GA 202

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit
und dem Physischen des Menschen

Die Suche nach der neuen Isis,
der göttlichen Sophia

Sechzehn Vorträge
gehalten in Dornach, Bern und Basel
vom 26. November bis 26. Dezember 1920

GA 202

1970

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 26. November 1920

Ich habe oft davon gesprochen, wie sich bereits in der menschlichen Gestalt der menschliche Gesamtlebensvorgang ausdrückt. Wer das Haupt, den Kopf des Menschen in der richtigen Weise verstehen kann, der kann erkennen, wie die besondere Bildung, die besondere Gestal­tung des Kopfes ein Ergebnis ist von früheren Lebenszusammenhängen, die der Mensch durchgemacht hat, bevor er zu dem gegenwärtigen Erdendasein herabgestiegen ist. Und wenn man ins Auge faßt, was die Gliedmaßenorganisation des Menschen ist, selbstverständlich diese Gliedmaßenorganisation räumlich nach innen fortgesetzt in diejenigen Organe hinein, mit denen die Gliedmaßen örtlich zusammenhängen, dann hat man in dieser Organisation dasjenige, was nach gewissen Metamorphosen, nach gewissen Umbildungen zugrunde liegen wird dem, was menschliche Hauptesbildung sein wird in der Zukunft, die über den Tod hinausliegt. Damit ist aber zu gleicher Zeit auf einen kosmischen Zusammenhang des Menschen hingewiesen. So wie wir den Menschen gegenwärtig vor uns haben, können wir allerdings sagen, daß seine besondere Hauptgestaltung, seine Kopfgestaltung eine Meta­morphose ist in seiner früheren Gliedmaßenleibgestaltung; aber daß der Mensch überhaupt eine solche Hauptesgestaltung hat, wie er sie eben an sich trägt, das rührt von dem her, was der Mensch kosmisch durch­gemacht hat, bevor er die irdische Welt betreten hat. Die Kopfgestal­tung, sie ist im wesentlichen ein Ergebnis der Saturn-, Sonnen- und Mondentwickelung, und dasjenige, was Gliedmaßemnensch ist, ist wie­derum der Ausgangspunkt für Jupiter-, Venus- und Vulkanentwicke­lung. Nur das, was der Brustmensch ist, was im Wesen des gegenwärti­gen rhythmischen Systems liegt, ist eigentlich Erdenmensch. So daß wir folgendes sagen können: Was wir im menschlichen Kopf zunächst vor uns haben, das ist herausgebildet aus den drei vorhergehenden, der Erde vorangehenden planetarischen Verkörperungen. Was den heuti­gen Gliedmaßen zugrunde liegt, ist Ausgangspunkt für die folgenden planetarischen Verkörperungen der Erde. Und indem der Mensch

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durchgeht durch das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, macht er in einer gewissen Weise wiederum auf geistige Art durch, was er während der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit durchgemacht hat. Er bildet seinen Erdorganismus zurück zu dem Saturn-, Sonnen- und Mondorganismus. Und ebenso wird dasjenige, was auf der Erde als Gliedmaßenorganismus ausgebildet wird, weiter ins Physische hin­elnorganisiert, umorganisiert während der Jupiter-, Venus und Vulkan-verkörperung der Erde.

Diese Dinge haben also einen menschlich-irdischen Aspekt und einen kosmischen Aspekt. Wir können daher auch die menschliche Hauptes-bildung so betrachten, daß wir die Beziehung der menschlichen Wesen­heit zum Kosmos ins Auge fassen. Nun liegt allerdings der mensch­lichen Betrachtung zunächst etwas ferner, was sich während der Sa­turn- und Sonnenentwickelung zugetragen hat. Es ist dies, was sich da zugetragen hat, weniger noch von irdischem Gesichtspunkte aus zu be­urteilen. Dagegen intensiv beurteilen kann man dasjenige, was sich während der alten Mondenentwickelung abgespielt hat, denn das wie­derholt sich in einer gewissen Beziehung in den Tatsachen, die sich ab­spielen zwischen der Erde und dem Monde, dem gegenwärtigen Monde. Daher kann man auch die Beziehung des menschlichen Hauptes zu dem studieren, was sich abspielt zwischen der Erde und dem Monde. Und man kommt auf gewisse Geheimnisse der Menschenbildung da­durch, daß man diese Tatsachen ins Auge faßt. Das kann auf folgende Art geschehen.

Denken Sie sich einmal schematisch, der Mensch steht auf der Erde; also er befindet sich nicht im Mittelpunkt der Erde, sondern vom Mit­telpunkt um den Erdradius entfernt. Und wenn wir dieses schematisch als das menschliche Haupt (siehe Zeichnung Seite 15) auffassen, so kön­nen wir sagen: Es bewegt sich wie um die Erde herum, so auch um das menschliche Haupt herum der Mond. Schematisch gezeichnet, selbst­verständlich nicht in den Größenverhältnissen, das würde sich schlecht ausnehmen.

Nehmen Sie nun einmal an, der Mond stünde hier und sei Voll­mond, so strahlt das von der Sonne zurückgeworfene Licht, wie man immer sagt, dem Menschen zu. Es wirkt also das Sonnenlicht auf den

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Menschen. Ich bemerke, wenn ich vom Menschen spreche, meine ich jetzt immer das menschliche Haupt. Auf der entgegengesetzten Seite sei Neumond. Kein Licht trifft den Menschen; der Mensch ist gewisser­maßen von dieser Seite her sich selbst überlassen. Er ist weniger in An­spruch genommen durch die äußeren Lichtreize, die auf ihn ausgeübt werden. Er ist daher mehr seiner inneren Entwickelung überlassen. Und wenn Sie hier das erste Viertel, hier das letzte Viertel setzen, zuneh­mender, ahnehmender Mond, so haben Sie immer weniger Lichtreize von beiden Seiten her auf den Menschen ausgeübt als von seiten des Vollmondes, und mehr Reize als von seiten des Neumondes. Außerdem durchläuft ja der Mond, indem er diese Bahn um die Erde beschreibt, den Tierkreis. Dadurch wird das Licht noch in besonderer Weise be­stimmt und, ich möchte sagen, differenziert; denn das Mondlicht ist ein anderes, wenn es von einem Orte kommt, hinter dem, sagen wir, der Widder steht, ein anderes, wenn es von einem Orte kommt, hinter dem die Jungfrau steht. Das Mondlicht wird als solches differenziert, je nachdem der Mond an diesem oder jenem Tierkreisbilde vorübergeht.

# Bild s. 15

Denken Sie sich nun, was ich hier schematisch gezeichnet habe, in der richtigen Zeitlage der menschlichen Entwickelung, das heißt, denken

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Sie sich, durch irgendwelche Vorgänge setze sich fest in einem mütterlichen Leibe der Geistkeim des Menschen, der zunächst herüber-kommt aus der Entwickelung zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt. Während dieser Zeit wirkt der Mond auf den Keim. Dann haben Sie, zunächst durch die Wirkung des Mondes, natürlich im Zusammen-hange mit den anderen Weltenkörpern, vom Kosmos hereinbewirkt die Konfiguration des menschlichen Kopfes im mütterlichen Leibe. Die Konfiguration des menschlichen Kopfes geschieht durchaus vom Monde her.

Nun werden Sie sagen, und mit Recht: Es ist doch nicht immer an­zunehmen, daß just der Vollmond sein Licht auf die Augen oder die Nase strahlt, und daß just auf den Hinterkopf, dessen innere Ent­wickelung sich überlassen sein soll, nicht der Außenwelt, daß da just diese Stelle dem Neumonde gegenübersteht. Gewiß, das braucht auch nicht unbedingt der Fall zu sein; im wesentlichen ist es schon so, daß irgendwo dem Antlitz gegenüber der Vollmond tätig ist, und irgend­wo dem Hinterkopf gegenüber der Neumond tätig ist. Das Kind hat auch eine besondere Stellung im mütterlichen Leibe, und die ist durch­aus nach dem Kosmos hin orientiert. Indem nun aber der Mond etwas mehr oder weniger, ich möchte sagen, schief strahlt nach demjenigen Teil des Keimes, der Antlitz werden soll, je nachdem wird der Mensch mit diesen oder jenen inneren Fähigkeiten, soferne diese vom Haupt abhängen, begabt werden. Er wird anders begabt, physisch begabt, wenn zum Beispiel das helle Mondlicht nach seinem Munde hinstrahlt, als wenn es nach seinen Augen hinstrahlt. Das hängt mit den mensch­lichen Begabungen zusammen, soferne sie vom Kosmos abhängig sind. Aber das Wesentliche, was wir heute ins Auge fassen wollen, ist, daß während der Embryonalentwickelung des Menschen die Einflüsse, die im wesentlichen von dem Monde ausgehen, dasjenige sind, was den menschlichen Keim formt, der von der Kopfesbildung ausgeht, denn das erste, was sich konfiguriert vom Menschen, ist der Kopf. Und das geht vom Monde aus, also von demjenigen, was als alte Mondenbe­wegung und Wirksamkeit vom alten Monde und überhaupt von den vorangehenden Verkörperungen unserer Erde zurückgeblieben ist. Da sehen Sie den kosmischen Zusammenhang des menschlichen Hauptes

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mit der Außenwelt. Sie sehen, wie der Mensch während der Embryonal­entwickelung in diejenigen kosmischen Zusammenhänge eingespannt ist, für die im wesentlichen der Mond mit seiner Wirksamkeit den Ton angibt. Die Sache geschieht aber so, daß ja der Mond die Bewegung macht, also eigentlich das Haupt umläuft. Er umläuft es zehnmal, während der Mensch die Embryonalentwickelung durchmacht. Es ist also so, daß zunächst der Mond vorüberläuft, das menschliche Antlitz bildet, dann es in Ruhe läßt, es auswachsen läßt. Während der Zeit bewegt er sich rückwärts herum. Nachdem eine Zeitlang die Gesichts-bildung geschlafen hat, erscheint der Mond wiederum, frischt sie auf. Das macht er so zehnmal. Und während dieser zehn Mondmonate wird rhythmisch aus dem Kosmos heraus das menschliche Haupt ge­formt. So daß wir ein Zehnmal-achtundzwanzig-Tage-Verweilen ha­ben des Menschen im Mutterleibe unter dem Einfluß der durch den Mond vermittelten kosmischen Kräfte.

Das, was da geschieht, was ist es denn eigentlich? Nun, der Mensch kommt zunächst als geistig-seelisches Wesen bei derjenigen Persönlich­keit, die er sich aus dem Weltenall als seine Mutter wählt, an. Und nunmehr übernimmt der Mond seine Hauptesbildung. Würde der Mensch zwölf Monate im mütterlichen Leibe verweilen, zwölf Mon­denmonate, so würde sich eine ganz abgeschlossene Kreisbildung er­geben. Er verweilt nicht diese zwölf Monate, sondern nur zehn Mond-monate dort. Daher bleibt noch von seiner Entwickelung etwas offen. Damit beschäftigt sich nun alles das, was einwirkt aus dem Kosmos nach der Geburt. Vor der Geburt wirken zehn Zwölftel der kosmischen Kräfte auf die menschliche Hauptesbildung, die übrigen zwei Zwölftel werden der außermütterlichen Bildung überlassen. Aber es beginnt auch schon diese außermütterliche Bildung während der Embryonal­zeit. Außer den kosmischen Kräften wirken auf den Menschen noch andere Kräfte, und die gehen jetzt im wesentlichen von der Erde selbst aus. Die wirken nicht auf das Haupt, sondern die wirken auf den Gliedmaßenmenschen. Wenn Sie sich hier die Erde vorstellen und, sche­matisch gezeichnet, das als den Gliedmaßenmenschen, so sind die Kräfte, welche in diesen Gliedmaßen mit ihrer Fortsetzung nach innen spielen, im wesentlichen irdisch-tellurische. In den Armen und Händen, in den

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Beinen und Füßen spielen die Kräfte der Erde. Nach innen setzt sich dieses Spiel so fort, daß es zum Stoffwechsel wird. Aber was im Inneren Stoffwechsel ist, ist im Äußeren Kraftwechsel. Wenn Sie die Arme bewegen, wenn Sie die Beine bewegen, so ist die Bewegung nicht etwas so Einfaches, sondern das hat auch mit den Kräften der Erde zu tun. Sie haben immer, wenn Sie die Beine bewegen im Gehen, die Schwer­kraft der Erde zu überwinden, und das, was entsteht, ist eine Resultie­rende zwischen den im Inneren spielenden Kräften und den Kräften der Schwere.

# Bild s. 18

Während beim Stoffwechsel das, was im Inneren des Menschen ar­beitet, eben einen Wechselzustand eingeht mit den chemischen Eigen­schaften der Erdsubstanz, geht das, was als Kraft in den Armen und Beinen ist, einen Kraftwechsel ein mit den Kräften der Erde. Was da ausgebildet wird, das hängt nun zusammen mit anderen Zeitverhält-nissen als das, was im mütterlichen Leibe vor sich geht. Im mütterlichen Leibe haben wir zehnmal achtundzwanzig Tage, also zehn Monde. Da liegt zugrunde der Tageslauf in einer gewissen Anzahl, der Tageslauf zweihundertachtzigmal. Wir haben es im wesentlichen mit dem Tages­lauf zu tun. Bei der Ausbildung des Gliedmaßenmenschen haben wir

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es mit dem zu tun, was wir als den Jahreslauf bezeichnen können. Da­her sehen wir auch, wie die menschlichen Gliedmaßen, in der ersten Zeit der Entwickelung allerdings mit großer Geschwindigkeit, dann aber immer langsamer und langsamer voll ausgebildet werden. Eigentlich braucht der Mensch achtundzwanzig Jahre, wovon die letzten sieben Jahre allerdings nicht mehr so sichtbar als die bis zum einundzwanzig­sten Jahre sind, um außer dem mütterlichen Leibe - aber es beginnt schon im mütterlichen Leibe - den Gliedmaßenmenschen auszubilden.

So wie zusammenhängt, was Kopfmensch ist, mit der Vergangen­heit, und die Entwickelung jetzt stattfinden kann, weil das Verhältnis des Mondes zur Erde diese Vergangenheit von Saturn-, Sonnen- und Mondentwickelung wiederholt, so hängt das, was zunächst der Glied­maßenmensch ist, mit der Erde zusammen, aber mit dem, was eigent­lich in der Erdenbildung Vorbereitung zum Jupiter-, Venus- und Vulkanzustand ist. Deshalb kann der Mensch eigentlich sein Haupt nicht so unmittelbar auf der Erde ausbilden. Die Erde ist ohnmächtig gegenüber der Bildung des menschlichen Hauptes. Nur dadurch, daß der Mensch die Kräfte sich mitbringt von vor der Geburt, vor der Emp­fängnis, und dann im mütterlichen Leibe beschützt wird vor der äuße­ren Erdenumgebung, der Kosmos durch den Mond auf ihn wirkt, da­durch kann dieser Kopf als eine höhere Metamorphose des Gliedma­ßenmenschen der vorigen Inkarnation entstehen. Und der Gliedmaßen-mensch, der unter dem Einfluß der Erde entsteht, kann nicht fertig werden durch die Erdbildung. Er kann es nicht zum Kopfe bringen. Der Mensch kann nicht während der Erdenentwickelung, was er kön­nen wird während der Venusentwickelung. Wie der Hirsch sein Ge­weih abwirft, wird er seinen Kopf verlieren; er wird aus seinem übri­gen Menschen einen anderen Kopf entwickeln. Allerdings ein benei­denswerter Zustand dieses Venusmenschen! Aber es ist so, daß das etwas ist, was als zukünftiger Zustand durchaus vor dem Menschen erscheint in der geistigen Anschauung. Ja, die Dinge der Wirklichkeit nehmen sich gegenüber den beschränkten Erdendingen grotesk aus, aber das, was Wirklichkeit ist, geht über dasjenige hinaus, was dem be­schränkten Erdenverstand zunächst zugänglich ist. Man muß ernst ma­chen damit, daß man innerhalb der bloßen Erdenbeobachtung eben nur

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einen Teil der Wirklichkeit erhalten kann, daß man eigentlich vom Menschen nichts weiß, wenn man nur die Erdenverhältnisse beobachtet.

So haben wir im Menschen ein kosmisches Wesen, das allerdings zunächst der Hauptsache nach im mütterlichen Leibe äußerlich her­angebildet wird, und ein Erdenwesen, das unter dem Einfluß der Er­denverhältnisse gebildet wird, konfiguriert, differenziert wird, indem scheinbar die Sonne herumgeht um die Erde und dabei wiederum die Sternbilder des Tierkreises passiert. Wenn Sie dasjenige, was wir so besprochen haben, ins Auge fassen, haben Sie eigentlich im Menschen zwei einander entgegengesetzte Zustände: einen kosmischen Zustand, kosmische Wesenheit, und eine Erdenwesenheit. Die kosmische Wesen­heit wirkt eigentlich so, daß der Mensch zunächst aus dem Kosmos heraus einen ganz runden Kopf kriegen würde. Nur dadurch, daß ihn einmal das Sonnenlicht durch den Mond anschaut, wird das Antlitz gebildet, dadurch, daß sich das Sonnenlicht abwendet, wird die Grund­lage geschaffen für den Hinterkopf. Es wird differenziert, was sich kugelförmig aus dem Kosmos heraus bildet. Wenn der gute Mond nicht wäre und den menschlichen Kopf konfigurieren würde, würde der Mensch als ganz unkonfigurierte Kugel geboren werden. Und anderer­seits, weil die Mutter auf der Erde ist, wirkt die Erde. Daß der Mensch nicht bloß einen Kopf embryonal entwickelt, rührt davon her, daß die Erde schon während der Hauptesbildung wirkt. Aber sie wirkt so, daß der Mensch, wenn er bloß der Erde unterliegen würde, wenn nicht die kosmische Einwirkung da wäre, er eine Säule werden würde. Der Mensch ist eigentlich eingeschlossen, eingeklemmt zwischen dem Säule-werden, Radiuswerden von der Erde aus und dem Kugelwerden vom Kosmos aus. Der Bildung des Menschen liegt in der Tat Kreis und Radius zugrunde.

Daß der Mensch keine Säule wird, daß er vor allen Dingen nicht geboren wird mit zusammengewachsenen Füßen und zusammenge­wachsenen Händen, das rührt davon her, daß ja ein Jahreslauf da ist, daß Winter und Sommer geistig einwirken, was auf verschiedene kos­mische Beziehungen der Erde und ihrer Umgebung hinweist. Die Diffe­renzierung, die auftritt zwischen Winter und Sommer, ist ähnlich wie die zwischen Vollmond und Neumond. Wie Voll- und Neumond in

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ihrer Verschiedenheit Antlitz und Hinterkopf bedingen, so bedingen diejenigen kosmischen Kräfte, die in Winter und Sommer, Frühling und Herbst ausgedrückt sind, daß unsere Gliedmaßen konfiguriert sind, daß wir zwei Beine haben und nicht eine Säule sind. So daß wir im Haupt nicht ganz kosmisch sind, sondern, ich möchte sagen, ein Kosmisches, das irdisch gemildert ist, und daß wir in bezug auf un­sere Gliedmaßen nicht ganz irdisch sind, sondern ein Irdisches, das kosmisch gemildert ist. Der Jahreslauf der Erde ist ja kosmisch be­dingt. Wir haben also eine kosmische Wesenheit, irdisch beeinflußt, und eine irdische Wesenheit, kosmisch beeinflußt. Wären wir nicht als kosmische Wesen irdisch beeinflußt, so wären wir als Mensch eine Kugel; wären wir nicht als Gliedmaßenmensch, als irdischer Mensch kosmisch beeinflußt, so wären wir eine Säule.

Dieses Zusammenwirken von Kosmischem und Irdischem, das ist es, was in unserer menschlichen Form sich ausdrückt. Niemand ver­steht die menschliche Form, der sie nicht begreifen will aus dem Zu­sammenwirken der Erde mit dem Kosmos. Es ist ganz wunderbar, wie der Mensch ein Ausdruck ist des ganzen Weltalls, wie er ein Ausdruck ist der Sternenwelt, die sich in seiner Gestalt überall ausdrückt, und wie er zu gleicher Zeit mit dieser Gestalt ein Abbild ist derjenigen Kräfte, die aus der Erde herausströmen und die ihn bedingen. Denken Sie sich einmal die irdische Wesenheit des Menschen unbeeinflußt von der kosmischen Wesenheit. Wir tragen sie so nicht in uns, die irdische Wesenheit, aber sie wirkt in uns, sie ist gleichsam das Zugrundeliegende, das, was aus dem Mittelpunkt der Erde herausstrahlt, was vom Mittel­punkt der Erde heraus erkraftet. Was in unserer menschlichen Kraft erscheint, in unserer menschlichen Kraft auch als Wille wirkt, das nannte man seit alten Zeiten mit einem Worte, das man deutsch aus­sprechen könnte die «Stärke» oder die «Kraft». Was uns aus dem Kos­mos heraus bildet, was wir also durch den Kreis uns vorstellen müssen, was unserer Hauptesbildung hauptsächlich zugrunde liegt, aber nicht zum Ausdrucke kommt, weil es irdisch gemildert ist, nannte man seit alten Zeiten die «Schönheit». Und so sehen Sie, daß im großen aufge­faßt diejenigen Dinge, die im Menschen wirken, auch eine Art über das Physische und über das Moralische hinausgehenden Wert haben,

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einen Wert, der beides zusammenfaßt, Physisches und Moralisches. Denn die Stärke, die von der Erde ausgeht, die als Kraft in uns wirkt, ist zu gleicher Zeit moralische Kraft und physische Muskelkraft. Die­jenige Schönheit, die uns umstrahlt, die unserem Haupte zugrunde liegt, sie ist das, was in unserem Haupte als die Schönheit der Gedan­ken erscheint, sowohl in physischer Beziehung wie auch in sittlich-moralischer Beziehung.

Zwischen dem, was wir sind als irdische Wesen, gemildert durch das Kosmische, was wir sind als kosmisches Wesen, gemildert durch das Irdische, zwischen beidem liegt der Rumpfesmensch. Was ist dieser Rumpfesmensch? Er ist im wesentlichen der rhythmische Mensch, der fortwährend das Kosmische nach dem Irdischen hinunterpendeln läßt und das Irdische nach dem Kosmischen heraufpendeln läßt. Wir ha­ben eine fortwährende Kreisströmung in uns, die das, was in den Glied­maßen liegt, auf dem Umwege durch das Atmen in den Kopf und das, was im Kopfe ist, auf dem Umwege durch das Atmen in die Glied­maßen führt, so daß ein fortwährender Wellengang, ein Hin- und Herwellen zwischen Kopf und Gliedmaßen entsteht. Was diesen Wel­lenschlag vermittelt, ist dasjenige, was wir in unserem rhythmischen System, im Lungen- und Herzsystem, im Blutkreislauf in uns haben. Was wird der Blutkreislauf daher sein? Er ist etwas, was eingespannt ist zwischen dem Geradlinigen und dem Kreis, konfiguriert durch Tierkreis, durch Planeten. Was da wirkt, ist so, daß vom Kopfe aus eine Kraft webt, die fortwährend unser Blut kreisförmig leiten will, und von den Gliedmaßen aus fortwährend eine Kraft geht, die unser Blut geradlinig leiten will. Und aus dem Zusammenwirken der Kräfte, das fortwährende Umkreist-werden-Wollen der gesamten Blutzirku­lation, und die fortwährend zur Geraden werden wollenden Kräfte, daraus entsteht der besondere Blutkreislauf, von der Atmung angeregt, in uns. Dieses rhythmische System vermittelt Kosmisches und Irdisches innerhalb des Menschen, so daß im Menschen ein Band gewoben wird zwischen dem Kosmischen, der Schönheit, und der Erde, der Stärke. Und dieses Band, das da gewoben wird, das im Rumpfesmenschen ist, wird im wesentlichen, geistig-seelisch aufgefaßt, seit alten Zeiten «Weis­heit» genannt.

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Die Schönheit des Kosmos in den Menschen hineinprojiziert ist die Weisheit, die in seinen Gedanken lebt. Aber auch die sittliche Kraft, die auf dem Umwege durch das Gemüt von der Stärke der Erde her­rührt, wird zur sittlichen Weisheit. Im Menschen begegnen sich irdische und kosmische Weisheit im rhythmischen System. Der Mensch ist ein Ausdruck des ganzen Kosmos, und man kann, wenn man will, diese Konfiguration des Menschen verstehen. Man kann gewissermaßen hin­einschauen in die Geheimnisse des Weltenalls, insofern der Mensch aus diesen Geheimnissen heraus gestaltet wird. Ja, man sieht auch -wir haben ja schon von anderen Gesichtspunkten aus nach diesem Punkte hinsehen können - einen gewissen Zusammenhang im irdischen Leben selbst. Nehmen Sie das, was als kosmische Schönheit auf dem Umwege durch das Haupt in den Menschen hineinwirkt, so haben Sie den Beitrag des Weiblichen; nehmen Sie das, was von irdischer Stärke in dem Menschen auftritt, so haben Sie den Beitrag des Männlichen, und Sie können sagen: Im Befruchtungsakt vollzieht sich ein Einigen zwischen dem Kosmischen und dem Terrestrischen. Man kann nicht in das hineinschauen, was Aufgabe des Menschen auf der Erde ist, wenn man nicht in diese besondere Konfiguration des Menschen hineinsieht. Denn wir sehen ja, daß das, was sich als Haupt bildet, sich dadurch bildet, daß eigentlich die Erdenkräfte zunächst gar nicht wirken kön­nen auf den Menschen, daß er sein Vorgeburtliches hineinbringt in das Irdische, und daß im Mutterleibe das Außerirdische auf dem Umwege des Mondes menschengestaltend wirkt. Von der Erde wirkt die Stärke oder die Kraft. Sie bildet den Gliedmaßenmenschen. Sie kann ihn nicht bis zu Ende führen, er muß durch den Tod gehen. Die Kräfte, die im Gliedmaßenmenschen liegen, müssen sich vergeistigen, verseelen. Dann gehen sie im Außerirdischen weiter zwischen Tod und neuer Geburt und gestalten sich zunächst geistig-seelisch zur Hauptesbildung um. Auf der Erde hat auf sie gewirkt, was sie nicht zu Ende bringen kann, weil aus den menschlichen Gliedmaßen erst das Haupt hervor-gehen wird, wenn Jupiter- und Venusbildung vorhanden sein wird. Was also auf der Erde wirkt, das bedingt nicht den Menschen von der Geburt bis zum Tode. Was vorher auf Saturn, Sonne, Mond gewirkt hat, das ist jetzt geistig geworden und muß geistig ausgebildet werden

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zwischen Tod und neuer Geburt; und das, was nach dem Tode liegt, muß wiederum vergeistigt werden, dann kann die Zukunft von derVer­gangenheit aufgenommen werden, und dann kann der menschliche Gliedmaßenorganismus wiederum Haupt werden. Man kann also sagen: Der Mensch stirbt, damit er in der geistigen Welt die Fähigkeit erlangt, jene Gestalt, teilweise irdisch gemildert, zum Ausdruck zu bringen, die zum Ausdruck gebracht werden kann vermöge dessen, daß er Saturn-, Sonnen- und Mondenzustand durchgemacht hat. Hier auf Erden kann er als Gliedmaßenmensch nur durchmachen, was sein rhythmisches System ausbildet, das ist irdisches Wesen. Aber in seinen Gliedmaßen bildet er die Zukunft vor. Sie können nicht zu Ende kommen, der Mensch muß sterben und wiederum zurückkehren zum Kopfe, der zu­nächst vorgebildet ist im Vorirdischen. So hängt die menschliche Ge­stalt zusammen mit den wiederholten Erdenleben. Weil der Mensch physisch geboren ist als ein Wesen, das sich aus Saturn-, Sonnen- und Mondenzustand herausgebildet hat, weil der Mensch, indem er aus der geistigen Welt die Anlagen bekommt, wiederum dasjenige zum Ausdruck zu bringen hat in der Kugelgestalt, was er als Saturn-, Son­nen- und Mondzustand durchgemacht hat, bekommt er ein Haupt auf der Erde, das ihn fortwährend tötet, weil es nicht irdisch ist.

Diese Dinge, die sich im menschlichen wiederholten Erdenleben ausdrücken, sind innig zusammenhängend mit dem, was kosmische Entwickelung ist. Es ist nicht so, daß diese Dinge, die wir heute berührt haben und die wir morgen und übermorgen weiter ausführen wollen, vom Menschen nicht eingesehen werden können. Sie können schon ein­gesehen werden. Erforscht müssen sie werden durch die Geisteswissen­schaft; einsehen kann sie jeder, der seinen gesunden Ideenzusammen­hang einfach wirken läßt. Aber man hört doch immer wieder und wiederum, daß der Mensch nicht die Dinge der Geisteswissenschaft unmittelbar einsehen könne. Wenn man sagt: Ja, der Geistesforscher gibt mir diese Dinge, ich kann sie nicht selber einsehen - sagt man im Grunde genommen nichts anderes, als wenn man sagen würde, nach­dem man sein Abiturientenexamen gemacht hat, man könne keine Differentialrechnung lösen. Alle Menschen können lernen, was Gei­steswissenschaft sagt, wie alle Menschen im Prinzip lernen können,

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Differentialgleichungen zu lösen; nur ist das letztere schwieriger als das erstere. Es ist nicht so, daß dergleichen Ausreden gelten können, man sei nicht hellsehend, sei nicht Hellseher und sehe deshalb die Dinge nicht ein. Ebensowenig wie man nicht hellsehend zu sein braucht, um Differentialgleichungen zu lösen, ebensowenig braucht man hellsehend zu sein, um solche kosmischen Zusammenhänge mit der Außenwelt zu durchschauen. Man braucht nur die gesunden Begriffe mitzubringen. Aber es ist auch das Entgegengesetzte von dem der Fall, was sehr häufig von den Leuten gesagt wird. Es wird gesagt von dem einen: Der hat die, der andere hat jene Weltanschauung, und man kennt sich nicht aus, welche die richtige ist. - Wenn man konsequent ist und alles verfolgt, alles zusammennimmt, was gesagt worden ist, ist alles ein­deutig und nicht vieldeutig. Sie können sich nicht streiten über Schön­heit, Weisheit und Kraft und deren Bedeutung. Alles ist eindeutig. Daß in unserer Kopfbildung ein Peripherisches, daß in unserem übrigen Menschen das Stärkeelement in Radiusgestalt enthalten ist, diese Dinge sind eindeutig. Da kann man nicht auf dieses oder jenes kommen. Über diese Dinge kann man nicht herumreden; in diesen Dingen kommt man zu ganz bestimmten Ergebnissen. In dieser Tatsache liegt in der Gegenwart das Schwierige in der Ausbreitung der Geisteswissenschaft als solcher, denn heute ist es ja so, daß sich da oder dort dieser oder jener Verein auch einmal über Anthroposophie oder Dreigliederung, die ja nur ein soziales Ergebnis der Geisteswissenschaft ist, Vorträge halten läßt. Die Leute hören es einmal an, nachher hören sie wieder anderes an, und nachher wieder etwas anderes; zu einer wirklichen inneren Entschlußkraft, zu Entscheidungen wollen sie nicht kommen. Sie nehmen das, was Geisteswissenschaft ist, als etwas, was neben an­deren Dingen stehen kann. Das geht gegenüber der Geisteswissenschaft nicht. Die anderen Weltanschauungen, die in der Gegenwart auftreten, die können sich das gefallen lassen. Die eine ist ein bißchen besser, die andere schlechter. Man kann sagen: Man hört sich alle diese Dinge an, man nippt da oder dort. - Gegenüber Geisteswissenschaft geht das nicht. Da muß man sich entscheiden, denn die geht bis in die Funda­mente. Da ist wirklich dieses starke Anspannen des Willens nötig, das zu Entscheidungen führt, das sich nicht neben anderes hinstellt, sondern

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das bis in die Fundamente gehen will. Bis in die Fundamente gehen kann man nicht, wenn man nur hin und her pendelt von einer Weltanschauung zur anderen, überall nur nippt. Geisteswissenschaft fordert ein energisches Durchgreifen. Daher hat Geisteswissenschaft gegen sich den Geist der Zeit, sie hat gegen sich alle Schlappheit und alle Schwächen der Zeit, denn sie fordert helle Geistesstärke, und die will man nicht in der Gegenwart; sie stört einen, ist einem unbequem.

Der Mensch hat durchaus einmal in der Urzeit aus einem instinkti­ven Wissen heraus über diese Dinge Gesichtspunkte gehabt, und die alten Schriften, mit denen sich unsere Gelehrsamkeit befaßt, die sie aber nicht versteht, enthalten überall Hinweise darauf, daß in dieser Weisheit durchaus so etwas vorhanden war wie diese Beziehungen des Menschen zum Kosmos. Dann ist diese Weisheit verlorengegangen. Der Mensch wurde zurückgeworfen in das Chaos. Aber aus diesem Chaos muß er sich durch seine eigenen Willenskräfte retten, er muß aus diesem Chaos bewußt seinen Zusammenhang mit dem Kosmos wie­derfinden. Und man kann ihn finden. Ich sagte am Anfange der heu­tigen Betrachtung, man verstehe das Haupt nicht, wenn man es nicht als ein Ergebnis des Kosmos ansehen kann; man versteht den Glied­maßenmenschen nicht, wenn man ihn nicht ansehen kann als Ergeb­nis der irdischen Bildung. Und der Ausgleich zwischen beiden ist der Brustmensch, der rhythmische Organismus, der fortwährend die Ge­rade kreisförmig und den Kreis geradlinig machen will. Wo Sie die Blutbahn ins Auge fassen wollen, will die Gerade entstehen, aber auch den Kreis zur Geraden umformen; wie die Blutbahn entsteht, das hängt zusammen mit den Sternbewegungen und so weiter. Die Form hängt mit der Sternkonstellation, die Bewegung mit planetarischen Bewegungen zusammen. Das ist auch schon erwähnt worden von an­deren Gesichtspunkten aus. Aber was wird im menschlichen Gemüte, wenn man solche Erkenntnis aufnimmt? Man kann ja nicht anders, als sagen: Diese Erkenntnisse sind für den, der sie in sich aufnimmt, so durchsichtig wie die mathematischen Wahrheiten. - Mathematische Wahrheiten sind gewiß durchsichtig, aber nicht für jeden fünfzehn-jährigen Knaben. Aber diese Dinge sind durchsichtig wie die Mathe­matik.

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Auf der anderen Seite sind sie so einschneidend in dasjenige, was der Mensch fühlen und empfinden kann. Es entsteht aus dieser Weis­heit ein Gefühl des Göttlichen. Nur ein Wissen, das an der Oberfläche bleibt, kann irreligiös sein; ein Wissen, das bis in die Tiefen geht, kann nicht irreligiös sein. Sieht man wieder auf den Zusammenhang des Menschen mit dem Kosmos, bemerkt man vor allen Dingen in dem uns einhüllenden Sternenhimmel die Schönheit als einen Abdruck gei­stiger Entität, dann kommt man dazu, die Schönheit der Dinge wieder­um einzuprägen in der Kunst. Dann lebt in der Kunst nicht bloß die äußere Natur, wie sie sinnlich geschaut wird. Dann wird tatsächlich das erreicht durch eine solche, zu den Fundamenten gehende Wissen­schaft, wie es Geisteswissenschaft ist, es wird das erreicht, was ich im ersten einleitenden Eröffnungsvortrag zu unseren Kursen gesagt habe: Gesucht wird hier am Goetheanum die Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion.

Wie sagt doch derjenige, nach dem das Goetheanum seinen Namen hat:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion,

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion.

Das heißt, von außen! Aber von innen hat sie derjenige, der Wissen-schaft und Kunst aus den Fundamenten heraus besitzt - das ist Goethe­sche Gesinnung.

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion -, da­her dürfen diejenigen, welche in der angedeuteten Art die Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft anstreben, die Institution, an der sie sie anstreben, wahrhaftig «Goetheanum» nennen. Aber auch da ist das Einsehen desjenigen, was so begründet hier auftritt, eben, wie es scheint, keine Aufgabe für die Oberflächlichkeit unserer Zeit, die alles nur von oben herab, alles nippend betrachtet. Geisteswissenschaft for­dert Entscheidungen. Entscheidungen sind nötig, weil dieser Geist in die Tiefen der Welt eindringen will. Deshalb muß das auch begriffen werden aus den Tiefen des menschlichen Herzens heraus.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 27. November 1920

Wir haben gestern wiederum von einem gewissen Gesichtspunkte aus den Zusammenhang des Menschen mit Vergangenheit und Zukunft be­sprochen und dabei zugrundegelegt, was in der äußeren menschlichen Gestalt sich offenbart, wir haben zugrundegelegt jene Dreigliederung des menschlichen Organismus, auf die wir öfter schon hingewiesen ha­ben; den Hauptesorganismus, von dem wir zeigten, wie er in die Ver­gangenheit weist, den Gliedmaßenorganismus, der in die Zukunft weist, und dann den rhythmischen Organismus, Lungen- und Herz-Organismus, der eigentlich der Gegenwart angehört. Nun wollen wir heute zunächst, damit wir morgen diesen ganzen Komplex von Tat­sachen runden können, den anderen Aspekt des Menschen, den mehr innerlichen, den seelischen, ins Auge fassen.

Geradeso wie wir beim Körperlichen des Menschen unterscheiden können drei Glieder, das Kopfliche, dasjenige, was im rhythmischen System begründet liegt, dasjenige, was der Gliedmaßenorganismus ist, können wir auch im Seelischen drei Glieder unterscheiden. Wir kön­nen hinweisen auf das Denken oder Vorstellen, auf das Fühlen, auf das Wollen, und man hat es in einer gewissen Weise im Seelischen ge­radeso mit dieser Dreigliederung zu tun, wie man es im Physischen mit der anderen, eben erwähnten Dreigliederung zu tun hat. Man kann dann wiederum über jedes dieser drei Glieder in bezug auf die ganze Einstellung des menschlichen Wesens in dem Kosmos Forschun­gen anstellen. Da wird man zunächst hinweisen auf das Vorstellungs­leben. Dieses Vorstellungs- oder Gedankenleben, das Denken, das ist ja zweifellos dasjenige, welches im Menschen am bestimmtesten inner­lich wirkt. Das Vorstellungsleben ist dasjenige, was den Menschen gewissermaßen auf der einen Seite herausführt aus dem Kosmos, auf der anderen Seite aber auch hineinführt in sein Inneres. Durch das Vorstellungsleben macht sich der Mensch bekannt mit den Erschei­nungen im weiten Umkreise des Kosmos. Er nimmt auf alles das, was aufgefaßt werden muß als der Urgrund, aus dem hervorgeht seine

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Hauptesbildung, wie wir gestern gesehen haben. Aber auf der anderen Seite nimmt der Mensch seine Gedanken und Vorstellungen in sich wie­derum hinein, er bewahrt sie als Erinnerungen. Er baut sein inneres Leben nach diesen Vorstellungen auf. Dieses Vorstellungsleben, dieses Gedankenleben, es ist vorzugsweise an das Haupt des Menschen ge­bunden, es hat im Haupte sein Organ. Und schon daraus kann in einer gewissen Weise geschlossen werden, daß das Schicksal des Vorstellungs­lebens zusammenhängt mit dem Schicksal des Hauptes. Indem das Haupt zurückweist in die Vergangenheit, wir gewissermaßen die gei­stig-seelischen Keimanlagen zur Hauptesbildung hineinführen durch die Geburt ins physische Dasein, weist uns diese Tatsache schon darauf hin, daß wir auch das Vorstellungsleben als solches hineinbringen aus dem vorgeburtlichen Dasein. Aber für ein solches sachgemäßes Be­urteilen des Vorstellungslebens liegen ja noch andere Gründe vor. Un­ser Vorstellungsleben ist, ich möchte sagen, das Bestimmteste in un­serem Seelischen. Es ist das Gerundetste in unserem Seelischen. Es ist auch dasjenige, welches Elemente enthält, die im Grunde genommen mit unserem Individuellen hier in der physischen Welt gar nicht zu­sammenhängen.

Nehmen Sie einmal das, was wir als mathematische Wahrheiten oder vielleicht auch als die Wahrheit der Logik in uns auffinden. Wir können nicht mathematische Wahrheiten aus der äußeren Beobach­tung verifizieren, sondern wir müssen die Wahrheit des Mathemati­schen, die Wahrheit des Geometrischen aus unserem Inneren heraus entwickeln. In uns liegt die Wahrheit, zum Beispiel des Pythagorei­schen Lehrsatzes, oder daß die drei Winkel eines Dreiecks hundert-achtzig Grad sind. Wir können uns versinnbildlichen solche Wahrhei­ten, wenn wir entsprechende Figuren aufzeichnen, aber wir beweisen sie nicht an der Tafel, sondern wir bilden durch innere Anschauung das, was sich in unser Vorstellen als Mathematik hineinmischt. Und es ist vieles andere, das sich in unser Vorstellen in dieser Weise hinein-mischt, und wir wissen lediglich dadurch, daß wir Menschen sind, von diesen mathematischen Wahrheiten. Auch wenn Tausende, Millionen von Menschen kämen und sagten: Der pythagoreische Lehrsatz ist nicht wahr -, wir wüßten doch als einzelner Mensch, daß er wahr sein

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muß, durch innere Anschauung. Woher rührt so etwas? Das rührt le­diglich davon her, daß wir das Vorstellungsleben nicht erst wie das Gefühls- und Willensleben in dem Physischen ausbilden, sondern daß wir es schon hereintragen durch unsere Geburt in unser physisches Dasein. Was ich jetzt eben ausgesprochen habe, und was man durch­aus, ich möchte sagen, schon ablesen kann von der Wesenheit des Menschen durch die wirkliche Beobachtung dieser Wesenheit, es drückt sich für den Geistesforscher auf folgende Art aus. Nehme man an, der Mensch rücke vor zum sogenannten imaginativen Vorstellen. Dieses imaginative Seelenleben, worin besteht es denn? Es besteht darin, daß wir in Bildern leben, aber in Bildern, die uns nicht durch die äußeren Sinne vermittelt sind. Im gewöhnlichen äußeren Leben nehmen wir durch unsere Sinnesorgane die äußeren Gegenstände wahr. Die geben uns die Bilder durch die Augen und Ohren, und diese Bilder fassen wir durch das Denken zusammen. Im imaginativen Vorstellen ist das an­ders. Da haben wir die Bilder, wenn wir in entsprechender Weise vor­gebildet sind, ohne äußere Anschauung. Sie erstehen in uns, könnte ich sagen, aber wir hören nicht auf zu denken, wenn wir in der richtigen Weise uns zum imaginativen Seelenleben erheben. Wir denken in in­neren Bildern, wie wir sonst bei äußeren gegenständlichem Wahrneh­men über äußere Bilder denken. Aber das erste, was wir erleben, wenn wir uns zu imaginativem Vorstellen heranentwickeln, was wir erle­ben, wenn wir zwar denken, wenn wir unsere Seele ganz durchdrin­gen mit Denken, aber zu gleicher Zeit aufsteigt das Bilderleben, das erste ist nichts Gegenwärtiges. Das erste ist, daß uns vor die Seele treten die Bilder des Lebens vor unserer Geburt oder vor unserer Empfäng­nis. Das gegenwärtige Leben tritt vor den Imaginationen erst später, nach langer Gewöhnung, in gewisser Weise auf, und keineswegs mit solcher Klarheit und Bestimmtheit wie das Leben, das vor der Geburt, vor der Empfängnis liegt. Diese Tatsache ist ein voller Beweis dafür, daß, wenn wir vom Gegenstandswahrnehmen absehen, [- wir also in Bildern denkend leben -], uns dieses Denken zunächst nur Bilder vor­führen kann aus der Vergangenheit. Wir haben in dem, was uns diese Bilder vorführen, Kosmisches aus unserem vorirdischen Leben. Dieses und manches andere zeigt eben, wie das Vorstellungsleben dasjenige

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ist, das wir zunächst als Kraft hineintragen aus unserem vorgeburt­lichen Leben.

Die Selbstbeobachtung, wenn sie nur unbefangen genug geführt wird, zeigt uns, daß das Gefühlsleben sich nach und nach im Physi­schen entwickelt. Wir können nicht unser Fühlen in derselben Weise mit demjenigen durchziehen, was so bestimmt ist wie das Mathematische, wie die Vorstellungen. Alles, was wir an Gefühlen entwickeln, müssen wir zwar von der Kindheit an, aber eben erst von der Kindheit an ent­wickeln durch das Leben seit der Geburt. Wir haben ein um so rei­cheres Gefühlsleben, je mehr wir eben erlebt haben seit der Geburt. Ein Mensch, der durch schweres Leid und schwere Schicksalsschläge gegangen ist, hat ein anderes Gefühlsleben als ein Oberflächling, der so leicht hingehuscht ist durch das Leben. Die Lebensschicksals fälle, die präparieren uns für das Gefühlsleben. Ein mathematisches Urteil, das unser Vorstellen durchdringt, das tritt plötzlich auf. Ein Gefühl kön­nen wir nicht plötzlich ausbilden. Ein Gefühl bildet sich langsam im Leben heraus und ist selber etwas, was mit uns wächst, was teilnimmt an unserem ganzen Wachstumsprozeß im physischen Leben.

Und das Willensleben ist etwas, was uns ja zunächst wenig mit dem Kosmos verbindet. Es ist dasjenige, das aus unbestimmten Untergrün­den unserer Seele herauspulst. Wir tragen durch unsere Taten aller­dings Willensleben in den Kosmos hinein; aber bedenken Sie nur ein­mal, welcher Unterschied ist zwischen dem Verbundensein mit dem Kosmos durch das Vorstellungsleben und dem anderen Verbunden-sein durch das Willensleben. Wir sind mit dem Kosmos verbunden durch das Vorstellungsleben, wenn wir hinausgehen in die sternenhelle Nacht und gewissermaßen den Kosmos im Bilde vor uns haben, ihn in Gedanken umfassen. Wir können ihn auch fühlen. Wie klein ist da­gegen das Stückchen Taten, das wir loslösen aus unserem Willensele­ment und das wir in den Kosmos hineinstellen! Das bezeugt zunächst, daß das Willenselement in ganz anderer Weise im Menschen wurzelt als das Vorstellungselement. Vergleichen Sie das Willenselement im be­sonderen mit dem Vorstellungselement wie mit dem Gefühle. Das Vor­stellungselement, sobald wir genügend zu ihm erwacht sind, es verbin­det uns auf einen Schlag mit dem ganzen Kosmos. Das Gefühlselement,

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es lebt sich heran. Es lebt sich so langsam oder so schnell heran, als un­ser schicksalsgemäßes Leben zwischen Geburt und Tod abläuft. Aber es ist doch etwas, was uns, wenn auch weniger intensiv und auch we­niger extensiv als das Vorstellungsleben, mit dem Kosmos verbindet. Bedenken Sie nur, wie allgemein-menschlich es ist, durch das Vorstel­lungsleben mit dem Kosmos verbunden zu sein: Drei Menschen gehen in der sternhellen Nacht hinaus; sie stehen an einem Orte, sie haben alle drei dasselbe kosmische Bild um sich, sie sehen alle drei dasselbe, und wenn sie gelernt haben, mit Gedanken dieses Bild zusammenzu­fassen, sie werden alle drei unter Umständen dasselbe mit einem Schlag in ihrer Vorstellung haben können.

Mit dem Gefühlsleben ist es anders. Nehmen wir einmal einen Men­schen, der ziemlich gedankenlos, oberflächlich sein Leben verbracht hat, höchstens zuweilen in der Nacht sich exponiert hat der Sternen-welt, und vergleichen wir das, was ein solcher fühlt, wenn er heraus­tritt in der Nacht und den sternenbesäten Himmel sieht, mit dem an­deren, was ein anderer fühlt, der einmal eines Abends mit einem Men­schen, den er bis dahin noch wenig gekannt hat, einen Spaziergang macht, durch den sie in tiefe Schicksals- und Lebensfragen hineinge­bracht werden, in eine Diskussion hineingebracht werden, welche stun­denlang dauert, welche fortdauert, bis die Sterne untergehen. Nehmen wir an, in einem Moment, wo gerade der Himmel in den Sternen wun­derbar glänzt, kommen sich die Freunde nahe, und nehmen wir weiter an, solch ein Mensch sieht nach Jahren, nachdem jene Freundschaft die verschiedensten Gestaltungen angenommen hat, in ebensolcher Weise den sternbesäten Himmel. Welche Gefühle werden unter Umstän­den im Nachklange an das Erlebnis der Befreundung in ihm aufstei­gen! Da gehen schon die Gefühle in den Kosmos hinaus, aber sie gehen hinaus nach Maßgabe des Lebens, das seit der Geburt verbracht wor­den ist. Durch die Vorstellungen gehen die Gedanken hinaus in den Kosmos, weil wir als Mensch geboren sind und ein Geistig-Seelisches durch die Geburt hineingebracht haben in unser physisches Dasein. Durch das Fühlen geht das innere Seelenleben hinaus zu den Dingen des Kosmos, aber nur gemäß dem, was verlaufen ist in diesem phy­sischen Leben selber.

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Versuchen Sie zu Ende zu kommen mit demjenigen, was ich hiemit anschlage, so werden Sie sich sagen können: Das Vorstellungsleben ist durch die Geburt ins physische Dasein hineingebracht; das Gefühls­leben entwickeln wir zwischen Geburt und Tod; wie wenig ist aber von dem vorhanden, was von uns aus in den Kosmos hinausgeht aus Taten unserer Willensimpulse heraus! Wie wenig geht hinein in den Kosmos von dem, was ausfließt aus unseren Willensimpulsen! - Da haben wir es zu tun mit etwas, was sich primitiv ausnimmt gegenüber den Gefühlen, und noch mehr gegenüber dem Vorstellungsleben. Der Geistesforscher kann die Gründe davon darlegen, wenn er sich bis zur Intuition erhebt; da erreicht er die Willensimpulse. In dem Moment, wo er sich durch innere Seelenentwickelung zur Intuition erhoben hat, wo alles andere ausgelöscht ist in seinem Seelenleben, steht zwar nicht das gegenwärtige Tatenleben, aber etwas sehr Merkwürdiges vor ihm. Es stehen vor ihm als erstes Erlebnis der Intuition nicht seine Taten selber, aber alles das, was seine Taten als Schicksale, Schicksalskeime für die Zukunft ihm darbieten können. Zukünftig ist alles das, was da der Intuition erscheint als erster Eindruck, was werden kann aus uns, da wir eine solche Summe von Taten durchgemacht haben, die wir nicht selber sehen, deren Keime vor unsere Seele treten. Daraus geht hervor, daß das Willensleben dasjenige ist, was wir durch den Tod hinübertragen, was auf die Zukunft verweist. So können wir also schematisch sagen: Bleiben wir beim Physischen, so haben wir den Kopfmenschen, den rhythmischen Lungen- und Herzmenschen, den Gliedmaßenmenschen. Der Kopfmensch weist uns auf dasjenige, was wir aus der Vergangenheit mitbringen. Der rhythmische Mensch ver­weist uns auf die Gegenwart zwischen Geburt und Tod. Der Gliedma­ßenmensch verweist uns auf die Zukunft; daraus wird uns später Kopf-bildung, im späteren Leben. Gehen wir auf das Seelische, dann haben wir das Vorstellungsleben, das uns auf die Vergangenheit verweist, das Gefühlsleben, das uns auf die Gegenwart verweist, das Willensleben, das uns auf die Zukunft verweist.

Wir haben gestern gesehen, daß der Kopf des Menschen zusammen­hängt mit dem Peripherischen, mit dem ganzen Kosmos, und daß der Gliedmaßenmensch mit der Erde zusammenhängt. So ist es auch mit

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dem Seelischen. Das Vorstellungsleben hängt zusammen mit dem Kos­mos, das Willensleben mit der Erde, und das rhythmische Leben, das Gefühlselement, das vermittelt zwischen beiden, das ist eben der Aus­gleich zwischen beiden, zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen. Wir haben auch darauf hingewiesen, daß seit alten Zeiten aus instink­tiver Erkenntnis der Urweisheit heraus das, was von der Erde aus in die Gliedmaßen des Menschen hineinwirkt, was nur gemildert wird durch den Kosmos und seine Wirkung, daß das bezeichnet wurde als die Stärke. Und das im Menschen, was in der Hauptesbildung zum Ausdruck kommt, was kosmisch ist, aber durch Irdisches gemildert, das wird seit alter Zeit bezeichnet als Schönheit, und der Ausgleich zwischen beiden, der im rhythmischen Menschen lebt, als Weisheit. Dieselben Bezeichnungen wurden aber auch angewendet auf das Vor­stellungsleben, das eben im Sinne alter Mysterienweisheit als von dem Prinzip der Schönheit durchdrungen gedacht wird, das Gefühlsleben, das von der Weisheit durchdrungen gedacht wird, das Willensleben, das von der Stärke durchdrungen gedacht wird.

Nun können wir auch auf den Geist des Menschen hinsehen, wie wir auf den physischen Leib und auf die Seele gesehen haben. Auch da haben wir eine dreigliedrige Geistwesenheit des Menschen vor uns. Nur müssen wir beim Geist von drei Zuständen sprechen. Wir können unterscheiden zunächst das, was den Geist uns zeigt, ich möchte sagen, in seiner vollen Durchleuchtung, wenn wir ganz wach sind. Wir kön­nen den Geist beobachten in den anderen Zuständen, wenn er zwi­schen Wachen und Schlafen träumt, und wir können den Geist be­trachten, wenn er für das irdische Leben bewußtlos im tiefen Schlafe ist. Das ist der dreigliedrige Geist: der wachende, träumende und schlafende.

Nehmen wir das Wachleben. Das Wachleben ist, wie ja tatsäch­lich vor der unbefangenen Beobachtung ganz klar ist, das reifste Leben des Menschen, es ist dasjenige, das er sich durch seine Geburt ins phy­sische Dasein hineinträgt. Wenn es auch nicht gleich erscheint, so ist es doch das Vollkommenste, das Reifste, es ist dasjenige, was er da­durch hat, daß er als Mensch geboren wird. So daß wir sagen können: Das Wachleben verweist uns auf die Vergangenheit; das Traumesleben

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- es scheint natürlich zunächst sonderbar, wenn man vom Traum-leben sagt, daß es uns auf die Gegenwart verweist, aber es ist doch so. Sie können in einem geewissen Lebensalter sehr genau beobachten, wie das Traumesleben auf die Gegenwart weist. Das Kind, das ganz kleine Kind, das träumt ja, das hat noch kein völliges Wachleben. Erst wenn die Vergangenheit sich in das Kind hereinbegibt, dann beginnt das Wachleben. Aber das Gegenwärtige ist das Traumesleben; und daß wir den Wachzustand in das Traumesleben hineinbekommen, rührt da­von her, daß unser Vorgeburtliches, unsere Vergangenheit in die Ge­genwart hineinragt. Die Gegenwart erzieht uns nur zum Traumesleben. Und das Schlafesleben, es ist dasjenige, durch das wir der Gegenwart noch gar nicht angehören, das verwandt ist mit unserem Willensleben, das das Unvollkommenste in uns ist, das erst vollkommen werden muß; es ist dasjenige, was in uns die Zukunft vorbildet, was auf die Zukunft hinweist. So gehört der Geist der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft an. Der Vergangenheit durch das Wachleben, der Gegen­wart durch das Traumleben, der Zukunft durch das Schlafesleben.

[Diese und die folgenden schematischen Übersichten wurden an die Tafel geschrieben.]

Vergangenheit Gegenwart Zukunft

Physisches Kopfmensch Rhythmischer Mensch Gliedmaßenmensch

Seele Vorstellungsleben Gefühlsleben Willensleben

Geist Wachleben Traumleben Schlafleben

Schönheit Weisheit Stärke

Wir können diese drei Zustände, diese drei verschiedenen Stufen des menschlichen Wesens mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Kosmos in Zusammenhang bringen. Für den physischen Leib haben wir das gestern schon getan. Wir haben gesagt: Die ganze Kopfbildung hängt zusammen mit dem, was die Erde als frühere Zu­stände durchgemacht hat auf Saturn, Sonne, Mond. Der Gliedmaßen-mensch bezeugt, daß im Menschen sich etwas ausbildet, was noch gar nicht auf der Erde zur Vollendung kommen kann. Es kam Ihnen spaßig vor, daß ich Ihnen vomVenuszustande gesprochen habe, wo eben die menschliche Bildung ganz anders verlaufen wird als auf der Erde. Auf der Venus wird der Mensch in der Mitte der Entwickelung seines Lebens, sagte ich Ihnen, den Kopf verlieren. Dafür wird ihm aus seinem

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Gliedmaßenmenschen ein anderer nachwachsen, was in der Ge­genwart, meinte ich, für manchen sehr angenehm sein könnte, aber eben nicht der Fall sein kann. Hier muß man, weil der Gliedmaßen-mensch die Tendenz hat, Kopf zu werden, aber es erst sein kann, wenn er außerhalb des Irdischen den Zustand zwischen Geburt und neuem Leben durchgemacht hat, zufrieden sein mit dem einen Kopf. Aber dieser Gliedmaßenmensch weist auf das hin, was wir physisch werden durch Jupiter-, Venus- und Vulkanzustand. Der Kopf weist also hin auf Saturn, Sonne, Mond; der Gliedmaßenmensch weist in die Zu­kunft nach Jupiter, Venus, Vulkan. Der rhythmische Mensch weist auf die Gegenwart der Erde.

Das Vorstellungsleben weist uns nun nicht so weit zurück wie der Kopf. Es mußte gewissermaßen auch im Kosmos zuerst der Kopf vor­handen sein, bevor er vorstellen konnte. Er weist uns nur hin auf die Sonne und auf den Mond. Das Willensleben weist uns hin auf die Zu­kunft, auf den Jupiter und auf die Venus. Und das Gefühlsleben ge­hört wiederum der Gegenwart an.

Nun kommen wir zum Geistigen. Da haben wir das Wachleben und das Schlafleben Das Wachleben weist uns nur hin auf die Monden­entwickelung; da hat es sich vorgebildet. Das Wachleben ist die Erb­schaft der alten Mondenentwickelung, des imaginativen Vorstellens der Mondenentwickelung. Während der Sonnenentwickelung gab es noch kein eigentliches Vorstellungsleben. Das Schlafesleben weist uns hin nach dem Jupiterzustand. Nach dem Jupiterzustand wird das, was sich heute im Schlafe bewegt, äußere Formen annehmen; nach dem Venuszustand wird das, was Willenszustand ist, äußere Formen an­nehmen. Und die Gliedmaßen nehmen, das ist schon ausgesprochen, äußere Formen an durch die drei folgenden Zustände der Erde. So sehen wir, daß der Mensch nach Leib, Seele und Geist zugeordnet wer­den kann dem Kosmos.

Kopf Vorstellungs- Wachleben Schlafleben Willens- Gliedmaßen-

leben leben mensch

Saturn Jupiter Jupiter Jupiter

Sonne Sonne Venus Venus

Mond Mond Mond Vulkan

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Auch wiederum gegenüber dem Wachleben, Traumes- und Schlafes­leben ist die Sache so, daß im Sinne der alten Weisheit dem Wachleben die Schönheit, dem Traumesleben die Weisheit zugedacht wird. Dem Schlafesleben wird die Stärke zugedacht. Aus dem Schlafe tragen wir die Stärke für das Leben hinaus. Auf solche Dinge, die aus Lebenszu­sammenhängen stammen, hat sich die Urweisheit hauptsächlich ge­stützt.

Nun aber können wir wiederum das, was wir so durch den drei­gliedrigen Menschen aus der Geisteswissenschaft heraus entwickeln, auch auf das menschliche Leben anwenden. Wir können da vielleicht zunächst vom Geiste ausgehen und können uns fragen: Wie steht der Mensch im äußeren Leben, wenn er das äußere Leben mit klaren Vor­stellungen überschauen will? Er kann das Vorstellungsleben, das in dem Kopfe ist, in die äußere Welt hineintragen. Aus dem Wachzustand her­aus kann er sein äußeres Leben durchdringen mit dem Vorstellen. Das ist eine besondere Art, in der äußeren Welt sich zu betätigen, sie durch das Vorstellungsleben zu durchdringen. Alles dasjenige, was auf diese Weise geschieht, gehört dem besonderen Gebiete des Geisteslebens an.

Gehen wir weiter zu denjenigen Verhältnissen, die sich ergeben durch das Leben, das auf der einen Seite seelisch Gefühlsleben, aber dem Geiste nach ein Traumleben ist; wie gestaltet sich dieses Traum-leben? Ja, studieren Sie nur das Leben, dann werden Sie gerade das Walten des Traumlebens unter den Menschen verspüren. Ich bitte Sie einmal, darauf zu achten, wenn Sie Freundschaften schließen, wenn Sie Gefühle der Liebe zwischen sich und einem anderen Menschen ent­wickeln; wissen Sie nicht, daß Sie da nicht in derselben Weise dabei wach sein können, wie wenn Sie den Pythagoreischen Lehrsatz durch­denken? Wenn Sie richtig die Erfahrungen prüfen, werden Sie sich sagen müssen: Der Zustand, den Sie innerlich erleben, wenn Sie Freund­schaft mit Menschen schließen, wenn aus Neigung Sie dies oder jenes für einen Menschen tun, ist wirklich vergleichbar mit dem Traum-leben. Sie finden das Traumleben in denjenigen Gefühlen, die von Mensch zu Mensch walten im äußeren Leben.

Das ist das Leben, das wir aber auch im weitesten Umfange im Rechtsleben entwickeln. Da steht der Mensch dem Menschen gegenüber.

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Da muß Mensch zu Mensch im allgemeinen das Verhältnis finden. Wir finden unsere besonderen, speziellen Verhältnisse, indem wir den einen Menschen lieben, den anderen hassen, mit dem einen Freund­schaft schließen, den anderen nicht riechen können und so weiter. Das sind die speziellen Verhältnisse, die da oder dort differenziert auftre­ten. Aber das menschliche Leben über die Erde ist nur möglich, wenn alle Menschen zu allen gewisse Beziehungen eingehen können, die wir eben als die politischen, als die staatlichen, als die rechtlichen schildern können. Sie werden dirigiert nicht von demselben wachen Tagesleben, das das Leben durchdringt, sie werden dirigiert von dem Traumesle­ben. Und wir haben es da zu tun mit dem Rechtsleben, wenn der Mensch das zweite Glied dieses Traumeslebens der Außenwelt ein­verleibt.

Und was tritt ein, wenn er das Schlafesleben einverleibt? Beob­achten Sie unbefangen das Leben: Sie haben Hunger, Sie erfreuen sich an einem goldenen Ring mit Edelsteinen, Sie haben das Bedürfnis nach einem Band lyrischer Gedichte, kurz, Sie haben irgendwelche Bedürf­nisse. Sie werden durch andere befriedigt. Aber nun frage ich Sie: Kön­nen Sie das übersehen, auch nur so, wie Sie Ihre Freundschaften oder Rechtsverhältnisse übersehen? Das kann niemand. Der einzelne Mensch kann ein Traumleben führen mit Bezug auf die Rechtsverhältnisse; die Wirtschaftsverhältnisse kann einer nicht überschauen, da muß er sich mit anderen assoziieren. Was der eine nicht weiß, kann der andere wissen. Das Bewußtsein des einzelnen Menschen verschwindet in der einen Assoziation. Da ist etwas vorhanden, was völlig im Unbewußten abläuft und nur dadurch geschehen kann, daß der einzelne Mensch es gar nicht übersehen kann, sondern sein Bewußtsein untertauchen läßt in das der Assoziation. Da haben wir das Wirtschaftsleben.

Das Geistesleben ist beherrscht von sozialem Wachen, das Rechts-leben von sozialem Träumen; in den modernen Parlamenten geradezu vom Alpdruck, welches auch ein Träumen ist. Das Wirtschaftsleben ist durchsetzt von sozialem Schlafen. Und es muß sich da, wo das menschliche Seelenleben zunächst ins Unbewußte hineinverschwindet, die Liebe ausbreiten über das assoziative Leben. Die Liebe, die ein willensartiges Element ist, Brüderlichkeit muß das Wirtschaftsleben

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durchsetzen. Freiheit ist das Element des Wachlebens, Brüderlichkeit das Element des Schlaflebens im Sozialen. Und was zwischen beiden steht, das ist dasjenige, worin alle Menschen gleich sind, was sie aus­bilden als Gleiche, worinnen der eine verschwindet mit seinem Wach-leben, was nur bestimmt wird durch das Verhältnis des einen zu dem anderen, aus dem traumhaften Element des Lebens.

So fließt dasjenige, ich möchte sagen, was im Menschen ist, ein in das, was soziales Leben ist; und man kann eigentlich das soziale Le­ben nicht anders verstehen, als indem man sich klar macht, was vom einzelnen individuellen Menschen in dieses soziale Leben hineinfließt.


1. Geistesleben: soziales Wachen

2. Rechtsleben: soziales Träumen

3. Wirtschaftsleben: soziales Schlafleben

Nun haben wir wiederum von einem gewissen Gesichtspunkte aus einen menschlichen Zusammenhang erfaßt. Wir wollen ihn morgen weiter ausführen. Aber bedenken Sie, wie eigentlich diese Dinge an die Menschen der Gegenwart herankommen. Es ist so, daß der Mensch der Gegenwart beginnen kann, zunächst etwa meine «Theosophie» zu lesen. Das ist etwas, das gegenüber dem, was man gelernt hat, etwas paradox anmutet. Man vielleicht zunächst nicht viel übrig haben für das, was vorgeführt wird, aber man kann weitergehen, kann die an­deren Bücher lesen und sehen, wie das, was in der «Theosophie» steht, weiter vertieft wird. Dann wird man sehen, daß das eine das andere trägt, daß das eine zum anderen hinzukommt, daß die Dinge wohlbe­gründet sind. Oder man kann auf der anderen Seite die «Kernpunkte» ins Auge fassen. Da kann man zunächst sagen: Ich kann noch nicht einsehen, daß der soziale Organismus einer Dreigliederung unterwor­fen werden soll. - Nun nehmen Sie alles das hinzu, was wir schon von den verschiedensten Gesichtspunkten her zusammengetragen haben, um wiederum und wiederum zu erhärten, wie dieses soziale Leben wirklich einer Dreigliederung unterworfen werden muß.

Denken Sie, wie wir aus dem Menschen heraus selber, aus seinen geistig-seelischen Zuständen, aus dieser geistseelischen Dreigliederung

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kommen zu der sozialen Dreigliederung. Wiederum trägt eines das andere. Und selbstverständlich könnte zu dem, was schon hier zusam­mengetragen worden ist, noch vieles andere hinzugefügt werden; man würde immer mehr die Berechtigung der Forderung von der Dreiglie­derung des sozialen Organismus sehen. Aber vergleichen Sie mit dem, was ich eben jetzt gesagt habe, das Verhalten unserer Zeitgenossen. Wie nahen sie sich sehr häufig demjenigen, was durch diese anthroposo­phische Geisteswissenschaft an sie herankommen will? Ich weiß nicht, wie sich die Sache verhält, will sie auch nicht als sehr bindend hier er­zählen, aber es wurde mir neulich gesagt, daß bei einem Vortrag, den Dr. Boos für Basler Theologen gehalten hat - wenn es anders ist, kann er es gelegentlich korrigieren -, er gerade demjenigen Mann, der mich am allerintensivsten angegriffen hat, die Frage stellen konnte, ob er meine Vorträge schon gehört hat. Da soll der geantwortet haben, er habe einen gehört, vielleicht auch zwei. - Nun, es ist ein Beispiel für viele. Die Leute haben gerade den Drang, einmal einen Vortrag zu hören, oder in ein Buch hineinzuschauen und ein paar Seiten zu le­sen. Danach läßt sich aber die Geisteswissenschaft und alles das, was zusammenhängt mit ihren sozialen Konsequenzen, nicht beurteilen; denn die Geisteswissenschaft fordert ein ganz anderes Verhältnis zu allem, als das, was solche Menschen geltend machen. Solche Men­schen, die dressieren diejenigen, die ihnen anvertraut sind, ohne diese Geisteswissenschaft, - soweit es nur geht, und sie dressieren sich sel­ber ohne die Geisteswissenschaft, und dann kommen sie und nehmen einmal Notiz in kurzer Weise. So geht es eben nicht, sondern es geht einzig und allein so, daß Geisteswissenschaft wirklich durchdringt unser gesamtes Bildungswesen und daß das, was anthroposophisch durchdrungen ist, an die Stelle dessen tritt, was im Laufe der letz­ten Jahrhunderte geistlos geworden ist. Das ist wichtig, daß wir es beachten, daß wir wenigstens für uns wissen, was nötig ist. Nie­mals frommen kann der geisteswissenschaftlichen Entwickelung, wenn es auch da oder dort geschehen mag aus diesen oder jenen Opportu­nitätsgründen heraus, daß irgend jemand zu einem einzigen Vortrage herangeschleppt wird, denn aus einer solchen Kenntnisnahme wird meist nichts anderes entstehen, als daß der Betreffende abgeschreckt

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wird. Geisteswissenschaft muß so betrieben werden, daß ihr der Weg geebnet wird in das gesamte Bildungswesen, in das gesamte Leben der Gegenwart. Das ist natürlich das, was den Weg der Geisteswissenschaft schwer macht, was auf der anderen Seite uns die Notwendigkeit, die Verpflichtung auferlegt, auch unseren ganzen Menschen für diese Geisteswissenschaft einzusetzen, wenn wir selbst ihren Nerv begrif­fen haben.

Dieses Einsetzen des ganzen Menschen, es ist ja leider gerade in der Anthroposophischen Gesellschaft nicht immer gepflegt worden. Man muß sich immer wieder erinnern daran, wie die Menschen zuweilen sich geschämt haben, sich als Anthroposophen zu bekennen. - Wir wollen einmal da oder dort einen Vortrag veranstalten, aber das Wort «Theosophie» oder «Anthroposophie» darf nicht genannt werden; es muß nur anthroposophisch sein, darf aber nicht «anthroposophisch» genannt werden, oder «anthroposophische Bewegung» oder «Theoso­phie» und so weiter. Auch bezüglich der Eurythmie haben wir ja er­lebt, daß die Leute verlangen, sie in die Schule einzuführen, aber es darf nicht gesagt werden, woher es kommt. Man will - das ist der be­liebte Ausdruck - da oder dort etwas «einfließen» lassen. Durch dieses Einfließenlassen, durch dieses Zurückschrecken vor dem vollen Ein­treten, kommen wir nicht vorwärts, sondern es kommen uns überall diejenigen Dinge entgegen, die so recht aus der Gesinnung der Gegen­wart herausgeboren sind, und die eigentlich Kulturunverschämtheiten sind. Neulich wurde von Frau Baumann, der Waldorflehrerin für Eu­rythmie, ein sehr hübscher Artikel geschrieben für eine schweizerische Frauenzeitung, über Eurythmie als pädagogisches Mittel. Der Auf­satz wurde auch abgedruckt; aber wenn Anthroposophie oder gar mein Name genannt wurde, so hatte es die Redaktion sorgfältig her­ausgestrichen. Diese Dinge bezeugen, daß man ja das Geistesgut schon gebrauchen kann, aber in der lügenhaften Welt der Gegenwart möchte man eben dieses Geistesgut haben, ohne gerade diejenigen Kräfte, die dieses Geistesgut einmal nach der Notwendigkeit der Gegenwart zu tragen haben.

Ein gutes Teil davon hat die Anthroposophische Gesellschaft selbst bewirkt durch dieses «Einfließenlassen», durch das Zurückschrecken

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vor dem vollen Eintreten. Es sollte gerade derjenige, der an dieses an­throposophische Geistesgut herantritt und der sieht, wie die Dinge mit mathematischer Klarheit einander tragen, er sollte aus der Sache selbst Mut und Kraft finden, voll der Welt gegenüber für diese Sache einzutreten. Ein Dienst wird der Menschheit wahrhaftig nicht gelei­stet, wenn zurückgezuckt wird vor dem vollen Eintreten, und dieses volle Eintreten muß schon einmal gelernt werden von den Gegnern. Die treten voll ein, die treten in bezug auf die Gegnerschaft voll ein! Man kann es immer wiederum erleben, wie gerade uns gegenüber jedes scharfe Wort, das abgerungen werden muß der Notwendigkeit, übelge­nommen wird. So wurde mir in jüngster Zeit recht übelgenommen, daß ich den Grafen Keyserling das genannt habe, was er ist, daß ich ge­sagt habe, er habe gelogen! Derjenige, der sagt, daß ich von Haeckel ausgegangen bin, der braucht nur die Ausführungen zu den Goethe­schen naturwissenschaftlichen Schriften zu lesen; er wird sehen, wo­von ich ausgegangen bin, auch in meiner Schriftstellerei, und er lügt, wenn er sagt, ich sei von Haeckel ausgegangen, weil ich im Verlaufe meines Lebens auch einmal über Haeckel eine Broschüre geschrieben habe. Die inneren Zusammenhänge werden von solchen Tröpfen wie Keyserling nicht geschaut. Diese inhaltsleeren Leute haben das große Publikum, weil man nichts zu denken braucht, wenn man sich ihnen hingibt.

Das ist aber notwendig, daß man endlich einsehe, daß, wenn auf unserem Boden scharfe Worte gesprochen werden, sie abgerungen sind der Notwendigkeit; daß wahrhaftig keine Sympathie für diese schar­fen Worte besteht, daß man dann aber auch nicht kommen darf und sagen, es sei aus Lieblosigkeit geschehen. Soll man diejenigen Menschen lieben, die lügen und dadurch der Wahrheit den Weg vertreten? Und von diesem Gesichtspunkte aus müssen die Dinge auch angesehen wer­den. Wer findet, daß wir in der Polemik zu scharf sind, der wende sich nicht an uns, sondern er wende sich an die Angreifer. Denn wenden wir uns tüchtig gegen die Angreifer, dann wird es etwas helfen; aber nichts helfen wird es, wenn wir einige wenige in der notwendigen Abwehr allein lassen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 28. November 1920

Wenn wir noch einmal zurückblicken auf das, was wir gestern und vorgestern besprochen haben, so muß sich uns ein intimeres Verhält­nis des Menschen zum umliegenden Weltenall enthüllen. Und wir ha­ben den physischen Leib des Menschen nach der Kopforganisation, der rhythmischen Organisation, der Stoffwechselorganisation auf den gan­zen Kosmos beziehen können; wir haben auch den seelischen Menschen und den geistigen Menschen auf den ganzen Kosmos beziehen können. Was Ihnen da erscheinen kann als das Verhältnis des Menschen zum Kosmos, als das ganze Drinnenstehen des Menschen in der Welt, das mußte in alten Zeiten anders angesehen werden, als es jetzt angesehen werden muß und als es wird immer mehr und mehr angesehen werden müssen, je weiter die Menschheit der Zukunft entgegenschreitet. Wir haben es ja oftmals erwähnt, wie in alten Zeiten ausgebreitet war über die Menschheit eine instinktive Urweisheit; eine Weisheit, die sich der Mensch nicht innerlich erarbeitet hat, sondern die er, man möchte sagen, wie halb im Traume in sich aufgehen gefühlt hat. Sie ward ihm gegeben, und er hatte eigentlich nichts zu tun, als seine seelischen Auf­nahmeorgane zu öffnen und das, was ihm als Göttergeschenk aus dem Kosmos kam, entgegenzunehmen.

Da der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist, so mußte auch dieser instinktiven Urweisheit das Gesamtverhältnis des Menschen gewisser­maßen als ein dreifaches erscheinen. Indem der Mensch seine Auf­merksamkeit mehr zuwandte demjenigen, dem er angehörte vor seiner Geburt und das als ein Geistiges hereinleuchtete in die Zeit zwischen Geburt und Tod, das im wesentlichen dasjenige ist, was in der Aus­breitung des Kosmos erscheint, sprach der Mensch davon, daß es Schönheit ist, was sich ihm da zeigt; der Kosmos in Schönheit, und der Mensch in bezug auf seine Kopforganisation, in bezug auf seine Vor­stellungsorganisation, in bezug auf sein Wachsein herausgeboren aus dieser Welt der Schönheit. So hat es der Urmensch empfunden, daß es gütige geistige Wesenheiten waren, welche sich offenbarten um ihn

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herum; denn der Urmensch sah ja nicht die Naturerscheinungen so trocken und nüchtern, wie wir sie sehen in der heutigen Zeit, wenn wir uns nur dem gewöhnlichen Bewußtsein hingeben. Der Urmensch sah überall sich offenbarende Geistigkeit und sich offenbarendes Seelisches. Das enthüllte sich ihm. Und diesen Kosmos, der die Offenbarung war des Geistigen und Seelischen und der sich seinem instinktiven Bewußt­sein enthüllte wie in mächtigen Traumesbildern, den nannte der Mensch der Urzeit den Kosmos in Schönheit.

Dann fühlte sich der Mensch gewissermaßen stehend auf seinem Planeten. Er fühlte sich verbunden mit seinem Planeten. Aus ihm ka­men ihm die Nahrungsmittel, auf ihm hatte er seinen Standort. Er fühlte gewissermaßen seine Kraft, die ihn körperlich durchdrang, die sich in der Seele offenbarte als Wille, die ihn stärkte aus dem Schlafeszustand heraus. Er fühlte diese Kraft wiederum als die Gabe gütiger göttlich-geistiger Wesenheiten und nannte das Stärke. Der Planet in Stärke durchkraftet mich -, so etwa empfand der Urmensch dasjenige, was er allerdings nicht in scharf modulierten Worten zum Ausdruck brin­gen konnte.

So fühlte er sich gewissermaßen mitten drinnenstehend in dem, was sich gestaltete in seinem Haupte, verbildlichte in seinen Vorstellungen, durchleuchtete in seinem wachenden Bewußtsein. Und er fühlte sich ste­hend auf dem Planeten in bezug auf das, was als Kraft lebte in seinen Gliedmaßen, eine Kraft, von der er fühlte, daß sie sich ihm aus dem Planeten heraus mitteilte. Er sagte sich: Dasselbe, was im Stein als Kraft wirkt, wenn er zu Erde fällt, was ein Loch schlägt, wenn der Stein auffällt, das lebt in meinen Beinen, wenn ich schreite. Das ver­bindet mich durch meine Beine mit dem Erdenpianeten als meine Stärke. Das lebt auch in meinen Armen, wenn ich arbeite, das durch­dringt meine Muskelkraft.- Und er fühlte sich drinnenstehend zwischen Schönheit und Stärke, und fühlte sich die Aufgabe zuerteilt, im Rhyth­mus den Ausgleich zu bewirken zwischen dem Oben, der Schönheit, und dem Unten, der Stärke, in der Weisheit. Und wiederum fühlte er sich getragen, indem er diesen Ausgleich zu bewirken hatte zwischen der Schönheit und der Stärke, von den geistigen Wesenheiten, die die Trä­ger der Weisheit waren, die ihn mit Weisheit durchleuchteten.

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So fühlte der Mensch das, was ihm der Kosmos gab, als Schönheit, Weisheit und Stärke. Schönheit, Weisheit und Stärke war dem Ur­menschen aus dem weithin leuchtenden Mysterienunterrichte heraus das, wodurch er sich mit dem ganzen Weltenall verbunden fühlte, wo­durch er sich selber durchkraftet fühlte. Gewissermaßen das Äußere, das ihn umgab, das Innere, das er in sich verspürte, und den Ausgleich von beiden, er fühlte das als Schönheit, Weisheit, Stärke.

In den verschiedenen geheimen Vereinigungen ist dann geblieben, was als Schlagworte Weisheit, Schönheit, Stärke fortfigurierte, wobei sich manchmal recht deutlich zeigt, wie eigentlich nur die Worte ge­blieben sind, wie das tiefere Verständnis fehlt. Denn eine Zeit ist ange­brochen für die Menschheit, welche dieses Erfühlen und dieses Wissen, wenn es auch instinktives Wissen ist, von unseren Zusammenhängen mit dem Kosmos mehr in die Finsternis hinuntergedrängt hat. Der Mensch lebte gewissermaßen in untergeordneten Vorstellungen, in un­tergeordneten Empfindungen. Er trieb die Impulse seines Willens aus untergeordneten Elementen seines eigenen Wesens heraus. Er vergaß, was er einstmals erfühlte in Schönheit, Weisheit und Stärke, denn er sollte ein freies Wesen werden. Da mußte eine Zentralkraft gewisser­maßen aus seinem inneren Chaos hervorgehen, dem sich nicht enthüllte, was lichtvoll und kraftvoll sich enthüllte dem Urmenschen. Aber die neuere Menschheit wird nicht vorwärtskommen, wenn sie nicht aus dem Inneren wieder auferstehen läßt, was einstmals aus dem Welten-all sich geoffenbart hat als Schönheit, Weisheit und Stärke. Von außen wird sich der Menschheit, solange sie Erdenmenschheit ist, der Kosmos nicht wieder von selbst in Schönheit offenbaren. Diese Zeiten sind die Zeiten der instinktiven Urweisheit. Diese Zeiten sind vergangene Zeiten. Diese Zeiten sind nicht diejenigen, in denen der freie Mensch sich entfaltet hat, sondern in denen der Mensch sich nur entfalten konnte, der gewissermaßen getrieben wurde in Unfreiheit, in Instink­ten. Diese Zeiten werden nicht wiederkommen, sondern aus dem eige­nen Inneren heraus muß der Mensch wieder auferstehen lassen, was ihm so von außen zugekommen ist an Weisheit, Schönheit und Stärke.

Das, was da aufgenommen, ich möchte sagen, eingesogen worden ist als Kraft der Schönheit aus dem Weltenall, das hat der Mensch gewissermaßen

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in sich aufgenommen in alten, in uralten Erdenleben. In den mittleren Erdenleben, die dann gefolgt sind, die wir durch­gemacht haben in der ägyptischen, in der griechischen, in der mo­dernen Zeit, in diesen Erdenleben war das eingesogen, aber es trat nicht vor das menschliche Bewußtsein. Jetzt ist die Menschheit reif, das aus dem Bewußtsein herauszuholen, und es wird herausgeholt. Was eingesogen worden ist als Kraft der Schönheit, das wird wie­der erstehen aus dem Menscheninneren, und Geisteswissenschaft ist die Anleitung dazu, wie es entstehen soll aus dem menschlichen In­neren. Das wird entstehen von innen heraus durch die Imagination. Und alles das, was nun bewußt durch die Imagination in der Gei­steswissenschaft vermittelt wird, das ist nichts anderes als das wie­der auferstandene Leben der Schönheit, wie es vorhanden war inner­halb der Urweisheit. Und das, was der Mensch in sich erlebt hat im Erfühlen der Kraft seines Planeten, in dem aber beschlossen war alles das, was Kraft des Kosmos war, nur daß es zentriert war im Planeten oder zentriert ist im Planeten, alles das, es muß wieder auferstehen, indem der Mensch es aus dem Inneren heraus begreift durch die Er­kenntnis der Intuition. Schönheit, aus dem Weltenall herausgesogen, wird Imagination für die Menschheitszukunft von der Gegenwart an. Stärke wird Intuition, durch eigene freie Menschenkraft ergriffen, und Weisheit wird Inspiration.

So hat der Mensch ein Zeitalter verlassen, in dem ihm von außen Schönheit, Weisheit, Stärke geworden ist. Ich möchte sagen, nur nach­plappernd sind diese Schlagworte von Weisheit, Schönheit, Stärke in gewissen Geheimgeselischaften, in Freimaurerorden und so weiter, ohne das innere Verständnis weiter fortgepflegt worden. Würde man die Sache innerlich verstehen, so würde man wissen, daß das alte Über­lieferungen sind, die wieder aufleben müssen als Imagination, als In­spiration, als Intuition. Es ist daher eine ziemlich untergeordnete Weis­heit, wenn allerlei Mitglieder dieser oder jener Orden kommen und eine Ähnlichkeit finden zwischen dem, was in der Geisteswissenschaft auftritt und demjenigen, was sie als ihre Tradition haben, die sie zu­meist nicht verstehen. In der Geisteswissenschaft wird der Zusammen­hang aus der Geist-Erkenntnis selbst herausgehoben.

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Ein uraltes Zeitalter also haben die Menschen verlassen, in dem sich ihnen die Geheimnisse des Weltenalls offenbarten in Schönheit, Weisheit, Stärke. Einem Zeitalter müssen die Menschen entgegengehen, in dem sich ihnen die Geheimnisse des Weltalls offenbaren aus der Imagination, Inspiration und Intuition derer heraus, die zu diesen Er­kenntniskräften kommen wollen oder sollen und die sie auf irgend­eine Weise erreichen können. Verstehen kann dasjenige, was aus der Inspiration, Intuition, Imagination heraus geholt wird, heute schon ein jeder, wenn er nur will.

Nun war aber das alte Zeitalter ausgesetzt einer gewissen Gefahr. Und diese Gefahr, möchte ich sagen, trat am stärksten herauf so etwa gegen das Ende des 2. vorchristlichen Jahrtausends in der damals zi­vilisierten Welt, über Ägypten, Vorderasien, Indien und so weiter. Die Gefahr war diese, daß man nicht in der richtigen Weise empfing, was sich aus dem Weltenall her, ich möchte sagen, durch Gnade wie von selbst dem Menschen offenbarte, der es nur in seinem Erkenntnisin­stinkt zu empfangen hatte. Man konnte dieser Gefahr in der folgenden Weise unterliegen.

Sie müssen sich eine Vorstellung machen, was es heißt, daß sich in der den Menschen umgebenden Natur nicht nur das offenbarte, was dem nüchternen heutigen Bewußtsein als Natur erscheint und als Na­turgesetze entgegentritt, sondern daß sich grandiose Schönheit, das heißt, schöner Schein in mächtigen, bildhaften Offenbarungen geisti­ger Wesen, die aus jeder Quelle, aus jeder Wolke, aus allem heraus-blickten, offenbarte. Es war insbesondere in dieser Zeit, gegen das Ende des 2.Jahrtausends der vorchristlichen Zeitrechnung, nicht so wie in noch älteren Zeiten, wo natürlich das alles auch da war; aber es war, ich möchte sagen, selbstverständlicher da. In dieser Zeit mußte der Mensch dieser Gnade sich dadurch teilhaftig machen, daß er selber etwas dazu tat. Er mußte es nicht auf die Weise tun, wie wir jetzt aus dem vollen Bewußtsein heraus eine höhere geistige Entwickelung su­chen, aber er konnte - und es war das sogar ein recht zweifelhaftes Können - Gelüste entwickeln nach diesem Geistigen, das in der Natur sich offenbarte, er konnte seine Bedürfniskräfte, seine Triebkräfte an­feuern; dann enthüllte sich ihm gewissermaßen aus der Natur heraus

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das Geistige. Und in diesem Anfeuern der Triebkräfte, der Bedürfnis-kräfte lag eine starke luziferische Gabe.

Die meisten von Ihnen wissen ja, wie selbstverständlich in der alten atlantischen Zeit das Erscheinen der elementaren Wesenheiten für den Menschen war. Aber dieses Erscheinen klingt auch für das Hellsehen der nachatlantischen Zeit noch fort. Es verlor sich aber nach und nach, und dann wußte es der Mensch, konnte es in einer gewissen Weise auch hervorzaubern aus den Naturerscheinungen durch seine Bedürfnis-kräfte. Das war die luziferische Gefahr, die sich ergab. Der Mensch konnte sich gewissermaßen aufrütteln, anfeuern, um Geistiges mit sich zu vereinigen. Aber diese Art der Aufrüttelung war etwas Luziferi­sches in ihm. Daher war die Welt der damaligen Kultur und Zivilisa­tion gegen das Ende des 2. Jahrtausends der vorchristlichen Zeitrech­nung stark luziferisch durchseucht. Wir haben ja bei anderen Gelegen­heiten auf diese luziferische Durchseuchung von anderen Gesichts­punkten aus hingedeutet; ich habe sie auf ihre anderen Ursachen zu­rückgeführt; aber jetzt wollen wir sie einmal von dem in diesen drei Vorträgen angenommenen Standpunkte aus betrachten.

Dieser damaligen luziferischen Durchseuchung der Welt steht eine andere gegenüber, eine ahrimanische. Und diese ahrimanische Durch­seuchung, sie ist gegenwärtig im Anzuge, mit einer riesig starken Kraft im Anzuge. Es ist ja ganz furchtbar, wie der zivilisierte Mensch der Gegenwart schläft gegenüber dem, was sich eigentlich entwickelt. Be­denken Sie nur einmal, wie sich in der neuesten Zeit die mechanischen Kräfte, die Maschinenkräfte entwickelt haben. Ich habe davon schon einmal von anderen Gesichtspunkten aus gesprochen. Es ist gar nicht so lange her, da mußten die Menschen durch ihre Muskelkräfte dasjenige tun, was sie in gewisser Beziehung in der neuesten Zeit den Maschinen überlassen können, an die sie nur tippen. Dem, was sich da in den Maschinen abspielt, dem liegen die Kräfte zugrunde, die der Mensch aus der Erde herausbringt, indem er die Kohle fördert. Die Kohle liefert die Kraft, die dann in unseren Maschinen arbeitet.

Wenn nun der Mensch es dahin bringt, daß neben ihm eine Maschine arbeitet, so ist das ja so, daß er das, was er früher selber tun mußte, gewissermaßen an die Maschine ausliefert. Die Maschine tut es. Neben

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ihm steht die Maschine und verrichtet die Arbeit, die er vorher selber verrichten mußte. Man mißt, was da die Maschine erarbeitet, nach Pferdekräften, und wenn man im großen messen will, so mißt man, was man erarbeitet innerhalb eines gewissen Territoriums, nach der Kraft, die ein Pferd in einem Jahre aufbringt, wenn es seine tägliche Arbeitszeit verrichtet. Nun nehmen Sie das Folgende: 1870 - man kann das aus der Kohlenförderung berechnen - haben innerhalb Deutsch­lands - ich wähle ausdrücklich das Kriegsjahr, ganz absichtlich - ge­arbeitet sechs ganze und sieben Zehntel Millionen Pferdekraftjahre. Das heißt, außer dem, was die Menschen gearbeitet haben, haben die Maschinen sechs ganze und sieben Zehntel Millionen Pferdekraftjahre gearbeitet. Das ist also eine Kraft, die aus den Maschinen selber her­aus gearbeitet worden ist. 1912 wurden in demselben Deutschland durch die Maschinenkraft 79 Millionen Pferdekraftjahre gearbeitet!

Da Deutschland fast 79 Millionen Einwohner hat, arbeitet also neben jedem Menschen ein Pferd das ganze Jahr hindurch. Und be­denken Sie die Zunahme von 6,7 Millionen Pferdekraftjahren zu 79 Millionen Pferdekraftjahren innerhalb weniger Jahrzehnte!

Und betrachten Sie jetzt diese Verhältnisse in bezug auf den Aus­bruch der furchtbaren Kriegskatastrophe. In demselben Jahre 1912 konnten Frankreich, Rußland, Belgien zusammen 35 Millionen Pferde­kraftjahre aufbringen; Großbritannien 98 Millionen Pferdekraftjahre. Im wesentlichen wurde ja der Krieg im Jahre 1870 durch Menschen ausgetragen, denn man konnte nicht viel mobil machen von den me­chanischen Kräften. Es waren ja in Deutschland erst 6,7 Millionen Pferdekraftjahre da. In den wenigen Dezennien war es anders gewor­den. Sie wissen, in diesem Kriege haben ja im wesentlichen die Ma­schinen gegeneinander gearbeitet. Was an den Fronten sich gegenüber-trat, stammte aus den Maschinen heraus, so daß eigentlich zur Front geführt würden die Pferdekraftjahre der Mechanismen.

Nun war allerdings die Sache so, daß Großbritannien erst im Laufe längerer Zeit seine 98 Millionen Pferdekraftjahre mobil machen konnte. Aber dann standen zusammen in demjenigen, was aus der mechani­schen Kraft dieser Reiche kam, 133 Millionen Pferdekraftjahre gegen 79 Millionen Pferdekraftjahre von Deutschland; etwa 92 Millionen

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Pferdekraftjahre würde man herausbekommen, wenn man noch Öster-reich hinzuzählte. Nun wurde dadurch zunächst etwas ausgeglichen, daß eben, wie gesagt, Großbritannien seine Pferdekraftjahre nicht so schnell umwandeln konnte von der Landbearbeitung zur Front hin. Es standen in dieser furchtbaren Kriegskatastrophe einander gegenüber wirklich nicht etwa die Weisheiten der Generäle - die gaben gewisse Richtungen allerdings an -, aber das Wesentliche, was sich gegenüber­stand, waren die mechanischen Kräfte, die aufeinanderprallten in den Fronten, und die nicht abhingen von den Generälen, sondern die ab-hingen von den Erfindungen, die vorher der Mensch aus seiner Natur­wissenschaft heraus gemacht hatte.

Und was mußte denn gewissermaßen mit eiserner Notwendigkeit schicksalsmäßig geschehen? Nehmen wir an, daß jetzt noch an die Front geschickt wurden die Pferdekraftjahre der Vereinigten Staaten von Amerika mit 139 Millionen Pferdekraftjahren.

Sie sehen, durch dasjenige, was der Mensch in wenigen Jahrzehnten an Maschinenkraft hergestellt hatte, war ganz abgesehen von der Ge­nialität der Generäle, das Schicksal der Welt vorbestimmt. Gegen die­ses Schicksal der Welt, gegen diese Notwendigkeit, wo an den Fronten einfach die Ergebnisse der mechanischen Kräfte aufeinanderprallten, war nichts zu machen.

Ja, was liegt denn da eigentlich vor? Der Mensch hat aus seinem Denken heraus die Mechanismen konstruiert. Indem er sie konstruiert hatte, hatte er seinen Verstand, seinen aus der Naturwissenschaft her­aus gewonnenen Verstand in die Mechanismen hineingelegt. Es war gewissermaßen aus seinem Kopfe davongelaufen der Verstand und war zu den Pferdekraftjahren in seiner Umgebung geworden. Die ar­beiteten jetzt, davongelaufen, selbst. Mit welch rasender Schnelligkeit dieses Schaffen einer Welt, die unmenschlich-außermenschlich ist, in den letzten Jahrzehnten durch Menschen geschehen ist, von dem macht sich ja der schlafende zivilisierte Mensch der Gegenwart nicht leicht eine Vorstellung.

Jener Mensch, auf den ich Sie hingewiesen habe, am Ende des 2. Jahrtausends der vorchristlichen Zeit, der hatte die luziferische Ver­seuchung um sich; die geistigen Wesenheiten, für die er seine Bedürfnisse

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entwickelte und die außerhalb seiner aus der Natur ihm erschie­nen. Wenn das ein Naturobjekt ist, erschien darin das geistige Wesen (es wird gezeichnet). Jetzt läßt der Mensch einströmen in die Materie seinen Geist, in Mechanismen. Der wird da drinnen so, daß zum Bei­spiel in Deutschland jeder Mensch noch ein Pferd neben sich aus dem menschlichen Verstande heraus geschaffen hat, das nun neben ihm ar­beitet, das kein Pferd war, sondern das Maschinenkraft war. Das ist abgesondert vom Menschen, wie einstmals diese Elementarwesenheiten abgesondert waren vom Menschen, nur in anderem Sinne. Die waren so abgesondert, daß der Mensch seine lüziferische Kraft darauf wen­den mußte. Jetzt wendet er seine ahrimanische Kraft darauf. Jetzt ver­ahrimanisiert er es, mechanisiert es. Wir leben im Zeitalter der ahri­manischen Verseuchung. Die Menschen merken gar nicht, daß sie ei­gentlich zurücktreten aus der Welt, und daß sie ihren Verstand der Welt einverleiben und neben sich eine Welt, die selbständig wird, schaf­fen. Und das große, ich möchte sagen, teuflische Experiment ist aus­geführt worden seit dem Jahre 1914; daß die eine ahrimanische Wesen­heit gegen die andere ahrimanische Wesenheit im Grunde genommen den Ausschlag gegeben hat. Wir haben es mit einem ahrimanischen Kampfe fast über die ganze Erde zu tun gehabt. Den ahrimanischen Charakter hat er angenommen dadurch, daß der Mensch eben in dem Mechanismus, der ihn umgibt, eine neue ahrimanische Welt geschaffen hat. Und es ist eine neue ahrimanische Welt. Wenn Sie auf die Zahlen sehen: Von 6,7 Millionen auf 79 Millionen Pferdekraftjahre in wenigen Jahrzehnten ist die außermenschliche mechanische Kraft gestiegen -das Verhältnis ist in den übrigen Ländern dasselbe -, wie rasch ist der Ahriman gewachsen in den letzten Jahrzehnten!

Darf da nicht die Frage entstehen, ob der Mensch ganz verlieren soll, was in seinen Willen gestellt ist, was in seine Initiativkraft gestellt ist? Die Frage kann gestellt werden, ob denn der Mensch immer mehr und mehr der Illusion entgegengeführt werden soll, er mache die Dinge, während in Wahrheit die ahrimanischen Kräfte, die man nach Pferde-kraftjahren berechnen kann, gegeneinander arbeiten? Denjenigen, der die Welt überschaut, interessiert nur vom moralischen Standpunkte aus etwa Foch und Ludendorif und Haig. Vom Standpunkte der vollen

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Realität interessieren ihn diejenigen Kräfte, die aus der Kohle kommen und die an den Fronten aufeinanderprallen, die aus den me­chanischen Werkstätten an die Fronten geführt werden, je nach den Erfindungskräften der vorherigen Jahre, und die zu einem einfachen Rechenexempel machen, was geschehen muß.

Somit ist das Ahrimanischwerden der Welt ein einfaches Rechen-exempel, um zu wissen, was geschehen muß. Und wie steht der Mensch daneben? Er kann ja als der Dumme daneben stehen, dem zuletzt seine Maschinen entgegenlaufen, wenn er noch etwas kompliziertere Kom­binationen von Kräften findet.

Diese Ahrimanisierüng ist das moderne Gegenstück zu der Luzife­risierung der Welt, von der ich vorhin gesprochen habe. Das ist es, worauf man hinschauen muß. Denn ist das nicht vielleicht das Aller­alleranschaulichste, um die Notwendigkeit zu beweisen, daß der Mensch jetzt aus dem Inneren heraus schaffen muß? Diese Ahrimanisierüng werden wir nicht aufhalten, sollen wir auch nicht aufhalten, sonst würden wir vor jeder neuen Mechanisierung stehen wie das Nürnber­ger Ärztekollegium 1839 oder wie der Berliner Postmeister vor dem Bau der Eisenbahn, der sagte: Da wollen die Leute von Berlin bis Potsdam eine Eisenbahn fahren lassen - ich lasse doch jede Woche zweimal Postwagen hinausfahren, und es sitzt kein Mensch drinnen! -Aufhalten kann man die Mechanisierung nicht, denn die Kultur muß in diesem Sinne gehen. Die Kultur verlangt die Ahrimanisierung. Aber ihr muß an die Seite gestellt werden, was nun aus dem menschlichen Inneren heraus arbeitet, was aus dem menschlichen Inneren wiederum Weisheit, Schönheit, Kraft, also Stärke schöpft in der Imagination, in der Intuition, in der Inspiration. Denn die Welten, die da aufgehen werden, die werden des Menschen Welten sein, es werden solche sein, die im Geiste, in der Seele vor uns stehen, während draußen die ahri­manischen Maschinenkräfte ablaufen. Und diese Mächte, die da aus der Imagination, aus der Inspiration, aus der Intuition aufsteigen, die werden die Macht haben, zu dirigieren, was sonst den Menschen über­wältigen müßte um ihn herum aus dem rasenden Tempo der Ahri-manisierung heraus. Was aus der geistigen Welt, aus Imagination, aus Inspiration, Intuition kommt, das ist stärker als alle Pferdekraftjahre,

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die noch aus der Mechanisierung der Welt ersprießen können. Aber überwältigen würden den Menschen die mechanisierenden Kräfte, wenn er für sie nicht das Gegengewicht finden würde in dem, was er finden kann aus den Offenbarungen der geistigen Welt heraus, die er erstreben muß.

Es ist nicht irgendeine Erfindung, irgendein abstraktes Ideal, irgend­ein Schlagwort, was mit der Geisteswissenschaft auftritt und was nach der Erkenntnis der Imagination, Inspiration, Intuition strebt, sondern es ist etwas, was in seiner Notwendigkeit handgreiflich abgelesen wer­den kann von dem Gang der Menschheitsentwickelung. Und man muß hinweisen darauf, daß der Mensch überwältigt werden würde durch das Außermenschliche, das er selbst geschaffen hat in einer ahrima­nisierten Welt in errechenbaren Pferdekräften. Als dem Menschen von außen zukam, was ihm Weisheit, Schönheit und Stärke gab, da hatte er noch nicht um sich die ahrimanisierte Welt, da konnte er es in Gnade aufnehmen, oder durch Gnade aufnehmen, und er hatte auf der Erde, was er höchstens durch die Kraft des Feuers oder durch die einfachsten mechanischen Werkzeuge, die nicht viel hinzutaten zu seiner eigenen Kraft, sich dazu erarbeitete. Und ungefähr erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir eine neue Welt, ich möchte sagen, eine mächtige neue geologische Schichte die Erde bedeckend. Zu all den Schichten, Diluviüm, Alluvium, kommt hinzu die ahrimanische Schichte der mechanisierten Kräfte, welche wie eine Kruste über die Erde sich bildet. Also aus den Tiefen steigt auf, was den Menschen überwältigt, wenn der Mensch sich nicht hineinstellt in die äußere Welt mit jener Welt, die ihm aus dem Geiste, das heißt, aus Imagination, Intuition, Inspiration heraus kommt.

Es sind wahrhaftig starke Impulse aus der Erkenntnis des Welten­ganges heraus, welche hinweisen auf die Notwendigkeit geisteswissen­schaftlicher Kultur und Zivilisation. Es sind heute schon errechen-bare Notwendigkeiten. Denn, ist es nicht furchtbar, daß neben dern Menschen mit so rasender Eile diese, sagen wir, übergeologische Schichte heraufzieht wie eine neue Erdkruste, und daß viele Menschen heute noch so denken, wie gedacht worden ist, als zum Beispiel in Deutsch­land nur 6,7 Millionen Pferdekraftjahre produziert wurden durch die

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Mechanisierung? Denken denn die Leute daran, woher der Gang der Welt eigentlich durchkraftet wird? Ist man im Bilde, was in Wirklich­keit geschieht? Man ist es nicht, sonst würde man aus der Erkenntnis dessen, was geschieht, wirklich die Notwendigkeit ersehen, eine neue Form zu finden für die Durchtränkung des Menschen mit dem, was ab­gelaufene Zeiten Schönheit, Weisheit, Stärke genannt haben, und was wir nach dem Gang, den die menschliche Persönlichkeit nehmen muß, um es zu erlangen, Imagination, Inspiration, Intuition nennen müssen.

Wir blicken also hinein in eine Welt ahrimanischer Durchseuchung. Ich habe schon öfter gesagt: Ich möchte nicht leichtsinnig das Wort «Übergangszeit» gebrauchen, denn im Grunde ist jede Zeit eine Über­gangszeit; aber eine Zeit, in der sich etwas so Besonderes wie der Ahri­manismus so rasend schnell entwickelt hat, wie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, solch eine Zeit ist nicht immer da. Und die für einen großen Teil von Mitteleuropa unmittelbar vorangehende Bieder­meierzeit, die ist wahrhaftig nicht zu vergleichen mit demjenigen, was in den letzten Jahrzehnten sich eigentlich in Wirklichkeit zugetra­gen hat. Man muß schon die ganze Schwere empfinden dieser neuzeit­lichen Ereignisse. Und man muß folgendes empfinden.

Wenn man hinschaut auf solch ein Ereignis, wie es sich 1870/71 in Mitteleuropa als Kriegsereignis abgespielt hat: man konnte es über­denken, man konnte nachkommen mit seinen Gedanken. Aber sehen Sie sich doch nur einmal an, wie die Menschen noch immer in dersel­ben Weise versuchen, sich die Vorgänge der letzten Jahre zu vergegen­wärtigen! Sie denken ja noch immer so, wie man gedacht hat, als in Deutschland nur 6,7 Millionen Pferdekraftjahre vorhanden waren! Man begreift gar nicht, daß man anders denken muß, wenn 79 Millio­nen Pferdekraftjahre außer dem Menschen arbeiten! Das erfordert, daß ganz anderes Denken Platz greift. Ohne daß man sich zur Geistes­wissenschaft wendet, lösen sich die Rätsel, die aus diesen Ereignissen heraus kommen, eben durchaus nicht. Wenn der Mensch um sich herum durch die äußere Wissenschaft die Welt mechanisiert, dann muß er um so mehr aus seinem Inneren heraus eine innere Wissenschaft, die wiederum Weisheit ist, erstehen lassen. Die wird die Kraft haben, das zu dirigieren, was ihn sonst überwältigen würde.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 4. Dezember 1920

Es wird in der nächsten Zeit hier meine Aufgabe sein, Ihnen einige Gesichtspunkte vorzubringen, die das Verhältnis betreffen zwischen dem Menschen und der kosmischen Welt auf der einen Seite, dem Menschen und der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit auf der anderen Seite. Betrachtungen sollen das sein, welche vieles von dem, was wir schon vor unserer Seele haben vorüberziehen lassen, ergänzen können. Ich will heute zu den Betrachtungen der nächsten Stunden gewissermaßen eine Art Einleitung voranschicken, die viel­leicht manchem etwas entlegen scheinen könnte, deren Notwendig­keit aber aus den folgenden Stunden schon wird eingesehen werden. Ich möchte Sie nämlich heute darauf aufmerksam machen, daß in der mitteleuropäisch-deutschen Gedankenentwickelung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts außer den Tatsachen, auf die wir schon hinge­wiesen haben, noch eine andere, außerordentlich bezeichnende Tat­sache vorliegt. Ich habe ja vor kurzer Zeit einmal hingewiesen auf jenen Gegensatz, der sich einem ergibt, wenn man einerseits Schillers Ästhetische Briefe und auf der anderen Seite Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie betrachtet. Heute möchte ich hinweisen auf einen ähnlichen Gegensatz, der ja hervortrat in dieser Gedankenentwickelung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts in Hegel auf der einen Seite, in Schopenhauer auf der anderen Seite. Wir haben es bei Goethe und Schiller mit zwei Persönlichkeiten zu tun, die in einer gewissen Zeit ihres Lebens dasjenige, was als ein, man kann sagen, bleibender Gegensatz gerade in der mitteleuropäischen Gedankenentwickelung vorhanden ist, was aber auch in dieser Ge­dankenentwickelung fortwährend nach Ausgleich strebt, in einer inni­gen Freundschaft zum Ausgleich gebracht haben, nachdem sie einander vorher abgestoßen hatten.

Zwei andere Persönlichkeiten stellen die beiden polarischen Gegen­sätze auch dar, ohne daß man sagen kann, daß es bei ihnen zu irgend­einem Ausgleich gekommen ist: Hegel auf der einen Seite, Schopenhauer

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auf der anderen Seite. Man braucht nur ins Auge zu fassen, was ich selber in meinen «Rätseln der Philosophie» dargestellt habe, und man wird den tiefgehenden Gegensatz zwischen Schopenhauer und Hegel merken. Er tritt einem ja auch dadurch zutage, daß Schopen­hauer wahrhaftig keine Schimpfworte gespart hat, um seinen Gegen­part Hegel in der Weise, wie er es für richtig gehalten hat, zu charak­terisieren. Vieles in Schopenhauers Werken ist ja das wüsteste Ge­schimpfe auf Hegel, den Hegelianismus und alles, was irgendwie da­mit verwandt ist. Hegel hatte weniger Veranlassung, über Schopen­hauer zu schimpfen, weil ja, ehe Hegel starb, Schopenhauer eigentlich ohne Einfluß geblieben war, also eigentlich nicht unter denjenigen Philosophen war, die bemerkt worden wären. Der Gegensatz zwi­schen diesen beiden Persönlichkeiten kann ja einfach dadurch charak­terisiert werden, daß man hinweist darauf, wie Hegel den Urgrund der Welt und der Weltenentwickelung und alles dessen, was dazu ge­hört, in dem realen Gedankenelemente sieht. Hegel hält die Idee, den Gedanken für dasjenige, was allem zugrunde liegt. Und Hegels Philo­sophie zerfällt ja in drei Teile: Erstens in die Logik, die aber nicht die subjektive menschliche Logik ist, sondern die das System der Gedan­ken ist, die der Welt zugrunde liegen sollen. Dann verzeichnet Hegel als zweiten Teil seiner Philosophie die Natur. Aber die Natur ist ihm auch nichts anderes als Idee, nur eben die Idee in ihrem Anderssein, wie er sagt: die Idee in ihrem Außer-sich-Sein. Also auch die Natur ist Idee, aber die Idee in einer anderen Form, in der Form, in der man sie anschauen kann, mit den Sinnen betrachten kann, Idee in ihrem An­derssein. Die Idee, indem sie dann wiederum zurückkommt zu sich, sie ist ihm der Geist des Menschen, der sich entwickelt von den ein­fachsten menschlich-geistigen Betätigungen bis zur Weltgeschichte und bis zum Aufgang dieses menschlichen subjektiven Geistes in Religion, Kunst und Wissenschaft. Wenn man also Hegels Philosophie studie­ren will, so muß man sich einlassen in eine Entwickelung der Weltge­danken, so wie Hegel diese Weltgedanken eben für sich erklären konnte.

Schopenhauer ist der Gegenpol. Während für Hegel die Gedanken die Weltgedanken, das Schöpferische sind, also das eigentliche Reale in den Dingen, ist für Schopenhauer jedes Gedankenelement nur ein

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Subjektives, und auch als Subjektives nur ein Bild, nur etwas Unreales, während ihm das einzig Reale der Wille ist. Und ebenso wie Hegel im mineralischen, im tierischen, im pflanzlichen, im menschlichen Reiche den Gedanken verfolgt, so verfolgt Schopenhauer in allen diesen Rei­chen den Willen. Und die reizvollste Abhandlung Schopenhauers ist ja eigentlich diejenige «Über den Willen in der Natur». So daß man sagen kann: Hegel ist der Gedankenphilosoph, Schopenhauer ist der Willensphilosoph.

Damit stehen in diesen beiden Persönlichkeiten zwei Elemente ein­ander gegenüber. Denn, was haben wir eigentlich gegeben auf der einen Seite in dem Gedanken, auf der anderen Seite in dem Willen? Wir werden diesen polarischen Gegensatz zunächst einmal einleitend zu unserem nächsten Vortrage am besten vor unsere Seele treten las­sen, wenn wir ihn am Menschen betrachten. Wir sehen jetzt für einen Augenblick ganz ab von Hegelischer Philosophie, von Schopenhauer­scher Philosophie und sehen auf die Wirklichkeit des Menschen. Wir wissen ja schon: Im Menschen ist zunächst hervorstechend ein intellek­tuelles, das heißt, ein Gedankenelement vorhanden, und dann ein Wil­lenselement. Das Gedankenelement ist vorzugsweise zugeordnet dem menschlichen Haupte, das Willenselement vorzugsweise dem mensch­lichen Gliedmaßenorganismus. Damit ist aber schon hingewiesen dar­auf, daß das intellektuelle Element eigentlich dasjenige ist, was aus unserem vorgeburtlichen Dasein aus geistigen Welten, die für uns zwi­schen dem Tod und einer neuen Geburt verfließen, sich einkörpert und aus dem vorgeburtlichen Leben sich herüberlebt in dieses Erdenleben, im wesentlichen. Das Willenselement aber ist dasjenige, das, ich möchte sagen, gegenüber dem Gedankenelement das Junge im Menschen ist, das, was durch die Pforte des Todes geht, dann eintritt in die Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, sich da umwandelt, meta­morphosiert und das intellektuelle Element des nächsten Lebens bildet. Im wesentlichsten, im hervorstechendsten haben wir in unserer seeli­schen Organisation unser intellektuelles, unser Gedankenelement, das in die Vorzeit verweist; wir haben unser Willenselement, das in die Zukunft verweist. Damit haben wir am Menschen diesen polarischen Gegensatz zwischen Gedanke und Wille betrachtet.

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Natürlich dürfen wir, wenn wir an die Wirklichkeit herantreten, diese Dinge niemals so betrachten, daß wir schematisieren. Es wäre natürlich schematisiert, wenn man sagen würde: Alles gedankliche Ele­ment weist uns in unsere Vorzeit hin, und alles Willenselement weist uns in unsere Nachzeit hin. So ist es nicht; sondern hervorstechend, sagte ich, ist das im Menschen, daß das Gedankenelement in die Vor­zeit, das Willenselement in die Nachzeit weist. Aber hinzu organisiert wird bei dem Menschen an das hervorstechende, an das nach rück­wärts weisende Gedankenelement ein willensmäßiges Element, und hinzu organisiert wird wiederum zu dem Willenselement, das in uns braust, das durch den Tod hinaus in die Zukunft geht, ein Gedanken-element. Man darf, wenn man mit seinem Erkennen in die Wirklich­keit hineingehen will, niemals schematisieren, niemals die Ideen nur nebeneinander setzen, sondern man muß sich klar sein, daß in der Wirklichkeit alles nur so betrachtet werden kann, daß irgendwo etwas als das Hervorstechende erscheint, daß aber die übrigen Elemente der Wirklichkeit darinnen leben, und daß überall, was sonst im Hinter­grunde sich hält, wiederum an einem anderen Orte der Wirklichkeit das Hervorstechendste ist und das andere sich im Hintergrunde hält.

Wenn dann Philosophen kommen und von ihrem besonderen Ge­sichtspunkte aus das eine oder das andere betrachten, so kommen sie eben zu ihren einseitigen Philosophien. Nun ist aber das, was ich Ihnen eben charakterisiert habe als das Gedankenelement beim Menschen, nicht bloß im Menschen vorhanden und da an die Hauptesorganisa­tion gebunden, sondern es ist der Gedanke wirklich im ganzen Kosmos ausgebreitet. Der ganze Kosmos ist durchzogen von kosmischen Ge­danken. Indem Hegel ein starker Geist war, der, ich möchte sagen, das Ergebnis vieler verflossener Erdenleben fühlte, richtete er die Auf­merksamkeit besonders auf den kosmischen Gedanken.

Schopenhauer fühlte in sich weniger das Ergebnis früherer Erden-leben, sondern richtete seine Aufmerksamkeit mehr auf den kosmischen Willen. Denn ebenso wie im Menschen Wille und Gedanke leben, so lebt auch im Kosmos Gedanke und Wille. Was bedeutet aber für den Kosmos der Gedanke, den Hegel besonders betrachtete, was bedeutet für den Kosmos der Wille, den Schopenhauer besonders betrachtete?

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Hegel hatte ja nicht den Gedanken im Auge, der sich im Menschen ausbildet. Die ganze Welt war ihm im Grunde genommen nur eine Offenbarung der Gedanken. Also er hatte den kosmischen Gedanken im Auge. Sieht man hin auf die besondere Geistesformierung Hegels, so muß man sagen: Diese Geistesformierung Hegels weist nach dem Erdenwesten hin. Nur daß Hegel das, was im Westen, zum Beispiel in der materialistischen Entwickelungslehre des Westens, in der materia­listisch gedachten Physik des Westens zum Ausdrucke kommt, zum Element des Gedankens heraufhob. Man findet bei Darwin eine Ent­wickelungslehre, man findet bei Hegel eine Entwickelungslehre. Bei Darwin ist es eine materialistische Entwickelungslehre, indem alles sich so abspielt, als wenn nur grobe Natursubstanzen in die Entwickelung eintreten würden und diese vollführten; bei Hegel sehen wir, wie alles, was in Entwickelung ist, vom Gedanken durchpulst ist, wie der Ge­danke in seinen besonderen Konfigurationen, in seinen konkreten Aus-gestaltungen eigentlich das sich Entwickelnde ist.

So daß wir sagen können: Im Westen betrachten die Geister die Welt vom Standpunkte des Gedankens, aber sie materialisieren den Gedanken. Hegel idealisiert den Gedanken, und er kommt daher zum kosmischen Gedanken.

Hegel redet in seiner Philosophie vom Gedanken und meint eigent­lich den kosmischen Gedanken. Hegel sagt: Wenn wir irgendwo hinsehen in der äußeren Welt, sei es, daß wir einen Stern in seiner Bahn, ein Tier, eine Pflanze, ein Mineral betrachten, sehen wir eigent­lich überall Gedanken, nur daß diese Art Gedanken in der äußeren Welt eben in einer anderen Form als in der Gedankenform vorhanden sind. Man kann nicht sagen, daß Hegel gerade bestrebt war, diese Lehre von den Gedanken der Welt esoterisch zu halten. Sie ist esoterisch ge­blieben, denn Hegels Werke wurden wenig gelesen; aber es war nicht Hegels Absicht, die Lehre von dem kosmischen Inhalt der Welt esote­risch zu halten. Aber es ist doch außerordentlich interessant, daß, wenn man zu den Geheimgesellschaften des Westens kommt, dann in einer gewissen Beziehung es als eine Lehre der tiefsten Esoterik angesehen wird, daß die Welt eigentlich aus Gedanken gebildet wird. Man möchte sagen: Das, was Hegel so naiv hinsagte von der Welt, das betrachten

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die Geheimgesellschaften des Westens, der anglo-amerikanischen Menschheit nun als den Inhalt ihrer Geheimlehre, und sie sind der An­sicht, daß man eigentlich diese Geheimlehre nicht popularisieren solle. - So grotesk sich das auch zunächst ausnimmt, man könnte sa­gen: Hegels Philosophie ist in einer gewissen Weise der Grundnerv der Geheimlehre des Westens.

Sehen Sie, hier liegt ein bedeutsames Problem vor. Sie können wirk­lich, wenn Sie bekannt werden mit den alleresoterischsten Lehren der Geheimgesellschaften der anglo-amerikanischen Bevölkerung, inhalt­lich kaum etwas anderes finden als Hegelsche Philosophie. Aber es ist ein Unterschied, der liegt gar nicht im Inhalte, der liegt in der Behand­lung. Der liegt darinnen, daß Hegel die Sache als etwas ganz Offen­bares betrachtet, und die Geheimgesellschaften des Westens sorgsam darüber wachen, daß dasjenige, was Hegel vor die Welt hingestellt hat, ja nicht allgemein bekannt werde, daß das eine esoterische Ge­heimlehre bleibe.

Was liegt da eigentlich zugrunde? Das ist ein sehr wichtiges Pro­blem. Es liegt das zugrunde, daß wenn man irgendeinen solchen In­halt, der aus dem Geiste heraus geboren ist, als Geheimbesitz betrachtet, dann gibt er Macht, während wenn er popularisiert wird, er nicht mehr diese Macht gibt. Und das bitte ich Sie nun wirklich einmal ganz gehörig ins Auge zu fassen: Irgendein Inhalt, den man als Erkenntnis­inhalt hat, wird zu einer Machtkraft, wenn man ihn geheim hält. Da­her sind diejenigen, die gewisse Lehren geheimhalten wollen, sehr un­angenehm berührt, wenn die Dinge popularisiert werden. Das ist ge-geradezu ein Weltgesetz, daß dasjenige, was popularisiert einfach Er­kenntnis gibt, Macht gibt, wenn es sekretiert wird.

Ich habe Ihnen im Verlauf der letzten Jahre verschiedentlich von jenen Kräften gesprochen, die vom Westen ausgegangen sind. Daß diese Kräfte vom Westen ausgegangen sind, rührte nicht davon her, daß da etwa ein Wissen vorhanden gewesen wäre, welches in Mittel-europa nicht bekannt gewesen wäre; aber dieses Wissen wurde anders behandelt. Denken Sie sich nun, was für eine merkwürdige Tragik da vorliegt! Es hätte sogar in einer bedeutsamen Weise pariert werden können, was an weltgeschichtlichen Ereignissen aus der Macht westlicher

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Geheimgesellschaften hervorgegangen ist, wenn man in Mittel­europa nur die eigenen Leute studiert hätte, wenn man in Mitteleuropa nicht gar so sehr das getan hätte, was man wirklich sehr gründlich kon­statieren konnte: In den achtziger Jahren - ich habe das öfters er­wähnt - hat Eduard von Hartmann öffentlich drucken lassen, daß es überhaupt an den sämtlichen mitteleuropäischen Fakultäten nur zwei Philosophen gab, welche Hegel gelesen hatten. Über Hegel geredet und Vorträge gehalten hatten natürlich sehr viele, aber nachweislich gab es nur zwei an Hegel gebildete Philosophieprofessoren. Und derjenige, der für solche Sachen einige Empfänglichkeit hatte, der konnte das Folgende erleben: Wenn er sich einen Band von Hegels Werken aus irgendeiner Bibliothek geben ließ, dann konnte er wirklich recht ge­nau konstatieren, daß der nicht sehr zerlesen war! Da war manchmal eine Seite von der anderen - ich kenne das aus der eigenen Erfahrung -sehr schwer loszubringen, weil das Exemplar noch gar so neu war. Und «Auflagen» erlebt ja Hegel erst seit sehr kurzer Zeit.

Nun, ich habe Ihnen das nicht aus dem Grunde hingestellt, weil ich auf diese Tatsachen besonders hinweisen möchte, die ich zuletzt charakterisiert habe, sondern weil ich zeigen wollte, wie das, was in Hegel idealistisch lebt, dennoch nach dem Westen hinüberweist, indem es auf der einen Seite wieder erscheint in den grobklotzigen ma­terialistischen Gedanken des Darwinismus, des Spencerismus und so weiter, andererseits in der Esoterik der Geheimgesellschaften.

Und nun nehmen wir Schopenhauer. Schopenhauer ist, ich möchte sagen, der Anbeter des Willens. Und daß er den kosmischen Willen im Auge hat, das geht ja eigentlich aus jeder Seite der Schopenhauerschen Werke hervor, insbesondere eben aus der reizvollen Abhandlung «Über den Willen in der Natur», wo er alles, was in der Natur leibt und lebt, als den zugrunde liegenden Willen, als die Urkraft der Natur dar­stellt. So daß wir sagen können: Schopenhauer materialisiert geradezu den kosmischen Willen.

Wohin weist denn nun diese ganze Seelenverfassung Schopenhauers, wenn Hegels Seelenverfassung nach dem Westen weist? Das können Sie aus Schopenhauer selber sehen, denn Sie finden sehr bald, wenn Sie ihn studieren, welche tiefe Neigung Schopenhauer für den Orient

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hat. Das steigt aus seinem Gemüte herauf, man weiß eigentlich nicht wie. Diese Vorliebe Schopenhauers für das Nirwana und für alles das, was orientalisch ist, diese Hinneigung zum Indertum, sie ist irrational wie seine ganze Willensphilosophie, sie steigt gewissermaßen aus seinen subjektiven Neigungen herauf. Aber es liegt darinnen eine gewisse Notwendigkeit. Das, was Schopenhauer darstellt als seine Philosophie, ist eine Willensphilosophie. Er stellt allerdings diese Willensphiloso­phie, wie es sich für Mitteleuropa gehört, dialektisch dar, er stellt sie in Gedanken dar, er rationalisiert den Willen selber; er spricht eigent­lich in Gedanken, aber er spricht vom Willen. Aber während er so spricht vom Willen, also eigentlich den kosmischen Willen materiali­siert, geht ihm aus den Tiefen seiner Seele herauf in sein Bewußtsein die Hinneigung zum Orient. Er schwärmt geradezu für alles, was Indertum ist. Ebenso wie wir gesehen haben, daß Hegel mehr objektiv hinweist nach dem Westen, so sehen wir, wie Schopenhauer hinweist nach dem Osten. Im Osten finden wir aber nicht, daß das, was Willens-element ist und was Schopenhauer wirklich fühlt als das eigentliche Element des Ostens, materialisiert und in den Gedanken hereingepreßt, also intellektualisiert wird. Die ganze Form der Darstellung des kos­mischen Willens, der ja dem östlichen Seelenleben zugrunde liegt, ist eine nicht nach dem Intellekt hin erscheinende, es ist eine zum Teil poetische, zum Teil aus der unmittelbaren Anschauung heraus spre­chende Darstellung. Schopenhauer hat das, was der Orient in Bild-form gesagt haben würde, in mitteleuropäischer Art intellektualisiert; aber dasjenige, auf das er hinweist: der kosmische Wille, der ist doch das Element, von dem der Orient her seine Seelenanschauung genom­men hat. Er ist das Element, in dem die orientalische Weltanschauung lebte. Wenn die orientalische Weltanschauung die alldurchdringende Liebe besonders betont, so ist ja das Element der Liebe auch nichts an­deres als ein gewisser Aspekt des kosmischen Willens, nur eben aus dem Intellekt herausgehoben. So daß wir sagen können: Hier wird der Wille spiritualisiert. Wie im Westen der Gedanke materialisiert wird, ist im Osten der Wille spiritualisiert gewesen.

In dem mitteleuropäischen Elemente sehen wir, daß in dem ideali­sierten kosmischen Gedanken, in dem materialisierten kosmischen

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Willen, der aber auch gedankenhaft behandelt wird, diese zwei Welten auch in dieser Weise ineinanderspielen, daß wir in dem Hinweis des Hegelianismus auf die Geheimgesellschaften des Westens etwas haben wie eine tiefe Verwandtschaft des Hegelschen kosmischen Gedanken­systems mit diesem Westen, daß wir in der Hinneigung, in der subjek­tiven Hinneigung Schopenhauers zum Orient etwas haben, was auch etwas wie eine Verwandtschaft Schopenhauers mit der Esoterik des Ostens zum Ausdruck bringt.

Es ist ja merkwürdig, wenn man diese Schopenhauersche Philoso­phie auf sich wirken läßt, wie sie eigentlich in bezug auf das gedank­liche Element etwas Plattes hat; die Schopenhauersche Philosophie ist ja nicht tief, aber sie hat zugleich etwas Trunkenes, etwas Willenhaf­tiges, das in ihr pulst. Schopenhauer wird am anziehendsten und reiz­vollsten dann, wenn er eigentlich flache Gedanken mit seinem Willens-element durchdringt. Da sprüht dann gewissermaßen das Feuer des Willens durch seine Sätze. Dadurch ist er auch für ein im Grunde ge­nommen flaches Zeitalter der Salonphilosoph geworden. Als ein ge­dankenvolles Zeitalter, wie es die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war, vorüberging, als die Menschen gedankenarm wurden, da wurde Schopenhauer der Salonphilosoph. Man brauchte nicht viel zu denken, man konnte aber das Prickelnde des durch die Gedanken pulsierenden Willens auf sich wirken lassen, insbesondere wenn man so etwas wie die «Parerga und Paralipomena» durchnahm, wo dieses Prickeln der Gedanken geradezu mit Raffinement wirkt.

Und so hat man gerade in dem Gegensatze Hegel-Schopenhauer in dem mittleren Gebiete unserer Zivilisationsentwickelung die beiden entgegengesetzten Pole, von denen der eine seine besondere Ausbildung im Westen, der andere seine besondere Ausbildung im Osten erhalten hat. In Mitteleuropa stehen sie bis zu einem Ausgleich sich fördernd nebeneinander und haben in dem unvergleichlichen Freundschaftsbund zwischen Schiller und Goethe einen harmonischen, in dem Nebenein­anderstehen Hegels und Schopenhauers einen disharmonischen Aus­gleich gefunden. Denn Schopenhauer wurde ja Privatdozent an der Universität zu Berlin in derselben Zeit, in der Hegel dort glanzvoll seine Philosophie vertrat. Schopenhauer konnte kaum Zuhörer finden,

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sein Auditorium blieb leer. Und wahrscheinlich, wenn Hegel irgendwie gefragt worden ist über die Schopenhauersche Philosophie - er konnte es sich damals leisten, denn er war ein eindrucksvoller, angesehener Philosoph -, dann hatte er dafür ein Achselzucken. Wenn irgendeiner mehr aus diesem Willenselement heraus sprach und dieses Element des Willens besonders betonte wie Schleiermacher, aber dann neben Hegel noch etwas bedeutete, dann wurde Hegel schon auch ungemütlicher. Und als Schleiermacher aus diesem gedankenlosen Elemente heraus das Christentum erklären wollte und sagte: Das Christentum würde nicht erfaßt in einem gedanklichen Elemente, wenn man die Gedanken des Weltenalls, gewissermaßen die göttlichen Gedanken anders um-faßte, als indem man sich abhängig fühlte von Gott, indem man ein Abhängigkeitsgefühl zum Universum entwickelte -, da erwiderte He­gel: Dann ist der Hund der beste Christ, denn der kennt das Abhängig­keitsgefühl am besten! - So würde selbstverständlich Hegel auch Scho­penhauer heimgeleuchtet haben, wie er Schleiermacher heimgeleuchtet hat, wenn es sich gelohnt hätte. Denn Hegel hat überall zu Paaren ge­trieben jeden, der sich nicht hinaufschwang zum Begreifen der Reali­tät der Gedanken. Für Schopenhauer waren aber die Gedanken gar nichts anderes als die Schaumblasen, die aufstiegen aus den Wellen-schlägen des kosmischen Weltenwillens. Und Schopenhauer, der aller­dings aus der eben gekennzeichneten Lage mehr Veranlassung dazu hatte, er schimpft ja in seinen Werken über Hegel wie ein Wasch­weib.

Wir sehen also, da ist der Gegensatz, der geradezu die Lebensrätsel der Zivilisationsmitte ausmacht, nicht zu einem harmonischen Abschlusse gekommen. Beiden aber, Schopenhauer wie Hegel, fehlt ja eines, es fehlt ihnen das eigentliche Begreifen des Menschen. Hegel lebt in dem kosmischen Gedanken, und es hat etwas, was gerade Hegel unpopulär macht, daß er in diesem kosmischen Gedanken lebt. Denn im allgemeinen lieben es doch die Menschen nicht, sich zu kosmischen Gedanken aufzuschwingen. Sie haben ja ein gewisses Gefühl, dem sie sich aus Bequemlichkeit gerne hingeben, das Gefühl: Warum sollen wir uns die Köpfe zerbrechen mit kosmischen Gedanken? Das tun ja für uns die Götter, oder Gott. - Wenn man ein Evangelischer ist, sagt man:

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Der eine Gott tut das. Wenn sich schon die Götter um die kosmischen Gedanken bemühen, warum sollten wir uns noch besonders bemühen? -Und es hat wirklich das, was in Hegels Gedankenoffenbarungen zu­tage tritt, etwas außerordentlich Unpersönliches. Die Geschichte zum Beispiel, wie sie uns bei Hegel entgegentritt, hat etwas durch und durch Unpersönliches. Da haben wir eigentlich seit dem Beginn der Erden-entwickelung bis zum Ende der Erdenentwickelung den sich entfal­tenden Gedanken.

Wollte man diese Hegeische Geschichtsphilosophie schematisch zeich­nen, so müßte man sagen: Da steigen die Gedanken auf (es wird ge­zeichnet), steigen ab, verfilzen sich gegenseitig und gehen so durch die geschichtliche Entwickelung, und in diesen Gedankenspinnennetzen sind überall die Menschen eingespannt, werden von den Gedanken fortge­rissen. So daß eigentlich für Hegel die geschichtliche Entwickelung diese hinfließenden, sich verfilzenden Gedanken sind, die den Menschen in sich einspannen wie einen Automaten, der da in diesen Spinnennetzen der weltgeschichtlichen Gedanken sich auch mit diesem Gedankensystem entwickeln muß. Für Schopenhauer ist ja der menschliche Gedanke nichts anderes als eine Schaumblase. Er richtet seinen Blick auf den kosmischen Willen, ich möchte sagen, auf dieses kosmische Willens-meer. Der Mensch ist eigentlich nur so ein Reservoir, wo auch ein biß­chen von diesem kosmischen Willen drinnen aufgefangen ist. Die Schopenhauersche Philosophie hat nichts von dieser sich fortent­wickelnden Vernunft oder dem sich fortentwickelnden Gedanken, sondern es ist das ungedankliche, das unrationelle, das unvernünf­tige Willenselement, das fortfließt. Und da tauchen drinnen die Men­schen auf, und in ihnen spiegelt sich, wie wenn es Vernunft wäre, das sich eigentlich fortdauernd entwickelnde Unvernünftige. Für Hegel ist die Welt die Offenbarung weisester Vernunft. Für Scho­penhauer, ja, was ist die Welt für Schopenhauer? Es ist eine merk­würdige Sache, wenn man die Frage beantworten will: Was ist die Welt für Schopenhauer? - Sie trat mir einmal, diese merkwürdige Sache, besonders deutlich vor Augen, als ich einen Aufsatz über Edu­ard von Hartmann schrieb, wo man Schopenhauer berücksichtigen, besprechen muß, weil Eduard von Hartmann ja auf der einen Seite

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von Hegel, auf der anderen Seite von Schopenhauer ausgegangen ist, mehr aber von Schopenhauer. Ich wollte in diesem Aufsatze, der ein rein philosophischer Aufsatz über die Philosophie Eduard von Hart-manns war, andeuten, daß für Schopenhauer die Lösung des Welt-rätsels darinnen bestünde, daß man sagen müßte: Die Welt ist eine große Dummheit Gottes. - Ich habe das geschrieben, weil ich das für wahr hielt. Der Redakteur der Zeitschrift, die in Österreich erschien, antwortete mir, das müsse er herausstreichen, denn es würde ihm das ganze Heft konfisziert, wenn das in einer österreichischen Zeitschrift gedruckt würde; er könne einfach nicht schreiben, die Welt sei eine Dummheit Gottes. Nun, ich habe mich nicht weiter darauf versteift, sondern habe dem Manne, der dazumal der Redakteur dieser «Deut­schen Worte» war, geschrieben: Streichen Sie die «Dummheit Gottes» heraus; aber ich erinnere Sie an einen anderen Fall: Als ich die «Deut­sche Wochenschrift» redigierte, da schrieben Sie zwar nicht, daß die Welt eine Dummheit Gottes, aber daß das österreichische Schulwesen eine Dummheit der Unterrichtsverwaltung ist, und ich habe es stehen lassen. - Allerdings ist mir die Wochenschrift dazumal konfisziert wor­den. Ich wollte den Mann wenigstens daran erinnern, daß ihm etwas Ähnliches passiert ist wie mir, nur mir mit dem lieben Gott, ihm mit dem österreichischen Unterrichtsminister, dem Freiherrn von Gautsch.

Wenn man so hinblickt auf das Wesentlichste des Welträtsels, sieht man so recht wie in Hegel und Schopenhauer die beiden entgegengesetz­ten Pole dastehen, und sie erscheinen tatsächlich in ihrer Größe, in ihrer bewunderungswürdigen Größe. Ich weiß ja allerdings, daß manche Leute es sonderbar finden, daß, wenn jemand ein solcher Hegel-Verehrer ist wie ich, er auch eine solche Zeichnung hinsetzen kann, weil sich man­che Leute nicht vorstellen können, daß gegenüber dem, was man als groß empfindet, man auch den Humor beibehalten kann, weil sich die Leute vorstellen, man müsse unbedingt, wenn man irgend etwas als groß empfindet, immer das lange Gesicht bekommen, das bekannte.

Also die zwei entgegengesetzten Pole stehen da vor uns, die in die­sem Falle nicht wie bei Schiller und Goethe zu einem harmonischen Ausgleich gekommen sind. Und wir werden etwas zur Erklärung dieser Disharmonie finden können, wenn wir sehen, daß für Hegel der

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Mensch eben solch ein im Spinnennetz der Begriffe der Weltgeschichte sich fortentwickelndes Wesen ist, und daß für Schopenhauer eigent­lich der Mensch nichts anderes ist als ein kleines Schäffchen, also ein kleines Gefäß, wo ein Teil des Weltenwillens hineingeschüttet ist, also im Grunde genommen nur ein Ausschnitt aus dem kosmischen Welten-willen. Beide können also nicht auf das eigentliche Individuelle, Per­sönliche des Menschen hinsehen. Aber sie können auch nicht hinsehen auf das eigentliche Wesen dessen, was sie im Kosmos sehen.

Hegel schaut auf den Kosmos und sieht in der Geschichte dieses Spinnennetz von Begriffen. Schopenhauer schaut auf den Kosmos und sieht nicht dieses Spinnennetz von Begriffen - das ist bloß das Spiegelbild für ihn -, aber er sieht dafür das Meer des waltenden Wil­lens, und da wird gewissermaßen abgezapft in diese Gefäße dasjenige, was als Menschen da fortschwimmt in diesem unrationellen, unvernünf­tigen Willensmeer (es wird gezeichnet). Die Menschen werden nur ge-äfft, indem sich in ihnen der unvernünftige Wille spiegelt, als wenn er Vernunft, Vorstellung, Gedanke wäre. Aber wir haben diese zwei Elemente im Kosmos drinnen. Was Hegel sieht, ist schon im Kosmos drinnen. Die Gedanken sind im Kosmos. Hegel und der Westen be­trachten den Kosmos und sehen die Weltgedanken. Schopenhauer und der Osten betrachten den Kosmos und sehen den Weltenwillen. Beides ist drinnen. Und eine in bezug auf den Kosmos dienliche Weltanschau­ung wäre zustande gekommen, wenn das Paradoxon hätte eintreten können, daß das Geschimpfe des Schopenhauer ihn endlich so weit gebracht hätte, daß er aus seiner Haut gefahren wäre, und, trotzdem Hegels Seele in Hegel geblieben wäre, er in Hegel hineingefahren wäre, so daß Schopenhauer in Hegel drinnen gewesen wäre. Dann hätte der den Weitgedanken und den Weltenwillen gesehen, der da aus Schopenhauer und aus Hegel zusammengewachsen wäre! Das ist in der Tat dasjenige, was in der Welt ist: Weltgedanke und Weltenwille. Und sie sind in sehr verschiedenen Gestalten vorhanden.

Was sagt uns nun die wirkliche geisteswissenschaftliche Untersu­chung in bezug auf diese Kosmologie? Sie sagt uns: Blicken wir hinein in die Welt, um die Weltgedanken auf uns wirken zu lassen, was sehen wir? Wir sehen, indem wir die Weltgedanken auf uns wirken lassen,

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die Gedanken der Vorzeit, alles das, was gewirkt hat in der Vorzeit bis zu diesem gegenwärtigen Augenblicke. Das sehen wir, indem wir die Weltgedanken sehen, denn der Weltgedanke erscheint uns in seinem Absterben, wenn wir in die Welt hinausblicken. Daher kommt das Starre, Tote der Naturgesetze, und daß wir fast nur die Mathematik brauchen können, die vom Toten handelt, wenn wir die Natur gesetz­mäßig überschauen wollen. In dem aber, was zu unseren Sinnen spricht, was uns entzückt im Lichte, was wir hören im Ton, in dem, was uns wärmt, in all dem, was an uns sinnlich herantritt, wirkt der Welten­wille. Das ist es, was aus dem toten Element der Weltgedanken aufgeht, und was im Grunde genommen in die Zukunft hinüberweist. Etwas von, ich möchte sagen, Chaotischem, Undifferenziertem hat der Wel­tenwille; aber er lebt im gegenwärtigen Weltenmomente doch als der Keim dessen, was in die Zukunft hinübergeht. Überlassen wir uns aber dem Gedankenelemente der Welt, so haben wir das, was aus der graue­sten Vorzeit in die Gegenwart herüberspielt. Nur im menschlichen Haupte, da ist es anders. Im menschlichen Haupte ist der Gedanke, aber er ist abgesondert von dem äußeren Weltengedanken, und er ist innerhalb der menschlichen Persönlichkeit an ein individuelles Wil­lenselement gebunden, das ja meinetwillen zunächst nur angesehen werden mag wie das in ein kleines Reservoir, in ein Schäffchen abge­zapfte kosmische Willenselement. Aber das, was der Mensch in seiner Intellektualität hat, weist nach rückwärts. Wir haben es im Grunde genommen dem Keime nach entwickelt in dem vorigen Erdenleben. Da war es Wille. Jetzt ist es Gedanke geworden, ist gebunden an un­sere Hauptesorganisation, ist herausgeboren wie ein lebendiges Nach-bild des Kosmos in unserer Hauptesorganisation. Wir verbinden es mit dem Willen, wir verjüngen es in dem Willen. Und indem wir es verjüngen in dem Willen, schicken wir es hinüber in unser nächstes Erdenleben, in unsere nächste Erdeninkarnation.

Dieses Weltenbild, wir müßten es eigentlich noch anders zeichnen. Wir müßten so zeichnen, daß das äußere Kosmische in alten Zeiten besonders reich an Gedankenelementen ist, daß es immer schütterer und schütterer wird, indem wir in die Gegenwart hereinkommen, daß der Gedanke, wie er im Kosmos ist, nach und nach erstirbt. Das Willenselement

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#Bild S. 69a

müssen wir zunächst fein zeichnen. Je weiter wir zurückgehen, desto mehr überwiegt der Gedanke in den Akasha-Bildern; je mehr wir vorwärtsschreiten, wird das Willenselement dichter und immer dich­ter. Wir müßten, wenn wir diese Entwickelung durchblicken würden, auf ein lichtvolles Gedankenelement der grauesten Vorzeit hinschauen, und auf das unvernünftige Willenselement der Zukunft.

#Bild S. 69b

Aber das bleibt nicht so, denn da hinein trägt der Mensch nun die Gedanken, die er in seinem Kopfe bewahrt hat. Die schickt er hinüber in die Zukunft. Und während die kosmischen Gedanken immer mehr und mehr absterben, keimen auf die menschlichen Gedanken; aus ihrem Quellpunkt heraus durchdringen sie in der Zukunft das kosmische Ele­ment des Willens.

#Bild S. 69c

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So ist der Mensch der Bewahrer des kosmischen Gedankens, so trägt der Mensch aus sich heraus den kosmischen Gedanken in die Welt hinaus. Auf dem Umwege durch den Menschen pflanzt sich der kosmische Gedanke von der Urzeit in die Zukunft hinein fort. Der Mensch gehört zu dem, was Kosmos ist. Aber er gehört nicht so dazu, wie ihn etwa der Materialist denkt, daß der Mensch auch so etwas ist, was sich aus dem Kosmos herausentwickelt hat und ein Stück des Kosmos ist, sondern der Mensch gehört auch zu dem schöpferischen Elemente des Kosmos. Er trägt den Gedanken hinüber aus der Ver­gangenheit in die Zukunft.

Sehen Sie, da kommt man in das Konkrete hinein. Wenn man den Menschen wirklich versteht, kommt man hinein in das, was Schopen­hauer und Hegel einseitig gebracht haben. Und Sie sehen daraus, wie auch im philosophischen Elemente auf einer höheren Stufe zusammen­gefaßt werden muß dasjenige, was dreigegliedert ist, wie der Mensch erfaßt werden muß im Kosmos.

Nun, wir werden dann morgen in einer anschaulicheren Weise in diesen Zusammenhang des Menschen mit dem Kosmos hineinblicken. Ich wollte Ihnen heute dieses als eine Einleitung geben, wie gesagt, deren Notwendigkeit schon im weiteren Fortgange wird erkannt wer­den können.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 5. Dezember 1920

Aus den gestrigen Darlegungen wird Ihnen hervorgegangen sein, daß man die Welt einseitig betrachtet, wenn man sie so betrachtet, wie das in besonders hervorragender Weise bei Hegel zum Vorschein kommt, wenn man sie so betrachtet, als ob sie durchzogen wäre von dem, was man den kosmischen Gedanken nennen kann. Ebenso ein­seitig betrachtet man die Welt, wenn man das Grundgefüge willens­artiger Natur denkt. Es ist das die Idee Schopenhauers, die Welt wil­lensartiger Natur zu denken. Wir haben gesehen, daß auch diese be­sondere Neigung, möchte ich sagen, die Welt anzusehen, sie als Ge­dankenwirkung anzusehen, hinweist auf die westliche Menschennatur, die mehr nach der Gedankenseite hin tendiert. Wir haben ja nach­weisen können, wie Hegels Gedankenphilosophie eine andere Gestalt in den westlichen Weltanschauungen hat, und wie in Schopenhauers Empfindungen die Neigung lebt, die eigentlich den Menschen des Orients eigen ist, was sich ja darin zeigt, daß Schopenhauer die be­sondere Vorliebe für den Buddhismus, überhaupt für orientalische Weltanschauung hat.

Nun ist im Grunde genommen jede solche Betrachtungsweise nur zu beurteilen, wenn man sie von jenem Gesichtspunkte aus überschauen kann, den die Geisteswissenschaft gibt. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint allerdings eine solche Zusammenfassung der Welt unter dem Gesichtspunkte des Gedankens oder unter dem Gesichtspunkte des Willens als etwas Abstraktes, und es ist ja insbesondere die neuere Zeit der Menschheitsentwickelung, die, wie wir öfter betont haben, noch zu solchen Abstraktionen neigt. Geisteswissenschaft muß die Menschheit wiederum zurückbringen zu einem konkreten Auffassen, zu einem wirklichkeitsgemäßen Auffassen der Welt. Aber gerade einem solchen wirklichkeitsgemäßen Auffassen der Welt werden die inneren Gründe erscheinen können, warum solche Einseitigkeiten Platz grei­fen. Das, was solche Menschen sehen, wie Hegel, Schopenhauer, die ja immerhin große, bedeutende, geniale Geister sind, das ist natürlich

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durchaus in der Welt vorhanden; es muß nur in der richtigen Weise angeschaut werden.

Wir wollen uns heute zunächst einmal klar werden darüber, daß wir in uns als Menschen den Gedanken erleben. Wenn also der Mensch von seinem Gedankenerlebnis spricht, so hat er dieses Gedankenerleb­nis unmittelbar. Er könnte dieses Gedankenerlebnis natürlich nicht haben, wenn nicht die Welt von Gedanken durchsetzt wäre. Denn wie sollte der Mensch, indem er die Welt sinnlich wahrnimmt, aus seinem sinnlichen Wahrnehmen heraus den Gedanken gewinnen, wenn der Gedanke nicht in der Welt als solcher vorhanden wäre.

Nun ist aber, wie wir ja aus anderen Betrachtungen wissen, die menschliche Hauptesorganisation so gebaut, daß sie eben besonders fähig ist, den Gedanken hereinzunehmen aus der Welt. Sie ist aus den Gedanken heraus geformt, aus den Gedanken heraus gebildet. Die menschliche Hauptesorganisation aber weist uns ja zu gleicher Zeit nach dem vorigen Erdenleben hin. Wir wissen, daß das menschliche Haupt eigentlich das metamorphosische Ergebnis der vorigen Erden-leben ist, während die menschliche Gliedmaßenorganisation auf die künftigen Erdenleben hinweist. Grob gesprochen: Unseren Kopf ha­ben wir dadurch, daß unsere Gliedmaßen aus dem vorhergehenden Er­denleben sich zum Kopf metamorphosiert haben. Unsere Gliedmaßen, wie wir sie jetzt an uns tragen, mit alledem, was zu ihnen gehört, wer­den sich metamorphosieren zu dem Haupte, das wir in dem nächsten Erdenleben an uns tragen werden. In unserem Haupte arbeiten ja ge­genwärtig, vorzugsweise in dem Leben zwischen Geburt und Tod, die Gedanken. Diese Gedanken sind, wie wir auch gesehen haben, zu­gleich die Umgestaltung, die Metamorphose desjenigen, was in un­seren Gliedmaßen in dem vorigen Erdenleben als Wille wirkte. Und dasjenige wiederum, was als Wille wirkt in unseren gegenwärtigen Gliedmaßen, das wird zum Gedanken umgebildet sein in den nächsten Erdenleben.

Wenn Sie das überschauen, können Sie sich sagen: Der Gedanke, er erscheint eigentlich als dasjenige, was in der Menschheitsevolution fortdauernd als Metamorphose aus dem Willen hervorgeht. Der Wille erscheint eigentlich als dasjenige, was gewissermaßen der Keim des

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Gedankens ist. - So daß wir sagen können: Es entwickelt sich der Wille allmählich in den Gedanken hinein. Was zuerst Wille ist, wird später Gedanke. Wenn wir Menschen uns betrachten, so müssen wir, wenn wir uns als Hauptesmenschen ansehen, zurückblicken auf unsere Vor­zeit, indem wir in dieser Vorzeit den Willenscharakter hatten. Wenn wir nach der Zukunft schauen, müssen wir uns gegenwärtig den Wil­lenscharakter in unseren Gliedmaßen zuschreiben und müssen sagen: Das wird in der Zukunft dasjenige, was in unserem Haupte ausgebil­det wird, der Gedankenmensch. Aber wir tragen fortwährend diese beiden in uns. Wir sind gewissermaßen bewirkt aus dem Weltenall da­durch, daß sich in uns der Gedanke aus der Vorzeit mit dem Willen, der in die Zukunft hinein will, zusammenorganisiert.

Nun wird das, was so den Menschen gewissermaßen aus dem Zu­sammenfluß von Gedanke und Wille organisiert, deren Ausdruck dann die äußere Organisation ist, das, was den Menschen gewisser. maßen so durchorganisiert, besonders anschaulich, wenn man es vom Standpunkte geisteswissenschaftlicher Forschung betrachtet.

Derjenige, der sich hinaufentwickeln kann zu den Erkenntnissen der Imagination, der Inspiration, der Intuition, der sieht ja am Menschen nicht bloß den äußerlich sichtbaren Kopf, sondern er sieht objektiv dasjenige, was durch das Haupt Gedankenmensch ist. Er sieht gewisser­maßen auf die Gedanken hin. So daß wir sagen können: Mit denjenigen Fähigkeiten, die dem Menschen als die zunächst normalen zukommen zwischen Geburt und Tod, zeigt sich das Haupt in der Konfiguration, in der es eben einmal da ist. Durch die entwickelte Erkenntnis in Imagina­tion, Inspiration, Intuition wird auch das Gedanklich-Kraftliche, was ja der Hauptesorganisation zugrunde liegt, was von den früheren Inkar­nationen herüberkommt, sichtbar, wenn wir uns dieses Ausdruckes in übertragenem Sinne bedienen. Wie wird es sichtbar? So, daß wir für dieses Sichtbarwerden, für dieses selbstverständlich geistig-seelische Sichtbarwerden nur den Ausdruck brauchen können: es wird wie leuchtend.

Gewiß, wenn die Menschen, die durchaus auf dem Gesichtspunkte des Materialismus stehenbleiben wollen, solche Sachen kritisieren, dann sieht man sogleich, wie stark der gegenwärtigen Menschheit die

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Empfindungsfähigkeit fehlt, um aufzufassen, was mit solchen Dingen eigentlich gemeint ist. Ich habe deutlich genug in meiner «Theosophie» und in anderen Schriften darauf hingewiesen, daß es sich darum han­delt, daß natürlich nicht eine neue physische Welt, gewissermaßen eine neue Auflage der physischen Welt erscheint, wenn in Imagination, In­spiration, Intuition hingeschaut wird auf das, was der Gedankenmensch ist. Aber dieses Erlebnis ist eben durchaus dasselbe, was man der physi­schen Außenwelt gegenüber am Lichte hat. Genau gesprochen müßte man sagen: Der Mensch hat am äußeren Lichte ein gewisses Erlebnis. Dasselbe Erlebnis, das der Mensch durch die sinnliche Anschauung des Lichtes in der äußeren Welt hat, hat er gegenüber dem Gedankenele­mente des Hauptes für die Imagination. So daß man sagen kann: Das Gedankenelement, objektiv geschaut, wird als Licht geschaut, besser gesagt, als Licht erlebt. - Wir leben, indem wir denkende Menschen sind, im Lichte. Das äußere Licht sieht man mit physischen Sinnen; das Licht, das zum Gedanken wird, sieht man nicht, weil man darin­nen lebt, weil man es selber ist als Gedankenmensch. Man kann das­jenige nicht sehen, was man zunächst selber ist. Wenn man heraustritt aus diesen Gedanken, wenn man in die Imagination, Inspiration ein­tritt, dann stellt man sich ihm gegenüber, und dann sieht man das Ge­dankenelement als Licht. So daß wir, wenn wir von der vollständigen Welt reden, sagen können: Wir haben das Licht in uns; nur erscheint es uns da nicht als Licht, weil wir darinnen leben, und weil, indem wir uns des Lichtes bedienen, indem wir das Licht haben, es in uns zum Gedanken wird. - Sie bemächtigen sich gewissermaßen des Lichtes; das Licht, das Ihnen sonst draußen erscheint, das nehmen Sie in sich auf. Sie differenzieren es in sich. Sie arbeiten in ihm. Das ist eben Ihr Denken, das ist ein Handeln im Lichte. Sie sind ein Lichtwesen. Sie wissen nicht, daß Sie ein Lichtwesen sind, weil Sie im Lichte drinnen leben. Aber Ihr Denken, das Sie entfalten, das ist das Leben im Lichte. Und wenn Sie das Denken von außen anschauen, dann sehen Sie durchaus Licht.

Denken Sie sich nun das Weltenall (linke Zeichnung). Sie sehen es -bei Tag natürlich - vom Lichte durchströmt, aber stellen Sie sich vor, Sie sähen dieses Weltenall von außen an. Und jetzt machen wir das

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Umgekehrte. Wir haben soeben das Menschenhaupt gehabt (rechte Zeichnung), das im Inneren den Gedanken in seiner Entwickelung hat, und äußerlich Licht schaut. Im Weltenall haben wir Licht, das sinnlich angeschaut wird. Kommen wir aus dem Weltenall heraus, betrachten wir das Weltenall von außen (Pfeile), als was erscheint es da? Als ein Gefüge von Gedanken! Das Weltenall - innerlich Licht, von außen angesehen Gedanken. Das Menschenhaupt - innerlich Gedanke, von außen gesehen Licht.

# Bild s. 75

Das ist eine Art der Anschauung des Kosmos, die Ihnen ungemein nützlich und aufschlußreich sein kann, wenn Sie sie verwerten wollen, wenn Sie wirklich auf solche Dinge eingehen. Es wird Ihr Denken, Ihr ganzes Seelenleben viel beweglicher werden, als es sonst ist, wenn Sie lernen, sich vorzustellen: Würde ich aus mir herauskommen, wie es ja fortwährend der Fall ist, wenn ich einschlafe, und zurückschauen auf mein Haupt, also auf mich als Gedankenmenschen, so sähe ich mich leuchtend. Würde ich aus der Welt, aus der durchleuchteten Welt her­auskommen, die Welt von außen sehen, so würde ich sie als ein Ge­dankengebilde sehen. Ich würde die Welt als Gedankenwesenheit wahr­nehmen. - Sie sehen, Licht und Gedanke gehören zusammen, Licht und Gedanke sind dasselbe, nur von verschiedenen Seiten gesehen.

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Nun ist aber der Gedanke, der in uns lebt, eigentlich dasjenige, was aus der Vorzeit herüberkommt, was das Reifste in uns ist, das Ergeb­nis früherer Erdenleben. Was früher Wille war, ist Gedanke geworden, und es erscheint der Gedanke als Licht. Daraus werden Sie empfinden können: Wo Licht ist, ist Gedanke, aber wie? Gedanke, in dem eine Welt fortwährend erstirbt. Eine Vorwelt, eine vorzeitige Welt erstirbt im Gedanken, oder anders ausgesprochen, im Lichte. Das ist eines der Weltengeheimnisse. Wir schauen hinaus in das Weltenall. Es ist durch­strömt vom Lichte. Im Lichte lebt der Gedanke. Aber in diesem ge­dankendurchdrungenen Lichte lebt eine ersterbende Welt. Im Lichte erstirbt fortwährend die Welt.

Indem so ein Mensch wie Hegel die Welt betrachtet, betrachtet er eigentlich das fortwährende Ersterben der Welt. Diejenigen Menschen werden ganz besonders Gedankenmenschen, welche zum Sinkenden, Ersterbenden, Sich-Ablähmenden der Welt eine besondere Neigung haben. Und im Ersterben wird die Welt schön. Die Griechen, die inner­lich eigentlich durch und durch von lebendiger Menschenwesenheit waren, nach außen hatten sie ihre Freude, wenn in dem Ersterben der Welt die Schönheit erglänzte. Denn in dem Lichte, in dem die Welt erstirbt, erglänzt die Schönheit der Welt. Die Welt wird nicht schön, wenn sie nicht sterben kann, und indem sie stirbt, leuchtet sie, die Welt. So daß es eigentlich die Schönheit ist, welche aus dem Lichtesglanze der fortwährend ersterbenden Welt erscheint. So betrachtet man das Wel­tenall qualitativ. Die neuere Zeit hat begonnen, mit Galilei, mit den anderen, die Welt quantitativ zu betrachten, und man ist heute beson­ders stolz darauf, wenn man, wie es überall in unseren Wissenschaften geschieht, wo man es nur tun kann, die Naturerscheinungen durch die Mathematik, also durch das Tote begreifen kann. Hegel hat allerdings inhaltsvollere Begriffe verwendet zum Begreifen der Welt, als die mathematischen es sind; aber für ihn war besonders anziehend das Reifgewordene, das Ersterbende. Man möchte sagen: Hegel stand der Welt so gegenüber wie ein Mensch, der einem Baum gegenübersteht, der gerade strotzend von Blütenentfaltung ist. Im Momente, wo die Früchte sich entfalten wollen, aber noch nicht da sind, wo die Blüten zum äußersten gekommen sind, da wirkt in dem Baum die Lichtesgewalt,

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da wirkt in dem Baum dasjenige, was lichtgetragener Gedanke ist. So stand Hegel vor allen Erscheinungen der Welt. Er betrachtete die äußerste Blüte, dasjenige, was sich ganz und gar ins Konkreteste entfaltet.

Schopenhauer stand anders vor der Welt. Wenn wir den Schopen­hauerschen Impetus prüfen wollen, dann müssen wir auf das andere im Menschen schauen, auf dasjenige, was beginnt. Es ist das Willensele­ment, das wir in unseren Gliedmaßen tragen. Ja, das erleben wir ei­gentlich so - ich habe öfter darauf hingewiesen -, wie wir die Welt er­leben im Schlafe. Wir erleben es unbewußt, das Willenselement. Kön­nen wir denn auch dieses Willenselement irgendwie so von außen an­schauen, wie wir den Gedanken von außen anschauen? Nehmen wir den Willen, irgendwie in einem menschlichen Gliede sich entfaltend, und fragen wir uns, wenn wir den Willen nun von der anderen Seite anschauen würden, wenn wir also vom Standpunkte der Imagination, der Inspiration, der Intuition den Willen betrachten: Was ist denn das Parallele im Anschauen gegenüber dem, daß wir den Gedanken als Licht schauen? Wie schauen wir den Willen, wenn wir ihn mit der ent­wickelten Kraft des Anschauens, der Hellsichtigkeit betrachten? Wenn wir den Willen mit der entwickelten Kraft des Anschauens, der Hell­sichtigkeit betrachten, dann wird auch etwas erlebt, was wir äußerlich sehen. Wenn wir den Gedanken mit der Kraft des Hellsehens betrach­ten, wird Licht erlebt, Leuchtendes erlebt. Wenn wir den Willen mit der Kraft des Hellsehens betrachten, so wird er immer dicker und dicker, dieser Wille, und er wird Stoff. Wäre Schopenhauer hellsichtig gewe­sen, so würde dieses Willenswesen als ein Stoffautomat vor ihm gestan­den haben, denn das ist die Außenseite des Willens, der Stoff. Innerlich ist der Stoff Wille, wie das Licht innerlich Gedanke ist. Und äußerlich ist der Wille Stoff, wie der Gedanke äußerlich Licht ist. Deshalb konnte ich auch bei früheren Betrachtungen darauf hinweisen: Wenn der Mensch in seine Willensnatur mystisch hinuntertaucht, so glauben die­jenigen, die eigentlich mit der Mystik nur Faxen treiben, in Wirklich­keit aber nach dem Wohlbefinden, nach dem Erleben des ärgsten Egoismus streben, dann glauben solche In-sich-Hineinschauer, sie wür­den den Geist finden. Aber wenn sie weit genug kämen mit diesem In-sich-Hineinschauen,

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würden sie die wahre stoffliche Natur des Men­scheninneren entdecken. Denn es ist nichts anderes als ein Untertau­chen in den Stoff. Wenn man in die Willensnatur untertaucht, da ent­hüllt sich einem die wahre Natur des Stoffes. Die Naturphilosophen in der Gegenwart phantasieren ja nur, wenn sie sagen, daß der Stoff aus Molekülen und Atomen bestehe. Die wahre Natur des Stoffes fin­det man, wenn man mystisch in sich untertaucht. Da findet man die andere Seite des Willens, und die ist Stoff. Und in diesem Stoff, also in dem Willen enthüllt sich im Grunde genommen dasjenige, was fort­während beginnende, keimende Welt ist.

Sie schauen hinaus in die Welt: Sie sind vom Licht umflossen. In dem Lichte erstirbt eine vorzeitige Welt. Sie treten auf den harten Stoff auf - die Stärke der Welt trägt Sie. In dem Lichte erstrahlt gedanklich die Schönheit. In dem Erglänzen der Schönheit erstirbt die vorzeitige Welt. Die Welt geht auf in ihrer Stärke, in ihrer Kraft, in ihrer Ge­walt, aber auch in ihrer Finsternis. In Finsternis geht sie auf, die zu­künftige Welt, im stofflich-willensartigen Elemente.

Wenn die Physiker einmal ernsthaft reden werden, dann werden sie sich nicht jenen Spekulationen hingeben, in denen heute von den Atomen und Molekülen gefaselt wird, sondern sie werden sagen: Die äußere Welt besteht aus Vergangenheit, und im Inneren trägt sie nicht Moleküle und Atome, sondern Zukunft. Und wenn man einmal sagen wird: Uns erscheint strahlend die Vergangenheit in der Gegenwart, und die Vergangenheit hüllt die Zukunft überall ein -, dann wird man von der Welt richtig reden, denn die Gegenwart ist überall nur das­jenige, was Vergangenheit und Zukunft zusammen wirken. Die Zu­kunft ist dasjenige, was eigentlich in der Stärke des Stoffes liegt. Die Vergangenheit ist dasjenige, was in der Schönheit des Lichtes erglänzt, wobei Licht für alles Sich-Offenbarende gesetzt ist, denn natürlich, auch was im Tone erscheint, was in der Wärme erscheint, ist hier unter dem Lichte gemeint.

Und so kann sich der Mensch nur selber verstehen, wenn er sich auffaßt als Zukunftskern, der umhüllt ist von dem, was ihm von der Vergangenheit herrührt, von der Lichtaura des Gedankens. Man kann sagen: Geistig gesehen ist der Mensch Vergangenheit, wo er in seiner

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Schönheitsaura erstrahlt, aber eingegliedert ist dieser Vergangenheits­aura, was als Finsternis sich beimischt dem Lichte, das aus der Vergan­genheit herüberstrahlt, und was in die Zukunft hinüberträgt. Das Licht ist dasjenige, was aus der Vergangenheit herüberstrahlt, die Finsternis, was in die Zukunft hinüberweist. Das Licht ist gedanklicher Natur, die Finsternis ist willensartiger Natur. Hegel war dem Lichte zuge­neigt, das sich entfaltet in dem Wachstumsprozesse, in den reifsten Blüten. Schopenhauer ist als Weltenbetrachter wie ein Mensch, der vor einem Baume steht und eigentlich keine Freude hat an der Blüten-pracht, sondern der eine innerliche Anstachelung hat, nur zu warten, bis da aus den Blüten überall die Keime für die Früchte hervorsprießen. Das freut ihn, daß da drinnen Wachstumskraft ist, das stachelt ihn an, es wässert sich ihm der Mund, wenn er daran denken kann, daß da aus der Pfirsichblüte die Pfirsiche werden. Er wendet sich von der Lichtnatur dem zu, was ihn von innen ergreift, was sich aus der Licht-natur der Blüte entfaltet als dasjenige, was stofflich auf seiner Zunge zerfließen kann, was sich als Früchte in die Zukunft hinüberentwickelt. Es ist tatsächlich die Zwienatur der Welt, und man betrachtet die Welt nur richtig, wenn man sie in ihrer Zwienatur betrachtet, denn dann kommt man darauf, wie diese Welt konkret ist, während man sie sonst nur in ihrer Abstraktheit betrachtet. Wenn Sie hinausgehen und sehen sich an die Bäume in ihrer Blüte, dann leben Sie eigentlich von der Vergangenheit. Also Sie betrachten die Frühlingsnatur der Welt und Sie können sich sagen: Was Götter in vergangenen Zeiten hinein-gewirkt haben in diese Welt, das offenbart sich in der Blütenpracht des Frühlings. Sie betrachten die fruchtende Welt des Herbstes, und Sie können sagen: Da beginnt eine neue Göttertat, da fällt ab, was aber weiterer Entwickelung fähig ist, was in die Zukunft sich hineinent­wickelt.

So handelt es sich darum, daß man nicht bloß durch Spekulation ein Bild der Welt sich erwirbt, sondern daß man innerlich mit dem ganzen Menschen die Welt ergreift. Man kann tatsächlich in der Pflau­menblüte, ich möchte sagen, die Vergangenheit ergreifen, in der Pflau­me die Zukunft erfühlen. Was einem in die Augen hereinscheint, das hängt innig zusammen mit dem, aus dem man geworden ist aus der

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Vergangenheit heraus. Was einem auf der Zunge im Geschmack zer­schmilzt, das hängt innig zusammen mit demjenigen, aus dem man wiederersteht, wie der Phönix aus seiner Asche, in die Zukunft hinein. Da ergreift man die Welt in Empfindung. Und nach solchem «in Emp­findung die Welt ergreifen» hat eigentlich Goethe getrachtet bei allem, was er in der Welt erschauen, empfinden wollte. Er hat zum Beispiel hingeschaut nach der grünen Pflanzenwelt. Er hatte ja nicht, was man heute als Geisteswissenschaft haben kann, aber indem er die Grünheit der Pflanzenwelt anschaute, hatte er doch in der Grünheit der Pflanze, die noch nicht ganz bis zum Blütenhaften sich entfaltet hatte, dasjenige, was in die Gegenwart hereinragt von dem eigentlich Vergangenen des Pflanzenhaften; denn in der Pflanze erscheint schon die Vergangen­heit in der Blüte; aber, was noch nicht ganz so vergangen ist, das ist die Grünheit des Blattes.

Sieht man die Grünheit der Natur, so ist das gewissermaßen etwas, was noch nicht so weit erstorben ist, was noch nicht so von der Ver­gangenheit ergriffen ist (siehe Zeichnung grün). Das aber, was nach der Zukunft hinweist, ist dasjenige, was aus dem Finstern, aus dem Dunkeln herauskommt. Da, wo das Grün zum Bläulichen abgestuft ist, da ist das, was sich in der Natur als das Zukünftige erweist (blau).

# Bild s. 80

Dagegen da, wo wir gewiesen werden in die Vergangenheit, wo das­jenige liegt, was reift, was die Dinge zum Blühen bringt, da ist die Wärme (rot), wo das Licht sich nicht nur aufhellt, sondern wo es sich innerlich durchdringt mit Kraft, wo es in die Wärme übergeht. Nun müßte man das Ganze eigentlich so zeichnen, daß man sagt: Man hat das Grüne, die Pflanzenwelt - so würde Goethe empfinden, wenn er es auch noch nicht in Geisteswissenschaft oder Geheimwissenschaft umgesetzt hat -, daranknüpfend die Finsternis, wo sich das Grüne

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bläulich abstuft. Das sich Aufhellende, von Wärme Erfüllende aber, das würde sich wiederum anschließen nach der oberen Seite hin. Da steht man aber selbst als Mensch, da hat man als Mensch innerlich das, was man in der grünen Pflanzenwelt äußerlich hat, da ist man innerlich als menschlicher Ätherleib, wie ich oftmals gesagt habe, pfir­sichblütfarbig. Das ist auch die Farbe, die hier erscheint, wenn das Blau in das Rote übergreift. Das ist man aber selber. So daß man ei­gentlich, wenn man in die farbige Welt hinaussieht, sagen kann: Man steht selber in dem Pfirsichblütigen drinnen, hat gegenüber das Grün.

# Bild s. 81

Das bietet sich einem dann objektiv in der Pflanzenwelt dar. Man hat auf der einen Seite das Bläuliche, Finstere, auf der anderen Seite das Helle, Rötlich-Gelbliche. Aber weil man in dem Pfirsichblütigen drinnen ist, weil man da drinnen lebt, kann man das zunächst im ge­wöhnlichen Leben ebensowenig wahrnehmen, wie man den Gedanken als Licht wahrnimmt. Was man erlebt, das nimmt man nicht wahr, des­halb läßt man da das Pfirsichblüt aus und sieht nur auf das Rot hin, das man auf der einen Seite erweitert, und nach dem Blau hin, das man nach der anderen Seite erweitert; und so erscheint einem solch ein Re­genbogenspektrum. Das ist aber nur eine Täuschung. Das wirkliche Spektrum würde man bekommen, wenn man dieses Farbenband kreisförmig

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biegen würde. Man biegt es in der Tat gerade, weil man als Mensch in dem Pfirsichblütigen drinnensteht, und so übersieht man nur von Blau bis zu Rot und von Rot bis zu Blau durch das Grün die farbige Welt. In dem Augenblicke, wo man diesen Aspekt haben würde, würde jeder Regenbogen als Kreis erscheinen, als in sich gebogener Kreis, als Rolle mit Kreisdurchschnitt.

Das letzte habe ich nur erwähnt, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß so etwas wie die Goethesche Naturanschauung durchaus zu gleicher Zeit eine Geistanschauung ist, daß sie dem geistigen An­schauen voll entspricht. Wenn man an Goethe, den Naturforscher, her­antritt, so kann man sagen: Er hat eigentlich noch keine Geisteswissen­schaft, aber er hat die Naturwissenschaft so betrachtet, daß es ganz im Sinne der Geisteswissenschaft ist. Was uns aber heute ganz wesent­lich sein muß, das ist dieses, daß die Welt einschließlich des Menschen ein Durchorganisieren von Gedankenlicht, Lichtgedanken mit Willens-stoff, Stoffwille ist, und daß dasjenige, was uns konkret entgegentritt, in der verschiedensten Weise aufgebaut oder mit Inhalt durchzogen ist aus Gedankenlicht, Lichtgedanken, Stoffwille, Willensstoff.

So muß man qualitativ den Kosmos betrachten, nicht bloß quanti­tativ, dann kommt man mit diesem Kosmos zurecht. Dann gliedert sich aber auch hinein in diesen Kosmos ein fortwährendes Ersterben, ein Ersterben der Vorzeit im Lichte, ein Aufgehen der Zukunft in der Finsternis. Die alten Perser nannten aus ihrem instinktiven Hellsehen heraus das, was sie als die ersterbende Vorzeit im Lichte fühlten, Ahura Mazdao, was sie als die Zukunft im finstern Willen fühlten, Ahriman.

Und nun haben Sie diese zwei Welt-Entitäten, das Licht und die Finsternis: im Lichte den lebenden Gedanken, die ersterbende Vor­zeit; in der Finsternis den entstehenden Willen, die kommende Zukunft. Indem wir so weit kommen, daß wir den Gedanken nicht mehr in sei­ner Abstraktheit bloß betrachten, sondern als Licht, den Willen nicht mehr in seiner Abstraktheit betrachten, sondern als Dunkelheit, ja in seiner materiellen Natur betrachten, indem wir dazu kommen, die Wärmeinhalte zum Beispiel des Lichtspektrums als mit der Vergangen­heit, die Stoffseite, die chemische Seite des Spektrums mit der Zukunft

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zusammenfallend betrachten zu können, gehen wir aus dem bloßen Abstrakten ins Konkrete heraus. Wir sind nicht mehr solche ausge­dörrte, pedantische, bloß mit dem Kopfe arbeitende Denker, wir wis­sen, das, was da in unserem Kopfe drinnen denkt, ist eigentlich das­selbe, was uns als Licht umflutet. Und wir sind nicht mehr solche vor­urteilsvolle Menschen, daß wir an dem Lichte bloß Freude haben, son­dern wir wissen: In dem Lichte ist der Tod, eine ersterbende Welt. Wir können an dem Lichte auch die Weltentragik empfinden. Wir kommen also aus dem Abstrakten, aus dem Gedanklichen in das Flutende der Welt hinein. Und wir sehen in dem, was Finsternis ist, den aufgehenden Teil der Zukunft. Wir finden sogar das darinnen, was solche leiden­schaftliche Naturen wie Schopenhauer aufstachelt. Kurz, wir dringen aus dem Abstrakten ins Konkrete hinein. Weltengebilde entstehen vor uns, statt bloßer Gedanken oder abstrakter Willensimpulse.

Das haben wir heute gesucht. Das nächste Mal werden wir in dem, was sich uns heute merkwürdig konkretisiert hat - der Gedanke zum Licht, der Wille zur Finsternis -, suchen den Ursprung von Gut und von Böse. Wir dringen also von der Innenwelt in den Kosmos hinein und suchen im Kosmos wiederum nicht bloß in einer abstrakten oder reli­giös-abstrakten Welt die Gründe für Gut und Böse, sondern wir wollen sehen, wie wir durchbrechen zu einer Erkenntnis von Gut und Böse, nachdem wir den Anfang damit gemacht haben, daß wir den Gedan­ken in seinem Lichte ergriffen, den Willen in seinem Finsterwerden erfühlt haben. Davon dann das nächste Mal weiter.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 10. Dezember 1920

Es hat sich bei unseren letzten Auseinandersetzungen hier gehandelt um die Möglichkeit, auf der einen Seite im Reiche des Natürlichen dasjenige zu sehen, was in einer gewissen Weise zusammenhängt mit dem Moralischen, mit dem Seelischen, und auf der anderen Seite im Seelischen wiederum zu sehen, was im Natürlichen vorhanden ist. Gerade auf diesem Gebiete steht ja eigentlich die Menschheit der Ge­genwart vor einem, man möchte sagen, beunruhigenden Rätsel. Nicht nur, daß vorliegt, was ich jetzt auch in öffentlichen Vorträgen öfter zur Sprache gebracht habe, daß der Mensch auf der einen Seite, wenn er die Naturgesetze auf das Weltenall anwendet und hinsieht auf die Vergangenheit, sich sagen muß: Hervorgegangen ist alles, was wir in unserer Umgebung haben, aus irgendeinem Urnebelzustande, also et­was rein Materiellem, das sich dann in irgendeiner Weise differenziert, umgestaltet hat, und aus dem die Wesen des mineralischen, des pflanz­lichen, des tierischen Reiches hervorgegangen sind, aus dem auch der Mensch hervorgegangen ist. Dieses wird in einer gewissen Weise, wenn auch in anderer Form als im Anfange, als rein Physisches, auch am Ende des Weltenalls wiederum da sein. Dann aber wird das, was in uns als Moral geboren wird, unsere Ideale, im Grunde genommen ver­klungen und vergessen sein und da sein wird der große Kirchhof des Physischen, und keine Bedeutung wird innerhalb dieses physischen End­zustandes das haben, was als seelische Entwickelung in dem Menschen aufgestiegen ist, weil es ja nur eben eine Art Schaumblase war. Das ein­zige Reale wäre dann dasjenige, was physisch aus einem Urnebel zur stärksten Differenzierung der verschiedenen Wesen sich entwickelt, um dann wiederum zurückzukehren in den allgemeinen schlackenartigen Weltzustand.

Solch eine Anschauung, zu der doch derjenige kommen muß, der in ehrliche Weise, das heißt, daß er ehrlich gegen sich selbst ist, zur na­türlichen Weltanschauung der Gegenwart sich bekennt, solch eine An­schauung kann niemals eine Brücke bauen zwischen dem Physischen

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und dem Moralisch-Seelischen. Daher braucht solch eine Anschauung immer, wenn sie nicht ganz materialistisch sein und eigentlich in den materiellen Vorgängen das einzige der Welt sehen will, immer eine Art gewissermaßen aus der Abstraktion hervorgeholter zweiter Welt, die, wenn man als für die Wissenschaft gegeben nur die erste Welt anerkennt, dann dem Glauben allein gegeben wäre. Und dieser Glaube, der ergeht sich ja darinnen, daß er seinerseits wiederum denkt: Dasjenige, was in der Menschenseele als Gutes ersteht, das kann doch nicht ohne Ausgleich in der Welt bleiben; es muß gewisse Mächte geben, welche - wenn man das auch noch so philosophisch denkt, so kommt es dann auf dasselbe heraus - das Gute belohnen und das Böse bestrafen und so weiter. Es gibt ja durchaus in unserer Zeit Menschen, welche sich zu den beiden Anschauungen bekennen, trotzdem sie ohne Brücke nebeneinander dastehen. Es gibt Menschen, welche auf der einen Seite sich alles dasjenige sagen lassen, was die rein naturwissenschaftliche Weltan­schauung darbietet, die mitgehen mit der Kant-Laplaceschen Theorie vom Urnebel, mitgehen mit alledem, was vorgebracht wird für einen schlackenartigen Endzustand unserer Entwickelung, und die dann auch wiederum sich zu irgendeiner religiösen Weltanschauung bekennen: daß gute Werke irgendwie ihre Belohnung finden, böse Sünder be­straft werden und dergleichen. Es rührt die Tatsache, daß es in un­serer Zeit zahlreiche Menschen gibt, die sowohl das eine wie das andere ihrer Seele darbieten lassen, davon her, daß in unserer Zeit so wenig wirkliche Aktivität der Seelen da ist, denn wenn diese innere Aktivi­tät der Seelen da wäre, so könnte man nicht einfach aus derselben Seele heraus auf der einen Seite eine Weltordnung annehmen, welche ausschließt die Realität des Moralischen, und doch auf der anderen Seite wiederum irgendwelche Mächte annehmen, welche das Gute be­lohnen und das Böse bestrafen.

Vergleichen Sie mit dem, was aus der Denk- und Empfindungsbe­quemlichkeit zahlreicher Menschen der Gegenwart dasteht ohne Brücke, die moralische und die physische Weltanschauung, vergleichen Sie mit dem so etwas, wie ich es das letzte Mal hier auseinandersetzte als ein Ergebnis der Geisteswissenschaft. Ich konnte hinweisen dar­auf, daß wir um uns herum zunächst die Welt der Lichterscheinungen

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erblicken, daß wir also in der äußeren Natur hinschauen auf alles das, was durch dasjenige uns erscheint, was wir als Licht ansprechen. Ich konnte Sie darauf hinweisen, wie man zu sehen hat in alledem, was als Licht ringsherum um uns existiert, das, was sterbende Weltgedanken sind, also Weltgedanken, die einstmals in urferner Vergangenheit Ge­dankenwelten bestimmter Wesenheiten waren, Gedankenwelten, aus denen heraus dazumal Weltwesenheiten erkannt haben ihre damaligen Weltengeheimnisse. Was dazumal Gedanken waren, das leuchtet uns heute entgegen, indem es gewissermaßen Gedankenleiche ist, eben Welt-gedanke ist, der stirbt: das leuchtet uns entgegen als Licht. - Sie brau­chen nur meine «Geheimwissenschaft im Umriß» aufzuschlagen und die entsprechenden Seiten zu lesen, um zu wissen, daß, indem wir in ur­ferne Vergangenheiten zurückblicken, der Mensch so, wie wir ihn heute als Wesen auffassen, nicht vorhanden war. Es war ja nur eine Art Sin­nesautomat zum Beispiel während der Saturnzeit vorhanden von dem Menschen. Sie wissen aber auch, daß dazumal das Weltenall bewohnt war, wie es jetzt auch ist. Aber dazumal eben haben andere Wesen, die dieses Weltenall bewohnten, den Rang innerhalb dieses Welten-alles eingenommen, den heute der Mensch einnimmt. Wir wissen ja, daß diejenigen Geister, die wir Archai nennen oder Urbeginne, daß diese Wesenheiten während der alten Saturnzeit auf der Menschheits­stufe gestanden haben. Sie waren Menschen nicht so, wie die Menschen heute sind, aber sie standen auf der Menschheitsstufe. Bei einer ganz anderen Konstitution standen sie eben doch auf der Menschheitsstufe. Erzengel standen auf der Menschheitsstufe während der alten Sonnen-zeit und so weiter.

Wir blicken also zurück in urferne Vergangenheiten und sagen uns: Wie wir jetzt als denkende Wesen durch die Welt gehen, so gin­gen diese Wesenheiten dazumal als denkende Wesen mit dem Mensch­heitscharakter durch die Welt. Was in ihnen dazumal gelebt hat, ist aber äußerer Weltengedanke geworden. Und das, was in ihnen da­zumal gedanklich gelebt hat, so daß es von außen nur zu sehen gewe­sen wäre als ihre Lichtaura, das wird dann im Weltenumkreis gesehen, erscheint in den Lichttatsachen, so daß wir in den Lichttatsachen ster­bende Gedankenwelten zu sehen haben. In diese Lichttatsachen spielt

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ja nun hinein die Finsternis, und gegenüber dem Lichte lebt sich aller­dings in der Finsternis dasjenige aus, was seelisch-geistig der Wille genannt werden kann, was auch mit einer mehr orientalischen Wen­dung der Sache die Liebe genannt werden kann. So daß, wenn wir in die Welt hinaussehen, wir auf der einen Seite die Leuchtewelt sehen, wenn ich so sagen darf; aber wir würden diese Leuchtewelt, die ja den Sinnen immer durchsichtig wäre, nicht sehen, wenn sich nicht in ihr die Finsternis wahrnehmbar machte. Und in dem, was als Finsternis nun die Welt durchdringt, haben wir auf der ersten Stufe des Seelischen das zu suchen, was in uns als Wille lebt. So wie die Welt draußen als ein Zusammenklang angesehen werden kann von Finsternis und Licht, so kann auch unser eigenes Inneres, insoweit es im Raume zunächst sich ausbreitet, als Licht und Finsternis angesehen werden. Nur für unser eigenes Bewußtsein ist das Licht Gedanke, Vorstellung, die Fin­sternis in uns Wille, wird zur Güte, zur Liebe und so weiter.

Sie sehen, da bekommen wir eine Weltanschauung, in der nicht das, was in der Seele ist, nur seelisch ist, und das, was draußen in der Na­tur ist, nur natürlich ist, da bekommen wir eine Weltanschauung, inner­halb welcher das, was draußen in der Natur ist, das Ergebnis ist frü­herer moralischer Vorgänge, wo das Licht sterbende Gedankenwelten sind. Daraus aber ergibt sich auch für uns: Wenn wir unsere Gedan­ken in uns tragen, so sind diese zunächst ja auch, indem sie als Ge­danken in uns leben, der Kraft nach ausgelöst von unserer Vorzeit. Aber wir durchdringen fortwährend von unserem übrigen Organismus aus die Gedanken mit dem Willen. Denn gerade das, was wir reinste Gedanken nennen, sind Reste aus alter Vergangenheit, durchdrungen vom Willen. So daß auch das reine Denken - ich habe das in der Neu­auflage meiner «Philosophie der Freiheit» sehr energisch ausgespro­chen - vom Willen durchzogen ist. Das aber, was wir da in uns tragen, das geht in ferne Zukünfte hinüber, und in fernen Zukünften wird das, was jetzt in uns als erster Keim veranlagt ist, in den äußeren Erschei­nungen leuchten. Es werden dann Wesen sein, welche so in die Welt hinausblicken, wie wir jetzt von der Erde in die Welt hinausblicken, und diese Wesen werden sagen: Uns erglänzt um uns herum eine Natur. Warum erglänzt sie uns so, wie sie uns erglänzt? Weil auf der Erde in

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einer bestimmten Weise von Menschen Taten vollbracht worden sind, denn das, was wir jetzt um uns herum erblicken, das ist das Ergebnis desjenigen, was die Erdenmenschen in sich als Keim getragen haben. -Wir stehen jetzt da, blicken in die äußere Natur hinaus. Wir können dastehen wie trockene, nüchterne Abstraktlinge, können, so wie die Physiker es tun, das Licht und seine Erscheinungen analysieren: wir werden diese Erscheiiiungen innerlich kalt als Laboratoriumsmenschen analysieren; dadurch wird manches sehr Schöne, Geistreiche heraus­kommen, aber wir stehen dann nicht als Vollmenschen der äußeren Welt gegenüber. Wir stehen nur als Volimenschen der äußeren Welt gegenüber, wenn wir empfinden können das, was uns in der Morgen­röte, was uns im blauen Himmelsfirmament, was uns in der grünen Pflanze erscheint, wenn wir empfinden können das, was wir in der plätschernden Welle wahrnehmen - denn es bezieht sich ja das Licht nicht nur auf das durch das Auge wahrnehmbare Licht, sondern ich gebrauche den Ausdruck Licht hier für alle Sinneswahrnehmungen. In dem, was wir da um uns herum wahrnehmen, was sehen wir da? Wir sehen eine Welt, die allerdings unsere Seele erheben kann, die in einer gewissen Weise für unsere Seele sich als die offenbart, die wir haben müssen, damit wir überhaupt in eine sinnvolle Welt sinnvoll hinausblicken können. Wir stehen nicht als Vollmensch da, wenn wir dieser Welt bloß gegenüberstehen so, daß wir sie trocken als Physiker analysieren. Wir stehen als Vollmensch dieser Welt erst gegenüber, wenn wir uns sagen: Das, was da leuchtet, was da tönt, das ist im letz­ten Abnehmen dasjenige, was vor langen Zeiten in urferner Vergan­genheit Wesen in ihren Seelen ausgebildet haben; denen müssen wir dankbar sein. - Wir blicken dann nicht hinaus wie trockene Physiker in die Welt, wir blicken hinaus mit Dankesgefühlen gegenüber denjenigen Wesenheiten, die so und so viele Jahrmillionen, sagen wir, während der alten Saturnzeit so gelebt haben als Menschen, wie wir heute als Men­schen leben, und die so gedacht und empfunden haben, daß wir heute die herrliche Welt um uns herum haben. Das ist ein bedeutsames Er­gebnis einer wirklichkeitsgesättigten Weltanschauung, indem sie uns dazu führt, in die Welt nicht nur hinauszusehen als trockener Nüchter­ling, sondern voller Dankbarkeit für diejenigen Wesen, die in grauester

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Vergangenheit durch ihr Denken, durch ihre Taten bewirkt haben, was für uns in unserem Umkreise die uns erhebende Welt ist. Man stelle sich das nur mit der nötigen Intensität vor, man erfülle sich mit dieser Vorstellung des Verpflichtetseins zum Danke für die urfernen Vor-menschen, darum, weil sie uns unsere Umgebung gemacht haben. Man erfülle sich mit diesem Gedanken, und man bringe es dann noch über die Seele, sich zu sagen: Wir müssen unsere Gedanken und Empfin­dungen in der entsprechenden Weise einrichten, in einer Weise, die uns als moralisches Ideal vorschwebt, damit diejenigen Wesen, die nach uns kommen, auf eine Umwelt sehen können, für die sie uns ebenso dankbar sein müssen, wie wir dankbar sein können unseren ur­fernen Vorfahren, die jetzt im buchstäblichen Sinne in bezug auf ihre Wirkungen als Leuchtegeister uns umgeben. Wir sehen heute eine leuch­tende Welt; sie war vor Jahrmillionen eine moralische Welt. Wir tra­gen in uns eine moralische Welt; sie wird nach Jahrmillionen eine Leuchtewelt sein.

Sehen Sie, zu dieser Weltempfindung führt eine vollwertige Welt­anschauung. Eine nicht vollwertige Weltanschauung, sie führt zwar zu allerlei Ideen und Begriffen, zu allerlei Theorien über die Welt, aber sie füllt den vollen Menschen nicht aus, denn sie läßt seine Emp­findung leer. Dies hat allerdings seine recht praktische Seite, obwohl der heutige Mensch die Praxis davon noch kaum einsieht. Aber der­jenige, der es mit der heutigen Welt ehrlich meint, der weiß, daß er sie nicht in den Niedergang hineinfahren lassen darf; der möchte hin-blicken auf eine Schule und Hochschule der Zukunft, wo die Menschen nicht um acht Uhr morgens hineingehen mit einem gewissen lässig gleichgültigen Gefühl, und um elf oder zwölf oder ein Uhr heraus­kommen mit demselben lässig gleichgültigen Gefühl, höchstens mit einem kleinen Stolz darüber, daß sie wieder einmal so und so viel ge­scheiter geworden sind - nehmen wir an, sie seien es geworden. Nein, man kann den Blick lenken in eine Zukunftsperspektive, in welcher diejenigen, die da herausgehen um elf oder zwölf oder ein Uhr, zu gleicher Zeit mit ins Universelle hinausgehenden Gefühlen gegenüber der Welt die Lehrstätten verlassen, indem in ihre Seelen gepflanzt wird neben der Gescheitheit das Gefühl gegenüber der werdenden Welt,

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das Dankbarkeitsgefühl gegenüber der urfernen Vergangenheit, in der Wesen gewirkt haben, die unsere uns umgebende Natur so gestaltet haben, wie sie ist, und das Gefühl der großen Verantwortlichkeit, die wir haben, weil unsere moralischen Impulse in uns später scheinende Welten werden. Es bleibt selbstverständlich ein Glaube, wenn man den Leuten sagen will: Real ist der Urnebel, real ist die Zukunfts­schlacke, dazwischen machen sich Wesen moralische Illusionen, die als Schaum in ihnen aufsteigen. Das letztere sagt dann der Glaube nicht; er müßte es sagen, wenn er ehrlich wäre. Ist es nicht etwas we­sentlich anderes, wenn der Mensch sich sagt: Ja, dasjenige, was Vergeltung ist, das gibt es, denn die Natur ist selber so angelegt, daß diese Vergeltung eintritt: deine Gedanken werden scheinendes Licht. Es of­fenbart sich die moralische Weltordnung. Das, was zu der einen Zeit moralische Weltordnung ist, ist zu der anderen Zeit physische Welt­ordnung, und was in irgendeiner Zeit physische Weltordnung ist, war in einer anderen Zeit moralische Weltordnung. Alles Moralische ist dafür bestimmt, ins Physische herauszutreten. Braucht der Mensch, der die Natur geistig ansieht, noch extra einen Beweis für eine mo­ralische Weltordnung? Nein, in der geistig durchschauten Natur liegt selber die Rechtfertigung der moralischen Weltordnung. Zu diesem Bilde steigt man auf, wenn man eben den Menschen, ich möchte sa­gen, in seinem Vollmenschentum betrachtet.

Gehen wir aus von einer Erscheinung, durch die wir alle jeden Tag hindurchgehen. Wir wissen, Einschlafen und Aufwachen beruhen darauf, daß der Mensch in seinem Ich und seinem astralischen Leibe sich loslöst von dem physischen Leib und dem Ätherleib. Was bedeutet denn das eigentlich mit Bezug auf den Kosmos? Stellen wir uns vor physischen Leib, Ätherleib, astralischen Leib und Ich miteinander für das Wachen verbunden. Nun stellen wir sie uns für das Schlafen ge­trennt vor: Was ist nun der, ich möchte sagen, kosmische Unterschied zwischen beiden? Sehen Sie, wenn Sie auf den Schlafzustand sehen, dann erleben Sie in diesem Schlafzustande das Licht. Dadurch, daß Sie das Licht erleben, erleben Sie die sterbende Gedankenwelt der Vor­zeit. Und indem Sie gewissermaßen erleben die sterbende Gedanken­welt der Vorzeit, werden Sie geneigt, eine Empfänglichkeit zu haben,

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das Geistige, wie es in die Zukunft hinein sich erstreckt, wahrzuneh­men. Daß der Mensch heute nur eine dumpfe Wahrnehmung davon hat, das ändert ja nichts an der Sache. Das, was uns jetzt wesentlich ist, das ist, daß wir in diesem Zustande empfänglich sind für das Licht.

Wenn wir nun untertauchen in den Leib, da werden wir jetzt inner­lich seelisch - wenn ich sage innerlich seelisch, so bedeutet das, daß wir eben Seelen sind und keine Waagen -, seelisch werden wir empfäng­lich, indem wir in den Leib untertauchen, im Gegensatz zum Lichte für die Finsternis. Aber dieser Gegensatz zum Lichte für die Finster­nis, der ist nicht ein bloßes Negatives, sondern wir werden für etwas anderes empfänglich. So wie wir im Schlafen empfänglich waren für das Licht, so werden wir im Aufwachen empfänglich für die Schwere. Ich sagte, wir sind keine Waage; wir werden nicht empfänglich für die Schwere, indem wir unsere Körper abwiegen, aber indem wir in unsere Körper untertauchen, werden wir innerlich seelisch empfäng­lich für die Schwere. Wundern Sie sich nicht, daß das zunächst etwas Unbestimmtes hat, wenn es ausgesprochen wird. Für das eigentliche seelische Erleben ist das gewöhnliche Bewußtsein ebenso schlafend im Wachen, wie es schlafend ist im Schlafe. Im Schlafe nimmt der Mensch im heutigen normalen Bewußtsein nicht wahr, wie es im Lichte lebt. Im Wachen nimmt er nicht wahr, wie er in der Schwere lebt. Aber so ist es: das Grunderlebnis des schlafenden Menschen ist das Leben im Lichte. Er ist im Schlafe seelisch nicht empfänglich für das Schwere, für die Tatsache der Schwere. Die Schwere ist gewissermaßen von ihm genommen. Er lebt in dem leichten Lichte. Er weiß nichts von der Schwere. Er lernt die Schwere erkennen erst innerlich, zunächst unter­bewußt. Aber der Imagination ergibt sich das sogleich: er lernt die Schwere erkennen, indem er in seinen Leib untertaucht.

Das zeigt sich für das geisteswissenschaftliche Forschen in der fol­genden Weise. Wenn Sie zur Erkenntnisstufe der Imagination sich hin­auferhoben haben, dann können Sie den Ätherleib einer Pflanze beob­achten. Sie werden, wenn Sie den Ätherleib einer Pflanze beobachten, das innere Erlebnis haben: Dieser Ätherleib der Pflanze, der zieht Sie fortwährend hinauf, der ist schwerelos. Wenn Sie dagegen den Äther-leib eines Menschen betrachten, so hat der Schwere, auch für die imaginative

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Vorstellung. Sie haben einfach das Gefühl: er ist schwer. Und von da aus kommt man dann dazu, zu erkennen, daß zum Beispiel der Ätherleib des Menschen etwas ist, was, wenn die Seele darinnen ist, dieser Seele die Schwere überträgt. Aber es ist ein übersinnliches Ur-phänomen. Schlafend lebt die Seele im Lichte, lebt daher in Leichtig­keit. Wachend lebt die Seele in der Schwere. Der Leib ist schwer. Diese Kraft überträgt sich auf die Seele. Die Seele lebt in der Schwere. Das bedeutet etwas, was nun sich ins Bewußtsein überträgt. Denken Sie an den Moment des Aufwachens, worin besteht er? Wenn Sie schla­fend sind - Sie liegen im Bette, Sie rühren sich nicht, der Wille ist ab-gelähmt. Allerdings, es sind auch die Vorstellungen abgelähmt, aber die Vorstellungen sind auch nur deshalb abgelähmt, weil der Wille abge­lähmt ist, weil der Wille nicht in Ihren eigenen Leib schießt, nicht sich der Sinne bedient, deshalb sind die Vorstellungen abgelähmt. Die Grundtatsache ist die Ablähmung des Willens. Wodurch wird der Wille regsam? Dadurch, daß die Seele Schwere fühlt durch den Leib. Dieses Zusammenleben mit der Seele, das gibt im irdischen Menschen die Tat­sache des Willens. Und das Aufhören des Willens vom Menschen sel­ber, es tritt ein, wenn der Mensch im Lichte ist.

Damit haben Sie die zwei kosmischen Kräfte, Licht und Schwere, als die großen Gegensätze im Kosmos hingestellt. In der Tat, Licht und Schwere sind kosmische Gegensätze. Wenn Sie sich den Planeten vorstellen: die Schwere zieht zum Mittelpunkte, das Licht weist vom Mittelpunkte hinweg in das Weltenall hinaus (Pfeile). Man denkt sich das Licht nur ruhend. In Wahrheit ist es vom Planeten hinausweisend. Wer die Schwere eben als eine Kraft denkt der Anziehung, also new­tonisch, der denkt ja eigentlich ziemlich stark materialistisch, denn er denkt sich, daß eigentlich so irgend etwas von einem Dämon oder dergleichen da drinnen in der Erde sitzt, mit einem Strick, den man allerdings nicht sieht, und der zieht den Stein an. Man spricht ja von einer Anziehungskraft, die wohl niemand jemals woanders nachwei­sen kann als in der Vorstellung. Aber man spricht von dieser Anzie­hungskraft. Nun, versinnlichen mögen sich ja die Leute diese Sache nicht, aber sie mögen also newtonisch von der Anziehungskraft spre­chen. In der westlichen Kultur wird das einmal so sein, daß dasjenige,

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was da überhaupt da ist, in irgendeiner Weise sinnlich vorgestellt sein muß. Also einer könnte den Leuten sagen: Nun, ihr mögt die Anzie­hungskraft vorstellen so, wie einen unsichtbaren Strick; dann aber müßt ihr wenigstens das Licht vorstellen wie solch ein Abschwingen, wie ein Abschleudern. Man müßte das Licht dann als eine Abschleuder­kraft vorstellen. Für denjenigen, der mehr in der Realität stehenbleiben will, für den genügt es, wenn er einfach den Gegensatz, den kosmischen Gegensatz von Licht und Schwere einsehen kann.

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Und nun, sehen Sie, auf dem, was ich jetzt sagte, beruht vielerlei gerade mit Bezug auf den Menschen. Wenn wir auf das alltägliche Ereignis des Einschlafens und Aufwachens gesehen haben, so sagen wir:

Beim Einschlafen begibt sich der Mensch aus dem Felde der Schwere heraus in das Feld des Lichtes. Indem er in dem Felde des Lichtes lebt, bekommt er, wenn er lange genug ohne Schwere gelebt hat, wiederum eine lebhafte Sehnsucht, von der Schwere sich umfangen zu lassen, und er kehrt zu der Schwere wiederum zurück, er wacht auf. Es ist ein

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fortwährendes Oszillieren zwischen Leben im Lichte und Leben in der Schwere, Aufwachen und Einschlafen. Wenn jemand seine Empfin­dungsfähigkeiten feiner entwickelt, so wird er unmittelbar als ein per­sönliches Erlebnis dieses empfinden können, das gewissermaßen Auf­steigen aus der Schwere in das Licht, und das wiederum In-Anspruch­genommen-Werden von der Schwere beim Aufwachen.

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Aber jetzt stellen Sie sich doch etwas anderes vor, jetzt stellen Sie sich vor, der Mensch ist als Wesen zwischen Geburt und Tod an die Erde gebunden. Er ist dadurch an die Erde gebunden, daß in diesem Zustande zwischen Geburt und Tod seine Seele, wenn sie eine Zeit­lang im Lichte gelebt hat, immer wiederum den Hunger nach der Schwere bekommt, zurückkehrt in den Zustand der Schwere. Wenn -wir werden davon noch weiter sprechen - ein Zustand eingetreten ist, durch den dieser Hunger nach Schwere nicht mehr da ist, dann wird der Mensch immer mehr und mehr dem Lichte folgen. Das tut er bis zu einer gewissen Grenze (siehe Zeichnung, rot). Er folgt bis zu einer gewissen Grenze dem Lichte, und wenn er an der äußersten Peripherie

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des Weltenalls angekommen ist, dann hat er verbraucht, was ihm die Schwere gegeben hat zwischen Geburt und Tod, dann beginnt eine neue Sehnsucht nach der Schwere, und er tritt seinen Weg wiederum zurück an (siehe Zeichnung, weiß) zu einer neuen Verkörperung. So daß also auch in jener Zwischenzeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, um die Mitternachtsstunde des Daseins, eine Art Hun­ger nach der Schwere auftaucht. Das ist zunächst der allgemeinste Be­griff für das, was der Mensch erlebt als Sehnsucht, zu einem neuen Erdenleben zurückzukehren. Nun aber, während der Mensch zu einem neuen Erdenleben zurückkehrt, wird er durchzugehen haben durch die Sphäre der benachbarten, der anderen Himmelskörper. Die wirken auf ihn in der verschiedensten Weise, und das Resultat dieser Wirkun­gen bringt er sich dann, indem er durch die Empfängnis in dieses phy­sische Leben eintritt, in dieses physische Leben mit. Daraus ersehen Sie, daß es schon eine Bedeutung hat, danach zu fragen: Wie stehen die Sterne in den Sphären, durch die der Mensch zurückschreitet? - Denn je nachdem der Mensch seine Sternensphäre durchschreitet, formt sich in verschiedener Weise seine Sehnsucht nach der Erdenschwere. Nicht nur die Erde strahlt gewissermaßen eine bestimmte Schwere aus, nach der sich der Mensch wieder zurücksehnt, sondern auch die anderen Himmelskörper, deren Sphäre er durchschreitet, indem er gegen ein neues Leben sich hinbewegt, sie wirken auf ihn mit ihrer Schwere. So daß der Mensch, indem er zurückkehrt, allerdings in verschiedene La­gen kommen kann, die es rechtfertigen, daß man zum Beispiel folgen­des ausspricht: Der auf die Erde zurückkehrende Mensch sehnt sich wiederum danach, zu leben in der Erdenschwere. Aber er passiert zu­nächst die Sphäre des Jupiter. Jupiter strahlt auch eine Schwere aus, aber eine solche, welche geeignet ist, der Sehnsucht nach der Erden-schwere ein gewisses Freudiges hinzuzustimmen. Es wird also nicht nur die Sehnsucht nach der Erdenschwere in der Seele leben, sondern diese Sehnsucht wird eine freudige Stimmungsnuance empfangen. Der Mensch passiert die Sphäre des Mars. Er sehnt sich nach der Erden­schwere. Eine freudige Stimmung ist bereits in ihm. Mars wirkt auch mit seiner Schwere auf ihn, pflanzt ein, impft ein gewissermaßen der nach der Erdenschwere sich freudig sehnenden Seele die Aktivität, in

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diese Erdeuschwere sich hineinzubegeben, um das nächste physische Leben zwischen Geburt und Tod kraftvoll zu benutzen. Jetzt ist die Seele schon so weit, daß sie in ihren unterbewußten Tiefen den Impuls hat, deutlich sich zu sehnen nach der Erdenschwere und die irdische Inkarnation kraftvoll zu benützen, so daß die sich sehnende Freude, die freudige Sehnsucht mit Intensität zum Ausdrucke kommt. Der Mensch passiert noch die Sphäre der Venus. Es mischt sich diesem nach Kraft tendierenden freudigen Sehnen ein liebevolles Erfassen der Lebensauf­gaben bei.

Sie sehen, wir sprechen von verschiedenen Schweren, die von Wel­tenkörpern ausgehen, und bringen sie in Zusammenhang mit dem, was in der Seele leben kann. Wir suchen wiederum, indem wir in den Wel­tenraum hinausblicken, das räumlich-physisch Ausgebreitete zu gleicher Zeit moralisch anzusprechen. Wenn wir wissen, daß in der Schwere Willenhaftes lebt und wenn wir auf der anderen Seite wissen, daß dem Willen das Licht entgegengesetzt ist, dürfen wir sagen: Vom Mars strahlt Licht zurück, von Jupiter strahlt Licht zurück, von der Venus strahlt Licht zurück; in den Schwerekräften lebt zu gleicher Zeit die Modifikation durch das Licht. Wir wissen, im Lichte leben sterbende Weltgedanken, in den Schwerekräften leben werdende Welten durch Willenskeime. Das alles durchstrahlt die Seelen, indem sie durch den Raum sich bewegen. Wir betrachten die Welt physisch, wir betrachten sie zu gleicher Zeit moralisch. Es ist ein Physisches und ein Moralisches nicht nebeneinander vorhanden, sondern nur in seiner Beschränktheit ist der Mensch geneigt, zu sagen: Auf der einen Seite ist das Physische, auf der anderen Seite das Moralische. - Nein, das sind nur verschiedene Anblicke, das ist in sich einheitlich. Die Welt, die sich zum Lichte hin entwickelt, entwickelt sich zu gleicher Zeit zur Vergeltung, zur sich offenbarenden Vergeltung hin. Sinnvolle Weltenordnung offenbart sich aus der natürlichen Weltenordnung heraus.

Man muß sich klar sein darüber, daß man zu einer solchen Weltan­schauung nicht durch eine philosophische Interpretation kommt, son­dern daß man hineinwächst, indem man allmählich lernt, durch Gei­steswissenschaft die physischen Begriffe zu vergeistigen; dadurch mo­ralisiert sie sich von selber. Und wenn man lernt, hindurch zusehen

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durch die Welt des Physischen in die Welt, in welcher das Physische aufgehört hat und das Geistige vorhanden ist, so erkennt man: da ist das Moralische darinnen.

Sehen Sie, es könnten wirklich aus gewissen Vorstellungen Men­schen heute schon darauf kommen - ich will das jetzt nur zum Schlusse Ihnen vorführen, obwohl es außerhalb der Denkweise der meisten von Ihnen liegt -, ich möchte sagen, ganz gelehrt sich das vor die Seele zu führen, was ich eben gesagt habe. Sie haben also diese Linie, die keine Ellipse ist, sondern die sich von der Ellipse dadurch unterschei­det, daß sie hier mehr ausgebogen ist (Zeichnung links) - am Bau sehen Sie häufig diese Linie -, die Ellipse wäre ja etwa so (punktiert). Das ist aber nur eine spezielle Gestalt dieser Linie; diese Linie kann nämlich auch, wenn man die mathematische Gleichung verändert, diese Form annehmen (Lemniskate). Das ist dieselbe Linie wie die andere. Das eine Mal fahre ich so herum und schließe hier; nun, unter gewissen Voraus­setzungen fahre ich aber nicht so hinauf bis zum obersten, sondern so

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herum und kehre dann wiederum zurück und schließe unten. Aber dieselbe Linie hat noch eine andere Form. Da muß ich, wenn ich hier anfange, auch hier nur scheinbar schließen; jetzt muß ich aus der Ebene heraus, aus dem Raum heraus, muß hier herüber, komme hier wiederum zurück. Jetzt muß ich wiederum aus dem Raum heraus, muß sie hier fortsetzen, die Linie, und schließe sie unten. Es ist nur die Linie etwas modifiziert. Das sind nicht zwei Linien, das ist nur eine Linie, es hat auch nur eine mathematische Gleichung; das ist eine einzige Linie, nur

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daß ich aus dem Raume herausgehe. Wenn man diese Vorstellung fort­setzt, so ist nämlich noch das andere möglich: ich kann einfach diese Linie nehmen Diese Vorstellung muß man durchaus entwickeln - von der ande­ren Seite des Raumes. Dann kommt man zu der Vorstellung des wirk­lich Übersinnlichen, dann kommt man vor allen Dingen aber zur Vor­stellung des Moralischen in seiner Realität. Das Moralische in seiner Realität kann von der heutigen Weltanschauung so schwer vorgestellt werden, weil die Leute durchaus alles, was sie vorstellen wollen, im Raume vorstellen wollen, nach Maß, Gewicht und Zahl bestimmen wollen, während in der Tat die Wirklichkeit an jedem Punkte, möchte ich sagen, des Raumes über den Raum hinausgeht und wiederum zum Raum zurückkehrt. Es gibt Leute, die stellen sich ein Sonnensystem vor, im Sonnensystem Kometen, da sagen sie: Der Komet erscheint, dann macht er eine riesige lange Ellipse durch und dann kommt er nach langer Zeit wieder. - Das ist für viele Kometen nicht wahr. Das ist so, daß Kometen erscheinen, sie gehen hinaus, zerstieben hier, hören auf, bilden sich aber von der anderen Seite wiederum, bilden sich von hier wiederum und kommen von daher zurück, beschreiben überhaupt Linien, die gar nicht zurückkehren. Warum? Weil die Kometen aus

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dem Raume hinausgehen und an einer ganz anderen Stelle wieder­kommen. Das ist durchaus im Kosmos möglich, daß irgendwie aus dem Raume hinaus die Kometen zerstieben und an einer anderen Stelle im Raum wiederkommen.

Ich werde Sie in der Fortsetzung dieser Betrachtungen morgen nicht etwa weiter quälen mit den Vorstellungen, die ich Ihnen in den letzten zehn Minuten vorgeführt habe, weil ich weiß, daß sie dem Vorstel­lungskreis einer großen Anzahl von Ihnen ferne liegen würden. Aber ich muß doch manchmal darauf hinweisen, daß diese Geisteswissenschaft, wie sie hier gepflegt wird, rechnen könnte mit den allerausgebildetsten wissenschaftlichen Vorstellungen, wenn dazu die Gelegenheit vorhan­den wäre, wenn mit anderen Worten die Möglichkeit vorhanden wäre, dasjenige, was heute geistlos betrieben wird, namentlich in den soge­nannten exakten Wissenschaften, mit Geist wirklich zu durchdringen. Diese Möglichkeit ist leider nicht vorhanden; insbesondere die Dinge wie die Mathematik und so weiter werden heute zumeist in der geistlo­sesten Weise betrieben. Und daher ist schon einmal Geisteswissenschaft, wie ich neulich beim öffentlichen Vortrag in Basel auch betonte, vor­läufig darauf angewiesen - was ihr viele zum Vorwurf machen, die nun gelehrt sein wollen - vor gebildeten Laien sich geltend zu machen. Würden die Gelehrten nicht so faul sein gegenüber geistigen Betrach­tungen, so hätte Geisteswissenschaft nicht nötig, sich bloß vor gebilde­ten Laien geltend zu machen, denn sie kann mit den höchsten wissen­schaftlichen Vorstellungen rechnen und rechnet bis zu diesen höchsten wissenschaftlichen Vorstellungen auch mit voller Exaktheit, weil sie sich ihrer Verantwortlichkeit bewußt ist.

Allerdings, die Wissenschafter, die benehmen sich ja diesen Dingen gegenüber in einer höchst eigentümlichen Weise. Sehen Sie, da ist ein gelehrter Herr - ich habe neulich schon im öffentlichen Vortrag auf mhn aufmerksam gemacht -, der hat offenbar gehört, daß hier in Dorn-ach Hochschulkurse gehalten worden sind. Vorher hat er nämlich et­was von der Waldorfschule gehört und hat, wie es scheint, in den «Waldorf-Nachrichten» meine Eröffnungsrede für die Waldorfschule und noch einen anderen Aufsatz gelesen. In der Eröffnungsrede habe ich aus dem Zusammenhange heraus einen Pädagogen genannt, der für

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vieles ein Gesinnungsgenosse jenes Gelehrten ist. Bei solch einer Gele­genheit werden die Herren, die so oftmals der Anthroposophie vor­werfen, sie könnte zu Suggestion oder Autosuggestion führen, gleich hypnotisiert, weil sie hören: Da wurde einer erwähnt, der ist ein wis­senschaftlicher Gesinnungsgenosse von mir. - Da wurde denn der Herr ganz aufmerksam. Nun wurde es ihm offenbar schwül von alledem, was an den Dornacher Hochschulkursen geleistet wurde. Deshalb konnte er sich doch nicht entwehren, folgendes zu schreiben: «Auf den Hochschulkursen der Anthroposophen in Dornach bei Basel, die im Herbst d. J. stattgefunden haben, ist die Hoffnung ausgesprochen wor­den, daß von hier aus große, starke Ideen eine neue Entwicklung un­seres Volkes einleiten und ihm neues Leben einhauchen würden. Wer die ethischen Grundlagen dieser Bewegung auf ihren wahren Wert prüft, kann diese Hoffnung nicht teilen, falls nicht diese Grundlagen einer kritischen Prüfung unterworfen werden, wozu die vorstehenden Zeilen Veranlassung geben wollen.»

Nun, warum sind diese «vorstehenden Zeilen» eigentlich geschrie­ben? Also die Hochschulkurse, ihre ethische Grundlage muß geprüft, einer Kritik unterzogen werden, denn die müssen irgend etwas zu tun haben, mit dem, was nun solch ein Herr zu deklamieren hat, was er nennt den moralischen Tiefstand, denn er beginnt seinen Aufsatz, den er überschrieben hat «Ethische Irrlehre»: «In Zeiten eines moralischen Tiefstandes, wie ihn das deutsche Volk wohl noch nicht erlebt hat, ist es doppelt not, die großen Landmarken der Moral, wie sie von Kant und Herbart aufgerichtet worden sind, zu verteidigen und sie nicht zu Gunsten relativistischer Neigungen verrücken zu lassen. Das Wort des Freiherrn von Stein, daß ein Volk nur stark bleiben kann durch die Tugenden, durch welche es groß geworden ist, lebendig zu halten, muß heute zu den ersten Aufgaben inmitten der Auflösung aller mora­lischer Begriffe gerechnet werden.»

Nun datiert der Mann die Auflösung der moralischen Begriffe seit dem Kriege und findet eines sehr bemerkenswert: «Daß an dieser Auf­lösung eine Schrift des Führers der Anthroposophen in Deutschland, des Dr. Rudolf Steiner, beteiligt ist, muß besonders beklagt werden, da man den idealistischen Grundzug dieser Bewegung, die auf eine

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starke Verinnerlichung des Einzelmenschen hinzielt» - das hat er näm­lich aus ein paar Aufsätzen der «Waldorfnachrichten» entnommen -, «nicht leugnen, und in seinem Plan der Dreigliederung des sozialen Körpers, der in Nr.222 des besprochen wurde, gesunde, das Volkswohl fördernde Gedanken finden kann. Aber in der Schrift (Berlin 1918) überspannt er seine individua­listische Einstellung in einer Weise, die zur Auflösung der sozialen Ge­meinschaft führen und deshalb bekämpft werden muß.»

Also Sie werden sehen: 1918 ist aus dem moralischen Tiefstand, der sich aus dem Krieg ergeben hat, die «Philosophie der Freiheit» ge­schrieben worden! Der gute Mann hat selbstverständlich jahrzehnte­lang, als die «Philosophie der Freiheit» da war, sich nicht darum ge­kümmert, nur die letzte Auflage, nämlich 1918, gelesen, so genau, daß er nicht entnahm, wie alt dieses Buch ist, daß es ganz gewiß aus der Zeit stammt, in der er davon geredet hat, wie herrlich weit wir es ge­bracht haben, zu welcher Klärung, wo er noch lange nicht von mora­lischem Tiefstand gesprochen hat: Nun also! So weit ist die Gewissen­haftigkeit dieser Jugendbildner. Der Mann ist nicht nur Professor für Philosophie, sondern vor allen Dingen Pädagoge. Er hat also nicht bloß an Universitäten zu unterrichten, sondern Kinder pädagogisch zu erziehen. Und er ist selber so gut erzogen, daß er die Schrift als 1918 geschrieben empfindet, die «Philosophie der Freiheit». Daher ist es ihm auch ein Leichtes, über den Zweck dieser Schrift zu berichten. Be­denken Sie doch die Situation: 1893 erscheint die «Philosophie der Freiheit». Die Ideen entstehen also damals. Wenn man also annimmt, daß damals die «Philosophie der Freiheit» erschienen ist, welchen Sinn haben dann die folgenden Worte, die geradezu die Kulmination des ganzen Aufsatzes bilden: «Diese freien Menschen des Dr. Steiner sind aber bereits keine Menschen mehr. Sie sind in die Welt der Engel schon auf Erden eingetreten. Die Anthroposophie hat ihnen dazu verholfen.»

Nun bitte ich Sie: 1893 erscheint die «Philosophie der Freiheit», veröffentlicht mit der Absicht, für die Menschen eine Ethik zu liefern, zu der ihnen die Anthroposophie verhilft: «Müßte es nicht eine unsag­bare Wohltat mitten in den mannigfachen Wirrnissen des Erdenlebens sein, sich in solche Umgebung versetzen zu lassen? Angenommen, daß

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es einer kleinen Schar gelingt, alles Menschliche von sich abzustreifen und in ein reineres Dasein einzugehen, in dem volles Ausleben den wahrhaft Freien jenseits von Gut und Böse erlaubt ist - was bleibt für die breite Masse des Volkes, die mit den materiellen Nöten und Sorgen des Lebens aufs engste verflochten ist, übrig?»

Sie sehen also, die Sache wird so dargestellt, als ob die «Philosophie der Freiheit» erschienen wäre in Berlin 1918, und die Anthroposophie dazu da wäre, um jene Menschen, die in der «Philosophie der Freiheit» dargestellt sind, auszubilden!

Mit dieser Gewissenhaftigkeit schreiben unsere Gelehrten heute über die Dinge. Es ist dieselbe Gewissenhaftigkeit, mit der ein Doktor der Theologie schreibt, daß hier eine neun Meter hohe Christus-Statue fa­briziert würde, oben mit luziferischen Zügen und unten mit tierischen Merkmalen, wogegen die Tatsache steht, daß jene Christus-Statue oben ein rein menschliches ideales Gesicht hat und unten noch ein Holz­klotz ist, nämlich überhaupt noch nicht da ist. Das wird nicht nur so beschrieben, als ob es ihm von irgend jemand mitgeteilt worden wäre, diesem Doktor der Theologie, sondern so schreibt er, als ob er diese Tatsache konstatiert hätte, wie wenn er selber dagewesen ware. Da wird man eben erinnert an jene Anekdote, die ich in Basel im Vor-trage öffentlich erwähnt habe, wie jemand konstatiert, abends, wenn er nach Hause kommt, ob er nüchtern oder betrunken ist: Man legt sich ins Bett und einen Zylinder vor sich auf die Bettdecke; sieht man ihn einfach, ist man nüchtern, sieht man ihn doppelt, so ist man betrun­ken. Man muß mindestens in jenem Zustande sein, wenn man dasje­nige, was hier als Christus-Statue gemacht wird, so sieht, wie es jener Doktor der Theologie gesehen hat.

Aber man kann, abgesehen von diesen Angriffen, in diesem Falle doch die Frage aufwerfen: Was sind das für Theologen? Was sind das für Christen? Was sind das für Jugendbildner, die solch eine Beziehung zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit haben, und wie muß eine Wissen­schaft aussehen, die mit einem solchen Gefühl für Wahrheit und Wahr­haftigkeit versehen ist? Solche Wissenschaft wird aber heute eigent­lich von den meisten Menschen auf Lehrkanzeln und in Büchern ver­treten, von solcher Wissenschaft lebt die Menschheit.

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Unter allen anderen Aufgaben, die sie hat, hat Geisteswissenschaft auch die Aufgabe, unsere geistige Atmosphäre zu reinigen von jenen Dünsten der Unwahrhaftigkeit, der Verlogenheit, die nicht etwa bloß im äußeren Leben herrscht, die heute bewiesen werden kann bis in die Tiefe der einzelnen Wissenschaften hinein. Und wiederum von diesen Tiefen geht dann dasjenige aus, was im sozialen Leben so verheerend wirkt. Der Mut muß aufgebracht werden, um in diese Dinge mit dem richtigen Lichte hineinzuleuchten. Dazu ist aber allerdings notwen­dig, daß man sich erst erwärmen kann für eine Weltanschauung, die nun wirklich die Brücke schlägt zwischen der moralischen Weltord­nung und der physischen Weltordnung, indem die leuchtende Sonne zugleich angesehen werden kann wie die Konzentration untergehender Gedankenwelten, und dasjenige, was aus den Tiefen der Erde her­aufsprudelt, zugleich angesehen werden kann als die Vorbereitung des­sen, was in die Zukunft hinüberlebt, keimhaft, willensmäßig, die Welt willensmäßig durchdringend. Davon wollen wir dann morgen wei­terreden.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 11. Dezember 1920

Wir wollen heute auf einiges hindeuten, das den moralischen Men­schen als solchen betrachtet, um dann morgen zu zeigen, wie dasjenige, was man ansprechen kann im Menschen als das Seelisch-Moralische, hinüberführt in den Makrokosmos. Es handelt sich darum, daß man zuletzt zwei menschliche Eigenschaften in der richtigen Weise wertet, wenn man zu einer durchgreifenden Beurteilung des Menschen als eines moralisch-seelischen Wesens kommen will.

Der Mensch ist ja gewissermaßen eingeschaltet zwischen zwei Ex­tremen, zwischen zwei polarischen Gegensätzen. Sie kommen ihm zum Bewußtsein, diese Gegensätze, als die Ordnung der Natur und die Ordnung der sittlichen Welt. Wir haben darauf hingewiesen, wie aus jener Weltanschauung, die in den letzten Jahrhunderten heraufgekom­men und immer populärer und populärer geworden ist, eine Brücke nicht gebaut werden kann zwischen der Naturordnung und der mo­ralischen Ordnung im Weltenall. Zwei Eigenschaften des Menschen wird man vor allen Dingen ins Auge fassen müssen, wenn man über-haupt sich den Lebens- und Weltenrätseln nähern will, die zusammen­hängen mit diesen polarischen Gegensätzen der Natur und, sagen wir, des Geistes oder eben auch der moralischen Weltenordnung. Der Natur ist der Mensch zweifellos hingegeben; er ist gewissermaßen in Abhän­gigkeit von der Naturordnung mit Bezug auf sein Seelisches, also auch sein moralisches Wesen. Er ist aber auch darauf angewiesen, wenn er sich als wirklicher Mensch fühlen will, sich aus der bloßen Naturord­nung herauszuheben, sich zu fühlen als in einer Weltenordnung ste­hend, die nicht in der Natur aufgeht, und man wird eigentlich nur auf geisteswissenschaftlichem Wege zu einer klaren Anschauung kommen können über das, was hier zugrunde liegt. Deuten wir zunächst hin auf eine, ich möchte sagen, durchgreifend irrtümliche Anschauung, die den Menschen zu einer Lösung entsprechender Rätsel, die hier verborgen liegen, nicht kommen läßt. Es wird aus alter Tradition heraus von den Menschen geglaubt, daß man einfach zum Verständnis der eigenen

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menschlichen Wesenheit kommen könne, indem man den Zusammen­hang des Geistig-Seelischen mit dem Leiblich-Physischen im Menschen in irgendeiner Weise gegenwärtig, wenn ich so sagen darf, suchen kann. Man stellt sich vor, da sei das leibliche Wesen des Menschen, und in diesem leiblich-physischen Menschenwesen sei das Geistig-Seelische ir­gendwie darinnen. Und nun sucht man nach dem Zusammenhange. Es

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ist viel gesucht worden nach diesem Zusammenhange, und ein großer Teil des philosophischen Strebens der Menschheit ist eigentlich darauf aus, diese Frage zu lösen: Welcher Zusammenhang ist zwischen dem Geistig-Seelischen und dem Physisch-Leiblichen?

Sie wissen ja, in der Geisteswissenschaft erscheinen die meisten Fra­gen, die man so populär aufwirft, auf eine ganz andere Art. In der Geisteswissenschaft müssen schon die Fragestellungen anders gefaßt werden, als sie oftmals in trivialer Weise heute noch gefaßt werden. Es sind ja insbesondere im 19. Jahrhundert, auch theoretisch, ganz be­sonders stark Anschauungen heraufgekommen, und es hat sich die Idee festgesetzt, daß man ein Seelisch-Geistiges neben dem Leiblich-Phy­sichen gar nicht finden könne, und daß man das Geistig-Seelische wie eine Art Ergebnis des Leiblich-Physischen ansehen könne. Diese An­schauung hatte für diejenigen Menschen, die mit den großen Ergeb­nissen der naturwissenschaftlichen Forschungen bekannt wurden, et­was außerordentlich Bestechendes. Man braucht ja nur sich zu erin­nern, wie der Mensch eigentlich abhängig ist in seinem Leben zwischen der Geburt und dem Tode von seinen physischen Vorgängen, von seiner ganzen physischen Organisation. Immer wieder wurde von den ma­terialistisch Denkenden darauf hingewiesen, wie ja in demselben Maße,

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in dem der äußere Leib sich entwickelt von den ersten Tagen der Kind­heit an, mit dem Heranwachsen des äußeren Leibes sich auch die gei­stig-seelischen Fähigkeiten entwickeln, wie der Mensch, wenn er in be-zug auf Leiblich-Physisches nicht entsprechend gepflegt wird, auch geistig-seelisch zurückbleibt. Es wurde darauf hingewiesen, wie dann beim Menschen im Alter, wenn das Leiblich-Physische in die Dekadenz kommt, auch die geistig-seelischen Fähigkeiten wiederum im Nieder-gange sind. Es wurde darauf hingewiesen, wie der Mensch, wenn er irgendwelchen Verletzungen unterliegt, auch in seinem Geistig-Seeli­schen Abnormitäten zeigt, so daß der Mensch abhängig ist von der Art und Weise, wie sein Physisch-Leibliches eben beschaffen ist. Es wurde darauf hingewiesen, wie der Mensch gewisse Gifte zu sich nimmt, die ja nur eine gewissermaßen chemische Wirkung in ihm hervorrufen können, und er dennoch dadurch in gewisse Zustände geistiger Abnor­mität hineingetrieben werden kann, wie hervorgerufen werden können geistig-seelische Lähmungszustände durch physische Substanzen, die dem Leib zugefügt werden, und dergleichen mehr. Es wurde also ge­zeigt, wie dasjenige, was man, ich möchte sagen, in aller Handgreif­lichkeit in der äußeren physischen Forschung vor sich haben kann, bezeugt, daß im Grunde genommen das Geistig-Seelische nur eine Funktion sei des Physisch-Leiblichen. Ja, es konnten diejenigen For­scher, die ihre Gesinnung besonders an solchen Erscheinungen entwik­kelten, auch auf, ich möchte sagen, mehr minuziöse Tatsachen dieser Art hinweisen. Eine solche Erscheinung wie diese, daß Entartungen der Schilddrüse auf die geistig-seelischen Fähigkeiten einen Einfluß ausüben, hat zum Beispiel Forscher wie Gley dazu gebracht, zu sagen, die höchsten Fähigkeiten des Menschen, die geistig-seelischen, seien schließlich von jenen chemischen Vorgängen abhängig, die sich in der Schilddrüse abspielen. Alle diese Dinge hatten ja etwas Bestechendes aus der ganzen Art und Weise, wie sich wissenschaftliche Denkungs-art in der neueren Zeit entwickelt hat. Und eigentlich kann man nicht anders sagen, als daß, indem immer mehr Menschen hineinwuchsen in diese wissenschaftliche Denkungsweise, die Begriffe von dem Gei­stig-Seelischen immer mehr und mehr zurückgedrängt wurden; das Geistig-Seelische wurde immer mehr als etwas angesehen, was keine

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selbständige Bedeutung hat. Und es bildete sich sozusagen mit aller Intensität ein Gegensatz heraus in unserer Bevölkerung der zivilisier­ten Erdengebiete: auf der einen Seite stehen diejenigen, die mehr oder weniger angesteckt sind von dem, was die naturwissenschaftliche Den­kungsweise der neueren Zeit gibt, die es als einen großen Fortschritt für ihre geistige Entwickelung betrachten, wenn sie von einer solchen überhaupt sprechen wollen, einen Hinweis auf ein selbständig Geistig­Seelisches abzulehnen. Und auf der anderen Seite steht derjenige Teil der Bevölkerung, welcher fortleben will in alten Religionsbekenntnis­sen, in alten Vorstellungen von dem Geistig-Seelischen, von einer mo­ralisch-göttlichen Weltenordnung, der aber eigentlich bei seinen An­schauungen, die aus alten Zeiten überliefert sind, nur dadurch bleiben kann, daß er sich fernhält von denjenigen Anschauungen, welche die naturwissenschaftliche Denkweise gebracht hat.

So haben wir auf der einen Seite eine zahlreiche Bevölkerung, die von den anderen wie die Zurückgebliebenen angesehen werden, wie Menschen, die eben nichts wissen von dem Gesetze der natürlichen Ordnung, und die deshalb bei den alten religiösen Vorstellungen blei­ben können. Allerdings hat sich immer mehr und mehr in der letzteren Zeit noch etwas anderes ergeben. Jene, ich möchte sagen, faszinierende Überzeugungskraft, die für einen großen Teil der Menschheit die na­turwissenschaftlichen Vorstellungen in der Mitte oder auch noch im Anfange des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts hatte, diese faszinie­rende Überzeugungskraft hat allmählich abgenommen. Sie hat sogar bei vielen wissenschaftlich Denkenden abgenommen, und man ist duld­samer geworden gegen das, was man früher so aufgefaßt hat, daß es sich eben noch erhält bei den zurückgebliebenen unwissenden Men­schen, daß es aber verschwinden müsse. Diese letztere Erscheinung, die ist aber eigentlich nur zurückzuführen auf die allgemeine Schläfrig­keit der modernen Seelen. Denn im Grunde genommen ist es unmög­lich, auf der einen Seite die allmächtige Naturordnung zu haben und auf der anderen Seite eine irgendwie reale sittlich-geistige Weltenord­nung. So wie die Naturordnung einmal angesehen wird in der neueren Zeit, verträgt sie sich nicht mit einer moralischen Weltordnung, und nur wenn man nicht schlagkräftig denkt, kann man die heutige Naturanschauung

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irgendwie neben das stellen, was aus alten Traditionen heraus in den verschiedenen Bekenntnissen vorhanden ist. Konsequent sind im Grunde genommen nur diejenigen Menschen gewesen, die etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts, auch in den fünfziger, sechziger Jahren, mit aller Entschiedenheit darauf hingewiesen haben, daß der Mensch ein physisch-leibliches Wesen ist, daß aus den Vorgängen sei­ner physisch-leiblichen Organisation die Erscheinungen des geistig-see­lischen Lebens sich ergeben, und daß man allmählich ausrotten müsse, was dieser Anschauung entgegensteht. Und ich habe ja auch einmal in einem öffentlichen Vortrag in Basel und an anderen Orten darauf auf­merksam gemacht, daß es Leute gegeben hat, die mit aller Strenge ver­treten haben, daß man die Berechtigung einer moralischen Weltan­schauung ablehnen müssen und daß im Grunde genommen ein Verbre­cher ebenso ein Recht habe, sich auszuleben, wie derjenige, der in soge­nannten moralischen Vorstellungen lebt.

Das sind die konsequenten Leute auf der einen Seite gewesen. Auf dieser Konsequenz konnte man nicht mutvoll stehenbleiben. Man wur­de lässig, schläfrig, und da ergab sich eben dasjenige, was ich jetzt cha­rakterisiert habe. Konsequent sind allerdings auch die anderen, die etwa so vorgehen, wie die mehr jesuitisch Gesinnten in der katholischen Kir­che, welche sagen: Weg mit aller Wissenschaft, die irgendwie etwas anderes als äußerliche Tatsachen erforschen will -, die den Menschen den Glauben an eine geistig-seelische Weltenordnung einbleuen und das durch alle mögliche äußere Gewalt festhalten wollen. Beide Dinge lassen sich gegenüber der Weiterentwickelung der Menschheit ganz ge­wiß nicht halten.

Aber es läßt sich auch das nicht halten, was nur aus unklaren, kon­fusen Begriffen heraufgekommen ist aus alten Zeiten. Es läßt sich vor allen Dingen nicht halten, daß man den Menschen vorstellt als eine leiblich-physische Wesenheit mit einem Seelischen darinnen, und daß man darnach sucht, wie dieses Geistig-Seelische im Zusammenhange steht mit dem Leiblich-Physischen, indem man dabei nur auf die Ge­genwart sieht. Ohne daß man nämlich seine Betrachtungsweise aus­dehnt über die Zeit, ohne daß man die Zeit zu Hilfe ruft, um den Men­schen zu verstehen, kommt man nicht weiter. Dieses Schema für die

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menschliche Wesenheit ist ein ganz unmögliches Schema. Einzig und allein durch die folgenden Vorstellungen können sich klare Begriffe ergeben, die dann, wie wir sehen werden, weiterführen, um die Brücke zu bauen zwischen der moralischen Weltanschauung und der physi­schen Weltanschauung.

Da wissen wir, daß der Mensch, bevor er zum physisch-irdischen Erdendasein kommt, in einer geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt lebt. Nehmen wir diese Linie an als die Zeit cha­rakterisierend (Pfeil), so haben wir ein geistig-seelisches Leben zwischen

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dem Tod und einer neuen Geburt, das eben in der Zeitenströ­mung läuft. Nun bildet sich im Zusammenhange mit denjenigen Tat­sachen, die ich gestern versuchte auseinanderzusetzen, innerhalb dieser geistig-seelischen Wesenheit des Menschen im Laufe der Zeit, in wel­cher sich der Mensch entwickelt ohne physische Leiblichkeit, durch die Vorgänge der geistigen Welt in dem Menschen vor allen Dingen dasjenige heraus, was man nennen kann die Begierde nach physischer Leiblichkeit. Dieses Sich-Fortentwickeln, das wird allmählich Begierde nach physischer Leiblichkeit (rot). Und wenn man den Metamorphose­gedanken richtig erfaßt, dann kommt man darauf, daß die Sache so ist: Diese Begierde fließt tatsächlich über in die physische Leiblich­keit (blau), so daß, wenn wir dem Kinde gegenübertreten, wir sagen müssen: Was uns im Kinde erscheint, das ist die Erfüllung der Begierde nach physischer Leiblichkeit, welche das Seelisch-Geistige hatte, bevor es zum physischen Dasein gekommen ist. - Wir sollen nicht gewisser­maßen eine Zweiheit sehen in dem Physisch-Leiblichen und in dem Gei­stig-Seelischen. Wir sollen in dem Physisch-Leiblichen nicht bloß etwas sehen, in das gewissermaßen das Geistig-Seelische hineinschlüpft, sondern

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wir sollen in dem Physisch-Leiblichen etwas sehen, in das sich das Geistig-Seelische tatsächlich verwandelt.

Da gibt es natürlich für die moderne wissenschaftliche Denkweise bedeutsame Schwierigkeiten. Denn diese moderne naturwissenschaft­liche Denkungsart, die bleibt am Allernächstliegenden haften, die sieht, wie die Keimesanlage des Menschen sich im Mutterleibe entwickelt, gibt sich dem Glauben hin, daß dieser Mensch einfach aus dem Mutter-leibe nach der Befruchtung herauswächst, weil der Mutterleib die Kräfte enthält, die den Menschenkeim wachsen machen. Aber so ist es ja nicht. Solch eine Erklärungsweise sieht eben nur auf das Allernächste. Der Mensch ist ja ein Wesen, welches dasteht in der Welt im Zusam­menhange mit dem ganzen Kosmos, welches in fortwährender Wech­selwirkung steht mit dem gesamten Kosmos. Was würden Sie sagen, wenn jemand behaupten wollte: Ein gewisses Luftquantum, das Sie in einem gewissen Zeitpunkte in sich haben, sei aus Ihrem Leibe her-ausgewachsen! Es ist nicht aus Ihrem Leibe herausgewachsen, Sie haben es eingeatmet, Sie haben es dadurch in sich, daß Sie mit der gesamten Umwelt ein Ganzes bilden. Nur weil man nicht äußerlich sieht, wie der ganze Makrokosmos mitwirkt, wenn der Menschenkeim im Mut­terleibe sich entwickelt, nur weil man nicht sieht, daß da ebenso die Einwirkungen von außen geschehen, daß da erst recht der Mensch mit dem gesamten Makrokosmos in Verbindung ist, glaubt man, der Menschenkeim wachse einfach im mütterlichen Leibe aus den Kräf­ten des mütterlichen Leibes selbst heraus. Dieser Menschenkeim kommt eigentlich eindeutig aus der geistigen Welt. Er benützt nur denjeni­gen Ort, in dem er gewissermaßen das Tor findet, um in die phy­sische Welt hereinzukommen. Es ist innerhalb dessen, was sich um uns herum im Raume ausbreitet, nirgends ein Tor für den Menschen, der die Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durchlebt hat, um in die physische Welt hereinzukommen. Es ist nur innerhalb des Menschenleibes selbst dieses Tor. Und was da kraftet, was da wirkt, das sind nicht die Kräfte von Vater und Mutter, sondern das sind kos­mische Kräfte, die eben durch den mütterlichen Leib nach der Be­fruchtung ihren Zugang zur physischen Welt suchen, nach der sie als geistig-seelisches Wesen eine Begierde entwickelt haben.

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So verwandelt sich der Mensch in ein physisches Wesen; aber dieses physische Wesen ist nur die äußere Form für ein Geistiges. Wir sehen das Kind, wie es zunächst, ich möchte sagen, undifferenzierte Züge hat, wie immer mehr und mehr sich aus ihm herausentwickelt die Men­schengestalt. Und wir tun unrecht, wenn wir sagen: Da in dem Kinde drinnen, da ist etwas, was sich herausentwickelt. Wir tun recht, wenn wir von dem Kinde aus den Blick zurückwenden zu dem, was vorge­burtlich, was vor der Empfängnis tätig war, und was jetzt noch nach-wirkt, was jetzt seine Wirkung äußert. In dem, was wir am Kinde beobachten von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr, sehen wir das Hereinwirken eines Vergangenen, das der Mensch gei­stig-seelisch durchgemacht hat vor seiner Geburt oder vor seiner Emp­fängnis. Wir tun nur recht, wenn wir das Kind so betrachten, daß wir sagen: Da ist die kindliche Organisation. Wir sehen, wie das Kind ge­wisse Eigenschaften entwickelt. Die suchen wir nicht in seinem Inne­ren, wo sie gewissermaßen herausstrahlen, sondern die suchen wir in seiner Vorzeit, von der noch die Strahlen hereinwirken. - Daß man das nicht will, das ist das große Unglück der modernen Weltanschau­ung. Die Zeit zu Hilfe nehmen, dasjenige, was vergangen ist, noch wirksam zu denken in seinem Gegenwärtigen, das ist es, worauf es an-kommt. Und indem wir dann das Leben weiterentwickeln in der Zeit (blau, rechts), wandeln wir wiederum zurück, was leiblich-physisch

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ist, und wir kommen allmählich dazu, wiederum umzuwandeln das Leiblich-Physische in das Geistig-Seelische (rot, rechts). Indem wir physische Menschen geworden sind, hat sich in der Tat das Geistig­Seelische in das Physisch-Leibliche verwandelt, und wir verwandeln

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das Physisch-Leibliche wiederum in das Geistig-Seelische zurück. Sie werden sagen: Ja, da liegt aber doch eine Schwierigkeit vor! - Man würde schon verstehen, wie sich das Physisch-Leibliche wiederum zurückverwandelt in das Geistig-Seelische, wenn das so allmählich ge­schähe, wenn man sehen würde, daß der Mensch, sagen wir, vielleicht mit seinem fünfunddreißigsten Jahre ganz physisch geworden ist, dann aber anfangen würde, nach und nach wiederum geistig zu werden, und wenn er am Ende seines Lebens eben schon so geistig geworden wäre, daß der Tod nur ein allmählicher Übergang in das Geistig-Seelische wäre. Innerlich ist das auch der Fall, nur äußerlich nicht - der Schein trügt dabei. Es ist so, daß wir eigentlich in der absteigenden Lebens-hälfte - die etwas älteren Leute, die hier sitzen, mögen mir diese Wahr­heit nicht gar zu übel anrechnen -, indem wir älter werden, schon unse­ren Leib als etwas mitschleppen, was nicht mehr ganz zu uns gehört. Wir werden langsam Leichnam, und der Tod besteht eigentlich nur darin, daß uns dieser Leichnam zu schwer wird, daß die Schwerkraft zu stark wird, wenn wir mit unserer Seele am Morgen beim Aufwachen immer wiederum in diesen Leib zurückkommen. Man kann nur nicht sehen, wenn man die Sinne auf den äußeren Schein richtet, welche Ver­änderungen eigentlich mit dem Menschen vor sich gehen, und wie das Leben dieser zweiten Lebenshälfte schon ein langsames Sterben ist.

Es handelt sich nicht darum, daß wir das Geistig-Seelische auf der einen Seite annehmen, das Physisch-Leibliche auf der anderen, sondern daß wir verstehen lernen, wie sich, wenn wir den Zeitbegriff zu Hilfe nehmen, das Geistig-Seeelische in das Physisch-Leibliche verwandelt, und das Physisch-Leibliche sich wiederum zurückverwandelt in das Geistig-Seelische. Dies hängt, trotzdem es sozusagen nur äußerlich den Verlauf der Menschenentwickelung ausdrückt, mit zwei bedeutsamen Eigenschaften des Menschen zusammen. Wodurch können wir uns aus eniem Geistig-Seelischen allmählich in ein Physisch-Leibliches meta­morphosieren, daß wir das Physisch-Leibliche werden, daß wir eins werden mit dem Physisch-Leiblichen? Dieses kann der Mensch er­fassen, wenn er verstehen lernt, was die moralische Qualität der Liebe ist. Und eine wichtige, eine prinzipielle Wahrheit ist diese: Der Mensch geht in die physische Welt durch Liebe herein, durch das Sich-Ausgießen

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in das Physisch-Leibliche. Und wodurch geht er wieder hinaus? Er nimmt sich aus der physisch-leiblichen Metamorphose wieder zurück, er verwandelt sich zurück, und keine andere Kraft gibt ihm diese Mög­lichkeit des Zurückverwandelns als die Freiheit. So daß wir sagen: Daß wir uns weiterentwickeln, durch den Tod gehen, geschieht gerade durch die Freiheit. Wir werden geboren durch die kosmische Liebe, wir gehen durch das Tor des Todes in die geistig-seelische Welt ein durch die Kraft der Freiheit, die wir in uns haben. Und entwickeln wir Liebe in der Welt, so ist diese Liebe im Grunde genommen der Nachklang, das Nachtönen unserer geistig-seelischen Wesenheit, wie wir sie gehabt haben vor unserer Geburt, oder sagen wir vor unserer Empfängnis. LJnd entwickeln wir Freiheit im Dasein zwischen Geburt und Tod, so entwickeln wir geistig-seelisch in uns wie prophetisch vorher als Kraft dasjenige, was unsere wichtigste Kraft ist, wenn wir den Leib durch den Tod verlassen haben werden.

Was heißt im Grunde genommen, kosmisch gefaßt, ein freies Wesen sein? Ein freies Wesen sein, sich zurückverwandeln können aus dem Physisch-Leiblichen in das Geistig-Seelische, heißt im Grunde genom­men, sterben können; während Liebe heißt, sich verwandeln können aus dem Geistig-Seelischen in Physisch-Leibliches. Lieben können heißt leben können, kosmisch gefaßt.

Sie sehen hier, wie Vorgänge, die zweifellos auch ganz natürlich ge­faßt werden können, das Geborenwerden und das Sich-Entkörpern des Menschen, Geburt und Tod, die die äußere Naturwissenschaft nur als Naturvorgänge auffaßt, als Erscheinungen, als Offenbarungen von Liebe und Freiheit gefaßt werden können. Und indem wir in uns aus unserem Willen heraus entwickeln die Liebe, geistig-seelisch, was tun wir denn da eigentlich? Da bilden wir ein geistig-seelisches Nachbild in uns, innerhalb unserer Haut, von dem, was unser ganzes Wesen aus­machte, bevor wir empfangen worden sind. Wir leben vor unserer Empfängnis im Kosmos durch die Kraft der Liebe. Und gewissermaßen wie eine gefühlsmäßig-willensmäßige Erinnerung an dieses kosmische Leben ist die Entfaltung der Liebe als einer moralischen Tugend wäh­rend unseres Lebens zwischen Geburt und Tod. Wie eine Verfeinerung im Mikrokosmischen dessen, was ausgebreitet ist makrokosmisch vor

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unserer Geburt, erscheint uns die Tugend der Liebe, und das Bewußt­sein unserer Freiheit erscheint uns dadurch, daß wir geistig-seelisch während unseres Lebens zwischen Geburt und Tod dasjenige in uns tragen, was wie ein Naturkraftwirken ganz im Kosmos wirken wird, wenn wir die Pforte des Todes durchschritten haben. Wir erleben Liebe und Freiheit zwischen Geburt und Tod. Sie sind nichts anderes als die menschlichen Widerklänge von kosmischen Kräften, denn mit aller Geburt hängt die kosmische Liebe zusammen, mit allem Sterben hängt die kosmische Freiheit zusammen. Wir reden, seitdem die Natur­wissenschaften ihre Triumphe gefeiert haben, von allerlei Naturkräf­ten, Licht, Wärme, Elektrizität und so weiter; wir reden aber nicht von denjenigen Naturkräften, oder besser gesagt Weltkräften, welche uns Menschen ins physisch-sinnliche Dasein führen und wiederum aus diesem physisch-sinnlichen Dasein herausführen. Denn die Sache liegt so: Nehmen Sie sich einmal die physikalisch-chemischen, die biologi­schen Wissenschaften, und nehmen Sie alles dasjenige, was Ihnen da geschildert wird an Kräften, welche die Welt konstituieren. Aus die­sen Kräften, welche die Welt konstituieren, werden Sie verstehen kön­nen alles, was nicht Mensch ist auf der Welt, niemals aber den Men­schen. Denn damit der Mensch da sein kann, muß außer dem, daß in der Welt Elektrizität, Licht, Wärme und so weiter wirkt, da sein Frei­heit und Liebe. Man kommt, wenn man sich einer solchen Betrach­tungsweise hingibt, indem man wirklich den Menschen begreifen lernt, zu Begriffen über das Naturwesen, die zu gleicher Zeit moralische Be­griffe und Naturbegriffe sind, und es schwebt nicht auf der einen Seite ohne Zusammenhang mit der Natur die moralische Weltordnung, und auf der anderen Seite ohne Zusammenhang mit der Moralität die Naturordnung.

Es ist im Weltengange der Menschheit nun etwas geschehen, was allerdings eine tiefe innere Gesetzmäßigkeit hat, was aber in einer gewissen Weise doch im Laufe der künftigen Erdenentwickelung von der Menschheit überwunden werden muß, wenn diese Menschheit nicht in den Niedergang verfallen will. Die Menschheit der Erdenentwicke­lung ist ausgegangen von derjenigen Art von Geistesentwickelung, die sich im Orient entwickelt hat, die im Orient ihre Blüten getrieben hat,

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die, wie wir ja wissen, in ältesten Zeiten, in der nachatlantischen Zeit, höher noch war, als später in den Dichtungen der Veden oder in der Vedantaphilosophie zum Vorschein gekommen ist. Aber es war dies eine Anschauung, die im wesentlichen nur auf dasjenige hingezielt hat, was moralisch-geistige Weltordnung ist. Diese moralisch-geistige Welt­ordnung war groß und glänzend in gewissen vergangenen Zeitaltern der Menschheitsentwickelung, aber sie ist gerade im Orient in die De­kadenz gekommen. Sie konnte nicht eine Naturordnung aus sich her-austreiben.

In der neueren Zeit ist im Westen aufgegangen die Anschauung von der natürlichen Ordnung der Welt. Die ist, wie sie zunächst im Westen aufgegangen ist, so, daß sie die Welt nur aus den Kräften heraus be­greift, welche in der äußeren Natur auf sinnesgemäße Art zu beob­achten sind. Sie kann nicht zu einer moralischen Weltordnung kom­men. Das ist ja - wir haben das schon von verschiedenen Gesichtspunk­ten aus betrachtet - der ungeheure Gegensatz des Ostens mit dem We­sten, daß im Osten die Menschheit veranlagt war für ein einseitiges Begreifen des Geistig-Seelischen, im Westen zunächst die Menschheit hintendiert auf ein einseitiges Begreifen des Physisch-Leiblichen. Das überträgt sich dann auf alle übrigen menschlichen Anschauungen. Man beachtet ja gewöhnlich gar nicht, wie radikal verschieden die Begriffe der Menschen über die Erde hin sind. Dasjenige, was der richtige West-länder in die Betrachtung hereinbekommt, wenn er vom Menschen spricht, das ist ja etwas, was dem Ostländer ganz fern liegt. Wenn der Ostländer vom Menschen spricht, dann redet er eigentlich von etwas, was auf der Erde selber im Grunde genommen gar nicht ist. Der Ost-länder richtet ganz und gar den Seelenblick auf das hin, was im Grunde genommen von der Erde gar nicht berührt wird. Würde man die Ur­zustände orientalischer Weltanschauung haben, so würde man ja alle Geburten, alles, was die Menschheitsentwickelung regelt, so haben, daß eigentlich auf dasjenige, was physisch-sinnliches Dasein ist, keine Rück­sicht genommen wäre. Der Mensch ist da ganz als geistig-seelisches Wesen und entwickelt auch keinen rechten Sinn für das physisch-sinn­liche Dasein. Das hat einen bedeutsamen Einfluß auf alles, was der Orientale denken kann. Heute ist es in der Dekadenz; aber in alten

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Zeiten war ganz ausgesprochen vorhanden, was der Orientale den­ken kann in bezug auf den Menschen als soziales Wesen.

Und was denkt der Westländer? Nehmen wir einmal die hervor­ragendsten, gerade sozialen Denker des Westens, zum Beispiel Adam Smith. Geradeso wie die Naturwissenschaft des Westens ja den Men­schen gar nicht hat - sie hat nur das Außermenschliche -, so hat auch die Sozialwissenschaft des Westens nicht den Menschen. Denn studie­ren Sie einmal Adam Smith: Er redet in seiner Nationalökonomie überhaupt gar nicht vom Menschen, sondern er redet von einem ge­wissen Erdenstück und von dem, was darauf wächst und darauf steht, und dann redet er noch von einem Automaten, den er säen läßt, ern­ten läßt und so weiter. Da ist ein Stück Erde, da ist ein Automat (es wird gezeichnet), der nur aus seinem Automatismus heraus frei muß schalten können über dieses Erdenstück. Da muß alles von diesem Au­tomaten dann in der richtigen Weise mit diesem Erdenstück geschehen. Von diesen zweien redet eigentlich Adam Smith, und er nennt die hauptsächlichsten Eigenschaften dessen, was da als Automat ist, die wirtschaftliche Freiheit, und er nennt dasjenige, was da ein Stück Erde ist, das Privateigentum. Und das ist eigentlich die Urzelle seines sozia­len Wesens, ein Stück Privateigentum mit einem wirtschaftenden Au­tomaten, der von den anderen Automaten, die auf anderen Stücken Privateigentum stehen, unabhängig ist. Die Begriffe, die Adam Smith hat, handeln nur von der bearbeiteten Erde, vom Privateigentum und von einem solchen wirtschaftlichen Automaten mit wirtschaftlicher Freiheit. Das sind seine wirklichen Begriffe. Begegnet er einem Men­schen, so sieht er ihn nicht als Mensch an, sondern er sagt sich: Das re­präsentiert ein Stück Privateigentum und einen wirtschaftlichen Au­tomaten, und das ist nur so gestaltet, daß es oben einen Kopf hat, und in der Mitte einen Rumpf und dann noch Gliedmaßen, und zu alldem gehört ja auch noch so ein Gespenst. - Aber darüber denkt man nicht nach; davon hat man keinen Begriff. Das erscheint nur so auf dem Pri­vateigentum. Und indem sich der wirtschaftende Automat betätigt, nimmt er äußerlich die Gestalt eines kopfbegabten, rumpfbegabten und gliedmaßenbegabten Gespenstes an. Nirgends finden Sie, wenn Sie Adam Smith betrachten, irgendeinen Begriff von einem Menschen. Versuchen

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Sie es einmal! Sie finden eine Zusammenstellung von Privat­eigentum mit einem wirtschaftenden Automaten, aber Sie finden nicht einen Begriff vom Menschen. Sie finden gewissermaßen das, was um den Menschen herum ist, aber nicht den Menschen. Dabei ist das Cha­rakteristische, daß von der Freiheit so ein letzter Schatten vorhanden ist, den man dann auf den wirtschaftenden Automaten überträgt. Man redet nicht von der menschlichen Freiheit, man redet nicht von dem, was, aus der moralischen Phantasie heraus sich erfüllend mit geistigem Inhalt, den Menschen als Vollmenschen ausfüllt - denn dann müßte man so reden, wie ich in meiner «Philosophie der Freiheit» geredet habe -, sondern man redet von einem Zusammenhang zwischen Privat­eigentum und einem wirtschaftenden Automaten. Wir haben auf der einen Seite, was von der Weisheit des Ostens zurückgeblieben ist, die Unfähigkeit, vom menschlichen seelisch-geistigen Wesen herauszukom­men in die physische Welt. Wir haben von den Westländern die Fähig­keit, zu sehen: Ja, da ist etwas Reales in der Welt, denn es hat irgend etwas in der Welt und das automatisiert darauf; seine Lordschaft hat große Güter, seine Lordschaft hat äußere Kräfte, durch die diese Güter bewirtschaftet und bejagt werden. Da sieht man, daß seine Lordschaft da etwas hat. Aber das, was da herumwandelt, das ist eigentlich bloß ein menschliches Gespenst.

Sie sehen, was gesucht werden muß: gesucht werden muß der Mensch als solcher. Man muß in seine Seelenverfassung hereinbekommen eine lebendige Anschauung von dem Menschen als solchem. Wir haben eine westliche Naturwissenschaft, die hat die Tierreihe. Da haben wir zu­erst einfache Tiere, dann immer kompliziertere Tiere, die letzten kom­plizierten gehen auf vier Beinen, dann richten sie sich auch einmal auf, werden senkrecht statt waagrecht - nun, da ist dann ein höchstes Tier, das nennt man Mensch. Man hat eigentlich nur die Tierreihe, und der Mensch ist eben das höchste Glied in der Tierreihe. Also man betrach­tet nicht den Menschen von seiten der Naturwissenschaft. Aber auch nicht von seiten der Sozialwissenschaft, denn da betrachtet man das­jenige, was der als Privateigentum an sich hat, und dasjenige, was der wirtschaftende Automat ist. Der Mensch fällt aus der sozialen Be­trachtung, der sozialen Naturbetrachtung heraus. Das Eigentümliche

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der modernen Menschheit ist ja, daß sie gar nicht bemerkt, daß gar nichts Menschliches da ist. Es ist gar nichts Menschliches da. Daher entsteht ein gewisses Bedürfnis. Denken Sie sich doch einmal, die Men­schen leben im äußeren sozialen Leben. Nehmen wir an, sie leben so, wie Adam Smith sie betrachtet, denn daß er diese Anschauung geäußert hat, rührt ja nur davon her, weil er eben dasjenige gesagt hat, wonach das Denken zahlreicher Menschen tendiert. Denken Sie sich, die Men­schen schauen sich nun als Westländer ihr soziales Dasein an: sie sind ja gar nicht da! Privateigentum ist da und ein wirtschaftlicher Auto­mat; die Menschen sind ja gar nicht da. Wie soll man denn aus die­sem Begriff vom Menschen irgend etwas, was jenseits von Geburt und Tod liegt, herausbekommen? Das muß man sich dann schon auf Auto­rität hin sagen lassen. Und indem solche Begriffe immer weiter und weiter ihre Blüten getrieben haben, kam es eben so, daß mit Bezug auf das Geistige alles nach und nach unter Autorität gestellt worden ist, ja, daß die Menschen auch eine gewisse Abneigung haben, über das Geistige irgendwie zu denken. In der modernen proletarischen Wissen­schaft ist das dann weiter aufgenommen worden. Nur hat die dann Ernst damit gemacht und hat gesagt: Ja, nun haben die Bourgeois über den Menschen nachgedacht, aber es ist doch gar nichts da vom Men­schen; Privateigentum ist da und der wirtschaftende Automat ist da. Also reden wir nicht von diesem Firlefanz von einem besonderen Men­schen, sondern reden wir bloß von wirtschaftlichen Kräften; die brin­gen alles hervor. Machen wir Ernst mit dieser Anschauung! Die ande­ren machen nicht Ernst; die ganze Woche hindurch reden sie, als wenn es bloß Privateigentum und wirtschaftliche Freiheit des Automaten gäbe, und am Sonntag lassen sie sich predigen, daß es auch eine un­sterbliche Seele gibt.

Das ist etwas, was in aller Wachheit aufgefaßt werden muß. Denn hat man nicht den Mut, die Dinge in aller Wachheit so anzusehen, dann kommt man eben nicht vorwärts. Und es ist schon begreiflich, daß in der Gegenwart recht viele Mächte da sind, die durchaus nicht wollen, daß in diese Dinge mit einem ordentlichen Licht hineingeleuchtet wird. Denn es ist natürlich unangenehm, wenn darauf hingewiesen wird, wie Sozialwissenschaft einen Zusammenklang unter den Menschen begreifen

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soll, aber vom Menschen eigentlich nichts weiß, sondern lediglich von Privateigentum und von wirtschaftlicher Freiheit des wirtschaf­tenden Automaten.

Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, wie eine Betrachtungsweise ist, die nun wirklich auf lebendige Metamorphosenanschauung gebaut ist, und wie eine Betrachtungsweise geworden ist, die von solchen Meta­morphosenanschauungen nichts wissen will. Wir werden morgen die tieferen Gründe zu betrachten haben, welche dazu führen, daß man dasjenige, was nun als makrokosmische Folge einer solchen Anschau­ung sich notwendig ergibt, heute so wenig an die Menschen herankom­men lassen will. Wir werden also entwickeln morgen, was, ich möchte sagen, das makrokosmische Gegenbild ist der heute dargestellten Tat­sachen und werden dann übergehen zu den menschlichen Folgen der einen und der anderen Weltanschauung.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 12. Dezember 1920

Es obliegt mir in diesen Betrachtungen, die ja nächsten Freitag fort­gesetzt werden, ein möglichst umfassendes Bild zu geben auf der einen Seite von dem Zusammenhang des Menschen mit dem ganzen Univer­sum, mit dem Kosmos, sowohl mit dem physischen wie mit dem gei­stigen Kosmos, und auf der anderen Seite zu zeigen, wie man allmäh­lich durch eine geisteswissenschaftliche Betrachtung zu einer wirk­lichen Brücke kommen kann zwischen dem, was man Naturordnung nennt und dem, was man geistig-moralische Weltordnung nennen kann. Ich möchte heute gewissermaßen ein Intermezzo geben, das zeigen soll, wie in bezug auf die Menschheit selber das Geistige verbunden wer­den muß mit dem Physischen, wenn es zu einer Totalbetrachtung auch der menschheitlichen Entwickelung kommen soll. Denn dasjenige, was eben verhindert, in der universellen Weltbetrachtung die Brücke zu bauen zwischen dem Physischen und dem Geistigen, das verhindert auch für die traditionelle Weltanschauung in ihren verschiedenen For­men, zu einer Totalauffassung dessen zu kommen, was in der Mensch­heitsentwickelung wirksam ist. Wir können ja Geisteswissenschaft nicht so nehmen, daß sie eine abstrakte Theorie ist, eine Summe von Vorstellungen nur ist, welche aufklären soll über die Frage des Ewigen im Menschen, über die Frage der wiederholten Erdenleben eben in ab­strakter Form. So können wir Geisteswissenschaft nicht aufnehmen. Wir würden sie mißverstehen, wenn wir sie so nehmen würden. Wir müssen uns Geisteswissenschaft durchaus als das Leben durchdringend vorstellen, und wir müssen dazu kommen, dasjenige, was ja allerdings auch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft in einer gewissen ab­strakten Form, in einer theoretischen Manier gegeben werden muß, ganz konkret im Leben anzuwenden. Und davon will ich Ihnen zu­nächst ein Beispiel geben, das allerdings hergenommen ist aus wirk­lichen geisteswissenschaftlichen Untersuchungen, über die man eigent­lich zunächst nur referieren kann, die aber am Leben selber verifiziert werden können.

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Der Vorgang würde der sein: Dem Geistesforscher ergeben sich gewisse Zusammenhänge. Er spricht diese Zusammenhänge aus. Er wendet sie auf das Leben an. Das Leben in seinem Verlaufe kann von jedem Menschen äußerlich betrachtet werden. Einer unbefangenen Be­trachtung des Lebens bewahrheitet sich dann, was der Geistesforscher aus seinen schauenden Betrachtungen gibt. So etwa wird es sich ver­halten müssen mit einem solchen Beispiel geisteswissenschaftlicher Be­trachtung, wie ich es Ihnen heute referierend darstellen will.

Man findet heute eine geschichtliche Betrachtungsweise, die eigent­lich schon sehr stark beeinflußt ist von dem, was man naturwissen­schaftliche Denkweise nennen kann. Die Geschichtsbetrachtung hat allmählich in einer gewissen Weise kapituliert vor der naturwissen­schaftlichen Betrachtungsweise, und man denkt sich auch das geschicht­liche Werden der Menschheit so, daß man Wirkungen aufsucht, diese auf Ursachen zurückführt und dann einen gewissen Kausalzusammen­hang des geschichtlichen Lebens dem Kausalzusammenhang im Natur­geschehen nachbildet. Wenn auch erst vereinzelte historische Betrach­ter in dieser Beziehung radikal sind, so ist immerhin die Tendenz vor­handen, die Geschichte, allmählich wenigstens, einer der naturwissen­schaftlichen Betrachtungsweise ähnlichen Methodik zuzuführen.

Insbesondere dann, wenn man das alltägliche Leben in seinem Wer­den betrachtet und den einzelnen Menschen hineinstellt in dieses Wer­den der Menschheit von Generation zu Generation, kommt man immer mehr und mehr dazu, die Dinge bloß äußerlich, ich möchte sagen, am Faden naturwissenschaftlicher Notwendigkeit zu betrachten. Wie ist es für viele Menschen heute etwas Bedrückendes, aber doch wieder ihnen notwendig Erscheinendes, Eigenschaften, die der Mensch an sich trägt, zurückzuführen auf die physische Vererbung. Wir reden alle Augenblicke davon, daß der Mensch diese oder jene mehr oder weniger äußere oder innerliche, physische oder seelische Merkmale einfach von seinen Vorfahren vererbt hat, und wir übertragen auch das, was wir uns so im alltäglichen Leben bilden, auf das Geschichtliche. Wir dehnen es aus auf das Geschichtliche. Wir blicken gewissermaßen darauf hin, wie wir selbst innerhalb der gegenwärtigen Generation leben, wie diese abstammt von den vorhergehenden, diese wieder von den vorhergehenden

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und so weiter. Und man gewöhnt sich daran, das geschicht­liche Werden so zu betrachten, daß man eigentlich die Generationen-folge betrachtet.

Nehmen wir irgendein Stück der Erde, nehmen wir Mitteleuropa. Man betrachtet es so, daß man die Eigenschaften der mitteleuropäi­schen Menschen in den letzten Jahrzehnten betrachtet. Man geht dann zurück zu den früheren Jahrzehnten und versucht womöglich in An­lehnung an das, was man gewöhnt ist in der sinngemäßen Betrachtung, sagen wir die Eigenschaften der heutigen Deutschen, die Eigenschaf­ten der heutigen Franzosen, zurückzuführen auf die Eigenschaften der Deutschen im 18. Jahrhundert, der Franzosen im 18. Jahrhundert und so weiter. Man betrachtet gewissermaßen in geradliniger Strömung die Entwickelung der Menschheit, und man ist befriedigt. Natur-wissenschafter würden sagen: Das Kausalitätsbedürfnis ist befriedigt, wenn man dasjenige, was sich als seelisch-geistige Qualtäten bei ei­ner bestimmten Menschenart der Gegenwart findet, zurückführen kann auf geistig-seelische Qualitäten früherer Generationen desselben Vol­kes, derselben Rasse und so weiter, wenn man also einen gewissen Ur­sachenzusammenhang im geradlinigen Zeitenverlauf herstellen kann.

Wie sollte denn auch eine Weltanschauung wie diejenige, die sich in dem Lauf der letzten drei bis vier Jahrhunderte und schon länger her­ausgebildet hat und die, selbst wenn sie noch so religiös-spiritualistisch ist, doch, sobald sie vom Abstrakten loskommt, praktisch das seelisch-geistige Leben eng an das physische gebunden fühlt, wie sollte denn eine solche Betrachtungsweise hinauskommen über dieses bloße Ver­folgen der Generationenreihe, der Generationenentwickelung! Aber hier ist es gerade, wo Ernst gemacht werden muß mit dem, was uns die anthroposophischen Erkenntnisse geben. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir ja nicht bloß hinblicken auf den Menschen oder auf eine Anzahl von Menschen der Gegenwart, insofern dieser Mensch oder diese Menschen die von den unmittelbar vorangehenden Genera­tionen vererbten Merkmale haben, sondern wir müssen uns praktisch klar sein darüber, daß in jedem einzelnen Menschen ein Seelisch-Geisti­ges vorhanden ist, das ja eine lange Zeit in der geistig-seelischen Welt durchlebt hat, bevor es in diesen physischen Leib hereingekommen ist.

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So daß, wenn wir einen gegenwärtigen Menschen vor uns haben, wir uns sagen müssen: Wir sehen ihn leiblich an; da trägt er allerdings die vererbten Merkmale, von den früheren Generationen herrührend. Aber wir sehen ihn auch geistig-seelisch an. Da trägt er in sich eine Seele, die ja zunächst gar nichts zu tun hat mit den unmittelbar vorange­henden Generationen, die auch mit weiter zurückliegenden Generatio­nen nicht viel zu tun hat, die in einer sehr viel früheren Zeit als die jetzige hier auf der Erde war, die also, während eine ganze Reihe von Generationen sich entwickelt hat, gar nicht im unmittelbaren Zusam­menhange mit der Erdenentwickelung gestanden hat, die, während diese Generationen abgelaufen sind, in der geistig-seelischen Welt war. Es ist ja einmal eine Einseitigkeit, den Menschen nur nach den in der Generationenfolge vererbten Merkmalen zu betrachten. Es ist ja schließ­lich auch nur eine Illusion, wenn man den Menschen oder das geschicht­liche Werden so betrachtet. Man redet sich eigentlich nur ein, daß man die Dinge verstünde; man versteht sie in Wirklichkeit gar nicht. Man theoretisiert darüber, das oder jenes, was die Menschen in der Gegen­wart machen, wie sie sich darleben, das rühre von den oder jenen ver­erbten Qualitäten her. Aber würde man unbefangen genug sein dazu, so würde man an unzähligen Stellen, ja überall sich sagen müssen: Was man da annimmt als von Generation zu Generation sich fortentwik­kelnde physische Qualitäten, das erklärt irgendeine Lage der Gegen­wart durchaus nicht, weder beim einzelnen Menschen, noch bei irgend­einem volks- oder rassenmäßigen Zusammenhang der Menschen. Wenn man zur Wirklichkeit kommen will, wenn man nicht in dieser Abstrak­tion stehenbleiben will, die, wenn sie auch materialistisch ist, dennoch nur eine Abstraktion ist - eben eine materialistische Abstraktion -, dann muß man Rücksicht darauf nehmen, wie dasjenige, was sich in der Gegenwart darlebt, neben dem, was in der Blutsströmung zurück­liegt, sich erklärt aus dem, was in den Kräften der Seelen liegt, die eine lange Zeit hindurch in der geistigen Welt gelebt haben, bevor sie zur Wiederverkörperung in diese Leiber heruntergestiegen sind.

Nun habe ich in bezug auf diese Dinge ja im Laufe der Jahre schon Andeutungen gemacht. Ich habe Andeutungen gemacht, wie in unserer Zeit, insbesondere in der Zeit, die vor den katastrophalen Ereignissen

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gelegen hat, namentlich die europäische Bevölkerung mit Menschen durchmischt worden ist, die Seelen in sich tragen aus den ersten christ­lichen Jahrhunderten. Die Welt ist jedoch kompliziert, und indem man solche Angaben macht, trifft man eigentlich immer nur ein Partielles. Solche Angaben müssen immer wieder erweitert werden, damit man allmählich einer totalen Ansicht näher rückt. Das darf durchaus nicht so aufgefaßt werden, als wenn irgend etwas Früheres, was gesagt wor­den ist und was durchaus richtig ist, sich aber eben auf eine Anzahl von Menschen bezieht, korrigiert werden sollte; sondern zur Ergän­zung soll das Folgende gesagt werden.

Es ist ein verhältnismäßig nicht allzugroßer Teil der mitteleuropäi­schen Bevölkerung, welcher unmittelbar Seelen birgt, die in diesen ersten christlichen Jahrhunderten, so wie wir uns diese ersten christ­lichen Jahrhunderte nach der landläufigen Geschichte vorstellen, ge­lebt haben. Die Dinge sind viel komplizierter. Da zeigt sich der gei­steswissenschaftlichen Forschung etwas, was in mancher Beziehung paradox erscheinen wird; aber es ist schon einmal so, daß die Dinge, die für die geisteswissenschaftliche Forschung erscheinen sollen, eben nur aus der wirklichen Anschauung, aus der wirklichen übersinnlichen Erfahrung gewonnen werden müssen, und daß man in der Regel Irr­tum auf Irrtum häuft, wenn man bloß spekuliert, wenn man sich bloß philosophischen oder sonstigen Spekulationen über die Dinge hingibt. Die Erfahrungstatsachen sprechen dann immer anders, und das ist ja gerade etwas, was der Geistesforscher so intensiv empfindet: daß er selber von seinen Resultaten eigentlich überrascht wird. Er erwartet zunächst durchaus nicht, daß dies oder jenes herauskommt, sondern er wird überrascht von seinen Resultaten.

Um Ihnen einige von solchen Resultaten vorzuführen, möchte ich Ihren Seelenblick hinlenken auf diejenige Bevölkerung, welche in Ame­rika war in den Zeiten, als die Europäer die Eroberung Amerikas be­gonnen und dann immer fortgesetzt haben. Sie wissen, es war eine Be­völkerung, die man von dem zivilisierten Standpunkte Europas aus als eine wilde Bevölkerung bezeichnete. Aber eine solche wilde Bevölke­rung, wie sie in Amerika war, die indianische, ist zwar wild in bezug auf das, was in den letzten Jahrhunderten innerhalb der europäischen

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Welt als Zivilisation bezeichnet worden ist, aber es lebt doch in ihr in bezug auf andere Seelenkräfte, die nicht der Intellekt sind, zuwei­len etwas, was sich der sogenannte zivilisiertere Mensch wohl zurück­wünschen könnte. Vor allen Dingen lebte in der indianischen Bevölke­rung eine Anschauung von den geistigen Mächten der Welt, welche eigentlich, wenn man näher auf sie eingehen kann, etwas Imponieren­des hat. Diese Bevölkerung verehrte einen Großen Geist. Es war aller­dings bei der Eroberung die Sache schon in der Dekadenz, aber diese dekadenten Erscheinungen weisen zurück auf die Vererbung eines Großen Geistes, der alles durchflutet, durchwebt, der in den einzelnen elementarischen Geistern seine Unterkräfte hat.

Mit diesen, ich möchte sagen, religiös-pantheistischen Vorstellun­gen lebte diese amerikanische Bevölkerung. Vor allen Dingen aber müs­sen wir festhalten: Diese amerikanische Bevölkerung hatte im äußeren Sinne nichts mitgemacht von dem, was die europäischen Bevölkerun­gen mitgemacht hatten im Laufe der sogenannten christlichen Ent­wickelung. Was das Christentum der europäischen Bevölkerung ge­bracht hat, das haben die Generationen dieser amerikanischen indiani­schen Bevölkerung nicht mitgemacht. Die ganze Seelenkonstitution dieser Bevölkerung war so, daß sie intensiv pantheistische Gefühle ent­wickelte und aus Impulsen heraus, die mit diesen Gefühlen zusammen­hingen, handelten auch diese Menschen. Aber es entwickelten sich diese Seelen so, daß sie verhältnismäßig nur kurze Zeit zubringen konnten zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Keiner langen Zeitdauer bedurfte dasjenige, was zwar intensiv, aber ungeheuer einfach, ele­mentar diese Seelen durchlebten zur Verarbeitung in der geistigen Welt. So sind nicht nur die Seelen der indianischen Bevölkerung, wie sie gelebt haben zur Zeit der ersten Eroberungen des Westen - diese fast alle -, sondern auch spätere Seelen jetzt schon wiedergekommen, und zwar im wesentlichen in der westeuropäischen Bevölkerung.

Wir können also die Generationenfolgen betrachten von der jetzi­gen Zeit ab bis ins Mittelalter zurückgehend; da bekommen wir die physisch vererbten Merkmale. Aber wenn wir das als die volle Wirk­lichkeit betrachten, wiegen wir uns in Illusionen. Wir haben ein Ab­straktum, wenn wir die gegenwärtigen Westvölker Europas bis sehr

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weit herein in das Mitteleuropäische und, immer wiederum alles durch­setzend, sogar bis nach Osteuropa hinüber, nur so betrachten, daß wir sagen: Diese Nationen haben ihre Merkmale von den vorhergehenden Generationen und so weiter. Das iSt eben nicht allein der Fall, sondern es sind in diese Leiber, die das Blut der Vorfahren in sich tragen, na­mentlich in das Gros der Bevölkerung eingezogen die westlichen See­len; Seelen also, welche durch ihre innere Entwickelung noch nichts von dem christlichen Impuls hatten, die im wesentlichen eine Art pan­theistischen Impulses in sich trugen. Durch die Erziehung in den ersten Wochen schon, die sie in ihrer Umgebung verbrachten - denn gerade die äußere Kultur, die äußere Zivilisation pflanzt sich in geradliniger Weise von Generation zu Generation fort, nicht aber die inneren Im­pulse der Seele -, nahmen diese Menschen von außen her das Christen­tum an; von außen her wurden sie geformt zu dem, als was sie uns heute oftmals einzig und allein erscheinen. Wer aber unbefangen ist und auf die Menschen hinsieht, wer sie betrachtet so, daß er mit seinem Blick sie wirklich charakterologisch durchdringt, der sieht in ihnen pulsie­ren, was mit den Seelen in sie herübergekommen ist.

Ich sagte, die Dinge, die die geisteswissenschaftliche Forschung er­gibt, sind vielfach paradox. Ausspekulieren kann man diese Dinge nicht. Sie müssen erfahrungsgemäß durch die Ihnen oftmals geschil­derten und auch in der Literatur niedergelegten Methoden zustande kommen. Aber wer sie dann äußerlich verifiziert, der wird finden, wie die äußere Welt erklärlich wird dadurch, daß man solche Erkennt­nisse zugrunde legt.

Wir finden Menschen, welche zu der Zeit, die man in der Geschichte gewöhnlich die Zeit der Völkerwanderung nennt, in Europa gelebt haben, ausgewandert sind. Die Seelen dieser Bevölkerungen waren denen ähnlich, die das sich vom Süden nach dem Norden ausbreitende Christentum angenommen haben, Seelen also, die äußerlich in die Christianisierung hineinwuchsen. Diese Seelen, die das Christentum so angenommen haben, wie es in den ersten Jahrhunderten in Europa ge­lebt hat - und das ist sehr verschieden von dem, wie das Christentum heute lebt -, verkörperten sich nicht etwa wiederum in einer mittel­europäischen Bevölkerung. Es waren Seelen, die allerdings länger

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brauchten, um von dem Tode zu einer neuen Geburt zu leben als die amerikanischen Indianerseelen; aber wir haben es ja dafür auch mit Seelen zu tun, die ihr physisches Dasein früher hier durchgemacht ha­ben als jene anderen, die wir als die letzten Indianerseelen, eben die Indianerseelen zur Zeit der Eroberungen betrachten. So weit gehen wir dabei zurück. Was das Schicksal der früheren Indianerseelen war, das wollen wir dabei nicht berühren. Diejenigen Seelen aber, die in den ersten christlichen Jahrhunderten in Europa verkörpert waren, die da­bei waren, als das Christentum sich kulturell ausgebreitet hat vom Sü­den nach Norden, die verkörperten sich jetzt mehr nach Asien hin­über. Es zeigt sich das, was ich jetzt beschreibe, besonders deutlich in den Zeiten, in denen die furchtbare Katastrophe des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts herangenaht ist. Und von ganz besonderer Bedeu­tung erscheint es der Betrachtungsweise unserer gegenwärtigen Erden­zivilisation, wenn wir sehen, daß namentlich im Japanervolke solche Seelen verkörpert sind; Seelen also, die die besondere Art der Christia­nisierung in Europa einmal durchgemacht haben, die aber jetzt von Kindheit auf keinen Laut vom Christentum hören, die nur aus dem Unterbewußten heraus eine gewisse Nuancierung des dekadenten Asia­tentums durch die damaligen christlichen Impulse in sich tragen, die auch all das heute in sich tragen, was gegen das heutige Europa sich wendet. Es ist ja im wesentlichen ein Ergebnis der ganz in die Deka­denz verfallenen orientalischen Weisheit, die einstmals eine so große war, wie ich es Ihnen geschildert habe, im Zusammenklingen mit den ersten primitiven christlichen Impulsen, wie sie eben entstanden, als in Europa sich das Christentum vom Süden nach dem Norden unter den barbarischen Völkerschaften ausbreitete. So war es im wesent­lichen in bezug auf das Gros der Bevölkerung. Allerdings kompliziert sich die Sache dadurch, daß in diese so entstandene Bevölkerung - die Seelen der amerikanischen Urbevölkerung sowie der mitteleuropäi­schen Bevölkerung zogen beide ostwärts - sich hineinmischten viele einzelne Leiber, die bewohnt wurden von Seelen, die in den ersten christlichen Jahrhunderten mehr südwärts lebten. Die sind nun auch mitten drinnen in der Bevölkerung, die auf diese Weise entstanden ist, wie ich es jetzt beschrieben habe.

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Dann haben wir, wenn wir die gegenwärtige Zivilisation betrach­ten, es zu tun mit einer großen Anzahl von Seelen, welche gerade in den Jahrhunderten, die der Begründung des Christentums vorange­gangen sind, in Asien, in Vorderasien, oder überhaupt über das ganze Asien hin gelebt haben. Es war das natürlich schon nicht mehr die große Blütezeit orientalischer Weisheitskultur, aber es war diejenige Zeit, aus der sich herausgebildet haben die Begriffe, die Ideen, mit denen das Mysterium von Golgatha dann verstanden worden ist. Ich rede also jetzt von Seelen, die dem Mysterium von Golgatha ferne standen, die aber eine gewisse Weisheitskultur hatten, die sich dann nach dem Westen herüber verpflanzte, und von welcher das Mysterium von Gol­gatha zunächst aus dem Griechentum, aus dem Römertum heraus ver­standen worden ist.

Wir müssen ja immer unterscheiden zwischen dem Mysterium von Golgatha, wie es als Tatsache dasteht, und den verschiedenen Inter­pretationen, die es im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Denn diese Tatsache kann von jedem Zeitalter in einer neuen Weise interpretiert werden, und es wäre Unsinn, irgendeine Lehre über das Mysterium von Golgatha zu identifizieren mit dem Tatsächlichen des Mysteriums von Golgatha. Ich brauche Ihnen das nur durch einen Vergleich klarzu­machen. Denken Sie sich, wir hätten einen sehr genialen Menschen. Dann wäre da ein Kind, ferner ein mittelmäßiger, alles nivellierender, etwas spießiger Mensch, eben ein Mittelmensch, und drittens ein auch zur Genialität veranlagter Mensch. Alle drei haben dasselbe vor sich:

Die reale Wirklichkeit des genialen Menschen. Das Kind wird irgend­eine Erklärung haben für das, was der geniale Mensch tut. Der Phili­ster, der alles nivellieren will, wird auch eine Erklärung haben, und der ebenfalls mit genialen Eigenschaften veranlagte Mensch wird eine andere Erklärung haben. Sie haben alle drei mit derselben Wirklich­keit zu tun, ihre Erklärungen sind aber ganz verschieden, und man ist nicht berechtigt, das eine oder das andere zu identifizieren mit der tat­sächlichen Wirklichkeit. Ebenso darf man nicht die Lehren des ersten Christentums identifizieren mit der Tatsächlichkeit des Christentums. Diese Lehren der ersten christlichen Jahrhunderte waren herüberge­kommen aus dem Orient. Man hat eigentlich gelernt, was orientalische

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Weisheitslehren waren, und hat diese benützt, um das Mysterium von Golgatha zu erklären. Es ist natürlich nur eine furchtbare Tyran­nis, wenn die sich fortentwickelnde Kirche diese Lehren als die allein gültigen ansieht, denn sie sind nichts anderes als das, wonach ein Zeit­alter nach seinen Vorbedingungen das Mysterium von Golgatha er­klärt hat. Andere Zeiten können dieses Mysterium von Golgatha an­ders erklären. Wir müssen es geisteswissenschaftlich erklären, um den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden.

Was also in den Lehren über den Christus-Impuls in den ersten Jahrhunderten lebte, das finden wir - aber nicht auf das Christen­tum angewendet, sondern mehr oder weniger absehend vom Mysterium von Golgatha - bei den damaligen Gebildeten mehr, bei dem damaligen überwiegenden Gros der Bevölkerung natürlich sehr viel weniger, im Orient ausgebildet. Diejenigen Seelen, die da unmittelbar vor dem Ver­lauf und auch während des Verlaufs des Mysteriums von Golgatha ge­lebt haben, die also orientalische Seelen waren, die haben eine lange Zeit durchzumachen gehabt zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt, weil die orientalische Kultur selbst noch in Dekadenz außer­ordentlich komplizierte Vorstellungen an die Seelen heranbrachte.

Diese Seelen, sie erscheinen namentlich in derjenigen Bevölkerung, die die Bevölkerung Amerikas wird, als Erobererbevölkerung allmäh­lich Amerika von Europa aus überflutend. Die ganze amerikanische Kultur, die eine materialistische Nuance hat, geht im wesentlichen daraus hervor, daß da Seelen erscheinen, die eigentlich orientalische Seelen waren in der Zeit, die ich charakterisiert habe, und die nun untertauchen in Leiber so, daß ihnen diese Leiblichkeit fremd ist, daß sie sich, ich möchte sagen, mit ihren damals schon sehr in der Deka­denz befindlichen Begriffen hineinsaugen in die Leiblichkeit, daß sie die Leiblichkeit nicht verstehen, sondern sie ziemlich primitiv mate­rialistisch nehmen, mehr oder weniger eben an dem Menschen vorbei­gehen, der ihnen fremd wird dadurch, daß sie im grunde genommen nach starken Abstraktionen gestrebt haben in ihrem vorigen Erden-leben. Sie können sich nicht hineinfinden in die gegenwärtige Inkar­nation, tragen aber aus ihrem vorigen Erdenleben all das herauf, was dann lebt in der von der äußeren Naturbetrachtung abgesonderten, oftmais

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sektiererischen Religiosität. Das lebt sogar in der Leugnung der Materie bei der Mrs. Eddy, bei den Scientisten und so weiter. Alles das, was in der äußeren Welt hervortrat, kann diese Dinge verifizieren, wenn wir es nur unbefangen genug betrachten.

Sie sehen, wenn man hinzufügt, was anthroposophische Geisteswis­senschaft geben kann, zu demjenigen, was nur die äußere anthropolo­gische Betrachtungsweise liefert, dann gewinnt man ein Bild der Wirk­lichkeit. Aber man muß Ernst machen mit dem, was anthroposophi­sche Geisteswissenschaft geben kann. Man darf sich nicht genügen las­sen mit dem Theoretischen, das nur auseinandersetzt, daß wir eben wiederholte Erdenleben haben. Man muß die Wirklichkeit, die äußere Wirklichkeit praktisch im Sinne dieser Erkenntnis anschauen, dann können diese Erkenntnisse auch allmählich in das sozial-praktische Leben hinein ihre rechten Früchte tragen. Es wird durchaus so sein müssen, daß diejenigen Menschen, die sich an eine Weltanschauung klammern, die nur auf die äußere Naturordnung Rücksicht nimmt, die also die Menschheit dazu führt, bloß anthropologisch zu sein, bloß dasjenige in Betracht zu ziehen, was von Generation zu Generation physisch sich weitervererbt, daß solche Menschen immer mehr und mehr vor Rätseln stehen werden. Man kann sich lange Zeit Illusionen hingeben über diese Rätsel. Man kann glauben, daß man irgend etwas versteht von dem Menschheitsverlaufe; aber man gibt sich solchen Illusionen nur hin, weil man die Theorien hat, die einem eingepaukt worden sind seit der frühesten Jugend, so daß man gewissermaßen nur auf das hinschaut, nur für das Augen hat, was in der physischen Ver­erbungsfolge sich äußert. Aber es werden doch die Menschen nach und nach dazu kommen, sich zu sagen: Ja, aber da gibt es doch Tatsachen, die nicht hinwegzuleugnen sind, und die durchaus nicht erklärbar sind im Sinne dieser rein anthropologischen Ursächlichkeiten. - Wir müssen eben darauf Rücksicht nehmen, daß in irgendeiner Generation irgendeines Volkes der Gegenwart Seelen sind, die von ganz woanders herkommen, als etwa von den Urururgroßvätern desselben Volkes. Dem Volksegoismus mag das nicht gerade außerordentlich angenehm klingen, aber dieser Volksegoismus muß ja ohnedies schwinden, wenn die Menschheit eine entsprechende Entwickelung in die Zukunft durchmachen

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soll. Und es muß schon darauf hingewiesen werden, daß ein großer Teil der europäischen Bevölkerung allerdings das Blut der mittelalterlichen Vorfahren fortpflanzt, aber Indianerseelen in sich trägt, daß diejenigen Seelen, die hier in Europa gelebt haben - ein gro­ßer Teil derselben zu Attilas Zeiten -, und die damals das Christen­tum angenommen haben, daß die uns nun in Asien drüben entgegen­treten. Bis in gewisse gebildete Seelen hinein kann ja das bei unbefan­gener Beobachtung durchschaut werden. Allerdings, so geradlinig, so pedantisch abstrakt, wie man es heute gewohnt ist, darf man die Dinge nicht anschauen, wenn man auf Wirklichkeiten, wie sie hier gemeint sind, kommen will. Aber wenn man eben nicht seine Begriffe so ab­strakt bildet, wie man es heute gewöhnt ist, sondern wenn man auf die Wirklichkeit kommen will, dann muß man von solchen Gesichtspunk­ten ausgehen, wie sie hier erwähnt worden sind. Dann wird man Ver­schiedenes herausfinden, was zwar wiederum paradox erscheint, was aber eben doch diese Wirklichkeit erklärt.

Es ist zum Beispiel eigentümlich, auch in den zum Teil koketten Äußerungen des Rabindranath Tagore dieses eigentümliche Aroma wahrzunehmen. Man hat dann, ich möchte sagen, die Möglichkeit, mit geistigen Händen zu greifen die christliche Abstammung der Seele und die orientalische Abstammung des Leibes. Diese liefert die orientali­sierende Koketterie. Und dasjenige, was insbesondere dem Europäer als etwas warm Wohltuendes in die Seele träufelt gerade bei Rabin­dranath Tagore, das ist von einer ins Christentum einstmals hinein-segelnden Seele, die nur in dieser Inkarnation nicht christlich gewor­den ist, weil sie in einer äußeren, nicht christlichen Zivilisation lebt.

Der griechische Gedenkspruch «Erkenne dich selbst» ist eben nicht nur an den einzelnen Menschen gerichtet und vor allen Dingen nicht bloß für eine triviale Selbstschau bestimmt, sondern er ist auch an die Menschheit gerichtet. Nur findet die Menschheit seine Beobachtung in der Regel unbequem. Aber wir kommen nicht vorwärts in unserer Zivilisation, wir kommen immer mehr und mehr abwärts, wenn wir nicht endlich mit dem Apollinischen Worte «Erkenne dich selbst» auch als Menschheit Ernst machen. Es hat ja allerdings etwas Unbe­quemes - solche Leute wie Kurt Leese, den ich im öffentlichen Basler

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Vortrage erwähnt habe, würden das «ärgerlich» und «aufreizend» fin­den -, wenn man den Menschen nicht bloß so kennenlernen soll, wie seine Nase aussieht, wie sein Mund aussieht, wie seine Augen aussehen, sondern wenn man ihn so kennenlernen soll, wie seine Seele aussieht. Aber würde sich denn der Einzug einer geistigen Weltanschauung in die Menschheit praktisch verwirklichen, wenn wir phrasenhaft in Ab­straktionen reden würden von wiederholten Erdenleben und von dem sich durch die wiederholten Erdenleben verwirklichenden Schicksal, und dann zurückschrecken würden vor der praktischen Anwendung im Leben, wenn wir doch nichts anderes vom Menschen kennenlernen wollten, als ob er blonde oder schwarze Haare hat, ob er diese oder jene Form der Augenbrauen, diese oder jene Nasenform hat und so weiter? Wollen wir damit Ernst machen, daß eine geistige Weltan­schauung sich in der Welt verbreite, dann muß dasjenige, was «Ken­nenlernen des Menschen» heißt, auch durchdrungen sein mit geistig-seelischen Impulsen, dann müssen wir uns nicht zurückhalten lassen von der Unbequemlichkeit, auch das Seelische des Menschen, unser eigenes und das der anderen Menschen, wirklich kennenzulernen. Dann müssen wir ebenso, wie auf die Nase, auf die seelischen Eigenschaften schauen, und darauf wird gerade der Menschheitsfortschritt von der Gegenwart aus in die nächste Zukunft beruhen, daß man nicht bloß auf die äußere Form der Nase sieht, sondern daß man von Seele zu Seele Beziehungen zwischen den Menschen gerade auf Seelenerkennt­nis einrichtet. Was man die soziale Frage nennt, ist etwas viel Tieferes, als sich zahlreiche Menschen heute vorstellen. Diese Soziale Frage kann im Grunde genommen gar nicht einmal von ferne berührt wer­den, wenn man eine Menschenbetrachtung fortsetzen will, wie ich sie Ihnen gestern am Ende der Stunde angeführt habe, wo der Mensch völlig herausfällt und man nur redet von dem Privateigentum, das er bewirtschaftet, und von den wirtschaftenden Automaten. Weil man seit dem Rückgang der instinktiven Seelenerkenntnis verlernt hat, überhaupt hinzuschauen auf den Menschen, lebt sich heute das soziale Leben in dem menschlich Äußerlichsten aus. Das aber treibt an die Oberfläche gerade die Instinkte, die wildesten Instinkte. Die Mensch­heit würde in ein Leben der wildesten Instinkte verfallen, wenn nicht

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Geistig-Seelisches unser unmittelbares Menschenleben durchzöge. Da­zu ist eben notwendig, daß wir neben der äußerlichen historischen Kausalität auch dasjenige sehen, was einfach in der Wirklichkeit der Erdenmenschheit dadurch da ist in der Gegenwart, daß die Nach­kommen nicht bloß ihre physischen Vorfahren darleben, sondern auch die Seelen, die als diese oder jene seelisch-geistigen Entitäten zu dieser oder jener Zeit früher auf der Erde gelebt haben. In dieser Resultie­renden, die sich ergibt durch die Eigenschaften der wiederverkörper­ten Seelen und der physischen Merkmale, lebt sich die menschliche Zivilisationswirklichkeit der Gegenwart wahrhaftig aus.

Die Reaktion, die vorläufige Reaktion gegen eine geistige Welt­anschauung macht sich ja nicht nur aus der mechanisch-materialisti­schen Denkweise der Naturwissenschaft auf dem Gebiete theoretischer Betrachtung geltend; die geht viel tiefer, die macht sich heute auch dadurch geltend, daß man geradezu eine Weltenordnung einrichten will, welche absieht von allem Geistig-Seelischen und nur nach dem Physisch-Anthropologischen der Generationenfolge sich richtet. Eine Karte von Europa soll entstehen rein nach den Blutszusammenhängen der Völker, rein nach chauvinistischen, nach volksegoistischen Impul­sen. Das ist die praktisch-soziale Reaktion gegen das Hereinkommen einer geistig-seelischen Weltanschauung. Man möchte sagen: Indem Europa die Deklamationen des Wilsonismus annimmt, die auf die Selbstverwaltung der blutsverwandten Völker gehen, erklärt es: Wir wollen nichts wissen von seelisch-geistigen Impulsen. - Es ist eine Opposition gegen das Hereinkommen des Seelisch-Geistigen.

Das ist nicht eine Kritik, das ist einfach eine Beschreibung der Tat­bestände; denn, was sich da geltend macht, ist eben die praktisch-soziale, die rassenmäßige Opposition gegen das Sich-Geltendmachen des Geistig-Seelischen. Dieses Geistig-Seelische aber, indem es ergreift die Gesinnung der Menschen, wird auch das praktische Leben ergrei­fen. Und das ist eine dringende Notwendigkeit, das ist eine Notwen­digkeit, die gar nicht schnell genug die Seelen der Gegenwartsmen­schen ergreifen kann: Diejenigen, die anfangen so etwas zu verstehen, die anfangen etwas zu verstehen von der praktischen Bedeutung an­throposophisch orientierter Geisteswissenschaft, von dem Umwandeln

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der Ideen gerade dieser Geisteswissenschaft in lebendige Handlungs­impulse für den Menschen, die müßten sich alle Mühe geben, wo sie nur immer können, entgegenzuwirken demjenigen, was das bloße An­thropologische ist. Wir sehen, wie heute die Welt durch Anthropolo­gie - natürlich in dem weitesten Sinne - in den Niedergang hinein-rasselt. Sie muß durch Anthroposophie vor diesem Niedergange be­wahrt werden.

Es sind das tatsächlich die zwei Strömungen der Menschheitsent­wickelung, die heute einen harten Kampf miteinander führen müs­sen, die rein anthropologische, die auch diejenige ist, die durch die politischen Maßnahmen geht, wenn auch in den verschiedensten For­men, und die anthroposophische, die heute noch verpönt wird. Man sieht ja überall, wie der heutige Mensch sich erst nach und nach wird dazu entwickeln müssen, die starke innere Initiative zu gewinnen, durch die er sich aufgerufen fühlt zu einer Entscheidung nach der einen oder nach der anderen Seite hin. Das darf nicht bloß, ich möchte sagen, im Theorienkämmerlein, im Weltanschauungskämmerlein ab­gemacht werden, das muß durchaus bei der praktischen Weltbetrach­tung seine Anwendung finden. Und da wird es ja insbesondere dem­jenigen übelgenommen, der nun wirklich nicht stehenbleibt als anthro­posophischer Weltenbetrachter in einer gewissen Höhe, sondern der die Bedeutung des Geistigen gerade darin sieht, daß der Geist die Materie beherrschen lernt, untertauchen lernt in die Materie, so daß auch das alltägliche Leben von demselben Gesichtspunkte aus betrachtet wird. Ein wirkliches Erwachen der Menschheit - ich habe es oftmals gesagt -ist nötig, ein solches Erwachen, daß der Mensch den Mut innerlich in sich entwickelt, zu Entscheidungen zu kommen. Das ist der heutigen Menschheit notwendig.

In dieser Beziehung stecken allerdings in den Untergründen der heutigen sogenannten zivilisierten Menschheit recht, recht bedrük­kende Impulse. Wir haben reichlich Gelegenheit in der gegenwärtigen Zeit, zu sehen, wie zunächst noch alles zurückgewiesen wird, was vom Menschen fordert, daß er innerlich sich für irgend etwas entscheidet. Man braucht ja nicht ins Parteimäßige zu verfallen, wenn man ins all­tägliche Leben einführt, was eben auch ins alltägliche Leben eingeführt

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werden muß, denn das wird die Signatur der Entwickelung in die Zu­kunft hinein sein, daß man auch dasjenige, was man unmittelbar vor sich hat, von einem höheren Gesichtspunkte aus betrachten kann.

Haben wir nicht eigentlich jetzt wiederum ein Ereignis gesehen, welches im Grunde genommen recht gründlich hineinleuchtet in den Schlafcharakter der gegenwärtigen Seelen? Ich habe mich ja nicht ge­niert, seit vielen Jahren hinzuweisen darauf, wie die Liebe für das Abstrakte einen großen Teil der Menschheit zu Wilsonianern gemacht hat, und ich habe charakterisiert, was das eigentlich in der Gegenwart bedeutet. Nun, wir haben ja neuestens, wenn auch nur bei einem klei­neren Volke, das aber auch gewissermaßen zur Zivilisation gehört, erlebt, daß es Entscheidungen hätte treffen sollen. Es stand gegen­über einem vielleicht in vieler Beziehung problematischen Charakter, der aber dieses Volk genötigt hätte, aufzuwachen in einer gewissen Weise. Und wir haben es erlebt, daß, ich möchte sagen, auch wie durch ein reales Paradoxon diese Persönlichkeit eliminiert worden ist und das Volk sich entschlossen hat, eine Null, einen Menschen, der sich reichlich als Null erwiesen hat, wiederum an ihre Spitze zu rufen.

Diese Dinge berühren allerdings das Alltäglichste, aber das ist es gerade, was einem heute so nahe geht, daß man diese Dinge nicht als Symptome ins Auge faßt, daß man kalten Herzens über diese Dinge hinweggeht und nicht sieht, was für Niedergangssymptome sie in der Menschheit sind, und wie es notwendig ist, daß die Kräfte aufgerufen werden, damit die Menschheit in den Seelen zum Wachen kommt. Es wäre schon notwendig, daß mit größerer innerer Lebendigkeit die ge­bildete Menschheit heute auch die äußeren Zeitereignisse verfolgte und Anteil nähme an dem, was sich innerlich abspielt.

Man ist wahrhaftig nicht dadurch ein großer Geist, daß man an dem, was so tief symptomatisch zeigt, wohin die Ereignisse laufen, gleichgültig vorbeigeht, denn an den äußeren Ereignissen zeigt sich, was äußerlich wirkt. Wie oft habe ich darauf hingewiesen, wie die ahrimanischen Kräfte gegenwärtig durch die Menschheit gehen. Dieses Gehen der ahrimanischen Kräfte durch die Menschheit, man kann es außerlich sehen, wenn man nur unbefangen ist. Aber wie soll denn die Wahrheit durchdringen, wenn man an den historischen Ereignissen, die

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gerade die Wahrheit äußerlich verifizieren können, gleichgültig, schläf­rig vorbeigeht und von ihnen Notiz nimmt, wie die Menschheit eben heute gewöhnt ist, von diesen Dingen Notiz zu nehmen. Geisteswissen­schaft will gewiß nicht parteimäßig werden; aber Geisteswissenschaft muß Lebenswirklichkeit in sich tragen. Heute muß gesehen werden, wie die Welt starke ahrimanische Kräfte in Opposition aufstellt ge­gen alles, was den Geist betont. Aber es muß sich in diesen Tagen -die natürlich Jahre umfassen - entscheiden, ob die Väter recht gehabt haben, die 869 am achten allgemeinen ökumenischen Konzil den Geist abgeschafft haben, ob es dabei bleiben soll, oder ob der Geist wieder­um eingeführt werden soll in die Entwickelung der Menschheit. Das aber wird nicht durch bloße theoretische Betrachtungen in der Mensch­heit lebendig werden können, sondern allein dadurch, daß es Lebens-praxis wird.

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NEUNTER VORTRAG Bern, 14. Dezember 1920

Heute wollen wir unseren Ausgangspunkt davon nehmen, den Fort­gang der Seele durch die aufeinanderfolgenden Erdenleben etwas zu betrachten. Die äußeren Erscheinungen, die da auftreten, die kennen Sie ja aus Ihrer übrigen Beschäftigung mit der Anthroposophie; wir wollen aber heute auf einige Dinge zu sprechen kommen, die eines genaueren Eingehens doch durchaus noch bedürftig sind.

Sie wissen: Wenn der Mensch durch des Todes Pforte geht, so ist ja das erste, daß er seinen physischen Leib ablegt; er hat zunächst das­jenige, was wir das Ich nennen, mit seinem ganzen Inhalte, dann das­jenige, was wir den astralischen Leib nennen, und zunächst auch noch den ätherischen Leib, wenn auch nur für kurze Zeit. Diese Zeit, in welcher der Mensch den ätherischen Leib noch hat, ist für ihn eine Zeit der Rückschau auf das letzte Erdenleben: In einer bildhaften Art tritt sein letztes Leben vor seine Seele. Diese Zeit endet damit, daß dieser ätherische Leib, man möchte sagen, ebenso nach oben, nach dem Weltenraum zu abgestoßen wird, wie der physische Leib nach unten, nach der Erde zu abgestoßen wird. Dann ist also der Mensch mit seinem astralischen Leib zusammen. In diesem astralischen Leib haben wir durchaus noch die Nachwirkungen des ätherischen Leibes, also alles dasjenige, was dieser astralische Leib dadurch erlebt hat, daß er mit dem ätherischen und auch übrigens mit dem physischen Leibe im letzten Erdenleben zusammen war. Sie wissen, daß es ja eine längere Zeit dauert, bis dieser Astralleib nun auch abgestreift wird.

Ich habe wohl sogar schon in unserer Literatur darauf aufmerksam gemacht, daß man nicht etwa von einer radikalen Auflösung des äthe­rischen und des astralischen Leibes sprechen darf, sondern diese Auf­lösung ist in Wirklichkeit ein Heraustreten derjenigen Kräfte, die der Mensch in sich hat, in das Weltenall. Der Ätherleib trägt ja in sich gewissermaßen die Einprägungen von alledem, was der Mensch im Leben durchgemacht hat. Das ist eine Summe von, ich möchte sagen, Formgebilden. Diese Summe von Formgebilden, die breitet sich immer

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mehr und mehr aus, prägt sich in der Tat dem Kosmos ein; so daß das­jenige, was sich abgespielt hat als unser Leben und was sich einprägt dem ätherischen Leibe, tatsächlich kräftemäßig im Weltenall weiter-wirkt. Wir übergeben die Art und Weise, wie wir uns gegenüber dem Ätherleib benommen haben, dem Kosmos. Unser Leben ist nicht be­deutungslos für das ganze Weltenall. Gerade dadurch kommt durch die Erkenntnis der anthroposophischen Geisteswissenschaft an den Menschen ein starkes Verantwortlichkeitsgefühl heran, daß er denken muß, wie dasjenige, was er dem Ätherleib einverleibt durch sein in­tellektuelles Leben, durch sein Gefühlsleben, durch sein Willensleben, also durch seine Moralität, sich durchaus dem ganzen Kosmos mit­teilt. Im Kosmos sind enthalten, ja, wenn ich so sagen darf, die Auf­führungen der Menschen, welche in vergangenen Zeiten gelebt haben. Es sondert sich in einer gewissen Weise dasjenige, was von unserer Lebensführung bis hinein in die Gestaltung des ätherischen Leibes mit-wirkt, und sammelt sich in der ganzen großen Welt an. Wir machen im Grunde genommen die Welt mit. Und wenn wir wissen, daß wir die Welt mit machen, müssen wir dieses Verantwortlichkeitsgefühl bekommen, welches sich dadurch ausdrückt, daß wir uns fühlen als Mitschöpfer der Welt. Auch dasjenige, was wir weitertragen als un­seren astralischen Leib, dürfen wir nicht einfach so ansehen, als ob es sich dann zerstreute im Weltenall, als ob es sich auflöste im Weltenall. Das ist nicht der Fall, sondern auch dies teilt sich dem Weltenall mit, allerdings dem geistig-seelischen Teil des Weltenalls.

Und wenn sich das Ich losgelöst hat von diesem astralischen Leib, nachdem der Durchgang durch die Seelenwelt vollendet ist, dann ist gewissermaßen dasjenige, was wir unserem astralischen Leib einver­leibt haben, draußen im Weltenall, man geht nur getrennte Wege. Der astralische Leib geht abgesondert vom Ich seine eigenen Wege, das Ich auch seine eigenen Wege. Aber man kann nicht von einer Vernichtung des astralischen Leibes sprechen. Im Gegenteil, dieser astralische Leib entwickelt sich weiter, und es wird durch seine Wechselbeziehung zum Weltenall etwas aus ihm, einfach dadurch, daß wir ihm die Wirkungen gewisser moralischer Impulse eingepflanzt haben und er nun mit der Gestalt, die er bekommen hat von dieser Wirkung der moralischen

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Impulse, sich dem Weltenall mitteilt, gewissermaßen sich hineinschiebt in das geistig-seelische Weltenall. Dadurch entsteht eine Wechselwirkung zwischen ihm und dem geistig-seelischen Weltenall. Man kann dann allerdings sogar so sagen - wenn das auch halb bildlich ist, so entspricht es doch den Tatsachen: Dieser astralische Leib dehnt sich immer mehr und mehr aus, aber er kommt mit seiner Ausdehnung an eine gewisse Grenze. Über die kann er sich nicht ausdehnen, er beginnt sich dann wieder zusammenzuziehen. Und die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der er sich entwickelt oder zusammenzieht, die hängt wesentlich ab von dem, was ihm einverleibt worden ist durch den Lebenslauf. So daß man sagen kann: Es teilt sich der astralische Leib dem Weltenall mit; er stößt gewissermaßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, an das Ende un­seres geistig-seelischen Kosmos an und wird wiederum zurückgeworfen.

Das Ich geht nun seine Wege in einer eigentlich wesentlich anderen Welt, als dieser astralische Leib ist. Aber dieses Ich entwickelt inner­lich eine Art von, man möchte sagen Begierde, wie ich das ja selbst im gestrigen öffentlichen Vortrage ausdrückte. Und diese Begierde ist es im wesentlichen, welche sich hingezogen fühlt gerade zu diesem zurück-kehrenden astralischen Leib, der allerdings jetzt etwas anderes ge­worden ist. Er findet in der Tat wiederum eine Art Verbindung statt zwischen dem metamorphosierten, zwischen dem umgeänderten astra­lischen Leib und dem Ich. Dadurch, daß dies geschieht, bekommt der Mensch nach den verschiedensten Seiten hin gewisse Neigungen, möchte ich sagen, indem er dern Zeitpunkt sich nähert, in welchem er wiederum auf die Erde zurückkehren soll.

Ich habe angedeutet, wie der astralische Leib hinaus sich dehnt in das Weltenall, wiederum zurückkehrt, wie das Ich ihn gewissermaßen wiederum findet. Wir können das an der äußeren Gestalt des Men­schen verfolgen, wenn wir den Menschen als ganzes Wesen, in seiner Totalität eben ansehen.

Wir müssen uns nämlich vorstellen, daß der Mensch, so wie er auf der Erde auftritt, wenn er durch eine Geburt geht, wirklich von zwei Seiten her gebildet wird. Jener astralische Leib, von dem ich Ihnen eben geschildert habe, wie er ins Weltenall hinaus sich ausgedehnt hat und wiederum zurückgekehrt ist, der begegnet sich gewissermaßen mit

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dem Ich. Bildlich gesprochen kommt er wie eine Art von Hohlkugel an das Ich heran, einer Hohikugel, die immer kleiner und kleiner wird; er hat seine Verwandtschaft mit dem planetarischen System. Das Ich entwickelt auf seinem Weg zwischen Tod und neuer Geburt, obwohl die Sehnsucht nach dem astralischen Leib auch vorhanden ist, doch noch mehr eine Sehnsucht nach einem bestimmten Punkte der Erde hin, in ein Volk, in eine Familie hinein. Aber auf der anderen Seite zieht sich zusammen, was als der umgewandelte astralische Leib von außen kommt und vereinigt sich mit dem, was das Ich jetzt ist nach dem Durchmachen der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt, und was eine starke Anziehungskraft nach dem Irdischen hin hat, nach Volk, Familie und so weiter. Das, was den Kräften dieses umgewandelten astralischen Leibes ausgesetzt ist, das sehen wir wie­derum, wenn wir den nun geborenen Menschen in bezug auf die äußere Oberfläche seiner Leiblichkeit ansehen: Dasjenige, was gewissermaßen von unserer Haut nach innen hin, einschließlich der Sinneswerkzeuge, organisiert wird, das wird uns aus dem großen Kosmos heraus orga­nisiert. Dasjenige aber, was organisch dadurch entsteht, daß das Ich sich mit der Erde verbunden fühlt, sich zur Erde hingezogen fühlt, das bewirkt die Organisation von innen heraus, entgegen der anderen Or­ganisation, das bewirkt mehr die Knochen-, Muskelorganisation und so weiter, das also, was von innen gewissermaßen dem entgegenge­strahlt wird, was von der Haut und von den Sinnen nach außen strahlt. Wir sind gewissermaßen aus dem Makrokosmos heraus orga­nisiert in bezug auf den äußeren Umfang unserer Leiblichkeit, und wir sind von der Erde aus organisiert mit Bezug auf dasjenige, was das eigentliche Ich durchströmt, was von innen heraus entgegenwächst der Haut-Sinnesbildung.

So ist der Mensch eigentlich aus dem Weltenall heraus geboren. Und der Aufenthalt im mütterlichen Leibe, der bildet ja nur, ich möchte sagen, die Gelegenheit dazu, daß sich diese zwei Kräfte, eine makro-kosmische und eine irdische Kraft, miteinander verbinden. Der Mensch ist aber durchaus ein Wesen, das nicht etwa aus einem Punkte heraus wächst, aus der Keimanlage, sondern der Mensch ist ein Zusammen-fluß von auf der einen Seite äußeren, nicht tellurischen, außerirdischen

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Kräften, die eben durch seinen umgewandelten astralischen Leib zu­sammengehalten werden, und von demjenigen, was diesen außerirdi­schen Kräften, von der Erde beeinflußt, entgegenwächst. Innig zu­sammenhängend mit dem, was uns vom Kosmos heraus anwächst, innig verwandt mit dem ist das, was wir unseren Verstand, unseren In­tellekt, unser Vorstellungsvermögen nennen. Dieses unser Vorstellungs­vermögen weist uns in der Tat zurück auf unser früheres Erdenleben. Dieses unser Vorstellen bekommen wir dadurch, daß dasjenige, was wir unserem astralischen Leib im früheren Erdenleben einverwoben haben, in den Kosmos hinaus sich gedehnt hat und wiederum zurück­gekommen ist, und jetzt gewissermaßen als Hauptorgan unseren Kopf aufsucht, der ja im wesentlichen von außen als ein Haut-Sinnesorgan gebildet ist. Das übrige ist gewissermaßen als Haut-Sinnesorganisa­tion nur Anhängsel zum Haupte. In dem dagegen, was mit den irdi­schen Kräften verwandt ist, weil das menschliche Ich, wenn es wieder­um zur Geburt geht, sich zu einem Punkte der Erde hingezogen fühlt, kommt mehr unsere Willensorganisation zum Ausdruck. So daß wir sagen können: Wenn wir wieder geboren werden, gibt uns der Himmel unseren Verstand, die Erde unseren Willen. Zwischen beiden liegt dann das Fühlen, das uns weder die Erde gibt, noch der Himmel, das auf einer Art von fortwährendem Ausschlagen zwischen Erde und Him­mel beruht, und das im wesentlichen sein äußeres Organ in dem rhyth­mischen System des Menschen hat, in dem Atmungssystem, in Blut­zirkulation und so weiter. Das steht mitten drinnen zwischen der ei­gentlichen Hauptesorganisation, die im wesentlichen eben das Ergeb­nis des Makrokosmos ist auf dem Umwege des früheren Astralleibes, und demjenigen, was uns von der Erde zukommt, unserer Willensor­ganisation. Zwischen drinnen steht unser rhythmisches System, steht unser Gefühlsleben, das auf dem Boden dieses rhythmischen Systems sich entwickeln kann, und das wir ja, ich möchte sagen, auch äußer­lich sichtbarlich vollbringen zwischen Himmel und Erde. Unser Haupt weist uns mehr nach unserem außerirdischen Ursprung; unser Wille ist innig verwandt mit dem, was wir von der Erde haben. Zwischen bei­den steht unser Gefühlsleben, und physisch betrachtet, unsere Zirku­lation, unser Atmungsleben. Es ist durchaus so, daß eine durchgreifende,

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eine totale Betrachtung des Menschen weder einseitig seelisch noch einseitig physisch ist, sondern daß die beiden, Physisches und Seelisches, ineinandergreifen bei dieser totalen Betrachtung.

Auf der anderen Seite können wir aber daraus auch sehen, daß wir, indem wir mit dern ganzen Makrokosmos zusammenhängen und gewissermaßen gerade in unserer Hauptesorganisation etwas in uns tragen, was aus dem Makrokosmos heraus gebildet ist, daß wir da­durch zurückgewiesen werden auf unsere Vergangenheit, daß wir mit unserem Intellekt überhaupt auf unsere Vergangenheit zurückgewie­sen werden; nur daß wir mit unserem gewöhnlichen Bewußtsein diese Erkenntnis nicht gewinnen, wie wir da zurückgewiesen werden auf unsere früheren Erdenleben.

Im alten orientalischen Weisheitsstreben versuchten diejenigen Men­schen, welche Schüler der Eingeweihten waren, einen Zusammenhang zwischen ihrem rhythmischen Leben und zwischen ihrem Hauptes­leben zunächst herzustellen. Für jenes Zeitalter, für die alte orienta­lische Weisheitsentwickelung, war es etwas Natürliches, eine höhere menschliche Entwickelung dadurch zu suchen, daß man den Atmungs-prozeß und damit auch den Zirkulationsprozeß zu etwas Bewußtem machte, daß man in gesetzmäßiger Weise einatmete und dadurch At­mung und Zirkulation in das Bewußtsein heraufhob. Das konnte der alte Orientale aus dern Grunde machen, weil sein Seelisch-Geistiges noch nicht so intensiv mit seinem Leiblichen verbunden war, wie das beim heutigen Menschen der Fall ist. Würde man einfach heute, ich möchte sagen, durch eine Art praktischen Anachronismus diese alte, orientalische Methode, oder in die höheren Erkenntnisse zu kommen, praktizieren, so würde man den menschlichen Leib mehr oder weniger ruinieren; denn man würde dadurch zu tief eingreifen in die Gesund­heit des physischen Leibes, weil heute ja der Mensch inniger verbun­den ist, intensiver verbunden ist mit seinem Leibe, als es zum Beispiel in der Zeit des alten indischen Weisheitsstrebens der Fall war.

Aber was erlangte derjenige, der im alten Indien solche Übungen durchmachte? Er machte den Atmungsprozeß zu etwas Bewußtem; er atmete also bewußt ein: Dadurch erlangte er die Möglichkeit, all­mählich den Vorgang zu verfolgen, der sich abspielt, indem die Einatmungsluft

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drückt, so daß allmählich das Hirnwasser durch den Rückenmarkskanal nach dem Gehirn hin pendelt, gewissermaßen an das Gehirn anschlägt. Aber in diesem Zusammenschlagen desjenigen, was als Gehirnwasser aufwärts schießt beim Einatmen, was wiederum sinkt beim Ausatmen, in dem Zusammenschlagen des Gehirnwassers mit den festen Partien des Gehirns entstehen eigentlich die Vorstellun­gen. Dieses Vorstellungsentstehen ist etwas viel Komplizierteres, als man es sich heute, wo alles materialistisch ausgedacht ist, vorstellt. Man denkt sich heute - oder wenigstens dachte man es bis vor kurzem, heute verzichtet man ja wiederum auf genauere Vorstellungen -, man denkt sich irgendwelche Evolutionen, läßt irgendwelche Nerven eben dem Vorstellen zugrunde liegen. Das ist Unsinn. Es handelt sich viel­mehr darum, daß tatsächlich ein fortlaufendes Anschlagen des Gehirn-wassers an das Nervensystem stattfindet, und daß dann diejenigen Vorgänge im Nervensystem sich abspielen, die den Kräften des Ner­vensystems zugrunde liegen. Das brachte der alte indische Weisheits­schüler sich zum Bewußtsein. Was erfuhr er, indem er diesen ganzen Prozeß bewußt verfolgte? Er erfuhr dadurch, wie dasjenige, was sein Gehirn geformt hat, eigentlich zurückweist in frühere Erdenleben. Er empfand gewissermaßen mit seinem jetzigen rhythmischen System sein früheres Erdenleben: das wurde für ihn zu einer Gewißheit. Da­durch war es einfach selbstverständlich für einen solchen Weisheits­schüler, daß er ein früheres Erdenleben hatte. Er nahm es ja wahr, aber indem er den Atmungsprozeß zu einem bewußten erhob. Heute muß dieses auf andere Weise bewirkt werden. Heute kann es nicht bewirkt werden durch eine so geartete Meditation, wie ich es ja auch im öffentlichen Vortrag ausführte, die ausgeht von einer besonderen Formung des Atmungsprozesses, welche eben für den heutigen Men­schen nicht durchgeführt werden darf, sondern die ausgeht von einem Ruhen auf Vorstellungen, die also von der entgegengesetzten Seite aus­geht und daher Rücksicht nimmt darauf, daß der Mensch heute in­tensiver mit seinem physischen Leib verbunden ist. Dadurch aber, daß der Mensch im Vorstellen ruht, dadurch lernt er von der anderen, von der geistig-seelischen Seite her diese Nuance des rhythmischen Systems kennen. Er lernt den Prozeß von der anderen Seite her kennen; nur

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so, daß er nun nicht, wie es beim alten indischen Menschen der Fall war, tiefer in seinen Leib hineindringt - das darf er nicht, weil er ohne­dies schon tief genug drinnen ist -, sondern indem er sich frei macht vom Leiblichen, also im Geistig-Seelischen den ganzen Kosmos ver­folgt, der ihm klarmacht, wie das frühere Erdenleben mit diesem Er­denleben zusammenhängt.

Was in der Anthroposophie ausgesprochen wird, sind nicht irgend­welche abstrakten fanatischen Angaben, sondern das beruht schon auf einer durchdringenden Erkenntnis der menschlichen Organisation von innen aus. Nicht indem man den Organismus von außen unter­sucht als Leiche - oder auch nicht als Leiche, aber eben von außen -, sondern dadurch, daß man ihn von innen kennenlernt, daß man wirk­lich diese Wechselwirkung kennenlernt zwischen dem rhythmischen System und dem Nerven-Sinnessystem, und auf der anderen Seite die Wechselwirkung zwischen dem rhythmischen System und dem Stoff­wechselsystem - denn an den Stoffwechsel als solchem schlägt nun auch das rhythmische System an -, aus dem innigen Kontakte der beiden Llernt man das menschliche Wesen kennen]. Und lernt man kennen dieses Zusammenfallen des rhythmischen Systems mit dem Stoffwechselsystem, so wird man gewiß, daß in uns schon der Keim zu dem nächsten Erdenleben steckt, indem einfach der Stoffwechsel nach seiner geistigen Seite hin die Keime enthält für das nächste Erden­leben. Wenn er auch zunächst das Niederste in der menschlichen Or­ganisation für dieses Erdenleben ist, nach der geistigen Seite hin ent­hält er eben die Keime für das nächste Erdenleben. Man steigt so auf zu einem Betrachten des ganzen Menschen.

Sehen Sie, in dieser Beziehung stehen eigentlich die im abendlän­dischen Zivilisationsleben drinnen steckenden Menschen wirklich viel­fach wie der Blinde vor der Farbe. Vielleicht liegt es manchem von Ihnen fern, aber ich möchte doch darauf aufmerksam machen: Alles dasjenige, was wir mathematisch aufnehmen, was also durch Linien-formen, Winkelformen, Senkrechtes, Waagerechtes spielt, was wir auch messen, alles dasjenige, was wir mathematisch aufnehmen, das entwik­keIn wir eigentlich aus unserem Inneren heraus, das liegt unserem Inne­ren zugrunde. In dem Augenblicke, wo man anschauen lernt, was da unserem

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Inneren zugrunde liegt, redet man nicht kantisch, wo man ein­fach in eine Art unverstandenes Wort dasjenige gießt, was da im Inne­ren des Menschen aufsprießt: Man sagt dann nicht mehr, die Mathe­matik sei eine Erkenntnis a priori. «A priori» heißt, etwas ist von vorn­herein da. Lernt man aber innerlich schauen, dann weiß man, woher man dieses merkwürdige Mathematische hat: es ist der astralische Leib durchgegangen durch die Mathematik des ganzen Weltalls, es hat sich das wieder zusammengezogen. Wir lassen einfach auftauchen aus un­serer Seele dasjenige, was wir in einer früheren Inkarnation erlebt haben, was dann durchgegangen ist durch den ganzen Kosmos und was dann in der Feinheit der mathematisch-geometrischen Linien wie­derum auftaucht. Da sehen Sie, daß also einfach in dern a priori sich etwas ausspricht, was schon einem Anschauen der Welt entspricht, wie es der Blinde von der Farbe hat! Man müßte sonst sagen: Dasjenige, was im Kantschen Sinne a priori genannt ist, das ist herrührend aus unseren früheren Inkarnationen und taucht in dieser Inkarnation in einer verwandelten Gestalt, allerdings durchgegangen durch den Ma­krokosmos, wiederum auf.

Ich habe Ihnen damit von der Gesetzmäßigkeit gesprochen, die dern ganzen Menschen zugrunde liegt, und die sich verrät, wenn man das Leben betrachtet, wie es durch die wiederholten Erdendaseine hin­durchgeht. Unsere heutige Zeit ist sehr abgeneigt, auf solche Dinge überhaupt Rücksicht zu nehmen. Daher bleibt unsere heutige Welt-betrachtung auch wirklich an der Außenseite der Dinge haften. Und das möchte ich Ihnen auch an einem Beispiele veranschaulichen.

Nehmen wir an, wie betrachten heute nach der Methode, die ein­mal üblich ist, irgendein Volk auf einem bestimmten Grund und Bo­den der Erde. Nun ja, was tun wir heute als Geschichtsforscher? Wir sagen: Da lebt die heutige Generation; ihr ging eine andere voran; einer weiteren Generation ging wieder eine weitere voran. Wir kommen dann in frühere Jahrhunderte zurück, wir kommen in das Mittelalter zurück, und verfolgen da, ich möchte sagen, die Blutströmungen durch die Generationen herunter, verfolgen die äußeren Vererbungen und sagen: Was in dern jetzigen Volke lebt, das führt sein Dasein zurück auf frühere Entwickelungsphasen dieses Volkes.

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So betrachtet man heute die Geschichte. Wenn heute so ein rich­tiger Historiker, sagen wir, deutsche Geschichte oder französische Ge­schichte oder englische Geschichte möglichst weit zurückverfolgen will, dann verfolgt er sie durch die Vorfahrenkette hindurch nach den physisch vererbbaren Merkmalen. Man redet dann wohl auch so, daß das, was eine Generation der Gegenwart, die einem Volke angehört, darlebt, begriffen werden soll aus dem, was frühere Generationen die­ses Volkes erlebt haben; aus dem also, was physisch vererbt ist. Aber das ist ja doch nur eine ins Geschichtliche übertragene materialistische Denkweise. Denn betrachten Sie einmal dasjenige, was Ihnen anthro­posophische Geisteswissenschaft gibt, nicht als eine bloße Theorie, son­dern als etwas, was auf das Leben wirklich angewendet wird, was man in die Lebensbetrachtung überführt: dann müssen Sie doch nicht nur über die wiederholten Erdenleben spekulieren, müssen gewissermaßen nicht nur isoliert betrachten, daß Ihre Seele frühere Erdenleben durch­gemacht hat und künftige durchmachen wird, sondern man muß auch wirklich unter diesem Gesichtspunkte betrachten, was sich in der Welt ausbreitet. Denn betrachten wir irgendeine jetzt lebende Generation, gewiß, wir führen sie blutsmäßig zurück, äußerlich, physisch vererb­baren Merkmalen gemäß, auf frühere Generationen, die meinetwillen auf demselben Boden gelebt haben, oder die wir auf irgendwelche Vor­fahren auf einem früheren anderen Boden zurückführen können, in­dem wir über Völkerwanderungsströme und dergleichen gehen, aber wir bleiben dabei eben durchaus im Physisch-Materiellen stecken.

Es ist aber doch nicht so. Wir haben eine Generation in der jetzigen Zeit vor uns, die in bezug auf ihre physische Leiblichkeit von den Vor­fahren abstammt; aber die Seelen, die in jedem einzelnen Menschen leben, die brauchen ja gar nichts zu tun zu haben mit den Vorfahren. Die Seele hat ja auch dasjenige, was durch viele Generationen hindurch verlaufen ist und was äußerlich das Schicksal der Vorfahren darstellt, durchaus nicht auf der Erde miterlebt; das hat ja diese Seele im Leben zwischen Tod und neuer Geburt in der geistig-seelischen Welt mit­erlebt.

Nicht wahr, wir blicken hinauf zu unserem Großvater, Urgroß­vater, Ururgroßvater. Nun, als die lebten, waren wir noch nicht geboren,

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unsere Seele war in der geistigen Welt. Unser Leib hat von ihnen geerbt, aber unsere Seele, hat von denen allen nichts geerbt! Die hat ja während der Zeit in einer ganz anderen Welt gelebt, die braucht ja gar nichts zu tun zu haben in ihren eigenen Erlebnissen mit dem, was unser Körper von unseren Vorfahren geerbt hat. Und wenn dann auf dern Gebiete der Geistesforschung diesen Dingen nachgeforscht wird, dann stellt sich allerdings vielfach für die äußerliche Betrachtung Pa­rodoxes heraus. Man muß sich überhaupt klar sein darüber, daß wenn man über die wahren Tatsachen des Lebens anfängt zu spekulieren, zu philosophieren, so kommt in der Regel ein Unsinn heraus! Das An­schauen gibt einzig und allein das Richtige. Und derjenige, der ein Gei­stesforscher ist, fühlt sich selber oftmals überrascht von seinen Resulta­ten. Ja, er kann geradezu in dieser Überraschung, die er von seinen Resul­taten fühlt, eine Art Bewahrheitung finden; denn wenn er sich schon vorher die Sache gedacht hätte, würde er nicht in der Stärke die Be­wahrheitung finden. Aber gerade dadurch, daß die Sachen zumeist an­ders sind, als sie wären, wenn man sie sich ausdenken möchte, kann man in der Regel sehen, daß man nicht im Subjektiven, sondern im Objektiven sich bewegt, wenn man sich der wirklichen Geistesfor­schung hingibt.

Sehen Sie, da stellt sich mit Bezug auf dieses Geschichtliche in der Menschheit etwas heraus. Ich habe auch früher schon darauf hinge-deutet; das soll allerdings nicht korrigiert, sondern nur ergänzt wer­den, denn wir bewegen uns ja auf einem sehr komplizierten Gebiete. Wir haben früher gesagt, und das ist auch bis zu einem gewissen Grade eine durchaus richtige Tatsache, daß wir zum Beispiel unter der euro­päischen Bevölkerung zahlreiche Persönlichkeiten haben, die als See­len früher im Süden gelebt haben in den ersten christlichen Jahrhun­derten, und jetzt mehr im Norden, oder überhaupt in Europa ver­körpert sind, aber mehr im Norden; das ist durchaus wahr. Aber es ist eigentlich nicht das Gros der Bevölkerung. Da muß man schon wo­anders suchen, wenn man die wirkliche Realität kennenlernen will. Beim Gros der heutigen, namentlich der westlichen, aber auch der mit­teleuropäischen Bevölkerung und bis nach Rußland hinein, da wird man nämlich in geisteswissenschaftlicher Forschung nach denjenigen

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Zeiten geführt, wo die damalige europäische Bevölkerung aufge­treten ist als Erobererbevölkerung gegenüber den damaligen Urein­wohnern Amerikas. Diese indianische Bevölkerung, sie hat ja merk­würdige innere seelische Qualitäten gehabt. Man wird solchen Dingen in der Regel nicht gerecht, wenn man - bloß egoistisch pochend auf seine «höhere» Kultur - das alles als ein bloßes Barbarentum an­schaut, wenn man nicht das ganz Andersartige solcher Menschen, wie diejenigen, die erobert und ausgerottet worden sind nach der Ent­deckung Amerikas, berücksichtigt, wenn man diese nicht in ihrer be­sonderen Eigenart betrachtet, sondern sie einfach von der Vogelper­spektive einer höheren Kultur herunter ins Auge faßt. Diese Urbe­völkerung Amerikas, diese indianische Bevölkerung, hatte zum Beispiel merkwürdige pantheistische Gefühle. Sie verehrten einen Großen Geist, der durch alles Werden wehte. Die Seelen waren intensiv er­füllt von dem Glauben an den alles durchwehenden Großen Geist. Durch alles das, was damit im Gefühlsleben dieser Menschen zusam­menhing, waren diese Seelen dazu prädestiniert, vorherbestimmt, ein verhältnismäßig kurzes Dasein zwischen Tod und neuer Geburt zu führen. Aber jenes Verhältnis, das sich herausgebildet hatte zwischen ihnen und ihrem Grund und Boden und ihrer ganzen Umgebung, und zwischen diesem Schicksal, das sie dadurch hatten, daß sie ausgerottet wurden, das alles war maßgebend für das Leben zwischen dern Tode und einer neuen Geburt. Und das hat dazu geführt, daß in der Tat das Gros, so paradox es eben klingt, es ist einfach die Tatsache so, daß das Gros der westeuropäischen, mitteleuropäischen Bevölkerung, noch in den Osten hinein - nicht ganz, sondern nur zum großen Teil, aber eben doch zum großen Teil -, daß dieses Gros der Bevölkerung zwar dern Blute nach von den physischen Vorfahren des Mittelalters ab-stammt, daß aber die Seelen diejenigen sind, welche in alten Indianer-leibern gelebt haben. So paradox es klingt, es ist in bezug auf das Gros der europäischen Bevölkerung dies der Fall! Dieses Erleben im Gefühl gegenüber dern Großen Geiste, das ging eine Wechselwirkung ein mit dem, was ja allerdings im äußerlichen geradlinigen geschichtlichen Werden da ist, und was man aufnimmt mit der ersten kindlichen Liebe, namentlich wenn man diese von innen heraus in Nachahmung wieder

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praktiziert. Dasjenige, was wir da aufnehmen, ist zum großen Teil eben von außen Aufgenommenes; das geht eine Wechselwirkung ein mit dem, was eigentlich in der Seele aus früheren Inkarnationen her­rührt. Und man versteht das europäische Leben nicht, wenn man es nur einseitig nach dern betrachtet, was ja gar keine Wirklichkeit ist: nach den von den Vorfahren vererbten Merkmalen, sondern wenn man weiß, woher die Seelen kommen, die sich dann mit diesen vererbten Merkmalen untermischt haben zur Wechselwirkung. Und erst als solches Resultat des Zusammenwirkens zwischen dem, was die Seelen sind aus ihren früheren Erdenleben, und dem, was diese Seelen ange­nommen haben durch Vererbung und auch durch Erziehung - Erzie­hung im weitesten Sinne -, bildete sich das heraus, was jetzt geschicht­lich gewordene europäische Wirklichkeit ist.

Diese Bevölkerungen sind allerdings stark durchmischt worden von Seelen, die in den ersten Jahrhunderten des Christentums im Süden gelebt haben, und die dann auch wiederum in diesem West- und Ost­europa sich inkarniert haben; aber alles dasjenige, was überhaupt mm sozialen Leben sich abgespielt hat, und was sich namentlich immer mehr und mehr in der jetzigen katastrophalen Zeit abspielt, das weist hin darauf, daß die Wirklichkeit dieses europäischen Lebens eine kom­plizierte ist. Und der Geistesforscher kommt darauf, daß sie kompli­ziert namentlich dadurch gemacht wird, daß eben wiederverkörperte Indianerseelen sich mit dern verbinden, was die vererbten Merkmale sind, was an vererbten Merkmalen in den einzelnen Nationalitäten und dergleichen auftritt.

Dern entgegen müssen wir dann eine gewisse europäische Bevölke­rung stellen, die wir in den ersten christlichen Jahrhunderten antref­fen, in der Zeit, in der wir, der äußeren Geschichte nach, von den Völ­kerwanderung sprechen: diejenige Bevölkerung vom Europa von einst­mals, die als barbarische Bevölkerung das vom Süden kommende Christentum aufgenommen und in einer ganz anderen Weise gestal­tet hat, als dieses Christentum etwa im Griechentum oder im Rö­mertum in den allerersten Jahrhunderten sich ausgebildet hat. Diese Seelen der Völkerwanderungszeit und noch der folgenden Jahrhun­derte waren durchaus so geformt, daß sie sich stark beeindruckt zeigten

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von dem, was da als Christentum vom Süden nach dern Norden stieß, neben dem, was die ursprünglichen Anlagen dieser Bevölkerung waren. Man muß durchaus sich klar darüber sein, daß diese Bevölke­rung Europas, die das Christentum angenommen hat zur Völkerwan­derungszeit, ganz besondere Eigenschaften an die Oberfläche brachte. Namentlich war ja in dieser Bevölkerung eine starke Hinneigung, die physische Organisation so zu gestalten, daß das Ich-Bewußtsein mit einer besonderen Vehemenz auftrat. Und dieses Ich-Bewußtsein, das da auftrat, das wurde zusammengebracht mit der Selbstlosigkeit des Christentums, dadurch formte sich die Seele in einer bestimmten Art. Es waren also Seelen, die sozusagen das Christentum ein paar Jahr­hunderte nach seinem Entstehen in sich aufgenommen haben. Während das Gros der europäischen Bevölkerung jetzt Seelen verkörpert, die eigentlich das Christentum von außen kennenlernen, durch Erziehung, auch durch dasjenige, was von Gefühlen in der Vererbung liegen kann, hatten diese Seelen in ihrem früheren Leben drüben in Amerika nichts von dem Christentum aufgenommen. Man soll sich nur einmal vorstel­len, wie unendlich einleuchtend das Verhältnis der gegenwärtigen euro­päischen Bevölkerung zum Christentum ist, wenn man entdeckt hat, daß die Seelen zum großen Teile in ihren früheren Inkarnationen gar nichts erfahren haben vom Christentum, sondern daß das Christentum bei ihnen etwas Anerzogenes ist, eine gerade eben in der Generationen­folge fortgepflanzte Tradition, etwas fortgepflanztes Anerzogenes ist. Diejenigen dagegen, die in Europa das erste Christentum, also das Christentum in seinen ersten Zeiten kennengelernt haben, die ver­körpern sich, indem die Zeit der Gegenwart zurückte, gerade in der Gegenwart mehr nach dem Osten hin, mehr nach Asien hinein. So daß in der Tat diese einmal etwas durchchristeten Seelen jetzt nach der anderen Seite hin pendeln, dasjenige aufnehmen, was im Orient aus den alten orientalischen Traditionen geblieben und da in die De­kadenz gekommen ist. Die Japaner, geisteswissenschaftlich studiert, sind vielfach gerade charakteristische wiederverkörperte Seelen, die in Europa zur Zeit der Völkerwanderung gelebt haben.

Ja, wir können gegenüber hervorragenden Persönlichkeiten dann Verständnis entwickeln, wenn wir solches wissen. Versuchen Sie gerade

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diese merkwürdige Persönlichkeit des Rabindranath Tagore von diesem Gesichtspunkte aus zu verstehen: Dasjenige, was ihm anerzogen wor­den ist aus dem Orientalismus heraus, namentlich aus dern Indertum heraus, das hat er durch Vererbung. Was er also von da her hat, das hat er durch Vererbung, das ist ihm anerzogen worden, das ist ihm von außen zugeflossen. Es ist ja dies im wesentlichen Dekadenz, da-her hat es einen so koketten Charakter. Denn in einer gewissen Weise ist das, was man von Rabindranath Tagore hört, in einer außerordent­lich koketten Weise geformt. Aber der Europäer fühlt darinnen wie­derum etwas, das bei Tagore warm durchglüht das, was in einer ko­ketten Weise auftritt. Und das rüht davon her, daß diese Seele in einer früheren Inkarnation eben unter einem das Christentum annehmen-den Volke gelebt hat.

Sie sehen, man betrachtet die äußere Welt nicht weniger abstrakt, wenn man sie bloß materiell betrachtet, als wenn man irgendwie sonst eine lebensfremde Lebensauffassung entwickelt. Was sieht man von der Menschheit der Gegenwart, wenn man nur ihre Blutsverwandtschaft, ihre Blutsabstammung weiß, wenn man keine Rücksicht zu nehmen vermag auf dasjenige, was die Seelen aus einer früheren Inkarnation mitgebracht haben? Dies verbindet sich ja mit dem, was in der äußeren Vererbung, der äußeren Erziehung auftritt, zu einem Ganzen.

Diese Seelen, die da in Mitteleuropa zur Völkerwanderungszeit ge-lebt haben, die waren durch ihre ganze Seelenkonfiguration, vor allen Dingen dadurch, daß sie innerlich durchchristet waren, zum Beispiel für ein längeres Verweilen zwischen Tod und neuer Geburt vorher­bestimmt, so daß sie diese Zeit länger durchmachten.

Dann wird der Geist-Erforscher, wenn er die Gegenwart unter­sucht, in jene Zeiten geführt, die etwas vor oder gleichzeitig mit dern Mysterium von Golgatha waren, gleichzeitig oder etwas nachher. In Asien drüben, da hat ja die Bevölkerung nichts angenommen gehabt von dern Mysterium von Golgatha. Aber allerdings, aus orientalischer Weisheit, aus dem, was im orientalischen Wesen ja durch Hingebung sich als Weisheit entfaltet hatte, wurde gewissermaßen dasjenige an­gelegt, was man in der ersten Zeit als Verständnis dem Christentum ent-gegenbrachte. Das Mysterium von Golgatha steht eben als eine Tatsache

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für sich da. Es kann von den verschiedensten Zeitaltern in der verschiedensten Weise begriffen werden. Die ersten Jahrhunderte der griechischen und römischen Entwickelung haben dieses Mysterium von Golgatha so begriffen, daß sie die ihnen vom Oriente herüberkom­mende Weisheit anwendeten auf dieses Mysterium von Golgatha. Wie sie die Einkörperung des Christus in den Menschen Jesus von Nazareth verstanden, dafür bekamen sie die Begriffe von der orientalischen Weisheit.

Aber drüben in Asien waren die Menschen, die vor und zur Zeit und nach dem Mysterium von Golgatha lebten, allerdings auch schon mit einer etwas verschwommeneren, aber doch noch weit lebendigeren Gestaltungskraft begabt, als was Sie jetzt im Oriente finden. Diese Menschen, die also zu jener Zeit in Asien wohnten, wenigstens ein großer Teil davon, sind heute gerade in der amerikanischen Bevölke­rung vielfach verkörpert, in dern Gros der amerikanischen Bevölke­rung. Gerade dieser Teil der Menschheit hatte durch seine besonders ausgebildete orientalische Kultur eine lange Zeit zwischen dern Tode und einer neuen Geburt durchzumachen, so daß dies im Grunde ge­nommen alte Seelen sind. Sie werden in Amerika geboren, in Leiber hinein, in denen sie sich eigentlich nicht - wenn ich mich so ausdrücken darf - ganz wohl fühlen, und die sie daher gerade mehr von außen anzusehen belieben als von innen. Daher ist dort heute die besondere Neigung nach äußerlicher Lebensbetrachtung. Das Kuriose, das Pa­radoxe tritt einem da zutage, daß jene Seelen, die da im Oriente drü­ben gelebt haben, die damals noch kein Christentum angenommen, aber eine feine geistige Kultur hatten, jetzt in amerikanischen Leibern leben. Allerdings, ein Teil zeigt, ich möchte sagen, an einem abgeson­derten Phänomen ganz deutlich, wie das ist. Der Orientale war zuge-neigt dern Spirituellen der Welt. Indem diese Seelen in Amerika heute wieder erscheinen, entwickelt sich in ihnen ein, allerdings heute ab­strakt gewordenes, nicht mehr innerlich lebendiges Hinneigen zur spi­rituellen Welt. Dieses Erleben der spirituellen Welt war in verflosse­nen Zeiten - eben in früheren Inkarnationen - verbunden mit einem Übersehen der physischen Welt, mit einem Nichthinblicken auf sie. Es tritt bei den Anhängern der «Christian Science» eben in einer dekadenten

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Weise auf: es wird die Materie geleugnet, man will nicht hin­sehen auf die Materie. Man fühlt sich gewissermaßen, als wenn man die alte, aber lebendige Spiritualität nun in einer abgetöteteren Form, in einer leichnamhaften, geistig leichnamhaften Form anbetete. Doch das ist ja nur ein, ich möchte sagen, herausgesonderter Teil. Im ganzen kann man in der amerikanischen Auffassung sehen, wie Seelen nicht ganz voll in ihrem Leibe sitzen, wie sie daher den Leib von außen erfassen wollen, wie selbst die Seelenwissenschaft in Amerika einen Charakter annimmt, in dem man im Grunde genommen keinen rechten Begriff vorn Ich hat. Weil die Seele mehr gewöhnt war, im Über­irdischen sich zu fühlen, wird diese Ich-Einkörperung, wie sie jetzt im Westen geschieht, nicht recht ausgebildet. Daher tritt das auf, was den einen Gedanken mit dem anderen nicht zusammensetzen läßt. Man nennt das dann «Assoziations-Psychologie». Da wird der Mensch etwas wie der Spielball der Gedanken, die sich so assoziieren. Es er­scheint da kurioserweise etwas, das man mit einem Worte bezeichnen könnte, mit dern verleumderisch oftmals uns gegenüber die Lehre von den wiederholten Erdenleben bezeichnet wird: man redet von Seelen­wanderung. Aber in bezug auf die wiederholten Erdenleben darf bei uns nicht von Seelenwanderung gesprochen werden, wenn es nicht von verleumderischer Seite geschieht. Denn in bezug auf die wiederholten Erdenleben haben wir es mit einer Evolution, mit einer Entwickelung der Seele zu tun, nicht mit dem, was uns vorgeworfen wird; aber in anderem Sinne kann man von Seelenwanderungen sprechen, indem ixi der Tat die Seelen, die in einem bestimmten Zeitalter einen Teil der Erde bevölkern, im nächsten Zeitalter doch nicht wiederum auf dem­selben Fleck der Erde verweilen, sondern auf einem ganz anderen Fleck. So findet man die in den ersten christlichen Jahrhunderten im Süden verkörperten Seelen allerdings jetzt in Mittel-, West- und Ost­europa, mehr im Norden, findet aber diese Bevölkerung durchsetzt mit denjenigen Seelen, welche in Indianerleibern waren. In Asien drüben findet man die Seelen, die zur Völkerwanderungszeit und auch vor- und nachher in Europa gelebt haben; in Amerika die Seelen, die in Asien gerade zur Zeit des Geschehens des Mysteriums von Gol­gatha gelebt haben.

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Wir stehen unbedingt vor einer Zeit, in welcher man die Sehnsucht nach einem Durchschauen der ganzen Wirklichkeit entwickeln wird. Heute ist noch eine scharfe Opposition gegen dieses Durchschauen der ganzen Wirklichkeit, nicht etwa bloß auf theoretischem Gebiete, son­dern auch auf dem Gebiete des äußeren Lebens. Bedenken Sie nur, wie ich von den verschiedensten Seiten her immer wieder und wiederum diese intellektualistische Krankheit, die aufgetreten ist in den letzten Jahren, kennzeichnen mußte: dieses Betörtsein durch den Wilsonismus. Ich mußte oftmals, auch in öffentlichen Vorträgen, mit scharfen Wor­ten auf dieses Betörtsein eines großen Teils der Menschheit durch den Wilsonismus hindeuten. In diesem Wilsonismus haben wir auch - aber in einer schon ganz abstrakten Form - etwas angedeutet, was aber natürlich langsam heraufgekommen ist als die äußere, im sozialen Denken auftretende Folge des Materialismus: langsam heraufgekom­men ist im Laufe des 19. Jahrhunderts das Nationalitätsprinzip, dieses Pochen auf die Nationalität, dieses nur leben wollen in der Nationali­tät. Das ist die Opposition gegen das Geistig-Seelische, denn dieses Geistig-Seelische, das kümmert sich nicht um die Nationalität. Die Seelen, die heute in Europa leben, sind vielfach früher in Amerika ge­wesen; die Seelen, die heute namentlich in japanischen Leibern leben, die dürften gar nicht seelisch hinweisen auf ihre Vorfahren, sondern auf die Völkerwanderungszeit Europas. Ja, die Amerikaner müßten ja nicht etwa stolz sein auf ihre Vorfahren, ihre Blutsvorfahren oder Ahnen in Europa, sondern müßten hinweisen darauf, wie sie gelebt haben zur Zeit des Mysteriums von Golgatha gerade in Asien drüben und da eine noch nicht durchchristete Kultur durchgemacht haben, so daß sie es auch sind, welche das Christentum durch äußere Tradition und äußere Erziehung annehmen. Es ist noch eine scharfe Opposition auch von dieser Seite aus gegen das geistig-seelische Auffassen der Welt.

Nicht nur in der Wissenschaft hat man diesen Materialismus, man hat ihn auch durchaus in der äußeren Zivilisation. Und das, was man heute aus Europa machen will, diese neue Karte von Europa, die ist durchaus aus materialistischem Empfinden, materialistischen Impul­sen heraus geformt. Die Menschheit wird erst aufwachen, wenn sie zu

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diesen nationalistischen Impulsen, die materialistisch sind, die bloß auf ein Beobachten der äußeren Generationenfolge beruhen, hinzu­fügt die Betrachtung des sozialgeschichtlichen Lebens in seiner wahren Wirklichkeit. So daß man auch die Seelen sieht, die in den gegenwär­tigen Leibern leben und die nur als eine äußere Hülle dasjenige haben, was in der Generationenfolge sich durch physische Vererbung fort-pflanzt, oder was in der Tradition sich als geistige Kultur fortpflanzt und durch die Erziehung bloß angenommen wird.

In den Untergründen herrschen schon bei den Menschen solche Sehnsuchten, hinauszugehen über das, was eine bloß materialistische Be­trachtungsweise liefern kann. Natürlich nimmt sich gegnüber dem, was man heute gewohnt ist zu denken, vielfach das paradox aus, was aus der wirklichen Geistesforschung stammt. Aber wer nur hinein­schauen will in das Leben, namentlich in das heutige Leben, das ja in Nöten absolviert wird, der wird zum Beispiel sehen, daß vieles ihm verständlich wird, gerade wenn er so hinhört auf das, was der Geistes-forscher aus seiner gewissenhaften, exakten Forschung heraus gibt. Der Mensch ist gewohnt, etwas auf das zu geben, was ihm mitgeteilt wird, sagen wir von den Sternwarten oder dergleichen. Wenn irgendwo eine astronomische Entdeckung gemacht wird, so sagen die Menschen nicht, daß sie das auf Autorität hin annehmen. Sie werden sich nicht bewußt, daß sie es allerdings auf Autorität annehmen, aber im Zusammen-hange mit dem gesunden Menschenverstand, der überschaut, daß das nicht töricht ist, was da von irgendeiner Sternwarte aus als Übertra­gung auf die übrige Welt geht; daß es ja vernünftig eingerichtet ist, so daß man schon einen Grund hat, nicht zu zweifeln, daß das, was einem da mitgeteilt wird, auf Wahrheit beruht. Der Lebenszusammen­hang, der ist schon so, daß man durchaus nicht sprechen kann, man nehme etwas bloß auf Autorität hin an. So müßte man aber auch den­ken, wenn vereinzelte Geistesforscher nur wie vereinzelte Astrono­men auftreten und dasjenige verkündigen, was aus der Geistesforschung heraus ist: man wird das aber überall im Leben bewahrheitet finden, wenn man eben seinen gesunden Menschenverstand anwenden will.

Anthroposophische Geisteswissenschaft würde eben durchaus nur etwas Theoretisches, Abgezogenes im Leben bleiben, wenn sie nicht

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alles durchdringen würde, was einzelne Zweige dieses menschlichen Lebens sind. Sie müssen sich auch nicht vorstellen, daß zum Beispiel die Geschichte von der Geisteswissenschaft aus so beeinflußt werden solle, daß man nun auch wiederum nur Epochengeschichte entwickle, Generationengeschichte, nur etwas tiefsinniger; das ist nicht der Fall. Sondern die geistigen Forschungen selber sollen vereinigt werden mit dern äußeren Material der pragmatischen oder sonstigen Geschichte, und daraus soll sich die Anschauung der vollen Wirklichkeit ergeben. So groß heute in den unterbewußten Tiefen des menschlichen Lebens die Sehnsucht ist nach einer solchen, der Wirklichkeit gemäßen Auf-fassung des Lebens, so stark ist eben auch auf der anderen Seite, und zwar aus dern mehr bewußten Teil des menschlichen Lebens, noch die Opposition. Und diese Opposition sucht alle möglichen Dinge auf, um eben sich den Schein einer Rechtfertigung zu geben. Sie schreckt nicht zurück vor jeder Art der Verleumdung. Ich habe Ihnen gestern an einem Beispiel gezeigt, wie unwahrhaftig diese Opposition wird, indem sie einfach lügt, die objektive Unwahrheit sagt. Man kann ganz ab­sehen davon, daß dies Angriffe auf die anthroposophische Geistes­wissenschaft sind, darauf kommt es nicht an; aber auf was für mensch­liche Eigenschaften werden wir hingewiesen, wenn ein Mensch, der ein großes «D» vor seinem Namen hat, der also Doktor der Theo­logie ist, so durch und durch verlogen ist, daß er nicht etwa hin-schreibt: Mir hat einer erzählt, in Dornach hat er ein Bild des Chri­stus gesehen, der oben luziferische Züge hat und unten tierische Merk­male -, während dort ein Idealkopf steht, der oben allerdings zum großen Teile fertig ist, unten aber nur ein Holzklotz ist; von dern sagt er, daß das tierische Merkmale hat! Man muß also wirklich sa­gen: Da liegt eine solche moralische Niedrigkeit vor, daß man zu­rückschließen muß von diesem Mangel an Wahrheitsgefühl auf die ganze Wissenschaft, die solch ein Mensch vertritt, denn die wird ja natürlich nicht von einer größeren Wahrhaftigkeit durchzogen sein in bezug auf das Wahrheitsgefühl.

Es stellt sich auf der anderen Seite heraus, daß Menschen, die durch­aus nicht ins Geistige hinein, sondern bei den abstrakten Begriffen stehenbleiben wollen, wenn sie nun durchaus etwas Positives vorbringen

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wollen, auch auf merkwürdige Abwege geraten. Da ist zum Bei­spiel ein Mensch, der heute aus leeren Begriffshülsen heraus eine Welt­anschauung formen will, die sogar auf manche Menschen Eindruck macht: das ist der Graf Hermann Keyserling. Man versuche nur ein­mal, sich etwas Substantielles zu vergegenwärtigen bei den leeren, ab­strakten Begriffshülsen des Hermann Keyserling, man wird es nicht können. Er ist ein vielgelesener Mann - Inhalt ist nicht in seinen Schrif­ten; da, wo er den Inhalt sucht, da wird er auch danach. Er kritisiert und kanzelt ab auch die anthroposophische Weltanschauung. Dasje­nige, was er von seinen Phrasen aus drechselt, das könnte natürlich großen Eindruck nicht machen; so ist er angewiesen darauf, wo er et­was Positives sagen will, die Unwahrheit zu sagen. So zum Beispiel weiß ja jeder, der meine Schriften verfolgt, daß ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Anlehnung an Goethes Naturwis­senschaftliche Schriften durchaus vom Goetheanismus ausgegangen bin. Daß ich mich dann auseinandergesetzt habe mit dern Haeckelis­mus, das ist eine Sache, die jedenfalls nicht zu meinem Ausgangspunkt gehört. Graf Keyserling lügt, indem er sagt, meine ganze Betrachtungs­weise ginge von Haeckel aus - und einfach alles übersieht, was wirk­licher Ausgangspunkt ist. Und so kann man zahlreiche wirkliche Lü­genhaftigkeiten bei so vielgelesenen Männern der Gegenwart finden. Wenn diese Menschen positiv werden wollen, so müssen sie die Un­wahrheit sagen, den sonst ergehen sie sich einfach in ihrer Phrasen­haftigkeit.

Man käme wirklich in recht wenig erquickliche Gebiete hinein, wenn man das, was der anthroposophischen Geisteswissenschaft ge­genübersteht, seiner Wahrheit gemäß charakterisieren wollte. Aber be­trachten Sie die ganze Sache einmal von einer anderen Seite. Dieser Zweig gehört nun auch schon zu den älteren Zweigen, ist vor vielen Jahren gegründet worden. Die Sache hat sich hier nicht viel anders entwickelt als sonst. Man sehe nur einmal zurück, ob jemals diese anthroposophische Geisteswissenschaft an die Menschen anders heran­getreten ist, als zunächst vorsichtig an diejenigen, die sie haben woll­ten. Es war durchaus nichts Aufdringliches. Und es waren zunächst kleine Kreise, an die diese Geisteswissenschaft herangetreten ist. Denn

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ihre Aufgaben werden nicht so erfaßt, wie die Aufgaben äußerer Agi­tatoren, sondern die Aufgaben der geisteswissenschaftlichen Bewegung werden innerhalb der geistigen Welt erfaßt. Und man weiß - ob man nun eine große oder geringe Anhängerschaft hat -, daß es sich um geistige Aufgaben handelt, die allerdings ihre Wirkungen für die Erde haben müssen, die aber durchaus in der geistigen Welt selbst erkannt werden.

Und dann verfolgen Sie die Sache weiter. Verfolgen Sie einmal, wie wenig getan worden ist, um geradezu in äußerlicher Weise die Sache zu propagieren. Es wurde ja nichts getan, als öffentliche Vor-träge gehalten. Zu denen können die Leute gehen, sie können sich sym­pathisch oder unsympathisch berührt fühlen, können wegbleiben, wenn sie sich unsympathisch berührt fühlen. Eine irgendwie aufdringliche Agitation ist gewiß nicht getrieben worden. Man kann schließlich auch nicht sagen, daß wir unsere Bücher in einer besonders aufdring­lichen Weise verbreitet haben; denn wir haben den Philosophisch­Anthroposophischen Verlag begründet, der nicht den gewöhnlichen Weg zu den Sortimentern gesucht hat, sondern der den mehr intimen Weg gesucht hat zu der Bevölkerung der zivilisierten Welt. Wir ha­ben aber auch einen großen Teil desjenigen, um das es sich handelt, in Schriften erscheinen lassen, die gar nicht einmal für die Öffentlichkeit bestimmt sind, die nur unrechtmäßigerweise an die Öffentlichkeit ge­kommen sind. Der Pfarrer Kully in Arlesheim hat allerdings alle diese Zyklen, aber sie sind ihm gewiß niemals auf einem richtigen Wege zu-gekommen. Und viele andere haben sie unrechtmäßig. Daß unsere Be­wegung allmählich eine große geworden ist, daß wir heute allerdings sehen können, wie rasch sie sich ausbreitet, das ist nicht von uns auf dern Wege einer gewöhnlichen Agitation gesucht worden. Und das hat im Grunde genommen gar nicht einmal etwas dazu getan. Betrach­ten Sie einzelne Dinge: Einige Protestanten und einige evangelische Pfarrer haben gefunden, daß sie nicht mehr zurechtkommen mit den­jenigen Begriffen, die ihnen ihre evangelische Theologie gegeben hat. Sie lernten - weil eben Anthroposophie nicht aufzuhalten war - die anthroposophische Weltanschauung kennen, schrieben jetzt ihrerseits etwas von Auseinandersetzungen zwischen ihrem evangelischen Pfarrertum

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und der anthroposophischen Weltanschauung. Die Opposition, die dann bei anderen evangelischen Pfarrern und auch Universitäts­professoren, wie zum Beispiel bei Traub, entstanden ist, die ist eigent­lich zunächst entstanden als eine interne unter den Pfarrern. Wir sind mehr oder weniger das Opfer geworden desjenigen, was die Leute zunächst untereinander auszumachen hatten. Das, was sich abspielt als Opposition, das spielt sich eigentlich dadurch ab, daß die Leute zunächst ganz abgesehen von uns untereinander sich in die Haare ge­raten sind. Nun werden wir natürlich zuletzt angegriffen, selbstver­ständlich! Wer studieren würde, wie sich die Dinge innerlich abge­spielt haben, der würde sehen, daß wir nirgends irgendwie die Angrei­fer waren, geradesowenig wie von uns die evangelischen Pfarrer irgend­wie attackiert worden sind, oder wir irgendwelche Schritte gemacht haben, um in der evangelischen Welt, die treu dem kirchlichen Be­kenntnis ist, Anthroposophie zu propagieren.

Wo wir wirklich etwas zu leisten haben, verhalten wir uns nach dieser Richtung anders: In der Waldorfschule bekommen die katholischen Schüler vom katholischen Pfarrer den Religionsunterricht, die evangeli­schen Schüler vom evangelischen. Nur diejenigen Schüler, die das nicht wollen, die lassen wir dann unterrichten von solchen, die einen freien Religionsunterricht geben. Aber wir haben keine Weltanschauungs­schule gemacht. Und so besteht eigentlich das, was sich als Kampf jetzt um uns abspielt, darin, daß wir treulich gesagt haben, was uns aus der geistigen Welt heraus zu sagen zuerteilt ist, und daß durch dasjenige, was sich fortgepflanzt hat aus den Gemütern der anderen heraus, die Streitigkeiten entstanden sind, die nun uns aufgeladen werden. Und es besteht eine gewisse Neigung, den Dingen nicht nachzugehen, son­dern überall die Schuld bei der anthroposophischen Bewegung als sol­cher zu suchen. Würde man da auf die wahren Tatsachen sehen, so würde das sehr lehrreich sein, insbesondere wenn Sie sich den Kampf ansehen, der geführt wird in der evangelischen Pfarrerwelt. Denn Sie können ganz sicher sein: Gegen uns bestand zunächst keine Opposition unter den evangelischen Pfarrern, sondern die Opposition hat sich er­hoben, nachdem evangelische Pfarrer, die nicht ihre Befriedigung in ihrer Theologie gefunden haben, ihrerseits herübergekommen sind zur

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Anthroposophie. Dagegen erhob sich dann die Opposition. Und dann kommen jene, die es nachher sehr profitabel finden, wie Herr Traub in Tübingen, Bücher über mich persönlich zu schreiben, weil es dann eine Möglichkeit gibt, Bücher abzusetzen und so weiter. Jetzt ist ja die anthroposophische Bewegung schon so groß, daß man Geschäfte ma­chen kann mit Büchern, die man über sie schreibt.

Aber die Art und Weise, wie gekämpft wird, und namentlich die Ursache des, ich möchte sagen, um die Anthroposophie tobenden Kampfes, das sollte man schon genauer studieren! Da sollte man wahr­haftig Gewissenhaftigkeit darauf anwenden. Und dann würde man sehen, was da weiter herauskommt, wenn man in die Disharmonien innerhalb der gegenwärtigen Weltanschauungsströmungen hineinsehen kann, und wie im Grunde genommen Anthroposophie durchaus nicht Veranlassung gegeben hat zu irgendeiner der oppositionellen Strömun­gen, sondern lediglich ihre Mission ausführen wollte, so wie sie ihr aus der geistigen Welt gegeben ist. Und das, was sonst geschrieben worden ist, das ist höchstens aus Haß geschrieben von denen, die eine Zeit­lang in der anthroposophischen Bewegung waren, die ihre persönliche Eitelkeit darin befriedigt sehen wollten und die man nicht brauchen konnte.

Da wäre es auch sehr interessant, die innerlichen Zusammenhänge zu studieren. Vor einiger Zeit ist hier einer in der Schweiz aufgetreten, der heftige Angriffe gegen die Anthroposophie und gegen mich per­sönlich in Vorträgen vorgebracht hat. Dieser Mann sagte unter ande­rem, daß er besonders wissenschaftlich sein will, und daß Anthroposo­phie phantastisch, nicht wissenschaftlich sei. Dann erzählte er allerlei Märchen. Im Beschreiben von Illusionen und allerlei Märchen sind ja nicht gerade wir Anthroposophen besonders groß, sondern gerade un-sere Gegner, die uns Phantastik vorwerfen. - Aber ich kann Ihnen eine andere Geschichte erzählen, nachdem ich Sie aufmerksam gemacht habe auf den Herrn, der hier in der Schweiz herumgegangen ist und weidlich über Anthroposophie und über mich geschimpft hat. Es ist etwa dreizehn, vierzehn Jahre her, da meldete sich in Frankfurt, als ich zu einer Reihe von Vorträgen in Frankfurt war, bei mir im Hotel ein Mann, der, weil ich das gerade einrichten konnte, auch von mir

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empfangen worden ist. Der Mann redete und schwätzte mir allerlei Zeug vor und erzählte mir: Ich reise Ihnen jetzt schon eine lange Zeit überall hin nach, konnte niemals von Ihnen empfangen werden; aber jetzt ist es mir endlich gelungen. - Und er zeigte sich sehr geneigt, sein Streben in das Streben der anthroposophischen Bewegung einströmen zu lassen. Ich sah: Purster Dilettant, purste Scharlatanerie! Also weg! So etwas ist oft vorgekommen, denn man konnte eben nicht anders, als diejenigen Menschen, die bloß aus persönlicher Eitelkeit und per­sönlicher Ambition heran wollten, wegzustoßen; das konnte man nicht ändern. Sehen Sie, das ist derselbe Mann. Er hat dann ein paar Jahre gewartet, dann wurde er der schweizerische Gegenpart, lebte allerdings, wie gesagt wurde, hier als Refraktär und wurde nun Gegner.

Aber so sind sehr viele Zusammenhänge, man muß den Dingen nur nachgehen: Sie würden sehen, aus welch trüben Quellen oftmals dasjenige schöpft, was sich als Opposition gegen die Anthroposophie geltend macht.

Wir müssen aus solchen Quellen Kraft schöpfen, die uns ein Weltbild geben, wie es die Menschheit für die Gegenwart, und namentlich für die nächste Zukunft braucht, wie es namentlich diejenigen brauchen werden, die heute noch etwas jünger sind, denn sie werden gar nicht mehr leben können mit dern alten Weltbilde! Dennoch sollten wir Kraft gewinnen gerade aus einem solchen Weltbilde, das nun zum Beispiel die geschichtliche Betrachtungsweise ausdehnt, das über den Ursprung der Seelen redet, nicht bloß über den Ursprung der Leiber. Aber wir sollten dazu die Kraft gewinnen, überall da, wo wir können, einzutreten für die Anthroposophie! Anthroposophie wird Leute brau­chen, die für sie eintreten. Dasjenige, was heute als Opposition auf­tritt, es wird nicht kleiner werden, und es wird in der Zukunft nicht weniger schlimme Formen annehmen. Es wird im Gegenteil schlimmere und immer schlimmere Formen annehmen! Derjenige, der sich dessen bewußt wird, was an Anthroposophie liegt, er wird auch imstande sein, aus diesem Bewußtsein heraus wirklich den Boden zu finden, wo er eben in der entsprechenden Weise an seinem Platze wirkt. Denn das, was aus der Anthroposophie heraus gewirkt wird, wirkt wahrhaftig

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nicht zu irgendwelchen persönlichen Zielen: es wird zum Heile der Menschheit gewirkt. Und man soll sich nicht abschrecken lassen davon, daß die Gegnerschaft immer größer und größer und immer häßlicher werden wird, daß heute schon viel Schmutziges drinnen ist -es wird noch viel Schmutzigeres in dieser Gegnerschaft drinnen sein. Verliert man deshalb den Mut, so versteht man eigentlich doch nicht dasjenige, was für die zukünftige Entwickelung der Menschheit An­throposophie ist.

Ich wollte mit diesen letzten Worten einmal auf etwas aufmerksam machen, worauf man hinsehen solle in unserer Bewegung. Ich wollte diese letzten Worte gerade an eine so wichtige Betrachtung anknüpfen, wie wir sie heute angestellt haben über den Fortgang der Seelen durch die wiederholten Erdenleben, über die Art und Weise, wie wir von zwei Seiten her - von dem großen Weltenall und von der Erde her -in unserer Organisation aufgebaut werden. Dasjenige, was heute die äußere Wissenschaft von diesen Dingen weiß, ist ja so wenig! Es hat sich diese äußere Wissenschaft darauf beschränkt, bloß das allein zu betrachten, was schließlich das letzte Bild ist von dem, was an Kräften eigentlich da wirkt: äußeres Keimblatt, inneres Keimblatt und so wei­ter, ohne zu wissen, welchen makrokosmischen Sinn das äußere Keim-blatt hat, welchen tellurischen Sinn das innere Keimblatt hat, wie das wiederum zusammenhängt mit Vorstellung und Wille. Ohne auf diese großen Zusammenhänge hinzusehen, betrachtet eine materialistische Anschauungsweise eben nur die Äußerlichkeiten, die letzten Äußer­lichkeiten. Und ebenso in bezug auf das Geschichtliche, wo man bloß dasjenige ins Auge faßt, was, ich möchte sagen, durch das Blut der Generationen rinnt, und was durch die Tradition im Laufe der gerad­linigen Fortströmung des geschichtlichen Werdens auf irgendeinem Boden zu beobachten ist. Während die ganze Wirklichkeit verstanden werden kann, wenn man sich nicht nur frägt, was für Blut in diesen oder jenen Adern fließt, sondern: Woher kommt die Seele, die sich dieses Blutes nur bedient? Nach totaler Menschheitsbetrachtung, nach wahrer Wirklichkeitsbetrachtung müssen wir streben, denn das for­dert die Welt, und wird es immer mehr und mehr fordern. Anthropo­sophie will das geben.

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Das ist dasjenige, was ich heute zu Ihnen sprechen wollte. Wir wollen hoffen, daß wir uns nach einiger Zeit wieder sehen und solche Betrachtungen fortsetzen können, die zum Verständnisse der Gegen­wart und Zukunft, zum Verstehen der Menschennatur und zum Ver­ständnis des Weltenalls, insofern der Mensch aus ihm heraus geboren ist, weiterleiten können.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 17. Dezember 1920

Ich möchte heute eine Betrachtung einschieben, die Ihnen vielleicht etwas entlegen erscheinen könnte, die aber doch eben als eine einge­schobene von Bedeutung sein wird für den Fortgang der Auseinander­setzungen, die wir in dieser Zeit pflegen. Wir haben ja im Laufe der Zeit die verschiedensten Bestandteile zusammengetragen, die notwen­dig sind zur Erkenntnis des Menschen. Wir sind jetzt daran, den Men­schen nach und nach einzureihen auf der einen Seite in das kosmische Leben, auf der anderen Seite in das soziale Leben. Dazu ist nun eben notwendig, daß wir heute auf einiges aufmerksam machen, das zum Verständnis der menschlichen Wesenheit doch beitragen kann. Wenn man im Sinne der heutigen wissenschaftlichen Richtung den Menschen betrachtet, so betrachtet man im Grunde genommen nur einen Teil der menschlichen Wesenheit. Das geht ja schon daraus hervor, daß eben gar nicht berücksichtigt wird, daß der Mensch außer seinem physi­schen Leib noch höhere Glieder seiner Wesenheit hat. Aber davon wol­len wir zunächst heute einmal ganz absehen. Wir wollen ins Auge fassen, was mehr oder weniger auf der einen Seite von den wissen­schaftlichen Bestrebungen anerkannt wird, was aber auf der anderen Seite doch auch schon in das populäre Bewußtsein eingegangen ist. Man betrachtet eigentlich den Menschen so, daß man nur dasjenige zu seiner Organisation zählt, was man sich in irgendeiner Weise fest oder fest-flüssig vorstellen kann. Gewiß, man betrachtet das Flüssige, das Luftförmige als in den Menschen einziehend und ausziehend, aber man betrachtet es nicht so, als ob es selber ein Glied der menschlichen Orga­nisation sei. Die Wärme, die der Mensch so in sich hat, daß sie eine höhere Wärme als seine Umgebung ist, die betrachtet man als einen Zustand des menschlichen Organismus, aber man betrachtet sie nicht eigentlich als ein Glied der Organisation. Wir werden gleich sehen im genaueren, was mit dem gemeint ist, was ich eben vorgebracht habe.

Wenn man - ich habe Sie schon einmal aufmerksam darauf gemacht -das Aufundabwogen des Gehirnwassers durch den Rückenmarkskanal

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ins Auge faßt, so sieht man, wie durch die Einatmung und Ausatmung eine regelmäßige Oszillationsbewegung, eine schwingende Bewegung des Gehirnwassers von unten nach oben, von oben nach unten statt­findet, wie das Gehirnwasser bei der Einatmung nach aufwärts ge­trieben wird, anschlägt gewissermaßen an die Gehirnorganisation, wie es wiederum sinkt bei der Ausatmung. So etwas, was da vorgeht inner­halb der rein flüssigen Einschlüsse des menschlichen Organismus, das betrachtet man nicht mit als zur Organisation selbst gehörig. Man stellt sich mehr oder weniger vor, der Mensch bestünde eben als physi­sche Organisation aus dem, was man als mehr oder weniger feste oder höchstens fest-flüssige Teile, Substanzen in ihm findet.

Wenn ich schematisch zeichnen soll (siehe Zeichnung): Man stelle sich vor, daß der Mensch eben aus diesen Substanzen besteht, die man

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mehr oder weniger als feste findet, Knochensubstanzen und so weiter, also man stellt sich den Menschen vor als gewissermaßen ein aufgebau­tes Gerüste (weiß>. Das andere, was da im Menschen eigentlich Flüssiges ist, wie ich es an dem Beispiel des Gehirnwassers gezeigt habe, was Luftförmiges ist, das betrachtet man, insofern man Anatomie und Phy­siologie treibt, nicht als zur menschlichen Organisation gehörig. Man sagt sich: Ja, der Mensch zieht die Luft ein, sie macht gewisse Wege in ihm, sie hat auch gewisse Aufgaben. Sie wird wieder ausgeatmet. Man spricht vom Wärmezustand des Menschen, aber man betrachtet im Grunde doch nur das Feste als das Organisierende, und man sieht nicht hin darauf, daß man außer dem, daß man dieses feste Gerüste hat, den ganzen Menschen auch als eine Flüssigkeit, sagen wir, zunächst Flüssig­keitssäule (siehe Zeichnung, blau, I) zu sehen hat, daß der ganze Mensch durchsetzt ist mit Luft (rot, II) und daß er durch und durch einen gewis­sen Wärmezustand hat (gelb, III). Aber einer genaueren Betrachtung ge­genüber ergibt sich doch, daß man ebenso, wie man das Feste oder Fest-flüssige als einen Teil, als ein Glied der menschlichen Organisa­tion anzusehen hat, man auch dasjenige, was der Mensch als direkte Flüssigkeit in sich hat, nicht als eine gleichgültige flüssige Masse, son­dern als in Organisation, wenn auch fluktuierender, aber doch in Or­ganisation begriffen sich zu denken hat, und daß diese Organisation, das Flüssige, ebenso etwas bedeutet wie die Organisation des Festen.

Man hat also neben dem gewissermaßen festen Menschen den Flüs­sigkeitsmenschen ins Auge zu fassen, und man hat außerdem den Luft-menschen ins Auge zu fassen. Denn, was wir als Luft in uns tragen, ist in bezug auf seine Gliederung, in bezug auf seine Teile geradeso ein Organismus, wie der feste Organismus ein Organismus ist, nur ist dieser Organismus luftförmig und in Bewegung. Und endlich dasjenige, was wir als Warme in uns tragen, das ist nicht etwa eine gleichförmige, über den Menschen sich ausbreitende Wärmeräumlichkeit, sondern das ist ebenfalls in seinen Feinheiten organisiert wie der feste, der flüssige, der gasförmige oder luftförmige Organismus. Nun kommt man aber sogleich darauf, daß in dem Augenblicke, wo man von dem flüssigen Organismus spricht, der gewissermaßen in demselben Raume ist, der als ein flüssiger Organismus eben denselben Raum ausfüllt wie der feste

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Organismus, man von diesem flüssigen Organismus nicht sprechen kann, ohne daß man, so wie der Mensch gegenwärtig als Erdenmensch ist, spricht von dem diesen Flüssigkeitsorganismus durchziehenden, durchkraftenden Ätherleib. Der physische Organismus ist zunächst für sich, es ist der physische Leib; insofern wir ihn in seiner Vollständig­keit betrachten, betrachten wir ihn zunächst als festen Organismus. Da haben wir es zunächst mit dem eigentlichen physischen Leib zu tun.

Dann betrachten wir zweitens den flüssigen Organismus, der natür­lich nicht so untersucht werden kann wie der feste Organismus, daß man ihn mit dem Messer untersucht, sondern der aufgefaßt werden muß als ein in sich beweglicher Organismus, ein flüssiger Organismus. Ihn können wir nicht betrachten, ohne daß wir ihn durchzogen denken vom Ätherleib.

Drittens haben wir den luftförmigen Organismus. Ihn können wir nicht betrachten, ohne daß wir ihn durchkraftet uns denken von dem astralischen Leib. Und endlich viertens in sich ganz differenziert ist der Wärmeorganismus. Ihn können wir nicht betrachten, ohne daß wir ihn durchkraftet finden mit dem Ich. Das ist so, wie der Mensch heute ist als Erdenmensch.

Wir haben also:

Physischer Organismus Physischer Leib

Der Mensch anders betrachtet:

1. Fester Organismus Physischer Leib

2. Flüssiger Organismus Ätherleib

3. Luftförmiger Organismus Astralleib

4. Wärmeorganismus Ich

Eine Folge davon ist, daß wir uns klar werden darüber: Betrachten wir zum Beispiel das Blut. Insofern ein Hauptbestandteil von ihm im wesentlichen flüssig ist, so haben wir, insofern dieses Blut dem flüssigen Organismus gehört, in dem Blute den das Blut durchkraftenden Äther­leib. Nun aber haben wir außerdem in diesem Blute dasjenige, was wir sonst nur den Wärmezustand nennen. Aber das ist eine Organisation,

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die keineswegs mit der Organisation des flüssigen Blutes als solchem zusammenfällt. Und würde man das untersuchen - und dazu kann es durchaus, wenn man einmal darauf ausgeht, auch physische Metho­den der Untersuchung geben -, so würde man finden, daß, indem man einfach die Wärmezustände in den verschiedensten Partien des mensch­lichen Organismus registriert, das nicht zusammenfällt mit der flüssi­gen oder irgend sonst einer Organisation.

Nun, in dem Augenblicke, wo man den Menschen in dieser Weise betrachtet, wird man aber sehen, daß man bei dieser menschlichen Be­trachtung nicht innerhalb des menschlichen Organismus selber stehen­bleiben kann. Man kann allenfalls innerhalb des menschlichen Orga­nismus stehenbleiben, wenn man den bloßen festen Organismus be­trachtet. Der gibt ein gewisses abgeschlossenes Gebilde, durch die Haut nach außen abgeschlossen. Allerdings ist das auch nur scheinbar, denn der Mensch betrachtet dasjenige, was ihm als Festes gegenübertritt, so, als ob es ein in sich abgeschlossener fester Klotz wäre. Das Feste ist aber in sich auch differenziert und steht vor allen Dingen in den ver­schiedensten Beziehungen zu der gesamten übrigen festen Körperlich­keit. Wir haben ja als Nächstliegendes zu beachten, daß die verschie­denen festen Substanzen zum Beispiel verschieden schwer sind, und schon daraus kann ersehen werden, wie dasjenige, was im menschlichen Organismus ist, dadurch, daß es verschieden schwer ist, verschiedenes spezifisches Gewicht hat, in einer ganz verschiedenen Weise gewisser­maßen lastet im Menschen. Dadurch steht der Mensch mit Bezug auf seine physische Organisation in Beziehung zur ganzen Erde. Aber im­merhin kann man, dem äußeren Augenscheine nach wenigstens, diese physische Organisation räumlich abgrenzen.

Anders steht die Sache schon bei der Organisation, die wir als die zweite, vom Ätherleib durchkraftete anerkennen, die flüssige Organi­sation. Diese flüssige Organisation, sie ist ja so, daß sie nun nicht mehr in einer so strengen Weise abgegrenzt werden kann von der Umgebung. Was flüssig ist in irgendeinem Raumteil, das grenzt an das übrige Flüssige an. Und wenn auch zunächst das Flüssige als solches in unserer Außenwelt nur in verdünntem Zustande vorhanden ist, so ist doch eine feste Grenze zwischen dem im Inneren des Menschen befindlichen

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Flüssigen und dem außerhalb des Menschen befindlichen Flüssigen nicht mehr in so strenger Weise anzugeben wie beim festen Organis­mus. So daß wir da schon genötigt sind, die Grenze zwischen dem menschlichen flüssigen Inneren und dem physischen Äußeren in einer gewissen Weise verschwimmen zu lassen.

Noch deutlicher wird das, wenn wir den luftförmigen Organismus, der vom astralischen Leibe durchkraftet ist, ins Auge fassen. Was wir als Luft in uns tragen in einem bestimmten Zeitpunkte, das war ja kurz vorher draußen und wird kurz nachher wiederum draußen sein. Wir stehen in einem fortwährenden Einnehmen und Ausgeben dessen, was da als Luftförmiges in uns ist. Wir können gewissermaßen nur die Luft, die unsere Erde umgibt, als solche in Betracht ziehen und kön­nen sagen: sie schiebt sich vor in unserem Organismus, nimmt sich wie­derum zurück; aber indem sie sich vorschiebt in unserem Organismus, wird sie unsere Organisation. Wir haben da in dem, was unsere Luft-organisation wird, eigentlich fortwährend einen Organismus, der sich aufbaut aus der ganzen Atmosphäre heraus und wiederum in diese Atmosphäre zurücktritt. Es ist ja tatsächlich so, daß in uns etwas auf­gebaut wird bei jedem Einatmungsprozesse, oder wenigstens daß ein Aufbau modifiziert wird bei jedem Einatmungsprozesse. Und ebenso ist ein Abbau, ein teilweiser Abbau wenigstens, bei jedem Ausatmungs-prozesse vorhanden. Wir können sagen: In einer gewissen Weise wird unser luftförmiger Organismus mit jedem Atemzuge verändert, nicht gerade neugeboren, aber verändert, ebenso beim Einatmen wie beim Ausatmen. Beim letzteren stirbt er natürlich auch nicht, er verändert sich nur, aber es findet eine fortwährende Wechselbeziehung statt zwi­schen dem, was wir als luftförmigen Organismus in uns haben, und dem, was die äußere Luft ist. Was man gewöhnlich in den trivialen Vorstellungen als die menschliche Organisation ins Auge faßt, das kann man nur dadurch so, wie man es tut, ins Auge fassen, daß man eben nicht in Betracht zieht, wie der luftförmige Organismus eigent­lich im Verhältnis zum festen Organismus nur einen ganz geringen Grad von Verschiedenheit hat.

Und in noch höherem Maße ist das der Fall für unseren Wärme­organismus. Es liegt ja natürlich ganz in der materialistisch-mechanistischen

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Betrachtungsweise, daß man nicht ins Auge faßt den Flüs­sigkeitsorganismus, den Luftorganismus, den Wärmeorganismus, son­dern nur den festen Organismus. Aber man bekommt keine wirkliche Erkenntnis vom Menschen, wenn man sich nicht dazu herbeilassen will, diese Gliederung des Menschen in einen Wärmeorganismus, in einen Luftorganismus, in einen Wasserorganismus und in einen Erd­organismus gelten zu lassen.

Wärmeorganismus, in ihm lebt vorzugsweise das Ich. Das Ich selber ist, ich möchte sagen, diejenige Geistorganisation, welche von sich aus kraftend das, was wir an Wärme in uns tragen, beherrscht, konfiguriert, nicht nur äußerlich in der Begrenzung konfiguriert, sondern innerlich durchkonfiguriert. Und das Seelische, wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht dieses direkte Wirken des Ich auf die Wärme ins Auge fassen. Das Ich ist ja zunächst dasjenige im Menschen, welches den Willen in Tätigkeit versetzt, Willensimpulse verleiht. Wie verleiht das Ich Willensimpulse? Wir haben von einem anderen Gesichtspunkte aus davon gesprochen, wie die Willensimpulse zusammenhängen mit dem Tellurischen, im Gegensatze zu den Gedankenimpulsen, den Vor­stellungsimpulsen, die mit dem Außertellurischen in Zusammenhang stehen. Aber indem das Ich die Willensimpulse eben doch beisammen-hält, wo hat es den Weg, um nun diese Willensimpulse in den Organis­mus, in die ganze menschliche Wesenheit gewissermaßen hineinzutrei­ben? Das geschieht, indem der Wille zunächst in dem Wärmeorganis­mus des Menschen wirkt (siehe Zusammenstellung Seite 174). Indem das Ich einen Willensimpuls hat, wirkt dieser Willensimpuls zunächst auf den menschlichen Wärmeorganismus. Natürlich ist unter den ge­genwärtigen tellurischen Verhältnissen es nicht möglich, daß das in einer konkreten Wirklichkeit da ist, was ich nun beschreiben will. Dennoch aber kann man es als etwas im Menschen wesenhaft Vorhan­denes ins Auge fassen. Man kann es ins Auge fassen, wenn man davon absieht, daß in dem Raume, den die menschliche Haut begrenzt, die feste Organisation ist. Wir sehen von ihr ab, wir sehen von der flüssi­gen Organisation ab, wir sehen auch von der luftförmigen Organisa­tion ab. Dann bleibt uns der Raum erfüllt mit Wärme, die allerdings kommuniziert mit der äußeren Wärme. Aber das, was da drinnen wirtschaftet

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in dieser Wärme, was diese Wärme so macht, daß sie in Strö­mung, daß sie in innerlicher Bewegung ist, daß sie eben ein Organis­mus ist, das ist das Ich.

Und wenn wir ins Auge fassen den menschlichen astralischen Leib, so ist dieser menschliche astralische Leib zunächst das, was in sich trägt alle Kräfte des Gefühles, des Fühlens. Die Kräfte des Fühlens, sie leben im astralischen Leib so, daß der astralische Leib wiederum diese Fühlkräfte zur physischen Wirksamkeit bringt in demjenigen, was dem Menschen zugrunde liegt als der Luftorganismus.

Also könnte man sagen: So wie der Mensch nun einmal ist als Erden-mensch, bewirkt sein Ich durch den Wärmeorganismus das, was sich dann äußert, wenn der Mensch als Willenswesen in die Welt tritt. Was der astralische Leib erlebt als Gefühle und dann auswirkt in der irdischen Organisation, das stellt sich dar als der Luftorganismus. Und wenn wir zum ätherischen Organismus, zum ätherischen Leibe gehen, so enthält der in sich - allerdings zunächst mehr bildhaft als uns das bewußt wird, denn da tritt ja für das Bewußtsein noch der physische Leib ein, der die Bilder eben zu den bildphysischen Vorstellungen ab­schwächt -, er enthält in sich das eigentliche Vorstellen, insofern das Vorstellen bildlich ist; das wirkt auf den Flüssigkeitsorganismus.

Sie sehen daraus, man kommt dem Seelischen näher, wenn man diese besonderen Organismen im Menschen betrachtet. Die materia­listische Betrachtungsweise, die nur bei dem festen Gerüste stehen­bleiben will, die es eigentlich wie eine Selbstverständlichkeit ausspricht, daß Wasser nicht organisiert sein kann - es ist eben organisiert im Organismus -, die muß ihrerseits dazu kommen, mit völligem Unver­ständnis dem Seelischen gegenüberzustehen; denn das Seelische ist un­mittelbar vorhanden eben in diesen anderen Organismen. Und der eigentliche feste Organismus ist im Grunde genommen nur etwas, was, ich möchte sagen, wirklich Stütze bildet für die anderen Organismen. Wir haben den festen Organismus, der wie ein Stützgerüste dasteht aus Knochen, Muskeln und so weiter. Und in dieses Stützgerüste hin­ein gliedert sich dann der flüssige Organismus, der in sich differenziert ist und der in sich eben durchaus konfiguriert ist, und in diesem flüs­sigen Organismus vibriert der Ätherleib, und in diesem flüssigen Organismus

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erzeugen sich die Gedanken. Wie erzeugen sie sich? Dadurch erzeugen sie sich, daß in diesem Flüssigkeitsorganismus in einer be­stimmten Metamorphose sich geltend macht, was wir sonst in der Außenwelt kennenlernen als den Ton.

Der Ton, er ist ja eigentlich etwas, was, man kann schon sagen, die menschliche Betrachtungsweise in hohem Maße irreführt. Wir ver­nehmen den Ton zunächst als Erdenmensch so, daß die Luft der Träger dieses Tones ist. Ja, aber die Luft ist eben nur der Vermittler für diesen Ton, der eigentlich in der Luft webt. Und derjenige, der bloß in den Luftschwingungen das Wesen des Tones sieht, der gleicht einem Men­schen, der eben auch sagt: Der Mensch hat nur seinen physischen Or­ganismus, da lebt kein Seelisches drinnen. - Es ist gerade so, wie wenn man am Menschen nur den physischen Organismus betrachtet und kein Seelisches darinnen sieht, wenn man bloß die Luftschwingungen als das Wesentliche des Tons betrachtet, die eigentlich nur der äußere Aus­druck sind. Was darinnen lebt als Ton, das ist im wesentlichen ein ätherisches Element. Und unser Luftton rührt eigentlich nur davon

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her, daß wir die Luft durchsetzt haben von dem Tonäther, was das­selbe ist wie der chemische Äther. Und indem dieser Äther die Luft durchsetzt, teilt er das, was in ihm lebt, der Luft mit, und es entsteht für unsere Wahrnehmung dasjenige, was wir den Ton nennen. Dieser selbe Tonäther, der zu gleicher Zeit der chemische Äther ist - wir wer­den von alledem bei anderer Gelegenheit genauer sprechen -, der lebt im wesentlichen in unserem Flüssigkeitsorganismus. So daß wir unter­scheiden können: In unserem Flüssigkeitsorganismus haben wir unse­ren eigenen Ätherleib drinnen lebend; aber außerdem dringt von allen Seiten in ihn ein, was dem Ton als der Tonäther zugrunde liegt. Also bitte, unterscheiden Sie das ganz wohl. Wir haben in uns unseren Ätherleib, der arbeitet und wirkt, indem er Gedanken auswirkt, in unserem Flüssigkeitsorganismus. Aber in diesen Flüssigkeitsorganis­mus dringt fortwährend ein und aus, was wir den chemischen Äther nennen können. Wenn wir also unseren Organismus betrachten, so haben wir einen vollständigen ätherischen Organismus aus chemischem Äther, Wärmeäther, Lichtäther, Lebensäther bestehend, und außerdem haben wir ganz besonders, auf dem Wege durch den Flüssigkeitsleib aus- und eindringend, den chemischen Äther.

Der astralische Leib, der sich im Fühlen äußert, lebt durch den Luft­organismus. Zu diesem Luftorganismus aber hat eine besondere Ver­wandtschaft nun wiederum eine andere Ätherart, welche die Luft be­sonders durchsetzt, der Lichtäther. In älteren Weltanschauungen wurde daher auf diese Verwandtschaft der sich ausbreitenden physischen Luft mit dem sie durchsetzenden Lichtäther immer besonders hinge­wiesen. Dieser Lichtäther, der gewissermaßen gerade von der Luft ge­tragen wird, der verwandter ist eigentlich mit der Luft als der Ton, der dringt nun auch in unseren Luftorganismus besonders ein, und er liegt zugrunde demjenigen, was da aus- und eingeht in unserem Luft­organismus. Wir haben also unseren astralischen Leib, der das Fühlen in sich erlebt, der sich besonders wirksam erweist im Luftorganismus, und der da fortwährend zusammenstößt insbesondere mit dem Licht-äther.

Und wir haben das menschliche Ich. Dieses menschliche Ich, welches sich durch den Willen im Wärmeorganismus betätigt; steht wiederum

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in Verbindung mit der äußeren Wärme, mit dem äußeren Wärme­äther, der da ein und ausgeht.

Es ergeben sich daher die Zusammenhänge:

Ich - Wille - Wärmeorganismus - Wärmeäther

Astralleib - Fühlen - Luftorganismus - Lichtäther

Ätherleib - Vorstellen - Flüssigkeitsorganismus - chemischer Äther

Nun bedenken Sie aber: der ätherische Leib, er bleibt in uns, auch wenn wir schlafen, auch vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Da ist auch vom Einschlafen bis zum Aufwachen durch den Flüssigkeitsorga­nismus fortwährend dieses Ineinanderwirken von chemischem Äther mit dem ätherischen Leib im Inneren. Anders ist es schon beim astra­lischen Leib mit dem Fühlen. Der astralische Leib ist vom Einschlafen bis zum Aufwachen außerhalb des menschlichen Organismus; da wirkt nicht dieser astralische Leib mit dem Fühlen auf den Luftorganismus, sondern da wird der Luftorganismus, von dem wir ja sagen mußten, daß er im Zusammenhange steht mit der ganzen übrigen Umwelt, von außen unterhalten. Und der Mensch selber, insofern er seinen astra­lischen Leib mit dem Fühlen enthält, geht heraus aus dem physischen Leib, ist also außerhalb dieses menschlichen Leibes und kommt da­durch in diejenige Welt hinein, mit der er zunächst in Beziehung steht durch den Lichtäther. Der Mensch lebt vom Einschlafen bis zum Auf­wachen in demjenigen drinnen, direkt drinnen, das ihm in bezug auf den astralischen Leib im Wachzustand durch den Luftorganismus ver­mittelt wird. In einer ähnlichen Weise ist es für das Ich und den Wärmeorganismus der Fall.

Sie sehen daraus, daß man ein Verständnis von der Beziehung des Menschen zur Umwelt erst bekommt, wenn man wirklich auf diese Gliederung des Menschen eingeht, die eigentlich die gewöhnliche me­chanistische Betrachtungsweise gar nicht ins Auge faßt. Nun ist im Menschen alles durchdrungen, und dadurch, daß das Ich im Wärme-organismus ist und dieses Ich ja auch den Luftorganismus, den Flüssig­keitsorganismus und den festen Organismus durchdringt, durchdringt es sie eben gerade auch mit dem Wärmeorganismus, der nun in allem

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lebt. Es lebt also der Wärmeorganismus im Luftorganismus, es lebt der Wärmeorganismus, vom Ich durchkraftet, auch im Flüssigkeits­Organismus.

Das ist dann der Weg, wie wir zum Beispiel zu suchen haben in der Blutzirkulation die Wirkungsweise des Ich. Die Wirkungsweise des Ich in der Blutzirkulation ist so vorhanden, daß auf dem Umwege durch den Wärmeorganismus das Ich auf die Blutzirkulation wirkt. Da wirkt das Ich als diejenige Wesenheit, welche den Willen gewisser­maßen hinunterschickt von der Wärme aus durch die Luft in die Flüs­sigkeit hinein. So wirkt alles im Organismus aufeinander. Aber wir kommen nicht zu Rande, wenn wir bloß die allgemeinen abstrakten Vorstellungen des Aufeinanderwirkens haben, sondern wir kommen nur zu Rande, wenn wir im Konkreten uns vorstellen können, wie dieser Mensch gegliedert ist, wie alles dasjenige, was um ihn herum ist, an seiner Organisation teilnimmt.

Und auch zum Verständnis des Schlafzustandes kommt man nur, wenn man diese Dinge genauer ins Auge faßt. Bedenken Sie doch, daß ja im Schlafzustande zunächst eben wirklich nur der physische Leib, also der physische Körper und der Ätherleib in derselben Weise vorhanden sind wie im Wachzustande; das Ich und der astralische Leib sind heraußen. So daß also, indem im schlafenden Menschen nur der physische Leib und der Ätherleib vorhanden sind, dasjenige in ihm wirken kann, auch auf den luftförmigen Organismus und den Wärmeorganismus, was innerhalb des physischen und der Ätherleibes ist. Wenn wir den wachen Organismus haben, dann sehen wir aus dem Gesagten den Zusammenhang zwischen dem Ich und dem astralischen Leib und dem ganzen Organismus. Wenn wir im Schlaf das Ich und den astralischen Leib draußen haben, dann haben wir aber trotzdem in der menschenlichen Organisation die vier Elemente drinnen: das feste Stützgefüge, den Flüssigkeitsorganismus, aber auch den Luftorganis­mus, durch den sonst der astralische Leib wirkt, den Wärmeorga­nismus, durch den sonst das Ich wirkt. Wir haben diese darinnen, und die wirken ebenso organisiert, wie im wachen Zustande durch das Ich und den astralischen Leib organisierend gewirkt wird. Wir haben eben in unserem Schlafzustande statt unseres Ich, das draußen ist,

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den Geist in uns, der sonst die Welt durchsetzt und den wir im Wa­chen vertrieben haben durch unser Ich, das ein Teil von ihm ist. Wir haben unseren Wärmeleib durchzogen von dem Weltengeiste, wir ha­ben unseren Luftorganismus durchzogen von dem, was wir Welten-seele, Weltenastralität nennen können, die wir sonst vertreiben, wenn wir wachen. So daß wir auch von diesem Gesichtspunkte jetzt Wachen und Schlafen betrachten können. Im Schlafe durchzieht unseren Wär­meorganismus die Weltengeistigkeit, die wir vertreiben, wenn wir auf­wachen, durch das Ich, das ein Teil davon ist, denn es versorgt vom Aufwachen bis zum Einschlafen dasjenige, was sonst im Wärmeorga­nismus durch die Weltengeistigkeit bewirkt ist. Ebenso die Welten­astralität, wir vertreiben sie beim Aufwachen, wir geben ihr wiederum ihre Wirksamkeit in unserem Organismus, indem wir einschlafen. So daß wir sagen können: Indem wir schlafend unseren Leib verlassen, lassen wir einziehen in unseren Wärmeorganismus den Weltengeist, in unseren luftförmigen Organismus die Weltenseele, die Welten­astralität.

Man kommt schon zu einem Verständnis der Beziehung des Men­schen nicht nur zu der umliegenden physischen Welt, sondern man kommt, wenn man nur unbefangen genug in der Betrachtung des Menschen ist, auch dazu, einzusehen, wie der Mensch eine Beziehung hat zur Weltengeistigkeit und zur Weltenbeseelung oder zur Welten­astralität. Im Aufwachen gliedern sich gewissermaßen in die mensch­liche Organisation hinein das Ich und der astralische Leib; sie vertrei­ben Weltengeistigkeit und Weltenbeseeltheit, Weltenastralität.

Das ist von der einen Seite die Sache betrachtet. Wir können sie nunmehr nach der Erkenntnisseite betrachten und Sie werden sehen, wie sich diese beiden Betrachtungen zusammenfügen werden. Man geht ja gewöhnlich so vor, daß man nur dasjenige Erkenntnis nennt, was man erkennend erlebt vom Aufwachen bis zum Einschlafen durch die Wahr­nehmung, durch die begriffsmäßige Verarbeitung der Wahrnehmung. Allein dadurch lernen wir ja eigentlich nur des Menschen physische Umgebung kennen. Gewiß, wir werden nicht gerade, wenn wir geistes-wissenschaftlich vorgehen und uns nicht allerlei Phantastereien hinge­ben, irgendwie etwas unmittelbar Wesenhaftes in den Traumbildern

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sehen, und wir werden nicht im Träumen eine Erkenntnis suchen in derselben Weise, wie wir sie im wachen Vorstellen und Wahrnehmen suchen. Aber in einer gewissen niedrigeren Weise ist das Träumen denn doch eine Erkenntnis. Es ist nämlich eine besondere Art physischer Selbsterkenntnis. Im groben kann man ja schon sehen, wie der Mensch innere Zustände in einer gewissen Weise träumt, wenn man, sagen wir, aufwacht mit dem Traume von einem kochenden Ofen, dessen Hitze man ausgestanden hat und dann beim Aufwachen eben einen Hitzezu­stand oder dergleichen im Inneren hat. Auch sonst sind die Träume in einer bestimmten Weise konfiguriert. Man träumt von Schlangen, wenn man irgendwie in den Gedärmen etwas nicht in Ordnung hat. Man träumt von irgendwelchen Höhlen, in die man sich verkriechen muß, wenn man Kopfschmerz hat und so weiter. Allein in einer dunklen, dämmerhaften Weise weist der Traum auf das innere organische Le­ben des Menschen hin, und wir können schon von einer gewissen nie­deren Erkenntnis im Traumleben sprechen. Es steigert sich das nur, wenn bei besonders sensitiven Menschen in den Träumen wirklich sehr genau Widerspiegelungen des Organismus vorkommen. Im tiefen Schlafe, im traumlosen Schlafe glauben wir ja in der Regel nichts zu erkennen. Wir halten den traumlosen Schlaf für die Erkenntnis für ganz bedeutungslos. Er ist es nicht. Er hat seine Erkenntnisaufgabe, allerdings eine individuell-persönliche für den Menschen. Würden wir nicht schlafen können, würde nicht fortwährend unser Leben vom Schlaf durchbrochen werden, so würden wir nicht kommen können zu einer deutlichen Ich-Vorstellung, zu einem deutlichen Innenleben. Wir würden immerfort das Äußere erleben und ganz im Äußeren aufge­hen. Der Mensch beachtet das nur nicht genügend, weil er sich nun einmal nicht gewöhnt hat, die Dinge, die er erlebt, seelisch und orga­nisch, wirklich unbefangen ins Auge zu fassen. Wir blicken zurück; wir verfolgen die Bilder unserer Erlebnisse bis zu dem Punkte, an den wir uns zurückerinnern. Aber diese ganze Erscheinungsströmung ist ja fortwährend jede Nacht unterbrochen von dem Schlafe. Den lassen wir aus, indem wir uns zurückerinnern. Wir denken nicht daran, daß der Mensch fortwährend in der Erinnerungsströmung vom Schlafe unterbrochen ist. Daß er unterbrochen ist, das bedingt, daß wir gewissermaßen,

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allerdings unbewußt, neben dem, daß wir in ein erfülltes Feld hineinsehen, auch in ein Nichts hineinsehen. Wenn wir hier ein weißes Feld haben und in der Mitte Schwarz, so sehen wir das Weiß und in der Mitte Schwarz [auf einer schwarzen Wandtafel], das dem Weiß gegenüber ein Nichts ist. Daß das nicht ganz stimmt, das geht uns jetzt in diesem Augenblicke nichts an. Wir sehen das schwarze Feld, wir sehen, daß in der weißen Bedeckung etwas ausgespart ist, aber das ist

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ein ebenso positiver Eindruck, wenn er auch nicht ein Eindruck ist, der zusammenfällt mit den Eindrücken vom weißen Felde. Das schwarze Feld ist ein ebenso positiver Eindruck. So ist es ein positives Erleben, wenn wir zurückschauen und in diese Rückschau immer nichts einfließt von den Zeiträumen, die wir durchschlafen haben. Das, was wir durch-schlafen haben, liegt in der Rückschau ebenso drinnen, allerdings zu­nächst nicht unmittelbar im Bewußtsein, denn das Bewußtsein richtet sich nur nach dem, was als Bilder vom durchwachten Leben zurück­bleibt. Aber es wird dieses Bewußtsein innerlich befestigt dadurch, daß das rückschauende innere Gesichtsfeld auch leere Stellen hat; davon rührt her unsere Bewußtheit, insofern sie gerade innerlich ist. Wir wür­den uns ganz verlieren an die äußere Welt, wenn wir nur wachen wür­den, wenn dieses Wachen nicht fortwährend durchbrochen wäre vom Schlafe. Wir wissen von uns innerlich durch den traumlosen Schlaf. Aber während der traumerfüllte Schlaf uns gewisse einzelne Teile in Bildern chaotisch spiegelt, gibt uns der traumlose Schlaf das Bewußt­sein unserer Gesamtmenschlichkeit als Organismus, also auch eine Erkenntnis.

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Wir können sagen: Durch das wache Bewußtsein nehmen wir die äußere Welt wahr. Durch die Träume nehmen wir, allerdings dämmerhaft und unbestimmt, einzelnes aus unseren inneren organi­schen Zuständen wahr. Durch den traumlosen Schlaf wissen wir von unserer Gesamtorganisation, allerdings dumpf und dunkel, aber wir wissen eben durch den Schlaf von unserer Gesamtorganisation. Also haben wir schon gewissermaßen drei Erkenntnisstufen: den Schlaf, den traumdurchsetzten Schlaf, den Wachzustand.

Dann kommen wir zu den drei höheren Zuständen, zu der Imagi­nation, zu der Inspiration, zu der Intuition. Das sind nun wiederum die höheren Zustände, die über dem wachen Bewußtsein liegen, die da­durch auch immer klarer werden, als Bewußtseinszustände auch immer klarere Erkenntnisse überliefern, während wir, wenn wir unter das gewöhnliche Bewußtsein hinuntergehen, zu den chaotischen Erkennt­nissen kommen, die uns aber für das gewöhnliche Erleben durchaus notwendig sind.

Sehen Sie, so stellt sich gewissermaßen die Sache vom Bewußtseins-feld dar. Wir dürfen nicht davon sprechen, daß wir nur in uns tragen dieses gewöhnliche Wachbewußtsein, wie wir auch nicht davon spre­chen dürfen, daß wir nur in uns tragen den gewöhnlichen festen Orga­nismus. Wir müssen davon sprechen, daß wir allerdings den festen Organismus zunächst als etwas haben, was deutlich begrenzt im Raume dasteht, so daß wir es, wenn wir ganz materialistisch denken, als die menschliche Organisation begreifen. Wir müssen denken, daß das ge­wöhnliche Bewußtsein zunächst klar dasteht, daß wir seine Vorstel­lungen in festen Konturen haben. Aber wir dürfen weder denken, daß wir nur den festen Leib haben, noch daß wir nur dieses Tages-bewußtsein haben, sondern wir haben den festen Leib durchsetzt vom Flüssigkeitsleib, der eine in sich verschwimmende, eine fluktuierende Organisation hat, und wir haben wiederum das helle, klare Tagesbe­wußtsein durchsetzt von dem Traumbewußtsein, das nun nicht die Bilder mit den festen Konturen hat, sondern mit den verschwimmen-den Konturen, wo gewissermaßen das Bewußtseinsleben flüssig wird. Und wir haben außer dem Flüssigkeitsorganismus den Luftorganismus, der sogar von etwas anderem versorgt wird als von uns selber, wenn

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wir im Schlafe sind, der also im Grunde genommen nicht ganz, sondern nur teilweise, vorübergehend mit unserem Seelischen zusammenhängt, nämlich nur im Wachzustande; aber wir haben das als einen besonde­ren Organismus in uns. Wir haben ein drittes Bewußtsein, ein dunkles Bewußtsein, das traumlose Schlafbewußtsein, wo nicht bloß die Vor­stellungen verschwimmen, sondern wo sie sich bis zur inneren Finster­nis abdämpfen, wo also das Bewußtsein gewissermaßen aufhört, von uns innerlich als bewußter Zustand erlebt zu werden, so wie unter gewissen Umständen der luftförmige Leib aufhört, von uns erlebt zu werden, wenn wir schlafen.

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Sie sehen, ob wir den Menschen innerlich oder äußerlich betrach­ten, wir kommen zu einer immer weiteren Anschauung über die mensch­liche Wesenheit. Gehen wir vom festen Leib aus zum Flüssigkeits­leib, zum Luftleib, zum Wärmeleib, wir kommen ins Seelische hin­ein. Gehen wir von dem klaren Tagesbewußtsein aus zum Traum-bewußtsein über, wir kommen in den Leib hinein. Und wir kommen noch gründlicher in den physischen Leib hinein, indem wir uns dar­innen wissen durch das traumlose Schlafbewußtsein. Wenn wir das Wachbewußtsein hinuntertragen bis zum Schlafbewußtsein, so kom­men wir, wenn wir den Menschen in den Gliedern seines Bewußtseins betrachten, in die Leiblichkeit hinein. Wenn wir die Leiblichkeit selbst betrachten, von ihrem festen Zustand bis zu ihrem Wärmezustand

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herauf, kommen wir aus der Leiblichkeit heraus. Das liefert Ihnen die Notwendigkeit, wirklich nicht einfach hinzunehmen, was sich zu­nächst der befangenen äußeren Betrachtung darbietet. Da hat man auf der einen Seite den festen Leib, an den man sich mit der materialistisch­mechanistischen Vorstellung klammert; da haben wir auf der anderen Seite das Seelische, das eigentlich dem modernen Bewußtsein nur in­haltsvoll erscheint als das helle klare Tagesleben. Man geht nicht von diesem Bewußtsein (Ich) nach abwärts; denn geht man nach ab­wärts, kommt man in den Leib hinein. Man geht nicht vom geistigen Leib (Wärmeleib) nach abwärts; denn geht man nach abwärts, so kommt man in den festen Leib hinein. Sondern man betrachtet die zwei, die gar nicht zusammengehören, den festen Leib ohne den Flüs­sigkeitsleib, Luftleib ohne den Wärmeleib, das klare Tagesbewußt-sein ohne dasjenige, was eigentlich nur das innere Leibliche spiegelt, ohne das Traumbewußtsein und das Schlafbewußtsein.

Und jetzt geht man von der Schulpsychologie aus und fragt: Wie lebt dieses Seelisch-Geistige in dem Physischen? - Ja, sehen Sie, da macht man eigentlich dieses. Bedenken Sie: Man hat den festen Leib, den Flüssigkeitsleib, den Luftleib, den Wärmeleib. Durch den Wär­meleib entwickelt das Ich das gewöhnliche klare Tagesbewußtsein. Aber geht man herunter, so kommt man in das Traumbewußtsein hinein; weiter hinunter kommt man in das traumlose Schlafbewußt­sein hinein. Da hinunter (schraffiert) gibt es, wie Sie aus der «Geheim-wissenschaft im Umriß» wissen, noch einen Bewußtseinszustand, den wir jetzt nicht zu betrachten brauchen. Fragt man nun nach der Be­ziehung dessen, was hier rechts steht, zu dem, was hier links steht, so passen diese ineinander, denn da (linker Pfeil) kommt man von un­ten nach oben gehend ins Seelische herein, ins Leibliche herein hier (rechter Pfeil); das Rechte und das Linke, die passen zusammen. Aber in der äußeren Betrachtungsweise ist es heute so, daß man den festen Leib eigentlich nur ins Auge faßt und wiederum nur diesen Bewußtseinszustand (Ich). Ja, da hängt das (Ich) in der Luft, und das (Fester Leib) steht am Boden, da findet man keine Beziehung. Und lesen Sie die heutigen Seelenlehren durch, so werden Sie sehen, daß die unglaublichsten Hypothesen aufgestellt werden, wie die Seele

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auf den Leib wirkt. Aber das rührt nur davon her, daß man einen Teil des Leibes betrachtet, und dann etwas, das ganz davon abliegt, einen Teil des Seelischen betrachtet.

Daß Geisteswissenschaft überall auf Totalität dringen muß, daß sie tatsächlich die Brücke schaffen muß zwischen dem Leiblichen auf der einen Seite und dem Seelischen auf der anderen Seite, daß sie wirklich diejenigen Zustände aufsucht, wo das Seelische ein Leibliches, das Leib­liche ein Seelisches wird, das ärgert unsere Zeitgenossen, die durchaus nur stehenbleiben wollen bei dem, was sich der äußerlichen befange­nen Betrachtungsweise darbietet.

Von diesen Dingen wollen wir dann morgen weiter sprechen.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 18. Dezember 1920

Ich habe gestern versucht, einiges vorzubringen über die gesamte Kon­stitution des Menschen, so daß es möglich war, am Schlusse darauf aufmerksam zu machen, wie durch eine sachgemäße Totalbetrach­tung der menschlichen Natur eine Brücke gebaut werden kann zwi­schen dem, was wir im Menschen als äußere Organisation finden, und demjenigen, was wir durch das Selbstbewußtsein in unserem In­neren entwickeln. Diese Brücke wird ja gewöhnlich nicht oder nur in sehr mangelhafter Weise, insbesondere mangelhaft von der gegenwärti­gen äußeren Wissenschaft, geschaffen. Und wir haben gesehen, daß, um diese Brücke zu bauen, man sich klar sein muß, wie man die mensch­liche Organisation zu betrachten hat. Wir sahen, daß wir alles, was eigentlich einzig und allein heute betrachtet wird, wenigstens was von der äußeren Wissenschaft ernsthaft betrachtet wird als organisiert, das Feste oder Fest-flüssige, nur als den einen Organismus betrach­ten dürfen; daß wir aber ebenso eine flüssige Organisation, eine luft­förmige Organisation und eine Wärmeorganisation anerkennen müs­sen. Wir erlangen dadurch die Möglichkeit, auch einzusehen, wie in diese feinere Organisation eingreifen diejenigen Glieder der mensch­lichen Wesenheit, die wir eben gewöhnt sind, als solche zu betrachten. Natürlich ist alles bis zur Wärme hinauf physischer Leib. Aber in den Flüssigkeitsleib, in all das, was im Organismus als Flüssigkeit organi­siert ist, greift der Ätherleib vorzugsweise ein; in all das, was als Luft organisiert ist, greift der astralische Leib ein, und in all das, was als Wärme organisiert ist, greift das Ich vorzugsweise ein. Dadurch ge­langen wir dazu, gewissermaßen im Physischen stehenzubleiben, aber innerhalb dieses Physischen bis herauf ins Geistige zu kommen.

Auf der anderen Seite haben wir das Bewußtsein betrachtet. Ge­wöhnlich sieht man nur, sagte ich gestern, auf dasjenige Bewußtsein hin, das wir aus dem Zustande heraus kennen, den wir durchmachen vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Da nehmen wir die Gegenstände um uns herum wahr, kombinieren sie mit unserem Verstande, fühlen

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auch wohl über sie, leben in unseren Willensimpulsen; aber wir er­leben diesen ganzen Bewußtseinskomplex als etwas, was seinen Eigen­schaften nach ganz verschieden ist von all dem Physischen, das die äußere physische Wissenschaft ganz allein betrachtet. Und es läßt sich nicht ohne weiteres eine Brücke schaffen zwischen diesen ganz unkör­perlichen Erlebnissen, die man im Bewußtsein hat, und den anderen Anschauungen, den anderen Wahrnehmungsobjekten, die man durch physische Physiologie oder physische Anatomie betrachtet. Aber auch in bezug auf das Bewußtsein kennen wir ja schon im gewöhnlichen Leben außer dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein das Traumbewußt-sein, und wir haben gestern ausgeführt, wie die Träume im wesent­lichen Bilder oder Sinnbilder sind von inneren organischen Vorgän­gen. Es geht immer in uns etwas vor, und bildhaft drückt sich das, was da vorgeht, aus in den Träumen. Wir träumen, sagte ich, von Schlan­gen, die sich winden, wenn wir irgendwelche Schmerzen in den Ge-därmen haben; wir träumen von einem kochenden Ofen, wachen nach­her mit Herzklopfen auf; der kochende Ofen hat uns das unregel­mäßig gehende Herz symbolisiert, die Schlangen haben uns die Ge-därme symbolisiert und so weiter. Es weist uns der Traum in unseren Organismus hinunter, und das Bewußtsein im Schlafe, es ist dumpf, es ist sozusagen für den Menschen eigentlich ein Null-Erlebnis. Aber ich habe gestern ausgeführt, wie man dieses Null-Erlebnis haben muß, um gerade sich verbunden zu fühlen mit seiner Körperlichkeit. Man würde sich nicht als Ich verbunden fühlen mit seiner Körperlichkeit, wenn man nicht den Körper verließe, ihn wiederum aufsuchte beim Aufwachen und auf diese Weise gerade aus dem Entbehren, das man erlebt zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, sich als eins mit sei­nem Körper fühlte. Da werden wir von dem gewöhnlichen Bewußtsein, das ja nichts mit uns selber zu tun hat, als daß es uns die Wahrneh­mung, die Vorstellung gibt, in das Traumbewußtsein geführt, welches mit dem zu tun hat, was nun schon im Leibe ist. Wir werden also zum Leibe hingeführt. Und wir werden noch mehr zum Leibe hingeführt, wenn wir in das traumlose Schlafbewußtsein eindringen. So also kön­nen wir sagen: Wir betrachten auf der einen Seite das Seelische so, daß es uns zum Leibe hinführt. Und wir betrachten das Leibliche so, daß

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es, indem es durch die Organisation des Flüssigen, die Organisation des Luftförmigen, die Organisation der Wärme auftritt, indem sich die Organisation also immer mehr verfeinert, uns zum Seelischen hin­führt. - Diese Dinge muß man durchaus in Erwägung ziehen, wenn man zu einer wirklich den Menschen befriedigenden Weltanschauung kommen will.

Die große Frage, die uns nun seit Wochen beschäftigt, sie ist ja, wie wir wiederholt versuchten zu erkennen, die Kardinalfrage der mensch­lichen Weltanschauung zunächst: Wie hängt das Moralische, die mora­lische Weltordnung zusammen mit der physischen Weltordnung? -Wir haben es oft gesagt: Die gegenwärtige Weltanschauung, die sich für die äußere Sinneswelt auf die Naturwissenschaft stützt, die, wenn es um ein umfassendes Seelisches geht - denn die Psychologie enthält ein solches nicht mehr -, nur zu den älteren religiösen Bekenntnissen Zuflucht nehmen kann, diese Weltanschauung enthält keine Brücke. Da ist auf der einen Seite die physische Welt. Sie ist hervorgegangen nach dieser Weltanschauung aus einem Urnebel. Aus dem hat sich alles herausgeballt; zu einer Art Weltenschlacke wird das alles wieder zu­rückkehren. Das ist, was uns als äußeres Bild durch die gegenwärtige wissenschaftliche Richtung vorgehalten wird innerhalb dieses ganzen Werdens, das ja schließlich, wenn man ehrlich ist als Wissenschafter der heutigen Zeit, als das allein Reale erscheinen kann. Innerhalb dieses Bildes hat das Moralische, die moralische Weltordnung keinen Platz. Sie steht dann für sich da. Der Mensch empfängt in seiner Seele die moralischen Impulse als Seelenimpulse. Aber wenn das so ist, wie es die Naturwissenschaft sagt, dann ist eben aus dem Urnebel hervor-gegangen alles das, was sich regt und lebt, und zuletzt der Mensch, und dem Menschen steigen auf die moralischen Ideale. Und wenn einmal die Welt zurückgekehrt sein soll zum Schlackenzustand, dann wird das der große Friedhof sein auch für alle moralischen Ideale. Sie wer­den verschwunden sein. Eine Brücke kann gar nicht geschaffen werden, und was noch schlimmer ist, es kann nicht einmal, wenn der Mensch nicht inkonsequent wird, die wirkliche Moralität der Weltenordnung von seiten der heutigen Wissenschaft zugegeben werden. Nur wenn diese Wissenschaft inkonsequent ist, läßt sie die moralische Weltenordnung

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gelten. Aber wenn sie konsequent ist, kann sie das eigentlich nicht. Das alles rührt davon her, daß man eben auf der einen Seite im Grunde genommen nur eine Art Anatomie des Festen hat, daß man nicht berücksichtigt, daß der Mensch auch in sich trägt eine Organi­sation des Flüssigen, eine Organisation des Luftförmigen, ja auch eine Organisation des Wärmehaften. Wenn Sie sich vorstellen, daß, ebenso wie Sie in sich, meinetwillen zu den Knochen, zu den Muskeln, zu den Nervensträngen konfiguriert, die Organisation des Festen haben, Sie auch eine Organisation des Flüssigen, des Luftförmigen haben, allerdings fluktuierend, in sich beweglich, dann wieder eine Wärme-organisation haben, so werden Sie das schon eher verstehen, was ich nun aus geisteswissenschaftlichen Beobachtungen vorzubringen habe.

Stellen wir uns einmal vor, der Mensch wird begeistert von einem hohen moralischen Ideal. Der Mensch kann sich wirklich innerlich seelisch begeistern für ein moralisches Ideal, für das Ideal des Wohl­wollens, für das Ideal der Freiheit, das Ideal der Güte, der Liebe und so weiter. Er kann sich begeistern in konkreten Fällen für dasjenige, was durch diese Ideale angedeutet ist. Daß aber das, was da in der Seele als Begeisterung vor sich geht, in die Knochen oder in die Mus­keln fährt, so wie Knochen oder Muskeln von der heutigen Physiologie oder heutigen Anatomie betrachtet werden, das kann sich natürlich niemand vorstellen. Aber Sie werden darauf kommen, wenn Sie nur mit sich selbst innerlich ordentlich zu Rate gehen, daß Sie sich sehr wohl vorstellen können - und es ist auch so-, daß, wenn der Mensch begeistert ist für ein hohes moralisches Ideal, dann ein Einfluß ausge­übt wird von dieser inneren Begeisterung auf den Wärmeorganismus. Und dann ist man schon im Physischen drinnen vom Seelischen aus! So daß man sagen kann, wenn wir dieses Beispiel herausgreifen: Morali­sche Ideale drücken sich aus durch eine Erhöhung der Wärme im Wärmeorganismus. - Der Mensch wird nicht nur seelisch wärmer, der Mensch - wenn das auch nicht so leicht mit irgendeinem physikalischen Instrument nachweisbar ist - wird wirklich durch dasjenige, was er erlebt an moralischen Idealen, innerlich wärmer. Also es wirkt anre­gend auf den Wärmeorganismus.

Das müssen Sie sich nun als einen konkreten Vorgang vorstellen:

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Begeisterung für ein moralisches Ideal: Belebung des Wärmeorganis­mus. - Es geht im Wärmeorganismus lebhafter zu, wenn ein mora­lisches Ideal die Seele durchglüht. Aber es bleibt auch für die übrige Organisation des Menschen nicht ohne Wirkung. Außer dem Wärme-Organismus, der gewissermaßen sein höchster physischer Organismus ist, hat ja der Mensch den Luftorganismus. Er atmet die Luft ein, er atmet die Luft aus; aber während des Ein- und Ausatmens ist die Luft in ihm. Sie ist allerdings innerlich in Bewegung, in Fluktuation; aber das ist auch eine Organisation, das ist ein wirklicher Luftorganismus, der in ihm lebt, geradeso wie der Wärmeorganismus. Indem nun durch ein moralisches Ideal die Wärme belebt wird, wirkt sie, weil ja die Wärme im ganzen Organismus, in allen Organismen wirksam ist, wiederum auf den Luftorganismus. Diese Wirkung auf den Luftorga­nismus ist aber nicht bloß eine erwärmende, sondern wenn die Wärme, welche regsam wird im Wärmeorganismus, auf den menschlichen Luft-Organismus wirkt, so teilt sie ihm all dasjenige mit, was ich nicht anders benennen kann als eine Lichtquelle. Gewissermaßen Keime des Leuch­tens teilen sich dem Luftorganismus mit, so daß also moralische Ideale, die auf den Wärmeorganismus anregend wirken, im Luftorganismus Lichtquellen auslösen. Diese Lichtquellen werden für das äußere Be­wußtsein, für die äußere Wahrnehmung allerdings nicht leuchtend, aber in dem menschlichen astralischen Leib erscheinen diese Lichtquel­len. Sie sind zunächst gebunden, wenn ich mich dieses physikalischen Ausdruckes bedienen darf, durch die Luft selber, die der Mensch in sich trägt. Sie sind gewissermaßen noch dunkles Licht, wie ja der Pflan­zenkeim auch noch nicht die ausgebildete Pflanze ist. Aber der Mensch trägt dadurch, daß er sich begeistern kann für moralische Ideale oder für moralische Vorgänge, einen Lichtquell in sich.

Als weiteren Organismus haben wir in uns den Flüssigkeitsorganis­mus. Indem die Wärme im Wärmeorganismus wirkt und, vom mora­lischen Ideal ausgehend, im Luftorganismus dasjenige auslöst, was man eine Lichtquelle nennen kann, die zunächst gebunden bleibt, verbor­gen bleibt, löst sich im Flüssigkeitsorganismus, weil sich alles in der menschlichen Organisation, wie gesagt, mitteilt, dasjenige aus, wovon ich gestern gesprochen habe, daß es eigentlich dem äußeren Lufttönen

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zugrunde liegt. Die Luft ist ja nur der Körper des Tones, sagte ich gestern, und wer etwa das Wesen des Tones in den Luftschwingungen sucht und von nichts weiter spricht, der spricht vom Tönen so, wie man vom Menschen spricht, wenn man nur vom äußeren sichtbaren Leibe spricht. Die Luft mit ihren schwingenden Wellen ist nichts an­deres als der äußere Körper für den Ton. Im Menschen wird dieser Ton nicht im Luftorganismus ausgelöst, dieser geistige Ton, sondern er wird gerade im Flüssigkeitsorganismus ausgelöst durch das mora­lische Ideal. Also hier werden die Tonquellen ausgelöst. Und gewisser­maßen als den festesten Organismus, als den, der alle übrigen Orga­nismen stützt und trägt, betrachten wir den festen Organismus. Auch in ihm wird etwas ausgelöst, so wie in den anderen Organisationen; nur wird in dem festen Organismus dasjenige ausgelöst, was wir Le­benskeim nennen können, aber ätherischen Lebenskeim, nicht physi­schen Lebenskeim, wie er sich dann durch die Geburt loslöst von der menschlichen weiblichen Organisation, sondern es wird der ätherische Lebenskeim losgelöst. Das, was da als ätherischer Lebenskeim lebt, es ist ja im tiefsten Unterbewußtsein unten; schon dasjenige, was die Tonquellen sind, ja in gewissem Sinne sogar das, was Lichtquelle ist. Das ist für das gewöhnliche Bewußtsein verborgen, aber es ist im Menschen.

Stellen Sie sich alles vor, was Sie im Leben durchlebt haben an Hin-wendungen Ihrer Seele an die moralischen Ideen, sei es, daß Sie diese moralischen Impulse sympathisch gefunden haben, indem Sie sie bloß als Ideen erfaßten, sei es, daß Sie sie gesehen haben an anderen, sei es, daß Sie in der Ausführung in einer gewissen Weise innerlich befriedigt sein konnten mit ihrem eigenen Tun, indem Sie dieses Tun durch-glüht sein lassen von den moralischen Idealen, all das geht hinunter in die Luftorganisation als Lichtquelle, in die Flüssigkeitsorganisation als Tonquelle, in die feste Organisation als Lebensquelle. All das löst sich in einer gewissen Weise von dem, was im Menschen bewußt ist, ab. Aber der Mensch trägt es in sich. Es wird frei, wenn der Mensch seine physische Organisation mit dem Tode ablegt. Was so durch unsere moralischen Ideale, was gerade durch die reinsten Ideen in unserer Or­ganisation ausgelöst wird, das wird zunächst nicht fruchtbar. Für das

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Leben zwischen Geburt und Tod fruchtbar werden eben die mora­lischen Ideen selber, insofern wir im Ideenleben bleiben und indem wir eine gewisse Genugtuung haben über dasjenige, was wir moralisch vollbracht haben. Das hat aber lediglich mit der Erinnerung zu tun, das hat nichts zu tun mit dem, was hinunterdrängt in die Organisation dadurch, daß wir moralische Ideale sympathisch finden.

Wir sehen also hier, wie tatsächlich unsere ganze Organisation, aus­gehend von unserem Wärmeorganismus, durchdrungen wird von den moralischen Idealen. Und wenn wir mit dem Tod herauslösen aus unserer physischen Organisation unseren ätherischen Leib, unseren astralischen Leib, unser Ich, dann sind wir in diesen höheren Gliedern der Menschennatur durchdrungen von Eindrücken, die wir gehabt haben. Wir waren mit unserem Ich in unserem Wärmeorganismus, in-dem die moralischen Ideale belebt haben unsere eigene Wärmeorgani­sation. Wir waren in unserem Luftorganismus, wo Lichtquellen ge-pflanzt worden sind, die nun nach unserem Tod in den Kosmos mit uns hinausgehen. Wir haben in unserem Flüssigkeitsorganismus den Ton angeregt, der zur Sphärenmusik wird, mit der wir hinaustönen in den Kosmos. Wir bringen Leben hinaus, indem wir durch die Pforte des Todes gehen.

Sie ahnen an dieser Stelle, was das Leben, das ausgegossen ist in der Welt, eigentlich ist. Wo liegen die Quellen des Lebens? Sie liegen in dem, was die moralischen Ideale anregt, die im Menschen begeisternd wirken. Wir kommen darauf, uns sagen zu müssen, daß, wenn wir heute uns durchglüht sein lassen von moralischen Idealen, diese Leben und Ton und Licht hinaustragen und weltenschöpferisch werden. Wir tragen das Weltenschöpferische hinaus, und der Quell des Welten-schöpferischen ist das Moralische.

Sie sehen, wir finden eine Brücke, wenn wir den ganzen Menschen betrachten, zwischen den moralischen Idealen und demjenigen, was draußen in der physischen Welt belebend, auch chemisch wirkt. Denn der Ton ist es, der chemisch wirkt, der die Stoffe zusammenbringt und auseinanderanalysiert. Und das Leuchtende in der Welt, es hat seinen Quell in den moralischen Erregungen, in den Wärmeorganismen der Menschen. Wir blicken in die Zukunft hinein, da bilden sich Weltgestalten.

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Und wie wir bei der Pflanze zurückgehen müssen auf den Keim, so müssen wir bei den zukünftigen Welten, die sich gestalten werden, zurückgehen auf die Keime, die als moralische Ideale in uns selber liegen.

Betrachten Sie jetzt theoretische Ideen im Gegensatz zu moralischen Idealen. Mit theoretischen Ideen, und wenn sie auch noch so bedeut­sam sind, verhält es sich ganz anders. Bei theoretischen Ideen haben wir tatsächlich eine Abregung, eine Erkühlung des Wärmeorganismus zu verzeichnen. So daß wir also sagen müssen: Theoretische Ideen wirken erkältend auf den Wärmeorganismus. - Das ist der Unter­schied in der Wirkung auf die menschliche Organisation. Moralische oder nach dem Moralisch-Religiösen hingeordnete Ideen, diejenigen, die uns in Begeisterung versetzen, indem sie Impulse unseres Handelns werden, sie wirken in dieser Weise weltschöpferisch. Theoretische Ideen wirken zunächst abregend, erkältend auf den Wärmeorganis­mus. Dadurch, daß sie erkältend auf den Wärmeorganismus wirken, wirken sie auch lähmend auf den Luftorganismus und wirken lähmend auf die Lichtquelle, auf die Lichtentstehung. Sie wirken weiter ertö­tend auf den Weltenton, und sie wirken auslöschend auf das Leben. Es kommt zu Ende dasjenige, was in der Vorwelt geschaffen worden ist, in unseren theoretischen Ideen. Indem wir theoretische Ideen fassen, erstirbt in ihnen ein Weltenall. Wir tragen in uns das Ersterben eines Weltenalls, wir tragen in uns das Aufgehen eines Weltenalls.

Moralische Ideale: Theoretische Ideen:

anregend auf den Wärmeorganismus (4) erkältend auf den Wärmeorganismus

auslösend im Luftorganismus (3) lähmend auf die Lichtentstehung

Lichtquellen

auslösend im Flüssigkeitsorganismus (2) ertötend auf den Ton Tonquellen

auslösend im festen Organismus (1) auslöschend auf das Leben Lebenskeime (ätherisch)

Hier ist auch der Punkt, wo derjenige, der in die Weltengeheimnisse eingeweiht ist, nicht sprechen kann, wie heute so viele sprechen, von der Konstanz der Kraft oder der Konstanz des Stoffes. Das ist einfach nicht wahr, daß der Stoff konstant bleibt. Der Stoff vergeht bis zum

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Nullpunkt hin. Die Kraft vergeht bis zum Nullpunkt in unserem eigenen Organismus dadurch, daß wir theoretisch denken. Und wir wären ja nicht Menschen, wenn wir nicht theoretisch denken würden, wenn nicht das Weltenall fortwährend in uns erstürbe. Durch das Ersterben des Weltenalls sind wir eigentlich selbstbewußte Menschen, die zu Gedanken über das Weltenall kommen können. Aber indem das Weltenall sich in uns denkt, ist es schon Leiche. Der Gedanke über das Weltenall ist die Leiche des Weltenalls. Erst als Leiche wird uns das Weltenall bewußt und macht uns zum Menschen. Eine vergangene Welt also erstirbt in uns bis zum Stoff, bis zur Kraft. Und nur weil gleich wiederum eine neue aufgeht, merken wir nicht, daß der Stoff vergeht und wieder entsteht. Im Menschen wird zu Ende geführt die Stofflichkeit durch sein theoretisches Denken; es wird neu belebt die Stofflichkeit und die Weltenkraft durch sein moralisches Denken. So greift dasjenige, was innerhalb der menschlichen Haut geschieht, in Weltenvergehen und Weltenentstehen ein. So gliedern sich zusammen Moralisches und Natürliches. Das Natürliche vergeht im Menschen; im Moralischen entsteht neues Natürliches.

Weil man auf diese Dinge nicht hinschauen wollte, erfand man die Ideen von der Unvergänglichkeit des Stoffes und der Kraft. Wenn die Kraft unvergänglich wäre, wenn der Stoff unvergänglich wäre, gäbe es keine moralische Weltordnung. Das will man nur heute ver­decken, und die heutige Weltanschauung hat alle Ursache, das zu ver­decken, denn sie müßte eigentlich die moralische Weltordnung aus­löschen, und sie wird ausgelöscht, wenn man von dem Gesetz der Erhaltung des Stoffes und der Kraft spricht. Denn erhält sich irgend­wie der Stoff, erhält sich irgendwie die Kraft, dann ist die moralische Weltordnung nichts weiter als eine Illusion, ein Scheingebilde. Erst da­durch kommt man dazu, den gesamten Gang der Welt zu verstehen, daß man einsieht, wie aus diesem «Scheingebilde» - das ist es ja zu­nächst, weil es in Gedanken lebt - der moralischen Weltordnung neue Welten erstehen. Das alles aber ergibt sich nicht, wenn man nur die festen Bestandteile der menschlichen Organisation betrachtet, sondern wenn man hinausgeht durch den Flüssigkeits- und Luftorganismus bis zum Wärmeorganismus. Den Zusammenhang des Menschen mit der

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Welt, man wird ihn nur verstehen, wenn man gewissermaßen das Phy­sische bis zu jener Verfeinerung, Verdünnung verfolgt, wo unmittelbar das Seelische in dieses verdünnte Physische, wie bei der Wärme, ein­greifen kann. Dann findet man den Zusammenhang zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen. Noch so viele Psychologien, Seelen-lehren können geschrieben werden: Wenn sie ausgehen von dem, was heute durch die Anatomie und Physiologie betrachtet wird, so wird man bei diesen festen oder fest-flüssigen, weich-fest gedachten Körpern keinen Übergang finden können zum Seelischen, das überhaupt nicht seelisch erscheint. Wenn man aber das Körperliche bis zur Wärme ver­folgt, dann wird man eine Brücke schlagen können von dem, was in den Körpern als Wärme existiert, zu demjenigen, was von der Seele aus in die Wärme des eigenen menschlichen Organismus hineinwirkt.

Wärme ist äußerlich in den Körpern, Wärme ist innerlich im mensch­lichen Organismus, und indem die Wärme selbst im Menschen orga­nisiert ist, greift die Seele, das Seelisch-Geistige, in diesen Wärmeorga­nismus ein, und auf dem Umwege durch die Wärme greift ein alles das, was wir innerlich moralisch erleben. Ich meine jetzt natürlich mit dem Moralischen nicht nur, was sich der Philister unter moralisch allein vor­stellt, sondern ich meine die Gesamtheit alles Moralischen, also auch diejenigen Impulse, die wir zum Beispiel gewinnen, wenn wir die Herr­lichkeit des Kosmos betrachten, wenn wir uns sagen: Wir sind aus dem Kosmos heraus geboren, wir sind verantwortlich für das, was in der Welt vorgeht, wenn wir uns begeistern lassen, in die Zukunft hin-einzuwirken aus den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft heraus. -Und wenn wir die Geisteswissenschaft selber als einen Quell des Mo­ralischen betrachten, dann können wir am meisten begeistert sein für dasjenige, was moralisch ist, dann wird solche Begeisterung, die aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis wirkt, zu gleicher Zeit ein Quell des im höheren Sinne Moralischen sein. Aber, was man gewöhnlich moralisch nennt, ist nur eine Unterabteilung des Moralischen im allge­meinen. Alle diejenigen Ideen, die wir uns über die äußere Welt ma­chen, über fertige Naturanordnungen, sind theoretische Ideen. Wir können uns noch so stark mathematisch-mechanisch eine Maschine vorstellen, noch so stark mathematisch-mechanisch uns das Weltenall

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im Sinne des kopernikanischen Systems vorstellen, was wir so als theo­retische Ideen gewinnen, ist Sterbekraft in uns, ist dasjenige, was Leiche des gesamten Weltalls in uns ist als Gedanke, als Vorstellung.

Diese Dinge schaffen immer mehr und mehr eine Einsicht in die Gesamtheit, in die totale Welt. Und es stehen nicht zwei Ordnungen, eine Naturordnung und eine moralische Ordnung, nebeneinander, son­dern beide sind eines, und das ist es, was der Mensch der Gegenwart braucht, sonst wird er immer dastehen und sagen: Was mache ich mit meinen moralischen Impulsen in einer Welt, die doch nur eine natür­liche Ordnung hat? - Das war ja die auf den Gemütern des 19. Jahr­hunderts, des beginnenden 20. Jahrhunderts furchtbar lastende Frage:

Wie ist ein Übergang denkbar von dem Natürlichen ins Moralische, von dem Moralischen ins Natürliche? - Nichts anderes wird zur Lösung dieser bangen schicksalsschweren Frage beitragen können, als allein das geisteswissenschaftliche Durchschauen sowohl der Natur auf der einen Seite wie des Geistes auf der anderen Seite.

Wenn man die Voraussetzungen hat, die aus solchen Erkenntnissen kommen, dann wird man mit ihnen nun sich auch entgegenstellen können dem, was einem auf gewissen Gebieten als äußere Wissenschaft erscheint, und was ja auch heute schon in das populäre Bewußtsein hin-übergegangen ist. Wir haben als eine Grundlage unseres Weltbildes heute die kopernikanische Weltanschauung anzusehen. Diese koper­nikanische Weltanschauung, die dann Kepler weiter ausgebildet, New­ton vertheoretisiert hat, sie wurde ja allerdings verpönt bis zum Jahre 1827 von der katholischen Kirche. Kein rechtgläubiger Katholik durfte sie bis dahin glauben. Seither ist es ihm erlaubt, sie zu glauben. Aber sie ist so sehr in das populäre Bewußtsein übergegangen, daß natürlich heute jemand als ein Tropf gelten würde, der nicht die Welt im Sinne dieses kopernikanischen Weltbildes anschauen würde.

Was ist dieses kopernikanische Weltenbild? Es ist eigentlich etwas, was nur nach mathematischen Grundsätzen, nach mathematischen Prinzipien und Anschauungen ausgebildet ist, nach mathematisch-me­chanischen Anschauungen, können wir sagen. Und wir können dann vergleichen dieses Weltenbild, das sich ja langsam innerhalb der grie­chischen Weltanschauung vorbereitet hat, die noch immer die Reste

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früherer Gedankenrichtungen, zum Beispiel im ptolemäischen Welten-bilde gehabt hat, dann aber sich weiter ausgebildet hat zu dem, was eben heute jedem Kinde gelehrt wird als kopernikanisches Weltbild; wir können von diesem Weltbild zurückschauen in alte Zeiten der Menschheit. Da haben wir ein anderes Weltbild. Von dem ist nur zurückgeblieben, was heute jene Traditionen bewahren, die ja auch auf recht dilettantischer Basis stehen, so wie sie heute unter den Men­schen figurieren, was als Astrologie und dergleichen existiert. Das ist als Reste alter Astronomie zurückgeblieben, oder es ist wohl auch zurückgeblieben dasjenige, was verknöchert, erstarrt gewisse Geheim-gesellschaften, Freimaurergesellschaften und dergleichen in ihren Sym­bolen haben. Die Leute wissen gemeiniglich nicht, daß das Reste alter Astronomie sind. Aber es war eine andere Astronomie, es war eine Astronomie, welche nicht in demselben Sinne auf bloß mathematischen Prinzipien aufgebaut war, wie es die heutige Astronomie ist, sondern diese alte Astronomie war aus alten hellseherischen Anschauungen her­aus entstanden. Man macht sich heute ganz falsche Vorstellungen von der Art und Weise, wie die ältere Menschheit zu ihren astronomisch­astrologischen Vorstellungen gekommen ist. Sie kam durch gewisse instinktiv-hellseherische Anschauungen des Weltenalls dazu. Es nah­men die ältesten nachatlantischen Völker ebenso Geistgebilde, Geist­wesen in den Weltenkörpern wahr, wie heute der Mensch in den Weltenkörpern bloße physische Gebilde sieht. Wenn unter alten Völ­kern von Weltenkörpern, von Planeten oder Fixsternen gesprochen wurde, wurde von Geistwesen gesprochen. Heute stellt man sich vor, daß die Sonne irgendein brennender Gasball ist, daß sie Licht in die Welt hinausstrahlt, weil sie ein brennender Gasball ist. Die alten Völker haben sich vorgestellt, daß die Sonne ein lebendiges Wesen ist, und sie sahen in dem, was ihren Augen als Sonne erschien, im Grunde genommen nur den äußeren leiblichen Ausdruck für dieses Geistwe­sen, das sie da draußen, wo die Sonne steht, vermuteten; ebenso für die anderen Himmelskörper. Geistwesen sahen sie. Wir müssen uns vorstellen, daß es eine Zeit gab, welche ziemlich lange vor dem Ein­treten des Mysteriums von Golgatha schon zu Ende gegangen ist, wo alles dasjenige, was da draußen im Weltenall eine Sonne, was in den

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Sternen war, als Geistwesen vorgestellt worden ist; daß dann, ich möchte sagen, eine Zwischenzeit war, wo man nicht recht wußte, wie man sich das vorzustellen habe, wo man auf der einen Seite allerdings die Planeten, die da sind, schon wie etwas Physisches ansah, sie aber doch sich belebt dachte von Seelen. In diesen Zeiten, in denen man nicht mehr gewußt hat, wie das Physische nach und nach in das See­lische übergeht, wie das Seelische nach und nach in das Physische übergeht, wie im Grunde genommen beides eines ist, statuierte man auf der einen Seite ein Physisches, auf der anderen Seite ein Seelisches. Und man dachte es sich ebenso zusammen, wie sich heute die meisten Psychologen noch, wenn sie überhaupt ein Seelisches annehmen, das Seelische und das Physische im Menschen zusammendenken, was ja natürlich zu nichts anderem als zu einem absurden Denken führt; oder wie die psychophysische Parallelisation es annimmt, was ja wiederum nichts anderes ist als ein törichtes Auskunftsmittel über etwas, was man nicht weiß.

Dann kam die Zeit, in der man die Weltenkörper als physische We­senheiten ansah, die nach mathematischen Gesetzen kreisen oder still­stehen, sich anziehen und abstoßen und so weiter. Allerdings, es ging durch alle Zeiten, in den älteren Zeiten mehr instinktiv, ein Wissen da­von, wie die Dinge wirklich sind. Jetzt kommt es so, daß das instink­tive Wissen nicht ausreicht, daß mit vollständigem Bewußtsein dasselbe errungen werden muß, was früher instinktiv gewußt wurde. Und wenn wir anfragen, wie diejenigen, die nun in totaler Anschauung, das heißt, in physischer, seelischer und geistiger Anschauung das Wel­tenall erkennen konnten, sich vorstellten die Sonne, so können wir etwa folgendes sagen: Sie stellten sich die Sonne zunächst als Geist-wesen vor (Zeichnung 1). Dieses Geistwesen, das dachten sich die In­itiierten als den Quell alles Moralischen. Dasjenige also, wovon ich in meiner «Philosophie der Freiheit» sagte, daß die moralischen In­tuitionen aus diesem Quell herausgenommen werden, sie werden inner­halb der Erde herausgenommen; von den Menschen erglänzen sie, von dem, was in den Menschen als moralische Begeisterung leben kann (II).

Denken Sie einmal, wie unsere Verantwortlichkeit erhöht wird, wenn wir wissen: Wäre niemand auf der Erde, der für wahrhafte, echte

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# Bild s. 196a

Moral oder überhaupt geistige Ideale erglühen kann in seiner Seele, so würden wir nicht beitragen zu einem Fortgange unserer Welt, zu einer Neuschöpfung, sondern zu einem Absterben unserer Welt. Diese Leuchtekraft (Zeichnung III), die hier auf der Erde ist, wirkt ins

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Weltenall hinaus. Das ist allerdings eben für das gewöhnliche mensch­liche Wahrnehmen zunächst unwahrnehmbar, wie da hinausstrahlt von der Erde, was in dem Menschen Moralisches lebt. Ja, wenn über die ganze Erde heraufziehen würde ein trauriges Zeitalter, in dem Mil­lionen und aber Millionen von Menschen nur in Ungeistigkeit vergehen würden - das Geistige zu gleicher Zeit hier einschließlich des Mora­lischen gedacht, denn so ist es ja auch -, dann würde, wenn nur ein Dutzend Menschen mit heller moralisch-geistiger Begeisterung da wä­ren,

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doch die Erde erstrahlen geistig-sonnenhaft. Dasjenige, was da ausstrahlt, das strahlt nur bis zu einer gewissen Entfernung. In dieser Entfernung spiegelt es sich gewissermaßen in sich selbst, und es ent­steht hier die Spiegelung desjenigen, was von dem Menschen aus­strahlt. Und diese Spiegelung, die sahen die Initiierten aller Zeiten als die Sonne an. Denn da ist nichts Physisches, ich habe es oft gesagt. Wo die äußere Astronomie davon redet, daß ein glühender Gasball ist, da ist nur die Widerspiegelung eines Geistigen, das physisch er­scheint (IV).

Sie sehen, wie weit die kopernikanische Weltanschauung und schließ­lich auch die alte Astrologie entfernt sind von dem, was nun wieder­um das Geheimnis der Initiation war. Wie diese Dinge zusammen­hängen, das spricht sich wohl am besten darin aus, daß in einer Zeit, in der diejenigen Menschengruppen schon sehr starke Macht hatten, die solche Wahrheiten, wie sie sagten, für die Menge gefährlich fan­den und sie ihr nicht mitteilen wollten, daß in einer solchen Zeit ein Idealist wie Julian, den man deshalb den «Abtrünnigen» genannt hat, das der Welt mitteilen wollte und dann auf einem Umwege getötet worden ist. Es gibt eben durchaus Gründe, welche gewisse Geheim-gesellschaften dazu veranlassen, die durchdringenden Geheimnisse der Welt nicht mitzuteilen, weil sie dadurch eine gewisse Macht ausüben können. Wenn zu Kaiser Julians Zeiten gewisse Geheimgesellschaften so stark ihre Geheimnisse hüteten, daß sie Julian töten ließen, dann brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn die Behüter gewisser Geheimnisse, die sie aber nicht herausgeben, sondern auch zur Aus­gestaltung ihrer Macht vor der Menge hüten wollen, es hassen, wenn nun wenigstens die Anfänge gewisser Geheimnisse enthüllt werden. Und Sie sehen hier wohl etwas von den tieferen Gründen, warum sich in der Welt ein so furchtbares Hassen erhebt gegen dasjenige, was Gei­steswissenschaft sich verpflichtet fühlt, in der gegenwärtigen Zeit an die Menschheit heranzubringen. Wir leben aber in einer Zeit, in der entweder die Erdenzivilisation zugrunde gehen wird, oder die Mensch­heit der Erde gewisse Geheimnisse ausgeliefert bekommt: diese Dinge, die in einer gewissen Weise bisher als Geheimnisse gehütet worden sind, die einmal der Menschheit zugekommen sind durch instinktives Hellsehen,

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die jetzt aber wiederum errungen werden müssen durch vollbe­wußtes Schauen nicht nur des Physischen, sondern auch des Geistigen, das in ihm ist! Was wollte schließlich Julian der Abtrünnige? Er wollte den Leuten begreiflich machen: Ihr gewöhnt euch immer mehr und mehr an, nur die physische Sonne zu sehen; aber es gibt eine geistige Sonne, von der die physische nur der Spiegel ist! - Er wollte auf seine Art das Christus-Geheimnis der Welt mitteilen. Aber man will die Zusammenhänge des Christus, der geistigen Sonne, mit der physischen Sonne verdecken. Daher werden gewisse Machthaber am wütendsten, wenn von dem Christus-Geheimnis im Zusammenhange mit dem Son­nengeheimnis gesprochen wird. Da werden alle möglichen Verleum­dungen dann vorgeführt. Aber Sie sehen, Geisteswissenschaft ist in der gegenwärtigen Zeit eine wichtige Angelegenheit. Nur wer sie als wich­tige Angelegenheit betrachtet, betrachtet sie in dem vollen Ernste, der ihr gebührt.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 19. Dezember 1920

Der Mensch steht da in der Welt auf der einen Seite als ein Betrach­tender, auf der anderen Seite als ein Handelnder, zwischen drinnen steht er mit seinem Fühlen. Er ist auf der einen Seite mit seinem Fühlen hingegeben an dasjenige, was sich seiner Betrachtung ergibt, auf der anderen Seite ist er mit seinem Fühlen wiederum beteiligt an seinem Handeln. Man braucht ja nur darüber nachzudenken, wie der Mensch befriedigt oder unbefriedigt sein kann von dem, was ihm als Han­delnder gelingt oder nicht gelingt; man braucht nur daran zu denken, wie schließlich alles Handeln begleitet ist von Gefühlsimpulsen, und man wird sehen, daß in der Tat unser gefühlsmäßiges Wesen verbindet die beiden entgegengesetzten Pole: das betrachtende Element in uns und das handelnde Element in uns. Nur dadurch, daß wir betrach­tende Wesen sind, werden wir im vollsten Sinne des Wortes eigentlich Mensch. Sie brauchen sich nur zu überlegen, wie alles, was Ihnen schließlich das Bewußtsein gibt, daß Sie Mensch sind, damit zusam­menhängt, daß Sie die Welt, die Sie umgibt, in der Sie leben, innerlich gewissermaßen abbilden können, betrachten können. Zu denken, daß wir die Welt nicht betrachten können, würde bedeuten, daß wir unser ganzes Menschsein von uns abtun müssen. Als handelnde Menschen stehen wir drinnen im sozialen Leben. Und im Grunde genommen hat alles das, was wir zwischen Geburt und Tod vollbringen, eine gewisse soziale Bedeutung.

Nun wissen Sie, daß, insofern wir betrachtende Wesen sind, in uns der Gedanke lebt, insofern wir handelnde Wesen sind, also auch in­sofern wir soziale Wesen sind, in uns der Wille lebt. Es ist aber nicht so in der menschlichen Natur, wie es überhaupt in der Wirklichkeit nicht so ist, daß man verstandesmäßig die Dinge nebeneinanderstellen kann, sondern, was wirksam ist im Sein, das kann man nach der einen oder anderen Seite charakterisieren; die Dinge fließen ineinander, die Kräfte der Welt fließen ineinander. Wir können uns denkend vor­stellen, daß wir ein Gedankenwesen sind, wir können uns denkend auch

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vorstellen, daß wir ein Willenswesen sind. Aber auch wenn wir kon­templativ, bei völliger äußerer Ruhe in Gedanken leben, so ist der Wille in uns dennoch fortwährend tätig. Und wiederum, wenn wir Handelnde sind, so ist in uns der Gedanke tätig. Es ist undenkbar, daß irgend etwas als Handlung von uns ausgeht, daß irgend etwas in das soziale Leben auch überspringe, ohne daß wir uns gedanklich mit dem, was so geschieht, identifizieren. In allem Willensartigen lebt das Gedankenartige, in allem Gedanklichen lebt das Willensartige. Und es ist durchaus notwendig, daß man gerade über die hier in Frage kommenden Dinge sich klar werde, wenn man jene Brücke, von der ich hier jetzt schon so oft gesprochen habe, im Ernste bauen will, die Brücke zwischen der moralisch-geistigen Weltordnung und der phy­sisch-natürlichen Ordnung.

Denken Sie sich einmal, Sie lebten im Sinne der gewöhnlichen Wis­senschaften für eine Weile rein nachdenklich, Sie regten sich gar nicht, Sie sähen ganz ab von allem Handeln, Sie lebten eben ein Vorstellungs­leben. Sie müssen sich aber klar sein, daß dann in diesem Vorstellungs­leben Wille tätig ist, Wille, der allerdings dann in Ihrem Inneren sich betätigt, der im Bereiche des Vorstellens seine Kräfte ausbreitet. Ge­rade wenn wir so den denkenden Menschen betrachten, wie er fort­während den Willen hineinstrahlt in seine Gedanken, dann muß uns eigentlich eines gegenüber dem wirklichen Leben auffallen. Die Ge­danken, die wir also fassen, wenn wir sie alle durchgehen, wir werden immer finden, daß sie an irgend etwas anknüpfen, was in unserer Um­gebung, was unter unseren Erlebnissen ist. Wir haben zwischen Ge­burt und Tod gewissermaßen keine anderen Gedanken als diejenigen, die uns das Leben bringt. Ist unsere Erfahrung reich, so haben wir auch einen reichen Gedankeninhalt; ist unsere Erfahrung arm, so haben wir einen armen Gedankeninhalt. Der Gedankeninhalt ist gewissermaßen unser innerliches Schicksal. Aber innerhalb dieses Denk-Erlebens ist eines ganz uns eigen: Die Art und Weise, wie wir die Gedanken ver­knüpfen und voneinander lösen, die Art und Weise, wie wir innerlich die Gedanken verarbeiten, wie wir urteilen, wie wir Schlüsse ziehen, wie wir uns überhaupt im Gedankenleben orientieren, das ist unser, ist uns eigen. Der Wille in unserem Gedankenleben ist unser eigener.

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Wenn wir auf dieses Gedankenleben hinblicken, so müssen wir uns gerade bei einer sorgfältigen Selbstprüfung sagen, und Sie werden schon sehen, daß das so bei einer sorgfältigen Selbstprüfung ist: Die Gedanken kommen uns von außen ihrem Inhalte nach, die Bear­beitung der Gedanken, die geht von uns aus. - Wir sind daher im Grunde genommen in bezug auf unsere Gedankenwelt ganz abhängig von dem, was wir erleben können durch die Geburt, in die wir schick­salsmäßig versetzt sind, durch die Erlebnisse, die uns werden können. Aber in dasjenige, was uns da von der Außenwelt kommt, tragen wir hinein gerade durch den Willen, der aus der Seelentiefe ausstrahlt, unser Eigenes. Es ist für die Erfüllung dessen, was Selbsterkenntnis von uns Menschen will, im hohen Grade bedeutsam, wenn wir ausein­anderhalten, wie auf der einen Seite uns von der Umwelt der Gedan­keninhalt kommt, wie auf der anderen Seite aus unserem Inneren in die Gedankenwelt einstrahlt die Kraft des Willens, die von innen kommt.

Wie wird man eigentlich innerlich immer geistiger und geistiger? Man wird nicht dadurch geistiger, daß man möglichst viele Gedanken aus der Umwelt aufnimmt, denn diese Gedanken geben ja doch nur, ich möchte sagen, die Außenwelt, die eine sinnlich-physische ist, in Bildern wieder. Dadurch, daß man möglichst den Sensationen des Le­bens nachläuft, dadurch wird man nicht geistiger. Geistiger wird man durch die innere willensgemäße Arbeit innerhalb der Gedanken. Daher besteht auch Meditieren darinnen, daß man sich nicht einem beliebigen Gedankenspiel hingibt, sondern daß man wenige, leicht überschaubare, leicht prüfbare Gedanken in den Mittelpunkt seines Bewußtseins rückt, aber mit einem starken Willen diese Gedanken in den Mittel­punkt seines Bewußtseins rückt. Und je stärker, je intensiver dieses innere Willensstrahlen wird in dem Elemente, wo eben die Gedanken sind, desto geistiger werden wir. Wenn wir Gedanken von der äußeren physisch-sinnlichen Welt aufnehmen - und wir können ja nur solche aufnehmen zwischen Geburt und Tod -, dann werden wir dadurch, wie Sie leicht einsehen können, unfrei, denn wir werden hingegeben an die Zusammenhänge der äußeren Welt; wir müssen dann so denken, wie es uns die äußere Welt vorschreibt, insofern wir nur den Gedankenin­halt ins Auge fassen; erst in der inneren Verarbeitung werden wir frei.

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Nun gibt es eine Möglichkeit, ganz frei zu werden, frei zu werden in seinem inneren Leben, wenn man den Gedankeninhalt, insofern er von außen kommt, möglichst ausschließt, immer mehr und mehr aus­schließt, und das Willenselement, das im Urteilen, im Schlüsseziehen unsere Gedanken durchstrahlt, in besondere Regsamkeit versetzt. Da­durch aber wird unser Denken in denjenigen Zustand versetzt, den ich in meiner «Philosophie der Freiheit» genannt habe das reine Den­ken. Wir denken, aber im Denken lebt nur Wille. Ich habe das be­sonders scharf betont in der Neuauflage der «Philosophie der Frei­heit» 1918. Dasjenige, was da in uns lebt, lebt in der Sphäre des Den­kens. Aber wenn es reines Denken geworden ist, ist es eigentlich eben­sogut als reiner Wille anzusprechen. So daß wir aufsteigen dazu, uns vom Denken zum Willen zu erheben, wenn wir innerlich frei werden, daß wir gewissermaßen unser Denken so reif machen, daß es ganz und gar durchstrahlt wird vom Willen, nicht mehr von außen auf­nimmt, sondern eben im Willen lebt. Gerade dadurch aber, daß wir immer mehr und mehr den Willen im Denken stärken, bereiten wir uns vor für das, was ich in der «Philosophie der Freiheit» die moralische Phantasie genannt habe, was aber aufsteigt zu den moralischen In­tuitionen, die dann unseren Gedankengewordenen Willen oder Wille-gewordenen Gedanken durchstrahlen, durchsetzen. Auf diese Weise heben wir uns heraus aus der physisch-sinnlichen Notwendigkeit, durchstrahlen uns mit dem, was uns eigen ist und bereiten uns vor für die moralische Intuition. Und auf solchen moralischen Intuitionen be­ruht doch alles das, was den Menschen von der geistigen Welt aus zunächst erfüllen kann. Es lebt also auf dasjenige, was Freiheit ist, dann, wenn wir gerade in unserem Denken immer machtiger und mächtiger werden lassen den Willen.

Betrachten wir den Menschen von dem anderen Pol aus, von dem Willenspol. Der Wille, wann tritt er durch unser Handeln uns be­sonders klar vor das Seelenauge? Nun, wenn wir niesen, so tun wir ja auch etwas sozusagen, aber wir werden nicht in der Lage sein, uns einen besonderen Willensimpuls dabei zuzuschreiben, wenn wir niesen. Wenn wir sprechen, dann tun wir schon etwas, wo in einer gewissen Weise der Wille drinnen liegt. Aber bedenken Sie nur einmal, wie im

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Sprechen Willentliches und Unwillentliches, Willensgemäßes und Un­willensgemäßes ineinanderlaufen! Sie müssen sprechen lernen und müssen es gerade so lernen, daß Sie nicht mehr jedes einzelne Wort willensgemäß formen müssen, daß gewissermaßen etwas Instinktives hineinkommt in das Sprechen. Für das gewöhnliche Leben ist es we­nigstens so, und im Grunde genommen ist es so gerade für diejenigen Menschen, die wenig nach Geistigkeit streben. Schwätzer, die gewisser­maßen fortwährend ihren Mund offen haben müssen, um das oder jenes zu sagen, in das nicht viel Gedankliches hineingesandt wird, die lassen den anderen merken - sie selber merken es allerdings nicht -, wieviel Instinktives, Unwillensgemäßes im Sprechen liegt. Aber je mehr wir aus unserem Organischen herausgehen und übergehen zur Tätigkeit, die vom Organischen gewissermaßen losgelöst ist, desto mehr tragen wir in unser Handeln die Gedanken hinein. Das Niesen steckt noch ganz im Organischen drinnen, das Sprechen steckt zum großen Teil im Organischen drinnen, das Gehen schon sehr wenig, dasjenige, was wir mit den Händen vollziehen, auch sehr wenig. Und so geht es allmählich über in immer mehr und mehr vom Organischen in uns losgelöste Handlungen. Diese Handlungen, die verfolgen wir mit un­seren Gedanken, wenn wir auch nicht wissen, wie der Wille in diese Handlungen hineinschießt. Und wenn wir nicht gerade Nachtwand­ler sind und in diesem Zustande uns betätigen, dann werden unsere Handlungen stets von unseren Gedanken begleitet sein. Wir tragen in unser Handeln die Gedanken hinein, und je mehr sich unser Handeln ausbildet, desto mehr tragen wir die Gedanken in unser Handeln hin­ein.

Sie sehen, wir werden immer innerlicher und innerlicher, indem wir unsere Eigenkraft als Wille in das Denken hineinschicken, das Denken gewissermaßen ganz vom Willen durchstrahlen lassen. Wir bringen den Willen in das Denken hinein und gelangen dadurch zur Freiheit. Wir gelangen dazu, indem wir immer mehr und mehr unser Handeln ausbilden, in dieses Handeln die Gedanken hineinzutragen. Wir durch-strahlen unser Handeln, das ja aus unserem Willen hervorgeht, mit un­seren Gedanken. Auf der einen Seite, nach innen, leben wir ein Ge­dankenleben; das durchstrahlen wir mit dem Willen und finden so die

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Freiheit. Auf der anderen Seite, nach außen, fließen unsere Handlungen von uns aus dem Willen heraus; wir durchsetzen sie mit unseren Ge­danken.

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Aber wodurch werden denn unsere Handlungen immer ausgebil­deter? Wodurch, wenn wir den allerdings anzufechtenden Ausdruck gebrauchen wollen, kommen wir denn zu einem immer vollkomme­neren Handeln? - Wir kommen zu einem immer vollkommeneren Han­deln eigentlich dadurch, daß wir diejenige Kraft in uns ausbilden, die man nicht anders nennen kann als Hingabe an die Außenwelt. Je mehr unsere Hingabe an die Außenwelt wächst, desto mehr regt uns diese Außenwelt an zum Handeln. Dadurch aber gerade, daß wir den Weg finden, um hingegeben zu sein an die Außenwelt, gelangen wir dazu, dasjenige, was in unserem Handeln liegt, mit Gedanken zu durch­dringen. Was ist Hingabe an die Außenwelt? Hingabe an die Außen­welt, die uns durchdringt, die unser Handeln mit den Gedanken durch­dringt, ist nichts anderes als Liebe.

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Geradeso wie wir zur Freiheit kommen durch die Durchstrahlung des Gedankenlebens mit dem Willen, so kommen wir zur Liebe durch die Durchsetzung des Willenslebens mit Gedanken. Wir entwickeln in unserem Handeln Liebe dadurch, daß wir die Gedanken hinein-strahlen lassen in das Willensgemäße; wir entwickeln in unserem Den­ken Freiheit dadurch, daß wir das Willensgemäße hineinstrahlen lassen in die Gedanken. Und da wir als Mensch ein Ganzheit, eine Totalität sind, so wird, wenn wir dazu kommen, in dem Gedankenleben die Freiheit und in dem Willensleben die Liebe zu finden, in unserem Handeln die Freiheit, in unserem Denken die Liebe mitwirken. Sie durchstrahlen einander, und wir vollziehen ein Handeln, ein gedan­kenvolles Handeln in Liebe, ein willensdurchsetztes Denken, aus dem wiederum das Handlungsgemäße in Freiheit entspringt.

Sie sehen, wie im Menschen die zwei größten Ideale zusammenwach­sen, Freiheit und Liebe. Und Freiheit und Liebe sind auch dasjenige, was eben der Mensch, indem er dasteht in der Welt, in sich so ver­wirklichen kann, daß gewissermaßen das eine mit dem anderen sich gerade durch den Menschen für die Welt verbindet.

Man wird nun fragen müssen: Wodurch ist denn das Ideal, das höchste, in diesem willensdurchstrahlten Gedankenleben zu erreichen? -Ja, wenn das Gedankenleben etwas wäre, das materielle Vorgänge darstellte, dann könnte das eigentlich gar nie eintreten, daß der Wille ganz in die Sphäre der Gedanken gewissermaßen hineinträte und in der Sphäre des Gedankens das Willensmäßige immer mehr und mehr Platz griffe. Stellen Sie sich vor, da wären materielle Vorgänge - der Wille könnte in diese materiellen Vorgänge höchstens organisierend hineinstrahlen. Nur dann kann der Wille wirksam sein, wenn das Ge­dankenleben als solches keine äußere physische Realität hat, wenn das Gedankenleben etwas ist, was der äußeren physischen Realität bar ist. Was muß es also sein?

Nun, Sie werden sich klarmachen können, was es sein muß, wenn Sie von einem Bilde ausgehen. Wenn Sie hier einen Spiegel haben und hier einen Gegenstand, der Gegenstand im Spiegel sich spiegelt, dann können Sie hinter den Spiegel gehen, Sie finden nichts. Sie haben eben ein Bild. Solches Bilddasein haben unsere Gedanken. Wodurch haben sie

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ein solches Bilddasein? Nun, Sie brauchen sich nur zu erinnern, was ich Ihnen über das Gedankenleben gesagt habe. Es ist ja eigentlich als solches gar nicht im gegenwärtigen Augenblick Realität. Das Ge­dankenleben strahlt herein aus unserem Vorgeburtlichen, oder sagen wir aus dem Dasein vor der Empfängnis. Das Gedankenleben hat seine Realität zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Und geradeso wie hier der Gegenstand vor dem Spiegel steht und aus dem Spiegel nur Bilder kommen, so ist dasjenige, was wir als Gedankenleben ent­wickeln, im Grunde genommen ganz real durchlebt zwischen dem Tode und der neuen Geburt und strahlt nur herein in dieses Leben, das wir seit der Geburt vollbringen. Als denkende Wesen haben wir in uns nur eine Spiegelbild-Realität. Dadurch kann die andere Realität, die ge­rade aus unserem Stoffwechsel, wie Sie wissen, aufstrahlt, die bloße Spiegelbild-Realität des Gedankenlebens durchdringen. Man sieht am klarsten, wenn man überhaupt unbefangenes Denken entfalten will, was heute in dieser Beziehung allerdings sehr selten ist, daß das Ge­dankenleben ein Spiegelbilddasein hat, wenn man das reinste Gedan­kenleben ins Auge faßt, das mathematische. Dieses mathematische Ge­dankenleben fließt ganz aus unserem Inneren herauf. Aber es hat nur ein Spiegeldasein. Sie können allerdings durch die Mathematik alle äußeren Gegenstände bestimmen; aber die mathematischen Gedanken selber sind eben nur Gedanken und sie haben bloß ein Bilddasein. Sie sind etwas, was nicht aus irgendeiner äußeren Realität gewonnen ist.

Abstraktlinge wie Kant gebrauchen auch ein abstraktes Wort. Sie sagen: Die mathematischen Vorstellungen sind a priori. - A priori, das heißt: bevor etwas anderes da ist. Aber warum sind mathematische Vorstellungen a priori? Weil sie hereinstrahlen aus dem vorgeburt­lichen beziehungsweise vor der Empfängnis liegenden Dasein; das macht ihre Apriorität aus. Und daß sie uns für unser Bewußtsein als real erscheinen, das rührt davon her, daß sie vom Willen durchstrahlt sind. Diese Durchstrahlung des Willens macht sie real. Bedenken Sie einmal, wie abstrakt das moderne Denken geworden ist, indem es abstrakte Worte gebraucht für etwas, was man seiner Realität nach eben nicht durchschaut. Daß wir uns die Mathematik mitbringen aus unserem vorgeburtlichen Dasein, das spürte gewissermaßen ein Kant

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und nannte deshalb die mathematischen Urteile a priori. Aber mit a priori ist weiter nichts gesagt, denn es ist auf keine Realität hingedeutet, es ist auf etwas bloß Formales hingedeutet.

Alte Traditionen sprechen gerade hier bei dem, was Gedankenleben ist, was in seinem Bilddasein angewiesen ist, vom Willen durchstrahlt zu werden, um zur Realität zu werden, alte Vorstellungen sprechen hier von Schein (siehe Zeichnung Seite 209).

Sehen wir uns den anderen Pol des Menschen an, wo die Gedanken nach dem Willensmäßigen hinstrahlen, wo in Liebe die Dinge voll­bracht werden: da prallt gewissermaßen unser Bewußtsein an der Re­alität ab. Sie können nicht hineinschauen in jenes Reich der Finster­nis - für das Bewußtsein das Reich der Finsternis -, wo der Wille sich entfaltet, indem Sie auch nur Ihren Arm erheben oder Ihren Kopf drehen, wenn Sie nicht zu übersinnlichen Vorstellungen greifen. Sie be­wegen Ihren Arm; aber was da Kompliziertes vorgeht, das bleibt dem gewöhnlichen Bewußtsein geradeso unbewußt wie die Dinge des tie­fen Schlafes, der traumlos ist. Wir sehen unseren Arm an, wir sehen, wie unsere Hand greifen kann. Das alles ist, weil wir die Sache mit Vorstellungen, mit Gedanken durchsetzen. Aber die Gedanken selber, die in unserem Bewußtsein sind, sie bleiben auch hier Schein. Das Reale aber ist es, in dem wir leben, und das nicht ins gewöhnliche Bewußtsein heraufstrahlt. Alte Traditionen sprachen hier von Gewalt, weil das­jenige, in dem wir als Realität leben, zwar von dem Gedanken durch­setzt wird, aber der Gedanke doch in einer gewissen Weise in dem Le­ben zwischen Geburt und Tod davon abgeprallt ist (siehe Zeichnung).

Zwischen beiden drinnen liegt der Ausgleich, liegt dasjenige, was den Willen, der gewissermaßen nach dem Haupte strahlt, die Gedan­ken, die sozusagen mit dem Herzen, in unserem Handeln in Liebe er-fühlt werden, was diese beiden miteinander verbindet: das gefühls­mäßige Leben, das sowohl nach dem Willensmäßigen hinzielen kann, wie nach dem Gedanken hinzielen kann. Wir leben in einem Elemente im gewöhnlichen Bewußtsein, wodurch wir auf der einen Seite das­jenige erfassen, was in unserem zur Freiheit hinneigenden, willensdurch­setzten Denken zum Ausdruck kommt, auf der anderen Seite, wo wir versuchen, immer gedankenvoller dasjenige zu haben, was in unser

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Handeln übergeht. Und was die Verbindungsbrücke zwischen beiden bildet, das nannte man von alten Zeiten her die Weisheit (siehe Zeich­nung).

Goethe hat in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie in den drei Königen, dem goldenden König, dem silbernen König, dem ehernen König, hingewiesen auf diese alten Traditionen. Wir haben ja auch schon von anderen Gesichtspunkten aus gezeigt, wme wiederum aufleben müssen, aber in einer ganz anderen Form, diese drei Elemente, auf die eine alte, instinktive Erkenntnis hinweisen konnte, und die nur wmeder aufleben können, wenn der Mensch die Er­kenntnisse der Imagination, der Intuition, der Inspiration aufnimmt.

Was aber geht denn eigentlich vor, indem der Mensch sein Gedan­kenleben entwickelt? Eine Realität wird zum Schein. Das ist sehr wichtig, daß man sich darüber klar werde. Wir tragen unser Haupt, das in semner Verknöcherung und in seiner Neigung zum Verknöchern bildhaft ja schon äußerlich das Erstorbene gegenüber der anderen, fri­schen Körperorganisation zeigt. Wir tragen in unserem Haupte zwi­schen Geburt und Tod dasjenige, was aus einer Vorzeit, wo es Realität war, hereinragt als Schein, und wir durchstrahlen von unserem übrigen Organismus den Schein mit dem realen Elemente, das aus unserem Stoffwechsel kommt, mit dem realen Elemente des Willens. Da haben wir eine Keimbildung, die zunächst in unserem Menschentum abläuft, die aber eine kosmische Bedeutung hat. Denken Sie sich, ein Mensch ist geboren in irgendeinem Jahre, vorher war er in der geistigen Welt; er geht aus der geistigen Welt heraus, indem dasjenige, was da als Gedanke Realität war, in ihm zum Schein wird, und er überführt in diesen Schein die Willenstätigkeit, die aus einer ganz anderen Richtung herkommt, die aus seinem übrigen nichthauptlichen Organismus auf­steigt. Das ist dasjenige, wodurch die in den Schein ersterbende Ver­gangenheit wiederum angeregt wird durch das, was im Willen erstrahlt, zur Realität der Zukunft.

Verstehen wir recht: Was geschieht, wenn der Mensch sich zum reinen, das heißt, willensdurchstrahlten Denken erhebt? In ihm ent­wickelt sich auf Grundlage dessen, was der Schein aufgelöst hat -der Vergangenheit -, durch die Befruchtung mit dem Willen, der aus

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seiner Ichheit aufsteigt, eine neue Realität in die Zukunft hin. Er ist der Träger des Keimes in die Zukunft. Der Mutterboden gewisserma­ßen sind die realen Gedanken der Vergangenheit, und in diesen Mut­terboden wird versenkt dasjenige, was aus dem Individuellen kommt, und der Keim wird in die Zukunft geschickt zum zukünftigen Leben.

# Bild s. 209

Und auf der anderen Seite entwickelt der Mensch, indem er seine Handlungen, sein Willensgemäßes mit Gedanken durchsetzt, dasjenige, was er in Liebe vollbringt. Es löst sich von ihm los. Unsere Handlun­gen bleiben nicht bei uns. Sie werden Weltgeschehen; wenn sie von Liebe durchsetzt sind, dann geht die Liebe mit ihnen. Eine egoistische Handlung ist kosmisch etwas anderes als eine liebedurchsetzte Hand­lung. Jndem wir aus dem Schein durch die Befruchtung des Willens dasjenige entwickeln, was aus unserem Inneren hervorgeht, trifft das,

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was da gewissermaßen aus unserem Kopfe fortströmt in die Welt, auf unsere gedankendurchsetzten Handlungen auf. Geradeso wie wenn eine Pflanze sich entwickelt, in ihrer Blüte der Keim ist, den außen das Licht der Sonne treffen muß, den außen die Luft treffen muß und so weiter, dem etwas entgegenkommen muß aus dem Kosmos, damit er wachsen kann, so muß dasjenige, was durch die Freiheit entwickelt wmrd, durch die entgegenkommende, in den Handlungen lebende Liebe emn Wachstumselement finden (siehe Zeichnung Seite 209).

So steht der Mensch tatsächlich drinnen in dem Weltenwerden, und was innerhalb seiner Haut geschieht, und was aus seiner Haut ausfließt als Handlungen, das hat nicht bloß eine Bedeutung an ihm, das ist Weltgeschehen. Er ist hineingestellt in das kosmische, in das Weltgeschehen. Indem dasjenige, was in der Vorzeit real war, zum Schein im Menschen wird, löst sich fortwährend Realität auf, und in­dem dieser Schein wiederum befruchtet wird durch den Willen, ent­steht neue Realität. Da haben Sie, ich möchte sagen, wie geistig zu greifen dasjenige, was wir auch von anderen Gesichtspunkten heraus gesagt haben. Es gibt keine Konstanz des Stoffes. Der verwandelt sich in Schein, und der Schein wird vom Willen des Menschen wieder­um in die Realität erhoben. Ein Truggebilde ist es, was als das Gesetz der Erhaltung des Stoffes und der Kraft in die physikalische Welt­anschauung gebracht ist, weil man eben nur das natürliche Weltbild ansieht. In Wahrheit vergeht fortwährend Stoff, indem er sich in Schein verwandelt, und Neues entsteht, indem gerade durch das, was zunächst als höchstes Gebilde des Kosmos vor uns steht, durch den Menschen, der Schein wiederum in Sein verwandelt wird.

An dem anderen Pol können wir es auch sehen, nur ist dieses Sehen nicht so leicht wie das andere, denn die Vorgänge, die schließlich zur Freiheit führen, sind im Grunde genommen für ein unbefangenes Den­ken wirklich zu durchschauen; aber um hier richtig zu sehen, dazu gehört schon einige geisteswissenschaftliche Entwickelung. Denn zu­nächst prallt das gewöhnliche Bewußtsein an der Gewalt ab. Es durch­setzt ja allerdings dasjenige, was an der Gewalt, an der Kraft sich auslebt, mit Gedanken; aber das gewöhnliche Bewußtsein sieht nicht, daß geradeso wie hier immer mehr und mehr Wille, Urteilsschluß in

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die Gedankenwelt hineinkommt, daß, wenn wir die Gedanken in das Willensmäßige hineinbringen, wenn wir eben immer mehr und mehr die Gewalt ausrotten, wir immer mehr dasjenige, was bloß Gewalt ist, durchdringen mit dem Lichte des Gedankens. Da, an dem einen Pol des Menschen, sieht man die Überwindung des Stoffes, da, an dem anderen Pol, sieht man die Neuerstehung des Stoffes.

Wir wissen ja, ich habe es wenigstens andeutungsweise ausgeführt in meinem Buche «Von Seelenrätseln», daß der Mensch ein dreiglied­riges Wesen ist: als Nerven-Sinnesmensch Träger des Gedankenlebens, des Wahrnehmungslebens, als rhythmischer Mensch - Atmung, Blut­zirkulation - Träger des Gefühlslebens, als Stoffwechselmensch Trä­ger des Willenslebens. Aber wie entfaltet sich denn, wenn der Wille immer mehr und mehr in Liebe entwickelt wird, im Menschen der Stoffwechsel? Indem der Mensch ein Handelnder ist, so, daß eigent­lich der Stoff fortwährend überwunden wird. Und was entfaltet sich im Menschen, indem er sich als freies Wesen in das reine Denken, das aber eigentlich willensmäßiger Natur ist, hineinentwickelt? Es entsteht der Stoff. Wir sehen hinein in Stoffentstehung. Wir tragen selbst in uns dasjenige, was den Stoff entstehen macht: unseren Kopf, und wir tragen in uns das, was den Kopf vernichtet, wo wir es sehen können, wie der Stoff vernichtet wird: unseren Gliedmaßen-, unseren Stoff­wechselorganismus.

Das heißt den Menschen in seiner Ganzheit betrachten. Wir sehen, wie dasjenige, was sonst nur innerhalb des menschlichen Bewußtseins zumeist in Abstraktionen aufgefaßt wird, wie das als reales Element sich am Weltenwerden beteiligt; und wie das, was im Weltenwerden darinnensteht und woran das gewöhnliche Bewußtsein so haftet, daß es sich gar nicht etwas anderes vorstellen kann, als daß es eine Realität ist, wie das bis in die Null hinein aufgelöst wird. Das ist eben eine Realität für das gewöhnliche Bewußtsein, und wenn es schon nicht geht mit den äußeren Realitäten, so müssen es wenigstens die Atome sein, die starre Realitäten sind. Und weil man nicht mit seinen Gedan­ken loskommen kann von diesen starren Realitäten, so läßt man sie einfach durcheinandermischen, einmal so, einmal so. Das eine Mal wird es Wasserstoff, das andere Mal Sauerstoff, sie sind anders gruppiert,

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eben weil man nicht anders kann, als das, was man einmal in Gedanken festgehalten hat, auch festgehalten zu denken in der Realität.

Es ist nichts anderes als eine Gedankenschwäche, der sich der Mensch hingibt, wenn er starre, ewige Atome annimmt. Was sich uns aus dem Wirklichkeitsdenken ergibt, das ist, daß fortwährend aufgelöst wird bis in die Null hinein das Stoffliche. Nur weil, wenn Stoff vergeht, fortwährend neuer Stoff entsteht, redet der Mensch von einer Kon­stanz des Stoffes. Er gibt sich demselben Irrtum hin, dem er sich hinge­ben würde, sagen wir, wenn eine Anzahl von Dokumenten in ein Haus hineingetragen, drinnen abgeschrieben würden, aber als solche verbrannt würden, und die Abschriften wieder herauskommen, und er, weil er dasselbe herauskommen sieht, was hineingetragen ist, den­ken würde, es sei dasselbe. In Wirklichkeit sind die alten verbrannt worden und neue sind geschrieben worden. So ist es auch mit dem Werden in der Welt, und es ist wichtig, daß man bis zu diesem Punkte mit seinem Erkennen vordringt. Denn da, wo im Menschen Stoff ver­geht, zum Scheine wird und neuer Stoff entsteht, da sitzt die Möglich­keit der Freiheit und da sitzt die Möglichkeit der Liebe. Und Freiheit und Liebe gehören zusammen, wie ich schon in meiner «Philosophie der Freiheit» angedeutet habe.

Derjenige, der durch irgendeine Weltanschauung von der Unver­gänglichkeit des Stoffes redet, der vertilgt sowohl die Freiheit nach der einen Seite wie die völlig ausgebildete Liebe nach der anderen Seite. Denn nur dadurch, daß im Menschen Vergangenes ganz vergeht, zum Scheine wird und Zukünftiges neu entsteht, ganz Keim ist, entsteht in ihm sowohl das Gefühl der Liebe, die Hingabe ist an etwas, wozu man nicht gestoßen wird durch das Vergangene, als auch die Freiheit, die ein Handeln ist aus dem, was nicht vorbedingt ist. Freiheit und Liebe sind in Wirklichkeit nur begreifbar für geisteswissenschaftliche Weltanschauung, nicht für eine andere. Wer sich hineingelebt hat in dasjenige, was als Weltenbild im Laufe der letzten Jahrhunderte her­aufgekommen ist, der wird auch ermessen können, welche Schwierig­keiten zu überwinden sind gegenüber dem gewohnheitsmäßigen Den­ken der neueren Menschheit, um mit diesem unbefangenen geisteswis­senschaftlichen Denken durchzudringen. Denn es sind in dem modernen

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naturwissenschaftlichen Weltbilde sozusagen gar keine Anhalts­punkte da, um so weit zu kommen, daß man Freiheit und Liebe wirk­lich begreifen kann.

Wie sich nun verhalten müssen gegenüber einer wirklich fortschrei­tenden geisteswissenschaftlichen Entwickelung der Menschheit auf der einen Seite das naturwissenschaftliche Weltbild, auf der anderen Seite die alten traditionellen Weltenbilder, davon wollen wir dann ein an­deres Mal sprechen.

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DREIZEHNTER VORTRAG Basel, 23. Dezember 1920

In drei Jahresfesten gedenkt die Christenheit desjenigen Wesens, das für sie dem Erdenleben seinen Sinn gibt, von dem ausstrahlt die stärkste Kraft dieses Erdenlebens. Von diesen drei Festen stellt das Weihnachtsfest die größten Anforderungen an unser Empfinden; es will gewisser­maßen unser Empfinden am meisten verinnerlichen. Das Osterfest stellt die größten Anforderungen an dasjenige, was wir menschliches Verständnis, menschliches Begreifen nennen; das Pfingstfest an das­jenige, was wir menschliches Wollen nennen. Und im Grunde genom­men begreift man das, was im Weihnachtsmysterium liegen soll, nur durch die Verinnerlichung, durch die Vertiefung desjenigen Empfin­dens, das uns unsere ganze menschliche Wesenheit, unseren Wert und unsere Würde als Menschen vergegenwärtigt.

Nur wenn man das, was im Weltenall Mensch ist, in der rechten Weise und innig genug empfinden kann, wird man jener Stimmung ge­recht, welche die wahre Weihnachtsstimmung sein soll. Nur wenn man jenes Wunder zu seinem völligen Verständnis bringt, das im Oster­mysterium enthalten ist, das Wunder der Auferstehung, dann wird man diesem Ostermysterium gerecht, und nur wenn man in dem Pfingstfest etwas sieht, was Kraft bedeutet zur Entwickelung unserer Willensimpulse, was unseren Willen hinaushebt über die bloßen Erdeninstinkte, dann sieht man im rechten Lichte dasjenige, was das Pfingst­fest sein soll.

Zu den Vaterprinzipien des Weltenalls steht in Beziehung der Chri­stus Jesus: dies vergegenwärtigt uns das Weihnachtsfest. Zu dem, was man gewohnt worden ist das Sohnesprinzip zu nennen, steht der Chri­stus Jesus in Beziehung: das vergegenwärtigt uns das Ostermysterium Zu demjenigen, was die Welt durchwallt und durchwebt als Geist, steht der Christus in der Art in Beziehung, wie es uns das Pfingstmysterium vergegenwärtigt.

Indem wir die äußerliche Natur um uns sehen, sehen wir durch die Kräfte dieser Natur auch den Menschen in sein physisches Dasein

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hereintreten. Wir wissen aus alldem, was uns aus der Geisteswissen­schaft kommen kann, daß wir diese Natur nicht im rechten Sinne be­trachten, wenn wir sie nur ihren physisch-sinnlichen Äußerlichkeiten nach ansehen. Wir wissen, daß göttliche Kräfte die Natur umweben, und wir werden unseres Ursprungs aus der Natur nur dann uns im wahren Sinne des Wortes bewußt, wenn wir auf dieses die Natur durch-wallende und durchwebende Göttliche hinsehen können. Dann blicken wir auf zu den Vaterprinzipien der Natur. Alles, was die Natur als Göttliches durchwallt und durchwebt, sind uns Vaterprinzipien im Sinne älterer Religionen und auch im Sinne des richtig verstandenen Christentums. Ob wir gewahr werden, wie das Blümchen auf dem Felde wächst, ob wir gewahr werden, wie aus der Wolke der Donner rollt und der Blitz zuckend niederschießt, ob wir die Sonne über den Him­mel gehen und die Sterne leuchten sehen, ob wir die Quellen und den Strom rauschen hören - wenn wir das, was in diesen äußeren Offen­barungen des Naturdaseins sich geheimnisvoll als der Ursprung alles Werdens zeigt, gewahr werden, dann werden wir auch dessen gewahr, was uns selber durch das Mysterium der physischen Geburt in diese Welt hereinstellt.

Aber dieses Mysterium der physischen Geburt, es bleibt in Ansehung des Wesens des Menschen immer etwas Unerklärliches, wenn wir es nicht verbinden können mit dem, was wir durch ein inniges Empfin­den erleben im Gedenken des Weihnachtsmysteriums, im Gedenken der Kindheit, die durch die Jesusknaben in die Menschheit gekommen ist. Was sagt uns das Dasein dieser Jesusknaben? Es sagt uns nichts Geringeres, als daß zum vollen Menschsein es nicht genügt, bloß ge­boren zu werden, bloß also durch diejenigen Kräfte in der Welt an­wesend zu sein, die als physische Geburtskräfte alle Wesen und auch den Menschen ins Dasein führen. Dieses heilige Weihnachtsmysterium, es besagt uns im Anblicke der Kindheit Christi, daß das wahre Mensch-sein in uns nicht einfach geboren werden kann, sondern daß es im Innersten der Seele neugeboren werden muß, daß der Mensch im Laufe seines Lebens innerhalb seines seelischen Daseins etwas erfahren muß, was ihn erst zum vollen Menschen macht. Und dieses, was er da er­fahren soll, kann er nur erfahren, wenn er es im Zusammenleben mit

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dem erfährt, was in der Kindheit am Weltweihnachtsfest in die Erden-entwickelung hereingezogen ist.

Wir blicken auf Jesu Kindheit und müssen uns sagen: Nur dadurch, daß dieses Wesen im Laufe der Menschheitsentwickelung unter die Menschen getreten ist, ist der Mensch im vollen Sinne des Wortes erst fähig, Mensch zu sein, das heißt, zu verbinden das, was er durch die Geburt empfängt, mit dem, was er über sich selbst empfinden kann durch alles dasjenige, was er an hingebungsvoller Liebe fühlt zu dem Wesen, das aus geistigen Höhen herabgestiegen ist, um sich mit dem Menschendasein durch das große Opfer zu verbinden.

Es war für viele Menschen der ersten christlichen Jahrhunderte ein großes Erleben, das Hereingehen des Christus-Wesens in die Erdenent­wickelung anzuschauen. Es wurde ihnen gewissermaßen dadurch des Menschen zweifacher Ursprung gegenwärtig, sein physischer und sein geistiger Ursprung. Eine Geburt ist es, durch die Jesus geht. Auf ein erdengeborenes Kindlein sieht der Christ, indem er zur Weltenweih­nacht nach dem Jesus hinsieht, aber er sagt sich: Ein anderes Wesen, als es die übrigen Menschen sind, wird da geboren, ein Wesen, durch das die anderen Menschen eben dasjenige bekommen können, was sie durch die bloße physische Geburt nicht bekommen können. - Und unser Empfinden vertieft sich, wenn wir das Wort im rechten Sinne und mit der rechten Liebe verstehen: Zweimal geboren müssen wir sein, das eine Mal durch die Kräfte der Natur, das andere Mal wiedergebo­ren durch die Kräfte des Christus Jesus. Das ist unsere Gemeinschaft mit dem Christus Jesus, das ist dasjenige, was uns durch den Christus Jesus erst das volle Bewußtsein unseres Menchenwertes und Menschen-charakters beibringt. Und indem wir aus der Entwickelung der Jahr­hunderte eine Lehre ziehen, müssen wir uns fragen: Ist dieses Emp­finden gegenüber der Geburt des Christus Jesus immer gleich tief ge­blieben? Wir können nicht sagen, wenn wir uns in der Welt umsehen, daß wir auch in der heutigen Zeit jene Innigkeit des Empfindens ge­genüber dem Weihnachtsmysterium besitzen, die selbst noch vor fünf bis sechs Jahrhunderten in Europa vorhanden war.

Sehen Sie, der Christbaum ist etwas Schönes, etwas, das in sehr an­mutendem Sinne zu unserem Gemüte spricht. Aber der Christbaum

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ist nicht etwas Altes, der Weihnachtsbaum ist kaum zwei Jahrhunderte alt. Er hat sich verhältnismäßig schnell in europäischen Gegenden ein­gebürgert, aber er ist doch erst in der neueren Zeit zum Schmucke des Weihnachtsfestes entstanden. Was stellt er uns denn eigentlich dar? Er stellt uns die schöne, die liebenswürdige, sympathische Seite des­jenigen dar, was auch in einer anderen Weise, in einer weniger sym­pathischen, in einer weniger anmutigen Weise uns in der neueren Menschheitsentwickelung vor die Seele tritt. Man mag noch so tief forschen nach den Impulsen, aus denen der Weihnachtsbaum in der neueren, neuesten Zeit eigentlich hervorgegangen ist, man wird nur geheimnisvolle Empfindungen finden, aus denen der Weihnachtsbaum entstanden ist. Aber diese geheimnisvollen Empfindungen tendieren alle dahin, daß wir im Weihnachtsbaume doch etwas zu sehen haben wie ein Symbolum des Paradiesesbaumes. Was aber besagt uns dieses? Er besagt uns, daß die Menschen doch immer fremder und fremder geworden sind demjenigen, was sich ihrer Empfindung darbot, als diese Empfindung sich richtete hin nach der Krippe, nach dem Ge­burtsmysterium des Christus Jesus, nach dem, was im Beginne unserer Zeitrechnung sich zugetragen hat; daß der neueren Menschheit dieses Wiedergeborenwerden des Menschen in der Seele in einer gewissen Weise abhanden gekommen ist und diese neuere Menschheit von dem Christus-Baum, der das Kreuz darstellt, zurückblicken will nach je­nem Ursprunge, der noch nichts weiß von dem Christus: nach dem Ursprunge der Erdenmenschheit selber, nach dem natürlichen Aus­gangspunkte des Menschheitswerdens, von Christus ab zurück zum Paradiese, von der Feier des Weihnachtstages, des 25. Dezembers, zu der Feier des Adam- und Eva-Festes, des 24. Dezembers.

Es ist schön geworden, weil ja der Menschheitsursprung auch schön ist als Paradiesesursprung, was sich da hingestellt hat, aber es ist eine Ablenkung von dem eigentlichen Geburtsmysterium des Christus Jesus. Es hat bewahrt alle Tiefe und Innigkeit des Empfindens, dieses Hin­schauen zum Weihnachtsbaume, und es tröstet dieses Hinschauen zum Weihnachtsbaume, das in jedem Jahre aus der Innigkeit des Menschen-gemütes bei denen auftritt, die guten Willens sind, es tröstet dieses Hinschauen zum Weihnachtsbaume über das andere, das nun in weniger

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sympathischer Weise in der neueren Zeit abgelenkt hat von dem Christus-Mysterium und hinführt zu den ursprünglich-natürlichen Ge­burtskräften der Menschwerdung.

Christus Jesus ist hingetreten unter ein Volk, das den Jahve, den Jehova verehrt hat, jenen Jahvegott, der zusammenhängt mit alle­dem, was natürliches Dasein ist, der da lebt im Blitz und Donner, der da lebt im Gange der Wolken, der Sterne, der da lebt in dem rau­schenden Quell, dem Strom, der da lebt im Wachstum der Pflanzen, Tiere und Menschen. Jahve ist derjenige Gott, der, wenn man sich mit ihm allein verbindet, dem Menschen niemals das volle Menschtum geben kann. Denn er gibt dem Menschen das Bewußtsein seiner natür­lichen Geburt, allerdings mit ihrem geistigen Einschlag von Kräften, die nicht bloß natürlich sind, aber er gibt dem Menschen nicht das Bewußtsein von seiner Wiedergeburt, die er sich erwerben muß durch etwas, was ihm nicht durch natürlich-sinnlich-physische Kräfte ge­geben werden kann. Und so sehen wir denn, wie abgelenkt worden ist die neuere Menschheit von dem Christus Jesus, für den es keinen Un­terschied gibt der Klassen, keinen Unterschied der Völker, keinen Un­terschied der Rassen, für den es nur ein einziges Menschtum gibt, wie abgelenkt worden sind die Gedanken, die Empfindungen der neueren Menschheit zu dem, was durch das Mysterium des Geborenwerdens des Christus Jesus schon überwunden war: zu dem hin, was nur zu­grunde liegt den natürlichen Kräften der Menschheitsentstehung, die zusammenhängen mit der Menschheitsdifferenzierung in Klassen, in Völker, in Rassen. Und wenn es der eine Jahve war, welchen das Ju­denvolk verehrt hat, als der Christus Jesus ankam, so sind die neueren Völker zurückgekehrt zu den vielen Jahves! Denn das, was aus den heutigen nationalen Prinzipien heraus die Völker verehren - wenn es auch nicht mehr mit den alten Namen bezeichnet wird, was sie so ver­ehren, daß sie sich trennen in Nationen, daß sie sich befehden als Na­tionen -, es sind Jahves. Und wir erleben es, daß die Völker in blutigen Kriegen miteinander kämpfen und daß ein jedes sich unter Umstän­den auf den Christus beruft. Es ist aber in Wahrheit nicht der Chri­stus, auf den sich dann die Völker berufen, es ist nur ein Jahve, nicht der einige Jahve, sondern ein Jahve. Die Menschen sind bloß zu ihm

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zurückgekehrt. Die Menschen haben vergessen, wie ein Fortschritt dar­innen lag, daß von dem Jahveprinzip zu dem Christus-Prinzip vorge­schritten worden ist. Das ist das andere.

In schöner Weise führt uns der Weihnachtsbaum zurück zu dem Menschenursprung, in häßlicher Weise führt uns zurück das die Völker ergreifende Jahveprinzip. Tatsache ist, daß sie dasjenige, was nur ein Jahve ist, durch eine innere Empfindungslüge oftmals als den Christus ansprechen, also den Christus-Namen im Grunde genommen mißbrau­chen. In furchtbarer Weise wird der Christus-Name in der Gegenwart mißbraucht, und wir finden nicht die wirkliche Vertiefung des Emp­findens, die wir heute brauchen, um das Weihnachtsmysterium wieder­um in der richtigen Weise in uns zu erfühlen, wenn wir nicht klar ein­sehen, wie wir wiederum den Weg suchen müssen, um diese Empfin­dung gegenüber dem Christus Jesus zu finden. Wir brauchen ein neues Verständnis desjenigen, was uns überliefert worden ist, auch in bezug auf die Geburt des Christus Jesus.

Zweierlei Arten von Menschen, die natürlich doch nur dieselbe eine Menschheit in sich repräsentieren, wird der Christus, der Jesus ange­kündigt am Weltenweihnachtsfeste: den ungebildeten, armen Hirten des Feldes, die nichts in sich aufgenommen haben als den einfältigen Menschenverstand und das einfältige Menschengemüt, und verkün­digt wird er den Weisen aus dem Morgenlande, das heißt aus dem Weisheitslande. Verkündigt wird er ihnen durch einen höchsten Auf­stieg zu ihrer Weisheit, zu einem Lesen aus den Sternen. Bei einfachen Hirtenseelen also kündigt sich der Christus Jesus an, und in der höch­sten Weisheit der drei magischen Weisen aus dem Morgenlande kün­digt sich der Christus Jesus an. Es ruht der tiefste Sinn in dieser Gegen­überstellung der Ankündigung des Christus Jesus auf der einen Seite an die einfältigen Hirten, auf der anderen Seite an die Weisesten der Welt.

Und wie kündigt sich der Christus Jesus den einfältigen, armen Hirten auf dem Felde an? Sie schauen mit dem Seelenauge den lichten Engel. Ihr Schauen wird wachgerufen, ihr Hellhören wird wachgeru­fen. Sie hören die tiefen Worte, die für sie in der Zukunft der Sinn des Erdenlebens werden sollen: Es offenbart sich der Gott in der Höhe,

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und es wird werden der Friede unter den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sein können. - Aus der Tiefe der Seele steigt auf jene Fähigkeit, durch welche in der Weihenacht die armen, einfältigen Hirten ohne irgendwelche Weisheit empfindend erleben, was sich der Welt offenbart. Aus der Vollendung derjenigen Weisheit, die bis zum Mysterium von Golgatha hat erlangt werden können, aus der feinsten Beobachtung des Sternenganges ergibt sich für die Weisen des Morgen­landes, für die magischen Weisen, dieselbe Offenbarung! Die einen le­sen sie im Menschenherzen, die armen, einfältigen Hirten, und sie drin­gen bis zum tiefsten Punkt des Menschenherzens. Da werden sie hell­sichtig, da offenbart ihnen das Herz aus seiner Schauenskraft heraus das Kommen des Heilandes der Menschheit. Die anderen schauen zum ganzen weiten Himmelszelt auf. Sie kennen die Geheimnisse der Rau­mesweiten und der Zeitenentwickelung, sie haben eine Weisheit er­rungen, durch die sie diese Geheimnisse der Raumesweiten und der Zeitenentwickelung erfühlen und enträtseln können. Da offenbart sich ihnen das Weihnachtsmysterium.

Hingewiesen werden wir darauf, wie aus dem gleichen Quell das­jenige fließt, was in des Menschen Inneren lebt und das, was in den Raumesweiten lebt. Und beides war in der Art, wie es sich entwickelt hat bis zum Mysterium von Golgatha hin, schon in der Abnahme be­griffen. Das Hellsehen, das aus dem belebten Menschenherzen her­auskam, das bei den Hirten, auf die hingewiesen wird als auf jene, für welche die Verkündigung in Betracht kommt, noch stark genug war, um die Stimmen zu vernehmen: Es offenbart sich der Gott in der Höhe, in den Himmeln, und es wird sein Friede unter den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind, - man möchte sagen, die letzten Reste dieses durch innere Frommheit Hellsehendwerdens waren noch vorhanden bei den Hirten, die das Karma, das Schicksal zusammen­getragen hatte an dem Orte, wo der Christus geboren worden ist. Und aus jener uralten heiligen Weisheit, die in der nachatlantischen Zeit zuerst geblüht hat bei den Ur-Indern, dann namentlich bei den Persern, dann wiederum bei den Chaldäern, die sich hereinverpflanzt hat und von der ebenfalls noch gerade die letzten Reste vorhanden waren unter denjenigen, bei denen wir suchen sollen die drei Magier aus dem Morgenlande

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- aus dieser uralt heiligen Weisheit, die die Welt im Raum und in der Zeit durchmaß, aus dieser Weisheit heraus, indem ihre Ver­treter sich zu einem höchsten Aufschwung erhoben, offenbarte sich wiederum dieses Weihnachtsmysterium. Beides aber ist uns in der fünf­ten nachatlantischen Zeit abhanden gekommen.

Für die allgemeine Menschheit ist es nicht mehr lebendig tätig, was in den armen Hirten zum Hellsehen führte, was in den Weisen aus dem Morgenlande zu dem Durchschauen der Raumes- und Zeitenge­heimnisse führte. Wir mußten den Menschen finden, den Menschen, der auf sich selbst gestellt ist. Wir mußten als Menschheit durchgehen durch die göttliche Verlassenheit, um in der Verlassenheit und Einsam­keit des Menschenseins die Freiheit zu finden. Aber wir müssen uns wiederum zurückfinden zu der Verbindung mit demjenigen, was auf der einen Seite zur höchsten Weisheit bei den Magiern aus dem Mor­genlande wurde, auf der anderen Seite durch vertieftes Herzensschauen den Hirten auf dem Felde verkündet worden ist.

Alle Kräfte entwickeln sich weiter. Was die Weisen aus dem Mor­genlande durch die Entwickelung des noch hellsehenden Verstandes als ihre Astrologie, als ihre Art von Astronomie gekannt haben, was ist es heute geworden? Wir verstehen die Menschheitsentwickelung nicht, wenn wir nicht in solche Dinge hineinschauen. Es ist heute zur grauen Mathematik und Geometrie geworden. Wir schauen heute die abstrak­ten Gebilde an, die wir in der Geometrie und in der Mathematik in der Schule erhalten: das ist der letzte Rest dessen, was in leben­digem Glanze im Weltenlichte beherrscht wurde von jener alten Weis­heit, welche die drei Magier aus dem Morgenlande zu dem Christus hinführte. Das äußere Schauen ist inneres Raumes- und Zeitendenken geworden. Während die Magier des Ostens fähig waren, aus ihrer Enträtselung der Raumesgeheimnisse schauend zu berechnen, in dieser Nacht wird der Heiland geboren, berechnen unsere Astronomen, die Nachfolger jener Astrologen, lediglich noch die zukünftige Sonnen-und Mondenfinsternis oder ähnliches. Und während die armen Hir­ten auf dem Felde aus der Innigkeit ihres Herzens heraus sich zur An­schauung desjenigen, was ganz gewiß mit ihnen in Verbindung stand, zur Anschauung des Weihnachtsmysteriums, zum Hören der Himmelsverkündigung

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erhoben, ist dem heutigen Menschen nur das An­schauen der äußeren sinnlichen Natur geblieben. Das Anschauen der äußeren sinnlichen Natur stellt ebenso die Nachfolgeschaft der Hirten­einfalt dar, wie darstellt die Nachfolgeschaft der Weisen aus dem Morgenlande unsere Berechnung der Sonnen- und Mondenfinsternisse in der Zukunft.

Die Hirten auf dem Felde waren bewaffnet mit vertieftem Her­zensgefühl, wodurch sie in ihrer Hellsichtigkeit zur Anschauung des Weihnachtsmysteriums kamen. Unsere Zeitgenossen sind bewaffnet mit Teleskop und Mikroskop. Kein Teleskop, kein Mikroskop führt hin zum Begreifen desjenigen, was des Menschen tiefstes Rätsel löst, wie es das Herz der Hirten auf dem Felde getan hat. Keine Voraus­sicht, die sich mit den Rechnungsansätzen für Sonnen- und Monden­finsternisse machen läßt, führt hin, den für die Menschen notwendigen Gang der Welt zu begreifen, wie das gekonnt hat die Weisheit, die Sternenweisheit der Magier aus dem Morgenlande. Wie fließt alles in der Menschheit Differenzierte zusammen in das einheitliche Menschen-empfinden, wenn wir uns sagen: Was die Hirten auf dem Felde ohne alle Weisheit durch die Frömmigkeit ihres Herzens erlebten, es ist das­selbe, was die höchste Weisheit der Magier aus dem Morgenlande be­wegte! - Wunderbar werden die beiden Tatsachen in der christlichen Tradition nebeneinandergestellt.

Wir haben im Grunde die beiden Wege, durch die sich das Verständ­nis der Christus-Geburt der Menschheit erschloß, in der neueren Zeit verloren. Wir sind zurückgekehrt von der Krippe zum Weihnachts-, zum Paradiesesbaum, wir sind zurückgekehrt von dem Christus, wel­cher der ganzen Menschheit gehört, zu den Volksgöttern, die eben nur viele Jahves sind, die kein Christus sind. Denn ebenso wahr, wie es ist, daß sich das, was allen Menschen gemeinschaftlich ist, in des Men­schen tiefstem Wesen offenbart, ebenso wahr ist es, daß sich durch alle Raumesweiten und durch alle Zeitengeheimnisse offenbart dasje­nige, was allen Menschen gemeinschaftlich ist.

Es gibt in der Tiefe des Menschen etwas, das von nichts anderem spricht als nur vom Menschsein, das alle menschlichen Differenzierun­gen hinwegschafft. Aber erst in dieser Tiefe findet man den Christus.

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Und es gibt eine Weisheit, die über alles übrige hinausgeht, was über einzelne Partien des Weltendaseins gefunden werden kann, was die Welt in ihrer Einheit erfaßt auch im Raum und in der Zeit. Das aber ist zu gleicher Zeit diejenige Sternenweisheit, die zu dem Christus hin­führt. Wir brauchen wiederum in einer neuen Gestalt das, wodurch auf der einen Seite die Hirten auf dem Felde, wodurch auf der ande­ren Seite die Magier aus dem Morgenlande den Weg zu dem Christus Jesus gefunden haben. Mit anderen Worten, wir brauchen die Ver­tiefung unserer äußeren Naturanschauung durch dasjenige, was das menschliche Herz entwickeln kann an geistiger Anschauung der Na­tur. Wir müssen wiederum finden, indem wir uns wenden an das­jenige, wofür wir in der neueren Zeit nur Mikroskope und Teleskope und Röntgenapparate und dergleichen haben, wir müssen uns gewöh­nen, das wiederum durch jene Kräfte anzusehen, die aus der Frömmig­keit des menschlichen Herzens kommen. Dann werden zu uns nicht nur sprechen die gleichgültig wachsenden Pflanzen allein, der rau­schende Strom, der rauschende Quell, der Blitz aus den Wolken, der Donner aus den Wolken, dann werden aus alledem, was die Blümlein auf dem Felde sagen, aus alledem, was die Blitze und die Donner aus den Wolken sagen, aus alledem, was die leuchtenden Sterne und die leuchtende Sonne sagen, aus alledem werden gleichsam wie ein Ergebnis aller Naturbetrachtung die Worte in unsere Augen, in unsere Ohren, zu unseren Herzen hinströmen, die ja auch nichts anderes ankündigen, als: Es offenbaret sich der Gott in den Himmelshöhen, und Friede soll sein unter den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.

Die Zeit muß kommen, wo die Naturbetrachtung herausdringt aus der trockenen, nüchternen, unmenschlichen Art der Laboratorien und Kliniken, wo die Naturbetrachtung von einem solchen Leben durch­strahlt wird, daß dasjenige, was uns nicht mehr werden kann auf die Art der Hirten von Bethlehem, uns durch die Stimmen wird, die aus Pflanze, aus Tier, aus Sternen, aus Quellen und Strömen heraus zu uns sprechen. Denn die ganze Natur, sie verkündigt dasjenige, was der Engel der Verkündigung sagt: Es offenbart sich der Gott in den Himmelshöhen, und es kann werden der Friede unter den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sein wollen.

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Wir brauchen das, was den Magiern durch äußere Sternenbetrach­tung geworden ist, wir brauchen es durch Erweckung unseres Inne­ren. Wir wir hinaushören müssen in die Natur und gewissermaßen den Engel wieder singen hören müssen aus dem äußeren Naturwesen, so müssen wir in der Lage sein, eine Astronomie, eine Lösung des Welten-rätsels aus dem Inneren des Menschen hervor zu gewinnen durch Ima­gination, Inspiration und Intuition. Eine Geistes- oder Geheimwissen-schaft, die aus dem Inneren des Menschen geschöpft ist, die muß uns werden. Wir müssen ergründen, was des Menschen eigene Wesenheit ist. Und des Menschen eigene Wesenheit muß uns sprechen von dem Werden der Welt durch Saturn-, Sonnen-, Mond-, Erden-, Jupiter-, Venus-, Vulkangeheimnisse. Wir müssen ein Weltenall erstehen fühlen in unserem Inneren. Umgekehrt hat sich seit dem Mysterium von Gol­gatha dasjenige, was mit dem Menschen geschehen kann in bezug auf seine Anschauung der tiefsten Weltgeheimnisse.

Es gibt eine alte Art, die Himmelssphäre darzustellen; sie war schon den persischen Magiern eigen. Sie sahen hinauf zum Himmel, sahen im Tierkreis physisch jenes Sternbild, das man die Jungfrau nennt, und sie haben geistig in dieses Sternbild hineingesehen dasjenige, was phy­sisch nur im Sternbilde der Zwillinge zu bemerken ist. Sie hat sich er­halten, diese Weisheit, die so im Menschen lebte, daß der Mensch den Zusammenklang vernehmen, bemerken konnte zwischen dem Stern-bilde der Jungfrau und dem im rechten Winkel dazu, im Quadranten stehenden Sternbilde, jenem der Zwillinge. So wurde es dargestellt, daß an die Stelle des Sternbildes der Jungfrau die Jungfrau mit dem Ahrenzweige, aber auch mit dem Kinde dargestellt wurde, das nur der Repräsentant der Zwillinge ist, der Repräsentant der Jesusknaben. Insbesondere war dies eine astrologische Anschauung in der Per-serzeit.

Es kam die andere Zeit, die Zeit der ägyptisch-chaldäischen Ent­wickelung. Da schaute man ebenso hin zu dem Sternbilde des Löwen, wie man hinschaute in der Perserzeit zu dem Sternbilde der Jungfrau. Aber jetzt war im Quadranten dem Löwen zugeteilt der Stier, und es entstand die Mithrasreligion, die Stierverehrung, indem man hinein-schaute in das Sternbild des Löwen das Sternbild des Stieres.

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Und es kam die Zeit, die griechisch-lateinische Zeit, in welcher der Krebs dieselbe Rolle spielte wie die Jungfrau unter den Persern, und man sah das Sternbild des Widders, im Quadranten stehend, in das Sternbild des Krebses hinein. Da war die Umkehrung, da schlug die Sache einen anderen Weg ein. Bis in die griechisch-lateinische Zeit, bis ins Mysterium von Golgatha war Astronomie etwas, das als äußere Wissenschaft zu erreichen war, war das menschliche Erkennen so ge­artet, daß man hinausschaute in den Raum und die Geheimnisse der Sternenwelten, die Geheimnisse von Raum und Zeit fand, daß man hineinlebte in das menschliche Innere, und durch die Verfrommung des Herzens zu der Anschauung innerer Geheimnisse kam. In der griechisch-lateinischen Zeit drehte sich das Verhältnis um. Dasjenige, was vorher innerlich erlebt werden konnte, es mußte immer mehr durch das Anschauen der äußeren Natur erlebt werden.

Wir müssen so fromm werden, wie die Hirten in ihrem Herzen waren gegenüber den Offenbarungen der Natur. Wie diese in ihrer Innenwelt zum Geistesauge kamen, müssen wir zum Geistesauge an der Natur kommen. Und wir müssen auf der anderen Seite auch den Krebsweg machen. Wir müssen kommen zu einer Astronomie des In­neren, so daß aus den schauenden Kräften im Inneren des Menschen erweckt kann werden der Gang der Welt durch Saturn-, Sonnen-, Monden-, Erden-, Jupiter-, Venus-, Vulkanzeiten: eine Astronomie aus dem Inneren wie früher eine Astronomie aus dem Äußeren, eine Frömmig­keit an der Naturbeobachtung wie früher die Frömmigkeit nach Art der Hirten auf dem Felde. Können wir vertiefen dasjenige, was heute so ungeistig an uns herantritt in der Naturbetrachtung, können wir auf der anderen Seite schöpferisch machen, was heute so grau in bloßen mathematisch-geometrischen Bildern erlebt wird, können wir die Ma­thematik durch inneres Erleben zu jener Glorie wiederum erheben, welche die alte Astronomie hatte, können wir die Naturbetrachtung zu jener Herzenstiefe und zu jener Frommheit vertiefen, die die Hirten auf dem Felde erlebten, können wir durch das Innere dasjenige erle­ben, was die Magier aus den Sternen erlebten, können wir an dem Anblicke der äußeren Natur so fromm werden, wie die Hirten auf dem Felde gewesen sind - dann werden wir erleben durch Frommheit im

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äußeren Naturbetrachten, durch liebevolles Verfolgen der Welten-ereignisse aus dem Inneren heraus, dann werden wir finden in einer ähnlichen Weise wiederum den Weg zum Weihnachtsmysterium, wie durch innerliches Frommwerden die Hirten auf dem Felde, durch äuße­res Weisewerden die Magier aus dem Morgenlande den Weg zur Krippe gefunden haben.

Der Weg zum Weihnachtsmysterium muß neu gefunden werden. Wir müssen an der Natur so fromm werden, wie die Hirten in ihren Herzen waren. Wir müssen in unserem inneren Schauen so weise wer­den, wie es die Magier an der Beobachtung von Planeten und Sternen im Raume und in der Zeit geworden sind. Wir müssen im Inneren ent­wickeln, was die Magier im Äußeren entwickelt haben. Wir müssen dasjenige in unserem Wechselverkehr mit der äußeren Welt entwickeln, was die einfältigen Hirten auf dem Felde in ihren Herzen entwickelt haben - dann werden wir finden den Weg, den rechten Weg zu einem tiefen Empfinden des Christus, zu einem liebevollen Begreifen des Christus. Dann werden wir den Weg zum Weihnachtsmysterium fin­den. Dann werden wir dürfen mit rechten Gedanken und rechten Gefühlen neben den Ursprungsbaum aus dem Paradiese hinstellen die Krippe, welche uns nicht nur spricht von dem, wie der Mensch durch Naturkräfte in die Welt hereingekommen ist, sondern wie er durch Wiedergeburt erst sich seines vollen Menschseins bewußt wer­den kann.

Wer heute von dem Weihnachtsmysterium redet, muß eine For­derung, die in die Zukunft hinein spricht, an die Menschheit stellen. Wir leben in jenen ernsten Zeiten, wo wir uns klar werden müssen, daß wir erst im rechten Sinne wiederum Menschen werden müssen. Wir haben noch nicht errungen dasjenige, was die Magierweisheit ganz ver­innerlichte, was die Hirtenfrömmigkeit ganz in die Außenwelt flie­ßen ließ. Die soziale Frage steht vor den Toren des Menschendaseins furchtbar fordernd. Sie hat Schreckliches gebracht in den letzten Jah­ren; sie wird immer drohender und drohender, und nur schläfrige Seelen können das Drohende übersehen. Europa schickt sich an, ein Trümmerhaufen der Kultur zu werden. Nicht anders wird es sich aus seinem chaotischen Zustande erheben als dadurch, daß die Menschen

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die Möglichkeit finden, im sozialen Zusammensein wieder­um echtes, wahres Menschentum zu entwickeln. Sie werden es nicht anders entwickeln, als wenn sie ihre Gefühle dadurch vertiefen und verinnerlichen, daß sie im Naturbetrachten so fromm werden können, wie die Hirten auf dem Felde waren, als ihnen durch ihre innerlichen Kräfte der Engel verkündete von der Offenbarung der Götter oben und des Erdenfriedens unten. Mit diesen Kräften allein bezwingt man auch das soziale Leben, und nur dann, wenn das, was in den Raumes-weiten und in der Zeitenfolge geschaut wird, in das Innere einzieht, so daß der Mensch des Weltengeistes wahres Wesen so einheitlich sieht, wie die eine Sonne der Chinese ebenso sieht wie der Amerikaner und in der Mitte zwischen beiden der Europäer. So wie es lächerlich wäre, wenn der Chinese eine Sonne für sich in Anspruch nehmen würde, der Russe eine Sonne für sich, der Mitteleuropäer eine andere, der Fran­zose eine andere, der Engländer eine andere! Wie die Sonne eine ein­heitliche ist, so ist das die Menschen tragende Sonnenwesen ein ein­heitliches.

Sehen wir hinaus in die Weltenweiten: wir finden die Aufforde­rung zur Vereinheitlichung der Menschheit. Sehen wir hinein in des Menschen tiefste, innere Geheimnisse: wir sehen die Aufforderung zur Vereinheitlichung der Menschheit. Was da draußen erscheint, auch das Geistigste, spricht nicht von der Differenzierung der Menschheit, nicht von Unfrieden; was im tiefsten Inneren spricht, spricht nicht von der Differenzierung der Menschheit, nicht von Unfrieden. Den Hirten auf dem Felde hat diejenige Stimme, die sie durch ihr Her­zensgehör hörten, verkündet, daß sich aus den weiten Erscheinungen des Weltenalls die Gottheit offenbaret, und daß durch das Aufneh­men der Gottheit in die eigene Seele Friede werden kann unter den Menschen, die eines guten Willens sind. Das muß sich verkünden der neueren Menschheit aus dem ganzen Umkreis des Naturdaseins heraus. Den Magiern aus dem Morgenlande haben die Sternengeheimnisse ge­sagt, daß hier auf der Erde geboren ist der Christus Jesus. Das muß sich der neueren Menschheit verkünden aus dem Verfolgen desjenigen, was in ihrem Inneren sich offenbarend auftun kann.

Einen neuen Weg brauchen wir. Wiederum dringt die Stimme zu

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uns: Ändert den Sinn, sehet in einer neuen Art hin auf den Welten­lauf! - Und wenn man in einer rechten Art hinsieht auf den Welten­lauf, wenn man ansieht den Gang der Menschheit, der wir selber an­gehören, dann finden wir den Weg zu demjenigen Geheimnis, das sich den Hirten ebenso offenbaren konnte wie den entwickelten Weisen, und das sich offenbaren wird unserem inneren Weltenschauen, unserem äußeren Weltenschauen. Wenn wir inneres Weltenschauen und äußeres Weltenschauen in genügender Weise vertiefen, wenn wir das können, wenn wir die innere Magierweisheit finden, die uns so weist, wie die äußere Magierweisheit die Weisen aus dem Morgenlande geführt hat, wenn wir die äußere Weisheit finden, die uns so führt in Frömmig­keit, wie die Frömmigkeit die Hirten auf dem Felde geführt hat, dann werden wir wiederum mit richtigen inneren Empfindungen hin­schauen auf dasjenige, was in dem Mysterium liegt: daß für alle -ohne Unterschied, wie er sonst unter den Menschen auftritt, gewisser­maßen herausgestellt aus der Menschheit, hineingestellt in die Einsam­keit - geboren worden ist dasjenige, was dann zum Christus gewor­den ist.

Wir müssen das Jesus-Weihnachtsgeheimnis wiederfinden, und wir müssen es wiederfinden, indem wir in uns all dasjenige pflegen, von dem heute gesprochen werden sollte. Wir müssen das Weihnachtslicht in uns selber finden, wie die Hirten das Engelslicht auf dem Felde, und wir müssen, wie die Magier aus dem Morgenlande, den Stern finden durch die Kraft dessen, was wahre Geisteswissenschaft ist. Dann wird sich uns der einige Weg zu dem eröffnen, was das Weihnachtsgeheim­nis enthält. Wiedererkennen sollen wir es: es erinnert uns an des Men­schen Wiedergeburt.

Arbeiten wir daran, daß das Weihnachtsgeheimnis unter den Men­schen wiedergeboren werde, dann werden wir auch das Wiederge­burtsgeheimnis von des Menschen Wesenheit im richtigen Sinne er­fassen. Das ist es, was zu uns gesprochen wird in einer eigentümlichen Weise: In einem nicht von der Kirche anerkannten Evangelium wird erzählt, daß es eine Eigentümlichkeit des einen Jesusknaben war, daß er gleich nach seiner Geburt seine Mutter mit bestimmten Worten an­gesprochen hat. Sicherlich gehen wir heute in der richtigen Art auf

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das in der Krippe liegende Kind ein, wenn wir die Worte, die es heute zu uns sprechen will, in der richtigen Weise hören: Erwecket das Weib­nachtslicht in euch, und das Weihnachtslicht wird euch im rechten Sinne mit euren Mitmenschen zusammen auch in der Außenwelt er­scheinen.

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VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 24. Dezember 1920

In dem Weihnachtsfest ist der Christenheit etwas gegeben, das für die weitesten Kreise unmittelbar hinaufführt zu den höchsten Fragen der Menschheitsentwickelung auf Erden. Man mag das geschichtliche Werden betrachten an welchem Punkte man will, man mag historische Ereignisse heranziehen zum Verständnisse des Menschwerdens, zum Ergründen des Sinnes dieses Menschwerdens auf Erden: man wird eine so bedeutsame Erhebung zu diesem Mysterium des Menschwer­dens in so populärer, weithin zu verstehender Form nicht finden kön­nen, als es der Gedanke ist an das Mysterium von Golgatha, als es der Gedanke ist, der im Weihnachtsfeste eingeschlossen ist.

Wenn wir hinschauen zum Beginn der Menschwerdung auf Erden und die Jahrtausende bis zum Mysterium von Golgatha verfolgen, so finden wir überall, daß, wenn auch noch so Großes innerhalb der Völ­kergemeinschaften geleistet wird, dies Geleistete eine Art Vorbereitung, eine Art Vorstufe ist für dasjenige, was für die Menschheit geschehen ist durch das Mysterium von Golgatha. Und wiederum, wenn wir ver­folgen dasjenige, was seither geschehen ist, so können wir an Verständ­nis nur gewinnen, wenn wir ins Auge fassen, wie der durch das Myste­rium von Golgatha gegangene Christus wirksam geworden ist für die­ses Werden der Menschheit. Es mag noch so vieles zunächst unver­ständlich scheinen in diesem Menschheitswerden - wenn man ohne Kleinheit forscht, ohne Aberglauben, der sich etwa in der Richtung bewegte, daß dem Menschen ohne sein Zutun von irgendwelchen un­bekannten Göttern geholfen werden sollte da, wo er meint, daß diese Hilfe am Platze wäre, wenn man absieht von solchen Anschauungen, so wird man finden, daß auch in den schmerzlichen Ereignissen des weltgeschichtlichen Werdens zu erkennen ist, welche Bedeutung, wel­chen Sinn dieses Erdenwerden bekommen hat dadurch, daß der Chri­stus durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Für uns geziemt es sich, daß wir gerade dieses Mysterium von Golgatha - und das Weihnachtsmysterium gehört ja dazu - von denjenigen Gesichtspunkten

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aus betrachten, die gewissermaßen in ihm den Sinn der ganzen Erdenmenschheit enthüllen können.

Wir wissen, in welch innigem Zusammenhang wir zu sehen haben dasjenige, was moralisch-geistig sich in der Menschheitsentwickelung vollzieht, mit dem, was sich in der Natur vollzieht. Und wir können mit einem gewissen Verständnis für diese Brücke zwischen Naturda­sein und moralischer Weltordnung auch herangehen an jene Bezie­hung, die uns seit vielen Jahren beschäftigt, an die Beziehung des Christus Jesus zu demjenigen Wesen, dessen äußerer Abglanz in der Sonne erscheint. Nicht immer waren Bekenner und Vertreter des christlichen Impulses so feindlich gesinnt dem Erkennen dieses Zu­sammenhanges zwischen dem Sonnenmysterium und dem Christus-Mysterium, wie das die heutigen, in die Dekadenz gekommenen Ver­treter des Christentums oftmals sind. Dionysius der Areopagite, von dem wir ja auch schon öfter gesprochen haben, nennt die Sonne das Denk­mal des Gottes, und bei Augustinus finden wir durchaus noch überall Hinweise. Selbst in der Scholastik finden wir noch Hinweise darauf, wie in den äußeren Gestirnen und ihren Bewegungen Bildhaftes zu sehen ist für das geistig-göttliche Dasein in der Welt.

Aber wir müssen aus einem größeren Zusammenhange heraus das­jenige vom Weihnachtsmysterium begreifen, was uns gerade wegen der großen Aufgaben der Gegenwart naheliegen muß. Ich möchte Sie da erinnern an etwas, das ich im Laufe der Jahre in verschiedener Weise immer wieder vorgebracht habe. Ich habe gesagt: Wir blicken zurück in die erste nachatlantische Zeitepoche, die ausgefüllt war durch die Taten und Erlebnisse des altindischen Volkes; wir blicken zurück in die urpersische Epoche der nachatlantischen Menschheit, in die ägyp­tisch-chaldäische, in die griechisch-lateinische, und kommen dann zu unserer Lebensepoche, zu der fünften der nachatlantischen Menschheit herauf. Auf die unsrige wird die sechste, dann die siebente folgen. Nun habe ich Sie darauf hingewiesen, daß die vierte, die griechisch-latei­nische Lebensepoche der nachatlantischen Menschheit, gewissermaßen in der Mitte steht, und daß gewisse Zusammenhänge bestehen - Sie können das auch nachlesen in meinem Büchelchen «Die geistige Füh­rung des Menschen und der Menschheit» - zwischen der dritten und

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fünften, also zwischen der ägyptisch-chaldäischen Epoche und der unsrigen; daß wiederum ein Zusammenhang bestehen wird zwischen der urpersischen und der sechsten, und der urindischen Zeit und der siebenten Lebensepoche der nachatlantischen Menschheit. Bestimmte Dinge wiederholen sich in einer gewissen Weise jeweilig in diesen Le­bensepochen.

Ich habe einmal darauf hingewiesen, wie der große Kepler, der Nachfolger des Kopernikus, eine Ahnung gehabt hat davon, daß er mit seinem Sonnen-Planetensystem in einer gewissen Weise wieder­holte, allerdings passend für die fünfte nachatlantische Zeit, dasjenige, was gelebt hat als Weltenbild in den ägyptischen Priestermysterien. Kepler drückt sich ja in einer gewissen Beziehung darüber sehr radikal aus, indem er sagt, er habe die Gefäße der alten ägyptischen Weisheits­lehrer entlehnt, um sie hereinzutragen in die neuere Zeit. Wir aber wollen heute an etwas denken, was gewissermaßen in der Mitte der Anschauung der Kultushandlungen der ägyptischen Priestermysterien gestanden hat, wir wollen gedenken der Isismysterien, und wir brau­chen, um uns den geistigen Zusammenhang der Isismysterien mit dem, was auch im Christentum lebt, zu vergegenwärtigen, nur unseren See­lenblick hinzulenken zu dem berühmten Bilde der Sixtinischen Ma­donna von Raffael, wo die Madonna das Jesuskindlein auf dem Arme hält, hinter ihr die Wolken, die eigentlich lauter Kinder darstellen, so daß man die Vorstellung haben kann, aus den Wolken herunter habe die Madonna, gewissermaßen durch eine Verdichtung der dünneren Substanz, das Jesuskind empfangen. Aber dieses Bild, das ganz aus christlichem Geiste heraus geschaffen ist, es ist ja nichts anderes als eine Art Wiederholung desjenigen, was die ägyptischen Isismysterien verehrt haben, indem sie die Isis mit dem Horusknaben im Arm gebildet haben. Das Motiv dieses Bildes stimmt ganz mit dem Raffaelischen Bilde überein. Selbstverständlich darf uns das nicht zu dem verführen, wo­zu - seit dem 18. Jahrhundert und durch das ganze 19. Jahrhundert bis herein in unsere Tage - solche Dinge viele Oberflächlinge verführt haben: daß man etwa in der Geschichte des Christus Jesus und alle­dem, was dazu gehört, nur eine Art Metamorphose sehe, eine Umdich­tung alter heidnischer Mysterien. Sie wissen aus meinem Buche «Das

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Christentum als mystische Tatsache», wie diese Dinge aufzufassen sind. Aber gerade in dem Sinne, wie das dort gemeint ist, darf wieder hingewiesen werden auf eine gewisse geistige Kongruenz desjenigen, was im Christentum auftritt, mit den alten heidnischen Mysterien.

Dieses Isismysterium hat zum Hauptinhalt den Tod des Osiris, das Suchen des toten Osiris durch Isis. Wir wissen, daß Osiris, der Reprä­sentant des Sonnenwesens, der Repräsentant der geistigen Sonne, ge­tötet wird durch Typhon, der ja nichts anderes ist als, ägyptisch aus­gedrückt, der Ahriman. Wir wissen, daß Osiris von Ahriman getötet wird, in den Nil geworfen wird, daß er hinausgeschwemmt wird, daß Isis, die Gemahlin, sich auf die Suche begibt, daß sie ihn drüben in Asien findet, daß sie ihn zurückbringt nach Ägypten, daß dann Osiris zerstückelt wird von dem Feinde Ahriman, und daß Isis die vierzehn Stücke an verschiedenen Orten begräbt, so daß sie fortan der Erde an­gehören.

Man kann aus dieser Anschauung entnehmen, wie sich in einer tief sinnvollen Weise die ägyptische Weisheit vorgestellt hat den Zusam­menhang zwischen den Mächten des Himmels und den Mächten der Erde. Osiris ist auf der einen Seite der Repräsentant der Sonnengewal­ten. Er ist, indem er durch den Tod gegangen ist, an verschiedenen Orten zu gleicher Zeit jene Kraft, welche alles dasjenige, was aus der Erde heraus fruchtet, eben zu diesem Fruchten bringt. In geistvoller Weise denkt sich ja der alte ägyptische Weise, wie die Gewalten, welche her­einscheinen von der Sonne, sich mitteilen der Erde, wie sie dann der Erde angehören, und wie sie als Sonnengewalten, die in der Erde be­graben sind, das aus der Erde heraus Fruchtende dem Menschen wie­derum übergeben. Was der ägyptischen Anschauung zugrunde liegt, ist das, daß Osiris getötet worden ist, daß sich seine Gemahlin Isis auf die Suche nach Osiris begeben mußte, daß sie ihn erst wieder zurück nach Ägypten bringen mußte, daß er dann in anderer Form, nämlich aus der Erde heraus wirkte.

Eine der ägyptischen Pyramiden stellt ja das besonders sinnvoll dar; denn die Ägypter haben dasjenige, was ihnen geworden war als Lösung der großen Geheimnisse des Weltenalls, nicht allein in ihrer eigentümlichen Schrift niedergeschrieben, sondern sie haben es in ihren

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Bauwerken zum Ausdruck gebracht. Eine dieser Pyramiden ist nach ihren Maßen genau so gebaut gewesen, daß der Schatten dieser Pyramide wegen des Sonnenstandes verschwunden ist mit der Frühlingssonnen­wende, weil er in die Basis hineinfiel, und erst wiederum sichtbar ge­worden ist nach der Herbstessonnenwende. Dadurch wollten die Ä gyp­ter ausdrücken, wie dasjenige, was ihnen sonst von der Sonne herunter-scheint, in der Erde begraben ist vom Frühling bis zum Herbste, die Kräfte der Erde entwickelnd, damit das für die Menschen Notwendige aus der Erde heraus fruchten könne. So müssen wir uns zu einer Vor­stellung der alten Ägypter wenden, wodurch diese auf der einen Seite zur Sonne hinaufschauten, zu dem hohen Sonnenwesen, und es ver­ehrten, wie sie aber zu gleicher Zeit auch andeuteten, wie dieses Sonnen-wesen verlorengegangen war in Osiris und durch Isis gesucht und wie­dergefunden wurde, damit es dann in veränderter Weise weiterwirken könne.

Nun, wir in unserer fünften nachatlantischen Zeit haben manches zu wiederholen, was in anderer Form innerhalb der ägyptischen Weis­heit aufgetreten ist, und es muß aus geisteswissenschaftlichen Unter­gründen heraus ein Verständnis sich darüber verbreiten unter der Menschheit, wie wir auf die Art, wie es unserer Zeit angemessen ist, die ägyptischen Priestermysterien im verchristeten Sinne wiederum an­schauen können. Osiris stellte ja für die Ägypter gewissermaßen das­jenige dar, was ihnen eine Art Repräsentant war des noch nicht ge­kommenen Christus; aber sie stellten sich auf ihre Art das Sonnen-wesen vor in Osiris. Sie stellten sich vor, daß dieses Sonnenwesen in einer gewissen Weise verlorengegangen sei, und daß es wieder gesucht werden muß. Wir können uns nicht vorstellen, daß unser Sonnenwesen, der durch das Mysterium von Golgatha gegangene Christus, für die Menschheit verlorengehen könnte, da er einmal heruntergestiegen ist aus geistigen Höhen, sich mit dem Menschen Jesus von Nazareth ver­bunden hat und fortan bei der Erde bleibt. Er ist da, und der entspre­chende Weihnachtsgesang darf jedes Jahr verkünden: Uns wird der Heiland geboren -, indem er damit ausdrückt das nicht Vorüberge­hende dieses Ereignisses, sondern das Ewige desselben, indem er damit ausdrückt, daß nicht nur damals in Bethlehem der Jesus geboren worden

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ist, sondern daß er im Grunde genommen immerfort geboren wird, das heißt, bei dem Erdensein verbleibt. Also dasjenige, was uns der Christus ist, das kann nicht verlorengehen.

Aber in anderer Art muß sich die Isislegende in unserer Zeit erfüllt zeigen. Nicht dasjenige, was in einem höheren Maße uns den Osiris gibt durch den Christus, kann uns verlorengehen; aber es kann uns verloren­gehen und ist uns verlorengegangen dasjenige, was hingebildet für das christliche Verständnis neben dem Osiris steht: es ist uns verlorenge­gangen die Isis, die Mutter des Heilandes, die göttliche Weisheit So­phia. Und wenn es geben soll eine Erneuerung der Isislegende, so darf diese für uns nicht lauten, daß der Osiris getötet worden ist durch Ty­phon-Ahriman, daß er hinweggeschwemmt worden ist durch das Nil-wasser, wiedergefunden werden soll durch Isis, um in seiner durch Typhon-Ahriman erfolgten Zerstückelung dann in die Erde versenkt zu werden. - Nein, wir müssen in einer gewissen Weise die Isislegende, den Inhalt des Isismysteriums wiederfinden, aber wir müssen ihn bil­den aus der Imagination heraus gefaßt für unsere Zeit. Es muß wieder ein Verständnis der ewigen Weltenwahrheiten geben, indem wir also imaginativ dichten können, wie die Ägypter es gekonnt haben. Aber wir müssen die richtige Isislegende finden. Der ägyptische Mensch war - als der Mensch, der vor dem Mysterium von Golgatha lebte -noch durchsetzt von luziferischen Mächten. Wenn sich im Inneren des Menschen luziferische Mächte finden, wenn luziferische Mächte das Innere des Menschen bewegen, durchziehen, durchweben, dann hat das zur Folge, daß sich in seiner äußerlichen Anschauung das Ahrimanische in seiner Wirksamkeit ausdrückt. Daher sieht der Ägypter mit Recht, weil er selber luziferisch durchsetzt war, ein Weltenbild, in welchem Ahriman-Typhon tätig ist.

Wir müssen uns klar sein, daß die gegenwärtige Menschheit ahri­manisch durchsetzt ist, innerlich so bewegt und durchwellt ist von Ahriman, wie die ägyptische Welt von Luzifer bewegt und durchwellt worden ist. Dann aber, wenn Ahriman durch Luzifer wirkt, dann sieht der Mensch sein Weltenbild in luziferischer Gestalt. Wie sieht der Mensch dann dieses Weltbild? Dieses Weltbild in luziferischer Gestalt ist geschaffen, es ist da, es ist in der neueren Zeit immer populärer und

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populärer geworden, es hat alle Kreise ergriffen, die aufgeklärt sein wollen. Es muß ins Auge gefaßt werden, wenn das Weihnachtsmyste­rium begriffen werden soll: Luzifer ist diejenige Macht, welche das Weltenbild in einem früheren Stadium zurückhalten will. Luzifer ist diejenige Macht, welche hereintragen will in das gegenwärtige Welten-bild das, was in früheren Stadien vorhanden war, welche bleibend ma­chen will das, was in früheren Stadien vorhanden war. Alles das, was in früheren Stadien moralisch war, ist natürlich im Gegenwärtigen da. Luzifer hat nun alles Interesse daran, das Moralische als solches, das immer als ein Gegenwärtiges seine große Bedeutung hat, weil es ja keimhaft für spätere Weltenschöpfung wirkt, alles Moralische heraus­zulösen aus dem Weltenbild und bloß das naturgemäß Notwendige im äußeren Weltenbilde erscheinen zu lassen. So stellt sich dem arm ge­wordenen Menschen der neueren Zeit eine Weltenweisheit dar, die zu­gleich ein Weltenbild gibt, in dem die Sterne kreisen nach amoralischen, rein mechanischen Notwendigkeiten, in dem die Sterne kreisen in ei­ner Weise, daß wir mit ihrem Kreisen nichts vom moralischen Sinn der Weltenordnung verbinden können. Das ist ein rein luziferisches Weltenbild.

So wie der Ägypter hinausschaute in die Welt und Ahriman-Typhon sehen mußte als denjenigen, der ihm seinen Osiris nimmt, so müssen wir auf dieses luziferisch gewordene Weltbild, auf das mathematisch-mechanische Weltbild unserer gegenwärtigen Astronomie und unserer sonstigen Naturwissenschaft sehen und müssen uns klar sein, daß hier ebenso das Luziferische waltet, wie das Typhonisch-Ahrimanische ge­waltet hat in dem ägyptischen Weltenbild. Genau so, wie der Ägypter sein äußeres Weltenbild im ahrimanisch-typhonischen Sinne gesehen hat, so sieht der neuere Mensch das, was er wegen seines Ahrimanischseins sieht, mit luziferischen Zügen. Luzifer ist da, er wirkt. Geradeso wie in Wind und Wetter, in den Stürmen des Winters der Ägypter sich vorstellte, daß Ahriman-Typhon wirkt, so muß sich der moderne Mensch vorstellen, wenn er die Sache durchschaut, daß ihm in Son­nenschein und Sternenglanz, in Planeten- und Mondenbewegung Lu­zifer erscheint. So wie wir das Kopernikanisch-Galileisch-Keplerische Weltenbild haben, so ist es ein luziferisches Gebilde. Gerade weil es

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unseren ahrimanischen Erkenntniskräften entspricht, ist sein Inhalt -ich bitte Sie, das genau zu unterscheiden - ein luziferischer.

In der Zeit, in der das Mysterium von Golgatha sich vollzogen hat, da wirkte dasjenige, was den Menschen befähigt, in die Welt erken­nend hineinzuschauen, in einer zweifachen Weise als die göttliche So­phia, als die die Welt durchschauende Weisheit. Durch die Offenbarung an die armen Hirten auf dem Felde, durch die Offenbarung an die Magier aus dem Morgenlande wirkte die göttliche Sophia, die himm­lische Weisheit. Diese Weisheit, die in ihrer letzten Gestalt bei den Gnostikern vorhanden war, von denen sie genommen haben die ersten christlichen Kirchenväter und Kirchenlehrer, um damit das Mysterium von Golgatha zu begreifen, diese Weisheit hat sich nicht hereinver-pflanzen können in die neuere Zeit; sie ist überwältigt, sie ist getötet worden durch Luzifer, wie einstmals Osiris durch Ahriman-Typhon. Uns ist nicht Osiris beziehungsweise Christus verlorengegangen, uns ist verlorengegangen dasjenige, was wir an der Stelle der Isis haben. Luzifer hat sie uns getötet. Und nicht wie Typhon den Osiris in den Nil gesenkt und dann zunächst in die Erde hinein versenkt hat das­jenige, was getötet worden ist, sondern in die Weltenräume hinaus-versetzt ist das von Luzifer getötete Isiswesen, die göttliche Weisheit; sie ist in den Weltenozean hinaus versenkt worden. Indem wir in die­sen Ozean hinausblicken und nur nach mathematischen Linien die Sternenzusammenhänge sehen, ist in ihnen dasjenige begraben, was geistig diese Welt durchsetzt, getötet die göttliche Sophia, getötet diese Nachfolgerin der Isis.

Wir müssen diese Legende bilden, denn sie stellt die Wahrheit un­serer Zeit dar. Wir müssen sprechen in demselben Sinne von der getöte­ten und uns verlorengegangenen Isis beziehungsweise der göttlichen Sophia, wie der alte Ägypter gesprochen hat von dem verlorengegan­genen und getöteten Osiris. Und wir müssen mit demjenigen, was wir nicht begreifen, was aber in uns ist, mit der Kraft des Christus, mit der neuen Osiriskraft ausziehen und den Leichnam der modernen Isis suchen, den Leichnam der göttlichen Sophia. Wir müssen herangehen an die luziferische Naturwissenschaft und müssen suchen den Sarg der Isis, das heißt, wir müssen finden aus dem, was uns die Naturwissenschaft

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gibt, dasjenige, was innerlich anregt zu Imagination, zu Inspira­tion, zu Intuition. Denn dadurch erwerben wir die Hilfe des Christus in uns, der uns dennoch dunkel, der uns finster bleibt, wenn wir ihn nicht durch die göttliche Weisheit uns erleuchten. Wir müssen, ausge­rüstet mit dieser Christus-Kraft, mit dem neuen Osiris, auf die Suche nach der Isis, nach der neuen Isis gehen. Nicht zerstückeln wird Lu­zifer diese Isis, wie Typhon-Ahriman den Osiris zerstückelt hat. Nein, im Gegenteile: diese Isis ist in ihrer wahren Gestalt ausgebreitet in der Schönheit des ganzen Kosmos. Diese Isis ist dasjenige, was uns in vielen leuchtenden Farben aurisch aus dem Kosmos entgegenleuchtet. Sie müs­sen wir verstehen, indem wir hineinblicken in den Kosmos und den Kosmos aurisch sehen in seinen leuchtenden Farben.

Aber wie einstmals Ahriman-Typhon gekommen ist, um den Osiris zu zerstückeln, so kommt Luzifer, der diese Farben in ihrer Differen­zierung auslöscht, der die Teile, die schön ausgebreitet sind, die Glie­der der neueren Isis, jene Glieder, die das ganze Himmelszelt bilden, in­einander verschwimmen macht, der sie vereinigt, der sie zusammen-ballt. So wie der Typhon den Osiris zerstückelt hat, so setzt Luzifer aus dem, was in vielfältigen aurischen Farben aus dem Weltenall zu uns hereinglänzt, das eine, einheitliche weiße Licht zusammen, das die Welt durchstrahlt, dieses luziferische einheitliche Licht, gegen das sich Goethe in seiner Farbenlehre gewendet hat, indem er dagegen opponiert, daß in ihm enthalten sein sollen die Farben, die ausgebrei­tet sich über die geheimnisvollen Taten des ganzen Weltenalls, in ihrer Vielfältigkeit geheimnisvollen Taten.

Wir aber müssen hindurchdringen auf unserer Suche und die Isis wieder finden! Und wir müssen die Möglichkeit gewinnen, dasjenige, was wir ergründen, indem wir die Isis wiederum zurückgefunden ha­ben, hinauszuversetzen in das Weltenall. Wir müssen das, was wir durch die wiedergefundene Isis gewinnen, vor uns lebendig hinstellen können, so daß es geistig für uns das Himmelsall, der Kosmos wird. Wir müssen aus dem Inneren erfassen Saturn, Sonne, Mond, Erde, Ju­piter, Venus, Vulkan. Wir mussen in die Himmel hinaus versetzen das, was Luzifer aus der Isis gemacht hat, wie die Isis in die Erde versenkt hat dasjenige, was als Stücke des Osiris Typhon-Ahriman aus dem

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Osiris gemacht hat. Wir müssen begreifen, daß wir durch die Chri­stus-Kraft eine innere Astronomie zu finden haben, welche uns wie­derum das Weltenall hervorgehend und wirkend in der Kraft des Gei­stes zeigt. Dann, dann wird in diesem Durchschauen des Weltenalls die wiedergefundene Isiskraft, die aber jetzt die Kraft der göttlichen So­phia ist, durch diese wiedergefundene Isiskraft der Christus, der seit dem Mysterium von Golgatha mit dem Erdendasein vereinigt ist, in dem Menschen auch zur rechten Wirksamkeit, weil zur rechten Er­kenntnis, kommen. Nicht der Christus fehlt uns, die Erkenntnis des Christus, die Isis von Christus, die Sophia von Christus fehlt uns.

Das ist dasjenige, was wir uns als einen Inhalt des Weihnachts­mysteriums in die Seele schreiben sollen. Wir müssen dahin kommen, uns zu sagen: Im 19.Jahrhundert ist selbst die Theologie dahin ge­kommen, in dem Christus bloß den Menschen aus Nazareth zu sehen. Das heißt, es ist diese Theologie durchaus verluziferisiert. Sie sieht nicht mehr hinein in die geistigen Untergründe des Daseins. Äußere Naturerkenntnis luziferisiert, Theologie luziferisiert. Man könnte na­türlich, wenn man von dem inneren Aspekt des Menschen spricht, ebensogut sagen ahrimanisiert, wie Sie aus meinen Auseinandersetzun­gen gesehen haben. Dann müßte man aber für die Ägypter sagen luziferisiert, beziehungsweise ahrimanisiert, wenn es das Äußere an­geht. Der neuere Mensch muß auch das Weihnachtsmysterium in einer neuen Weise begreifen. Er muß verstehen, daß er zunächst zu suchen hat die Isis, damit der Christus ihm erscheinen könne. Dasjenige, was unser Unglück in der neueren Zeit für die zivilisierte Menschheit herbeigeführt hat, ist ja nicht, daß wir etwa den Christus - der in einer höheren Glorie vor uns steht als für den Ägypter der Osiris - ver­loren hätten, daß wir uns mit der Isiskraft nach ihm auf die Suche be­geben müssen. Nein, was wir verloren haben, ist die Erkenntnis, ist die Anschauung des Christus Jesus. Sie müssen wir wiederum finden mit der Kraft des Jesus Christus, die in uns ist.

So müssen wir auf das hinschauen, was Inhalt des Weihnachts­festes ist. Es ist ja für viele Menschen der Gegenwart dieses Weihnachts­fest nichts anderes mehr als eine Art Geschenkfest, als etwas, was man gewohnheitsmäßig von Jahr zu Jahr feiert. Es ist auch dieses Weihnachtsfest

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zu dem geworden, wozu so vieles geworden ist in unserem Leben: es ist zur Phrase geworden. Und weil diese Dinge zur Phrase geworden sind, ist das moderne Leben in seine Kalamitäten, in sein Chaos hineingekommen. Das ist doch der tiefere Grund, warum das moderne Leben in dieses Chaos hineingekommen ist.

Wenn wir aus dieser unserer Gemeinschaft heraus die richtigen Empfindungen entwickeln könnten für dasjenige, was in der Gegen­wart zur Phrase geworden ist, und wenn wir aus diesem richtigen Emp­finden heraus die Impulse finden könnten für die Erneuerungen, die notwendig sind, dann wäre diese Gemeinschaft, die sich die anthro­posophische nennt, ihres Daseins wert. Es sollte Verständnis inner­halb dieser Gemeinschaft dafür sein, was es eigentlich Schlimmes be­deutet für die moderne Zeit, daß solche Dinge wie das Weihnachtsfest sich wie eine Phrase fortpflanzen. Es sollte Verständnis dafür sein, daß das in der Zukunft nicht sein darf und daß diese Dinge einen neuen Inhalt bekommen müssen, daß die alten Gewohnheiten verlassen werden müssen, daß neue Ansichten an die Stelle der alten Gewohn­heiten treten müssen. Können wir dazu nicht den inneren Mut auf­bringen, dann lügen wir mit in der Beibehaltung der alten Phrase vom jährlichen Weihnachtsfeste, das begangen wird, ohne daß die Seele Ent­sprechendes fühlt und empfindet. Denn werden wir noch als Mensch­heit hinaufgehoben zu den höchsten Angelegenheiten dieser unserer Menschheit, indem wir aus alter Gewohnheit an diesem Christus-Fest jährlich uns Geschenke machen? Und indem wir höchstens die auch zur Phrase gewordenen Worte der heutigen Bekenner der einzelnen Religionsgemeinschaften anhören oder mitmachen? Wir sollten es uns verbieten, bei dieser inneren Hohlheit der Weihnachtsfeier zu bleiben. Wir sollten den inneren Entschluß fassen können, solch einem Feste, das die Menschheit hinaufheben soll zum Begreifen ihres Sinnes, solch einem Feste einen Inhalt zu geben, der uns wirklich höchste, einzigartige Empfindungen durch die Seelen ziehen lassen kann.

Fragen Sie sich, ob die Empfindungen, die heute in den Gemütern, in den Herzen leben bei dem Weihnachtsbaume, bei den Geschenken, die sich die Menschen gegenseitig geben aus alter Gewohnheit, bei den Weih­nachtskarten, auf die gewohnheitsmäßig Phrasen geschrieben werden,

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fragen Sie sich, ob da die Empfindungen leben, welche die Menschheit hinaufheben zuin Verständnis des Sinnes ihres Erdenwerdens! Daß wir nicht den Mut finden können, uns über das Phrasenhafte unserer Zeit zu einem neuen Inhalte zu erheben, das ist es, was das Unglück unserer Zeit ausmacht. Daß es aber geschehen müsse, daß ein neuer Inhalt kommt, daß ein Inhalt kommt, der uns wiederum mit Empfindungen durchsetzen kann, die einzigartig sind, die uns ganz und gar durch­rütteln, so wie durchrüttelt worden sind diejenigen, die in den ersten Jahrhunderten echte Christen waren und das Mysterium von Golga­tha, das Erscheinen des Christus auf Erden als das Höchste empfunden haben, was auf der Erde durch die Menschheit erlebt werden kann, daran müssen wir uns erinnern, und etwas von dieser Art müssen wir wiederum in unsere Seelen hineinschaffen.

Oh, diese Seele wird zu einzigartigen Empfindungen kommen kön­nen, wenn sie die Verpflichtung fühlt, die neue Isis-Legende innerhalb der modernen Menschheit zu erleben; diese Isislegende von der Tötung der Isis durch Luzifer, von dem Hinausbegeben in den Weltenraum, der zum matheinatischen Abstraktum, das heißt, zum Grab der Isis geworden ist, von dem Suchen nach dieser Isis, von dem Finden dieser Isis durch die Anregung der inneren Geistes-Erkenntniskräfte, die dann an die Stelle der totgewordenen Himmel dasjenige setzen, was aus in­nerem Leben heraus uns wiederum Sterne und Planeten als Denkmäler erscheinen läßt für die geistigen Gewalten, die den Raum durchwallen. Wir blicken nur dann im rechten Sinne heute hin zu der Krippe, wenn wir dasjenige, was da den Raum durchwallt, in einer einzigartigen Empfindung durchleben, und dann hinschauen auf jenes Wesen, das durch das Kind in die Welt gezogen ist. Wir wissen, wir tragen es in uns, aber wir müssen ihm Verständnis entgegenbringen. Deshalb müs­sen wir, so wie der Ägypter von seinem Osiris zur Isis hingeschaut hat, wiederum hinschauen lernen zu der neuen Isis, zu der heiligen Sophia. Nicht dadurch, daß von außen allein etwas eintritt, wird der Chri­stus im Laufe des 20. Jahrhunderts wieder erscheinen in seiner Geist­gestalt, sondern dadurch, daß die Menschen jene Kraft finden, die durch die heilige Sophia repräsentiert wird. Es lag die Tendenz im Laufe der neueren Zeit darin, gerade diese Isiskraft, gerade diese

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Marienkraft zu verliere. Sie ist getötet worden durch all dasjenige, was im modernen Bewußtsein der Menschheit heraufgezogen ist. Und die neueren Bekenntnisse haben zum Teil gerade die Anschauung über die Maria ausgerottet.

Das ist dasjenige, was gewissermaßen das Mysterium der moder­nen Menschheit ist, daß im Grunde genommen Maria-Isis getötet wor­den ist, daß sie gesucht werden muß, so wie Osiris gesucht worden ist drüben in Asien, gesucht werden muß in den weiten Himmelsräumen mit der Gewalt, die der Christus in uns auslösen kann, wenn wir uns ihm im rechten Sinne hingeben.

Stellen wir uns das recht vor, vertiefen wir uns in diese notwendig zu erlebende neuere Isislegende, durchdringen wir unsere Seelen damit, und wir werden im rechten Sinne durchleben dasjenige, wovon die Menschheit in vielen ihrer Vertreter glaubt, daß es diese Heilige Nacht ausfüllt, um in den Christtag hineinzugehen! Es könnte doch so sein, daß diese anthroposophische Gemeinschaft eine Gemeinschaft von Menschen wäre, welche in Liebe verbunden sind, weil sie sich so füh­len, daß ihnen obliegt ein gemeinsames Suchen. Werden wir gewahr dieser unserer intimsten, innigsten Aufgabe! Versetzen wir uns im Geiste vor die Krippe, bringen wir dem Weihnachtskinde diese Opfer und Geschenke dar, die da liegen in der Erkenntnis, daß Einzigartiges durch unsere Seele ziehen soll, damit die moderne Menschheit zur Er­füllung ihrer Aufgaben komme, die aus der Barbarei in eine wirkliche neue Zivilisation hineinführen können!

Allerdings ist dazu notwendig, daß in unseren Kreisen der eine dem anderen wirklich in Liebe hilft, daß wirklich eine Gemeinschaft der Seelen werde, daß alles dasjenige, was Eifersüchteleien und dergleichen sind, aus unseren Reihen verschwindet, daß wir nicht nur hinblicken der eine auf den anderen, sondern alle zusammen nach dem gemein­samen großen Ziele. Das liegt mit in dem Geheimnis, welches das Weih­nachtskind auf die Welt gebracht hat, daß nach einem gemeinsamen Ziele hingeschaut werden kann, ohne daß die Menschen untereinander in Disharmonien kommen, denn das gemeinsame Ziel bedeutet die Ver­einigung in Harmonie. Und das Weihnachtslicht soll eigentlich leuch­ten als ein Friedenslicht, als ein Licht, das den äußeren Frieden nur

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dadurch wird bringen können, daß es zunächst inneren Frieden über die Menschenherzen ausgießt. Wir sollten es verstehen, uns zu sagen:

Kommen wir dazu, also in Liebe zusammen zu wirken an den großen Aufgaben, dann erst verstehen wir Weihnacht! Kommen wir nicht da­zu, dann verstehen wir Weihnachten nicht.

Könnten wir uns nicht einmal vornehmen, nachzudenken, wenn wir selber Disharmonien gestiftet haben, daß uns solche Disharmonien ab­trennen von dem Verständnisse Desjenigen, der zur Weltenweihenacht unter den Menschen erschienen ist? Könnten wir nicht dieses Weih­nachtsmysterium in unsere Seele hineinträufeln lassen als dasjenige, das unsere Gemüter zusammenbringt in Liebe und Eintracht? Verste­hen wir nicht im rechten Sinne, was Geisteswissenschaft ist, dann kön­nen wir es nicht. Tragen wir aber dasjenige, was wir zusammenge­klaubt haben aus allen Winkeln der Welt, wo heute nur Phrase und Routine herrschen, tragen wir das herein in diese Gemeinschaft, dann wird aus dieser Gemeinschaft nichts. Gedenken wir dessen, daß wohl ein schweres Jahr dieser Gemeinschaft bevorsteht, daß alle Kräfte zusammenzunehmen sind, und begehen wir in diesem Sinne das Weih­nachtsfest. Oh, ich möchte Worte haben, die tief einem jeden ins Herz hinein sprechen an diesem heutigen Abend! Dann würde ein jeder von Ihnen empfinden, wie in diesen Worten, die ich heute spreche, jener Gruß liegen soll, der eine Aufforderung ist, Geisteswissenschaft im Herzen recht warm zu machen, damit sie so werde eine Kraft, welche der unter einem furchtbaren Druck lebenden Menschheit aufhelfen könne.

Von solchen Gesichtspunkten ausgehend sind die Gedanken gefaßt, die ich zu Ihnen sprechen wollte. Seien Sie überzeugt, sie sind für jeden einzelnen als ein warmer Weihnachtsgruß gemeint, als etwas gemeint, das ihn im besten Sinne in das neue Jahr hinüberleiten soll. Empfangen Sie in dieser Art dasjenige, was ich Ihnen heute sagen wollte, als einen liebevoll gemeinten Weihnachtsgruß.

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FÜNFZEHNTER VORTRAG Dornach, 25. Dezember 1920

Nach zwei Richtungen können wir sehen, wenn es sich darum handelt, im Sinne des Weihnachtsmysteriums das Ereignis von Golgatha zu verstehen: nach dem Sternenhimmel auf der einen Seite mit all seinen Geheimnissen, und nach dem Menscheninneren auf der anderen Seite mit all seinen Geheimnissen. Ich habe ja im Laufe dieser Tage darauf hingedeutet, wie aus dem Sternenhimmel heraus die sogenannten Ma­gier aus dem Morgenlande erkannt haben die Ankunft des Christus Jesus auf Erden, wie aus den Schauungen, die aus dem Menschenin­neren heraus sich entwickeln, die armen Hirten des Feldes die An­kündigung dieses Menschenheilandes empfangen haben. Auf diese bei­den Richtungen, aus denen im Grunde genommen dem Menschen alle Erkenntnis kommt, aus denen ihm also auch die höchste Erkenntnis von dem eigentlichen Erdensinn kommen mußte, wollen wir heute noch einmal unser Augenmerk richten.

Wenn wir in die Zeiten zurückblicken, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen sind, dann finden wir eine ganz andere Stel­lung der Menschenseele zu dem Universum und zu sich selber als nach dem Mysterium von Golgatha. Allerdings, für die äußere Geschichts­betrachtung zeigt sich das nicht in ganz intensivem Sinne, aus dem Grunde, weil in ausgesprochenem Maße die alte Erkenntnis ja Zeiten angehört, die Jahrtausende in der nachatlantischen Zeit dem Myste­rium von Golgatha vorangegangen sind. Als das Mysterium von Gol­gatha herangenaht ist, war diese Art von Erkenntnissen schon schwä­cher geworden, und wir können sagen, daß es eben nur einzelne, be­sonders auserlesene Menschen waren wie die drei Magier aus dem Mor­genlande, die eine so weitgehende Erkenntnis haben konnten, wie sie bei diesen zutage trat, und daß auf der anderen Seite nur ganz beson­ders bevorzugte, für Innerliches empfängliche Hirten, also Menschen aus dem Volke, solche Schauungen aus dem Schlafe entwickeln konn­ten, wie sie diese Hirten entwickelt haben. Aber es waren das eben Erbstücke alter Erkenntnisbeziehung des Menschen zum Weltenall sowohl

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auf der einen Seite bei den Magiern wie auf der anderen Seite bei den Hirten.

Auch wir können noch nicht sagen, insbesondere nicht für unsere gegenwärtige Zeit, daß die Menschheit schon in besonders deutlicher Weise diejenige Erkenntnisart ausdrücken würde, die seit dem Myste­rium von Golgatha eben in die Menschheitsentwickelung eingezogen ist, aber im allgemeinen gilt doch das, was wir uns heute abend vor die Seele führen wollen. Die vorchristliche Art, sich zum Sternenhim­mel zu verhalten, war so, daß die Menschen nicht etwa die Sterne bloß in dieser prosaischen, abstrakten Art sahen, wie man sie jetzt sieht. Daß diese Menschen in älteren Zeiten von den Sternen sprachen wie von Lebewesen, das kam nicht etwa, wie eine höchst unvollkom­mene Wissenschaft glaubt, aus einer bloßen Erdichtung, sondern das kam aus einer geistigen, wenn auch instinktiven, atavistischen An­schauung des Sternenhimmels. Man sah den Sternenhimmel eben in älteren Zeiten so, daß man nicht bloß die Lichtpunkte oder Lichtflä­chen sah, sondern daß man da etwas Geistiges sah, das man in dem Sinne bezeichnen konnte, wie diese alten Menschen die Sternbilder be­zeichneten, denn sie empfanden die einzelnen Planeten unseres Pla­netensystems von lebendigen Wesen beseelt. Man sah eben das Geistige in dem weiten Sternenhimmel. Und in diesem Zusammenhange, in dem diese alten Menschen den Sternenhimmel in seinem geistigen Elemente sahen, sahen sie auch alles das, was sich auf die mineralische und auf die pflanzliche Welt bezieht. Also den Sternenhimmel, die mineralische und die pflanzliche Welt, diese drei Gebiete des Daseins sahen diese alten Menschen mit einem Erkenntnisvermögen. Sie sprachen von den Sternen als beseelten Wesen, sie sprachen aber auch von den Mineralien und von den Pflanzen als beseelten Wesen.

Wir dürfen uns eben nicht vorstellen, daß das Erkenntnisvermögen dieser alten Zeiten für die Menschen so war wie das unsere. Ich habe vor einiger Zeit Ihnen eine Stufe des Erkennens vorgeführt, die gar nicht so sehr von der unseren verschieden ist, aber die sich vorzustellen im Grunde genommen schon vielen Menschen der Gegenwart Schwie­rigkeiten macht. Ich habe gesagt, daß die Griechen gerade in ihrer frühesten Kultur die blaue Farbe überhaupt nicht sahen, daß sie also

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nicht über sich den blauen Himmel hatten. Das war etwas, was die Griechen nicht hatten. Sie empfanden die Farbe mehr nach der akti­ven, nach der rotgelben Seite hin. Sie malten auch nicht mit dem, was heute unsere blauen Nuancen sind. Dieses Blau, das trat erst später auf für das menschliche Wahrnehmen.

Stellen Sie sich einmal vor, daß alle blauen Nuancen wegbleiben aus der Welt, also auch alles Grün anders aussieht, als es für uns heute aussieht, dann werden Sie sich sagen müssen: Noch für den Griechen sah die Welt um ihn herum anders aus als für die gegenwärtige Mensch­heit. In einem noch viel größeren Maße verschieden von unserer Welt sah die Umwelt für die Menschen älterer Zeiten aus. Aus der Welt, die die Alten überschaut haben, zog sich allmählich das Geistige zurück. Aus den Sternenwelten, aus den mineralischen Welten, aus den pflanz­lichen Welten zog sich das Geistige zurück, und indem sich das Geistige zurückzog, wurden matter die lebendigen, die aktiven Farben. Dage­gen hob sich aus dem Untergrund heraus dasjenige, was sich als Blau empfinden ließ. Und indem immer mehr und mehr in der Menschheit heraufkam die Fähigkeit für das Blaue, für die dunkleren Farben, ver­wandelte sich das, was die Alten empfunden haben in ihrer lebendig ansprechenden, ich möchte sagen aktiv farbenreichen Astrologie, in die graue, farblose Geometrie, Mechanik, mit der wir heute, indem wir diese Geometrie und Mechanik aus unserem Inneren herausholen, nicht mehr in unserer Umgebung dasjenige sehen, was die Geheimnisse der Sternenwelten sind. Es verwandelte sich die alte Astrologie in diese Welt, wie wir sie uns heute vorstellen im kopernikanisch-galileisch­keplerischen Sinne, in die Welt der Himmelsmechanik, in die Welt der Mathematik. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist, daß in jenen alten Zeiten eine intensive innere Fähigkeit des Menschen vorhanden war, wahrzunehmen, was aus der Erde heraus, gewissermaßen als die Fluida der Erde, den Menschen umströmte. Also, ich möchte sagen, wie das Gegenstück des Sternen-himmels kündigten sich an durch ein inneres Wahrnehmungsvermo­gen, durch gewisse innere Fähigkeiten die Fluiden der Erde, die Quali­täten der Erde. Eine feine Empfänglichkeit hatte der Mensch in alten Zeiten für all das, was die Eigentümlichkeiten des Klimas seines Landes

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waren, für all das, was die Eigentümlichkeiten des Bodens waren. Ob der Mensch auf einem Kalkboden lebte, ob er auf einem Granit­boden lebte, das bedeutete für ihn ein anderes Aufströmen dessen, was in der Erde war. Aber was er so aufströmen fühlte, das stellte sich ihm nicht etwa wie ein bloß dunkles Gefühl dar, wie ein stumpfes, dumpfes Erlebnis, sondern es stieg in ihm auf als Farben, Wolken, die er innerlich durchempfand. Und ebenso wie er die Erdentiefen empfand, so emp­fand er bei seinem Mitmenschen die Menschenseele, so empfand er auch das tierische Leben. Lebhafter, intensiver war dieses Empfinden. Wie es eine Art äußeren Erkenntnisvermögens war, durch das der Mensch hineinschaute in den Sternenhimmel, durch das er die Mineralien, die Pflanzen überblickte in ihrer Geistigkeit mit atavistischem, instinkti­vem Hellsehen, so nahm er durch ein instinktives, innerliches Schauen wahr, was in den Erdentiefen geistig lebte. Nicht etwa bloß sprach er vom Kalkboden, sondern bestimmte elementarische Wesenheiten stie­gen ihm auf, anderer Art aus dem Kalkboden, anderer Art aus dem Granit- oder Gneisboden.

Er empfand auch dasjenige, was in den anderen Menschen lebte als Aurisches, das aber den Menschen gewissermaßen angekleidet war von der Erde her, und insbesondere empfand er die Tiere in ihrer Aura als Erdenwesen. Für ihn setzte sich gewissermaßen das, was in der Erde lebte als der Grund und Boden, als die innere Erdenwärme, in der gan­zen Tierwelt fort. Wenn der alte Mensch die Schmetterlinge über die Pflanzen hinfliegen sah, so sah er sie immer so, daß sie hinter sich her­zogen dasjenige, was sich aus der Erde heraus schuf. Wie in einer au­rischen Wolke nahm er wahr, was über die Erde hin an Tierischem huschte. All das zog sich allmählich zurück, und die prosaische Welt blieb für das menschliche Wahrnehmen übrig, das sich nach außen ver­legte, so daß der Mensch jetzt anfing, seine Umwelt so zu erblicken, wie wir heute die farbige Umwelt sehen, ohne das Geistige wahrzu­nehmen. Und dasjenige, was der Mensch so durch inneres Wahrneh­men gesehen hatte, das verwandelte sich in unsere moderne Naturer­kenntnis; das, was er durch äußeres Wahrnehmen geistig gesehen hatte, verwandelte sich in unsere moderne Mathematik und Mechanik.

So haben wir auf der einen Seite aus dem, was die armen Hirten auf

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dem Felde zu ihrem inneren Anschauen brachte, die moderne Natur­anschauung entwickelt, und aus dem, was die Magier aus dem Mor­genlande zur Wahrnehmung des Sterns brachte, der den Christus an­kündigte, aus dem haben wir entwickelt unsere trockene Mathematik und Mechanik. So viel war in jener Zeit eben noch bei einzelnen Men­schen für die äußere Wahrnehmung und die innere Wahrnehmung er­halten, daß sich das Geburtsmysterium Jesu in dieser Weise nach bei­den Seiten hin ankündigen konnte.

Was lag denn nun aber eigentlich diesem Wahrnehmen zugrunde? Nun, in der Zeit, die wir durchmachen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, also die wir durchgemacht haben, bevor wir durch die Geburt in das irdische Dasein eingetreten sind, in dieser Zeit durch­lebten wir eigentlich Weltenräume. Da war unsere Individualität nicht so gebunden an jenen Raum, den unsere Haut umschließt, sondern es war dieses Dasein ausgedehnt über Weltenräume. Und jene alte Fä­higkeit des magischen Schauens, die also die Weisen aus dem Morgen-lande, die Magier aus dem Morgenlande noch zeigten, das war im wesentlichen eine Fähigkeit, die besonders stark hereindrang in den Menschen aus der Zeit zwischen dem Tode und der Geburt, also eine vorgeburtliche Fähigkeit. Das, was da innerhalb der Sternenwelt die Seele vor der Geburt erlebte, das wurde auferweckt zu einer beson­deren Fähigkeit bei denen, die Schüler der Magier wurden. Indem die Schüler der Magier diese besonderen Fähigkeiten entwickelten, konn­ten sie gewissermaßen sagen: Ich habe ja ganz Bestimmtes erlebt, be­vor ich hier auf diese Erdenwelt herabgestiegen bin, mit Merkur, mit Sonne, mit Mond, mit Saturn, mit Jupiter. - Und daß gewissermaßen diese kosmische Erinnerung auftauchte, das brachte sie dazu, das Gei­stige nun nun auch in der ganzen Außenwelt zu sehen, das Schicksal des Menschen auf Erden zu sehen aus dem, was man innerhalb der Sternenwelt sah durch die Erinnerung an das vorgeburtliche Dasein.

Diejenigen Fähigkeiten, mit denen man die Erdentiefen, die Men­schenseelengeheimnisse, das Wesen des Tierischen wahrnahm, das wa­ren Fähigkeiten, die aber erst keimhaft in dem Menschen entwickelt waren, und die dann erst nach dem Tode auftraten, also nachtodliche Fähigkeiten, die erst schaffend werden sollten nach dem Tode, aber

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junge, keimkräftige Fähigkeiten. Wenn diese Fähigkeiten auch für den Menschen erst besonders schaffend sind nach dem Tode, so treten sie doch im irdischen Leben als keimkräftige Fähigkeiten ganz besonders in der ersten Zeit des Erdenlebens bei dem Kinde auf. Die Wachstums­kräfte, die besonders das heranwachsende Kind hat, die ja aus dem Geistigen heraus sprossen und sprießen, die treten dann in späteren Jah­ren beim Menschen mehr zurück, die ziehen sich zurück, und gerade diejenigen Kräfte, die vor der Geburt da waren, die füllen uns dann mehr aus. Aber nach dem Tode treten dafür diese kindlichen Fähig­keiten wieder auf. Nur besonders begabte Menschen erhalten sie sich bis ins späteste Alter hinein. Denn - ich habe es hier schon einmal er­wähnt - was wir an genialen Fähigkeiten haben in späteren Jahren, verdanken wir dem Umstande, daß wir kindlicher geblieben sind als diejenigen, die nicht oder weniger diese Fähigkeiten haben. Das Fort­erhalten von kindlichen Fähigkeiten ins spätere Alter hinein stattet uns mit besonderen Erfindungsfähigkeiten und dergleichen aus. Je mehr wir, trotzdem wir reif werden, uns kindliche Fähigkeiten erhalten kön­nen, desto schaffendere, schöpferischere Menschen sind wir ja. Diese schöpferischen Kräfte aber treten dann nach dem Tode wiederum be­sonders auf.

Es hat insbesondere bei einzelnen Völkern der vorchristlichen Zeit die Möglichkeit gegeben, mit den Fähigkeiten, die einem aus dem Vor­geburtlichen geblieben sind, die nachtodlichen Fähigkeiten zu befruch­ten. Dadurch, daß diese Völker weniger jene Erkenntnisse ausbildeten, die gerade bei den Magiern aus dem Morgenlande aufgetreten sind -mndem sie diese Erkenntnisse mehr zurücktreten und die nachtodlichen Fähigkeiten mehr hervortreten ließen und beide sich so durchdrangen, daß die vorgeburtlichen Fähigkeiten die nachtodlichen befruchteten, belebten -, dadurch bildete sich bei solchen Menschen dann die Gabe der Prophetie aus, die Gabe, aus den nachtodlichen Fähigkeiten pro­phetisch die Zukunft vorauszusagen. Was wir die jüdischen Propheten nennen, das sind Menschen, bei denen sich die Fähigkeiten besonders ausbildeten, welche die nachtodlichen waren, die aber da nicht bloß beim Instinktiven blieben wie bei den armen Hirten bei der Verkündi­gung auf dem Felde, sondern die durchdrungen wurden von jenen anderen

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Fähigkeiten, die intensiver ausgebildet wurden bei solchen Leu­ten wie bei den Magiern aus dem Morgenlande, und die ja zu ganz be­sonderen Erkenntnissen führten, Erkenntnissen, die sich auf die Ge­heimnisse des Stemenhimmels und seiner Vorgänge beziehen.

Nun wird es Ihnen begreiflich erscheinen, wie zusammenstimmen mußte die Verkündigung der Hirten auf dem Felde und die Erkennt­nis der Magier aus dem Morgenlande. Die Erkenntnis der Magier aus dem Morgenlande ist ja auf ihrem Gebiete so gewesen, daß sie beson­ders tiefe Geheimnisse des Sternenhimmels schauen konnten. Da konn­ten sie dahin kommen, daß aus jenen Welten, in denen der Mensch ist zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, aus denen ihnen die Fä­higkeiten wurden, durch welche sie den Sternenhimmel durchdrangen, daß aus einer Erhöhung dieser Erkenntnis ihnen die Anschauung wurde: Da, aus dieser Welt, der unser Leben zwischen der Geburt und dem Tod zunächst nicht angehört, der aber angehört unser Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, aus der begibt sich ein Wesen, der Christus, zur Erde herunter. - Aus den Sternenerkenntnissen ergab sich für die Magier das Herannahen des Christus.

Und was ergab sich für die Hirten auf dem Felde, welche die beson­dere Fähigkeit entwickelten, in die Erdentiefen hinein zu empfinden? Nun, die Erde wurde eben etwas anderes, als der Christus herannahte. Die Erde verspürte dieses Herannahen des Christus. Die Erde trug in sich neue Kräfte, die eben dadurch kamen, daß der Christus heran-nahte. Dasjenige, was die Erde reflektierte, die Art, wie die Erde rea­gierte auf das Herannahen des Christus, das empfanden aus den Erden-tiefen heraus die Hirten auf dem Felde in ihrem frommen Sinn. So kündigten für die Magier aus dem Morgenlande die Raumesweiten das­selbe an, was für die Hirten die Erdentiefen ankündigten.

Es war das die Zeit, in der eben noch Reste vorhanden waren von jenen alten Erkenntnissen. Daher müssen wir hinschauen auf solche auch für die damalige Zeit Ausnahmemenschen, wie es die drei Magier aus dem Morgenlande waren, und wie es auch diese besonderen Hirten auf dem Felde waren. Beide in ihrer Art hatten bewahrt dasjenige, was für die allgemeine Menschheit schon mehr oder weniger dahin-geschwunden war. Deshalb konnte sich ihnen das Mysterium von Golgatha,

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indem es herannahte, in der Weise ankündigen, wie es sich ihnen angekündigt hat.

Man muß diese Dinge durchaus so betrachten, daß man zu der ge­wöhnlichen geschichtlichen Art der Anschauung dasjenige hinzunimmt, was geisteswissenschaftlich an Erkenntnis dem Menschen sich ergeben kann. Man muß gewissermaßen versuchen zu durchmessen die Rau­mesweiten und die Seelentiefen. Und durchmißt man in der richtigen Weise von einem bestimmten Gesichtspunkte aus die Raumesweiten, dann lernt man die Art und Weise verstehen, wie die Magier aus dem Morgenlande das Herannahen des Mysteriums von Golgatha erlebt haben. Versucht man zu ergründen die Seelentiefen, dann wird einem ein Verständnis davon, wie sich den Hirten angekündigt hat dasjenige, was da der Erde so nahe kam, daß die Erde selber schon in sich die Kräfte dieses Nahekommenden vernahm. Was an vorgeburtlichen Fä­higkeiten bei den Magiern sich ausdrückte, das entspricht mehr einem Intellektuellen, einem Erkennen. Allerdings war das Intellektuelle da­zumal noch ein anderes als heute. Was dagegen bei den Hirten wirkte, das entspricht mehr einem Wollen, und das Wollen ist es zu gleicher Zeit, welches die Wachstumskräfte im Universum darstellt. So daß, ich möchte sagen, die Hirten verbunden wurden mit ihrem Wollen dem, was da der Erde sich nahte als das Christus-Wesen. Man fühlt auch, wie die Erzählungen von den Magiern aus dem Morgenlande - wenn sie auch in den heutigen Bibeln höchst unvollkommen stehen -, wie sie wiedergeben die Erkenntnisart, in der sich die Magier dem Mysterium von Golgatha nahen: es ist das, was im äußeren Bewußtsein für sie lebt. Und wir fühlen bei der Erzählung, bei dieser innigen Erzählung, wie die Hirtenverkündigung im Evangelium steht, daß da auf den Willen der Menschen, auf das Gemüt, auf das innere Emotionelle hin­gewiesen wird. «Offenbarung des Gottes aus den Himmeln und Friede den Menschen auf der Erde, die eines guten Willens sind.» Man fühlt das Strömen des Willens in der Hirtenverkündigung. Und wenn Sie das Lichtvolle der Magiererkenntnis fühlen, so fühlen Sie die ganz andere Art.

So kommen wir der ganzen tiefen Bedeutung dessen, was da im Neuen Testamente erzählt wird als Magiererkenntnis und Hirtenverkündigung,

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nahe, wenn wir versuchen, ganz tief hineinzublicken in Menschenerkenntnis und Menschenwollen. in Vorgeburtliches und Nachtodliches.

#Bild s. 252

Für uns, sagte ich, ist das, was für die Alten als Sternenwelt, als mineralische Welt, als pflanzliche Welt eine lebendige Geistwelt war, für uns ist es der Sinnesteppich geworden. Das, was früher Innener­kenntnis war, das ist an die Oberfläche gezogen. Wenn wir uns den Menschen vergegenwärtigen und uns seine Innenerkenntnis, wie sie besonders bei den Hirten aufgetreten ist, als Inneres vorstellen, und das, was bei den Magiern aufgetreten ist, als das Äußere vorstellen, so ist diese äußere Erkenntnis bei den Magiern das, was in Raumesweiten hinausreicht, um den Geist wahrzunehmen; das, was als Jnneres lebt, führt zu den Schauungen, welche die Erdentiefen wahrnehmen, aber auch geistig.

Und was da Innenerkenntnis ist, was bei den Hirten hervorgetreten ist (siehe Zeichnung, rot), das wächst sich in der weiteren Entwickelung der Menschheit immer mehr und mehr nach außen und wird zu der heutigen Außenwahrnehmung. Das wird das, was wir heute die Er­fahrungswahrnehmung nennen. Was dagegen bei den Magiern die Er­kenntnis der belebten Sternenwelt vermittelt hat, das zieht sich nach dem Inneren, ich möchte sagen, mehr nach dem Gehirn zurück, und das wird unsere mathematische, unsere mechanische Welt (grün). Es hat also eine Kreuzung stattgefunden. Was früher, in der vorchristlichen Zeit, Innenerkenntnis war, bildhafte, naive, instinktive Imagination, das wird unsere Außenerkenntnis, wird sinnliche Wahrnehmung; was

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Außenerkenntnis war, womit man die Sternenwelt umfaßte, das zieht sich nach dem Inneren und wird die trockene geometrisch-mathema­tisch-mechanische Welt, die wir nunmehr aus dem Inneren heraus haben.

#Bild s. 253

Der gegenwärtige Mensch nimmt durch innere Erleuchtung ja nichts anderes wahr als Mathematisch-Mechanisches. Und nur auserlesene Geister, wie etwa Novalis, schwingen sich dazu auf, das Gedichthafte, das tief Phantasievolle von so etwas zu empfinden und auch dichterisch darzustellen, wie es eben das mathematisch-mechanische Innere ist, das Novalis in so schöner Weise, harmonisch geradezu, besungen hat. Was da Novalis besingt, ist für den gewöhnlichen Menschen heute die trok­kene Welt der Dreiecke, der Vierecke, die trockene Welt der Quadrate und Summen und Differenzen, das ist für den gewöhnlichen Menschen jene Welt, wo wir etwa aussprechen, wie die Resultante aus zwei Kräf­ten sich im Parallelogramm ausspricht. Der gewöhnliche Mensch ist prosaisch genug, um diese Welt als nüchtern, als trocken zu empfinden; er mag sie nicht. Der auserlesene Novalis besingt sie, weil in ihm noch etwas lebt von dem Nachklang dessen, was diese Welt war, als sie

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sich noch nicht in das Innere zurückgezogen hatte. Da war sie jene Welt, aus welcher der Jupiter-, der Saturngeist, aus der heraus der Geist des Widders, des Stiers, der Zwillinge wahrgenommen wurde. Das war die alte, lichterfüllte Sternenwelt, die sich nur zurückgezogen hat und zunächst im ersten Stadium ihres Zurückziehens die scheinbar trockene, mechanisch-mathematische Welt ist.

Und dasjenige, was sich auf andere Weise verintensivierte bei den Hirten des Feldes zum Vernehmen der Stimme des Engels der Höhe, das ist in uns - trocken, nüchtern, abgeschwächt - zu der Wahrneh­mung der äußeren Sinneswelt geworden. Damit nehmen wir heute Mineralien und Pflanzen und Sterne wahr, während wir mit dem an­deren kaum ausgesprochen wahrnahmen die Erdentiefen oder die Men­schen- und Tierwelt. Aber was heute abgeschwächt ist zu der mathema­tisch-mechanisch-phoronomischen Welt, das, was einst die Astrologie war, das hatte für die alte Erkenntnis eine solche Kraft in sich, daß sich als Himmelswesen für die Magier durch diese Erkenntnis enthüllte der Christus. Und der tiefe Einfluß auf die Erde, die ganze Gewalt, mit welcher der Christus in der Erde wirken sollte, sie verkündete - nicht für das, was heute unsere gewöhnliche Sinneserkenntnis ist, mit der wir nichts sehen als die grüne Fläche des Grases, die braunen Felle der Tiere -, für diese Erkenntnis, als sie noch im Inneren war, als sie noch nicht herausgezogen war in die bloßen Augen, in die bloße Haut, sie kündigte bei den Hirten des Feldes dasjenige an, was der Christus der Erde werden sollte.

Wir müssen den Weg wiederum zurückfinden, wir müssen wiederum die Möglichkeit finden können, daß das Innere, das heute nur trockene Mathematik ist, sich bildhaft intensiviert zur Imagination. Wir müs­sen die Imagination, die uns die Initiationswissenschaft liefert, begrei­fen lernen. Was ist denn in diesen Imaginationen enthalten? Sie sind ja eine Fortsetzung dessen, durch das die Magier aus dem Morgenlande das Herannahen des Christus erkannt haben. Die Imaginationen sind die Sprossen, die Nachkommen dessen, was die Alten gesehen haben in den Sternbildern, in den Sternenimaginationen, in den mineralischen Imaginationen, dem Gold, Silber, Kupfer. So haben in entsprechenden Imaginationen die Alten gesehen, und die Nachkommen von alledem

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sind heute die mathematischen Fähigkeiten. Die mathematischen Fä­higkeiten werden heute jene Fähigkeiten, die die Imaginationen ver­stehen. Und so wird man aus der Ausbildung des Inneren zu suchen haben das Verständnis der Christus-Wesenheit.

Aber auch die äußere Wahrnehmung muß vertieft werden. Die äußere Wahrnehmung, sie ist selbst ein Abkömmling von dem, was einstmals die inneren Erlebnisse waren, die instinktiver Natur waren. Die Kraft, die bei den Hirten der Verkündigung noch im Inneren, in den Herzen war, sie ist heute nur in den Augen, in den Ohren. Sie hat sich ganz in die Außenseite des Menschen hineingeschoben und nimmt daher nur das Äußere wahr, den Sinnesteppich. Aber sie muß noch weiter nach außen gehen. Dazu muß aber der Mensch seinen Leib ver­lassen und der Inspiration fähig werden. Dann wird diese Inspira­tion, also die heute nach außen zu erringende Wahrnehmung, aus der Initiationswissenschaft heraus dasselbe geben können, was dem naiven Innenerkennen der Hirten auf dem Felde gegeben wurde durch die Verkündigung.

Wenn so, wie einstmals Astrologie bei den Magiern und mensch­liche Herzensanschauung bei den Hirten des Feldes, das in dem neue­ren Menschen zusammenwirkt, was aus der Initiationswissenschaft durch Imagination und Inspiration kommt, dann wird der Mensch durch die Erkenntnisse der Imagination und Inspiration sich wiederum erheben zum geistigen Ergreifen des lebendigen Christus. Man muß es verstehen, wie die Isis, die lebendige, die göttliche Sophia, verloren­gehen mußte gegenüber jener Entwickelung, welche die Astrologie in die Mathematik, in die Geometrie, in die Mechanik hineingetrieben hat. Man wird es aber auch verstehen, daß, wenn aus diesem Leichen-felde, aus Mathematik, Phoronomie und Geometrie, auferweckt wird die lebendige Imagination, daß dieses dann das Finden der Isis bedeu­tet, das Finden der neuen Isis, der göttlichen Sophia, die der Mensch finden muß, wenn die Christus-Kraft, die er seit dem Mysterium von Golgatha hat, in ihm lebendig, voll lebendig, das heißt, lichtvoll durch­drungen werden soll.

Wir stehen eben vor dieser Zeitenwende. Die äußere Erde wird dem Menschen nicht diejenigen Güter geben, nach welchen er in der neueren

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Zeit gewohnt worden ist zu verlangen. Die großen Konflikte, welche die furchtbaren Katastrophen der letzten Jahre hervorgerufen haben, sie haben einen großen Teil der Erde schon in ein Kulturtrümmerfeld verwandelt. Weitere Konflikte werden folgen. Die Menschen bereiten sich vor zu dem nächsten großen Weltkriege. In weiterer Weise wird die Kultur zertrümmert werden. Aus dem, was gerade der neueren Menschheit sich als das Wertvollste für Erkenntnis und Wollen erge­ben hat, aus dem wird unmittelbar nichts zu gewinnen sein. Das äußere Erdendasein, insoferne es ein Ergebnis früherer Zeiten ist, es wird ver­gehen, und ganz vergeblich hoffen diejenigen, welche glauben, die alten Denk- und Willensgewohnheiten fortsetzen zu können. Was heraufkommen muß, das ist ein neues Erkennen und ein neues Wol­len auf allen Gebieten. Wir müssen uns bekanntmachen mit dem Ge­danken des Hingehens einer Kultur, einer Zivilisation; aber wir müs­sen hineinschauen in das menschliche Herz, in den Geist, der in dem Menschen wohnt. Wir müssen Vertrauen haben zu diesem Men­schenherzen und zu diesem Menschengeiste, die in uns wohnen, damit durch alles das, was wir tun können innerhalb der Zertrümmerung der alten Zivilisation, neue Gebilde entstehen, wirkliche Neugebilde entstehen.

Diese Neugebilde werden nicht entstehen, wenn wir uns nicht dazu bequemen, wirklich ernsthaftig ins Auge zu fassen, was für die Mensch­heit notwendigerweise geschehen muß. Lesen Sie nach in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Dort ist Jhnen geschildert, wie der Mensch, wenn er zu den höheren Erkenntnissen gelangen will, zuerst sich ein Verständnis entwickeln muß für das, was man die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle nennt. Da ist darauf hingewiesen, wie diese Begegnung mit dem Hüter der Schwelle bedeutet, daß Wollen, Fühlen, Denken sich trennen in einer gewissen Weise, daß eine Dreiheit aus der menschlichen chaotischen Einheit entstehen muß. Dieses Verständnis, das für den Schüler der geistigen Wissenschaft sich eröffnen muß, indem ihm klar wird, was der Hüter der Schwelle ist, dieses Verständnis muß sich der ganzen neueren Menschheit in bezug auf den Zivilisationsgang eröffnen. Wenn auch nicht für das äußere Bewußtsein, für die inneren Erlebnisse geht die

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Menschheit durch das Gebiet durch, das man auch als ein Gebiet des Hüters der Schwelle bezeichnen kann.

Die neuere Menschheit überschreitet eine Schwelle, an der ein be­deutsamer Hüter steht, ein ernster Hüter. Und dieser ernste Hüter spricht vor allen Dingen das aus: Bleibet nicht hängen an dem, was sich heraufverpflanzt hat aus den alten Zeiten. Sehet in eure Herzen, sehet in eure Seelen, daß ihr Neugebilde schaffen könnet! Diese Neu­gebilde könnet ihr nur schaffen, wenn ihr den Glauben habt, daß aus der geistigen Welt heraus die Erkenntniskräfte und die Willenskräfte zu diesem geistigen Neuschaffen kommen können. - Was dem einzelnen Menschen beim Betreten der höheren Erkenntniswelten ein besonders intensives Ereignis sein muß, gewissermaßen unbewußt geht es für die ganze Menschheit in der Gegenwart vor sich. Und diejenigen, die sich zusammengeschlossen haben als anthroposophische Gemeinschaft, sie sollten einsehen, daß es zum Notwendigsten in der Gegenwart gehört, die Menschen zum Verständnis dieses Durchgehens durch das Schwel­lengebiet zu bringen.

So wie der Mensch als Erkennender begreifen muß, daß sein Den­ken, Fühlen und Wollen sich in einer gewissen Weise trennt, und er es im höheren Sinne zusammenhalten muß, so muß der neueren Mensch­heit begreiflich gemacht werden, daß sich Geistesleben, Rechts- oder Staatsleben und Wirtschaftsleben voneinander trennen müssen und ein höheres Band des Zusammenhalts geschaffen werden muß, als es der bisherige Staat war. Nicht sind es irgendwelche Programme, Ideen, nicht sind es irgendwelche Ideologien, welche einzelne dazu bringen können, anzuerkennen diese Notwendigkeit einer Dreigliederung des sozialen Organismus; sondern die tiefe Erkenntnis von der Fortent­wickelung der Menschheit ist es, die uns zeigt, daß diese Entwickelung an ein Schwellengebiet gelangt, daß der ernste Hüter dasteht, daß er verlangt - so wie er für den einzelnen Menschen verlangt, der zur hö­heren Erkenntnis fortschreitet: Erdulde die Trennung in Vorstellen, Fühlen, Wollen -, daß er so für die ganze Menschheit verlangt: Glie­dere auseinander dasjenige, was in chaotischer Einheit in dem Götzen Staat verflochten war bis heute, gliedere das auseinander in ein geisti­ges Gebilde, in ein Rechts-Staatsgebilde, in ein Wirtschaftsgebiet. -

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Sonst kommt die Menschheit nicht weiter, sonst birst auseinander, fällt auseinander das alte Chaos. Dann aber, wenn es auseinander­fällt, wird es nicht die für die Menschheit notwendige Gestalt haben, sondern eine ahrimanische oder luziferische Gestalt, während ihm die Christus gemäße Gestalt allein die aus der Geisteswissenschaft heraus erfolgende Erkenntnis von dem Schwellengang in der Gegenwart ge­ben kann.

Das ist etwas, was wir, wenn wir richtig Anthroposophie verstehen, uns auch jetzt in der Weihnachtszeit sagen müssen. Uns muß das Kind­lein, das in der Krippe liegt, das Kindlein sein der geistigen Entwicke­lung in eine Menschenzukunft hinein. Wie die Hirten auf dem Felde ihren Gang angetreten haben nach der Verkündigung, wie die Magier des Morgenlandes ihren Gang angetreten haben nach der Verkündi­gung, um zu schauen, wie als kleines Kind erschien dasjenige, was die Menschenwelt vorwärtsbringen sollte, so muß die neue Menschenwelt den Gang machen zur Initiationswissenschaft, um aus der Initiations­wissenschaft, ich möchte sagen in der Gestalt des kleinen Kindes, wahr­zunehmen, was da werden soll für die Zukunft der von der Geisteswis­senschaft getragene dreigliedrige soziale Organismus. Bersten müßte die alte Staatsform, wenn der Mensch sie nicht zur Gliederung brächte, bersten müßte sie so, daß sie von seibt, von sich aus, entwickeln würde auf der einen Seite ein Geistesgebiet - das aber dann erst recht chaotisch wäre, das vollständig ahrimanisch-luziferische Züge annähme und auf der anderen Seite ein wirtschaftliches Gebiet, wiederum mit luziferisch­ahrimanischen Zügen, und das eine wie das andere würde Fetzen des Staatsgebildes nach sich ziehen. Im Orient würden sich mehr ahrima­nisch-luziferische Geiststaaten entwickeln, im Westen mehr ahrima­nisch-luziferische Wirtschaftsstaaten, wenn der Mensch nicht durch die Durchchristung seines Wesens begreift, wie er das vermeiden kann, wie er aus seiner Erkenntnis, aus seinem Willen heraus die Dreigliede­rung dessen, was auseinander will, vornehmen kann.

Das wird dann sein die durchchristete menschliche Erkenntnis, das wird sein das durchchristete menschliche Wollen, und das wird sich in keiner anderen Art ausleben, als daß es das alte Idol des Einheitsstaa­tes in seine entsprechenden drei Glieder auseinanderzieht. Diejenigen,

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die dann recht im Geistesleben drinnenstehen, die werden gleich den Hirten auf dem Felde erkennen, was die Erde erfährt durch das Chri­stus-Wesen. Und diejenigen, die recht im Wirtschaftsleben, in den wirt­schaftlichen Assoziationen drinnenstehen, die werden im rechten Sinne einen Willen entwickeln, der eine durchchristete soziale Ordnung bringt.

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SECHZEHNTER VORTRAG Dornach, 26. Dezember 1920

Wir wollen uns einmal einige von den Tatsachen in die Erinnerung zurückrufen, welche in diesen Tagen Gegenstand unserer Betrachtung waren. Ich habe auf die bedeutsame Tatsache hingewiesen, welche dar­innen liegt, daß in der Erzählung des Mysteriums von Golgatha auf­tauchen auf der einen Seite die Hirten mit ihrer Verkündigung, also Menschen einfachen Gemütes, auf der anderen Seite die Magier aus dem Morgenlande, also nach der damaligen Zeitauffassung Menschen, die aufgestiegen sind zur höchsten Weisheit, die zu erlangen war. Aus den Sternen heraus und den Geheimnissen, die ihnen die Menschheit abgelauscht hatte, verkündigte sich das Mysterium für die Magier. Aus dem, was aus frommen Herzen in der damaligen Zeit noch als eine gewisse Art des Hellsehens auftauchen konnte, verkündigte sich das­selbe für die ungelehrten einfachen Hirten. Wir werden dabei - so führte ich aus - auf die letzten Reste alter Menschheitsanschauungen hinge­wiesen, welche in viel früheren Zeiten gewissermaßen die normalen Menschheitsanschauungen waren, die dazumal, als das Mysterium von Golgatha eintrat, in letzten Resten bei auserlesenen Menschen der ei­nen Art, der Gelehrtenart, oder auch bei auserlesenen Menschen der ungelehrten Art noch aufgetreten sind. So daß man etwa sagen kann, in der Zeit, als bei einzelnen Menschen noch letzte Reste alter Mensch­heitsanschauung vorhanden waren, die gerade noch hinreichten, um das Übersinnliche des Ereignisses von Golgatha zu erfassen, da trat auch dieses Ereignis von Golgatha auf Erden ein.

Nun charakterisieren wir noch einmal, wie diese Erkenntnisarten bei den Menschen sind. Wir haben auf der einen Seite die Hirten. Sie erfahren durch innere naive, instinktive Schauungen dasjenige, was in der Menschenwelt geschieht. Solche innere Schauungen - darauf habe ich Sie aufmerksam gemacht - rühren davon her, daß die Kräfte des Erdenplaneten in den Menschen hereinwirken. Diese Kräfte des Er­denplaneten wirken ja nicht bloß in den niederen Reichen, sondern sie wirken auch im Menschen. Die neuere Menschheit, namentlich die

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Menschheit der Gegenwart, erlebt im Inneren nicht mehr Unmittel­bares von diesen irdischen Kräften, die gewissermaßen aufsteigen aus dem Erdenplaneten und im Inneren des Menschen dann in Schau­ungen auftreten. Aber je weiter wir zurückgehen in der Entwickelung der Menschheit, desto mehr finden wir solche im Inneren des Men­schen auftretende Schauungen, welche in ihrer ganzen Konfiguration, in ihrer besonderen Art und Weise verschieden sind je nach den ver­schiedenen Klimaten, nach den verschiedenen Erdenterritorien und so weiter. Was man dabei äußerlich entdecken kann, das ist allerdings vielfach trügerisch, denn die Menschen der älteren Zeiten waren auch nicht durchaus seßhaft. Was ihnen an inneren Erkenntnisfähigkeiten durch die Kräfte des Erdenplaneten zugekommen ist, das haben sie in irgendeinem Territorium der Erde entwickelt, sind dann durch Völker-und Stammeswanderungen nach anderen Territorien gezogen und ha­ben dann das durch Vererbung weiter fortgepflanzt. So daß wir nicht immer sagen können, daß dasjenige, was da auftrat als innere Schau­ungen, unmittelbar zusammenhing mit dem Territorium, auf dem es gerade durch Menschen auftrat.

Geradeso wie die Tierwelt eines bestimmten Erdenteiles eine ganz bestimmte Konfiguration hat - bei den Tieren drückt sich das mehr aus im äußerlichen Wachstum, in der äußerlichen Formung, in der Lebensweise -, so hatten die Menschen, als sie noch näherstanden den Kräften der Natur, einen Zusammenhang in bezug auf ihre innere Konfiguration mit dem, was innere Kräfte der Erde sind. Allerdings sind diese inneren Kräfte der Erde wiederum nicht ganz unabhängig von den Kräften des Universums. Der Mensch ist in seinem Leben zwi­schen Geburt und Tod diesen Erdenkräften hingegeben. Er ist ihnen hin­gegeben in bezug auf gewisse Glieder seiner menschlichen Wesenheit, in bezug auf den physischen Leib, in bezug auf den ätherischen Leib. Nicht in bezug auf den astralischen Leib und das Ich, aber in bezug auf den physischen Leib und den ätherischen Leib ist der Mensch durch­aus den Kräften der Erde hingegeben. An das, was da unten im Erden-reich, möchte ich sagen, tätig ist, an das ist der Mensch mit seinem phy­sischen Leib und mit seinem Atherleib hingegeben. Und da in den älteren Zeiten die Menschheit viel abhängiger war vom physischen

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und Ätherleib, als sie es heute ist, so drückte sich auch das, was als Wirkungen der Erde in den Menschen tatig ist, mehr in dem Bewußt­sein der Menschen aus, und das vermittelte für die Menschen nament­lich ein gewisses instinktives Tätigsein des Gemütes mit Bezug auf die Erkenntnis der Menschenwelt selber, mit Bezug auf die Erkenntnis des Erdenplaneten, mit Bezug auf die Erkenntnis aber auch sogar der Tier­welt.

Man lernte in alten Zeiten die Tierwelt kennen, indem man von jeder Tierart ein bestimmtes Bild, eine bestimmte Imagination hatte. Wir haben zurückbehalten von dieser Imagination, welche die Alten von den Tierarten hatten, nur den abstrakten Artenbegriff. Wir re­den von der Art oder der Gattung von Wölfen, Tigern und Katzen und so weiter. Das sind die letzten abstrakten Überreste dessen, was in alten Zeiten als lebendige Bilder vorhanden war, was in Anschauung, in instinktiver Anschauung vorhanden war. Ebenso hatte der Mensch im Verhältnis zu den anderen Menschen in älteren Zeiten nicht jenes abstrakte Gefühl, das wir heute haben gegenüber unseren Nebenmen­schen, an denen wir ja fast vorbeigehen, ohne sie wirklich kennenzu­lernen; sondern durch das, was in der geschilderten Weise im Inneren der Menschen an Kräften lebte, bekam der Mensch, wenn er dem Men­schen begegnete, ein allerdings durch das gemeinsame Karma, durch das gemeinsame Schicksal bestimmtes, aber eben doch ein bestimmtes Bild, eine Anschauung von seinem Nebenmenschen, die sehr konkret als naive Imagination auftrat.

Ebenso lebte in dieser Urmenschheit vielfach etwas, was den gan­zen Erdenpianeten oder, wenigstens für viele Völker, die Territorien, auf denen sie lebten, anging. Das war ein innerliches Anschauen ge­genüber dem Erdenplaneten, selbst gegenüber den Vorgängen in der Menschenwelt, die sich im sozialen Leben auslebten, und auch gegen­über den Vorgängen in der Tierwelt. Aus diesem innerlichen Anschauen hat sich dann unser gewöhnliches Sinnesanschauen entwickelt. Man könnte sagen, was den ganzen Menschen innerlich erfüllt hat, das in­nerliche Wahrnehmen, Schauungen bilden, das hat sich bei den Men­schen ganz nach der Oberfläche der Sinne hin geschlagen in der neue­ren Zeit, und das ist unser Anschauen geworden, wie wir es heute namentlich

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im naturwissenschaftlichen Anschauen anbeten, wo wir nur gelten lassen wollen all das, was der Verstand aus den Anschauungen der Sinne kombiniert. Dieses sinnliche Anschauen, dieses Anschauen, mit dem wir heute den Sinnesteppich überblicken, ist der Abkömmling dessen, was uns entgegentritt, wenn wir in Wirklichkeit, nicht mit den Phantasmen der heutigen Psychologie oder Anthropologie, die alten Zeiten der Menschheitsentwickelung studieren. Was uns entgegen-trat in alten Zeiten als innerliches Schauen, das ist heute zunächst un­ser äußerliches Schauen geworden.

Das andere, was uns nun charakterisiert wird durch das Wissen der Magier aus dem Morgenlande, das ist abstrakt geworden. Es ist das, was nun den entgegengesetzten Weg genommen hat. Während das innerliche Schauen sich an die Oberfläche geschlagen hat und Sinnes-anschauung geworden ist, hat das äußerliche Anschauen, das sich aus­drückte in dem imaginativen, instinktiv-imaginativen Wissen von der Sternenwelt und ihren Geheimnissen - was ausgedrückt wurde in der alten Art der Astronomie, die allerdings auch mit Zahlen rechnete, die mit Figuren geometrisierte, um diesen platonischen Ausdruck zu ge­brauchen -, hat diese Anschauung, die gewissermaßen eine lebendige Mathematik im Weltenall verwirklicht sah, in dem jeder Stern zu glei­cher Zeit Geistig-Wesenhaftes war, den entgegengesetzten Weg genom­men (siehe Zeichnung). Die andere Anschauung ging an die Sinnesober­

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fläche, wurde das, was wir heute unsere äußere Anschauung, unsere Empirie nennen. Dasjenige aber, was äußere Anschauung war, ging in das Innere des Menschen und wurde die abstrakte Mathematik, die abstrakte Mechanik oder Phoronomie, alles das, was als mathema­tisch-mechanisches Wissen aus unserem Inneren aufsteigt.

So haben wir allerdings in dem, was heute an den Menschen auf der einen Seite als Sinnesanschauung, auf der anderen Seite als mathe­matisch-mechanische Konstruktion der Welt herantritt, die Erbschaf­ten, die abstrakten Erbschaften der alten, instinktiven Schauungen der Menschheit. Es sind namentlich, wenn das auch der äußeren Anthro­pologie so unzugänglich ist, im wesentlichen seit dem Eintritt des Mysteriums von Golgatha die letzten Reste alter Anschauungen da­hingeschwunden. Bei der Mehrzahl der Erdenbevölkerung waren sie schon viel früher verschwunden, denn wir müssen in sehr, sehr frühe Jahrtausende zurückgehen, in die Jahrtausende, ehe von dem Hoch­land von Turan ausgegangen ist, was dann ägyptisch-chaldäische, grie­chische Kultur und so weiter geworden ist, wenn wir diese uralten An­schauungsweisen der Menschheit wirklich kennenlernen wollen. Aber die letzten Reste treten uns noch in der christlichen Tradition durch die Anschauung der Hirten entgegen, die ein wichtiges Menschheits­ereignis kennenlernen durch instinktives imaginatives Hellsehen, und durch die Anschauung der Magier aus dem Morgenlande, die aus der Sternenweisheit heraus dasselbe sehen.

Diese uralten Anschauungsweisen werden uns ja in ihren letzten Resten als ein deutliches Merkzeichen innerhalb der Menschheitsent­wickelung vermittelt. Seit dem Mysterium von Golgatha hat sich dann immer mehr und mehr die neuere Anschauungsweise ausgebreitet, die sich übrigens schon im Griechentum vorbereitete, denn die Dinge ge­hen nicht schroff ineinander, sondern bereiten sich vor und glimmen ab. Es hat sich vorbereitet im Griechentum dasjenige, was im Grunde genommen intensiv erst in der allerneuesten Zeit geworden ist, was insbesondere sich in der Menschheitsentwickelung seit der Mitte des 15.Jahrhunderts zeigte und was seinen Höhepunkt dann erst im 19. Jahrhundert erlangt hat, deutlich aber schon im 18.Jahrhundert ge­worden ist, namentlich im europäischen Westen. Es besteht darin, daß

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die alte geistdurchsetzte Anschauung der Himmelsweiten zur abstrak­ten Mathematik und Mechanik geworden ist; so daß wir den Himmel im galileisch-keplerischen Sinne überschauen, wie wenn er begreiflich wäre als ein bloßer Gegenstand der Mathematik und Mechanik, und daß wir dasjenige, was wir Wahrnehmungen nennen, beschränken müs­sen auf das, was uns nur die Sinne vermitteln, daß untätig geworden ist die Wahrnehmungskraft des ganzen Menschen, die instinktiv in Urzeiten vorhanden war.

Wir haben es ja oftmals gesagt, daß die Menschheit wiederum zu­rückkehren muß dazu, Schauungen zu entwickeln. Was als Mathema­tik, als Mechanik im Inneren aufsteigt, das muß wiederum zur Ima­gination entfaltet werden. Was von außen sich nur durch den Sinnes-teppich anwenden läßt und dann ins Spekulieren kommt und allerlei mechanische Theorien über die Sinnesvorgänge entwickelt, von aller­lei Wellenschwingungen oder dergleichen redet, das muß wiederum unterworfen werden den Schauungen der Inspiration. Dadurch wird die Menschheit wieder die Anknüpfung finden an ihren eigentlichen Ursprung, an das Geistige, das ja des Menschen ureigenstes Wesen ist. Also als letzte Reste haben wir erhalten aus diesen alten Zeiten die mathematische Anschauung und das, was äußere Sinnesanschauung ist. Und was ist damit heraufgekommen in der Menschheitsentwicke­lung?

Sehen wir uns einmal das 18. Jahrhundert an. Gehen wir zurück bis zu dem englischen Philosophen Locke, der einen so großen Ein­fluß auf die Entwickelung der Wissenschaften genommen hat. Da fin­den wir zunächst hingewiesen durch Locke als auf die einzig mögliche Erkenntnis auf diejenige, die zunächst durch die Sinne vermittelt ist. Nur Sinnesanschauung durfte mathematisch kombiniert werden, weil man eben - besonders im Westen, der Osten hat sich immer dagegen gestemmt - nur erhalten hat die äußere Sinnesanschauung, und die innere Anschauung bloß eine abstrakt-mathematische geworden ist.

In Frankreich zeigte sich im 18.Jahrhundert, daß man versuchte, den Menschen zu begreifen, Antwort zu geben auf die Frage: Was ist der Mensch eigentlich? - Man wollte den Menschen erkennen durch das, was der Mensch nun selber an Erkenntniskraft aufbringen kann.

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Und es entstand ein solches Werk wie: «Der Mensch eine Maschine» von de La Mettrie. Das ist nicht entstanden aus dem bloßen Einfall eines Menschen heraus, sondern das ist entstanden aus einer welthistorischen Notwendigkeit der Menschheitsentwickelung. Das Entsprechende in uralten Zeiten wäre gewesen, daß aus all der Wissenschaft, die die alte Astronomie hat gewinnen können über die Himmelserscheinungen, man den Menschen aus dem ganzen Makrokosmos heraus begriffen hätte; daß man gewissermaßen mit der qualitativen Mathematik, die aber nichts anderes ist als die alte Astronomie, oder sagen Sie meinet-willen Astrologie, daß man aus diesem heraus den Menschen begriffen hätte. Da wäre der Mensch konkret begriffen worden, wenn auch nicht mit unserem bewußten Erkenntnisvermögen, so doch mit dem instinktiven Erkenntnisvermögen der Alten.

Was bleibt von dem zurück? Im Weltenall dachte man sich nur rein abstrakt ausgebreitet mathematische Linien, Kräfte, wie man sie innerlich abstrakt fassen kann. Man wollte sich den Menschen vorstellen als Maschine. Ein geistvolles Werk, das im Grunde genommen den Menschen nur nach den mathematisch-mechanischen Kräften vorstellen will, das hat dann weiter gespukt im 19. Jahrhundert, das hat alle wissenschaftlichen Anschauungen überschwemmt. Man hat sich höchstens theoretisch dagegen aufgelehnt. Man hat gesagt: Ja, das kann nicht so sein, da muß noch irgend etwas anderes im Menschen wirksam sein. - Aber man hat nichts anderes angewendet, wenn man auch theoretisch-philosophisch zugab, daß das nicht so sein kann, wie es in dem Werk «Der Mensch eine Maschine» dargestellt wird. Man hat doch keine anderen Kräfte angewendet zum Begreifen des Menschen als diejenigen, die man im Grunde auch bei der Maschine anwendet. Die Menschen mußten einmal durchgehen durch die Entwickelung des Geistes, der zwar im abstraktesten Sinne Geist ist, der aber, weil er eben nur im abstrakten Sinne Geist ist, nur das MechanischMineralische begreifen kann. Nur dadurch ist dem Menschen das Bewußtsein der Freiheit gekommen. Möge noch so tumultuarisch im 18. Jahrhundert der Freiheitsdrang im Westen Europas erschienen sein, es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen jener armseligen Erkenntnis vom Menschen, die sich ausdrückt in «Der Mensch eine Ma-

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schine», und dem Drang nach menschlicher Freiheit, wie er sich ausdrückt in der Französischen Revolution. Auf der einen Seite ist die ärgste Dekadenz des Erkennens aus inneren Kräften, auf der anderen Seite das intensive Fordern der Menschenwürde in der Freiheit.

Das andere, die Anschauung, die der Mensch im Inneren gehegt hat, sie wurde bis in die Sinne hinein getrieben und verblaßte bis zum äußeren Sinnesanschauen. Nichts mehr wurde ihr von dem, was den Menschen zum Menschen in der Anschauung führt; da blieb nur das Gefühl zurück als sozialer Motor. Und im 19. Jahrhundert, da traten dann namentlich in Mitteleuropa, im Westen auch schon im 18. Jahr­hundert, diejenigen Persönlichkeiten auf - im Westen Dupuis, in Mit­teleuropa dann solche Geister wie Ludwig Feuerbach und andere -, welche in der eigentümlichen Art, wie alles derartige in Mitteleuropa dann erfaßt wurde, sich erinnerten, daß die Menschheit im Laufe ihrer Entwickelung im Hinaussehen in den Makrokosmos Geistiges geschaut hat, Götter oder zuletzt Gott geschaut hat. Aber da trat der starke In­stinkt davon auf: Wenn ich in die Außenwelt hinausschaue, da habe ich ja nur den Sinnesteppich, da habe ich nur das, was der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist. Was da überliefert wird, was man einst­mals aus den Sternen leuchten gesehen hat, die ja auch Sinnendinge zu­nächst sind, dasjenige, was gegeben worden ist als geistiger Inhalt der mineralischen, der pflanzlichen Welt, das - so sagte man sich - haben die Menschen hineingedichtet, das ist alles Anthropomorphismus, das haben aus ihrer Phantasie heraus die Menschen in die Außenwelt hin­einverlegt. Nicht die Götter haben die Menschen geschaffen, die Men­schen haben aus ihrem Seelenwesen heraus die Götter geschaffen. -Dupuis zuerst, dann solche Leute wie Ludwig Feuerbach in der Mitte des 19. Jahrhunderts, haben das vor die Menschen hingestellt.

Auf der anderen Seite haben dann wiederum solche Geister wie Darwin und diejenigen, die in ähnlicher Weise gesinnt waren, stark geltend gemacht, daß der Mensch eben als Anschauung nur die äußere Sinnesanschauung hat. Sie haben Lehren begründet, in denen nur diese äußere Sinnesanschauung leben sollte. Und da zeigte sich: der Mensch kann nicht durch diese Lehren begriffen werden. In einer grandiosen Ideenkonstruktion ist eine Entwickelungstheorie von den einfachsten

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Organismen bis herauf zu den komplizierten gegeben worden, und der Mensch ist an die Spitze der Tierwelt gestellt worden. Was begriff man vom Menschen? Man begriff vom Menschen dasjenige, was man äußerlich anschauen konnte durch bloße Sinneswahrnehmung.

Hatte man in Frankreich im 18. Jahrhundert ausgedacht, daß der Mensch eine Maschine sei, so schaute man jetzt im 19. Jahrhundert den Menschen nur von außen an, und man drang eben nicht vor in das Innere des Menschen. Nur die Menschenhülle bot sich dar. Diese Men­schenhülle aber steht an der Spitze des Tierreiches. Was diese Men­schenhülle umschließt, das steht aber gar nicht an der Spitze des Tier-reiches, sondern rührt aus ganz anderen Welten her, in die man keinen Einblick mehr hatte, weil nur die sinnliche Anschauung vorhanden war, zu der sich das alte Hellsehen entwickelt hatte, weil nur vorhan­den war die Mathematik und Mechanik, zu der sich die alte Astro­nomie, die eine lebendige Geistwissenschaft war, entwickelt hatte. So konnte man durch die innere Wissenschaft den Menschen nur als Ma­schine konstruieren, so konnte man durch die äußere Wissenschaft den Menschen überhaupt nicht konstruieren, sondern nur seine Hülle. Der Mensch kam allmählich abhanden. Und heute hat man ja im Grunde auch kein Bewußtsein davon, wie weit man den Menschen gerade in der Erkenntnis verloren hat. Man anatomisiert die Tiere, man betreibt Physiologie der Tiere und überträgt dann das mit eini­gen Modifikationen auf den Menschen. Aber eine wirkliche Menschen-erkenntnis hat das heutige Streben nicht. Der Mensch kann heute aus dem, was er gerade als höchste Autorität anerkennt, aus der Wissen­schaft, kein Bewußtsein vom Menschen gewinnen. Unserem wissen­schaftlichen Gesinntsein ist vorangegangen der Mensch als Maschine, ist vorangegangen das Begreifen der sinnlichen Außenwelt, innerhalb welcher der Mensch nicht gefunden werden kann.

In einem der neueren Bücher - seitdem ist ja auch schon wieder ein neues erschienen; es wachsen sich zuletzt die Broschüren, welche die Anthroposophie heute widerlegen sollen, zu ganzen Büchern aus -, in dem vorletzten größeren Buch gegen die Anthroposophie finden wir, wie manches in der Anthroposophie erinnern soll an alte Mythologien. Ja, eigentlich liegt einem solchen Tun nur das zugrunde, daß der Betreffende

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eben so gar nicht die Anthroposophie versteht. Der Verfasser dieser Schrift ist ein Lizentiat der Theologie, ein sehr gelehrter Herr. Gelehrte Herren sind sie ja alle, das kann man immer als Refrain sa­gen, wenn man sich an die berühmte Rede in Shakespeares «Julius Cä­sar» erinnert: Ehrenwerte Männer sind sie alle. - Gelehrte Herren sind sie ja alle, und dieser findet eben, weil er Anthroposophie so gar nicht versteht, etwas Übereinstimmendes mit alten Mythologien.

Wir wissen, daß es sich bei Anthroposophie um ein vollbewußtes Erfassen der Welt handelt, um ein Erfassen der Welt, das mit solchem Bewußtsein geschieht, wie sonst nur in der Mathematik die Wirklich­keiten innerlich durchschaut werden, also daß es sich wahrhaftig nicht um mythologische Dichtungen handelt. Aber dennoch werden wir manchmal, indem unser Inneres in tiefer Weise erregt wird, gerade durch Anthroposophie aufmerksam gemacht auf das Sinnvolle alter Mythologien, alter mythologischer Anschauungen. Diese alten Mytho­logien sind durchaus nicht in dem Sinne Dichtung, wie heute etwas Dichtung ist, sondern sie sind aus den naiven Imaginationen, die aber einem gewissen Weltinhalte entsprechen, hervorgegangen. Nur gaben sie eben das, was dieser Weltinhalt in sich hatte, bildhaft. Und wenn man das tief Bedeutsame dieser Bilder auf sich wirken läßt, dann zeigt sich manchmal etwas ganz Wunderbares an Erkenntnissicherheit in diesen alten Bildern, und ich möchte heute gerade erinnern an ein altes indisches Gedicht, das an den Gott Varuna gerichtet ist, und das ich etwa in der folgenden Weise Ihnen geben möchte:

Varuna ist der Kraftende in allen Wesen.

Varuna ist es, der in den Wäldern die Luft ausgebreitet hat.

Varuna ist es, der in den schnellfüßigen Tieren die Schnelligkeit bewirkt.

Varuna ist es, der in den milchtragenden Kühen die Milch bewirkt.

Varuna ist es, der in dem menschlichen Herzen den Willen erregt.

Varuna ist es, der in den Wolkenwassern die Blitzesstrahlen erregt.

Varuna ist es, der am Himmelsgewölbe das Licht der Sonne scheinen läßt.

Varuna ist es, der auf dem Berg den Somatrank erzeugt.

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Wir finden in einer wunderbaren Weise in dieser Ansprache an Varuna dasjenige, was ich Ihnen gestern ausgeführt habe. Fassen wir zuerst, was sich aus den inneren Kräften der Erde in den Menschen hereinbegibt in seinen physischen und in seinen Ätherleib, so daß dann nur der Astralleib und das Ich in sein Bewußtsein heraufkommen kön­nen und es verändern, fassen wir also auf, daß da die Erdenkräfte in das Bewußtsein hereinspielen und dasjenige bewirken, was im Inneren dann Schaukräfte wurden in alten Erdenzeiten, so finden wir das Sinnvolle, indem zuerst hingedeutet wird, wie es Varuna, der Gott der Verwandlungen, ist, der den Wind, die Luft durch die Wälder, das heißt, durch die flächenbedeckte Erde streifen läßt, wie diese selbe kraftende Wesenheit, indem sie von der Erde aus durch die Tiere wirkt, die Geschwindigkeit in den Pferden bewirkt, wie sie bewirkt die Le­benssubstanz in den Wesen, die Milch geben, wie sie aber in dem Her­zen des Menschen die Willensimpulse bewirkt, aus denen gerade das­jenige kam, was eben altes innerliches Hellsehen war. Wir haben, ich möchte sagen, in diesem Hindeuten etwas, was uns die Anschauungs­weise der Hirten auf dem Felde verständlich macht. Und in dem, was nun kommt, haben wir das, was uns verständlich macht die besondere Anschauungsweise der Magier aus dem Morgenlande. Denn Varuna ist es, der in den Wolkenwassern das Blitzesfeuer erregen läßt - man sieht hinaus in den Makrokosmos und findet da draußen die Kräfte, die auf die Magierweise erkannt werden -, der am Himmel das Licht der Sonne erscheinen läßt, und der auf dem Berge den Somatrank erzeugt, das, was im Menschen so wirkt, daß er überschauen kann die Welt.

Allerdings muß man da eine Anmerkung machen. Das Gedicht ist schon aus einer Zeit, in der nicht mehr die urälteste, reinste Anschauung vorhanden war in bezug auf die äußere Welt, in der man schon nicht mehr durch rein geistige Verrichtungen des Atmens, wie es in der alten Zeit üblich war, wo man nicht aus der Einatmung ersaugen wollte, was dann die Anschauung ergab der Weltenweiten, sondern wo man - und das wurde vielfach in den Spätmysterien gepflogen - durch einen ge­wissen Trank, den man aus Pflanzen bereitete, sich anregen wollte, nach außen zu schauen; so wie man dann später, als die innere An­schauung verlorengegangen war, durch Genießen von ganz bestimmten

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Substanzen innerlich sich anregen wollte. Im Orient wollte man sich durch gewisse Pflanzensäfte für die äußere Anschauung des Makro­kosmos anregen. Im Abendlande kam es dann auf, daß man sich durch innere Substanzen anregen wollte. Im Morgenlande nannte man das­jenige, wodurch man wieder durch äußere Mittel, durch Einnehmen von etwas, die Fähigkeit heraufbeschwören wollte, die im letzten Reste durch den Magier erschienen war, den Somatrank. Im Abendlande, bis ins späte Mittelalter herein, ja noch bis in die neuere Zeit nannte man das, was man innerlich einnehmen wollte, um jene Weisheit zu be­kommen, die innerliche Wahrnehmung hervorruft, den Stein der Weisen.

Sie werden in den gebräuchlichen Büchern, die Sie über den Orien­talismus unterrichten wollen, überall den Hinweis auf den Somatrank, auf den Somasaft finden. Allerlei sehr geistvolle Erklärungen finden sich darüber, weil die Menschen von der wirklichen Initiationsweisheit aus niemals darauf aufmerksam gemacht sind, was nun der Somatrank substantiell eigentlich ist. Ebenso werden Sie in allerlei historischen Büchern darauf hingewiesen, daß man ja nicht weiß, welche Substanz der Stein der Weisen ist. Allerdings habe ich auch nicht gerade vor, von diesen beiden Substanzen zu sprechen. Ich möchte nur auf das Humorvolle hindeuten, daß eine gewisse Gelehrsamkeit darauf hin­weist, daß man nicht wissen könne, was eigentlich der Somasaft ist, trotzdem eine große Anzahl von Menschen diesen Somasaft, der, wie das hier im Liede des Varuna mitgeteilt ist, auf dem Berge wächst, liter­weise trinken. Und so wird auch hingewiesen darauf, daß eine gewisse Substanz als der Stein der Weisen existiert, daß man nicht eigentlich wisse, was die gelehrten Alchimisten unter diesem Stein der Weisen verstehen, obwohl die Menschen auch der heutigen Zeit kiloweise die-sen Stein der Weisen verbrennen. Es handelt sich nur darum, diese Dinge in dem richtigen Lichte zu sehen. Es ist ein Merkwürdiges, daß da eigentlich oftmals als etwas höchst Unbekanntes hingestellt wird, was den Menschen sehr bekannt ist, weil sie nicht wissen, wie der Zusammenhang ihrer heutigen Anschauungsweise ist mit dem, was Anschauungsweise einer verhältnismäßig kurz zurückliegenden Zeit ist.

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Aber das müssen wir uns eben durchaus klarmachen, daß wir im Grunde genommen heute mit den schlimmsten Brillen in die Welt sehen und die Bedeutung des Allernächsten trotz unserer wissenschaft­lichen Ausbildung nicht kennen, nicht kennen die Wirkungen mancher Substanzen, die wir im alltäglichen Leben anwenden. Wir stehen in diesen Wirkungen drinnen, wir erleben sie. Aber ebenso wie heute die Gelehrsamkeit nicht weiß, was der Somatrank ist, wie sie nicht weiß, was der Stein der Weisen ist, trotzdem man nur wenige Menschen fin­den kann, die die betreffenden Substanzen nicht ganz gut kennen -sie wissen nur nicht, welche es sind -, ebensogut kann man sagen: Die Menschen von heute sehen, daß sich manches vollzieht in dem Verkehr zwischen den Banken und den Industrieunternehmungen, und die mei­sten Menschen schneiden ihre Coupons ab von den betreffenden Papie­ren, die sie bekommen, und sie wissen ebensowenig, was eigentlich das im ganzen sozialen Zusammenhang des Lebens bedeutet, wie sie auch das andere eben Angeführte nicht wissen. Unsere Anschauungsweise ist eben durchaus so, daß sie uns bebrillt, das heißt, mit Brillen ver­sieht, so daß wir unsere alltäglichen Verrichtungen haben, ohne irgend etwas über den inneren Zusammenhang der Welt in Wirklichkeit zu erkennen.

Es ist merkwürdig, wie die Menschen heute danach streben, inner­halb dieser an der Oberfläche schwimmenden Begriffe zu bleiben, wie sie nicht wollen untertauchen auf der einen Seite in ein neues Inneres, auftauchen auf der anderen Seite, aufstreben nach einem neuen äuße­ren Wissen. Aus dunklen Gefühlen ringt sich dem Menschen manchmal das heraus, was im Unbewußten die meisten Menschen eigentlich schon wollen, aber sie schrecken zurück vor dem Erheben dieses Wollens in das Bewußtsein.

Mir hat einer unserer Freunde in diesen Tagen die «Rheinische Mu­sik- und Theater-Zeitung» gegeben. Der erste Artikel dieser «Rheini­schen Musik- und Theater-Zeitung» sagt etwas aus den speziellen Er­lebnissen eines Musikers heraus, also aus der unmittelbaren Erfahrung in einem besonderen Falle des Lebens. Es ist außerordentlich interes­sant, was da jemand aus einem Spezialfall des Erlebens heraus nieder-schreibt. Ich will nur einige Sätze daraus lesen. Da lesen wir zum Beispiel:

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«Zu diesem inneren Problem der Musik kam nun mit der allge­meinen sozialen und wirtschaftlichen Umwälzung das äußere, das des neuen Publikums, welches ziemlich unvorbereitet an die Kunst heran­tritt. Welche Kunst hat bleibenden Wert, und wie bringt man die Kunst und das Volk zusammen? Das sind die beiden zur Zeit beson­ders wichtigen Fragen.»

Man muß sagen, die meisten Menschen fühlen noch nicht einmal das Schwergewicht dieser Fragen; hier fühlt man wenigstens das Schwergewicht dieser Fragen, denn diese Fragen sind mit furchtbarem Gewichte lastend in der Welt da.

«Viele, sehr viele Probleme würden besser und leichter gelöst wer­den, wenn der Musikerstand organisiert wäre. Noch aber fehlt uns die Musikerkammer, welche die gemeinsamen Interessen aller Fachmusi­ker vertreten könnte; noch sind nicht einmal die einzelnen Interessen­gruppen wirklich zusammengeschlossen. »

Nun denkt der Betreffende nach über die betreffende Organisa­tion. Er sagt nun: «Kaum einer der Verbände umfaßt alle Standes-genossen; am stärksten sind vielleicht der deutsche Musikerverband, der besonders die Orchestermusiker umfaßt, ferner die Organisationen der Musikalienhändler, die ja durch ihre wirtschaftlichen Ziele eine gemeinsame Basis haben. In weitem Abstand folgen dann die verschie­denen Gruppen der akademischen und nicht akademischen Musikleh­rer, der Gesanglehrer an Schulen, der Organisten, Dirigenten und Kri­tiker, sowie der schaffenden und reproduzierenden Musiker. Eigenbrö­delei und Rivalität haben hier manchen ferngehalten. Es fehlt noch viel, daß alle geistigen Berufsarbeiter die Notwendigkeit eines Zusam­menschlusses erkennen. So kam es denn, daß die Herrschaft auf musi­kalischem Gebiet besonders für alle öffentlichen Fragen gar nicht von Fachleuten ausgeübt wird, die wissen, was nottut, sondern daß vor allem im großen Staatsplan wie in den engeren provinzialen Gemeinde­verwaltungen Dilettanten dieses Amtes walten, heutzutage je nach Stärke der Parteien Politiker, die gewissermaßen nur nebenher die Kunst mitbetreuen, oft sicherlich mit gutem Willen, aber vielfach doch nicht mit der nötigen Sachkenntnis und Unvoreingenommenheit. So kam es, daß vor allem der Staat den berechtigten Forderungen der Musik

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gegenüber fast völlig versagt. Aber diese Erscheinung trifft nicht die Musik allein; sie ist typisch für alle kulturellen Angelegenheiten. Aus der Erkenntnis heraus, daß auch die wirtschaftlichen Fragen eines Volkes nicht von den bisher bestehenden, politisch orientierten Volks­vertretungen sachlich behandelt werden können, wurde jüngst ein neuer gebildet. Bei zirka 400 Sitzen waren knapp drei für die Künste eingeräumt; so bescheiden taxierte man deren Bedeu­tung ein! Und wenn wir schon glauben, daß ein bis zwei Stimmen nicht ausreichen, um auch nur in rein wirtschaftlichen Fragen die In­teressen des deutschen Musikerstandes zu vertreten, so müssen wir doch die Frage aufwerfen: wo werden überhaupt die kulturellen Interessen des Volkes beraten? Die bisherige Besprechung in den Parlamenten lehnen wir ab. Nicht ein einziger Fachmusiker sitzt unseres Wissens im Reichs­tag, und wären es ihrer zehn und zwanzig, so könnten sie doch nichts ausrichten, wo man nach Parteigesichtspunkten redet und stimmt.

So bleibt nur ein Weg, der logisch und klar ist, und deshalb eines Tages auch beschritten werden wird zum Heil unseres ganzen Volkes. Wir brauchen neben dem politischen Parlament, welches die rechtliche Stellung des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit und des gesamten Volkes gegenüber der internationalen Welt verwaltet, und neben dem Wirtschaftsrat, der die materiellen Grundlagen des Volkslebens be­treuen soll, einen Kulturrat, der sich der geistigen Dinge annimmt und deren Förderung zur Aufgabe hat.

Der Gedanke dieser Dreigliederung ist nicht neu. Er wurde aber jüngst erst auf eine präzise Formel gebracht durch Dr. Rudolf Steiner und wird nun von der Geschäftsstelle eines Bundes Stuttgart, Champignystraße 17, propagiert, von der jedermann weiteres Material zu der Frage erhalten kann.

Wer sich einmal in die Sache hineingedacht hat, wird von dem Ge­danken schwerlich wieder freikommen, so eindeutig ist er, und so sicher löst er die Probleme, mit denen wir uns seit langer Zeit hoff­nungslos herumschlagen. Die Durchführung wird und muß unser gan­zes Volksleben zur Gesundung führen!»

Ich lese Ihnen das aus dem Grunde vor, weil Sie hier aus einem ganz einzelnen Fach heraus die Sehnsucht nach der Dreigliederung

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haben. Nun, da kommen diejenigen, die eben hier abgelehnt werden müssen, die eigentlich nur eine äußere politische Erziehung haben und finden, diese Dreigliederung sei eine Utopie. Nein, sie ist keine Utopie, sie ist gerade aus der innersten Empfindung jedes einzelnen Faches her­aus genommen. Und jeder einzelne, der in einem ganz bestimmten Fache, in einem ganz bestimmten Gebiet drinnensteht, wie hier der­jenige, der den Artikel geschrieben hat - es ist der Herausgeber der Zeitung; eine Seltenheit, daß Zeitungsherausgeber heute in einer sol­chen Weise schreiben -, jeder einzelne, der in einem bestimmten, kon­kreten Fall drinnensteht, kann empfinden, wie gerade das praktischste Betrachten des Lebens dazu führt, zuletzt sich sagen zu müssen: «Wer sich einmal in die Sache hineingedacht hat, wird von dem Gedanken schwerlich wieder freikommen, so eindeutig ist er, und so sicher löst er die Probleme, mit denen wir uns seit langer Zeit hoffnungslos her­umschlagen. Die Durchführung wird und muß unser ganzes Volks-leben zur Gesundung führen!»

Nun, was hier bezeichnet wird als ein Element, das besonders be­gründet werden müsse, ein Kulturrat: es war in diesem Mai ein Jahr, daß der Kulturrat begründet worden ist. Und dieser Kulturrat, er ist verglommen, er ist heute vergessen. Am wenigsten verstanden ihn die­jenigen, die irgendwie gerade im wissenschaftlichen oder künstlerischen Leben in Amt und Würden drinnenstanden.

Das ist, was immer mehr und mehr betont werden muß: daß wir es gar sehr nötig haben, heute die Dinge außerordentlich ernst zu neh­men! Die Menschen finden es unbequem, dieses Ernstnehmen. Sie möch­ten immer wieder und wiederum glauben, es werde schon im alten Trott weitergehen. Nein, es wird nicht im alten Trott weitergehen! Wenn so weitergelebt wird, wie gelebt wird ohne die Anregungen, die aus der geistigen Welt heraus kommen, dann kann weiter Industrie getrieben werden, es können Banken da sein, es können Universitäten da sein, auf denen alle möglichen Wissenschaften gelehrt werden, es können die anderen Berufe weiter ausgeführt werden - alles führt in die Dekadenz, in die Barbarei, in den Untergang der Zivilisation hin­ein. Wer nicht ins unmittelbare Leben dasjenige hineinstellen will, was aus Geisteswissenschaft kommen kann, der will im Grunde genommen

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nicht den Aufstieg, der will den Niedergang. Und die Mehrzahl der Menschen will heute den Niedergang und lügt sich nur vor, daß aus dem Niedergang noch ein Aufgang kommen könne.

Das ist es, was ich insbesondere von verschiedenen Gesichtspunk­ten her gelegentlich dieses Weihnachtsfestes hier besonders betonen wollte. Lassen Sie doch die anderen Leute weiter im alten Sinne jene gewohnten Gänge machen, die immer in der neueren Zeit wie eine große Lebenslüge gemacht worden sind! Mir trat diese Lebenslüge ent­gegen, als ich ein junger Mensch war. In bezug auf das Leben, auf die Wirklichkeit, auf die Wahrheit des Lebens, verstand ich mich sehr wohl auf das Allerinternationalste und auf alles das, was wahrhaftig nicht zusammenhängt mit der Sympathie oder Antipathie für irgend­eine Menschenrasse, denn ich war lange Zeit, viele Jahre, Erzieher in einem jüdischen Hause. Jedes Jahr aber, wenn die Weihnachtszeit herankam, da machte sich die ganze Verwandtschaft, entfernte und nahe Verwandte, alle machten sich auf die Strümpfe - und es waren alle durchaus solche, die dem Judentum angehörten -, um die Weih­nachtsgeschenke zu kaufen, um zuletzt den Weihnachtsbaum einzu­kaufen. Und alles das wurde getan, gerade so wie es die andere Be­völkerung, die sich christlich nennt, auch tut. Alles das wurde getan zu Ehren dessen, was man mit dem Satze verehrt: «Uns ist heute der Heiland geboren!» So sehr sind die Dinge zur Phrase geworden. Man will sich nur nicht gestehen, wie sehr die Dinge zur Phrase geworden sind, wie sie aufhörten, Inhalt zu haben! Es ist heute und es ist seit lange schon ganz gleichgültig, ob derjenige, der einen lebendigen Her­zensinhalt mit dem Heiland verbindet, zum Weihnachtsbaume sich setzt und Geschenke darunterlegt, oder ob einer, der in einem Diktum verharrt, das den Heiland ablehnt, ob der sich unter den Weihnachts-baum setzt und Geschenke darunter verteilt! An solchen Dingen muß man das real gewordene Lügen der Menschheit, die real gewordene Phrase in unserer Zivilisation durchschauen. Im Ernste muß man die Dinge durchschauen. Es handelt sich heute nicht darum, etwa zu sa­gen: Man darf nicht in dieser Weise radikal sein! - denn Nicht-radikal-Sein in dieser Beziehung bedeutet Mitmachen mit dem Hineinsegeln in den Niedergang der Menschheit.

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Das ist es, was ich gerade an diesem Weihnachtsfeste zur Sprache bringen wollte innerhalb desjenigen Gebietes, in dem nun wahrhaftig gar nichts im alten Stile da ist. Sie finden nichts von alten Baustilen in unserer Architektur hier am Goetheanum. Sie finden in dem, was sonst in diesem Goetheanum ist, schließlich auch nichts von dem, was vertreten wurde von den alten Gewohnheiten. Deshalb haßt man die­ses Goetheanum auf vielen Seiten so, weil eben nichts von den alten Gewohnheiten da ist. Aber es darf auch nichts da sein, denn es muß heute wenigstens eine Stätte geben - wenn man sie auch noch so sehr haßt, wenn man auch ihren Untergang wünscht -, es muß eine Stätte geben, die aufmerksam macht auf das, was der Menschheit heute not­wendig ist.

Das Goetheanum enthält nichts von Altem. Dasjenige, was sicht­lich die Wissenschaft des Goetheanismus ist, die hier gepflegt wird, die enthält wohl kaum irgend etwas von dem, was alt ist. Wenn wir irgend etwas für das praktische Leben begründen - das Echo, das ihm entgegenkommt, zeigt schon, daß es auch nicht gerade im alten Stil ist. Nun, ob in den Lebensgewohnheiten aller anthroposophischen Freunde auch schon alles Alte überwunden ist, darüber schweigt des anthroposophischen Vortragenden Höflichkeit. Aber den Wunsch möchte er aussprechen, daß immer mehr und mehr einlaufen mögen auch unsere Gewohnheiten, bis hinunter in unser Kinderbehandeln, in dasjenige, was wir als eine Notwendigkeit für die Menschheitsent­wickelung erkennen.

Das Jahr, das wir beginnen mit diesem Weihnachtsfeste, es wird für unsere anthroposophische Entwickelung kein leichtes Jahr sein; es wird ein schwieriges Jahr sein. Was uns entgegentritt, wird nicht an Kraft abnehmen, es wird an Kraft immer zunehmen. Denn diejenigen Mächte, die ein Interesse daran haben, Anthroposophie zu ruinieren, die sind sehr tätig, die sind sehr wach, wie ich oftmals gesagt habe. Und an eines möchte ich heute gerade erinnern: hier an diesem Orte stand, als in Dornach das «Futurum» begründet werden sollte, unser lieber Freund Herr Molt und sprach von dem, was ja auch ins prak­tische Leben einziehen sollte. Er hatte gewiß in jedem Worte recht. Ich ergriff hinterher das Wort und sagte, es wäre mir nicht bange um

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alles das, was man braucht, um anthroposophische Gedanken und Ideen und Empfindungen zu verkörpern in äußeren praktischen Ein­richtungen; nur um das eine sei mir bange - so sagte ich dazumal -, ob wir auch eine genügend große Anzahl von Menschen finden, welche Tüchtigkeit an den Tag zu legen vermögen, um so etwas durchzu­führen.

Das ist gar sehr notwendig, daß wir immer anstreben, die tüchtigen Menschen in der Welt zusammenzubringen, welche die Fähigkeiten entwickeln können, das, was Anthroposophie sein kann, wirklich auch praktisch zu machen, denn die neueren Jahrhunderte haben nicht nur das menschliche Wissen etwa stumpf gemacht, sie haben tatsächlich auch die praktischen, die eigentlich wirklich praktischen Fähigkeiten der Menschen zurückgedrängt. Und notwendig ist es, daß die Men­schen versuchen, aus den tiefsten Untergründen ihres Wesens - denn da hat jeder Mensch die Kräfte, welche nötig sind - wirklich diese Kräfte hervorzuholen. Wir brauchen eine solche Erneuerung auch der äußeren praktischen Kräfte der Menschheit aus des Menschen tiefstem Inneren heraus. Diese Geburt sollte uns vorschweben: die Geburt eines Tüchtigen, das aus dem Inneren des Menschen heraus will, gegenüber dem Untüchtigen, das wir heute in der Außenwelt lernen können. Diese Geburt, sie sollte uns vorschweben bei alldem, was wir als die Weihnachtsstimmung empfinden.

Nehmen Sie auch in der Wissenschaft die Dinge, wo sie auftreten. Eine jüngere medizinisch studierende Persönlichkeit war vor einigen Tagen bei mir und sprach sich über verschiedene Nöte ihres Studiums aus. Ich konnte nur sagen: Das Schlimmste, was gegenwärtig geschieht, ist, daß gerade an den wichtigsten Wissenschaften die menschlichen Denkkräfte gar nicht entwickelt werden. Man nehme heute irgendein therapeutisches oder ein pathologisches Buch in die Hand: sehr häufig hat man Herzorgane, Lunge, Verdauungsorganismus und so weiter alles nebeneinander aufgestapelt nach äußerer sinnlicher Anschauung, möglichst mit Ausschaltung des Denkens. Und kommt man mit irgendwelchem Denken, dann passiert einem das, was mir eben pas­siert ist in dem Buche von Kurt Leese, dem Lizentiaten der Theologie. Er sagt einem: Die Lektüre der Steinerschen Schriften sei ärgerlich und

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unleidlich, denn der komme mit Gedanken, welche von der Dreigliede­rung des Menschen sprechen, und da solle man sich vorstellen, daß nun die drei Glieder nicht nebeneinander sind, sondern ineinander. - Das ist ein Gedanken-Bravourstück, meint der Lizentiat der Theologie, Kurt Leese.

Wer heute an unseren Universitäten Lizentiat der Theologie wird, dem hat das Studium gerade das Denken gründlich ausgetrieben! Und dann findet er aufreizend und unleidlich, wenn man von ihm verlangt, er solle denken; dann findet er gerade das am allerunbequemsten. Aber dann kommt es eben dahin, daß alles, was aus dem Innersten des Men­schen hervorquillt, zum Beispiel auch die Wahrhaftigkeit, selbst inner­halb der Führer des Christentums so auftritt, wie zum Beispiel bei jenem Pfarrer, der nicht etwa sagt, irgendein Betrunkener habe ihm erzählt, daß da eine Statue von Christus gemacht wird, der oben -wie er es als bestimmte Tatsache hinstellt - luziferische Züge und unten tierische Merkmale hat, sondern er stellt es hin als etwas, was er gewiß weiß. Also er stellt eine ganz objektive Lüge in ein Buch hinein, durch das er die Anthroposophie charakterisieren will. Und die Menschen nehmen solche Dinge hin, ohne sie zu monieren, ohne sich dagegen auf­zulehnen. Glauben Sie, daß irgendeine soziale Gesundung eintreten kann, wenn nebenbei in der sozialen Ordnung diese Dinge möglich sind? Wenn Sie das glauben, geben Sie sich einer falschen Hoffnung hin. Notwendig ist, daß der Mensch seine gesunden Sinne entwickelt für das, was moralisches Unkraut ist. Es kommt gar nicht darauf an, ob Anthroposophie angegriffen ist oder nicht, sondern es kommt dar­auf an, daß da ein Buch auftritt, in dem nicht eine, sondern eine ganze Anzahl solcher Unwahrheiten drinnenstehen. Wer solche Unwahrhei­ten in diesem Buche schreibt, schreibt sie selbstverständlich auch in seinen anderen. Das ist Gewohnheit. Und das lebt im Grunde genom­men in dem, was an die Jugend herangebracht wird. Das muß ins Auge gefaßt werden. Es darf nicht versäumt werden, auf das hinzuschauen.

Denn schließlich, wenn uns heute das Kind, das in der Krippe lag, etwas zu sagen hat, so ist es das: Es ist eine gesundende Erneuerung des Tiefsten notwendig, was im Menscheninneren lebt. Wir müssen zu einer neuen Verkündigung dessen kommen, was auf der einen Seite den

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armen Hirten auf dem Felde, auf der anderen Seite den weisen Magiern aus dem Morgenlande verkündet worden ist. Wir müssen aus dem Fundamente heraus verstehen können, was wirklich das Heilende, das Heilandartige in der menschlichen Entwickelung ist. Dann erst sind wir würdig, zu sagen: Uns ist der Heiland geboren. - Das haben wir nötig. Auf das wollte ich noch einmal hinweisen, bevor wir für eine ganz kurze Zeit die Vorträge hier unterbrechen müssen.

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HINWEISE

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schlusse des Bandes. Folgende Vorträge wurden in Zeitschriften veröffentlicht:

26. November und 4. Dezember1920: «Das Goetheanum», 10. Jahrg. 1931, Nrn. 43-47.

26. November - 4. Dezember 1920: «Blätter für Anthroposophie», 8. Jahrg. 1956,

Nrn. 1-6 (Januar-Juni).

17.-19. Dezember 1920: «Das Goetheanum», 17. Jahrg. 1938, Nrn. 20-28.

23. Dezember 1920: Nachrichtenblatt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft

vorgeht«, 16. Jahrg. 1939, Nrn. 51 und 52.

24. Dezember 1920: «Das Goetheanum», 12. Jahrg. 1933, Nr.52.

27 was ich im ersten einleitenden Eröffnungsvortrag... gesagt habe: Am 26. Sep­tember 1920 «Kunst, Wissenschaft und Religion», Ansprache zur Eröffnung der Anthroposophischen Hochschulkurse am Goetheanum; abgedruckt in der 1. Aufl. «Die Kunst der Rezitation und Deklamation», Dornach 1928 (inner­halb der Gesamtausgabe vorgesehen in Bibl.-Nr. 253).

«Wer Wissenschaft und Kunst besitzt...»: Goethe, Zahme Xenien VIII.

30 Das Eingeklammerte [] wurde vom Herausgeber eingefügt (Lücke in der Nach schrift).

39 die «Kernpunkte» ins Auge fassen: Siehe «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft», Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 23.

40 einen Vortrag, den Dr. Boos... gehalten hat: Roman Boos, 1889-1952, Sozial-wissenschafter, Schriftsteller; tatkräftiger Vertreter der Anthroposophie und der Dreigliederungsidee. Um welchen Vortrag es sich handelt, konnte nicht mehr festgestellt werden.

41 Elisabeth Baumann-Dollfus, 1895-1945.

42 So wurde mir... recht übelgenommen, ... dafl ich gesagt habe: Im Vortrag vom 16. November 1920 in Stuttgart »Die Wahrheit der Geisteswissenschaft und die praktischen Lebensforderungen der Gegenwart» (vorgesehen in Bibl.­Nr. 335) hatte Dr. Steiner geäußert: «Hermann Keyserling lügt, wenn er sagt, ich sei von Haeckel ausgegangen, denn daß er lügt, kann man nach­weisen, wenn man das betreffende Kapitel meiner Auseinandersetzungen mit Haeckel in meinen Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften . . . liest.»

Graf Hermann von Keyserling, 1880-1946, hatte in seinem Buch «Philosophie als Kunst», Darmstadt 1920, S. 241, geschrieben: » . . . jedenfalls ist für sein (Dr. St.s) Wesen symbolisch, daß seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsich­ten von Haeckel ausging.»

weil ich her Haeckel eine Broschüre geschrieben habe: «Haeckel und seine Gegner», 1900. Abgedruckt in «Methodische Grundlagen der Anthroposophie», Gesammelte Aufsätze 1884-1901, Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 30.

48 Wir haben bei anderen Gelegenheiten auf diese luziferische Durchseuchung . . . hingedeutet: Siehe die Vorträge vom 27. Oktober und 4. November 1919 in

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«Der innere Aspekt des sozialen Rätsels - Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft», Gesamtausgabe Dornach 1968, Bibl.-Nr. 193 und den Vortrag vom 1. November 1919 in Dornach (vorgesehen in Bibl.-Nr. 191).

51 Ferdinand Foch, 1851-1929, französischer Heerführer. Erich Ludendorff, 1865-1937, deutscher General.

Dou glas Hai g, 1861-1928, britischer General.

52 Nürnberger Ärztekollegium: Welches ein Gutachten gegen den Bau der Eisen­bahn verfaßte; vgl. R. Hagen «Die erste deutsche Eisenbahn» 1885, S. 45.

der Berliner Postmeister: Karl Ferdinand Friedrich von Nagler, 1770-1846.

55 Friedrich von Schiller, 1759-1805. «Über die ästhetische Erziehung des Men­schen» in einer Reihe von Briefen aus den Jahren 1793-1795; erschien erst­malig in den «Horen» 1795.

Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832. Das «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie; erschien erstmalig in den »Horen» als Ab­schluß der Erzählung «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten».

55 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831. «Phänomenologie des Geistes»,

1807; »Wissenschaft der Logik», 1812; «Enzyklopädie der philosophischen

Wissenschaften», 1817; »Grundlinien der Philosophie des Rechts», 1820 u. a.

Vollständige Ausgabe in 19 Bänden, Berlin 1832ff.

55 ff. Arthur Schopenhauer, 1788-1860. Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung», 1819. - Sämtliche Werke in 12 Bänden mit einer Einleitung von Dr. Rudolf Steiner, Stuttgart 1894.

57 die reizvollste Abhandlung Schopenhauers: «Über den Willen in der Natur», Frankfurt a. M. 1836; im 6. Band der oben genannten Ausgabe.

59 Charles Darwin, 1809-1882, englischer Naturforscher und Biologe.

61 hat Eduard von Hartmann öffentlich drucken lassen: In »Philosophische Fra­gen der Gegenwart», Leipzig und Berlin 1885, heißt es im 1. Kap., S. 3: «Daß unsere Studenten gar nicht daran denken, in Hegel's Werken zu lesen, darüber braucht man sich nicht zu wundern, wenn man bedenkt, daß, abgesehen von dem Philosophiehistoriker Kuno Fischer und dem Ästhetiker Carriere, die noch nicht greisenhaften unter unseren Philosophieprofessoren selber wohl höchstens einen gelegentlichen Blick der Curiosität halber hineingeworfen ha­ben...», und als Fußnote: »Nach dem Tode von Paul Asmus dürften Adolf Lasson und Joh. Volkelt die einzigen hegelisch gebildeten Dozenten sein.»

63 «Parerga und Paralipomena»: Kleine philosophische Schriften, Frankfurt a. M. 1850, im 8. und 9. Bande der oben genannten Ausgabe.

64 Friedrich Schleiermacher, 1768-1834. Siehe «Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche», 2 Bde., Berlin 1821/22.

da erwiderte Hegel: Wörtlich: «Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er

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trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch

Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen

Befriedigung wird.» - «Vorrede zu Hinrich's Religionsphilosophie», im 2.

Bande der Vermischten Schriften, Berlin 1835, S. 295.

65 die Geschichte, wie sie uns bei Hegel entgegentritt: «Vorlesungen über die Phi­losophie der Geschichte» hg. von Eduard Gans, im 9. Bande der obengenannten Ausgabe.

als ich einen Aufsatz über Eduard von Hartmann schrieb: «E. v. H. Seine Lehre und seine Bedeutung», in der Monatsschrift «Deutsche Worte» XI. Jahrg. 1891, 1. Heft. - Wieder abgedruckt in «Methodische Grundlagen der Anthro­posophie», Gesammelte Aufsätze 1884-1901. Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 30.

66 Der Redakteur . . . antwortete mir: Engelbert Pernerstorfer; Schriftleiter der «Deutschen Worte» von 1881-1904.

als ich die «Deutsche Wochenschrift» redigierte: «Deutsche Wochenschrift»

(Berlin/Wien), Organ für die nationalen Interessen des deutschen Volkes. -Als verantwortlicher Redakteur figurierte dem Namen nach Dr. Karl Neisser.

In Wirklichkeit redigierte Rudolf Steiner die Wochenichrift von Anfang

Januar 1888 bis zum 18. Juli 1888.

Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn, 1851-1918. Minister für Kultur und Unterricht.

76 Galileo Galilei, 1564-1642.

99 da ist ein gelehrter Herr: Professor Wilhelm Rein in Jena. Der Artikel «Ethi­sche Irrlehren» erschien am 23. November 1920 in der Berliner Zeitung «Der Tag». - Dr. Steiner erwähnte ihn bereits in Basel im Vortrag vom 2. Dezem­ber 1920.

in den «Waldorf-Nachrichten»: Jahrg. 1,1. Oktober 1919. - Die Eröffnungs­rede und der Artikel «Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule» sind u. a. wieder abgedruckt in «Rudolf Steiner in der Waldorfschule. Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer 1919-1924», Bibl.-Nr. 298, Gesamtausgabe, Stuttgart 1958.

101 Die erste Auflage der «Philosophie der Freiheit» erschien erst 1894.

102 Doktor der Theologie: D. Lic. J. Frohnmeyer; siehe Hinweis zu Seite 279.

106 Eugéne Gley, 1857-1930, Professor der Medizin in Paris.

108 daß es Leute gegeben hat: Z. B. Mathilde Reichardt, die 1856 in Briefen an Moleschott ein Buch über Wissenschaft und Sittenlelsre herausgab und schrieb:

«Auch der zum Diebe geborene Mensch brachte wie jeder andere das Recht mit sich ins Leben, seine Natur zu vollenden und allseitig zu entwickeln und kann nur auf diese Weise eine kraftvolle, eine sittliche Natur sein. Und wie der Dieb, so jeder andere Lasterhafte, so auch der zum Mörder Geborene.» - Zi­tiert in »Philosophische Zeitfragen», 2. Aufl. Bonn 1874 von Jürgen Bona Meyer, S. 323 f.

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116 f. Adam Smith, 1723-1790, englischer Nationalökonom, Begründer der klassi­schen Nationalökonomie (Freihandel und Wettbewerb). Siehe «Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations», London 1776.

130 Mary Eddy-Baker, 1821-1910, Begründerin der Christian Science.

131 Rabindranath Tagore, 1861-1941, indischer Philosoph und Dichter.

Kurt Lee5e, Lic. theol. »Moderne Theosophie. Ein Beitrag zum Verständnis der geistigen Strömungen der Gegenwart», Berlin 1920; von Dr. Steiner im Vortrag vom 2. Dezember 1920 erwähnt.

133 die Deklamationen des Wilsonismus: Das 1918 in 14 Punkten aufgestellte Pro­gramm über das Selbstbestimmungsrecht der Völker des damaligen Präsiden­ten der USA Thomas Woodrow Wilson.

135 eine Null . . . wiederum an ihre Spitze zu rufen: Nach dem Scheitern der Rätediktatur des Béla Kun wurde Admiral Horthy am 1. März 1920 durch die Nationalversammlung zum Reichsverweser für das Königreich Ungarn gewählt.

139 wie ich das . . . im gestrigen öffentlichen Vortrag ausdrückte: In Bern am 13. Dezember 1920: «Die Ergebnisse der Geisteswissenschaft und ihre Beziehun­gen zu Kunst und Religion»; vorgesehen in Bibl.-Nr. 336.

144 Das Eingeklammerte [] wurde vom Herausgeber eingefügt.

145 Mathematik sei eine Erkenntnis a priori: Siehe Kant «Kritik der reinen Ver­nunft», Einleitung V.

152 Christian Science: Siehe Hinweis zu S. 130.

153 «Assoziations-Psychologie»: Vgl. dazu Theodor Ziehen «Leitfaden der Phy­siologischen Psychologie in 15 Vorträgen», S. umgearb. Aufl. Jena 1900.

157 Hermann Keyserling: Siehe Hinweise zu Seite 42.

158 Pfarrer Kully: Maz Kully, 1878-1936, katholischer Geistlicher; Verfasser von Schmähschriften gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie.

Einige Protestanten: Diejenigen Persönlichkeiten, welche dann 1922 unter der

Führung von Pfarrer Friedrich Rittelmeyer die «Christengemeinschaft» als

Bewegung für religiöse Erneuerung begründeten.

159 Die Opposition... wie zum Beispiel bei Traub: Siehe Dr. Friedrich Traub «Rudolf Steiner als Philosoph und Theosoph», Tübingen 1919.

160 ist hier einer in der Schweiz aufgetreten: Wer damit gemeint ist, konnte nicht festgestellt werden.

173 wir werden von alledem bei anderer Gelegenheit . . . sprechen: Das Thema wurde wieder berührt in den Vorträgen vom 18. Dezember (siehe den 11. Vor­trag dieses Bandes) und am 20. Dezember 1920 in «Das Wesen des Musikali­schen und das Tonerlebnis im Menschen», Gesamtausgabe Dornach 1969, Bibl.-Nr.283; außerdem am 1. April 1922 in »Das Sonnenmysterium und das Myste­rium von Tod und Auferstehung«, Gesamtausgabe Dornach 1963, Bibl.-Nr. 211, und am 4. Dezember1922 (vorgesehen in Bibl.-Nr. 218).

285

193 das sich innerhalb der griechischen Weltanschauung vorbereitet hat: Der Hauptvertreter des heliozentrischen Weltsystems im Altertum war Aristarchos von Samos um 250 v. Chr.

195 psychophysische Parallelisation: Vgl. dazu Gustav Theodor Fechner «Ele­mente der Psychophysik», Leipzig 1860; Wilhelm Wundt »Über psychische Kausalität und das Prinzip des psychophysischen Parallelismus», Philos. Stu­dien, Band X, 1894, u. a.

197 Flavius Claudius Julianus Apostata: 331-363, römischer Kaiser von 361-363.

208 Goethe hat in seinem Märchen: Siehe Hinweis zu S. 55.

210 Gesetz der Erhaltung des Stoffes und der Kraft: Siehe Julius Robert Mayer,

1814-1878, «Bemerkungen über die Kräfte in der neubelebten Natur», 1842 in Liebigs «Annalen», Bd. 42.

215 die Jesusknaben: Vgl. dazu die Ausführungen Rudolf Steiners in «Das Lukas­Evangelium», zehn Vorträge Basel 15.-24. September 1909, Gesamtausgabe Dornach 1968, Bibl.-Nr. 114.

228 Ändert den Sinn: Matthäus 3,2; 4,17.

In einem nicht von der Kirche anerkannten Evangelium: Im sog. »Arabischen Kindheitsevangelium» sprach das Kind zu seiner Mutter Maria: »Ich bin Jesus, der göttliche Sohn, das Weltenwort. Du hast mich geboren so, wie der Engel Gabriel es dir verkündigt hat. Mich hat mein Vater gesandt zur Heilung der Welt.» Siehe «Die Kindheit Jesu, zwei apokryphe Evangelien», übersetzt und eingeleitet von Lic. Emil Bock, München 1924, S. 115.

231 Dionysius der Areopagite, gehörte zum Areopaggericht in Athen und wurde von Paulus für das Christentum gewonnen (Apostelgesch. 17,34).

Aurelins Augustinus, 354-430, Kirchenvater.

232 Kepler drückt sich . . . radikal aus: In der Vorrede zum S. Buch «Harmonices mundi», 1619 (übertragen durch Max Caspar in «Johannes Kepler«, Stutt­gart, 3. Aufl., S. 316), heißt es wörtlich: «Ja, ich bin es, ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott aus ihnen ein Heiligtum zu errichten, fern von den Grenzen Ägyptens. Wenn ihr mir vergebt, werde ich mich freuen, wenn ihr zürnt, werde ich es tragen; - hier werf ich den Würfel und schreibe dies Buch für den heutigen wie den dereinstigen Leser - was liegt daran?»

234 Eine dieser Pyramiden: Vermutlich die Cheopspyramide, welche «Ta Chut», die Lichte genannt wurde.

235 Isislegende in unserer Zeit: Vgl. hierzu den Vortrag vom 6. Januar 1918 in Dornach in «Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung», Gesamtausgabe Dornach 1966, Bibl.-Nr. 180.

245 Ich habe gesagt, daß die Griechen . . . die blaue Farbe . . . nicht sahen: Vgl. den Vortrag vom 24. März 1920 «Anthroposophie und gegenwärtige Wissenschaf­ten», Heft V der Reihe «Geisteswissenschaft und die Lebensforderungen der Gegenwart», Dornach 1950 (vorgesehen in Bibl.-Nr. 76).

286

253 das Novalis in so schöner Weise besungen hat: Siehe «Mathematische Frag-mente>, im IV. Bd. der ges. Werke, hg. von Carl Seelig, Zürich 1946, S. 226 f.

265 John Locke, 1632-1704, Hauptvertreter des englischen Empirismus.

266 Julien de la Mettrie, 1709-1751. «L'homme machine«, 1748.

267 Charles François Dupuis, 1742-1809. Deutet in «Origines de tous les cultes ou religion universelle» (1794), die Mythen und Religionen als astronomische und physikalische Allegorien.

Ludwig Feuerbach, 1804-1872, Philosoph.

268 In einem der neueren Bücher: Lic. theol. Kurt Leese «Moderne Theosophie», vgl. Hinweis zu Seite 131.

269 berühmte Rede in Shakespeares «Julius Caesar»: Im 3. Akt, 2. Szene.

ein altes indisches Gedicht: «Rigveda», etwas 1500-1000 v. Chr. - Vgl. «Der Rigveda, die älteste Literatur der Inder», von Adolf Kaegi, Leipzig 1881.

272 «Rheinische Musik- und Theater-Zeitung»: Artikel in Nr. 40/41, Oktober

1920, Köln.

276 ich war . . . viele Jahre Erzieher in einem jüdischen Hause: Bei dem Baum­wollagenten Ladislaus Specht in Wien. Siehe «Mein Lebensgang», Kap. VI, Gesamtausgabe Dornach 1968, Bibl.-Nr. 28.

277 Sie finden nichts von alten Baustilen in unserer Architektur: Vgl. dazu «Wege zu einem neuen Baustil», fünf Vorträge, Dornach, 7.juni-26. Juni 1914, Stutt­gart 1957 und «Der Baugedanke des Goetheanum», Vortrag Bern, 29. Juni 1921, Stuttgart 1958.

das «Futurum»: Futurum AG, ökonomische Gesellschaft zur internationalen Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte, begründet am 16. Juni1920 als assoziatives Unternehmen im Sinne der sozialen Dreigliederung. Das Un­ternehmen konnte sich infolge der allgemeinen Wirtschaftskrise nicht be­haupten und mußte 1924 liquidiert werden.

Emil Molt, 1876-1936, Kommerzienrat; Inhaber der Waldorf-Astoria-Ziga­rettenfabrik in Stuttgart. Begründer der Freien Waldorfschule und Mitbe­gründer der Futurum AG.

278 in dem Buche von Kurt Leese: Vgl. Hinweise zu S. 131 und 268. Im genannten Buche heißt es auf S. 58: «Derartige Bravourstücke verzwickter Distinktionen, die von vornherein im ideellen Dienst eines vorgefaßten Schemas stehen, machen die Lektüre der Steinerschen Schriften nicht nur zu einer schwie­rigen, . . . sondern auch zu einer ärgerlichen und unleidlichen.» 279 bei jenem Pfarrer . . . , der als . . . Tatsache hinstellt: D. Lic J. Frohnmeyer, in der 1. Aufl. des Buches «Die theosophische Bewegung, ihre Geschichte, Dar­stellung und Beurteilung», Stuttgart 1920. Der Verfasser suchte sich dann in einem Brief an Dr. Steiner (23. Januar 1921) zu rechtfertigen: er habe aus einem Aufsatz von Pfarrer Nydecker, Basel, im «Christlichen Volksboten» (Nr. 23, 1921) geschöpft!

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.