drit­ten Menschen, an sich. Der kommt aus dem Geistigen, nicht bloß aus dem Ätherischen. Man kann von dem Astralleibe, von dem astralischen Menschen reden.

Und jetzt geht man weiter. Jetzt sagt man sich: Ich atme ein, ich verbrauche meinen Atem zu meiner inneren Organisation, ich atme aus. - Ist es denn wirklich wahr, daß das, was sich die Leute vor­stellen als ein Gemisch, ein Gemenge von Sauerstoff und Stickstoff, kommt und fortgeht?

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Sehen Sie, was da kommt und fortgeht, das ist nach den Anschau­ungen der gegenwärtigen Zivilisation aus physikalischem Sauerstoff und Stickstoff und einigem anderen zusammengesetzt. Aber der­jenige, der dazukommt, nun aus dem leeren Bewußtsein heraus die­ses Heranlaufen möchte ich sagen, des Geistigen durch den Äther zu erleben, der erlebt im Einatmungszug dasjenige, was gestal­tet ist nicht aus dem Äther bloß, sondern von etwas außer dem Äther, aus dem Geistigen heraus. Und man erlernt allmählich im Atmungsprozesse einen geistigen Einschlag in den Menschen er­kennen. Man lernt erkennen sich zu sagen: Du hast einen physischen Leib. Er greift in das Feste ein; das ist sein Mittel. Du hast deinen ätherischen Leib. Der greift in das Flüssige ein. Indem du ein Mensch bist, der nicht nur fester Mensch, Flüssigkeitsmensch ist, sondern indem du in dir deinen Luftmenschen trägst, dasjenige, was luftförmig ist, gasförmig, kann eingreifen der dritte, der astratische Mensch. Durch dieses Substantielle auf der Erde, durch das Luft­förmige, greift der astralische Mensch ein.

Niemals wird das, was im Menschen flüssige Organisation ist, die innerlich ein ebenso regelmäßiges Leben hat, aber ein fortwäh­rend veränderliches, fortwährend wandelndes Leben hat, mit dem gewöhnlichen Denken erfaßt; das, was so Flüssigkeitsmensch ist, das wird nur mit dem erkrafteten Denken erfaßt: Mit dem gewöhn­lichen Denken erfassen wir konturiert den physischen Menschen. Und weil unsere Anatomie und Physiologie bloß mit dem gewöhn­lichen Menschen rechnen, so zeichnen sie 10 Prozent vom Men­schen auf. Aber das, was der Mensch ist als Flüssigkeitsmensch, das ist in einer fortwährenden Bewegung, das zeigt nie eine feste Kon­tur. Da ist es so, da wieder anders, da lang, da kurz. Was in fort­währender Bewegung ist, das erfassen Sie nicht mit den rechnenden konturierten Begriffen, das erfassen Sie mit den Begriffen, die in sich beweglich sind, die Bilder sind. Den ätherischen Menschen im Flüssigkeitsmenschen erfassen Sie in Bildern.

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Und den dritten Menschen, den astralischen Menschen, der im luftförmigen Menschen wirkt, den erfassen Sie nur, wenn Sie ihn nun nicht bloß in Bildern, sondern auf eine noch andere Art ergrei­fen. Rücken Sie nämlich in Ihrem Meditieren immer weiter und wei­ter fort - und ich beschreibe damit den abendländischen Medita­tionsprozeß -, dann merken Sie von einem bestimmten Punkte Ihrer Übungen an, daß der Atem in Ihnen etwas fühlbar Musikalisches wird. Als innere Musik erleben Sie den Atem. Sie erleben sich als von innerer Musik durchwebt und durchwellt. Den dritten Men­schen, der physisch der Luftmensch ist, geistig der astralische Mensch ist, den erleben Sie als ein inneres Musikalisches. Sie ergrei­fen da den Atem.

Der orientalische Meditant hat das direkt gemacht, indem er sich auf das Atmen konzentriert hat, das Atmen unregelmäßig gemacht hat, das Yoga-Atmen eingeführt hat, um darauf zu kommen, wie der Atem im Menschen webt und lebt. Er hat dadurch direkt hin-gearbeitet auf das Ergreifen dieses dritten Menschen.

Und so kommen wir zu dem, was dieser dritte Mensch ist, und können heute zunächst sagen: Durch eine Vertiefung der Einsicht, durch eine Erkraftung der Einsicht kommen wir dazu, zunächst am Menschen zu unterscheiden den physischen Leib, der auf Erden in festen Formen lebt und auch mit den irdischen Reichen in Zusam­menhang steht; den zweiten, den Flüssigkeitsmenschen, in dem aber ein immer bewegliches Ätherisches lebt, der nur in Bildern erfaßt werden kann, in Bildern aber, die bewegte Bilder sind, bewegte Plastik; den dritten Menschen, den astralischen, der sein physisches Abbild hat in alledem, was die Einatmungsströmung macht. Sie kommt herein, sie ergreift die innere Organisation, breitet sich aus, arbeitet, verwandelt sich, strömt wiederum aus. Das ist ein wunder­bares Werden. Das kann man nicht zeichnen, höchstens symbolisch, aber in Realität nicht. Ebensowenig können Sie das zeichnen, wie Sie die Töne einer Violine zeichnen können. Symbolisch können Sie es, aber Sie müssen das musikalische Gehör darauf richten, daß Sie

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innerlich hören. Nicht das äußerlich tönende Hören, sondern das innerlich musikalische Hören müssen Sie darauf lenken. Das Atmungsweben müssen Sie innerlich hören. Den astralischen Leib des Menschen müssen Sie innerlich hören. Es ist der dritte Mensch. Es ist derjenige Mensch, den wir erfassen, wenn wir vorrücken zum leeren Bewußtsein und dieses leere Bewußtsein ausfüllen lassen durch dasjenige, was uns eininspiriert wird.

Nun, es ist wirklich die Sprache gescheiter, als die Menschen sind, weil die Sprache aus den Urzeiten kommt. Daß man das Atmen ein­mal eine Inspiration genannt hat, hat seinen tiefen Grund, wie über­haupt die Worte unserer Sprache viel mehr sagen, als wir heute mit unserem abstrakten Bewußtsein in den Worten fühlen.

Das sind die Dinge, die uns zunächst führen konnten zu den drei Gliedern der Menschennatur, zum physischen Leib, Ä therl eib, Astral-leib, die sich äußern durch den Luftmenschen, den Flüssigkeitsmen­schen, den festen Menschen; die in den Gebilden des festen Menschen, in den sich verwandelnden Gestalten des Flüssigkeitsmenschen, in dem, was den Menschen durchzieht als eine innere, im Gefühle erlebbare Musik, ihre physischen Gegenbilder haben. Das schönste Abbild dieser innerlichen Musik ist ja das Nervensystem. Das ist erst aus dem astralischen Leib, aus der innerlichen Musik heraus gebaut. Daher das Nervensystem an einer bestimmten Stelle diese wunder­bare Gestaltung zeigt (es wird gezeichnet): das Rückenmark, daran sich die verschiedenen Stränge gliedernd. Das alles gibt zusammen ein wunderbares musikalisches Gefüge, das fortwährend im Men­schen wirkt, in das Haupt heraufwirkt.

Eine Urweisheit, die noch im Griechentum lebendig war, fühlte im Inneren des Menschen dieses wunderbare Instrument, das da ist, denn durch das ganze Rückenmark geht ja herauf die veratmete Luft. Die Luft, die wir einatmen, zieht ein in den Rückenmarks-kanal, schlägt herauf nach dem Gehirn. Diese Musik wird wirklich ausgeführt, nur bleibt sie dem Menschen unbewußt. Er findet nur dasjenige, was oben sich abstößt, im Bewußtsein vor. Da ist es die

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Leier des Apollo, dieses innerliche Musikinstrument, das die instink­tive Urweisheit im Menschen noch erkannt hat. Ich habe früher auf diese Dinge aufmerksam gemacht, allein ich will ja jetzt ein Resumé geben von dem, was im Laufe von zwanzig Jahren innerhalb unserer Gesellschaft entwickelt worden ist.

Morgen werde ich weiterschreiten zu dem vierten Gliede der menschlichen Natur, der eigentlichen Ich-Organisation, um dann zu zeigen, wie diese verschiedenen Glieder der menschlichen Natur zu­sammenhängen mit des Menschen Leben auf Erden und des Men­schen überirdischem oder außerirdischem sogenanntem Ewigkeitsleben.

FÜNFTER VORTRAG 2. Februar 1924 Die Liebe als Erkenntniskraft Die Ich-Organisation des Menschen

#G234-1959-SE088 Anthroposophie

#TI

FÜNFTER VORTRAG

2. Februar 1924

Die Liebe als Erkenntniskraft

Die Ich-Organisation des Menschen

#TX

Es ist von mir ausgeführt worden, wie man den Menschen glie­dern soll in den physischen Leib, den ätherischen Leib, den astra­lischen Leib, und wie man durch eine gewisse Übung der eigenen Erkenntniskräfte, der Kräfte des Gemütes und Willens, dahin kom­men kann, eine tiefere Einsicht in diese Gliederung des Menschen zu erhalten. Diese Gliederung, die wir beim Menschen erblicken, finden wir ja auch draußen in der Welt. Nur müssen wir uns klar sein darüber, daß ein beträchtlicher Unterschied ist zwischen dem, was wir in der Welt finden außerhalb des Menschen, also in der außermenschlichen Welt, und in der Innenwelt des Menschen selbst.

Wenn wir zunächst die physische Welt betrachten, und wir kön­nen sie ja eigentlich nur betrachten in Anknüpfung an das feste, erdige Dasein, dann kommen wir dazu, verschiedene Stoffe zu un­terscheiden. Ich brauche auf die Einzelheiten nicht einzugehen. Sie wissen ja, wenn der Anatom kommt und dasjenige, was vom leben­den Menschen übriggeblieben ist, nachdem dieser durch die Pforte des Todes gegangen ist, den Leichnam, untersucht, dann hat dieser Anatom nicht nötig - wenigstens glaubt er es nicht nötig zu haben, und innerhalb gewisser Grenzen hat er ein Recht zu diesem Glau­ben -, an irgend etwas anderes zu denken als an die irdischen Stoffe, die er auch findet im außermenschlichen Dasein. Er unter­sucht, was im außermenschlichen Dasein vorhanden ist an Salzen, an Säuren, an anderen zusammengesetzten oder einfachen Stoffen,

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er untersucht dann dasjenige, was der menschliche Organismus ent­hält. Und er findet sozusagen nicht nötig, seine physikalischen, seine chemischen Kenntnisse zu erweitern.

Der Unterschied tritt ja nur hervor, wenn man die Dinge mehr im Großen betrachtet, wenn man eben auf das aufmerksam wird, was ich so stark betont habe: daß dieser menschliche Organismus in seiner Gesamtzusammenfassung als Totalität nicht aufrechterhal­ten werden kann von der außermenschlichen Natur, sondern der Zerstörung unterliegt. So daß wir sagen können: im festen, erdigen Physischen finden wir nicht sehr viel Unterschied zunächst zwischen dem, was außermenschlich und dem, was innermenschlich ist. Größeren Unterschied aber müssen wir schon anerkennen in dem, was Ätherisches ist.

Ich habe Sie ja aufmerksam darauf gemacht, wie das Ätherische eigentlich auf uns herunterblickt aus der außerirdischen Welt, und wie aus dem Ätherischen herein alles, ob es ein großer oder ein klei­ner Tropfen ist, rund gemacht wird, kugelig gemacht wird. Und diese Tendenz, aus dem Kräftezusammenhang des Ätherischen her­aus ein Kugeliges zu gestalten, erstreckt sich auch auf den Äther-leib des Menschen. Eigentlich haben wir fortwährend mit Bezug auf unseren Ätherleib damit zu kämpfen - natürlich geschieht das alles im Unterbewußten -, die Kugelform zu überwinden. Der mensch­liche Ätherleib, so wie er nun einmal ist, ist sehr angepaßt in seiner Form, in seiner Gestaltung dem menschlichen physischen Leib. Er hat nicht so feste Grenzen, er ist in sich beweglich; aber wir können in ihm auch unterscheiden eine Kopfpartie, eine Rumpfpartie, un-deutlich die Gliedmaßenpartien, da verschwimmt der Ätherleib. So daß es so ist, daß wenn wir einen Arm bewegen, der Ätherleib, der sich sonst der Form des menschlichen Organismus anpaßt, nur etwas herausragt über denselben, während er nach unten auseinan­dergeht. Dieser Ätherleib hat aber durch das Universum, durch den Kosmos eigentlich die Tendenz, Kugelform anzunehmen. Gegen diese Kugelform muß eben dasjenige, was als höheres Wesen im

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Menschen ist, der astralische Mensch und der Ich-Mensch kämpfen. Das plastiziert heraus aus der Kugelform eben diese Form, die sich der menschlichen Gestalt anpaßt. So daß wir sagen können: Der Mensch stellt sich als Äthermensch in die allgemeine Ätherwelt so hinein, daß er in sich zusammenschließt eine Eigenform aus dem Ätherischen; während ringsherum alles Ätherische darnach trachtet, soweit Gestaltung in Betracht kommt, Kugeliges zu gestalten aus dem Flüssigen. Beim Menschen wird das Flüssige, wenn ich mich so ausdrücken darf, eben menschenähnlich, aber das geschieht durch innere Kräfte. Da arbeiten die inneren Kräfte den äußeren kos­mischen Kräften entgegen.

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Noch stärker ist dieses Entgegenarbeiten beim astralischen Men­schen. Das Astralische kommt ja sozusagen wie aus dem Unbe­stimmten, wie ich Ihnen gestern angedeutet habe, hereingeströmt. Und dieses Astralische wirkt im außermenschlichen irdischen Dasein so hereinströmend (siehe Pfeile im grünen Kreis), daß es aus der Erde heraus die Pflanzenform kraftet, die noch deutlich dieses Folgen

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dem Astralischen zeigt. Denn es sind ja die Astralkräfte, die die Pflanze aus der Erde herausholen. Die Pflanze selbst hat nur einen Ätherleib; aber die astralischen Kräfte sind es, die sie herausholen aus der Erde. Beim Menschen ist der astralische Leib außerordent­lich kompliziert, und man nimmt ihn ja wirklich so wahr, wie ich ihn gestern dargestellt habe, als ein inneres Musikalisches, als ein wirbelndes Leben, als ein webendes Leben, als innere Regsamkeit und alles das, was, wenn ich mich so ausdrücken darf, gespürte, empfundene Musik ist; während man alles andere Astralische von außen radial einströmend findet. Und dieses radial Einströmende, das wird eben in die menschliche astralische Form verwandelt. Da kommen komplizierte Dinge zum Vorschein. (Es wird gezeichnet.)

Sagen wir zum Beispiel, es ströme von einer Seite her ein Astra­lisches ein; die menschliche Wesenheit biegt dieses Astralische in der verschiedensten Form um, um es sich dienstbar zu machen und einzugliedern, so daß der Mensch sich seinen Astralleib aus den radial einströmenden Astralkräften erzwingt, könnte man sagen, durch seine eigene innere Wesehheit.

Nun, sehen Sie, man kann aber doch sagen: Wenn man den see­lisch-geistig geschärften Blick hinauswendet in den Kosmos, be­kommt man schon die Auffassung des Ätherischen und man be­kommt auch den Eindruck: das Ätherische ist dasjenige, was macht, daß wir von der Erde wegstreben; während wir durch die Schwere der Erde mit der Erde zusammengehalten werden, streben wir durch das Ätherische weg. Im Wegstrebenden ist eigentlich das Ätherische tätig. Sie brauchen dabei nur folgendes zu denken: das menschliche Gehirn ist ungefähr 1500 Gramm schwer. Eine Masse, die 1500 Gramm schwer ist, die auf die feinen Blutgefäße drücken würde, die unter dem Gehirn sind, würde diese ganz zerquetschen. Würde unser Gehirn wirklich seine 1500 Gramm Schwere haben im leben­den Menschen, könnten wir natürlich nicht die Blutgefäße, die un­ter dem Gehirn sind, haben. Aber innerhalb des lebenden Menschen wiegt ja das Gehirn höchstens 20 Gramm. Soviel wird, weil das

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Gehirn im Gehirnwasser schwimmt und um das Gewicht des ver­drängten Wassers leichter wird, das Gehirn leichter, ungeheuer viel leichter; so wirkt das Gehirn eigentlich wegstrebend vom Menschen. Und in diesem Wegstreben wirkt das Ätherische. So daß man sagen kann: gerade am Gehirn veranschaulicht sich das, was da vorliegt, außerordentlich stark.

Sie haben das Gehirn im Gehirnwasser schwimmend. Dadurch vermindert sich sein Gewicht von 1500 Gramm auf etwa bloß 20 Gramm. Also bloß etwa 20 Gramm schwer ist unser Gehirn, nimmt also in seiner Wirksamkeit in außerordentlich geringem Maße an unserer physischen Leiblichkeit teil. Da findet das Äthe­rische ungeheuer viel Möglichkeit hinaufzuwirken. Das Gewicht wirkt hinunter, aber das Gewicht wird aufgehoben. Im Gehirnwas­ser entwickelt sich vorzugsweise die Summe der ätherischen Kräfte, die uns weghebt von dem Irdischen. Wir würden ja, wenn wir un­seren physischen Leib zu tragen hätten mit all seinen Schwerekräf­ten, einen Sack haben, an dem wir zu schleppen hätten. Aber jedes Blutkörperchen schwimmt ja, verliert von seinem Gewicht.

Es ist eine alte Erkenntnis, diese von dem Gewichtsverlust im Flüssigen. Sie wissen ja, daß sie dem Archimedes im Altertum zuge­schrieben worden ist. Er badete einmal und merkte, als er das Bein aus dem Badewasser herausstreckte, wieviel schwerer es ist, als wenn er das Bein im Badewasser drinnen hielt, und da rief er: Ich hab's gefunden! Heureka! Ich hab's gefunden! Nämlich daß jeder Kör­per im Flüssigen so viel leichter wird, als die Flüssigkeitsmasse be­trägt, die er verdrängt. Wenn Sie also den Archimedes sich im Bade-wasser vorstellen, das physische Bein (es wird gezeichnet), und dann jenes Bein aus Wasser geformt, so wird das physische Bein so viel weniger schwer sein im Wasser, als dieses Wasserbein hier wiegt. Um das wird es leichter sein. Und so wird unser Gehirn im Gehirnwasser drinnen um so viel leichter, als die Gehirnflüssigkeit von der Größe des physischen Gehirns beträgt. Man nennt es in der Physik Auftrieb. Also in diesem Wegstreben durch das Flüssige

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wirkt das Ätherische, während das Astralische zunächst angeregt wird durch die Atmung, durch das Luftförmige, das in den mensch­lichen Organismus hereinkommt. Und indem das Luftförmige sei­nen Weg durchmacht durch den Menschen und in ungeheuer feinem zerstiebtem Zustande im Haupte anlangt, wirkt in dieser Luftver­teilung, Luftorganisierung, das Astralische.

So kann man wirklich in dem Stofflichen, in dem festen, erdigen Stofflichen das Physische sehen; in dem Flüssigen, namentlich wie seine Wirkung im Menschen ist, das Ätherische; in dem Luftför­migen schon das Astralische.

Es ist die Tragik des Materialismus, daß er nichts von der Materie weiß, wie sie in Wirklichkeit in den verschiedenen Gebieten des Daseins wirkt. Das ist ja gerade das Merkwürdige, daß der Mate­rialismus so unwissend ist über die Materie. Er weiß gar nichts über die Wirkung der Materie, weil man darüber erst etwas erfährt, wenn man die in der Materie wirksame Geistigkeit, die die Kräfte darstellen, ins Auge fassen kann.

Und so ist es: Schreitet man durch die Meditation vor zu der imaginativen Erkenntnis, von der ich Ihnen schon gesprochen habe, so findet man in allem Wasserweben der Erde zugleich das Äthe­rische. Es ist vor einer wirklichen Erkenntnis kindisch, zu glauben, daß in alledem, was da webt - nehmen Sie das Meer, das Fluß-wasser, die aufsteigenden Nebel, die herabfallenden Wassertropfen, die sich formenden Wolken, nehmen Sie das alles zusammen -, zu glauben, daß da nur dasjenige enthalten ist, was der Physiker und der Chemiker vom Wasser wissen, es ist eigentlich kindisch gegen­über einer wirklichen Erkenntnis. Denn in alledem, was da draußen ist in dem mächtigen Tropfen der Wassererde, in demjenigen, was fortwährend aufsteigt in Dunstesform, sich zu Wolken formt, her­unterkommt in Nebel und Regen, was sich sonst auf der Erde durch das Wasser zuträgt - das Wasser hat ja eine ungeheure Tätigkeit bei der Bildung der verschiedenen Erdstrukturen -, in alledem wirken die Ätherströmungen, das Ätherweben, das sich einem enthüllt,

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wenn man das Denken so erkraftet hat, wie ich es auseinander­gesetzt habe: in Bildern. überall ist im Hintergrunde dieses Wasser­webens das Weben der Imagination, der Weltimagination, und -gewissermaßen von rückwärts kommend in diese Weltimagination

- überall diese astralische Weltensphärenharmonie.

Nun ist es aber so beim Menschen, daß man in ihm alle diese Verhältnisse ganz anders findet als außerhalb des Menschen. Wenn man ins Außermenschliche schaut mit dem in der Art geschärften Blick, wie ich es Ihnen angedeutet habe, da findet man sozusagen die Welt zunächst aufgebaut aus dem Physischen, unmittelbar an der Erde haftend; dem Ätherischen, das schon den Kosmos erfüllt; dem Astralischen, das da einströmt, wesenhaft einströmt. So daß man wirklich nicht etwa bloß ein allgemeines abstrakt astralisches Weben hat, sondern Wesen da hereinkommen, Wesen, die seelisch-geistig sind, so wie der Mensch auch in seinem Körper seelisch-geistig ist. Das schaut man.

Schaut man dann auf den Menschen zurück, so findet man auch im Menschen für dasjenige, was draußen ätherisch ist, entsprechend seinen Ätherleib. Aber dieser Ätherleib zeigt sich nicht so, daß Sie sagen können: da ist der physische Mensch, dann ist das der Äther­leib. Gewiß, man kann es so zeichnen, aber das ist nur ein festgehal­tener Ausschnitt. Sie sehen niemals bloß den gegenwärtigen Äther-leib, sondern wenn Sie einen Menschen in bezug auf seinen Äther-leib betrachten, dann sehen Sie diesen Ausschnitt, den man zeichnen kann, angrenzend an dasjenige, was vorangeht. Sie sehen immer den ganzen Ätherleib bis zu der Geburt hin. Das Zeitliche ist ein Einheit­liches. Sie können nicht, wenn Sie einen zwanzigjährigen Menschen vor sich haben, den zwanzigjährigen Ätherleib bloß sehen, sondern Sie sehen alles, was im Ätherl eib geschehen ist bis zu der Geburt hin und noch etwas darüber hinaus. Da wird wirklich die Zeit zum Raum. So wie Sie, wenn Sie in eine Allee hineinschauen und die Bäume durch die Perspektive einander immer nähergerückt werden, so wie Sie also in die ganze Allee hineinsehen dem Raume nach: so

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schauen Sie den Ätherleib, wie er gegenwärtig ist, an, sehen aber zu­rück das ganze Gebilde, das ein zeitliches Gebilde ist. Der Ätherleib ist ein Zeitorganismus. Der physische Leib ist ein Raumesorganis­mus. Der physische Leib ist jetzt ja abgeschlossen. Der Ätherleib ist immer als Ganzes da, entsprechend der vergangenen Lebens­dauer während dieses Lebens. Das ist eine Einheit. Daher könnten Sie eigentlich den Ätherleib nur zeichnen oder malen, wenn Sie Wandelbilder malen könnten; nur mit einer größeren Geschwindig­keit müßten Sie malen. Was man als augenblickliche Gestaltung zeichnet oder malt, ist eben nur ein Durchschnitt, verhält sich dem ganzen Ätherleib gegenüber so, wie wenn Sie einem Baum den Stamm durchschneiden und dann zeichnen, was Sie da sehen im Durchschnitt. So ist es, wenn Sie den Ätherleib in einem Schema zeichnen, eben nur ein Durchschnitt, denn der ganze Ätherleib ist ein zeitlicher Verlauf. Und man kommt, indem man diesen zeitlichen Verlauf überblickt, sogar etwas über die Geburt, ja sogar über die Empfängnis hinaus bis zu einem Punkte, wo man schaut, wie der Mensch heruntergestiegen ist aus seinem vorirdischen Dasein zu diesem jetzigen Erdendasein, und sich sozusagen als Letztes, das er durchgemacht hat, bevor er von einem Elternpaar konzipiert wurde, Substantialität aus dem allgemeinen Weltenäther heran­gezogen und zu seinem eigenen Ätherleib gebildet hat.

So daß Sie also, sobald Sie vom Ätherleib sprechen, nicht anders sprechen können, als indem Sie das zeitliche Leben des Menschen bis über die Geburt hinaus überblicken. Das, was man als den Äther­leib in einem bestimmten Zeitmomente ansieht, ist nur eine Abstrak­tion; das Konkrete ist der zeitliche Verlauf.

Beim astralischen Leib ist es noch anders. Auf den astralischen Leib des Menschen kommt man in der Art, wie ich Ihnen das gestern gesagt habe.

Das kann ich Ihnen nur schematisch zeichnen. Es muß ja auch in der Zeichnung für Sie der Raum zur Zeit werden. Nehmen wir an, am 2. Februar 1924 betrachten Sie den astralischen Leib eines Menschen.

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Hier wäre der Mensch (es wird gezeichnet) und wir betrach­ten seinen astralischen Leib. Ja, es macht der Mensch diesen Ein­druck: da ist sein physischer Leib, da ist sein Ätherleib, und da kann man auch seinen astralischen Leib betrachten. Es macht den Ein­druck, wie ich es in meinem Buche «Theosophie» beschrieben habe. Es ist so. Aber kommt man zu der eigentlich inspirierten Erkenntnis, wie ich sie gestern beschrieben habe, die gegenüber dem leeren Be­wußtsein auftritt, dann gelangt man zu folgender Einsicht. Dann sagt man sich: Dasjenige, was da als astralischer Leib im Menschen gesehen wird, das ist eigentlich nicht am 2. Februar 1924 vorhan­den, sondern wenn der Mensch, dessen astralischen Leib man be­trachtet, zwanzig Jahre alt geworden ist, so muß man die Zeit zurück verfolgen. Sie kommen dann hin, meinetwillen zu dem Januar 1904, und Sie bekommen die Einsicht: da eigentlich ist erst in Wirklich­keit dieser astralische Leib da, und weiter zurück ins Unbegrenzte, weiter zurück, da ist er eigentlich erst. Er ist gar nicht mitgegangen durch das Leben, er ist da geblieben. Hier ist nur eine Art Schein. -Es ist so, wie wenn Sie in eine Allee hineinschauen würden (es wird gezeichnet): da geht's weiter, es sind die letzten Bäume, sie sind sehr nahe; dahinten steht eine Lichtquelle. Ja, Sie können hier den Schein des Lichtes noch haben, aber die Lichtquelle ist doch dahin­ten, die ist nicht hervorspaziert, damit hier der Schein des Lichtes ist.

So ist der astralische Leib auch da geblieben (es wird auf die Zeichnung verwiesen), wirft nur seinen Schein in das Leben herein. Der astralische Leib ist eigentlich in der geistigen Welt geblieben, ist nicht mitgegangen in die physische Welt. Wir stehen unserem astralischen Leibe nach immer vor unserer Empfängnis, vor unserer Geburt und Empfängnis in der geistigen Welt drinnen. Es ist so, wie wenn wir, wenn wir 1924 zwanzig Jahre alt geworden sind, eigent­lich doch geistig noch lebten vor dem Jahre 1904, und nur einen Fühler vorgestreckt hätten in bezug auf den astralischen Leib.

Sie werden sagen: Das ist eine schwierige Vorstellung. Schön, aber Sie wissen, es hat einmal einen spanischen König gegeben, dem

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hat man gezeigt, wie kompliziert das Weltengebäude ist. Da hat der spanische König gemeint, wenn er das Weltengebäude gemacht hätte, hätte er es einfacher gemacht. Das mag schon der Mensch denken, aber die Welt ist eben in Wirklichkeit nicht einfach, und der Mensch schon gar nicht, sondern man muß sich etwas anstren­gen, um das zu erfassen, was der Mensch ist.

Sie schauen also, indem Sie nach dem astralischen Leib schauen, direkt in die geistige Welt hinein. Astralisches um sich haben Sie nur in der außermenschlichen Welt. Wenn Sie die Menschen an­schauen, schauen Sie in die geistige Welt hinsichtlich ihrer astra­lischen Leiber hinein. Sie sehen direkt dasjenige, was der Mensch selber, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist, in der geistigen Welt durchgemacht hat.

Sie werden sagen: Aber mein astralischer Leib wirkt doch in mir. Das tut er auch, selbstverständlich tut er das; aber denken Sie sich, hier wäre irgendein Wesen (es wird gezeichnet), das hätte irgend­welche Stricke und würde durch diese Stricke, die mechanisch ver­bunden wären, etwas verrichten. Weit weg im Raume tritt die Wir­kung von einem Wesen auf, das eben hier ist. So ist es hier mit der Zeit. Ihr astralischer Leib ist da geblieben, aber er streckt seine Wir­kungen eben durch das ganze Leben aus. Wenn Sie also heute eine Wirkung Ihres astralischen Leibes beachten, so hat die ihren Ur­sprung in der Zeit, die längst vergangen ist, wo Sie, noch bevor Sie auf die Erde heruntergestiegen sind, in der geistigen Welt waren. Die Zeit wirkt da herein. Die Zeit ist, mit anderen Worten, da ge­blieben für das Geistige. Und derjenige, der glaubt, daß das Ver­gangene in dem, was in der Zeit wirklich lebt, nicht mehr da sei, der gleicht einem Menschen, der in einem Eisenbahnzug sitzen würde, fortführe, und einer sagte ihm: du, das war doch eine schöne Ge­gend, die wir da durchfahren haben, und der Mensch - der also einfältig wäre - würde sagen: ja, schöne Gegend, aber sie ist ja verschwunden, sie ist ja gar nicht mehr da. - Solch ein Mensch würde also glauben, wenn er mit dem Eilzug vorübergefahren ist

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an einer Gegend, dann sei sie verschwunden, sei nicht mehr da. Ge­radeso gescheit ist es, wenn der Mensch glaubt, was in der Zeit vergangen ist, sei nicht mehr da. Es ist eben fortwährend da, es wirkt in ihn herein. Der 3. Januar 1904 in seinem geistigen Be-stande ist noch da, gerade so wie das Räumliche da ist, wenn Sie durchgefahren sind; es ist da, und es ist so da, daß es hereinwirkt in die Gegenwart.

So daß, wenn Sie Ihren astralischen Leib so beschreiben, wie ich es in meiner «Theosophie» getan habe, dann müssen Sie, um die Einsicht zu einer vollständigen zu machen, eben sich bewußt werden, daß das, was da wirkt, der Schein desjenigen ist, was eigentlich weit zurückliegend wirkt. Sie sind als Mensch wirklich ein Komet, der seinen Schweif weit zurück in die Vergangehheit erstreckt. Man kann nicht anders eine wirkliche Einsicht in die menschliche We­senheit gewinnen als dadurch, daß man auf die neuen Begriffe kommt.

Die Menschen, die glauben, daß man mit denselben Begriffen, die man hier für die physische Welt hat, auch in die geistige Welt ein­treten kann, die sollten Spiritisten werden, nicht Anthroposophen. Da, nicht wahr, versucht man alles Geistige, nur ein bißchen dünner, gerade auch in den gewöhnlichen Raum, wo die physischen Men­schen herumgehen, hereinzuzaubern. Aber das ist eben kein Gei­stiges. Das sind nur feine Ausschwitzungen, selbst die Schrenk­Notzingschen Phantome sind nur feine Ausschwitzungen des Phy­sischen, sehr dünne Ausschwitzungen, die noch in ihrer Gestaltung den Nachklang des Ätherischen haben. Es sind bloße Phantome; sie sind nicht ein wirklich Geistiges.

Wenn Sie die Sache so betrachten, dann werden Sie sich sagen:

In der außermenschlichen Natur sind die höheren Welten gegen­wärtig. Beim Menschen kommen wir sogleich in die Zeit hinein, in seinen zeitlichen Verlauf, wenn wir die aufeinanderfolgenden Wel­ten betrachten. Man kann aber beim Menschen auch noch weiter-dringen in der Erkenntnis. Und da mündet die Erkenntnis ein in ein

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Element, von dem man heute in unserer philiströs-materialistischen Zeit nicht zugeben will, daß es auch ein Erkenntniselement sein kann.

Ich habe Ihnen als die erste Stufe der Erkenntnis diejenige vorge­wiesen, die - nun ja, die groben, robusten physischen Dinge um uns herum erblickt durch die Sinne. Die zweite Art war die des er­krafteten Denkens, wo man die sich bewegenden Bilder der Welt in sich auffaßt. Die dritte Art war die inspirierte, wo man dasjenige wahrnimmt, was sich wesenhaft in diesen Bildern ausspricht, was hineintönt wie ein Sphärenmusikalisches, aber wesenhaft. Nimmt man das beim Menschen wahr, dieses wesenhaft Sphärische, dann wird man nicht bloß aus der Materie hinausgeführt, sondern aus der Gegenwart hinausgeführt in das vorirdische Leben des Menschen, in sein Dasein, das er gehabt hat als geistig-seelisches Wesen, bevor er auf die Erde herabgestiegen ist. Diese inspirierte Erkenntnis erlangt man, wenn man das leere Bewußtsein herstellt, nachdem man vorher das erkraftete Denken gehabt hat.

Den weiteren Aufstieg in der Erkenntnis erlangt man dadurch, daß man die Kraft der Liebe zu einer Erkenntuiskraft macht. Nur darf es nicht die triviale Liebe sein, von der allein in unserer mate­rialistischen Zeit zumeist gesprochen wird, sondern es muß die­jenige Liebe sein, die imstande ist, sich eins zu fühlen mit einem Wesen, das man selber nicht ist innerhalb der physischen Welt; also wirklich fühlen können das, was in dem anderen Wesen vorgeht, ebenso wie das, was in einem selbst vorgeht, ganz aus sich heraus­gehen können und wieder aufleben in dem anderen Wesen. Im ge­wöhnlichen Menschenleben bringt sich dieses Lieben nicht bis zu einem solchen Grade, der notwendig ist, um die Liebe zu einer Erkenntniskraft zu machen. Da muß man schon zuerst dieses leere Bewußtsein hergestellt haben, muß auch einige Erfahrungen mit dem leeren Bewußtsein gemacht haben. Ja, dann macht man etwas durch, was freilich viele Menschen nicht suchen, indem sie nach höherer Erkenntnis streben. Da macht man nämlich etwas durch,

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was man nennen könnte den Erkenntnisschmerz, das Erkenntnisleid. Wenn der Mensch irgendwo eine Wunde hat, dann schmerzt ihn

das. Warum? Weil sein geistiges Wesen dadurch, daß der physische Leib verletzt wird, an dieser Stelle den physischen Leib nicht richtig durchdringen kann. Aller Schmerz rührt ja davon her, daß man irgendwie den physischen Leib nicht durchdringen kann. Und wenn man an etwas Äußerlichem Schmerz erlebt, so ist es ja auch aus dem Grunde, weil man sich damit nicht vereinigen kann. Hat man das leere Bewußtsein erlangt, in das eine ganz andere Welt als die­jenige, an die man gewöhnt ist, hereinflutet, dann hat man für die Momente, in denen man diese inspirierte Erkenntnis hat, den ganzen physischen Menschen nicht, dann ist alles wund, dann schmerzt alles. Das muß man zunächst durchmachen. Man muß sozusagen das Verlassen des physischen Leibes als richtigen Schmerz, als richtiges Leid durchmachen, um zur inspirierten Erkenntnis zu gelangen, um dazu zu gelangen im unmittelbaren Anschauen, nicht bloß im Be­greifen. Das Begreifen natürlich kann ganz schmerzlos vor sich gehen und sollte von den Menschen erlangt werden, indem sie eben auch nicht durch den Initiationsschmerz hindurchgehen. Aber um zu dem zu kommen, dasjenige bewußt zu erleben was der Mensch eigentlich an sich hat aus dem vorgeburtlichen Dasein, was noch aus der geistigen Welt geblieben ist und in einen hereinwirkt -um dazu zu kommen, dazu gehört zunächst das Hinübergehen über den Abgrund des ganz allgemeinen, ich möchte sagen universellen Leides, universellen Schmerzes.

Und dann kann man die Erfahrung des Auflebens in einem ganz Andern haben, dann lernt man erst die höchstpotenzierte, die h&hst­gradige Liebe, die darinnen besteht, daß man wirklich nicht abstrakt sich selbst vergessen kann, sondern sich ganz außer acht lassen kann und ganz in das Andere hinüberkommen kann. Und wenn diese Liebe in Verbindung mit der höheren, inspirierten Erkenntnis auf­tritt, dann hat man eigentlich erst die Möglichkeit, mit all der Lebenswärme, mit all der Gemütsinnigkeit, mit all der Herzensinnigkeit,

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die ja natürlich etwas Seelisches ist, in das Geistige hinein-zukommen. Und das muß man, wenn man weiterkommen will in der Erkenntnis. Die Liebe muß in diesem Sinne eine Erkenntniskraft werden. Denn wenn diese Liebe, die als Erkenntniskraft dann auf­tritt, eine gewisse Höhe erreicht hat, eine gewisse Intensität, dann kommen Sie hinüber durch Ihr vorirdisches Dasein in das vorige Erdenleben. Sie schlüpfen hinüber durch das Ganze, was Sie durch­gemacht haben zwischen Ihrem letzten Tode und dem gegenwärtigen Erdenleben, in das frühere Erdenleben, in das, was man die vorher­gehenden Inkarnationen nennt.

Sehen Sie, dazumal sind Sie auch in einem physischen Leibe auf der Erde gewandelt, selbstverständlich. Aber von all dem, was da physischer Leib an Ihnen war, ist ja nichts geblieben; das ist ja alles in die Erdenelemente aufgesogen worden, von dem ist nichts da. Dasjenige, was Ihr innerstes Wesen war in der damaligen Zeit, das ist ja ganz geistig geworden, das lebt in Ihnen als ganz Geistiges.

Wahrhaftig, unser Ich wird, indem es durch die Pforte des Todes geht, durch die geistige Welt geht bis zu einem neuen Erdenleben, ganz geistig. Und wer glaubt, es mit ganz gewöhnlichen Kräften des all­täglichen Bewußtseins erringen zu können, der kann es nicht errin­gen. Man kann es nur erringen, wenn die Liebe in der Weise höchst-gesteigert ist, wie ich es angeführt habe. Denn der, der wir waren im früheren Dasein, der ist ebenso außer uns, wie ein anderer Mensch in der Gegenwart außer uns ist. Derselbe Grad von Außensein haftet unserem Ich an. Gewiß, es wird dann unser Eigentum. Wir erleben es als uns selbst, aber wir müssen erst so lieben lernen, daß diese Liebe gar nichts Egoistisches hat. Es wäre ja etwas Furchtbares, wenn man in seine vorige Inkarnation sich verlieben würde im ge­wöhnlichen Sinne des Wortes. Es muß die Liebe im höchsten Sinne gesteigert werden, daß man eben diese vorige Inkarnation zugleich als etwas ganz anderes erleben kann. Und dann dringt man, wenn die Kraft der Erkenntnis durch das leere Bewußtsein aufsteigt zu der Kraft der Erkenntnis durch die höchstgesteigerte Liebe, dann

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gelangt man zu dem vierten Gliede der menschlichen Wesehheit, zu dem eigentlichen Ich.

Der Mensch hat seinen physischen Leib. Durch den lebt er in jedem Augenblick in der physischen Gegenwart der Erde. Der Mensch hat seinen Ätherleib. Durch den lebt er eigentlich fort-dauernd bis ein Stückchen vor seine Geburt hin, wo er sich den Ätherleib gesammelt hat aus dem allgemeinen Weltenäther. Nun hat er seinen Astralleib. Durch den lebt er durch das ganze Dasein zwischen seinem vorigen Tode und diesem Heruntersteigen auf die Erde. Und dann hat er sein Ich. Da lebt er ins vorige Erdenleben hinein. So daß wir beim Menschen überall, wo wir von seiner Glie­derung sprechen, sprechen müssen von seiner Ausdehnung in der Zeit. Wir tragen unser voriges Ich-Bewußtsein unterbewußt in der Gegenwart in uns. Und wie tragen wir es in uns? Ja, wenn Sie das studieren wollen, wie wir es in uns tragen, dann mußten Sie auf­merksam werden darauf - und das ist auch der Weg dazu, an das Ich heranzukommen -, wie der Mensch nun hier in der physischen Welt nicht nur fester Leib ist, nicht nur ein flüssiger Mensch, ein luftförmiger Mensch, sondern wie der Mensch ja ein Wärmeorganis­mus ist. Primitiv, wenigstens sehr partiell weiß das schon jeder; wenn er Fieber mißt, so bekommt er verschiedene Fieberangaben, je nach den verschiedenen Stellen des Organismus, wo er mißt. Aber so ist es ja durch den ganzen menschlichen Organismus hindurch. Eine andere Temperatur haben Sie oben im Kopfe, eine andere in der großen Zehe, eine andere innerlich in der Leber, eine andere innerlich in der Lunge. Sie sind ja nicht nur das, was Sie in einem anatomischen Atlas in festen Konturen gezeichnet finden; Sie sind ein Flüssigkeitsorganismus, der in fortwährender Bewegung ist; Sie sind ein Luftorganismus, der Sie immerfort durchdringt, wie wenn Sie da immer ein mächtiges Symphonisches, Musikorganisches durchdränge. Und Sie sind bei alledem ein wogendes, warm-kalt Organisiertes, ein Wärmeorganismus, und in diesem Wärmeorganis­mus leben Sie selber drinnen. Das spüren Sie auch. Schließlich haben

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Sie nicht ein sehr starkes Bewußtsein davon, daß Sie, sagen wir in einem Schienbein- oder in einem anderen Knochen leben, auch nicht ein starkes Bewußtsein davon, daß Sie in Ihrer Leber leben oder in den Säften Ihrer Gefäße. Aber daß Sie in Ihrer Wärme leben, davon haben Sie ein starkes Bewußtsein, wenn Sie das auch nicht differen­zieren, wenn Sie auch nicht sagen: Da ist meine Wärmehand, da ist mein Wärmebein, da ist meine Wärmel eber und so weiter; aber es ist da, und ist es einmal gestört, ist nicht die menschlich angemessene Differenzierung im Wärmeorganismus vorhanden, dann spüren Sie es als Erkrankung, als Schmerz.

Wenn man das Ätherische schaut, wenn man mit dem entwickel­ten Bewußtsein zur Bildhaftigkeit, zur Imagination gedrungen ist, dann hat man webende Bilder. Nimmt man das Astralische wahr, hat man die Weltensphärenmusik. Die dringt an einen heran, oder auch sie dringt aus uns heraus. Denn unser eigener Astralleib führt uns zurück in unser vorirdisches Dasein. Und gehen wir weiter zu jener Erkenntnis, die sich aufschwingt bis zur intensivsten Liebe, wo die Liebeskraft Erkenntniskraft wird, wo wir zunächst unser eigenes Dasein aus einem vorigen Erdenleben hereinfluten sehen in unser gegenwärtiges Erdenleben, so spüren wir dieses vorangehende Erdenl eben in der normalen Differenzierung unseres Wärmeorganis­mus, in dem wir drinnen leben. Das ist die wirkliche Intuition. Da leben wir drinnen. Und wenn irgendein Impuls in uns aufsteigt, das oder jenes zu tun, so wirkt dies ja nicht nur, wie es im astralischen Leib ist, aus der geistigen Welt heraus, sondern von noch weiter zurück aus dem früheren Erdenleben. Das frühere Erdenleben wirkt in die Wärme Ihres Organismus herüber und erzeugt diesen oder jenen Impuls. Schauen wir in dem irdisch-festen Menschen den phy­sischen Leib, in dem flüssigen den ätherischen Leib, in dem luftför­migen den astralischen Leib, so schauen wir in dem Wärmemäßigen des Menschen das eigentliche Ich. Das Ich der gegenwärtigen Inkar­nation ist nie fertig; das bildet sich. Das eigentliche, in den unter-bewußten Tiefen wirkende Ich ist das des vorigen Erdenlebens. Und

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vor dem schauenden Bewußtsein nimmt sich ein Mensch, dem Sie gegenübertreten, so aus, daß Sie sagen: Hier steht er; ich erblicke ihn zunächst so wie er dasteht, mit meinen äußeren Sinnen. Ich schaue dann das Ätherische, ich schaue das Astralische, dann aber hinter ihm den anderen Menschen, der er war in der vorigen Inkar-nation.

In der Tat, je weiter dieses Bewußtsein ausgebildet wird, desto mehr erscheint - perspektivisch macht sich das so (es wird gezeich­net) - das menschliche Haupt der gegenwärtigen Inkarnation,

#Bild s. 104

etwas darüber das menschliche Haupt der vorigen Inkarnation, etwas darüber das menschliche Haupt der noch weiter zurückliegenden Inkarnation. In Zivilisationen, die von diesen Dingen durch ein in­stinktives Bewußtsein noch etwas geahnt haben, finden Sie Bilder, wo hinter dem deutlich gezeichneten Antlitz, das auf das gegenwär­tige Erdenleben bezogen wird, ein anderes, etwas weniger deutlich gemaltes ist, und ein noch weniger deutlich gemaltes als drittes. Es gibt solche ägyptische Bilder. Derjenige, der erblickt, wie eigentlich hinter dem Menschen der Gegenwart der Mensch der vorigen Inkarnation

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und der weiter zurückliegenden Inkarnation aufsteigt, ver­steht solche Bilder. Und es ist erst eine Realität, von dem Ich zu sprechen als dem vierten Gliede der menschlichen Natur, wenn man zugleich das zeitliche Dasein zu den vorigen Inkarnationen zurück­erweitert.

Das alles wirkt im Wärmemenschen. Die Inspiration kommt noch an einen heran von außen oder von innen. In der Wärme steht man selber drinnen. Da ist die Intuition, die wahre Intuition. Ganz anders erlebt man die Wärme als irgend etwas anderes an sich.

Jetzt aber, wenn Sie das so betrachten, dann kommen Sie über eines hinaus, was gerade dem Menschen der Gegenwart, wenn er wirklich unbefangen mit seiner Seele zu Werke geht, ein großes Rätsel aufgeben sollte. Ich habe von diesem Rätsel gesprochen. Ich sagte, wir fühlen uns moralisch verbindlich gegenüber gewissen Im­pulsen, die uns rein geistig gegeben sind. Wir wollen sie ausführen. Wie das in die Knochen, in den Muskel schießt, wozu wir uns moralisch verbunden fühlen, das kann man zunächst nicht einsehen. Wenn man aber weiß, daß man sein Ich aus der vorigen Inkarnation, das schon ganz geistig geworden ist, in sich trägt, daß dieses Ich in die Wärme hereinwirkt, dann hat man den Übergang da in diesem Wärmemenschen. Auf dem Umwege durch das Ich der vorigen In­karnation wirken die moralischen Impulse. Da bekommen Sie erst den Übergang vom Moralischen ins Physische. Wenn Sie bloß die gegenwärtige Natur betrachten und den Menschen als einen Aus­schnitt aus der Natur, bekommen Sie diesen Ubergang nicht.

Denn wenn Sie die gegenwärtige Natur betrachten, so können Sie folgendes sagen: Nun ja, da draußen ist die Natur; der Mensch nimmt ihre Stoffe auf, baut sich seinen Organismus auf - so naiv kindlich stellt man sich das ja vor -, ist also ein aus den Stoffen der Natur zusammengeschweißter Ausschnitt aus der Natur. Schön. Jetzt fühlt er aber plötzlich: es gibt moralische Impulse, und er soll sich danach richten. Er soll nur einen einzigen Schritt machen im Sinne dieser moralischen Impulse. Ich möchte wissen, wie dieser Ausschnitt

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aus der Natur das anfängt? der Stein kann's nicht; das Kalzium kann's nicht; das Chlor kann's nicht; der Sauerstoff kann's nicht; der Stickstoff kann's nicht, alles das kann's nicht. Der Mensch, der aus dem zusammengeschweißt ist, soll's plötzlich können: er empfin­det einen moralischen Impuls, und er soll sich danach richten, da er doch aus alledem zusammengeschweißt ist, was das nicht kann.

Aber in alledem, was da zusammengeschweißt ist, entsteht ja etwas, namentlich auf dem Umwege durch den Schlaf, was durch den Tod geht, was immer geistiger und geistiger wird und ein nächstes Mal in den Leib hineingeht. Nun ist es in diesem auch schon darinnen, weil es aus der vorigen Inkarnation kommt. Das ist geistig geworden. Das wirkt in die Inkarnation hinein. Dasjenige, was jetzt aus den Stoffen der Erde zusammengeschweißt ist, wird in der nächsten Inkarnation in den Wärmemenschen hineinwirken. Da strömt das Moralische von einem Erdenleben des Menschen in das andere hinein.

Da begreift man den Übergang von der physischen Natur zur geistigen, und wiederum zurück von der geistigen zur physischen. Mit einem Erdenleben kann man das nicht, wenn man sich nicht einer seelisch-geistigen Erkenntuisunredlichkeit hingibt oder sich über das Ganze hinweg betäubt.

Sehen Sie, was man als die Elemente des Irdischen betrachten kann, das feste Irdische, das Flüssige, das Gas- oder Luftförmige, das Wärmeartige, das ist überall durchzogen von dem, was man bezeichnen kann als das Physische - da ist es unmittelbar es sel­ber -, das Ätherische, das Astralische und das Ichmäßige. Und so bekommt man im Zusammenhange mit dem Weltendasein, mit dem Universum, die Gliederung des Menschen. Und man kann sich eine Vorstellung davon bilden, inwiefern der Mensch ein Ausschnitt ist aus der Zeit, nicht nur aus dem Raume. Aus dem Raume ist er es nur seiner physischen Körperlichkeit nach. Aber das Vergangene ist für die geistige Betrachtung ein fortdauerndes Gegenwärtiges. Die Gegenwart ist zu gleicher Zeit eine wirkliche Ewigkeit.

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Es ist dieses, was ich Ihnen da auseinandersetze, einmal Inhalt instinktiver Bewußtseinsformen der Menschen gewesen. Wenn wir alte Urkunden wirklich verstehen, so finden wir schon, wie in alten Urkunden ein Bewußtsein von dieser Viergliederigkeit des Men­schen im Zusammenhange mit der Welt lebt. Aber durch viele Jahr­hunderte hindurch ist diese Erkenntnis dem Menschen verloren­gegangen. Er hätte sonst niemals seinen Intellekt ausbilden können, so wie er ihn jetzt hat. Aber nun sind wir wieder an dem Punkte in der Menschheitsentwickelung angelangt, wo wir wiederum vordrin­gen müssen von dem Physischen aus zu dem wirklich Geistigen.

SECHSTER VORTRAG 3. Februar 1924 Die waltenden Weitgedanken in der ausströmenden Atemluft Das in den Wärmeentwick elun gen wirksame reale Ich

#G234-1959-SE108 Anthroposophie

#TI

SECHSTER VORTRAG

3. Februar 1924

Die waltenden Weitgedanken in der ausströmenden Atemluft

Das in den Wärmeentwick elun gen wirksame reale Ich

#TX

Wenn man den Verlauf des menschlichen Erdenlebens betrachtet, so findet man ihn in einer Art von Rhythmus verlaufend, der sich ausdrückt in den Wechselzuständen zwischen Wachen und Schlafen Unter den Gesichtspunkt des Wachens und Schlafens hat man zu rücken dasjenige, was in den letzten Vorträgen ausgeführt worden ist über die Gliederung des Menschen. Sehen wir uns einmal das, was dabei vorliegt, ich möchte sagen, mit dem gewöhnlichen Be­wußtsein rein äußerlich an. Wir haben im wachenden Menschen den inneren Verlauf seiner Lebensprozesse, die aber im Unterbewuß­ten oder Unbewußten verbleiben. Wir haben in diesem wachenden Menschen vorhanden das, was wir als die Sinneseindrücke kennen, jenes Verhältnis zu unserer irdischen und außerirdischen Umgebung, das durch die Sinneseindrücke vermittelt ist, und wir haben ferner im wachenden Menschen die Offenbarung seiner Willensnatur ge­geben. Wir haben seine Bewegungsmöglichkeit als Ausdruck seiner Willensimpulse gegeben

Wenn wir den Menschen äußerlich betrachten, so finden wir, daß der innere Lebensprozeß, der im Unbewußten für den wachen Men­schen verläuft, fortdauert während des Schlafes. Wir finden, daß wäh­rend des Schlafes die Sinnestätigkeit und das auf ihr sich aufbauende Denken unterdrückt ist. Wir finden, daß unterdrückt ist das, was Of­fenbarung des Willens ist, und das, was beides miteinander verbindet, was gewissermaßen zwischen drinnensteht, das aktive Gefühlsleben.

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Wenn wir nun einfach unbefangen dieses, was so das gewöhn. liche Bewußtsein ergibt, betrachten, ohne uns einzulassen in irgend­welche Vorurteile, so müssen wir uns doch sagen: Die als seelisch zu bezeichnenden Vorgänge und die Vorgänge, die zwischen dem Seelischen und der Außenwelt sich abspielen, die hören im Schlafe auf, höchstens daß aus dem Schlafe heraustönt dasjenige, was das Traumleben ist. Und wir dürfen ganz gewiß nicht annehmen, daß mit jedem Erwachen diese seelischen Prozesse gewissermaßen aus dem Nichts heraus neu geschaffen würden. Das wäre zweifellos auch für das gewöhnliche Bewußtsein ein ganz absurder Gedanke. Es bleibt nichts anderes übrig für das unbefangene Betrachten, als vorauszusetzen, daß alles, was im Menschen Träger ist der seelischen Vorgänge, auch während des Schlafes vorhanden ist. Dann aber müssen wir uns gestehen, daß dieses, was so Träger der seelischen Vorgänge ist, während des Schlafes nicht eingreift in den Menschen; daß also nicht eingreift in den Menschen dasjenige, was in seinen Sinnen hervorruft ein Bewußtsein von der Außenwelt, und was die­ses Bewußtsein der Außenwelt auf rüttelt zum Denken; daß ebenfalls nicht eingreift das, was vom Willen aus den Körper in Bewegung setzt, und daß auch nicht eingreift das, was die gewöhnlichen orga­nischen Prozesse zum Gefühl aufruft.

Wir werden uns ja bewußt während des Wachlebens, daß die Ge­danken in unseren Organismus eingreifen, wenn man auch mit dem gewöhnlichen Bewußtsein nicht überschaut, wie der Gedanke, die Vorstellung gewissermaßen hinunterströmt in das Muskelsystem, in das Knochensystem und den Willen vermittelt. Aber wir sind uns bewußt dieses Eingreifens der seelischen Impulse in die Körperlich­keit, und wir müssen uns klar sein darüber, daß eben dieses Eingrei­fen der seelischen Impulse fehlt, während wir im Schlafe sind.

Daraus schon können wir rein äußerlich sagen: der Schlaf nimmt eben von dem Menschenwesen etwas weg. Und es wird sich nur fragen, was der Schlaf von diesem Menschenwesen wegnimmt. Wenn wir zunächst auf das sehen, was wir als den physischen Menschenleib

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bezeichnet haben - er ist im Schlafe fortdauernd tätig, wie er tätig ist während des Wachens. Aber auch all diejenigen Vorgänge, welche wir gekennzeichnet haben als die des ätherischen Organismus, sie dauern fort während des Schlafes. Der Mensch wächst während des Schlafes. Der Mensch verrichtet innerlich die­jenigen Tätigkeiten, die der Ernährung, der Verarbeitung der Er­nährung angehören. Er atmet weiter und so fort. Das alles sind Tätigkeiten, die nicht dem physischen Leibe angehören können, denn sie hören eben auf, wenn der physische Leib Leichnam wird. Da wird der physische Leib von der äußeren Natur, von der Erden-natur in Anspruch genommen. Die wirkt zerstörend. Das, was zer­störend wirkt, überfällt den Menschen im Schlafe noch nicht. Es sind also die Gegenwirkungen da gegen das Auseinanderfallen des menschlichen physischen Leibes. So daß wir schon daraus rein äußer­lich uns sagen müssen: der ätherische Organismus ist auch während des Schlafes vorhanden.

Wir wissen aus den vorangehenden Vorträgen, daß dieser äthe­rische Organismus durch Imagination zur wirklichen Erkenntuis ge­bracht werden kann. Man kann ihn im Bilde erleben, gerade so wie man durch die Sinneseindrücke den physischen Leib erlebt. Wir wissen auch, daß dasjenige, was man den astralischen Organismus nennen kann, durch Inspiration erlebt wird.

Wir wollen nun nicht bei Schlußfolgerungen stehen bleiben -das könnten wir ja auch, aber wir werden diese Schlußfolgerungen in bezug auf den astralischen Leib und die Ich-Organisation lieber machen, nachdem zuerst die wirkliche Beobachtung für das ent­wickelte Bewußtsein vor unsere Seele getreten ist.

Wollen wir zunächst uns einmal vergegenwärtigen, wie wir sagen müßten, daß der astralische Leib im Menschen wirkt. Er wirkt durch das Mittel des Luftartigen, des Gasartigen im menschlichen Organis­mus. So daß wir in alledem, was im Menschen als Wirkung, als Im­pulse des Luftartigen vor sich geht, zunächst den astralischen Leib erkennen müssen.

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Nun wissen wir, daß das Allerwesentlichste in bezug auf diese Tätigkeit des astralischen Leibes in dem Luftartigen zunächst die Atmung ist, und wir wissen schon aus der gewöhnlichen Erfahrung, daß wir zu unterscheiden haben zwischen der Einatmung und der Ausatmung. Und wir wissen weiter, die Einatmung ist für uns das Belebende. Wir entnehmen der äußeren Luft das Belebende, indem wir einatmen. Aber wir wissen auch, wir geben an die äußere Luft das ab, was nun nicht das Belebende ist, sondern das Ertötende. Physisch gesprochen, wir nehmen den Sauerstoff auf, geben die Kohlensäure ab. Allein das interessiert uns dabei weniger. Es inter­essiert uns eben das Ergebnis der gewöhnh.chen Erfahrung, daß wir das Belebende einatmen, das Ertötende ausatmen.

Nun handelt es sich darum, die höhere Erkenntnis, die da verläuft in Imagination, Inspiration und Intuition - das haben wir ja in den letzten Tagen besprochen - also die inspirierte Erkenntnis, anzu­wenden auf das Schlafleben ,und einmal wirklich zu prüfen: ist da etwas, das der Schlußfolgerung entspricht, die wir haben müssen, daß vom Menschen etwas herausgehoben wird?

Diese Frage kann nur dadurch beantwortet werden, daß man die andere aufwirft und zur Beantwortung bringt: Wenn so etwas da ist, was außerhalb des Menschen ist, wie verhält sich nun dieses außer-halb des Menschen Befindliche?

Nun, nehmen Sie einmal an, der Mensch habe es durch solche innerlichen Seelenübungen, wie ich sie charakterisiert habe, dazu gebracht, wirkk.ch Inspiration zu haben, also in das leere Bewußtsein etwas hereinzubekommen. Er lebt in der Moglichkeit, inspirierte Erkenntnis zu haben. In diesem Augenblicke ist es ihm auch mög­lich, den Schlafzustand künstk.ch herbeizuführen, aber 50, daß er nicht ein Schlafzustand ist, sondern daß er eben nur ein bewußter Zustand ist, der Zustand der Inspiration eben ist, wo die geistige Welt hereinflutet.

Nun möchte ich ganz populär die Sache darstellen. Nehmen Sie an, derjenige, der ein solches inspiriertes Bewußtsein erlangt hat, ist

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imstande, gewissermaßen in einem Geistig-Musikalischen die Welten-wesen, die geistigen Weltenwesen in sich hereinsprechen zu fühlen. Dann wird er dabei, bei diesem inspirierten Erkennen, gewisse Er­fahrungen machen. Aber er wird sich auch sagen: Ja, die Erfahrun­gen, die ich da mache, bewirken jetzt etwas sehr Eigentümliches; die bewirken, daß mir das, was ich vorausgesetzt habe, daß es während des Schlafes außerhalb des Menschen ist, nichts Unbekanntes mehr bleibt. Es ist wirklich so, daß man das, was da eintritt, mit folgen-dem vergleichen kann.

Nehmen Sie an, Sie haben vor zehn Jahren ein Erlebnis gehabt. Sie haben es vergessen. Und durch irgendeine Veranlassung kom­men Sie dazu, an dieses Erlebnis vor zehn Jahren sich wieder zu erinnern. Es ist so, daß es außerhalb Ihres Bewußtseins war, daß Sie, nachdem Sie irgendwelche Gedächtnishilfe oder dergleichen ange-wendet haben, dieses Erlebnis vor zehn Jahren wiederum in Ihr Bewußtsein hereinbringen. Es ist nun darinnen. Da haben Sie etwas, was außerhalb Ihres Bewußtseins war, was aber doch mit Ihnen ver­bunden war, wieder in das Bewußtsein hereingebracht.

So geschieht es dem, der ein intimeres Bewußtsein hat und zur Inspiration kommt. Ihm fängt an das, was im Schlafe vor sich gegan. gen ist, aufzutauchen, wie sonst Erinnerungserlebnisse auftauchen. Nur daß die Erinnerungserlebnisse einmal da waren im Bewußtsein. Die Schlafeserlebnisse waren früher im Bewußtsein nicht da, aber sie kommen herein, so daß er eigentlich das Gefühl hat, er erinnert sich an etwas, was er allerdings in diesem Erdenleben nicht ganz bewußt erlebt hat, aber es kommt herein wie Erinnerungen; und man be­ginnt, wie man wieder verstehen lernt ein gehabtes Erlebnis durch die Erinnerung, so zu verstehen, was während des Schlafes sich vollzieht. Also in das inspirierte Bewußtsein hinein taucht das Er­leben dessen, was außerhalb des Menschen während des Schlafes ist, einfach auf, und es wird ein Bekanntes aus einem Unbekannten. Und man lernt erkennen, was das, das da aus dem Menschen während 4 des Schlafes herausschlüpft, nun während des Schlafes eigentlieh tut.

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Wenn Sie in Sprache verwandeln würden, was Sie im Wach­leben mit dem Atem erleben, so würden Sie sagen: Ich danke es dem Elemente, das ich einatme, daß ich innerlich mit Leben durchsetzt werde, und ich könnte es nimmermehr dem Elemente, das ich aus­atme, verdanken, daß ich lebe, denn das ist etwas Tötendes.

Sind Sie aber während des Schlafes außerhalb Ihres Leibes, wie wir es vorhin erschlossen haben, dann wird Ihnen die eigene Luft, die Sie ausatmen, gerade zu einem außerordentlich sympathischen Elemente. Sie haben das nicht beachtet, was mit der Ausatmungsluft erlebt werden kann, während Sie wachten, denn da haben Sie nur auf die Einatmungsluft geachtet, die das Belebende gibt, wenn Sie eben mit Ihrer Seele in Ihrem physischen Leibe drinnenstecken. Aber dasselbe, ja noch ein gehobeneres Gefühl haben Sie gegenüber der Luft, die Sie so meiden, wenn sie irgendwo angesammelt in einem Raume ist. Sie reden davon, daß Sie diese ausgeatmete Luft nicht mögen. Der physische Leib kann sie auch nicht während des Schla­fens vertragen, aber das Seelisch-Geistige, das außerhalb des Leibes ist, das, ich möchte sagen, atmet gerade, physisch gesprochen, die ausgeatmete Kohlensäure ein. Es ist aber ein geistiger Vorgang. Es ist nicht ein Atmungsprozeß. Es ist ein Entgegennehmen des Ein-druckes, den die ausgeatmete Luft macht. Aber nicht nur das. In dieser ausgeatmeten Luft bleiben Sie erstens auch während des Schlafes in Verbindung mit Ihrem physischen Leibe. Sie gehören dazu, weil Sie sich sagen: der atmet diese ertötende Luft aus, und das ist mein Leib. Sie sagen es unbewußt. Sie fühlen sich verbunden mit Ihrem Leibe dadurch, daß er Ihnen die Atmungsluft in diesem ertötenden Zustande zurückgibt. Sie fühlen sich ganz in der Atmo­sphäre, die Sie ausatmen.

Das aber, was Sie da ausatmen, das trägt Ihnen die Geheimnisse Ihres Innenlebens fortwährend entgegen. Sie nehmen sie - allerdings für das gewöhnliche Bewußtsein, das im Schlafe ist, unbewußt - Ihrem Innenleben nach wahr. Es sprüht aus Ihnen die ausgeatmete Luft. Und diese ausgeatmete Luft erscheint Ihnen so, daß Sie sagen: Das

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bin ich ja selber, das ist meine innere Menschlichkeit, die aussprüht in das Weltenall. Und wie ein Sonnenhaftes erscheint Ihnen das­jenige, was Ihnen als Ihr eigener Geist entgegenströmt in der aus-geatmeten Luft.

Und jetzt wissen Sie, daß der astralische Leib des Menschen, wenn er drinnen im menschlichen Leibe ist, sein Gefallen hat, wenn ich mich so ausdrücken darf, an der Einatmungsluft, und diese Ein­atmungsluft dazu verwendet im Unbewußten, die organischen Pro­zesse in Bewegung zu setzen, mit innerer Regsamkeit zu durchströ­men. Jetzt wissen Sie aber auch, daß der astralische Leib einfach, während Sie schlafen, außerhalb des physischen Leibes ist und emp­fängt, gefühlsmäßig empfängt die Geheimnisse der eigenen mensch­lichen Wesenheit in der ausgeatmeten Luft.

Während Sie sich hinaussprühend bewegen in den Kosmos, schaut die Seele unbewußt, erst in der Inspiration bewußt, auf dasjenige, was da ein innerlicher Prozeß ist.

Und es entsteht ferner ein merkwürdiger Eindruck. Es ist so, als ob aus einem Dunkel (es wird gezeichnet) sich abheben würde, was da dem schlafenden Menschen entgegenkommt, wie wenn dahinter ein Dunkles wäre, und in diesem Dunklen erscheint das - man kann es nicht anders sagen - als leuchtend, was Ausströmungsluft ist. Was da in dem Dunkel ist, das erkennt man seiner Wesenheit nach daran, daß einen dabei die täglichen Gedanken verlassen und einem in dem, was da herausflutet aus dem Menschen, gleichsam auftaucht das, was man die waltenden Weitgedanken nennen kann, die objektiven Gedanken, die schaffend sind. Das Dunkle, das aus-sprühende Helle, in dem treten allmählich auf die schaffenden Ge­danken. Was da dunkel ist, das ist eine Finsternis, die sich über die gewöhnlichen alltäglichen Gedanken, wir können sagen, über die Gehirngedanken erstreckt. Da bekommt man sehr genau den Ein-druck: Das, was man für das physische Erdenleben als das Wichtigste hält, das verdunkelt sich, sobald man aus dem physischen Leib her-außen ist, und man merkt viel intensiver, als man das voraussetzen

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kann im gewöhnlichen Bewußtsein, wie diese Gedanken von dem physischen Werkzeug, dem Gehirn, abhängig sind. Das Gehirn hält sozusagen wie an sich klebend diese Alltagsgedanken, die gewöhn­lichen Gedanken zurück. Da draußen braucht man nicht mehr zu denken in demselben Sinne, wie man im Alltagsleben denkt. Denn da schaut man die Gedanken, die fluten durch das, als was man sich selber erscheint in der ausströmenden Atemluft. Und so merkt die inspirierte Erkenntnis, wie der astralische Leib während des Wa­chens im physischen Leib ist und die Verrichtungen, die er im phy­sischen Leibe zu vollziehen hat, mit Hilfe der eingeatmeten Luft zu vollziehen beginnt; wie dieser astralische Leib, wenn er während des Schlafens außerhalb ist, entgegennimmt die Eindrücke des eigenen menschlichen Wesens. Während des Wachens ist diese Welt, die uns umgibt als Horizont, auf der wir stehen in der irdischen Umge­bung, und das, was sich darüber wölbt als das Himmelsgewölbe, un­sere Außenwelt; während des Schlafes wird das, was innerhalb unse­rer Haut ist, was sonst unsere Innenwelt ist, unsere Außenwelt. Nur daß wir zunächst das, was uns da entgegenströmt in der Atmungs-luft, fühlen. Eine gefühlte Außenwelt haben wir zunächst.

Des weiteren tritt aber noch etwas anderes ein. Unbewußt bleibt dem Menschen während des Wachens das, was sich anschließt an den Atmungsprozeß: der Zirkulationsprozeß, der Blutkreislauf-prozeß. Er bleibt unbewußt während des Wachens. Der beginnt nun sehr bewußt zu werden während des Schlafes. Der beginnt wie eine ganz neue Welt aufzutauchen, und zwar wie eine Welt, die nun nicht bloß gefühlt wird, die man beginnt von einem anderen Ge­sichtspunkte aus zu verstehen, als man sonst mit dem gewöhnlichen Bewußtsein die äußeren Dinge versteht. Wie man hinsieht auf die äußeren Vorgänge der Natur während des Erdenlebens, so sieht man mit dem inspirierten Bewußtsein - aber der Wille als Lebens-vorgang bleibt im Unbewußten bei jedem Schläfer vorhanden - auf diesen Zirkulationsprozeß. Jetzt lernt man erkennen, wie alles das, was wir durch den im gewöhnlichen Bewußtsein eben unbewußten

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Willen entwickeln, überall im Inneren einen Gegenprozeß hat.

Wenn Sie irgendeinen Schritt machen, so findet nicht nur statt, daß Sie Ihren Körper bewußt an einen anderen Ort hintragen, son­dern es findet auch das andere statt, daß ein wärmeartiger Prozeß, der Luftiges treibt, in Ihrem Innern sich abspielt. Der ist der äußerste Ausläufer dessen, was dann gleichartig damit innerlich sich abspielt als die Stoffwechselprozesse überhaupt im Zusammenhange mit dem Blutkreislauf. Während Sie mit dem gewöhnlichen Bewußtsein außen die Ortsveränderung des Menschen bemerken als Äußerung seines Willens, schauen Sie jetzt auf sich zurück und finden lauter Vorgänge, die im Inneren des Menschen, das jetzt Ihre Welt ist, sich abspielen.

Dieser Prozeß, auf den Sie da hinschauen, ist dann wahrhaftig nicht so, wie ihn aus der gewöhnlichen Anatomie heraus der heutige Naturforscher oder Mediziner konstatiert, sondern der ist ein groß­artiger geistiger Prozeß, ein Prozeß, der ungeheuer viele Geheim­nisse birgt, ein Prozeß, welcher schon bei sich selber zeigt, daß im Grunde genommen der eigentliche treibende Motor, der da im In­nern des Menschen wirkt, gar nicht das gegenwärtige Ich ist. Es ist ja ein bloßer Gedanke, was der Mensch sein Ich nennt im gewöhn­lichen Leben. Aber was da im Menschen wirkt, das ist das Ich der vorigen Erdenleben. Und Sie schauen in diesem ganzen innerlichen Verlauf namentlich von Wärmeprozessen, wie aus weit zurück­liegenden Zeiten das reale Ich, das durch die Zeitentwickelung durchgegangen ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, da drinnen wirkt, wie da ein ganz Geistiges drinnen wirkt, wie der geringste Stoffwechselprozeß und der stärkste Stoffwechselprozeß überall der Ausdruck dessen ist, was gerade höchste Wesenheit des Menschen ist.

Und Sie kommen darauf, daß das Ich seinen Schauplatz gewech­selt hat. Es wirkte innen in der Verarbeitung des Atems aus den bloßen Atmungsentwickelungen. Aber dasjenige, was ja als Wärmeentwickelungen

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aus den Atmungsentwickelungen hervorgeholt wird, das schauen Sie dann von außen an, schauen das ganze wirksame Ich, schauen es, wie es von Urzeiten herauf als reales Ich des Menschen wirkt, den Menschen eigentlich organisiert.

Jetzt beginnen Sie zu wissen, daß tatsächlich während des Schlafes das Ich und der astralische Leib den menschlichen physischen und Ätherleib verlassen haben, außer ihnen sind und alles das, was sie sonst von innen erleben und treiben, nun von außen erleben und treiben. Dieses ist nun aber so, daß für das gewöhnliche Bewußtsein diese Ich-Örganisation und diese astralische Organisation noch zu schwach sind, zu wenig entwickelt sind, um das bewußt mitzuerle­ben. Die Inspiration besteht eben nur darin, das Ich und den astra­lischen Leib so innerlich zu organisieren, daß sie das, was sonst nicht wahrnehmbar ist, wahrnehmen können.

So daß in der Tat gesagt werden muß: Durch die Inspiration wer­den wir auf das geführt, was im Menschen astralischer Leib ist, durch die Intuition auf dasjenige, was im Menschen Ich ist. Intuition und Inspiration werden während des Schlafes im Ich und astralischen Leib unterdrückt; aber wenn sie erweckt werden, dann schaut sich durch sie der Mensch von außen an. Und was ist denn schließlich dieses Von-außen-Ansehen?

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Erinnern Sie sich an das, was ich schon gesagt habe. Ich sagte Ihnen: da ist der Mensch in seiner gegenwärtigen Inkarnation. (Es wird gezeichnet, rechts Mitte.) Wenn er Imagination entwickelt, so schaut er seinen Ätherleib etwas vor die Geburt oder Empfängnis

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hingehend (gelb); aber sein astralischer Leib führt ihn durch Inspi­ration hinein in die ganze Zeit, die verflossen ist zwischen dem letz­ten Tode und dieser Geburt (rot). Und die Intuition führt ihn in das vorangehende Erdenleben zurück (gelb).

Wenn Sie nun schlafen, so bedeutet das nichts anderes, als daß Sie das Bewußtsein, das sonst im physischen Leibe ist, zurückver-legen, zurückführen, daß Sie mit ihm zurückkehren. Der Schlaf ist also eigentlich ein Zurücklaufen in der Zeit zu dem, wovon ich Ihnen schon gesagt habe, daß es dem gewöhnlichen Bewußtsein als vergangen erscheint, aber doch da ist. Sie sehen, man muß auch da, wenn man wirklich zum Erfassen des Geistigen kommen will, die Begriffe ändern gegenüber den Begriffen, die man gewöhnt ist im physischen Leben zu verwenden. Man muß also eigentlich sich be­wußt werden, daß der Schlaf jedesmal ein Zurückgehen ist in die Gefilde, die man durchgemacht hat im vorirdischen Dasein, oder sogar ein Zurückgehen ist in frühere Inkarnationen. Der Mensch er­lebt tatsächlich während des Schlafes, nur kann er es nicht erfassen, dasjenige, was früheren Inkarnationen angehört, was er durch­gemacht hat auch im vorirdischen Dasein.

Über den Zeitbegriff muß man eine völlige Begriffsmetamor­phose durchmachen; der muß ein ganz anderer werden. Wenn man daher an jemanden die Frage stellt: Ja, wo ist er denn, wenn er schläft? dann muß man sagen: Er ist eigentlich in seinem vor-irdischen Dasein oder sogar zurückgekehrt zu früheren Erdenleben. Populär ausgedrückt sagt man eben: Der Mensch ist außerhalb seines physischen und seines Ätherleibes. Das Reale dazu ist das, was ich Ihnen auseinandergesetzt habe. Das ist, was sich darstellt als der rhythmische Wechselzustand zwischen Wachen und Schlafen.

Ganz andere Verhältnisse treten nun mit dem Tode des Menschen ein. Da ist ja zunächst das Auffälligste dieses, daß der Mensch innerhalb des irdischen Lebens seinen physischen Leib läßt, der nun auch von den Kräften der physischen Welt aufgenommen und eben zersprüht wird, zerstört wird. Der kann jetzt nicht Eindrücke hervorrufen,

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wie ich es Ihnen beschrieben habe als auftretend vor dem schlafenden Menschen durch die ausgeatmete Luft, denn der atmet nicht mehr aus. Der physische Leib ist sozusagen auch in seinen yerrichtungen für den eigentlichen Menschen nun verloren. Aber etwas ist nicht verloren, dem man sein Nichtverlorensein schon an-sehen kann auch für das gewöhnliche Bewußtsein. - Wir haben in unserem Seelenleben ein Denken, Fühlen und Wollen. Aber über dieses Denken, Fühlen und Wollen hinaus haben wir noch etwas ganz Besonderes. Das ist die Erinnerung. Wir denken nicht nur über dasjenige nach, was gegenwärtig vor uns oder um uns ist. Unser Inneres birgt Reste von dem, was wir durchlebt haben. In Gedanken tritt es wiederum auf, was wir durchlebt haben. Ja, über diese Erin­nerung haben insbesondere die manchmal etwas merkwürdigen Leute der Welt, die man Psychologen nennt, ganz kuriose Gedan­ken entwickelt. Da sagen solche Seelenforscher etwa das Folgende:

Der Mensch braucht seine Sinne; er nimmt dies oder jenes wahr, denkt darüber nach. Jetzt hat er den Gedanken. Er geht weg, vergißt das Ganze. Nach einiger Zeit hebt er das Ganze aus seinem Ge­dächtnis heraus. Die Erinnerung an das, was einmal da war, tritt ein. Man kann sich wieder vorstellen, was man sich in der Zwischen­zeit nicht vorgestellt hat was nicht mehr gegenwärtig ist, was ver­gangen ist. Deshalb, so meinen diese Leute, hat sich der Mensch eben eine Vorstellung, einen Gedanken gebildet an dem Erlebnis, der Gedanke ist irgendwo hinuntergegangen, ist da in irgendeinem Schrank, Kasten drinnen und wenn man sich wieder erinnert, 50 kommt er aus diesem Schrank heraus. Entweder springt er frei her­aus oder aber er wird herausgeholt.

Das, was so vorstellt, ist schon das Musterbild eines verworrenen Denkens. Denn dieser ganze Glaube, daß der Erinnerungsgedanke da irgendwo sitzt, wo er hervorgeholt werden kann, entspricht ja gar nicht dem Tatbestand der eigentlich auftritt. Vergleichen Sie nur einmal eine unmittelbare Wahrnehmung, die Sie haben und an die Sie einen Gedanken anknüpfen, damit, wie eine Erinnerungsvorstellung,

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ein Erinnerungsgedanke auftaucht. Sie unterscheiden das ja gar nicht. Sie haben draußen einen Sinneseindruck, daran schließt sich ein Gedanke. Das, was hinter dem Sinneseindruck ist, was den Gedanken hervorruft, das nennen Sie ja gewöhnlich auch ein Unbekanntes. Der Gedanke, der aus dem Inneren aufsteigt als Erinnerungsgedanke, der ist ja gar nicht anders als der Gedanke, der außen an der Wahrnehmung auftritt. Das eine Mal haben Sie, wenn Sie den Menschen, schematisch gezeichnet hier haben, seine Umgebung hier (gelb); der Gedanke tritt von außen auf, tritt an

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der Umgebung auf (rot). Das andere Mal kommt er von innen. Da ist er ein Erinnerungsgedanke. (Pfeil von unten.) Die Richtung, von wo er herkommt, ist eine andere.

Während wir etwas wahrnehmen, erleben, geht fortwährend unter der Vorstellung, unter dem Denken etwas vor sich. Es ist ja so:

wir nehmen wahr denkend. Aber das Wahrnehmen, das geht auch in unseren Körper herein. Der Gedanke hebt sich nur ab. Es geht etwas in unseren Körper herein, und das nehmen wir nicht wahr. Das spielt sich ab, während wir darüber nachdenken, und das bewirkt einen Eindruck. Das ist nicht der Gedanke, der da hinuntergeht,

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sondern etwas ganz anderes. Aber dieses ganz andere ruft wiederum einen Vorgang hervor, den wir später wahrnehmen und über den wir uns den Erinnerungsgedanken so bilden, wie wir uns an der Außenwek den Gedanken bilden. Der Gedanke ist immer gegen­wärtig. Das zeigt schon eben die unbefangene Beobachtung, daß das so ist, daß da nicht der Gedanke irgendwo in einem Kästchen auf­bewahrt wird, sondern es ist ein Vorgang, der sich abspielt und den wir dann auch mit der Erinnerung in einen Gedanken verwandeln, so wie wir die äußere Wahrnehmung in einen Gedanken ver­wandeln.

Ich muß Sie mit diesen Erwägungen belasten, weil Sie sonst nicht eigentlich zum Verständnis der Erinnerung kommen. Die Kinder wissen es, wenn auch nur halb bewußt, manchmal aber auch die Erwachsenen in besonderen Fällen, daß der Gedanke nicht recht hinuntergehen will. Wenn man daher etwas memorieren will, so nimmt man ganz andere Dinge zu Hilfe. Denken Sie doch nur einmal, manche nehmen das laute Sprechen zu Hilfe, manche

machen ganz merkwurdige Gesten wenn sie sich irgend etwas einbläuen. Es handelt sich wirklich darum, daß sich da, parallel laufend dem bloßen Vorstellungsprozeß ein ganz an derer Prozeß noch ab-spielt. Und das, woran wir uns da erinnern, ist eigentlich das wenigste von dem, was dabei in Betracht kommt.

Ich bitte Sie, wir gehen ja vom Aufwachen bis zum Einschlafen fortwährend durch die Welt; von allen Seiten her kommen die Ein-drücke. Wir beachten zunächst wenige, aber sie beachten uns, und es prägt sich vieles, vieles was dann nicht erinnert wird, ein. Da in den Tiefen unseres Wesens sitzt eine reiche Welt, von der wir nur einzelne Fetzen in die Gedanken heraufbekommen. Diese Welt, die ist eigentlich eingesperrt in uns, ist wie ein tiefes Meer in uns und, dasjenige, was Erinnerungsvorstellung ist, schlägt so wie einzelne Wellenschläge herauf Aber es ist in uns. Sehen Sie, das, was in die­ser Weise in uns ist, das hat uns nicht die physische Welt gegeben. Sie kann es uns auch nicht nehmen. Und wenn der physische Leib

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des Menschen abfällt, dann ist diese ganze Welt da, haftet an seinem Ätherleib. Unmittelbar nach dem Tode trägt der Mensch in der Tat alle seine Erlebnisse in seinem Ätherleibe wie eingeprägt in sich; gewissermaßen wie zusammengerollt trägt er sie in sich.

Und das nächste, was der Mensch nun erlebt unmittelbar nach dem Tode, ist, daß nicht nur etwa die gewöhnlichen Erinnerungs­fetzen, die sonst während des irdischen Bewußtseins auftreten, da sind, sondern daß alles da ist, was Eindruck macht auf den Men­schen, daß der Mensch sein ganzes Erdenleben mit allem, was Ein­druck gemacht hat, zunächst vor sich hat. Und der Mensch müßte im ewigen Anschauen dieses seines Erdenlebens bleiben, wenn jetzt nicht etwas anderes eintreten würde gegenüber dem Ätherleib, als durch die Erde und ihre Kräfte gegenüber dem physischen Leib eintritt. Die Elemente der Erde übernehmen den physischen Leib, zerstören ihn. Der Weltenäther, von dem ich Ihnen gesagt habe, er wirkt aus der Peripherie herein, er strahlt ein, der zerstrahlt das­jenige, was da eingeprägt ist, nach allen Seiten des Kosmos. So daß der Mensch als nächstes Erlebnis dieses hat: Während des Erden­lebens hat vieles, vieles auf mich Eindruck gemacht. Das ist alles in meinen Ätherleib eingetreten. Ich überschaue es, aber ich über­schaue es immer undeutlicher. Wie wenn ich einen Baum sehen würde, der einen starken Eindruck auf mich gemacht hat während des Lebens. Ich sehe ihn zunächst in der Größe, in der er den Ein­druck gemacht hat vom physischen Raum aus. Da wächst er. Da wird er größer, aber schattenhafter; da wird er immer größer, und er wächst ins Riesenhafte aus, wird immer größer und größer und immer schattenhafter und schattenhafter. Und so ist es: Ich habe einen physischen Menschen in seiner Gestalt kennengelernt, habe ihn unmittelbar nach dem Tode, so wie er sich mir eingeprägt hat in meinen Ätherleib, vor mir; da wächst er und wird immer schatten­hafter und schattenhafter; alles wächst und wird schattenhafter und immer schattenhafter, bis es sich auswächst zum ganzen Kosmos und damit ganz schattenhaft wird, gänzlich verschwindet.

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Darüber vergehen einige Tage. Alles ist ins Riesenhafte über­gegangen, schattehhaft geworden durch dieses Riesigwerden und dabei an Intensität abnehmend vom Menschen als der zweite Leich­nam abfallend. Aber das heißt eigentlich: vom Menschen durch den Kosmos weggenommen. Jetzt ist der Mensch in seinem Ich und in seinem astralischen Leibe. Und das, was sich seinem Ätherleib ein­geprägt hatte, das ist jetzt im Kosmos drinnen, das ist in den Kosmos ausgeflos sen. Und wir sehen das Wirken der Welt hinter den Kulis­sen unseres eigenen Daseins.

Wir sind als Menschen hereingestellt in die Welt. Während wir das Erdenleben ablaufend haben, wirkt die ganze Welt auf uns ein. Wir rollen das, was da einwirkt, gewissermaßen zusammen. Die Welt gibt uns vieles. Wir halten es zusammen. In dem Augenblick, wo wir sterben, nimmt die Welt wieder an sich, was sie uns gegeben hat. Aber sie empfängt dadurch etwas Neues. Wir haben ja das alles in besonderer Weise erlebt Das was die Welt empfängt, ist etwas anderes, als sie uns gegeben hat. Sie nimmt unser ganzes Erleben auf. Sie prägt sich selbst in ihren eigenen Äther unser ganzes Leben ein.

Und jetzt stehen wir in der Welt und sagen uns, indem wir dieses Erlebnis mit unserem Ätherleib zunächst nehmen: Wir sind wirklich nicht bloß für uns in der Welt, sondern die Welt hat etwas vor mit uns; die Welt hat uns hereingestellt damit sie das was in ihr ist, durch uns durchgehen lassen kann und es in der von uns veranderten Gestalt wiederum empfange kann Wir sind als Menschen nicht bloß für uns da, wir sind zum Beispiel in bezug auf unseren athe rischen Körper für die Welt da Die Wek hat die Menschen notig, weil sie dadurch mit ihrem eigenen Inhalte sich immer wieder neu und neu erfüllt. Es ist ein nicht Stoff aber Gedankenwechsel zwischen der Welt und dem Menschen Die Welt gibt ihre Welten gedanken an den menschlichen Ätherleib ab, und die Welt empfängt sie im durchmenschlichten Zustande wiederum zurück. Der Mensch ist nicht um seiner selbst allein, der Mensch ist um der Welten willen da.

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Nun, solch ein Gedanke darf nicht ein bloßer theoretisch-abstrak­ter Gedanke bleiben. Er kann es auch nicht. Man müßte nicht Mensch sein mit lebendigem Gefühl, sondern ein Wesen aus Papier­maché, wenn ein solcher Gedanke bloßer Gedanke bliebe, wobei ich nicht sagen will, daß nicht unsere Zivilisation wirklich dazu geeignet ist, den Menschen oftmals gegenüber solchen Dingen so gefühllos zu machen, wie wenn er aus Papiermaché wäre. Manchmal können einem schon die Zivilisationsmenschen der Gegenwart so erscheinen, als ob sie aus Papiermaché wären. Denn solch ein Gedanke, der ver­liert nicht das menschliche Fühlen und Empfinden mit der Welt, der tritt unmittelbar an dasjenige heran, wovon wir ausgegangen sind. Wir sind davon ausgegangen, daß wir sagten: Der Mensch fühlt sich in zweifacher Weise fremd der Welt gegenüber; auf der einen Seite in bezug auf die äußere Natur, von der er nur sagen kann, daß sie ihn zerstört seinem physischen Leibe nach, auf der andern Seite innerlich in bezug auf sein Seelenleben, das aufglüht, aufsprüht, ab-sprüht und so weiter, was eben für ihn zum Weltenrätsel wird. Jetzt beginnt aus einer geistigen Betrachtung heraus der Mensch zu füh­len: Er ist der Welt nicht bloß fremd, sondern die Welt gibt ihm, die Welt nimmt wiederum für sich etwas ab. Der Mensch beginnt sich innig verwandt zu fühlen mit der Welt. Die beiden Gedanken, die ich Ihnen gesagt habe, die die eigentlichen Weltengedanken sind: 0 Natur, du zerstörst nur meinen physischen Leib. Ich habe mit dir keine Verwandtschaft, trotz Denken, Fühlen und Wollen in meinem Innern. Du glimmst auf, 4u sprühst ab. Ich habe meinem wirklichen Sein nach mit dir doch keine Verwandtschaft - diese beiden Gedanken, die die Weltenrätsel in uns hervorzaubern, be­kommen ein neues Gesicht, wenn wir jetzt beginnen, uns verwandt zu fühlen mit der Welt, uns zu fühlen wie ein Organisches, das in der Welt drinnen ist, das verwoben ist in den Weltenprozeß. Und so ist der Beginn anthroposophischer Betrachtung der: Freundschaft zu schließen mit der Welt, Bekanntschaft zu schließen mit der Welt, die uns zunächst in der äußeren Betrachtung abgestoßen hat. Ein

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Menschlicherwerden ist die anthroposophische Erkenntnis. Und wer diese Gefühls-, diese Herzensnuance nicht aufnehmen kann in die anthroposophische Erkenntnis der hat von der Anthroposophie nicht das Rechte. Denn die theore tische Anthroposophie ist eigentlich etwas, was man vergleichen könnte damit, daß man sagt: Jemand verlangt gar sehr, einen Menschen, den er einmal gekannt hat, oder der ihm durch irgend etwas anderes nahegetreten ist, kennenzuler­nen, und man reicht ihm eine Photographie. Er kann an der Photo­graphie ja vielleicht seine Freude haben; aber warm kann er nicht werden, denn das Lebendige dieses Menschen tritt ihm nicht ent­gegen.

Dasjenige, was theoretische Anthroposophie ist, ist die Photo­graphie dessen, was eigentlich die Anthroposophie sein will, und die will ein Lebendiges sein. Und sie will sich eigentlich der Worte, der Begriffe, der Ideen bedienen, um ein Lebendiges aus der geistigen Welt in die physische Welt herein erstrahlen zu lassen Anthro posophie will nicht nur Erkenntnisse vermitteln, sie will Leben er wecken. Und sie kann dieses Allerdings um Leben zu fuhlen, muß man selber Leben entgegenbringen

SIEBENTER VORTRAG 8. Februar 1924 Die Beziehungen des Traumlebens zur äußeren Wirklichkeit

#G234-1959-SE126 Anthroposophie

#TI

SIEBENTER VORTRAG

8. Februar 1924

Die Beziehungen des Traumlebens zur äußeren Wirklichkeit

#TX

In den letzten Vorträgen habe ich schon darauf aufmerksam ge­macht, wie die Initiationswissenschaft hinweisen muß auf die Wech­selzustände von Schlafen und Wachen, die ja der Mensch aus seinem gewöhnlichen Bewußtsein heraus kennt und durch die er wirklich einen Weg der Annäherung an die Geheimnisse des Menschen-daseins finden kann; einen der Wege. Aus dem Schlafe heraus taucht ja Leben, seelisches Leben, das Traumesleben; ein Leben, das ganz gewiß mit Recht zunächst von dem gewöhnlichen Bewußtsein, wenn dieses gewöhnliche Bewußtsein nicht gerade irgendwie mystische oder dergleichen Anlagen hat, nicht ernst genommen wird. Das Traumleben wird mit einem gewissen Recht von dem nüchternen Menschen nicht ernst genommen, denn er sieht, wie dieses Traumleben ihm allerlei Bilder, Reminiszenzen aus dem ge­wöhnlichen Leben zeigt. Und wenn er dann das, was er im gewöhn­lichen Leben kennenlernt, mit diesem Traumleben vergleicht, so muß er ja an das gewöhnliche Leben sich halten und dieses gewöhn­liche Leben selbstverständlich seine Wirklichkeit nennen. Dann kommt das Traumleben mit seinen Kombinationen der gewöhn­lichen Wirklichkeitserlebnisse, und der Mensch kommt im gewöhn­lichen Bewußtsein nicht zurecht, wenn er sich frägt: Ja, was bedeutet denn eigentlich für die Gesamtwesenheit des Menschen dieses Trauml eben?

Nun betrachten wir einmal dieses Traumleben so, wie es sich gibt. Da können wir ja unterscheiden zwischen zwei ganz spezifisch

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voneinander verschiedenen Traumarten. Die eine Traumart zaubert vor unsere Seele hin Bilder von äußeren Erlebnissen. Wir haben vor Jahren oder vor kurzem, vor Tagen, dies oder jenes erlebt. Wir haben es in einer bestimmten Weise erlebt. Der Traum zaubert aus dem Schlaf herauf ein den äußeren Erlebnissen mehr oder weniger ähnliches Bild oder auch unähnliches, ja zumeist unähnliches Bild. Wenn der Mensch dann doch darauf kommt, daß solch ein Traum­bild irgendeinen Zusammenhang hat mit einem äußeren Erlebnis, dann fällt ihm gerade auf, wie verändert dieses äußere Erlebnis im Traume ist. Zumeist tritt aber auch das ein, daß der Mensch das Traumbild erlebt und es gar i ht auf dieses oder jenes Erlebnis der äußeren Welt bezieht, weil ihm die Ähnlichkeit gar nicht auffällt. Aber wenn man genauer eingeht auf das Traumesleben, auf jene Art des Traumeslebens, die äußere Erlebnisse verändert in Bildern vor die Seele zaubert, dann findet man doch, daß irgend etwas im Menschen diese Erlebnisse faßt, ergreift, sie aber nicht so festhalten kann, wie der Mensch sie festhält, wenn er im wachen Zustande sich der Organe seines Leibes vollständig bedient und in der Erinnerung Bilder entstehen, die nun dem äußeren Leben gleich sind, möglichst gleich sind. In der Erinnerung haben wir treue Bilder des äußeren Lebens, wenigstens mehr oder weniger treue Bilder. Es gibt ja auch Menschen, die in ihren Erinnerungen träumen, aber das betrachtet man ja als eine Abnormität. In den Erinnerungen haben wir mehr oder weniger treue Bilder des Lebens. In den Traumbildern haben wir veränderte Bilder des äußeren Lebens. Das ist die eine Art zu träumen.

Eine andere Art zu träumen ist aber eigentlich für die Erkenntnis des Traumlebens viel charakteristischer. Das ist diese, wenn der Mensch zum Beispiel träumt, er sehe eine Reihe von weißen Pfei­lern, von denen der eine schadhaft ist, vielleicht schmutzig. Der Mensch wacht auf mit diesem Traum und merkt, er hat Zahnschmer­zen. Und er kommt darauf, in dieser Reihe von Pfeilern ist wie sym­bolisch die Zahnreihe ausgedrückt. Der eine Zahn, der schmerzt;

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dafür ist der Pfeiler schadhaft oder vielleicht sogar schmutzig. Oder der Mensch wacht auf mit dem Traum eines kochenden Ofens, merkt, er hat Herzklopfen. Oder der Mensch wird gequält im Traume, daß ein Frosch an seine Hand herankommt; die Hand um­faßt den Frosch, der weichlich ist. Es schaudert den Menschen im Traume; er wacht auf, hat den Zipfel seiner Bettdecke in der Hand; er hat ihn im &hlaf ergriffen. Aber es kann viel weiter gehen. Der Mensch träumt von allerlei Schlangengebilden: er wacht auf mit Gedärmschmerzen.

Da kommt er schon darauf, daß es eine andere Art von Träumen noch gibt, Träumen, welche in bildhaft-symbolischer Art die inne­ren Organe des Menschen ausdrücken. Und dann, wenn der Mensch es einmal erfaßt hat, wie gewisse Träume mit ihren merkwürdigen Bildern Sinnbilder von inneren Organen darstellen, dann wird er lernen, vieles von den Traumgebilden gerade nach dieser Richtung hin zu deuten.

Man geht träumend in ein Kellergewölbe hinein. Es ist oben schwarz, und Spinnweben breiten sich aus. Das ist ein abscheulicher Anblick. Man wacht auf, und man spürt, man hat Kopfschmerzen. Diese Kopfschmerzen, also das Innere des Schädels, drückt sich in dem Kellergewölbe aus. Man merkt sogar, wie die Gehirnwindun gen in den eigentümlichen Bildungen, die das Kellergewölbe aus­machen, symbolisiert sind. - Wenn der Mensch nach dieser Rich­tung seine Studien weiter fortsetzt, dann wird er finden, daß alle Organe in solch bildhafter Weise ihm im Traume erscheinen können.

Hier liegt sogar etwas vor, was, ich möchte sagen auf das ganze innere Leben des Menschen durch den Traum sehr stark hinweist. Es gibt Menschen, die machen aus dem Traume heraus richtig träu­mend die Motive von ganz schönen Malereien.

Derjenige, der Studien über diese Dinge angestellt hat, weiß, wel­ches innere Organ in solchen Malereien festgehalten wird, verän­dert, symbolisiert wird. Da ist zuweilen eine außerordentliche Schönheit in einer solchen Malerei enthalten. Und wenn dann der

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Betreffende hört, welches Organ er da eigentlich symbolisiert hat in solchen schönen Malereien, dann erschrickt er ganz lebhaft, denn das Organ respektiert er nicht in derselben Weise wie seine Malereien.

Diese zwei Arten von Träumen können sehr gut unterschieden werden, wenn man sich nur auf eine intime Betrachtung der Traum­welt einläßt. Man hat es in der einen Art der Träume zu tun mit Bildern der äußeren Erlebnisse, die wir als Menschen in der Welt durchgemacht haben. Man hat es in der anderen Art von Träumen zu tun mit bildhaften Vorstellungen des eigenen menschlichen Inneren.

Nun, bis zu diesem Punkte ist die Beobachtung der Traumwelt verhältnismäßig leicht zu bringen. Und die meisten Menschen, die man aufmerksam macht darauf, daß es diese zwei Arten von Träu­men gibt, werden sich schon erinnern, daß ihre eigenen Erlebnisse diese Gliederung der Träume rechtfertigen.

Aber worauf weist denn diese Gliederung der Träume hin? Sehen Sie, wenn man auf die erste Art der Träume eingeht, sie ein wenig betrachtet mit Bezug auf die besondere Art der Bilder, dann kommt man darauf, daß die verschiedensten äußeren Erlebnisse durch den gleichen Traum dargestellt werden können, und wiederum ein und dasselbe Erlebnis bei verschiedenen Menschen durch verschiedene Träume abgebildet werden kann.

Nehmen wir an, jemand habe den Traum, er kommt an einen Berg heran. Der Berg hat eine Art Eingang, eine Höhlung. In diese Höhlung scheint noch die Sonne hinein. Der Mensch geht hinein, träumend. Bald beginnt es dunkel zu werden, dann finster. Der Träumende tastet sich weiter fort. Er kommt an ein Hindernis. Er spürt, da drinnen ist ein kleiner See. Er ist in großer Gefahr. Der Traum nimmt einen dramatischen Verlauf.

Solch ein Traum kann die verschiedensten äußeren Erlebnisse dar­stellen. Ein und dasselbe Traumbild, wie ich es jetzt geschildert habe, kann sich darauf beziehen, daß einmal jemand, sagen wir ein Eisenbahnunglück mitgemacht hat. Was er da erlebt hat, das drückt

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sich ihm vielleicht nach Jahren in dem geschilderten Traumerlebnisse aus, das in Bildern ganz anders ist als das, was er durchgemacht hat. Er kann auch ein Schiffsunglück erlebt haben. Er kann auch erlebt haben, daß ihm ein Freund untreu geworden ist und so weiter. Wenn Sie das Traumbild mit dem Erlebnis vergleichen und in dieser Weise intim beobachtend vorgehen, dann werden Sie finden, der Inhalt der Traumbilder ist eigentlich nicht von großer Bedeutung; aber die Dramatik, der Verlauf ist von großer Bedeutung: ob es Erwartung gibt, ob die Erwartung zu einer Entspannung führt, ob eine Erwar­tung in eine Krisis hineinführt. Der ganze Gefühiszusammenhang, möchte ich sagen, setzt sich in das Traumleben um.

Und wenn man von da ausgehend den Menschen auf seine Träume der ersten Art prüft - man darf es nur nicht so machen wie die Psychiater, die alles über einen Leisten schlagen -, dann findet man, daß diese Traumbilder vor allen Dingen ihren Charakter von der ganzen Art bekommen, wie der Mensch ist, von der Individuali­tät seines Ich. Man lernt, wenn man sich auf Träume versteht -nicht auf Träumedeuten, sondern auf Träume versteht-, man lernt aus seinen Träumen den Menschen oftmals besser kennen, als man ihn kennenlernt, wenn man ihn nur dem äußeren Leben nach beob­achtet. Aber wenn wir all das anschauen; was da die Menschen­wesenheit im Traume erfaßt, so ist es ja immer zurückweisend auf das, was das Ich des Menschen an der äußeren Welt erlebt.

Dagegen wenn wir die zweite Art der Träume betrachten, so kön­nen wir sagen: Was da in Traumbildern der Seele vorge zaubert wird, das erlebt der Mensch nur im Traume. Denn wachend erlebt er höchstens die Form seiner Organe durch die wissenschaftliche Anatomie, Physiologie. Aber das ist ja nun nicht ein wirkliches Er-leben, sondern das ist ein äußerliches Anschauen, wie man Steine und Pflanzen auch anschaut. Das braucht man also gar nicht weiter in Betracht zu ziehen. Also in dem Bewußtsein, mit dem der Mensch durchs Leben geht, erlebt er von seinem inneren Organismus außer­ordentlich wenig oder gar nichts. Aber der Traum der zweiten Art

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zaubert ihm, allerdings in veränderten Bildern, aber immerhin in Bildern, im Grunde seinen ganzen Organismus vor.

Wenn wir dann den Menschen im Leben betrachten, so finden wir, daß dieses Leben allerdings von seinem Ich beherrscht wird, je nachdem der Mensch Willens- und Charakterstärke hat, mehr oder weniger; daß aber das Eingreifen dieses Ich in das menschliche Leben etwas außerordentlich Ähnliches hat mit dem Traumerlebnis der ersten Art. Versuchen Sie es nur einmal, intim zu prüfen, ob jemand Träume hat, in denen seine äußeren Erlebnisse stark, vehe­ment verändert werden. Wenn jemand solche Träume hat, werden Sie in ihm einen starken Willensmenschen finden. Träumt jemand sein Leben fast wie es ist, verändert er dieses Leben nicht im Traume, so wird er ein will ensschwacher Mensch sein.

Sie sehen also: An der Art, wie der Mensch seine Träume gestal­tet, drückt sich das Eingreifen des Ich in sein Leben aus. Wir werden die Träume der ersten Art gerade aus solchen Erkenntnissen heraus mit dem Ich des Menschen zusammenbringen müssen. Und wenn wir gedenken, daß wir ja in den letzten Betrachtungen Kenntnis davon genommen haben, wie das Ich und der astralische Leib im Schlafe außer dem physischen und dem Ätherleib sind, so wird es uns nicht weiter auffällig sein, wenn Geisteswissenschaft zuletzt darauf führt, daß das außer dem physischen und dem Ätherleib befindliche Ich im Traume die Bilder des Lebens ergreift, die es sonst durch den physischen und Ätherleib eben in der äußeren Wirk­lichkeit ergreift. Der Traum der ersten Art ist ein Wirken des Ich außerhalb des physischen und Ätherleibes.

Was ist der Traum der zweiten Art? Er muß auch etwas sein, selbstverständlich, was zu tun hat mit dem, was im Schlafe außer­halb des physischen und Ä therleibes ist. Das Ich kann es nicht sein, denn das Ich weiß nichts von dem, was der Traum als symbolische Gestaltungen der Organe vorzaubert. Man wird gedrängt dazu, zu erkennen, wie es der astralische Leib des Menschen ist, der diese symbolischen Bilder der inneren Organe so im Traume gestaltet, wie

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das Ich die Bilder der äußeren Erlebnisse gestaltet. Und so haben wir durch die zwei Arten der Träume einen Hinweis auf das Wirken des Ich und des astralischen Leibes vom Einschlafen bis zum Auf­wachen.

Wir können weitergehen. Wenn wir sehen, was ein schwacher, was ein starker Mensch in seinen Träumen tut, wie ein schwacher Mensch fast so träumt, wie er die Dinge erlebt hat, ein starker Mensch alle Dinge umgestaltet, alles durcheinanderwirft und die Dinge so macht, daß sie stark die Färbung seines Charakters anneh­men, wenn wir solches in der richtigen Weise bis zum Ende studie­ren, dann können wir das, worauf wir da kommen, vergleichen mit der Art, wie sich der Mensch wachend im Leben verhält. Und da kommt man auf etwas ungeheuer Interessantes. Da kommt man nämlich darauf, daß das Folgende wahr ist: Lassen Sie sich von einem Menschen Träume erzählen, sehen Sie an, wie ein Traumbild an das andere sich knüpft, wie diese Träume sich gestalten; und dann schauen Sie, nachdem Sie sich eine Vorstellung von der Art seines Träumens gemacht haben, von dieser Vorstellung auf ihn selbst, dann werden Sie sich, angeregt durch das, was Sie sich von seinen Träumen vorstellen können, ein gutes Bild von dem machen können, wie er im Leben handelt. Da kommt man nämlich auf merk­würdige Geheimnisse beim Menschen. Man betrachtet einen Men­schen handelnd im Leben, man lernt ihn kennen seiner Individualität nach. Man sagt: Von dem, was durch diesen Menschen geschieht, geht ja nur ein Teil von seinem eigentlichen Menschenwesen, von seinem Ich aus. Wenn es auf sein Ich ankäme, dann würde der Mensch eigentlich das tun, was er träumt. Ein gewalttätiger Charak­ter würde, wenn es auf sein Ich ankäme, im Leben so gewalttätig sein, wie er träumt, und einer, der in seinen Träumen sein Leben fast unverändert läßt, würde im Leben sich überall zurückziehen, das Leben Leben sein lassen, die Dinge geschehen lassen, möglichst wenig auch in das Leben eingreifen, just so viel nur eingreifen, als er im Traume eingreift.

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Das andere, das nun vom Menschen über dieses hinaus geschieht, wo kommt denn das her? Meine lieben Freunde, man kann gut sagen: das tut Gott, das tun die Geister der Welt. Der Mensch tut nämlich gar nicht alles selbst, was er tut; er tut nämlich genau so viel, als er eigentlich träumt. Das andere wird durch ihn und an ihm getan. Man lernt nur gewöhnlich nicht sich im Leben schulen auf diese Dinge hin. Würde man sich schulen lernen, man würde darauf kommen, daß man so viel aktiven Anteil am Tun im Leben hat, als man aktiven Anteil an seinen Träumen hat. Beim gewalt-tätigen Menschen hindert dann die Welt, daß er gewalttätig wird, wie er es im Traume ist; beim schwachen Menschen, da wirken die Instinkte und da macht es wieder das Leben, daß das hinzugefügt wird, was durch ihn geschieht und was er nicht träumen würde.

Es ist interessant, einen Menschen in einer Lebenshandlung zu sehen und sich zu fragen: was kommt von ihm und was kommt von der Welt? Von ihm kommt genau so viel, als er träumen kann von der Sache. Die Welt fügt entweder etwas dazu beim schwachen Menschen oder sie subtrahiert etwas beim gewalttätigen Menschen. So betrachtet, fängt der Traum allerdings an, außerordentlich inter­essant zu werden und tief hineinblicken zu lassen in das Wesen des Menschen.

Es ist allerdings manches von dem, was ich da sage, in einer ver­zerrten, karikierten Weise den Psychoanalytikern aufgegangen, aber sie können nicht hineinschauen in das eigentliche Weben und Wesen der Menschennatur, daher verzerren sie eben alles, machen es zu Karikaturen.

Aber Sie sehen ja aus der Betrachtung, die ich heute ganz äußer­lich anstelle, daß man, wenn man diese Dinge überhaupt anfassen will, vordringen muß bis zu einer sehr feinen Seelenerkenntnis. Ohne diese kann man über die Beziehungen des Traumlebens zur äußeren Wirklichkeit, die der Mensch darlebt, eben nichts wissen. Daher habe ich einmal gesagt: Psychoanalyse ist Dilettantismus, weil sie nichts weiß von dem äußeren Leben des Menschen. Aber sie ist

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auch noch Dilettantismus, weil Sie nichts weiß von dem inneren Leben des Menschen. Und diese zwei Dilettantismen addieren sich nicht bloß, sondern sie multiplizieren sich, weil man durch das Nich tkennen des inneren Lebens das Äußerliche verdirbt, und durch das Nichtkennen des Äußerlichen alles Innerliche verdirbt. Wenn man d mit d multipliziert, so bekommt man Dilettantismus im Qua­drat. So daß die Psychoanalyse der Dilettantismus im Quadrat ist:

d.d = d2.

Es ist das Menschenwesen so weit zu durchschauen, wenn man sich intim auf die Wechselzustände des wachenden und schlafenden Lebens einläßt, daß diese Betrachtung wirklich heranführt zur Initia­tionswissenschaft.

Nehmen Sie nun ein anderes, das ich in diesen Betrachtungen gesagt habe: die Tatsache, daß der Mensch durch Seelenübungen, durch Meditationen seine Seelenkräfte erstarken, erkraften kann, dann über das gewöhnliche, mehr oder weniger inhaltlose, abstrakte Denken zu einem innerlich anschaulichen, bildhaften Denken, zur Imagination vorrückt. Nun mußte ich Ihnen sagen, daß ja der Mensch vorrückt mit dieser Imagination zum Ergreifen seines gan­zen Lebens, aber so wie es hereingestellt ist durch Geburt und Emp­fängnis - eigentlich noch vor der Geburt, vor der Empfängnis -als ätherischer Impuls in das Erdenleben. Man bekommt durch den Traum Reminiszenzen desjenigen, was man äußerlich erlebt, seitdem man in diesem Erdenleben die Erde betreten hat. Man bekommt durch die Imagination Bilder, die nach der Art des Erlebens sehr ähnlich sein können Traumesbildern; nur enthalten sie nicht Reminiszenzen an das Leben, sondern Reminiszenzen an das, was vor dem Erdenleben da war.

Es ist vollends lächerlich, wenn diejenigen, die Geisteswissen­schaft nicht kennen, sagen, die Imaginationen können auch Träume sein. Sie sollen sich doch einmal überlegen, was da in den Imagina­tionen geträumt wird. Es wird ja nichts geträumt, was die Sinne dar-bieten, sondern der Inhalt ist eben derjenige, der das Menschenwesen

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darstellt, bevor es Sinne gehabt hat. In eine neue Welt wird der Mensch eingeführt durch die Imagination.

Aber etwas sehr Ähnliches ist da zwischen der zweiten Art der Träume und dem, was man in der Imagination erlebt, wenn diese Imagination zunächst sich durch Übungen in der Seele herausbildet. Da erlebt man nämlich Bilder, und zwar mit aller Deutlichkeit, man könnte sagen, mit Exaktheit erlebt man Bilder, gewaltige Bilder. Ich möchte sagen, ein Weltenall erlebt man, wunderbare Bilder, farben­reiche Bilder, Bilder, die so gewaltig sind, daß nichts anderes im Bewußtsein ist als diese Bilder. Wollte man diese Bilder malen, ein grandioses Tableau würde man malen; aber man würde ja nur einen Augenblick festhalten können, wie man einen Blitz auch nicht malen kann, sondern nur den Augenblick von ihm festhalten kann; denn das alles verläuft ja in der Zeit. Aber wenn man nur einen Augen­blick festhält, bekommt man ein grandioses Bild.

Wollen wir es uns schematisch vorführen. Es ist natürlich durch­aus nicht von einer übertriebenen Ähnlichkeit mit dem, was geschaut wird. Aber damit wir uns vor die Seele führen können, um was es sich handelt, wollen wir es schematisch vor uns hinzeichnen. (Siehe Bild Seite 137).

Man betrachte nun dieses Bild, das ich nur schematisch hinge-zeichnet habe. Es ist in sich konfiguriert. Es enthält die verschieden-sten gestalteten Bilder Es ist innerlich und äußerlich etwas Gran­dioses. Wird man nun immer stärker im Konzentrieren, im Festhal­ten dieses Bildes, tritt es nicht bloß einen Augenblick auf - da muß man es mit Geistesgegenwart abfangen, wenn es bloß einen Augen-blick auftritt, sonst huscht es weg, bevor man es überhaupt ins Gegenwärtige hereingefaßt hat; Geistesgegenwart braucht man über-haupt zum geistigen beobachten-, ist man imstande, nicht nur soviel Geistesgegenwart anzuwenden, um die Sache zu erhaschen, daß man sie überhaupt im Bewußtsein hat, sondern kann man sie festhalten, dann zieht dieses Bild sich zusammen, dann wird es, statt, ich möchte sagen ein Weltall-Umspannendes zu sein, kleiner und kleiner,

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und man sieht wie es in der Zeit vorrückt. Und, ich möchte sagen, es schnappt herein in etwas. Aus dem einen wird der menschliche Kopf, aus dem andern wird die menschliche Lunge, aus dem andern wird die menschliche Leber Die physische Materie, die vom mütterlichen Leibe kommt, füllt nur dasjenige aus, was da aus der geistigen Welt hereinkommt. Der Mensch wird daraus. Man sagt sich zuletzt: Ja, was Leber ist, das sieht man im vorirdischen Dasein geistig in einem grandiosen Bilde; die Lunge sieht man im vorirdischen Dasein geistig in diesem grandiosen Bilde. Und jetzt vergleicht man es hinterher mit dem, was im Traume der zweiten Art ist. Da erscheint einem ein Organ, wie ich vorhin gesagt habe, vielleicht auch in einem sehr schönen Bilde; aber stümperhaft gegen das, was die Imagination liefert, ist es doch.

Und so bekommt man den Eindruck: die Imagination gibt etwas, was von Weltmeisterschaft geschaffen ist; der Traum gibt etwas, was stümperhaft ist. Aber sie weisen beide nach demselben hin. Und sie sind das, was im Geistigen die innere Organisation des Menschen darstellt.

Von da aus ist es nicht mehr weit zu einer anderen, sehr gül­tigen Vorstellung. Man kommt darauf, wenn man durch die Imagi­nation diesen vorirdischen Menschen als mächtiges Ätherbild merkt, merkt wie dieses mächtige Ä therbild sich in den physischen Men­schen gleichsam hereinkristallisiert, man kommt darauf, zu fragen:

Nun, wenn jetzt die Traumbilder, die sich auf innere Organe bezie­hen, anfangen würden dieselbe Tätigkeit zu entwickeln? Man kommt darauf, sich zu sagen: da würde die Karikatur einer Leber entstehen. Die menschliche in sich vollkommene Leber wird von dem Imaginationsbilde, das auf das vorirdische Dasein hinweist, gebildet. Würde das Traumbild sich zur Leber gestalten, dann würde der Mensch aus diesem Traumbilde nicht eine Menschen-leber, nicht einmal eine Gansleber, sondern die Karikatur einer Leber bekommen.

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#Bild s. 137

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Das läßt nun in der Tat tief hineinblicken in die ganze Menschen­wesenheit. Denn sehen Sie, es ist doch etwas Ähnliches, das zeigt sich ja ganz klar, zwischen dem Traumbilde und dem imaginativen Bilde. Und man muß sich fragen: woher kommt denn dieses Ähnliche?

Nun kann man aber noch weitergehen. Man nehme die Traum­bilder der ersten Art, wo an äußere Erlebnisse angeknüpft wird. Für diese ist zunächst nichts Ähnliches in dem imaginativen Vorstellen. Aber das imaginative Vorstellen geht über zu einem vorirdischen Erleben des Menschen, wo der Mensch nicht mit anderen physischen Menschen zu tun hat; das imaginative Anschauen geht über zu einem Abbilde von vorirdischen Geist-Erlebnissen. Legen Sie sich das einmal vor, was damit charakterisiert ist.

Wenn wir auf das Innere des Menschen schauen, dann bekommen wir den Eindruck, daß mit gewissen symbolischen Bildern, treten sie nun auf durch die Imagination oder durch den Traum, das Innere des Menschen gemeint ist, die menschliche Organisation gemeint ist; daß dahingegen die Imaginationen, die sich auf äußere Erlebnisse beziehen, nicht mit dem zusammenhängen, was der Mensch an inner­licher Organisation hat, aber auch nicht mit dem äußeren Erdenleben zusammenhängen; sie weisen auf Erlebnisse des vorirdischen Daseins hin. Und neben sie nur kann man stellen die Traumerlebnisse, die sich auf äußere Erlebnisse des Erdendaseins beziehen, nicht aber in irgendeinem inneren Zusammenhang mit ihnen sind. Dieser innere Zusammenhang besteht für die Träume der zweiten Art.

Nun, was will ich denn durch die Darstellung von all dem? Durch die Darstellung von alledem möchte ich darauf hinweisen, wie es eine intime Art der Betrachtung des Menschenlebens gibt, die wirkliche Lebeusrätsel aufwirft. Es ist so, daß der Mensch heute das Leben eigentlich recht oberflächlich betrachtet. Würde er es genauer, intimer betrachten, so würden ihm die Dinge auffallen, von denen ich heute gesprochen habe. Aber in einem gewissen Sinne fallen sie ihm auf, nur weiß er eigentlich nichts davon, wie sie ihm auffallen.

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Der Mensch wird sich eigentlich gar nicht bewußt, wie stark das doch auf sein Leben einen Einfluß hat, was er träumt. Er betrachtet den Traum als etwas Vorüberhuschendes, weil er nicht weiß, daß in die eine Art der Träume sein Ich, in die andere Art der Träume sein Astralleib eingreift. Wenn wir aber das Leben erfassen in bezug auf noch einschneidendere Erscheinungen, dann werden die angedeu­teten Rätsel noch brennender.

Für diejenigen, die längere Zeit hier sind, sind ja solche Tat-sachen schon erwähnt worden. Ich will wieder darauf hinweisen, wie es einen pathologischen Zustand im Menschen gibt, der darin be­steht, daß der Mensch erinnerungsmäßig den Zusammenhang an sein Leben verliert. Ich habe es für einen Bekannten von mir ange­führt, der eines Tages, ohne daß er davon in seinem Bewußtsein etwas weiß, aus seiner Wohnung, von seiner Familie fortgeht nach dem Bahnhof, sich ein Billett ersteht, bis zu einer bestimmten Station fährt wie ein Nachtwandler. Auf der Umsteigestation löst er sich das andere Billett, fährt weiter, fährt lange Zeit herum. Er hat die Fahrt von einer Stadt Süddeutschlands angetreten. Man konnte spa­ter konstatieren, als man dem Fall nachgegangen war, daß er in Budapest, in Polen, Lemberg und so weiter gewesen ist. Er hat sich zuletzt entdeckt - da fing sein Bewußtsein wieder an zu wirken -in einem Obdachlosenasyl in Berlin, wo er zuletzt gelandet ist. Die­sem Momente, wo er im Obdachlosenasyl angekommen war, waren ein paar Wochen vorangegangen, die in seinem Bewußtsein aus­gelöscht waren. Er erinnerte sich an das Letzte, was er noch zu Hause gemacht hatte; das andere war ausgelöscht. Man mußte von außen die ganze Reise verfolgen.

Sie sehen, da ist das Ich nicht bei dem, was der Mensch tut. Wenn Sie die entsprechende Literatur verfolgen, so werden Sie Hunderte und Hunderte von Fällen eines solchen aussetzenden Ichbewußt­seins finden. Was liegt denn da eigentlich vor? Wenn Sie sich dar­auf einlassen würden, die Traumwelt eines solchen Menschen, der in diesen pathologischen Zustand verfällt, zu studieren, so würden Sie

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auf etwas Merkwürdiges kommen. Sie würden zunächst finden, daß er, wenigstens zu gewissen Zeiten seines Lebens, die denkbar leb­haftesten Träume hatte, Träume, die ganz besonders dadurch cha­rakterisiert sind, daß er sich im Traum etwas vornimmt, Absichten hat im Traume.

Wenn Sie die Träume eines gesunden Menschen studieren, wer­den Sie finden, daß gerade dieses Hereinspielen von Absichten in den Traum entweder sehr schwach ist oder überhaupt nicht vor­kommt. Der Mensch träumt alles mögliche Wunderbare, aber Ab­sichten spielen in der Regel keine Rolle. Wenn Sie eine Rolle spielen im Traume, so wacht der Mensch in der Regel aus solchen Träumen so auf, daß er über diese Absichten sich selber verspottet.

Wenn Sie aber solche Menschen mit intermittierendem Bewußt­sein, mit einem Bewußtsein, das auslöscht für eine Zeitlang, hin­sichtlich ihrer Träume studieren, dann werden Sie sehen, daß das Menschen sind, die Absichten im Traume hegen und diese Absich­ten beim Aufwachen ungeheuer ernst nehmen, sogar so ernst neh­men, daß sie Gewissenbisse empfinden, wenn sie die im Traume gehegten Absichten nicht ausführen können. Manchmal sind diese Absichten ja so albern gegenüber der äußeren physischen Welt, daß sie sie nicht ausführen können; dann quält sie das, dann macht sie das furchtbar aufgeregt. Das ist die Kehrseite dieses ausgelöschten Be­wußtseins, den Traum ernst zu nehmen, im besonderen mit Bezug auf den Absichtstraum - nicht Wunschtraum -, auf den Absichts­traum.

Derjenige, der Menschenbeobachtung hat, sieht es unter Umstän­den schon dem Menschen an, ob ihm jemals so etwas passieren könnte wie ein ausgelöschtes Bewußtsein. Solche Menschen haben etwas, was zeigt, daß sie mit Bezug auf gewisse innere und äußere Erlebnisse nie ganz aufwachen: Man kommt nach und nach darauf, wenn man einen solchen Menschen beobachtet, daß er jede Nacht in seinem Schlafzustand mit seinem Ich zu weit herausgeht aus dem physischen und dem Ätherleib, sich zu weit entfernt, so daß er nicht

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mehr alles mitnehmen kann, was er da draußen erlebt. Er geht zu tief in den Geist hinein, um all das, was er in der geistigen Welt erlebt, wiederum zurückzutragen in den physischen und Ätherleib. Und endlich, weil er das so oft nicht völlig zurückträgt, hält es ihn dann zuletzt draußen. Das, was er da zu tief im Geiste erlebt, das hält zuletzt überhaupt das Ich aus dem physischen Leib draußen und er kommt in diesen Zustand, wo das Ich nicht im physischen Leib drinnen ist.

In einem solchen radikalen Fall, wo eine Störung des Bewußtseins in der geschilderten Art auftritt ist es insbesondere interessant, das Traumleben eines solchen Menschen zu betrachten. Es ist anders als das Traumleben gewöhnlicher Zeitgenossen, sagen wir - es ist viel interessanter. Nur natürlich hat dieses Interessante seine Kehrseite. Aber schließlich, wie von außen betrachtet die Krankheit auch interessanter ist als die Gesundheit - nur nicht von innen betrachtet für den betreffenden Menschen, ich meine auch nicht für das ge­wöhnliche Leben, aber für die Erkenntnis des Menschenwesens -, so ist es tatsächlich so, daß dasjenige, was sich als das Traumleben eines solchen pathologischen Menschen, wie ich ihn geschildert habe, darstellt, viel interessanter ist als das Traumleben, ich will nicht sagen eines Philisters, aber eines Zeitgenossen.

Ja, da sehen Sie schon eine Art Verbindung des Ich mit der gan­zen Traumwelt auftreten. Ich möchte sagen, Sie können sie greifen, diese Verbindung des Ich mit der Traumwelt. Und es entstehen folgende Fragen vor uns: Wie ist es denn nun mit den Traumbildern, die sich auf innere Organe beziehen, im Verhältnis zu den Imagina­tionen, die sich auf innere Organe beziehen, wie ist es denn da?

Nun, äußerlich schon zeigt es sich ja, daß dasjenige was in den Imaginationen als Bilder der inneren Organisation gegeben wird, hinweist auf das, was im Menschen ist, bevor er seinen Erdenleib hat, bevor er auf Erden da ist; die Traumbilder treten auf, wenn er da ist. Die Imaginationen weisen also zurück; die Traumbilder wei­sen auf die Gegenwart. Aber wenn das auch der Fall ist, daß, wenn

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wir ein gewöhnliches Traumbild nehmen, das auf ein inneres Organ hinweist, ihm eine Karikatur des inneren Organes entsprechen würde, während der Imagination das vollkommene innere Organ entspricht, so können wir doch sagen: Diese Karikatur hat trotzdem die Möglichkeit in sich, sich zu einem Organ auszuwachsen; wir sagen uns, wenn wir die Karikatur in Betracht ziehen, die könnte wachsen zu einem vollkommenen Organ.

Nun, da ist der Anfang zu jener Betrachtung, die wir dann mor­gen anstellen wollen, und die in der Frage wurzelt: Bezieht sich vielleicht dasjenige, was die Imagination darbietet, auf das vergan­gene Leben des Menschen? und ist der Traum der Anfang der [magination der Zukunft? Wird vielleicht aus unserem Traumbilde, das wir heute hegen, jene Imagination, auf die wir zurückblicken können in einem künftigen Erdenleben? Ist vielleicht der Inhalt des Traumes der Keim des Inhaltes der Imagination?

Diese bedeutungsvolle Frage stellt sich vor uns hin. Wir sehen da zusammenrücken das, was wir durch eine Betrachtung der Träume gewinnen können mit der Frage nach den wiederholten Erdenleben des Menschen. Aber Sie sehen auch, man muß wirklich tiefer in das Leben des Menschen hineinschauen, als man es gewöhnlich bequem findet, um den Anschluß zu finden an das, was dann die Initiations­wissenschaft über das Wesen des Menschen sagt.

Durch solch einen Vortrag wie den heutigen möchte ich nament­lich eine Vorstellung davon hervorrufen, wie oberflächlich die Beob­achtung des Menschen innerhalb der heutigen Zivilisation ist, und wie überall Intimität der Beobachtung eintreten muß. Diese Intimität der Beobachtung, die führt aber schon zur Geisteswissenschaft hin.

ACHTER VORTRAG 9. Februar 1924 Die Beziehungen der Traumwelt zur imaginativen Erkenntnis Das Schuldig-Werden gegenüber dem Leben

#G234-1959-SE143 Anthroposophie

#TI

ACHTER VORTRAG

9. Februar 1924

Die Beziehungen der Traumwelt zur imaginativen Erkenntnis Das Schuldig-Werden gegenüber dem Leben

Die Grundlage des Karma

#TX

Gestern versuchte ich zu zeigen, wie man durch eine intimere Beobachtung des Traumlebens des Menschen nahe herangeführt werden kann an die Initiationswissenschaft. Es wird nun meine Auf-gabe sein, das, was ich gestern versuchte, Ihnen gewissermaßen vom Standpunkte des gewöhnlichen Bewußtseins aus anzudeuten, heute zu vertiefen dadurch, daß ich denselben Gegenstand ins Auge fasse vom Gesichtspunkte der imaginativen Erkenntnis aus, also so, wie sich die Dinge, die wir gestern betrachtet haben, ausnehmen, wenn derjenige sie anschaut, der es dazu gebracht hat, in Imaginationen die Welt zu überschauen. FSehen wir zunächst ab von dem Unter-schied zwischen den beiden Traumarten, von denen gestern gespro­chen worden ist, nehmen wir ako die Träume als solche Wir korn­men zu einer gültigen Betrachtung wenn wir schildern, wie das imaginative Leben, das imaginative Schauen sich selber findet gegenüber einem Traum den der mit Imaginationen Begabte hat Nun vergleichen wir das mit jener Selbstanschauung, zu der der Imaginierende kommt, wenn er auf seine eigene Menschenwesenhelt zurückblickt, wenn er die menschlichen Organe, sei es an sich selbst sei es an anderen Menschen, imaginativ betrachtet, oder auch den organischen Zusammenhang das heißt den ganzen Menschen als einen Organismus. Sehen Sie, beides, sowohl die Traumwelt wie der physische und auch ätherisc'he Menschenorganismus, nehmen sich

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vor dem imaginativen Bewußtsein ganz anders aus, als vor dem ge­wöhnlichen Bewußtsein. Der Imaginierende kann auch träumen, und er träumt unter Umständen ebenso chaotisch wie die anderen Men­schen. Er kann ganz gut aus den eigenen Erlebnissen heraus die Traumeswelt beurteilen, denn neben dem imaginativen Leben, das ein innerlich geordnetes, innerlich lichtvolles ist, fließt eben durch­aus die Traumwelt wie beim gewöhnlichen Bewußtsein ab, geradeso wie es ja auch dem äußeren Wachleben gegenüber ist. Ich habe oft-mais betont, daß derjenige, der zu einem wirklichen geistigen An­schauen kommt, nicht etwa ein solcher Träumer oder Schwärmer wird, daß er fortwährend nur in höheren Welten lebt und die äußere Wirklichkeit nicht sieht. Derjenige, der so ist, daß er nur fortwäh­rend in höheren Welten oder von höheren Welten träumt und die äußere Wirklichkeit nicht sieht, ist kein Initiierter oder Eingeweih­ter, sondern er ist, wenn auch vielleicht nur seelenpathologisch, aber doch pathologisch zu nehmen. WWirkliche Initiierten-Erkenntnis führt nicht vom gewöhnlichen physischen Leben und seinen einzel­nen Verhältnissen hinweg, sondern im Gegenteil, es macht zu einem sorgfältigeren, gewissenhafteren Beobachter, als man ohne die Fähigkeit des Schauens ist. Und man kann schon sagen, wenn je­mand keinen Sinn hat für die gewöhnlichen Wirklichkeiten, kein Interesse hat für die Einzelheiten des Lebens, kein Interesse hat für die Einzelheiten im Leben der anderen Menschen, wenn er so «er­haben» - ich sage aber das unter Gänsefüßchen -, wenn er so «erhaben» hinschwebt über das Leben und sich nicht kümmert um dessen Einzelheiten, so kann das allein schon ein Zeichen sein, daß es bei ihm nichts ist mit einem wirklichen Schauen. So daß der Imaginierende - ich rede jetzt nur von ihm, er kann natürlich auch ein inspirierter, ein intuitiver Mensch sein -, so daß der Imaginie-rende das Traumleben aus seiner eigenen Erfahrung sehr gut kennt. Aber ein Unterschied in der Auffassung gegenüber dem Traume ist doch vorhanden. Der Imaginierende empfindet den Traum als etwas, mit dem er sich verbindet, mit dem er in einem viel stärkeren

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Maße eins wird, als das durch das gewöhnliche Bewußtsein sein kann. Er vermag den Traum ernster zu nehmen. Und eigentlich berechtigt erst die Imagination, den Traum ernst zu nehmen, denn sie befähigt dazu, gewissermaßen hinter das Träumen zu sehen und am Traum aufzufassen vorzugsweise seinen dramatischen Fortgang, seine Spannungen und Lösungen, seine Katastrophen, seine Krisen, nicht so sehr den einzelnen Trauminhalt. Der einzelne Trauminhalt fängt einen vor der Imaginationen sogar an weniger zu interessieren. Viel mehr interessiert einen, ob der Traum zu einer Krisis führt, zu einer Freude führt, ob er zu etwas führt, was einem leicht wird oder schwer wird und dergleichen.

Dieser Verlauf, ich kann nur immer sagen, diese Dramatik des Traumes fängt an einen vorzugsweise zu interessieren, also gerade das, was oftmals das gewöhnliche Bewußtsein nicht interessiert. Man sieht hinter die Kulissen des Traumes. Und wenn man so hinter die Kulissen des Traumes sieht, da wird man aufmerksam darauf, daß man im Traume etwas vor sich hat, was sich zu dem geistigen Men­schenwesen in einer ganz bestimmten Weise verhält. Man sagt sich:

Der Traum ist wirklich das Menschenwesen in geistiger Beziehung, so wie der Keim einer Pflanze diese Pflanze ist. Man lernt im Trauminhalte, in dieser Traumdramatik vor allen Dingen keimhaft den geistigen Menschen schauen. Und man lernt erfassen in diesem keimhaften Menschen dasjenige, was eigentlich fremd ist in dem gegenwärtigen Leben; fremd ist wie der Pflanzenkeim, den man im Herbst in einem bestimmten Jahre der Pflanze entnimmt, fremd ist dem Pflanzenwachstum dieses Jahres und erst einheimisch wird im Pflanzenwachstum des nächsten Jahres. Und gerade diese Betrach­tung des Traumes gibt für das imaginative Bewußtsein die stärksten Eindrücke, weil man in dem träumenden eigenen Wesen immer mehr und mehr verspürt, wie man da etwas in sich trägt, was in das nächste Erdenleben hinübergeht, was sich auswächst zwischen dem Tode und einer neuen Geburt und in das nächste Erdenleben hin­überwächst. Man lernt empfinden den Keim des nächsten Erdenlebens

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in dem Traum. Das ist außerordentlich wichtig und wird noch erhärtet, wenn man nun dieses besondere Erlebnis, das ein starkes Empfindungserlebnis ist, vergleicht mit jener Anschauung, die man von dem physischen Menschen haben kann, wie er vor einem steht mit seinen einzelnen Organen. Der verändert sich auch vor dem imaginativen Bewußtsein so, daß man nun ein Gefühl bekommt, das ähnlich ist demjenigen, das man hat, wenn die Pflanze, die man als grüne, frische, blühende Pflanze kennengelernt hat, zu verwelken beginnt. Man sagt vor dem imaginativen Bewußtsein, wenn man sich diese Lunge, diese Leber, diesen Magen, namentlich dieses Gehirn des Menschen betrachtet als physische Organe: das ist ja in bezug auf das Geistige etwas Verwelkendes.

Sie werden sagen, es sei nichts Angenehmes, durch die Imagina­tionen dem physischen Menschen wie einem verwelkenden Wesen gegenüberzustehen. Es wird auch nie jemand, der die Initiations­wissenschaftlich kennenlernt, behaupten, sie sei nur dazu da, um den Menschen Annehmlichkeiten zu bieten. Sie soll die Wahrheit geben, nicht dem Menschen Annehmlichkeiten bieten. Aber auf der andern Seite muß man ja auch darauf aufmerksam machen, daß, indem man den physischen Menschen als ein verwelkendes Wesen kennenlernt, man in ihm eben den geistigen Menschen sieht. Sie können sozu­sagen den geistigen Menschen nicht aufleuchten sehen, wenn Sie nicht den physischen in einer gewissen Weise wie ein vermoderndes, welkendes Wesen erkennen lernen.

So wird die Erscheinung des Menschen dadurch ja nicht häßlicher, sondern im Gegenteil schöner und auch wahrer. Und wenn man so das geistige Hinwelken der menschlichen Organe beobachten kann, dann erscheinen einem diese physischen Organe mit ihrem äthe­rischen Inhalt wie etwas, was nun aus der Vergangenheit des vorigen Erdenlebens herübergekommen ist und im gegenwärtigen Erden-leben verwelkt. Und so kommt man wirklich zu der Vorstellung, daß in der Entwickelung des verwelkenden Menschen, verwelkend aus seinem Wesen des vorigen Erdenlebens heraus, sich der Keim

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bildet für das zukünftige Erdenleben. Am meisten welkt ja das menschliche Haupt. Und gerade wie ein Ausfluß des menschlichen Hauptes erscheint der imaginativen Betrachtung der Traum.

Dagegen am wenigsten verwelkend, fast ähnlich dem gewöhn­lichen Traum, wird der Stoffwechsel-Gliedmaßen-Organismus des Menschen vor dem imaginativen Anschauen, und damit am wenig­sten welk, am meisten verbunden seiner Form, seinem Inhalte nach mit der Zukunft des Menschen; während der rhythmische Organis­mus, das, was in der Brusthöhle verborgen ist, die Verbindung zwi­schen beiden ist. Das ist etwas, was das Gleichgewicht hält.

Gerade vor einer geistigen Betrachtung wird das menschliche Herz ein merkwürdiges Organ. Vor einer geistigen Betrachtung welkt das physische Herz hin, aber es bleibt fast - fast, sage ich, nicht ganz -, es bleibt fast, indem es geistig-imaginativ auftritt, nur verschönert, veredelt in seiner Form, die es als physisches Herz hat, bestehen.

Daher wird eine gewisse Wahrheit darinnen liegen können, wenn man den geistigen Anblick des Menschen so etwa hinmalen wollte, daß ein verhältnismäßig weise erscheinendes, vielleicht sogar ält­liches Antlitz verbunden wäre mit kindlichen Füßchen und Händ­chen, Flügeln, um das Erdenentfernte anzudeuten; daß aber in irgendeiner Weise an das physische Organ immerhin erinnernd das Herz angedeutet wäre.

Hat man nämlich die imaginative Anschauung des Menschen, dann wird so etwas, was man versucht zu malen, nicht symbolisch sein in dem schlechten Sinne, den das Symbolische in der heutigen Zivilisation hat, wo es strohern ist, sondern es wird Elemente des physischen Seins enthalten, solche, die zu gleicher Zeit aus dem physischen Sein herausheben. Und man könnte auch folgendes sa­gen - man muß nämlich anfangen, ein bißchen in Paradoxien zu reden, wenn man von der geistigen Welt spricht, weil die geistige Welt tatsächlich gegenüber der physischen ja ganz anders ausschaut, deshalb paradox ausschaut -, man möchte sagen, wenn man beginnt,

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mit imaginativer Erkenntnis den Menschen anzuschauen, so hat man dem Kopfe gegenüber das Gefühl: Ach, wie scharf mußt du jetzt denken, um dich diesem Kopf des Menschen gegenüber auf­recht zu erhalten. Man kommt sich, wenn man über den Kopf des Menschen mit imaginativem Bewußtsein nachsinnt, nach und nach ganz schwachsinnig vor, weil man mit den scharfsinnigsten Gedan­ken, an die man sich gewöhnt hat im Leben, nicht leicht herankom­men kann an dieses Wundergebilde des menschlichen Hauptes als physisches Gebilde.

Nun verwandelt es sich ja in Geistiges, ist noch viel wunderbarer in seinem Verwelken, wenn es die Form so stark zeigt; denn tatsäch­lich die Windungen des Gehirnes werden wie etwas, was in sich enthält, verwelkt, tiefe Geheimnisse der Weltengestaltung. Man schaut ja so tief in die Geheimnisse der Weltengestaltung hinein, wenn man den Menschenkopf anfängt zu verstehen, und man fühlt sich fortwährend «auf den Kopf geschlagen», wenn man den Kopf ver­stehen will.

Dagegen wenn man die Gliedmaßen und das Stoffwechselsystem des Menschen verstehen will mit imaginativem Bewußtsein, dann sagt man sich: Da hilft dir dein scharfer Verstand nicht, da mußt du eigentlich schlafen und träumen von dem Menschen. Denn in bezug auf diese Organisation faßt sich der Mensch am besten auf, wenn von ihm geträumt wird, wachend geträumt wird.

Also Sie sehen, man muß einrücken in ein sehr differenziertes Anschauen, wenn man beginnt, den Menschen imaginativ zu be­trachten seiner physischen Organisation nach. Man muß gescheit werden, furchtbar gescheit, wenn man seinen Kopf betrachtet. Man muß ein Träumer werden, wenn man sein Stoffwechsel-Gliedmaßen­System betrachtet. Beim rhythmischen System muß man wirklich wie hin und her pendeln zwischen Träumen und Wachen, wenn man dieses Wundergebilde des rhythmischen Systems des Menschen in imaginativem Anschauen erfassen will. Aber all das stellt sich eben dar als Rest des früheren Erdenlebens. So daß dasjenige, was der

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Mensch an sich erlebt beim Wachen, Rest des früheren Erdenlebens ist. Das spielt nur in das gegenwärtige Erdenleben herein, gibt ihm so viel, als ich gestern ihm zugeschrieben habe im Handeln zum Beispiel, wo ich sagte: Nur so viel, als der Mensch von seinen Hand­lungen träumt, vollzieht er eigentlich selber wirklich; das andere tun die Götter an ihm. So weit spielt die Gegenwart herein. Das andere kommt ja alles aus früheren Erdenleben. Das sieht man dem Men­schen an, wenn man ihn in seiner physischen Organisation ver­welkend vor sich hat. Und schaut man auf das hin, was er von sich weiß, indem er träumt, schlafend träumt, dann hat man dasjenige, was er vorbereitet für das nächste Erdenleben, vor sich. Man kann die Dinge sehr gut voneinander unterscheiden.

So daß die Imagination unmittelbar aus dieser Betrachtung des Menschen, des wachenden und schlafenden Menschen hinführt zu der Anschauung jener Entwickelung, die von Erdenleben zu Erden-leben geht.

Aber eine ganz besondere Stelle nimmt ja in diesem sowohl wa­chenden wie schlafenden Menschen jenes Seelenelement ein, das wir die Erinnerung nennen, dasjenige, was im Gedächtnisse bewahrt wird. Betrachten Sie Ihre gewöhnlichen Erinnerungen. Sie wissen:

was Sie erinnern, das holen Sie als Gedanken, als Vorstellungen aus sich heraus. Sie bilden Vorstellungen vergangener Erlebnisse. Sie wissen: in diesen Erinnerungen verlieren die Erlebnisse die Leben­digkeit, ihre Eindrucksfähigkeit, ihre Farben und so weiter. Die Er­lebnisse sind verblaßt in der Erinnerung. Aber auf der andern Seite muß uns diese Erinnerung doch wiederum als sehr stark mit dem Wesen des Menschen zusammenhängend erscheinen, ja mehr als das, als das Wesen des Menschen selbst erscheinen. Der Mensch ist nur gewöhnlich nicht ehrlich genug, um sich nach dieser Richtung das Nötige zu gestehen.

Aber ich frage Sie: Wenn Sie in sich hineinblicken um einmal so recht darauf zu kommen, was Sie eigentlich nach dem sind, was Sie Ihr Ich nennen, ist denn das etwas anderes als die Erinnerungen?

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Sie werden kaum etwas anderes in sich fühlen als die Erinnerungen an das Leben, wenn Sie auf Ihr Ich zurückgehen wollen. Sie finden allerdings diese Erscheinungen von einer Art Aktivität durchzogen, aber die bleibt ja sehr schattenhaft und dunkel. Das, was lebendig erscheint als Ich, sind eben für das Erdenleben die Erinnerungen.

Diese Welt der Erinnerungen, auf die Sie sich nur zu besinnen brauchen, um sie zunächst in ihrem ganzen Schattenhaften, Selenhaften vor sich zu haben, diese Welt der Erinnerungen, was wird sie vor dem imaginierenden Bewußtsein? Sie verbreitert sich so­gleich, sie wird ein mächtiges Tableau vor der Imagination, durch das man alles das in Bildern überschaut, was man in dem gegen­wärtigen Erdenleben durchlebt hat. Man möchte sagen (es wird gezeichnet), wenn dies der Mensch ist, dies die Erinnerung in ihm:

durch die Imagination wird diese Erinnerung sogleich ausgedehnt bis zur Geburt hin. Man fühlt sich wie aus dem Raume heraußen; da ist alles Geschehen. Man schaut so in ein Tableau hinein, indem man das ganze bisherige Erdenleben überschaut. Die Zeit wird zum Raum. Wie in eine Allee schaut man hinein. Man überschaut dieses ganze Bisherige in einem Tableau, in einem Panorama, und man kann sagen: die Erinnerung verbreitert sich, dehnt sich aus. Sie ist wie in einem einzigen Zeitmomente, wenn wir sie im gewöhnlichen Bewußtsein haben. Vor dem gewöhnlichen Bewußtsein, da ist es wirklich so: Wenn man zum Beispiel, sagen wir, 40 Jahre alt gewor­den ist und man erinnert sich an etwas, was man vor zwanzig Jahren erlebt hat, aber man imaginiert nicht, man stellt gewöhnlich vor, ja dann ist es so, wie wenn es zwar weit fort wäre, weit fort im Raume, aber wie wenn es doch da wäre. Man weiß jetzt, wenn man imagi­niert: es ist dageblieben; es ist ebensowenig verschwunden wie die fernen Bäume einer Allee. Es ist da. So schaut man hinein in dieses Tableau. Und man erkennt, daß diese Erinnerung, die man im ge­wöhnlichen Bewußtsein in sich trägt, eine arge Illusion ist. Es ist ja wirklich so, wenn man das, was man im gewöhnlichen Bewußtsein als Erinnerung in sich trägt, als eine Wirklichkeit auffaßt - wie

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wenn man bei einem Baum einen Querschnitt macht und das, was man da drinnen sieht, diesen einen Querschnitt für die Wirklichkeit des Baumstammes hält. Dieser eine Querschnitt ist ja eigentlich ein Nichts. Es ist ja nur ein Bild, das sich da ergibt, der Baumstamm ist oberhalb und unterhalb des Querschnittes. Und so ist es wirklich, wenn man imaginierend die Erinnerungen erfaßt. Da merkt man die ganze Nichtigkeit der einzelnen Erinnerungsgehalte; da wird das Ganze ausgedehnt bis eben nahe zu der Geburt hin, und sogar unter Umständen weiter über die Geburt hinaus. Da wird alles Vergan­gene gegenwärtig. Es ist da; es zeigt sich zwar peripherisch entfernt, aber es ist da.

Und hat man das einmal erfaßt, hat man solch eine Anschauung, dann tritt eben jene Erkenntnis ein, die einer fortwährenden Beob­achtung fähig ist, die einem sagt, daß der Mensch, wenn er seinen physischen Leib verläßt mit dem Tode, kurze Zeit nach dem Tode, einige Tage, diese Rückschau als sein selbstverständliches Leben hat. Indem der Mensch durch die Pforte des Todes geht, hat er zunächst durch mehrere Tage als sein Erleben dieses, daß er so in sein Lebens-panorama hineinschaut; in mächtigen Bildern, in leuchtenden, glän­zenden, eindrucksvollen Bildern sein Leben anschaut.

Nun handelt es sich darum aber, weiterzuschreiten mit der imaginativen Erkenntnis. Wenn man nun weiterschreitet mit der imaginativen Erkenntnis, dann bereichert sich das Leben in einer gewissen Weise; dann faßt man das natürlich auch in entsprechen-der Weise auf, was man sonst eben anders auffaßte. Sagen wir zum Beispiel, man faßt auf das Verhalten, das man anderen Menschen gegenüber hat, das Benehmen anderen Menschen gegenüber. Man faßt auf die Absichten, die man hatte bei diesem Benehmen, die Handlungen, die man ausgeführt hat, die Art und Weise, wie man zu den Menschen gewesen ist. Darüber mag man im gewöhnlichen Leben mehr oder weniger im einzelnen Falle nachdenken, je nach­dem man mehr oder weniger gedankenlos ist; aber jetzt ist es eben da. Man hat eine Vorstellung von der Art seines eigenen Verhaltens.

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Aber was man da auffaßt, ist dennoch eigentlich nur ein Teil der Sache. - Nehmen wir einmal an, man erweise einem anderen Menschen eine Guttat oder eine bose Tat. Man wird Erfolge sehen aus der guten Tat, die Zufriedenheit des anderen Menschen, das Befriedigtsein, vielleicht auch wird er in dieser oder jener Hinsicht gefördert sein. Man wird also jene Folgen einer solchen Handlungs­weise sehen, die in der physischen Welt eintreten können. - Hat man eine böse Tat ausgeführt, wird man sehen können, wie man den Menschen geschädigt hat, wie der Mensch unbefriedigt geworden ist, wie er sogar vielleicht physisch Leid davon getragen hat und so weiter. Das alles wird, wenn man nicht davor flieht, wenn es einem nicht unangenehm ist, die Folgen seiner Taten bei dem anderen Menschen zu beobachten, das alles wird man innerhalb des phy­sischen Lebens beobachten können. Aber das ist nur eine Seite der Sache. Jede Handlung, die wir begehen Menschen gegenüber, ja auch Handlungen, die wir begehen den anderen Naturreichen gegen. über, hat noch eine andere Seite. Nehmen wir einmal an, Sie er­weisen einem Menschen eine Guttat. Diese Guttat, sie hat in den geistigen Welten ein Dasein, eine gewisse Bedeutung. Sie wärmt gewissermaßen in den geistigen Welten; sie ist wie der Ausgangs-punkt von geistigen Wärmestrahlungen. Seelenwärme in der gei­stigen Welt strömt aus von einer guten Tat, die man einem andern Menschen erweist. Seelenkälte strömt aus von einer bösen Tat, die man einem anderen Menschen erweist. Und so ist es wirklich, als ob man Seelenwärme und Seelenkälte hineintrüge in die geistige Welt nach der Art, wie man sich zu anderen Menschen verhält. Andere Handlungen des Menschen wiederum sind so, als ob sie nach der einen oder anderen Richtung wie hell leuchtende Strahlen wirkten in der geistigen Welt; andere wirken verfinsternd in der geistigen Welt; kurz, man kann sagen, man erlebt von dem, was man voll­bringt im Leben auf Erden, ja eigentlich nur die Hälfte.

Geht man nun an das imaginative Bewußtsein heran, dann schwindet eigentlich vor diesem imaginativen Bewußtsein dasjenige,

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was das andere Bewußtsein ja ohnehin schon weiß. Ob ein Mensch gefördert oder geschädigt wird, das ist Sache des gewöhnlichen Be­wußtseins, es einzusehen; aber das, was eine Handlung, sei sie gut, sei sie böse, sei sie weise, sei sie törichter Art, in der geistigen Welt wirkt an Seelenwärme, an Seelenkälte, an Seelenleuchte, an Seelen­verfinsterung und so weiter - es ist eine große Mannigfaltigkeit da-, das steigt auf vor dem imaginativen Bewußtsein, das beginnt da zu sein. Und man sagt sich: Deshalb, weil du das nicht gewußt hast, als du dein gewöhnliches Bewußtsein wirken ließest in deinen Handlungen, deshalb war es nicht etwa nicht da. Man sagt sich, laß dir nur ja nicht einfallen, daß dasjenige, was du nicht gewußt hast bei deinem Handeln: daß es Quellen von Seelenstrahlungen leuchtender und wärmender Art sind, daß dadurch, daß du das nicht gesehen hast, nicht erlebt hast, daß es etwa nicht da sei. Laß dir das ja nicht einfallen. Du hast es durchlebt, aber in deinem Unter­bewußtsein. Du bist durch das alles durchgegangen. So wie deine Augen, deine Seelenaugen des höheren Bewußtseins es jetzt sehen:

hast du bei einer Wohltat, die du einem anderen erwiesest, einen gefördert, hast du bei einer bösen Tat einen geschädigt, so erlebte dein Unterbewußtsein ganz parallel gehend dabei, was die Tat in der geistigen Welt bedeutete.

Und in dem Augenblicke, wo der Mensch mit dem imaginativen Bewußtsein so weit ist, daß dieses imaginative Bewußtsein sich ge­nügend intensiviert hat, da schaut er nicht nur hin wie auf ein Panorama seiner Erlebnisse, sondern da wird er genötigt, darauf aufmerksam zu werden, daß er ja gar nicht ein ganzer Mensch ist, wenn er das nicht durchlebt, was er da undurchlebt gelassen hat, diese andere Seite seiner Handlungen, diese andere Seite seines Erdenlebens. Man beginnt, sich gegenüber diesem Lebenspanorama, das bis zur Geburt oder über die Geburt hinausreicht, ganz krüppel­haft vorzukommen, wie wenn einem etwas abgeschlagen wäre. Man sagt sich fortwährend: Das hättest du doch miterleben sollen; du bist ja eigentlich so, wie wenn dir dein Auge ausgeschlagen wäre,

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dein Bein abgeschlagen wäre; du bist ja nicht ein ganzer Mensch. Du hast ja die Hälfte deiner Erlebnisse in Wirklichkeit nicht gehabt. Das muß im Laufe des imaginierenden Bewußtseins eintreten, daß man sich also verstümmelt fühlt in bezug auf die Erlebnisse, daß man vor allen Dingen fühlt, wie einem das gewöhnliche Leben etwas zudeckt.

In unserer heutigen materialistischen Zeit ist ja das ganz beson­ders heftig, denn diese heutige materialistische Zeit glaubt ja über­haupt nicht daran, daß die menschlichen Handlungen mehr Wert und Bedeutung haben, als sie für das unmittelbare Leben haben, das sich äußerlich in der physischen Welt abspielt. Daß sich in der gei­stigen Welt noch etwas Besonderes abspielt, das betrachtet man ja mehr oder weniger als eine Torheit, wenn es behauptet wird; aber es ist eben da. Und vor dem imaginierenden Bewußtsein tritt dieses Gefühl der Verstümmeltheit auf. Man sagt sich: Du mußt dir wirk­lich die Möglichkeit bieten, zu erleben, was du alles nicht erlebt hast. Das aber geht fast gar nicht; das geht fast nur in Einzelheiten, in sehr geringem Maße.

Das ist es ja, was als Ernst über demjenigen lagern wird, der tiefer durchschauend in das Leben hineinsieht: daß er im Grunde genom­men während des Erdenlebens von diesem Leben vieles nicht erfül­len kann, daß er gewissermaßen einen Schuldschein ausstellen muß auf die Zukunft, daß er sagen muß: Das Leben stellt Aufgaben für das Erleben, die man in diesem Erdenleben gar nicht absolvieren kann. Man muß sie dem Weltenall schuldig bleiben und sagen: Ich werde das erst durchleben können, wenn ich durch den Tod gegan­gen bin. Es ist dies eine starke, wenn auch oftmals recht tragische Bereicherung des Lebens, die die Initiationsweisheit gibt, daß man das unvermeidliche &huldigwerden gegenüber dem Leben empfin­det und die Notwendigkeit einsieht, einen Schuldschein gegenüber den Göttern auszustellen, zu sagen: Das kann ich erst erleben, wenn ich gestorben bin; dann kann ich erst eintreten in ein solches Erle­ben, wie ich es dem Weltenall schuldig geworden bin.

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Dieses Bewußtsein, daß das innere Leben zum Teil in einer Art von Wechsel auf die Zukunft nach dem Tode geschehen muß, dieses innerliche Bewußtsein vertieft ungeheuer das Menschenleben. -Geisteswissenschaft ist nicht nur dazu da, daß man theoretisch das eine oder das andere wissen lernt. Derjenige, der Geisteswissenschaft so studiert, wie man andere Dinge studiert, der tut eigentlich nütz­licher, ein Kochbuch zu studieren. Da wird er wenigstens dazu ge­drängt, die Sache nicht bloß theoretisch zu betrachten. Denn das Leben sorgt dafür, hauptsächlich das Leben des Magens und was sich daran reiht, daß man ein Kochbuch ernster nimmt als eine bloße Theorie. Es ist schon notwendig, daß Geisteswissenschaft, wenn sie an den Menschen herantritt, das Leben empfindungsgemäß, herz-gemäß vertieft.

Es gibt eine ungeheure Vertiefung des Lebens, wenn man auf dieses Schuldigwerden den Göttern gegenüber aufmerksam wird und sich sagt: Die Hälfte des Lebens auf Erden kann man eigent­lich nicht durchleben, weil es sich unter der Oberfläche des Daseins verbirgt. Lernt man durch Initiation kennen, was sich da sonst ver­birgt für das gewöhnliche Bewußtsein, dann kann man schon ein wenig hineinsehen in das, was man schuldig geworden ist. Und man könnte dann sagen: Mit dem gewöhnlichen Bewußtsein sieht man, daß man schuldig wird, aber man kann den Schuldschein nicht lesen, den man selber ausstellen sollte. Mit dem initiierten Bewußtsein kann man zwar den Schuldschein lesen, aber man kann ihn nicht bezahlen im gewöhnlichen Leben. Man muß warten bis der Tod kommt. Und hat man dieses Bewußtsein erlangt, hat man so das menschliche Gewissen vertieft, daß dieses Bewußtsein des Schuldig­Gewordenseins ganz lebendig in einem ist, dann ist man reif gewor-den, das Menschenleben weiter zu verfolgen nach jenem rück-schauenden Tableau, von dem ich gesprochen habe, wo man zurück­geht bis zu der Geburt. Und dann sieht man, wie nach einigen Tagen dieses beginnt: daß man das erleben muß, was man unerlebt gelas­sen hat.

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Für jede einzelne Tat, die man Menschen gegenüber oder auch der Welt gegenüber getan hat, muß man nun erleben, was man uner-lebt gelassen hat. Die letzten Taten, die man vor seinem Tode getan hat, die treten zuerst auf; dann geht es weiter zurück im Leben. Zuerst wird man aufmerksam auf die Weltbedeutung der bösen Ta­ten oder guten Taten, die man zuletzt getan hat. Was man auf Erden an ihnen erlebt hat, bleibt weg; was sie für die Welt bedeu­ten, das wird jetzt durchlebt.

Und weiter zurück geht es. Man erlebt sein Leben rückwärts lau­fend noch einmal. Man weiß, man ist während dieser Zeit, indem man so sein Leben rücklaufend noch einmal erlebt, die Weltbedeu­tung dieses Lebens erlebt, man ist während dieser Zeit noch mit der Erde verbunden, denn es ist nur die andere Seite der Erdentaten, die man da erlebt.

Sehen Sie, da fühlt dann der Mensch so, als wenn sein weiteres zukünftiges Leben im Schoße des Weltenalls jetzt getragen würde. Es ist eine Art Embryonal-Leben für das weitere Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, was da der Mensch erlebt, nur daß er nicht von einer Mutter embryonal getragen wird, sondern von der Welt, nämlich von der Welt dessen, was er hier im physischen Dasein nicht erlebt hat. Er lebt sein physisches Dasein noch einmal zurück, aber in der Weltenbedeutung. Da erlebt er es mit einem stark geteilten Bewußtsein. Wenn wir hier in der physischen Welt leben und die Wesen, die um uns herum sind, anschauen, dann füh­len wir uns als Mensch so recht wie ein König den anderen Wesen gegenüber. Selbst wenn wir den Löwen den König der Tiere nennen, so fühlen wir uns als Menschen über ihn noch immer erhaben Der Mensch fühlt die Wesen der anderen Reiche als unter ihm ste­hend. Er kann die anderen beurteilen; er schreibt aber den anderen nicht zu, daß sie ihn beurteilen können. Er steht über den anderen Wesen der anderen Reiche der Natur. Ja, ein anderes Gefühl hat der Mensch, wenn er nach dem Tode durch das Erleben durchgeht, das ich eben geschildert habe. Da fühlt er sich nicht Reichen der Natur

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gegenüber, über die er erhaben ist, sondern er fühlt sich Reichen der geistigen Welt gegenüber, denen gegenüber er unterhaben ist. Er fühlt sich jetzt als das Niedrigste und die anderen über ihm stehend.

Und indem er so durchgeht durch das vorher Unerlebte, fühlt er überall die Wesenheiten, die jetzt über ihn erhaben sind, denen gegenüber er unterhaben ist. Diese Wesenheiten bringen ihre Sym­pathien und Antipathien demgegenüber, was er durchlebt infolge seines Erdenlebens. Da ist man überall in diesem Erleben unmittel­bar nach dem Tode wie in einem Regen drinnen, in einem geistigen Regen. Man durchlebt seine Tat noch einmal, nämlich ihre geistigen Seiten, aber indem man diese Taten durchlebt, tropfen herunter die Sympathien und Antipathien der erhabenen Wesenheiten, die über einem stehen. Da wird man überschüttet und übergossen von den Sympathien und Antipathien. Und da überkommt einen in geistiger Wesenheit das Fühlen: Dasjenige, worauf die Sympathien der erha­benen Wesenheiten der höheren Hierarchien strahlen, das wird in das Weltenall aufgenommen und bildet im Ferneren einen guten Ein­schlag im Weltenall; dasjenige, worauf die Antipathien der erhabe nen Wesenheiten fallen, das wird zurückgewiesen. Man fühlt davon, das würde ein schlimmer Einschlag im Weltenall sein, wenn man es nicht an sich halten würde.

Eine böse Tat, einem Menschen gegenüber verrichtet, wird über-tropft von den Antipathien der erhabenen Wesenheiten. Und man fühlt: Diese Verbindung mit den Antipathien der erhabenen Wesen­heiten würde etwas außerordentlich Schlimmes für das Weltenall bedeuten, wenn man nun nicht das was eine böse Tat für das ganze Weltenall bedeutet, an sich fassen würde, wenn man es aus sich herauslassen würde. Und aus diesem Grunde sammelt man auf das-j enige, was die Antipathien der erhabenen Wesenheiten empfängt.

Und damit legt man die Grundlage für das Karma, für das, was dann hinüberwirkt ins nächste Erdenleben, damit es durch andere Taten seinen Ausgleich finde.

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Man kann, ich möchte sagen, mehr von der Außenseite her diesen Durchgang des Menschenwesens durch das Seelengebiet nach dem Tode schildern, wie ich es in meinem Buche «Theosophie» getan habe. Da schildert man mehr nach den Gedankengängen, die man gewohnt worden ist in unserem Zeitalter. Jetzt, wo ich gewisser maßen rekapitulierend noch einmal schildere innerhalb der Allge­meinen Anthroposophischen Gesellschaft, was ja Systematik der Anthroposophie ist, möchte ich die Dinge mehr innerlich schildern, so daß Sie verspüren können, wie der Mensch das mit seinem Men­schenwesen, mit seiner Menschen-Individualität erlebt im Zustande nach dem Tode.

Dann aber, wenn man dieses so durchschaut, kann man noch ein­mal einen Blick zurückwerfen auf die Traumeswelt, und dann er­scheint einem diese Traumeswelt in einem neuen Lichte. Wenn man so schaut, wie ein Mensch nach dem Tode die geistigen Seiten seiner Erdentaten, seines Erdendaseins erlebt, auch seiner Erdengedanken, dann kann man wiederum zurückblicken auf den träumenden Men­schen, auf all das, was der Mensch während des Schlafes erlebt hat, und dann sagt man sich: Während des Schlafes hat der Mensch das schon einmal, aber nur ganz unbewußt durchlebt. Und es tritt jener Unterschied auf zwischen dem Schlafeserleben und dem Erleben, das man jetzt hat nach dem Tode.

Betrachten Sie das menschliche Erdenleben. Die wachen Zustände sind da, immer unterbrochen vom Schlaf. Nun, nehmen wir an, daß einer keine Schlafmütze ist, so bringt er ungefähr ein Drittel seines Lebens schlafend zu. Während dieses Drittels seines Lebens durch-lebt er tatsächlich, nur weiß er nichts davon, diese andere geistige Seite seiner Taten. Der Traum wirft ja nur ein ganz leichtes Wellen­kräuseln auf. Da merkt man manches von dieser anderen Seite im Traume, aber es ist ein schwaches Wellenkräuseln oben. Der tiefe Schlaf aber läßt unbewußt erleben alles das, was die geistige Seite des Tageslebens ist.

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Man kann schon sagen: Im bewußten Tagesleben erlebt man, was die Menschen denken und fühlen, wie sie gefördert oder nicht ge­fördert sind durch uns selber. Im Schlafe erlebt man unbewußt, was die Götter denken über unsere Taten und über unsere Gedanken während des wachen Lebens; aber man weiß eben nichts davon. Deshalb kommt sich derjenige, der in die Geheimnisse des Daseins hineinblickt, so verstümmelt vor, wie ich es Ihnen beschrieben habe, so mit einer Schuld belastet. Das ist ja alles im Unterbewußten geblieben. Nach dem Tode wird es wirklich bewußt durchlaufen. Und deshalb wird derjenige Teil des Lebens, der verschlafen worden ist, eben noch einmal durchlebt, das heißt, ungefähr ein Drittel des Erdenlebens der Zeit nach. Wenn also jemand durch den Tod gegan­gen ist, so lebt er Nacht für Nacht wiederum zurück; nur wird das, was er unbewußt Nacht für Nacht gelebt hat, jetzt bewußt durch­lebt. Man kann schon sagen, obwohl es fast scheint, als wollte man über diese außerordentlich ernsten Dinge spotten: Verschläft einer den größten Teil seines Lebens, so dauert dieses Nacherleben nach dem Tode länger; ist er ein Kurzschläfer, dauert es kürzer; durch­schnittlich eben ein Drittel, weil er ein Drittel verschläft. Wird also einer im physischen Erdenleben 60 Jahre alt, so dauert dieses Durch­leben nach dem Tode zwanzig Jahre. Und während dieses Durch-lebens macht man für die geistige Welt eine Art Embryonalzustand durch.

Dann, wenn man das durchgemacht hat, hat man eigentlich erst die Erde los. Dann umhüllt sie einen nicht mehr, die Erde. Dann wird man für die geistige Welt, die man durchlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, eigentlich erst geboren. Man fühlt das dann nach dem Tode wie die Geburt für die geistige Welt, wenn man herausschlüpft aus den Schalen des Erdendaseins, die man bis dahin, allerdings geistig, an sich getragen hat.

NEUNTER VORTRAG 10. Februar 1924 Die Erinnerungsfähigkeit des Menschen

#G234-1959-SE160 Anthroposophie

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NEUNTER VORTRAG

10. Februar 1924

Die Erinnerungsfähigkeit des Menschen

#TX

Sie haben gestern gesehen und aus den vorangehenden Vorträgen wohl ebenso, welche bedeutenden Ausblicke sich bieten auf das ganze menschliche Dasein und seinen Zusammenhang mit der Welt, wenn man die Erinnerungsfähigkeit des Menschen ins Auge faßt. Wollen wir daher heute einmal die Erinnerungsfähigkeit an sich, so wie sie uns in ihren verschiedenen Phasen im menschlichen Leben erscheinen kann, betrachten; zunächst die Erinnerungsfähigkeit vor dem gewöhnlichen Bewußtsein, das der Mensch hat zwischen der Geburt und dem Tode.

Der Mensch verwandelt dasjenige, was er gewissermaßen im robu­sten Leben durchmacht, was er durchmacht mit all seinem Denken, Fühlen, Wollen, mit Entfaltung auch seiner physischen Kräfte, das verwandelt er in Erinnerungen, und er kommt von Zeit zu Zeit zurück in seinem Seelenleben auf die Erinnerungsbilder dessen, was er durchgemacht hat.

Aber vergleichen Sie diese entweder frei auftauchenden oder ge­suchten Erinnerungsbilder in ihrer Schattenhaftigkeit, in ihrem bloßen Gedanken- und Vorstellungssein mit der Robuscheit der Er­lebnisse, auf die sie sich beziehen, so werden Sie sich sagen: Es sind die Erinnerungen eben Bilder. Aber als Bilder sind sie das, was wir in unserem Ich von unseren Erlebnissen in der Außenwelt für uns behalten. Wir tragen sozusagen als den erarbeiteten Schatz aus un­seren Erlebnissen die Erinnerungen mit uns. Und wenn uns irgend etwas in krankhaften Fällen-ich habe ja auch davon gesprochen-

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verlorengeht von diesen Erinnerungen, dann ist das ein Schadhaft­werden unseres Ich selber. Wir fühlen, daß unser innerstes Wesen, unser Ich, schadhaft geworden ist, wenn es in krankhaften Fällen dies oder jenes aus dem Schatze der Erinnerungen auslassen muß, der unser Leben zu einem Ganzen macht. Man könnte ja auch hin­weisen auf die furchtbaren Zustände, die zuweilen auf anderem Felde bei Gehirnschlägen dadurch eintreten, daß gewisse Partien des verflossenen Lebens in der Erinnerung ausgelöscht werden. -Blicken wir zurück von einem gewissen Zeitpunkte unseres Lebens auf das verflossene Dasein seit unserer letzten Geburt, dann müssen wir schon den Zusammenhang der Erinnerungen fühlen und empfin­den, damit wir uns so recht als seelischer Mensch ansehen können.

Das sind einige Züge, die darauf hinweisen, was die Erinnerungs­fähigkeit während des physischen Erdenlebens ist. Sie ist ja noch viel mehr. Was wäre uns die Außenwelt mit ihren immer sich erneuern-den Eindrücken, mit alledem, was sie allerdings in Lebhaftigkeit gibt, was wäre sie uns, wenn wir nicht in der Lage wären, anzuknüp­fen dasjenige, was als neue Eindrücke kommt, an das Erinnerte! Und nicht zu allerletzt darf man sagen: Ja, alles Lernen besteht ja zum Schlusse darinnen, daß das Neue, das an den Menschen herange­bracht wird, angeknüpft wird an das, was er schon in seinen Erinne rungen trägt. Ein großer Teil der Schulmethodik beruht ja darauf, daß wir in der rationellsten Weise finden, wie wir Neues, das wir den Kindern beizubringen haben, anknüpfen können an das, was wir aus dem Schatze ihrer Erinnerungen holen können.

Kurz, überall da, wo es darauf ankommt, die Außenwelt an das Seelische heranzubringen, das Seelische selber aufzurufen, damit es erfühlt und innerlich erlebt das eigene Dasein, alles das appelliert zuletzt an die Erinnerung. So daß wir schon sagen müssen: die Erin­nerung macht den wichtigsten, den weitaus umfassendsten Teil des Innenlebens des Menschen während seines Erdendaseins aus.

Nun aber betrachten wir diese Erinnerung noch von einem ande­ren Gesichtspunkte. Man kann leicht wissen, daß diese Erinnerung,

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die Summe der Erinnerungen, die wir in uns tragen, eigentlich ein Fragment ist. Man hat im Laufe des Lebens so manches vergessen, aber es gibt Augenblicke des Lebens, manchmal gerade krankhafte Augenblicke des Lebens, wo längst Vergessenes wiederum heraufkommt. Und insbesondere sind es die Augenblicke, in denen der Mensch sich dem Tode naht, wo mancherlei, das schon ganz ferne seiner bewußten Erinnerung war, auftaucht. Sterbende alte Men­schen erinnern sich plötzlich an Dinge, die längst aus ihrer bewußten Erinnerung geschwunden waren. Und wenn man den Traum, der ja auch anknüpft an die Erinnerung, wirklich intim studiert, so findet man durchaus, daß im Traume Dinge auftauchen, die man ganz gewiß erlebt hat, an denen man aber unaufmerksam vorübergegangen ist, die man sozusagen nicht beachtet hat und die trotzdem im Seelenleben drinnen sind und gerade dann, wenn die Hindernisse des physischen und ätherischen Organismus nicht wirken, wenn der astralische Leib und das Ich im Schlafe allein sind, heraufkom­men. Man beachtet das gewöhnlich nicht. Und so kommt man nicht darauf, daß eben die bewußte Erinnerung nur ein Fragment des­jenigen ist, was wir in uns aufnehmen, und daß wir eigentlich in derselben Form, nur gleich ins Unterbewußte hinein, vieles vom Leben aufnehmen und dann innerlich verarbeiten.

Nun, solange wir im Erdendasein leben, solange halten wir das­jenige, was auftauchen kann aus den Tiefen der Seele in Form von Erinnerungsgedanken, für das Wesentliche an der Erinnerung. Es kommen die Gedanken an Erlebtes, sie gehen wieder; wir suchen sie. Wir halten das für das Wesen der Erinnerung.

Wenn wir durch des Todes Pforte gehen, dann folgen auf das Erdendasein Tage, in denen wie in einer mächtigen Perspektive die Bilder des eben verflossenen Erdenlebens auftreten. Sie sind auf ein­mal da. Was vor vielen Jahren vergangen ist, ist gleichzeitig da mit dem, was vor ein paar Tagen vergangen ist. Wie das Räumliche nebeneinander ist und nur Raumesperspektive hat, so ist jetzt das Zeitliche unseres Erlebens nebeneinander und hat eben innere Zeitperspektive;

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aber es ist auf einmal da. Nur wird es in der kurzen Zeit, in der es da ist, immer schattenhafter und schattenhafter, im­mer abgeschwächter und abgeschwächter. Während wir im phy­sischen Erdenleben in uns schauen, fühlen: da haben wir die Bilder des Erlebens als Erinnerungsbilder wie zusammengerollt in uns, werden jetzt diese Bilder größer, mächtiger. Wir fühlen, wie wenn die Bilder unserer Erinnerung von der Welt aufgenommen werden. Das, was nach dem Tode gewissermaßen erst ein eng Umgrenztes umschließt in diesem Erinnerungstableau, es wird immer größer, aber damit auch immer schattenhafter, bis wir es wie zu einem Weltall erweitert finden, aber schwach geworden, so daß wir kaum noch ahnen können, was wir erst deutlich gesehen haben. Wir ahnen es. Und dann verschwindet es in den Weiten; es ist nicht mehr da.

Das ist die zweite Form, die die Erinnerung annimmt, gewisser­maßen die zweite Metamorphose unmittelbar in den Tagen nach dem Tode. Das ist diejenige Phase, von der wir sagen können, es fliegen uns unsere Erinnerungen fort in das Weltenall. Alles das, womit wir unser Dasein zwischen der Geburt und dem Tode so eng verbunden haben wie mit der Erinnerung, alles das weitet sich, wird groß, wird immer schattenhafter, verliert sich endlich in den Weiten des Weltenalls.

Es ist so, wie wenn wir dasjenige Ich, das wir eigentlich als unser Ich bezeichnet haben während des Erdenlebens, hinschwinden sehen würden in die Weiten des Weltenalls. Und das Ende der wenigen Tage, in denen wir solches erleben, ist dieses, daß wir uns gegenüber unseren enteilenden Erinnerungen sagen müssen: Wir werden selbst zerstreut, verweitet in das Weltenall, verweitet so weit in das Weltenall, daß wir den Augenblick erleben, wo wir eigentlich in dem, worin wir uns gefühlt haben zwischen Geburt und dem Tode, wie genommen uns fühlen von den Weiten des Weltenalls.

Nachdem wir gewissermaßen diese übersinnliche Betäubung durchgemacht haben, diese übersinnliche Ohnmacht, die uns das innere Bewußtsein des Erdendaseins in der Summe der Erinnerungsvorstellungen

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genommen hat, leben wir dann auf in der dritten Phase der Erinnerung. Und diese dritte Phase der Erinnerung lehrt uns: Ja, das, was wir während des Erdendaseins als unser Selbst mit Hilfe der Erinnerungen bezeichnet haben, das hat sich zerstreut in die Weiten des Weltenalls, das hat gewissermaßen vor uns selbst und für uns seine Nichtigkeit bewiesen. Und wären wir nur das, was in unseren Erinnerungen zwischen Geburt und Tod bewahrt werden könnte, wir wären ein Nichts nach wenigen Tagen nach unserem Tode.

Da tauchen wir unter in etwas ganz anderes. Da werden wir ge­wahr: wir können unsere Erinnerungen nicht halten. Was in uns als unsere Erinnerungen vorhanden ist, wir können es nicht halten, die Welt nimmt es uns weg nach dem Tode.

Aber hinter allen Erinnerungen, die wir gehegt haben während des Erdenlebens, sitzt ein Objektives. Das geistige Gegenstück von dem ich gestern gesprochen habe, es ist eingeschrieben in die Welt. Und wir tauchen jetzt unter in dieses geistige Gegenstück zu unseren Erinnerungen. Indem wir die Erlebnisse durchgemacht haben seit unserer Geburt bis zum Tode, haben wir mit diesem Menschen, mit jener Pflanze, mit jener Quelle, mit allem, woran wir herangetreten sind während des Lebens, dies und jenes erlebt. Nichts von alledem, was wir erlebt haben, bleibt in seinem geistigen Gegenstücke unein­geschrieben in die geistige Wirklichkeit, in der wir außer der phy­sischen Wirklichkeit auch immer sind. Jeder Händedruck, den wir mit irgendeinem Menschen gewechselt haben, hat sein geistiges Ge­genstück. Das ist eingeschrieben in die geistige Welt, das ist da. Nur während wir in den ersten Tagen nach dem Tode auf unser Leben hinschauen, haben wir die Bilder dieses Lebens vor uns. Sie decken uns gewissermaßen zu, was in die Welt selber durch unsere Taten, durch unsere Gedanken, durch unsere Gefühle eingeschrieben ist.

Wir sind in dem Augenblick, wo wir durch die Pforte des Todes eintreten in das, sagen wir andere Leben, wir sind in diesem Augen­blicke erfüllt von dem, was sich uns in jenem Lebenstableau vorstellt,

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das eben Bilder enthält, Bilder, die perspektivisch bis zur Ge­burt und selbst über diese hinausgehen. Aber was sich da als Bilder aufstellt, das schwindet eben hinaus in die Weiten des Weltenalls. Und dann werden sichtbar die geistigen Gegenbilder all der Taten, die wir durchgemacht haben bis zur Geburt hin. Alles, was wir durchgemacht haben, an geistigen Gegenbildern wird es sichtbar, aber so, daß wir nun unmittelbar den Antrieb erhalten, den Weg wirklich zurückzumachen, durch alle diese Erlebnisse noch einmal zu gehen.. Der Mensch weiß ja gewöhnlich, wenn er von Dornach nach Basel geht, daß er auch von Basel nach Dornach gehen kann, weil der Mensch hier in der physischen Welt eine entsprechende Raumesvorstellung hat. Der Mensch weiß aber in seinem gewöhn­lichen Bewußtsein nicht, daß, wenn er von der Geburt bis zum Tode geht, er auch vom Tode bis zu der Geburt gehen kann. In genau derselben Weise, wie, wenn man in der physischen Welt von Dornach nach Basel geht, man auch von Basel nach Dornach zurückgehen kann, ebenso kann man, wie man während des physischen Erden-lebens von der Geburt bis zum Tode geht, nun von dem Tode bis zur Geburt gehen.

Und das tut man in der geistigen Welt, indem man rücklaufend die geistigen Gegenbilder all der Erlebnisse durchmacht, die man durchgemacht hat hier während des Erdenlebens. Man hat ein Erleb­nis gehabt mit irgend etwas in dem außermenschlichen Naturreiche; sagen wir, man hat ein Erlebnis mit einem Baume gehabt. Man hat diesen Baum betrachtet, oder man hat ihn als Holzfäller umgehauen. Das alles hat ein geistiges Gegenbild. Vor allen Dingen, es gibt.eine Bedeütung für das ganze Weltenall, für die geistige Welt, ob man einen Baum bloß betrachtet hat, ob man einen Baum umgehauen hat, ob man sonst irgend etwas mit Ihm gemacht hat; dasjenige, was man mit dem physischen Baum erleben kann, man hat es im phy­sischen Erdenleben erlebt; dasjenige, was dieses Erlebnis als geistiges Gegenbild hat, erlebt man jetzt zurücklaufend von dem Tode bis zu der Geburt.

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Hat man ein Erlebnis mit einem anderen Menschen gehabt, sagen wir, einem Menschen Schmerz zugefügt, so gibt es ja schon ein gei­stiges Gegenbild in der physischen Welt, nur ist es nicht unser Er­lebnis; es ist der Schmerz, den der andere erlebt. Bei uns war viel-leicht die Ursache dieses Schmerzes sogar ein gewisses Wohlgefühl aus dem heraus, daß wir ihm den Schmerz bereitet haben. Rache oder irgend etwas, das hat uns erfüllt. Indem wir jetzt das Leben zurück-laufen, machen wir nicht unser Erlebnis durch, sondern sein Erleb­nis, das, was er durch unsere Tat erlebt hat. Das gehört auch zum geistigen Gegenbild und ist eingeschrieben in die geistige Welt. Kurz, der Mensch erlebt auf geistige Art noch einmal seine Erleb­nisse, zurückgehend von dem Tode bis zu der Geburt.

Dieses Erleben ist verbunden - wie ich schon gestern sagte -damit, daß wir fühlen an diesem Erleben, wie an ihm Wesenheiten teilnehmen, die zunächst übermenschlich sind. Indem wir uns durch­ringen durch diese geistigen Gegenbilder unserer Erlebnisse, ist es so, als ob fortwährend von oben herunter rieselten die Sympathien und Antipathien der geistigen Wesenheiten, die eben Sympathien und Antipathien mit unseren Taten, mit unseren Gedanken im rück-läufigen Erleben haben. Und wir fühlen in diesem rückläufigen Er­leben für jedes einzelne, was wir auf der Erde aus uns heraus voll­bracht haben, sei es in Gedanken, sei es in Gefühlen, sei es in Wil­lensimpulsen, sei es in Taten - wir erleben für jedes einzelne, wie­viel wert es ist für das von dem Geistigen aus orientierte Dasein überhaupt. Wir erleben in bitterem Schmerze die Schädlichkeit irgendeiner Tat, die wir begangen haben. Wir erleben in brennen­dem Durste die Leidenschaften, die wir in unserer Seele gehabt ha­ben. Wir erleben sie so lange in brennendem Durste, diese Leiden­schaften, bis wir die Wertlosigkeit des Leidenschafthabens für die geistige Welt eben genügend erlebt haben und hinausgekommen sind über dieses Leidenschafthaben, wie es abhängt von der phy­sischen Persönlichkeit der Erde.

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Indem dies betrachtet wird, mag ja sehr stark hervortreten, wie eigentlich die Grenze zwischen dem Seelischen und dem Physischen ist. Sehen Sie, der Mensch wird leicht so etwas wie Durst oder Hun­ger für etwas Physisches anschauen. Gewiß, weil Durst und Hunger gewisse physische Veränderungen im Organismus sind. Aber denken Sie sich nur einmal, dieselben physischen Veränderungen, die in einem menschlichen physischen Organismus sind, wenn er Durst hat, seien in irgendeinem Körper, der nicht beseelt ist. Dieselben Veränderungen können doch da sein, aber der nichtbeseelte Körper wird nicht Durst haben. Sie können als Chemiker untersuchen, welche Veränderungen in Ihnen sind, wenn Sie Durst haben. Brin­gen Sie dieselben Veränderungen irgendwie hervor in denselben Substanzen und in demselben Kräftezusammenhang in einem Kör­per, der nicht menschlich beseelt ist, er hat nicht Durst. Durst ist eben nicht etwas, was im physischen Leibe lebt, Durst ist etwas, was durch Veränderungen des physischen Leibes im Seelischen, im Astra­lischen lebt. Ebenso der Hunger. Und wenn jemand in seiner Seele einen großen Gefallen hat an irgend etwas, das Ihm durch physische Verrichtungen befriedigt wird im physischen Leben, dann ist es so, wie wenn er hier im physischen Leben Durst hat: das Seelische emp­findet Durst, brennenden Durst nach denjenigen Dingen, die sich der Mensch hier angewöhnt hat, durch physische Verrichtungen zu befriedigen. Denn die physischen Verrichtungen kann man nicht vornehmen, wenn man den physischen Leib abgelegt hat. Ein großer Teil des Lebens nach dem Tode während dieses Rückganges, den ich hier angedeutet habe, verläuft dadurch, daß der Mensch sich in seinem Geistig-Seelischen erst angewöhnen muß, ohne seinen phy­sischen Leib zu leben. Er hat fortwährend brennenden Durst zu-nächst nach dem, was sich nur durch den physischen Leib befrie­digen läßt. Geradeso, wie sich das Kind gewöhnen muß, seine Or­gane zu gebrauchen, wie es sprechen lernen muß, so muß sich der Mensch in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt gewöhnen, nicht mehr seinen physischen Leib als die Grundlage seiner Seelenerlebnisse

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zu haben; er muß hineinwachsen in die geistige Welt.

Es gibt Beschreibungen dieses Erlebens in dem dritten Teil der Zeit, die das physische Leben gedauert hat - es gibt Beschreibun­gen, die schildern dieses Erleben geradezu wie eine Hölle. Und wenn Sie Beschreibungen lesen, wie sie zum Beispiel in der Literatur der Theosophischen Gesellschaft von diesem Leben gegeben werden, das dort nach orientalischem Gebrauche Kamaloka genannt wird, wenn Sie solche Beschreibungen lesen, so bekommen Sie ganz sicher eine Gänsehaut. Nun, so sind die Dinge nicht. Sie sind schon so, daß, wenn man sie unmittelbar mit dem Erdenleben vergleicht, sie so er­scheinen können, weil sie etwas ganz Ungewöhnliches sind, weil man sich eben sofort hineinfinden muß in die geistigen Gegenbilder und Gegenwerte dessen, was man auf Erden durchgemacht hat: so daß alles, was man auf Erden als Wohlleben durchgemacht hat, dort Entbehrung ist, bittere Entbehrung ist, und eigentlich nur dasjenige etwas Befriedigendes hat, was man auf der Erde als Unbefriedigen-des oder als Schmerzhaftes, als Leidvolles durchgemacht hat. In vie­ler Beziehung, mit dem Erdenleben verglichen, hat das schon, was da durchgemacht wird, etwas Gruseliges; aber man kann es eben nicht unmittelbar mit dem Erdenleben vergleichen, weil man es ja nicht im Erdenleben erlebt, sondern eben nach dem Erdenleben, und weil man nach dem Erdenleben nicht mit den Erdenbegriffen urteilt.

Wenn Sie also zum Beispiel dadurch, daß Sie einem anderen Menschen Schmerzen zugefügt haben, die Schmerzen dieses anderen Menschen erleben, so sagen Sie sich zugleich - ich muß das so aus­drücken -, in diesem Erleben nach dem Tode sagen Sie sich: Wenn ich diesen Schmerz nicht erleben würde, bliebe ich eine unvollkom­mene Menschenseele, denn das müßte fortwährend von mir etwas wegnehmen, was ich da als einen Schaden im Weltenall angerichtet habe. Ich werde nur ein ganzer Mensch, wenn ich den Ausgleich erlebe.

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Je nach der inneren Seelenverfassung kann es sein, daß man sich schwer durchringt zu dem Urteil, zu dem Post-mortem-Urteil, zu dem Urteil nach dem Tode, daß es eigentlich eine Wohltat ist, ein Schmerzhaftes zu empfinden für die Zufügung eines Schmerzes an jemand anderen. Es kann schwer sein, sich zu diesem Urteil durch­zuringen; aber eine gewisse Seelenverfassung gibt es, die es leichter macht, und das wird eben diejenige sein, die schon hier im Erden-leben etwas kennenlernt über dieses übersinnliche Leben. Es gibt eine Seelenverfassung, die empfindet das, was da als leidvoller Aus­gleich für manches im Erdenleben durchgemacht wird, sogar als Beseligung, weil man durch diesen leidvollen Ausgleich eben vor­wärts kommt in der Vollkommenheit seines Menschtums. Man würde sonst zurückbleiben in der Vollkommenheit seines Mensch­tums. Wenn Sie einem anderen Leid zugefügt haben, sind Sie ja weniger wert, als Sie waren, bevor Sie ihm dieses Leid zugefügt ha­ben. Und wenn Sie vernünftig urteilen, so werden Sie sagen: Ich bin für das Weltenall eine schlechtere Menschenseele, nachdem ich einem anderen Leid zugefügt habe, als bevor ich es ihm zugefügt habe. Ich war mehr wert, bevor ich ihm das Leid zugefügt habe. Und Sie werden es als eine Wohltat empfinden, wenn Sie nach dem Tode den Ausgleich finden können dadurch, daß Sie dieses Leid nun auch wiederum erfahren.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, das ist die dritte Phase des­jenigen, was als Erinnerung in uns lebt. Erstens wird uns das einige Tage nach dem Tode hindurch zu Bildern verdichtet zunächst, aber dann hinauszerstreut in das Weltenall, was wir in uns getragen ha­ben an Erinnerungen. Unser inneres Leben in der Gedankenform geht zurück zum Weltenall. Aber in der Welt selber ist eingeschrie­ben auf geistige Art, was wir durchlebt haben. Und indem wir ver­loren haben, was wir während des Erdenlebens an Erinnerungen in uns eingesperrt gehalten haben, indem dieses Eingesperrte die Wei­ten gesucht hat, gibt es uns die Welt aus ihren Einschreibungen, aus dem Objektiven uns wieder zurück.

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Es gibt kaum einen stärkeren Beweis für das Verbundensein des Menschen mit der Welt, als den, der auftritt nach dem Tode da­durch, daß wir uns erst in bezug auf unser Innenleben genommen werden, um uns wieder gegeben zu werden aus der Welt. Und man empfindet das selbst den leidvollen Ereignissen gegenüber nach dem Tode als etwas, was zum Menschtum in seiner Ganzheit eigentlich gehört. Man kann schon sagen, man hat die Empfindung: Dasjenige, was man als ein Innerliches gehabt hat während des Erdenlebens, das nimmt die Welt an sich. Und das, was man in die Welt hinein-geprägt hat, das gibt sich uns wieder. Gerade das, was man nicht beachtet hat, an dem man vorbeigegangen ist, was man aber mit deutlichen Strichen hineingetragen hat in das geistige Dasein, das gibt einem das eigene Selbst wiederum zurück. Und man gelangt dann im rückläufigen Lebenslaufe durch die Geburt hinaus in die Weiten des geistigen Daseins.

Dieses, daß wir das durchgemacht haben, gibt uns nun eigentlich erst jenes Dasein, durch das wir in der geistigen Welt sein können. Wir treten durch alles das, was wir durchgemacht haben, eben erst in die geistige Welt ein. Und die Erinnerungsfähigkeit nimmt die vierte Metamorphose an. Wir fühlen jetzt, daß eigentlich während des Frdenlebens hinter der gewöhnlichen Erinnerung überall etwas gelebt hat in uns; aber was da gelebt hat, das kam nicht zu unserem Bewußtsein. Es hat sich eingeschrieben in die Welt; jetzt werden wir es selbst. Unser Erdenleben haben wir in seiner geistigen Bedeutung aufgenommen; wir werden diese geistige Bedeutung selbst. Wir ste­hen jetzt, nachdem wir durch die Geburt zurücklaufend in die gei­stige Welt hineingekommen sind, in einer sehr eigenartigen Weise vor der geistigen Welt. Wir stehen gewissermaßen selber in unserem geistigen Gegenwert vor der Welt. Indem wir da durchgegangen sind und erlebt haben das Leid, das wir einem anderen zugefügt haben; indem wir erlebt haben den geistigen Gegenwert eines Er­lebnisses mit einem Baum, sagen wir - war es ja Erlebnis, aber es ist noch nicht Selbsterlehnis gewesen. Es läßt sich wirklich gut vergleichen

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mit der embryonalen Daseinsweise eines Menschen, bevor er geboren wird. Da ist alles das, was er erlebt, noch nicht ins Selbstbewußtsein erwacht, noch nicht einmal die ersten Jahre seines physischen Erdenlebens hindurch. Es erwacht allmählich erst das Selbstbewußtsein.

So wird all das, was wir rückläufig erleben, erst nach und nach, indem wir da hineinkommen in die Welt, unser Selbst, unser gei­stiges Selbstbewußtsein, und wir sind jetzt das, was wir erlebt haben. Wir sind unser eigener geistiger Gegenwert. Und mit diesem Da­sein, das wirklich die andere Seite unseres Erdendaseins darstellt, treten wir in jene Welt ein, in der von den gewöhnlichen Reichen der äußeren Natur, vom mineralischen, vom pflanzlichen, vom tie­rischen Reich rein nichts da ist - das sind Dinge, die dem Erden-dasein angehören -, in der aber sogleich auftreten erstens jene Seelen, die vor uns dahingegangen sind und mit denen wir in irgendeiner Beziehung gestanden haben, und die Individualitäten höherer geistiger Wesenheiten.

Wir leben als Geist unter Menschengeistern und unter anderen Geistern, und diese Umgebung geistiger Individualitäten ist jetzt unsere Welt, und die Beziehung dieser geistigen Individualitäten, seien sie andere Menschen, seien sie Wesenheiten, die nicht zur Menschheit gehören, die Beziehung dieser Wesenheiten zu uns sel­ber, in die wir eintreten in unserem geistigen Dasein in die geistige Welt, diese Beziehung ist jetzt unsere Erfahrung, unser Erleben. Wie wir hier auf der Erde mit den Wesen der äußeren Naturreiche un­ser Erleben haben, haben wir jetzt das Erleben mit geistigen Wesen­heiten, geistigen Wesenheiten verschiedener Stufen. Und was ganz besonders bedeutsam ist, das ist nun dieses: Während unseres Durchganges durch das Leben zwischen dem Tode und der Geburt, während dieses rückläufigen Lebens haben wir empfunden die Sym­pathien und Antipathien, die - wie ich gestern vergleichsweise ge­sagt habe - wie ein Regen, wie ein seelischer Regen diese Erlebnisse durchrieseln. Jetzt werden wir geistig ansichtig der Wesenheiten,

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von denen wir vorher nur die Sympathien und Antipathien wahr­genommen haben, während wir durchlebt haben die geistige Gegen­seite unseres Erdenlebens; jetzt leben wir unter ihnen, nachdem wir in der geistigen Welt angekommen sind. Und jetzt fühlen wir nach und nach etwas wie ein innerliches Erfülitwerden mit Kraft, mit Im-pulsen, die von diesen geistigen Wesenheiten, die um uns sind, aus­gehen. Es wird alles, was wir vorher durchgemacht haben, dadurch realer, daß unser Selbst für uns auf geistige Art realer wird. Wir fühlen uns nach und nach gewissermaßen im Licht oder Schatten dieser geistigen Wesenheiten stehend, in die wir uns einleben. Vor­her fühlten wir irgend etwas dadurch, daß wir uns durch den gei­stigen Gegenwert durchlebten: es ist wertvoll oder schädlich im Weltenall. Jetzt fühlen wir: da gibt es etwas, was wir im Erdenleben vollführt haben in Gedanken oder in Werken, was seinen geistigen Gegenwert hat, was eingeschrieben ist in das geistige Weltenall. Die Wesen, denen wir gegenübertreten, können entweder etwas anfan­gen damit oder nicht. Es liegt in der Richtung ihrer Entwickelung oder der Entwickelung, die sie anstreben, oder es liegt nicht in die­ser Entwickelung. Wir fühlen uns durchaus hingestellt vor die Wesenheiten der geistigen Welt, indem wir uns sagen: wir haben in ihrem Sinne gehandelt, oder wir haben gegen ihren Sinn gehandelt. Wir haben etwas hinzugetan zu dem, was sie für die Entwickelung der Welt wollten, oder wir haben etwas weggetan von dem, was sie für die Entwickelung der Welt wollten.

Wir fühlen uns vor allen Dingen nicht bloß ideell beurteilt, wir fühlen uns real abgeschätzt, und dieses Abschätzen ist selber die Realität unseres Daseins, wenn wir da hinauskommen in die geistige Welt nach dem Tode.

Wenn wir hier als Mensch in der physischen Welt stehen, und wir haben irgend etwas Schlimmes getan, nun, wenn wir das Gewissen und die Vernunft dazu haben, verurteilen wir es selber, oder es ver­urteilt es das Gesetz, es verurteilt es der Richter, es verurteilen es die anderen Menschen, indem sie uns verachten. Aber wir werden von

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diesen Urteilen nicht mager, wenigstens nicht erheblich, nur wenn wir als Menschen ganz besonders geartet sind; wir werden meist erst von den Folgen des Urteils mager. Doch wenn wir eintreten in die Welt der geistigen Wesenheiten, dann ist nicht bloß ein ideelles Urteil da: wir sind wenig wert, sondern da fühlen wir den Blick der geistigen Wesen auf uns ruhen in bezug auf eine Wertlosigkeit, eine Schändlichkeit von uns, so wie wenn uns dieser Blick aus­löschen würde in unserem Dasein. Für alles das, was wir Wertvolles verrichtet haben, trifft uns der Blick so, als ob wir dadurch erst un­sere Realität als wirkliches geistig-seelisches Wesen gewinnen wür­den. Unsere Realität hängt von unserer Wertigkeit ab. Es ist, wie wenn Finsternis unser Dasein uns entzöge, wenn wir die Entwicke­lung, die beabsichtigt ist in der geistigen Welt, aufgehalten haben. Es ist, wie wenn Licht uns in frisches geistiges Dasein riefe, wenn wir etwas verrichtet haben, was jetzt nachwirkt, das im Sinne der Entwickelung der geistigen Welt liegt.

Wir machen all das durch, was ich beschrieben habe, treten ein in die Welt der geistigen Wesenheiten. Das erhöht in der gei­stigen Welt unser Bewußtsein. Es hält uns in der geistigen Welt wach. Und wir sagen uns durch das, was wir da erleben als Forde­rungen: Wir haben im Weltenall mit Bezug auf unsere eigene Reali­tät etwas gewonnen.

Nehmen wir an, wir haben irgend etwas getan, was die Entwicke­lung der Welt aufhält, was nur die Antipathie der geistigen Wesen­heiten, in deren Bereich wir eintreten, erregen kann - wir fühlen, indem die Nachwirkung in der Art vor sich geht, wie ich es be­schrieben habe: da verdunkelt sich unser Bewußtsein; es tritt eine Betäubung ein, zuweilen bis zum völligen Auslöschen. Wir müssen heraus aus diesem Zustande; wir müssen wieder erwachen. Und wenn wir erwachen, dann fühlen wir unserem geistigen Dasein gegenüber in einer viel realeren Art noch so - und hier in der physischen Welt ist das schon real genug -, wie wenn in unser Fleisch geschnitten würde in der physischen Welt: so fühlen wir

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unserem geistigen Dasein gegenüber. Kurz, was wir sind in der gei­stigen Welt, das erweist sich als die Folge dessen, was wir als Ursache selber gestiftet haben. Und Sie sehen daraus, daß genügend Veran­lassung ist für den Menschen, wiederum zurückzukehren zum Erden-dasein.

Zurückzukehren, warum? Nun, der Mensch hat für sich an dem, was in der geistigen Welt eingeschrieben ist, jetzt dasjenige erlebt, was er in gutem oder schlechtem Sinne im Erdendasein verrichtet hat. Aber tatsächlich ausgleichen kann er ja das, was er im Grunde genommen doch nur durch dieses Erleben kennengelernt hat, nur, wenn er wiederum ins Erdendasein zurückkehrt. Und wirklich, wenn der Mensch - es ist natürlich nur ein vergleichsweiser Ausdruck -an den Gesichtern der geistigen Wesen wahrnimmt, was er für die Welt wert ist, dann bekommt er durch diese Wahrnehmung den genügenden Antrieb, in die physische Welt wiederum zurückzukeh­ren, nachdem er dazu fähig geworden sein wird, um in anderer Weise das Leben zu durchleben, als er es eben durchlebt hat. Nur bleiben ihm manche Unfähigkeiten, es zu durchleben, und erst nach mannigfaltigen Erdenleben kann dieser Ausgleich in Wirklichkeit eintreten.

Schauen wir während des Erdenlebens in uns selber hinein, so treffen wir zunächst auf die Erinnerungen, auf jene Erinnerungen, aus denen wir unser Seelendasein, wenn wir uns von der äußeren Welt abschließen, zunächst aufbauen, jene Erinnerungen, aus denen heraus selbst noch die schöpferische, die künstlerische Phantasie nur schafft. Das ist die erste Form der Erinnerung. Hinter dieser Erin­nerung sitzen jene mächtigen Bilder, die unmittelbar nachdem wir durch die Pforte des Todes getreten sind, uns anschaulich werden. Sie werden uns genommen. Sie gehen in die Weiten des Weltenalls hinaus. Wir können uns sagen, wenn wir zurückblicken auf unsere Erinnerungsvorstellungen: Hinter ihnen sitzt das, was sofort, wenn unser Leib von uns weggenommen ist, den Weg in die Weltenweiten hinaus macht. Wir halten es durch unseren Leib zusammen, was

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eigentlich ideell im Weltenall werden will. Aber während wir durch das Leben gewandelt sind, während von allem uns die Erinnerungen bleiben, haben wir in der Welt etwas zurückgelassen, was nun wei­ter hinter den Erinnerungen ist, nur eben in der Zeitenfolge. Wir müssen es rücklaufend wieder erleben. Das sitzt als drittes Gebilde hinter der Erinnerung. Zunächst haben wir es mit dem Erinnerungs­teppich zu tun; dahinter das, was wir wie ein mächtiges Weltenall­bild zusammengerollt haben, denn dasjenige sitzt dahinter, was in die Welt ein geschrieben ist. Und haben wir dieses durchlebt, so sitzen wir erst selber dahinter: geistesnackt vor dem geistigen Weltenall und dieses uns mit seinen Bekleidungen anziehend, wenn wir in dasselbe nun eintreten.

Wir müssen schon auf die Erinnerungen blicken, wenn wir vom vergänglichen Menschenleben allmählich hinauskommen wollen. Die Erinnerungen, die wir während des Erdenlebens haben, sind vergänglich, sie zerstreuen sich in der Welt. Aber hinter den Erin­nerungen sitzt schon unser Selbst, sitzt dasjenige, was uns weiter aus der geistigen Welt gegeben wird, damit wir den Weg von der Zeit in die Ewigkeit finden können.

HINWEISE

#G234-1959-SE177 Anthroposophie

#TI

Hinweise

#TX

Diese Vorträge stehen in folgendem Zusammenhang:

Vorangegangen war ihnen die Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in der Weihnachtstagung vom 24. Dezemher 1923 his zum 1. Januar 1924 in Dornach. (Siehe: Rudolf Steiner: «Die Weihnaehtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.» Dornach 1957) und die Einrichtung der Freien Hochschule für Geistesmissenschaft. (Siehe Rudolf Steiner: «Die Konsti­tution der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.» Dornach 1957). Während der Weihnachtstagung hielt Rudolf Steiner neun Vorträge über «Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes.»

(Dornach 1945).

Vom 4. bis 13. Januar folgten sechs Vorträge über «Mysterienstütten des Mittel­alters. Rosenkreuzertum und modernes Einweihungs prinzip.» (Dornach 4932).

An den Zyklus «Anthroposophie - eine Einführung» (19. Januar bis 10. Febrnar 1924) schlossen sich am 16. Februar die Karmabetrachtungen an. (Siehe Rudolf Steiner:

«Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge.» (Band I. Dornach 1958). Zu Seite 7 Vorbemerkung: Sie wurde von Frau Marie Steiner der 2. Auflage vorangestellt. Die Zitate sind dem Buch: Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, Kapitel XXXV und XXXVI entnommen. Hinzugefügt wurden ihr die zwei letzten Abschnitte, die üblicherweise den Veröffentlichungen von Vorträgen ,snter dem Titel Manuskript gedruckt» vorangestellt werden. 32 die Sonne durchläuft diesen Kreis: Gemeint ist wohl die allgemeine Himmels- gegend, eine Zone um den Himmelsäquator, in welcher die tägliche Bewegung der Sonne verläuft. - Aehnlicbe Aeusserungen finden sich vielfach in Vorträ­ gen. Siehe: «Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos», 5. Vortrag. (Dornach 1958 und in «Mathematisch-Astronomische Blätter», Heft 3, S.28; siehe auch Anmerkung 18 daselbst von Louis Locher). Diese und ähnliche Angaben werden am ehesten verständlich, wenn man sie auf ein mit der Erde verbundenes (viel. ätherisches) Abbild des Tierkreises be-zieht, in welchem die Linie Fische-Jungfrau der Richtung Morgen-Abend, und Zwillinge-Schütze der Richtung Mittag-Mitternacht entsprechen. Siehe Rudolf Steiner: «Individuelle Geistwesen und einheitlicher Weltengrund.» Dornach, 18., 19. und 25. November 1917 (Dornach 1946). Dr. G. U. 98 Schrenck-Notzing'scha Phantome: Albert von Schrenck-Notzing, geb. 1862, gest. 1924, Nervenarzt, Vorkämpfer auf dem Gebiet wissenschaftlicber Hypnose- und Suggestionsforschung. Veröffentlichungen, auf die sich Rudolf Steiner hier be­ zieht: «Materialisationsphänomene» (1914) und Mediumismus.» (1920).

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.